Goethes Frauen: 44 Porträts aus Leben und Dichtung [2 ed.] 9783534450121, 9783534450138, 3534450124

Welche Hauptrolle der 'holden Weiblichkeit' in Goethes Leben und Werk zukam, lässt sich in diesem reizvollen W

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German Pages 356 [358] Year 2022

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Table of contents :
Cover
Impressum
Inhalt
Vorbemerkung
Katharina Elisabeth Textor
Cornelia Friederica Christiana Goethe
Anna Katharina Schönkopf
Susanna Katharina von Klettenberg
Friederike Elisabeth Brion
Elisabeth
Maria
Adelheid
Charlotte Sophie Henriette Buff
Lotte
Gretchen
Marie von Beaumarchais
Anna Elisabeth Schönemann
Stella
Luzie
Anna Amalia
Charlotte Albertine Ernestine von Stein
Marianne
Corona Elisabeth Wilhelmine Schröter
Iphigenie
Faustina
Clärchen
Margarete von Parma
Johanna Christiana Sophia Vulpius
Leonore von Este
Leonore Sanvitale
Charlotte Albertine Ernestine von Stein
Mariane
Philine
Die Gräfin
Mignon
Christiane Amalie Louise Becker
Dorothea
Henriette Caroline Friederike Jagemann
Eugenie
Maria Paulowna
Bettine von Arnim
Christiane Friederike Wilhelmine Herzlieb
Charlotte
Ottilie
Maria Ludovika Beatrix
Helena
Marianne von Willemer
Ulrike Theodore Sophie von Levetzow
Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette von Goethe
Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Goethes Frauen: 44 Porträts aus Leben und Dichtung [2 ed.]
 9783534450121, 9783534450138, 3534450124

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Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre M.A. (* 1946) ist Literatur-, Theaterund Kunstwissenschaftler. Er lehrte an der Universität München, arbeitete als Museumsleiter und hat zur Literatur und Kunst zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45012-1

Goethes Frauen Joseph Kiermeier-Debre

Nach der Mode der Galeriewerke des 19. Jahrhunderts werden in diesem Buch die wichtigsten Frauen aus Goethes Leben und Dichtung in empfindsamen und dokumentarischen Bildern, in nacherzählendem und interpretierendem Wort und im Zitat vorgestellt. Im Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Phantasie lässt sich der große Klassiker aus ungewöhnlicher Perspektive neu entdecken und mit Blick auf Shakespeares und Schillers Frauenbilder konstatieren: Das Ewig – Weibliche/ Zog sie hinan.

Joseph Kiermeier-Debre

Goethes Frauen 44 Porträts aus Leben und Dichtung

Goethes Frauen

Johann Wolfgang von Goethe 1749–1832

Joseph Kiermeier-Debre

Goethes Frauen 44 Porträts aus Leben und Dichtung

2022 Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt

Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre war bis zu seinem Ruhestand Leiter des Antoniter-/Strigelmuseums in Memmingen, Gründer und Leiter der MEWO Kunsthalle in Memmingen und Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität München. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zur Literatur vom Barock bis in die Gegenwart, großer Kunstbücher und Ausstellungskataloge und zahlreicher Anthologien mit den Gedichten von Eichendorff (dtv 13600), Goethe (dtv 13512), Schiller (dtv 13270) und Klabund (dtv 20641) etc. Von 1997 bis 2013 betreute er als Herausgeber die dtv Bibliothek der Erstausgaben. Die insgesamt 80 Bände in originaler Orthographie und Interpunktion waren ergänzt durch Nachweise zur Textgestalt, versehen mit einem Glossar, einer Zeittafel zu Leben und Werk und einem Nachwort des Herausgebers. Die Reihe enthält in Erstausgabe zehn der Hauptwerke Goethes. Ferner erschien beim Deutschen Taschenbuchverlag 2011 die Erstausgabe von „Goethes Frauen“ (Nr. 14025).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­ graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. wbg Academic ist ein Imprint der wbg c 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlaggestaltung unter Verwendung des Stahlstichs „Goethe in Rom”, gezeichnet von Friedrich Pecht (1814–1903); s. Lit-/bzw. Abbildungsverzeichnis, S. 353/355 Gesetzt aus Minion Pro / Avenir Next Condensed Satz: Fritz Franz Vogel, Diessenhofen Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45012-1 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-45013-8

6•

Inhalt

9

Stella

95

11

Luzie

101

Cornelia Friederica Christiana Goethe 17

Anna Amalia

107

Anna Katharina Schönkopf

Charlotte Albertine Ernestine von Stein  115

Vorbemerkung 

Katharina Elisabeth Textor Frau Rat Goethe 1731–1808 verh. Schlosser 1750–1777 verh. Kanne 1746–1810

23

1723–1774

Friederike Elisabeth Brion 

35

Elisabeth

41

Maria

47

Adelheid

53

Götz von Berlichingen (1773) Götz von Berlichingen (1773) Götz von Berlichingen (1773)

Charlotte Sophie Henriette Buff verh. Kestner 1753–1828

Lotte

Die Leiden des jungen Werthers (1774)

Gretchen

Urfaust / Faust ein Fragment / Faust I (1772 / 1792 / 1808)

59

65

75

81

Anna Elisabeth Schönemann

87

gen. Lili, verh. von Türckheim 1758–1817

Herzogin von Sachsen-Weimar und Eisenach 1739–1807 1742–1827

Die Geschwister (1776)

131

Corona Elisabeth Wilhelmine Schröter 137 1751–1802

Iphigenie

145

Faustina 

153

Clärchen

161

Margarete von Parma

167

Iphigenie auf Tauris (1779/1787)

Goethe in Rom: „Das verfluchte zweite Kissen“ Egmont (1788) Egmont (1788)

Johanna Christiana Sophia Vulpius 173

Marie von Beaumarchais Clavigo (1774)

Stella. Ein Schauspiel für Liebende (1775/76)

Marianne

Susanna Katharina von Klettenberg  29

1752–1813

Stella. Ein Schauspiel für Liebende (1775/76)

verh. von Goethe 1765–1816

Leonore von Este

195

Leonore Sanvitale

201

Torquato Tasso (1790) Torquato Tasso (1790)

Charlotte Albertine Ernestine von Stein  209 1742–1827

Mariane

Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

215

• 7

Philine221

Helena317

Die Gräfin

Marianne von Willemer

Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

229

Mignon235 Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

Christiane Amalie Louise Becker geb. Neumann 1778–1797

Henriette Caroline Friederike Jagemann257 nobilitierte Frau von Heygendorff 1777–1848

Eugenie265 Die natürliche Tochter (1803/04)

Maria Paulowna

271

Bettine von Arnim

277

Christiane Friederike Wilhelmine ­Herzlieb

287

Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. Großfürstin von Russland 1786–1859

Charlotte293 Die Wahlverwandtschaften (1809)

Ottilie301 Die Wahlverwandtschaften (1809)

Maria Ludovika Beatrix Kaiserin von Österreich 1787–1816

325

1804–1899

243

Hermann und Dorothea (1797)

gen. Minna oder Minchen 1789–1865

eigentl. Maria Anna Katharina Theresia geb. Pirngruber, gen. Jung 1784–1860

Ulrike Theodore Sophie von Levetzow337

Dorothea249

geb. Catharina Elisabetha Ludovica Magdalena Brentano 1785–1859

Faust II (1832)

309

Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette von Goethe 345 geb. Freiin von Pogwisch 1796–1872

Literaturverzeichnis352 Abbildungsverzeichnis355

• 9

Vorbemerkung

In einem Buch, das sich als eine Galerie der wichtigsten Frauen aus Goethes Leben und Werk versteht, soll der Schlussvers des Dichters aus Faust II den Anfang machen: „Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.“ Allerdings heißt es nicht von ungefähr schon zu Beginn von Faust I im ‚Prolog im Himmel‘ ziemlich unverfroren: „Am meisten lieb’ ich mir die vollen frischen Wangen. / Für einen Leichnam bin ich nicht zu Haus“. Diese Weisheit gibt zwar der Teufel zu bedenken, aber auch Goethe gab der Damenwelt als „sterblich-weiblich“ stets entschieden den Vorzug. Welche Hauptrolle der nicht immer nur ‚holden Weiblichkeit‘ in seinem Leben und Werk zukam, lässt sich diesem reizvollen Wechselspiel von realen und poetischen Mädchen und Frauen, in der bunten Mischung von unsterblicher Dichtung und sterblicher Wahrheit unschwer entdecken. Es ist ein Gemälde, ein Bild aus Bildern von Müttern, Schwestern und Ehefrauen, von hohen Geliebten und unschuldigen Verführerinnen, von frommen Freundinnen, keuschen Priesterinnen, Königinnen und Göttinnen, von koketten und scheuen weiblichen Wesen, von braven Töchtern und adligen Damen, von verliebten Mädchen, praktischen Frauen, von hinreißenden Schauspielerinnen und bösen Intrigantinnen. Sie alle sind der Vorschein oder der Abglanz des „Ewig-Weiblichen“.

Katharina Elisabeth Textor • 11

Katharina Elisabeth Textor Frau Rat Goethe 1731–1808

12 • Katharina Elisabeth Textor

Katharina Elisabeth Textor • 13

Die Mutter war jung, 18 Jahre alt, als sie am 28. August 1749 „mittags mit dem Glockenschlage zwölf “ (Dichtung und Wahrheit) in Frankfurt am Main einem Sohn das Leben schenkte. Katharina Elisabeth Goethes Sohn erhielt in der Taufe die Vornamen ihres Vaters, des Stadtschultheißen Dr. jur. Johann Wolfgang Textor. Sie war die älteste Tochter und wurde nach einer einfachen bürgerlichen Erziehung 17-jährig nach Wahl ihrer Eltern am 20. August 1748 mit dem 38-jährigen Kaiserlichen Rat (ohne Amt) und reichen Privatmann Johann Caspar Goethe (1710–1782) verheiratet. Von den weiteren fünf Kindern, die Katharina Elisabeth ihrem Manne gebar, blieb nur die 1750 zweitgeborene Schwester Cornelia am Leben. Vom Vater, der sich der Verwaltung seines beträchtlichen Vermögens und seiner gelehrten Liebhabereien widmete, erhielt Goethe nach den berühmten Versen der Zahmen Xenien (VI) „die Statur“ und des „Lebens ernstes Führen“, von der Mutter aber „die Frohnatur“ und seine „Lust zu fabulieren“. In der Tat weckte die Mutter, obwohl ihre Bildung lückenhaft war, mit ihrem Sinn fürs Theatralische und ihrer Vorliebe für das Märchenerzählen schon früh die dichterische Phantasie des aufgeweckten Knaben. Bereits in den ersten Jahren seines Dichterruhms nach 1770 hielt sie offenes Haus für Goethes Freundeskreis (Herder, Lavater, die Stolbergs, Klopstock), durch den sie auch den mystifizierenden Namen „Frau Aja“ oder „Mutter Aja“ bekam, der ihr lebenslang blieb. Goethe berichtet vom Besuch der Grafen Stolberg und vom „ersten heiteren Zusammentreffen, das sich höchst erfreulich zeigte“. Allein, so Goethe in Dichtung und Wahrheit (IV,18), „gar bald traten exzentrische Äußerungen hervor. – Zu meiner Mutter machte sich ein eigenes Verhältnis. Sie wußte in ihrer tüchtigen graden Art sich gleich ins Mittelalter zurückzusetzen, um als Aja bei irgendeiner lombardischen oder byzantinischen Prinzessin angestellt zu sein. Nicht anders als Frau Aja ward sie genannt, und sie gefiel sich in dem Scherze und ging so eher in die Phantastereien der Jugend

14 • Katharina Elisabeth Textor

mit ein, als sie schon in Götz von Berlichingens Hausfrau ihr Ebenbild zu erblicken glaubte.“ Nach seinem Aufstieg in Weimar wurde sie als berühmte Dichtermutter zur beliebten Gastgeberin für erlauchte Besucher wie die Herzogin Anna Amalia aus Weimar oder die spätere Königin Luise von Preußen. Nie verlor sie den Kontakt zu ihrem Sohn, und mit großem Interesse und mit viel Anteilnahme verfolgte sie Goethes Weimarer Existenz am Hofe. Die Briefe von ihr, die erhalten sind, zeigen sie zwar orthographisch unsicher, aber stets in ungezwungen-natürlichem und launigem Plauderton mit ihrem „Hätschelhans“. Sie hat ihn in Weimar wegen ihrer Reiseunlust nie besucht, aber – wie Mütter so sind – regelmäßig mit Geschenken und Spezialitäten aus Frankfurt versorgt. Nachdem ihr Goethe bei einem Besuch in Frankfurt 1792 nach fast vier Jahren endlich von seinem Verhältnis mit Christiane Vulpius und seinem Sohn erzählt hat, entwickelt die praktisch denkende und vorurteilslose Frau sehr bald eine herzliche Beziehung zu Christiane, dem Haus- und Bettschatz des Sohnes. An Goethe schreibt sie am 24. September 1795: „Doch da unter diesem Mond nichts Vollkommenes anzutreffen ist, so tröste ich mich damit, daß mein Hätschelhans vergnügt und glücklicher als in einer fatalen Ehe ist. Küsse mir Deinen Bettschatz und den kleinen August und sage letzterem, daß das Christkindlein ihm schöne Sachen von der Großmutter bringen soll.“ 1797 gab es dann endlich Besuch von der unheiligen Familie. Er führte schnell zu einem traulichen Umgang der beiden Frauen, die Goethe aus intimster Nähe kannten. Er seinerseits erkannte wohl gewisse Gemeinsamkeiten in Mutter und Frau, was sein Verhältnis zu Christiane wiederum vorteilhaft bestimmte. Nachdem Goethe sein von der Weimarer Gesellschaft als anstößig empfundenes freies Liebesverhältnis mit Christiane 1806 hatte einsegnen lassen, erfolgte ein zweiter Besuch Christianes im Jahre 1807 bei der Mutter. Er bestätigte Frau Aja ihre hohe Meinung von Christianens Wert endgültig. Sie teilt es ihrem Sohn in direkter, gleichwohl unaufdringlicher Weise mit: „Du kannst Gott danken. So ein liebes, herrliches, unverdorbenes Gottesgeschöpf findet man sehr selten. Wie beruhigt bin ich jetzt, da ich sie genau kenne, über Alles, was Dich angeht. Und was mir unaussprechlich wohl tat, war, daß alle Menschen, alle meine Bekannten, sie liebten.“ (17. April 1807)

Katharina Elisabeth Textor • 15

„Die Freudigkeit ist die Mutter aller Tugenden“, lässt Goethe im Götz von Berlichingen sprechen. Frau Rat Goethe schien das zu einer Maxime ihres Lebens gemacht zu haben, und sie verübelte Fröhlichkeit und Freude keinem Menschen, am allerwenigsten ihrer Schwiegertochter. „Tanzen Sie immer, liebes Weibchen. Tanzen Sie – fröhliche Menschen, die mag ich zu gern – und wenn sie zu meiner Familie gehören, habe ich sie doppelt und dreifach lieb.“ Selbst in ihrem Sterben schien sie, wenn die überlieferte Anekdote stimmt, solche Fröhlichkeit nicht verlassen zu haben. Lebensnah und sorgend beschäftigt bis zum Ende antwortete sie einem Dienstmädchen, das eine Einladung zu einer Gesellschaft überbrachte: „Richten Sie nur aus, die Rätin kann nicht kommen, sie muß alleweil sterben!“ Am 13. September 1808 starb Frau Rat Goethe im Alter von 77 Jahren. Ihr Sohn war 59 Jahre alt und gerade auf der Rückreise von Franzensbad nach Weimar befindlich, wo er am 17. September gegen 1 Uhr mittags eintraf. Hier erreichte ihn wenige Stunden später die Trauerpost. „Der Tod meiner theuren Mutter“, schreibt Goethe am 21. September an Silvie von Ziegesar, „hat den Eintritt nach Weimar mir sehr getrübt.“

Cornelia Friederica Christiana Goethe • 17

Cornelia Friederica Christiana Goethe verh. Schlosser 1750–1777

18 • Cornelia Friederica Christiana Goethe

Cornelia Friederica Christiana Goethe • 19

Zum erstgeborenen Sohn gesellte sich im Haus am Großen Hirschgraben in Frankfurt bereits ein Jahr später, am 7. Dezember 1750, eine Tochter. Goethes Schwester erhielt die Namen Cornelia Friederike Christiane und ihr folgte ein weiterer Sohn, der aber die Kinderjahre nicht überlebte. Goethe konnte deshalb gar kein eigentliches Verhältnis zu diesem Bruder entwickeln, dafür aber ein sehr nachhaltiges zu seiner Schwester. „Unter mehreren nachgebornen Geschwistern“, schreibt Goethe in Dichtung und Wahrheit (I,1), „die gleichfalls nicht lange am Leben blieben, erinnere ich mich nur eines sehr schönen Mädchens, die aber auch bald verschwand, da wir denn nach Verlauf einiger Jahre, ich und meine Schwester, uns allein übrig sahen, und nur um so inniger und liebevoller verbanden.“ Die Geschwisterbande konnten sich nicht zuletzt deshalb so eng verschlungen gestalten, weil ihnen der Vater eine gemeinsame und von ihm sehr sorgfältig überwachte Ausbildung zukommen ließ. Abgeschottet von gleichaltrigen Mädchen wurde ihr der Bruder zu einem umso engeren Vertrauten und Beschützer, der sich, kaum war er zum Studium außer Haus in Leipzig, auch zum literarischen Berater und Erzieher der Schwester ernannte. In seinen Briefen aus Leipzig in den Jahren 1765–17 gab er der Schwester wie ein literarisch-pädagogischer Korrespondent in vier Sprachen gleichzeitig Lektüreempfehlungen und Hinweise auf das aktuelle Theater- und Konzertgeschehen und bat sie, neben den Sprachen auch die Haushaltung und die Kochkunst zu studieren, sich im Klavierspielen, Tanzen und Kartenspielen zu perfektionieren und den Putz mit Geschmack zu tragen. „Wirst du nun dieses alles, nach meiner Vorschrift getahn haben, wenn ich nach Hause komme; so garantire ich meinen Kopf, du sollst in einem kleinen Jahre das vernünftigste, artigste, angenehmste, liebenswürdigste Mädgen, nicht nur in Frankfurt, sondern im ganzen Reiche sein.“ (Leipzig, 12. Oktober 1767) Das war, mit Verlaub, das Idealprofil einer/seiner künftigen

20 • Cornelia Friederica Christiana Goethe

Ehefrau bzw., wenn es in solcher Verkürzung zu sagen gestattet sein mag, hier wird ein Bild von Weiblichkeit entworfen, in dem Charlotte von Stein und Christiane Vulpius in eins präfiguriert werden. Das Leben wird später nur ein Nacheinander dieses gedoppelten Schwesterbildes zulassen, wobei sich in Christiane schlussendlich das Mutterbild durchzeichnet. Cornelia nahm mit ihrer hohen intellektuellen Begabung alle Anregungen des Bruders begierig auf und zeit ihres kurzen Lebens galt ihm ihre Bewunderung. Die Fixierung auf ihn verstärkte sich in den frühen 70er Jahren, die Goethes kometenhaften literarischen Aufstieg brachten. An allen entstandenen Arbeiten dieser Zeit nahm sie lebhaften Anteil. Die Entstehungsgeschichte des alle Grenzen der dramatischen Gattung nachhaltig verändernden Götz von Berlichingen ist nach Goethes eigenem Eingeständnis ohne die fortdauernde Teilnahme und den Antrieb durch die Schwester kaum denkbar: „Ich hatte mich davon, so wie ich vorwärts ging, mit meiner Schwester umständlich unterhalten, die an solchen Dingen mit Geist und Gemüt teil nahm, und ich erneuerte diese Unterhaltung so oft, ohne nur irgend zum Werke zu schreiten, daß sie zuletzt ungeduldig und wohlwollend dringend bat, mich nur nicht immer mit Worten in die Luft zu ergehen, sondern endlich einmal das, was mir so gegenwärtig wäre, auf das Papier festzubringen.“ (Dichtung und Wahrheit, III,13) Die Ehe, die die Schwester am 1. November 1773 mit Goethes Freund aus Frankfurter und Leipziger Tagen, mit Johann Georg Schlosser, einging, verursachte im innigen Verhältnis von Bruder und Schwester entschiedene Veränderungen. Man muss kein Anhänger der psychoanalytisch zugespitzten These vom inzestuösen Verhältnis der Geschwister sein, um zu begreifen, wie schmerzlich für beide diese Entscheidung war. Der um zehn Jahre ältere und schon arrivierte Jurist und Anwalt brachte die Beziehungskoordinaten gehörig durcheinander; Goethe nahm ihm das übel und er machte aus seinem Unwillen kein Hehl. Die Heirat schränkte nicht nur den Familienkreis ein, entzog dem Bruder die Schwester, der Mutter die „Gehülfin“ und dem Vater einen Lehrling, sondern dem Bruder – wie er glauben mochte – ein Geschöpf seines Willens. Er hätte sie, in deren Wesen „nicht die mindeste Sinnlichkeit“ lag, wenn er manchmal über ihr Schicksal phantasierte, „nicht gern als Hausfrau, wohl aber als Äbtissin,

Cornelia Friederica Christiana Goethe • 21

als Vorsteherin einer edlen Gemeine gar gern denken“ mögen. (Dichtung und Wahrheit IV,18) Auf seiner ersten Reise in die Schweiz in Werther Tracht besucht Goethe 1775 zusammen mit Jakob Michael Reinhold Lenz die Schwester und den Schwager Ende Mai/Anfang Juni in Emmendingen bei Freiburg im Breisgau. „Ich achtete diesen Schritt meine Schwester zu sehen, für eine wahrhafte Prüfung. Ich wußte, sie lebte nicht glücklich, ohne daß man es ihr, ihrem Gatten oder den Zuständen hätte Schuld geben können. Sie war ein eigenes Wesen, von dem schwer zu sprechen ist“, von dem Goethe aber selbst im Abstand eines halben Jahrhunderts das Mitteilbare kaum zu sagen weiß, es zwischen den Zeilen zu erraten bittet. (Dichtung und Wahrheit IV,18) Was aus diesem kurzen und unglücklich-kränklichen Eheleben an Mitteilbarem noch zu sagen ist: Cornelia ereilte das nämliche Schicksal wie viele Frauen der Zeit. Sie starb nach der Niederkunft mit ihrer zweiten Tochter Katharina Elisabeth Julie am 8. Juni 1777, knapp einen Monat nach deren Geburt. Zu seinen Nichten hatte Goethe keine weitere Beziehung mehr. Der Mutter schrieb er aus Weimar am 28. Juni 1777: „Ich kann Ihr nichts sagen, als dass das Glück sich gegen mich immer gleich bezeigt, dass mir der todt der Schwester nur desto schmerzlicher ist da er mich in so glücklichen Zeiten überrascht. Ich kann nur menschlich fühlen, und lasse mich der Natur die uns heftigen Schmerz nur kurze Zeit, trauer lang empfinden lässt.“ Die glücklichen Zeiten schreiben sich her aus der Begegnung mit Charlotte von Stein, in der die Schwester ihre Kompensation findet.

Anna Katharina Schönkopf • 23

Anna Katharina Schönkopf verh. Kanne 1746–1810

24 • Anna Katharina Schönkopf

Anna Katharina Schönkopf • 25

Es mag einige Unterschiede zwischen Frankfurt und Leipzig gegeben haben, der größte im Vergleich der Metropolen aber war wohl der, dass der 16-jährige Goethe, der am 3. Oktober 1765 zur Messezeit im „Pleiße-Athen“ ankam, nun aus der väterlichen und hofmeisterlichen Obhut in eine relative Freiheit entlassen war. Er hatte einen monatlichen Wechsel von 100 Gulden in der Tasche und trat sein von den Plänen des Vaters bestimmtes Jurastudium mit dem Gefühl eines Gefangenen an, der seine Ketten abgelöst hatte. Den modischen Versuchungen der Stadt, die sich weniger altertümelnd als die Geburtsstadt gab, konnte er nicht gänzlich widerstehen, und ihrer Schöngeisterei war er schnell erlegen. Er stilisierte sich seinerseits bald als große Figur. Unterstützung und Beratung in dieser Phase eigener Selbst­ erkundung fand Goethe bei Ernst Wolfgang Behrisch, einem 11 Jahre älteren Hofmeister, der in Kleidung und Auftreten eine gewisse Affektiertheit pflegte, der aber literarisch vorzüglich gebildet war und der als Erster Goethes dichterisches Talent erkannte und unterstützte. Goethe lernte ihn um die Ostermesse 1766 durch seinen späteren Schwager Johann Georg Schlosser in der Tafelrunde der Frankfurter in der Weinwirtschaft von Christian Gottlob Schönkopf, dessen Frau aus der Mainstadt stammte, kennen. Rasch wurde er zu Goethes engstem und einflussreichstem Freund in den Leipziger Jahren, auf den er leidenschaftlich parteinehmende Oden verfasste. Er wurde auch der Empfänger seiner frühen dramatischen Briefe, in denen er ihm von seinem Liebeskummer und seiner rasenden Eifersucht berichtete. Bei Schönkopf lernte er aber nicht nur Behrisch kennen, sondern dort wurde er auch mit Anna Katharina, der Tochter der Wirtsleute bekannt, einem „gar hübschen netten Mädchen“, das ihm sehr wohl gefiel, vor allem, da sich leicht Gelegenheit fand, freundliche Blicke zu wechseln. (Dichtung und Wahrheit II,7) Die beiden waren schnell verliebt ineinander und in der Folgezeit entstanden eine Reihe von Gedichten in den Möglichkeiten scherz-

26 • Anna Katharina Schönkopf

haftanakreontischer Lyrik der Zeit. In Abwandlung von ‚Anna‘ wurden sie 1767 von Behrisch unter dem Titel Annette herausgegeben, allerdings in handschriftlicher Form, da dieser eine preziöse Abneigung gegen gedruckte Bücher pflegte. Natürlich waren die Gedichte zuallererst für „Ännchen“, „Käthchen“ oder „Annette“ Schönkopf gedacht, die um drei Jahre älter war als Goethe und die mit seinem Ungestüm und seiner Eifersucht ihre liebe Not hatte. Sowohl ein Brief an die Schwester Cornelia vom August 1767 – „Annette ou ma Muse ce que sont des synonymes“ – als auch das Eröffnungsgedicht spricht dem Mädchen die kleine Sammlung zu: Es nannten ihre Bücher Die Alten sonst nach Göttern, Nach Musen und nach Freunden, Doch keiner nach der Liebsten; Warum sollt’ ich, Annette, Die Du mir Gottheit, Muse, Und Freund mit bist, und Alles, Dies Buch nicht auch nach Deinem Geliebten Namen nennen?

Das junge, hübsche, muntere, liebevolle und höchst angenehme Mädchen, das „in dem Schrein des Herzens eine Zeitlang als eine kleine Heilige aufgestellt zu werden“ verdiente, „um ihr jede Verehrung zu widmen, welche zu erteilen oft mehr Behagen erregt als zu empfangen“ (Dichtung und Wahrheit II,7), mochte sich durch die kleine Sammlung wohl geschmeichelt fühlen. Allein Goethe machte sicherlich auch unter dem Einfluss des wunderlichen Behrisch aus seiner Liebe eine exaltierte Eifersuchtsgeschichte, mit der er das unschuldige Mädchen quälte. Sein Stutzertum und seine Schöngeisterei gerieten ihm zu einem Rollenspiel, das er in seinen überhitzten Briefen an Behrisch wiederum sehr reflektiert kommentierte. „Durch ungegründete und abgeschmackte Eifersüchteleien“, schreibt der um Gerechtigkeit bemühte Goethe in seiner großen Konfession, in Dichtung und Wahrheit (II,7), „verdarb ich mir und ihr die schönsten Tage. Sie ertrug es eine Zeitlang mit unglaublicher Geduld, die ich grausam genug war, aufs Äußerste zu treiben.“ Schließlich führten seine Tollheiten und die schrecklichen Szenen, die er ihr machte, zum Bruch des quälenden Verhältnisses.

Anna Katharina Schönkopf • 27

Im April 1768 trennte man sich nach einem klärenden Gespräch freundschaftlich voneinander. Das exaltierte Verhältnis und die Trennung von Anna wie auch von Behrisch scheint für Goethe sogar gesundheitlich nicht ohne Folgen gewesen zu sein. Er selbst bringt diesen Zusammenhang ins Spiel, wenn er seinen Blutsturz Ende Juli und die dann folgenden schweren Krankheiten nach seiner Abreise aus Leipzig am 28. August 1768 als selbst verschuldeten Beitrag zu seinen körperlichen Übeln bezeichnete. Gerettet vor dem vielleicht völligen Untergang durch diesen Verlust habe ihn das poetische Talent mit seinen Heilkräften. In dem kleinen dramatischen Gedicht, dem einaktigen Schäferspiel Die Laune des Verliebten habe er die unseligen Folgen seiner siedenden Leidenschaft auskuriert. Die kleine Pastorale wird ihm zum beispielhaften Zeugnis für den Bekenntnischarakter aller seiner Werke, die „nur Bruchstücke einer großen Konfession“ sind, „welche vollständig zu machen dieses Büchlein [gemeint ist Dichtung und Wahrheit (II,7)] ein gewagter Versuch ist“. Das beispielhafte Zeugnis für die Wahrheit der Erlebnis­ unmittelbarkeit mündet seinem Genre gemäß ins Happy End. Dort werden die grundlosen Eifersuchtsanfälle von Amines Liebhaber durch eine kleine Intrige geheilt. Am Ende kann die regieführende Egle sowohl an Amine wie ans Publikum gewendet Goethes Fazit ziehen: Ihr Eifersüchtigen! die ihr ein Mädchen plagt, Denkt euren Streichen nach, dann habt das Herz, und klagt.

Der eifersüchtige Eridon bleibt geheilt bei Amine, der sich poetisch kurierende Goethe geht 1770 von Frankfurt nach Straßburg. Was ist mit dem Verlust des Mädchens, was ist mit Anna Katharina Schönkopf passiert? Es wäre zu billig zu sagen, sie hat sich getröstet und im Mai 1770 geheiratet, einen gewissen Dr. Christian Karl Kanne, einen Juristen und nachmaligen Vizebürgermeister der Stadt Leipzig.

Susanna Katharina von Klettenberg • 29

Susanna Katharina von Klettenberg 1723–1774

30 • Susanna Katharina von Klettenberg

Susanna Katharina von Klettenberg • 31

An seinem 19. Geburtstag, am 28. August 1768, tritt also Goethe nach fast dreijährigem Studienaufenthalt in Leipzig die Rückreise nach Frankfurt an. Nicht weil er Ende Juli einen Blutsturz erlitten hatte, trifft er am 1. September als ein Gescheiterter in Frankfurt ein, sondern weil die körperlichen Leiden Ausdruck tiefergehender psychischer Störungen waren. Das stutzerhafte Leben mit dem exzentrischen Freund Behrisch, die exaltierte Liebe zu Käthchen Schönkopf einerseits, der Zeichenunterricht bei dem geschätzten Maler und Theoretiker Adam Friedrich Oeser und der Umgang mit dessen liebreizenden Tochter Friederike andererseits hatten nicht vermocht, den jungen Studenten von seinen Pubertätsnöten zu befreien. Den „Schiffbrüchigen“, als den er sich selbst sah, zu retten, gelang eigentlich erst einer Frau in Frankfurt, von der man sich eine Heilung der physischen und psychischen Krankheiten und natürlich auch der sexuellen Obsessionen eines Junggenies eher nicht erwartet hätte. Die Frau war ein kränkliches Stiftsfräulein, eine Freundin von Goethes Mutter und eine Verfasserin erbaulicher pietistischer Schriften. Ihr gelang es, das Vertrauen des in jugendlich-unreifen Gefühlslagen Verwirrten zu erringen und durch ihre tolerante und unorthodoxe Frömmigkeit zu heilen. Fast eineinhalb Jahre dauerte die Kur und sie perfektionierte Goethes psychisch-religiöse Haushaltsführung entscheidend. Zunächst ist das Stiftsfräulein einfach im Hause als eine der Freundinnen der Mutter, und schnell vermittelt sie dem kränklichen und oft bettlägrigen jungen Mann, dass ihre Empfindsamkeit und Religiosität aus dem Geiste der zinsendorfschen und herrnhutischen Brüdergemeinden unkonventioneller war als die ihrer und der Mutter sonstigen geistlichen Freundinnen und Gottesverehrerinnen. „Sie war zart gebaut“, charakterisiert Goethe das geistliche Fräulein in Dichtung und Wahrheit (II,8), „von mittlerer Größe; ein herzliches natürliches Betragen war durch Welt- und Hofart noch gefälliger geworden. […] Heiterkeit und Gemütsruhe verließen sie niemals.“

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Im weiteren Verlaufe der Schilderung der entstehenden Seelenfreundschaft vermeint Goethe, dass sie an ihm das ideale Geschöpf ihres Missionswerkes gefunden habe. Er, ein junges und lebhaft zu einem unbekannten Heile strebendes Wesen, sei genau der Sünder von mittlerer Qualität gewesen, an dem sich ihre anmutige, ja geniale Weise erbaulich-empfindsamer Unterweisung erfolgreich versuchen konnte. Weder war er „an Leib noch Seele ganz gesund“ und in „keinem behaglichen Zustand“, aber doch auch nicht so „außerordentlich sündhaft“, dass er als ein aussichtsloser Fall gelten konnte. Wenn sie also an ihm fand, so Goethe, „was sie bedurfte“, stellt sich uns natürlich die Frage, was er seinerseits an ihr fand, das ihm mangelte. An gelehrter und philosophischer Materie sich heranzubilden, war kein Mangel, aber für die seelisch-psychische Bewirtschaftung junger Männer hatte das Zeitalter keine Vorsorge getroffen, keine Einrichtungen und Anstalten vorgesehen. Jedenfalls kam die neue pietistisch-empfindsame Art der Selbstbeobachtung und Introspektion seinen Bedürfnissen nach Pflege seiner Innerlichkeit jenseits der üblichen gesellschaftlichen und bildungsmäßigen Standards sehr entgegen. „Meine Unruhe“, so stellt Goethe in Dichtung und Wahrheit (II,8) fest, „meine Ungeduld, mein Streben, mein Suchen, Forschen, Sinnen und Schwanken legte sie auf ihre Weise aus, und verhehlte mir die Überzeugung nicht, sondern versicherte mir unbewunden, das alles komme daher, weil ich keinen versöhnten Gott habe.“ Letzteres mochte Goethe so nicht glauben und annehmen, und es gab gelegentlich sogar Streit darüber, aber er sah sich in jenen Bezirken des menschlichen Lebens ernst genommen, für die sich ansonsten keine Fachdisziplin der Zeit zuständig erklärt hatte. Aus der beidseitigen Überzeugung aber, dass das „Heil des Körpers […] zu nahe mit dem Heil der Seele verwandt“ war, begannen sie gemeinsame Studien von Schriften, die alle ihren „Stammbaum in gerader Linie bis zur neuplatonischen Schule verfolgen“ konnten. Eine Welt scheinbarer Seltsamkeiten und phantastisch anmutender Naturbetrachtung tat sich da auf, die der leibseelischen Balance und den spirituellen Bedürfnissen des jungen Goethe sehr dienlich war. Die Auseinandersetzung mit vielerlei hermetischem Schrifttum und das erwachte Interesse an alchemistischen Experimenten fand darüber hinaus reichlich Niederschlag

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in der poetischen Produktion der Folgezeit. Fausts Studierstube und Laboratorium, seine kabbalistisch-magischen Versuche und sein Forschen, seine rastlose Suche und seine Unruhe sind ohne das anderthalbjährige gemeinsame Ausforschen der Geheimnisse der Natur im Zusammenhang mit der menschlichen Seelenverfassung und einer natürlichen Religiosität nicht denkbar. In ihrer gelassenen Gesellschaft erlöste Susanna von Klettenberg wie nebenbei den jungen Mann aus seinen Pubertätsnöten und brachte damit auch seine körperliche Heilung auf einen guten Weg. Im März 1770 ist Goethe so weit wiederhergestellt, dass an eine Fortsetzung seiner universitären Studien zu denken ist. Diesmal geht es in den Fußstapfen des Vaters zum Studium nach Straßburg. Das erworbene Wissen wird auch dort weitergepflegt, und natürlich ändern sich zunehmend die Akzente in Goethes naturmagischen und metaphysischen Anschauungen, und seine seelische Verfassung öffnet sich neuen Horizonten. Dennoch hat er das Frankfurter Stiftsfräulein nie vergessen. Er war sich lebenslang im Klaren darüber, was er an ihr gefunden hatte. Es gab weiterhin Kontakte und Besuche bei ihr bis zu ihrem Tod am 13. Dezember 1774 in Frankfurt. Noch im Juni war es auf Lavaters Reise durch Deutschland auf Goethes Vermittlung hin zu einem ‚merkwürdigen und folgenreichen‘ Religionsgespräch zwischen dem Schweizer Schriftsteller und reformierten Züricher Prediger und der empfindsam-ausgeglichenen Seele an seinem langen und medizinisch nie recht fassbaren Krankenbett gekommen. Das Gespräch machte ihm deutlich, dass es ein geschlechtsspezifisches Verhältnis zu Gott gebe, dass, wie Goethe sagt, „Männer und Frauen einen verschiedenen Heiland bedürfen“. (Dichtung und Wahrheit III,14) Fräulein von Klettenberg verhielt sich zu ihrem Heiland wie zu einem Geliebten, Lavater wie zu einem Freund. Diese Erfahrung hatte literarische Folgen, als Goethe die Aufzeichnungen der Susanne von Klettenberg für das sechste Buch seines Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre zur Grundlage der dort eingeschobenen ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘ machte. Nur in einer weiblichen Natur schien ihm innere Ausgeglichenheit und Frieden, schien ihm wirkliche Seelenharmonie möglich. Das Denkmal, das Goethe seiner priesterlichen Ärztin im Roman setzte, sorgte für vielerlei Mutmaßungen, wurde aber schon Mitte Dezember 1795 von Goethes Mutter bestätigt: „Habe Danck daß

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du der unvergeßlichen K. noch nach so vielen Jahren ein so schönes Denkmal gestiftet hast Sie kan dadurch nach Ihrem Tod noch gutes stiften.“

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Friederike Elisabeth Brion 1752–1813

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Am 14. Oktober 1770 schreibt Goethe aus Straßburg an eine Freundin seiner Schwester Cornelia, dass er „einige Tage auf dem Lande bey gar angenehmen Leuten zugebracht“ habe. „Die Gesellschaft der liebenswürdigen Töchter vom Hause, die schöne Gegend, und der freundlichste Himmel, weckten in meinem Herzen iede schlaffende Empfindung, iede Erinnerung an alles was ich liebe.“ Sein Kommilitone und Tischgenosse Friedrich Leopold Weyland aus dem elsässischen Buchsweiler hatte ihn um den 10. Oktober im Hause des ihm weitschichtig verwandten Pfarrers Brion in Sesenheim eingeführt. Die dritte Tochter des Pfarrers, die 18-jährige Friederike, hatte es dem 21-jährigen Jurastudenten auf Anhieb angetan. Aus dem Abstand von gut vierzig Jahren imaginiert sich Goethe die erste Begegnung so: „In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Tür; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf.“ Wiewohl Goethe, wenn er aus seinem Leben erzählt, die Wahrheit gerne dichterisch verklärt, die weitere Schilderung des Eindrucks, den Friederike auf ihn machte, darf einige Wahrheit für sich beanspruchen. „Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen.“ (II,10) Der Sommer – Goethe war seit dem 18. April 1770 in Straßburg immatrikuliert –, die schöne Gegend und der freundschaftliche Himmel verhalfen ansatzweise zum Durchbruch eines neuen Naturgefühls beim angehenden Dichter, die Liebe tat das Ihrige. Kaum aus Sesenheim in Straßburg zurück, erlaubt sich der empfindsame Besucher am 15. Oktober brieflich in die Vollen zu gehen. Mit einer stürmischen Anrede eröffnet Goethe seinen Brief: „Liebe

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neue Freundinn“, schreibt er. „Ich zweifle nicht Sie so zu nennen; denn wenn ich mich anders nur ein klein wenig auf die Augen verstehe; so fand mein Aug, im ersten Blick, die Hoffnung zu dieser Freundschafft in Ihrem, und für unsre Herzen wollt ich schwören; Sie, zärtlich und gut wie ich Sie kenne, sollten Sie mir, da ich Sie so lieb habe, nicht wieder ein Bissgen günstig seyn?“ Ob der Brief mit diesem „hübschen ersten Eingang“, wie die Weimarer Ausgabe gerührt vermerkt, wirklich so abgeschickt wurde, ist strittig; der Brief, den er wahrscheinlich abschickte, enthält jedenfalls – wer hätte es gedacht – den naheliegenden Plan wiederzukommen: „… schon der erste Gedanke, den wir hatten, der auch schon auf dem Weeg unsre Freude gewesen war, endigte sich in ein Projeckt, Sie balde wieder zusehen.“ Geschrieben und getan, und der Lieblingsroman der Litera­ turforschung, für die Dichtung ohne das „Erlebnis“ undenkbar war, hatte seinen Anfang gefunden. Ende Oktober war er wieder da, auch Anfang November und im Dezember 1770 zeigte sich Goethe nachweislich in Sesenheim. Im darauffolgenden Jahr blieb er sogar vom 18. Mai bis zum 23. Juni vor Ort und machte vom Pfarrhaus aus seine Streifzüge durchs Elsass. Dort erlauschte er nicht nur Volkslieder aus „denen Kehlen der ältesten Mütterchens“ (an Herder im September 1771), sondern es entstanden natürlich jede Menge Liebesgedichte – die sogenannten Sesenheimer- und Friederiken-Lieder, die philologisch einige Probleme aufwerfen. Hält man sich an die unproblematischen Gedichte, die Goethe nicht nur zugeschrieben werden, sondern die er selbst autorisiert hat, so verbleiben einige wenige, wenngleich vollkommene Lieder, wie das Mailied, Mit einem gemalten Bande oder Willkommen und Abschied. Auf sie vor allem scheint das Motto gemünzt, das Goethe seinen Liedern später vorangestellt hat: Spät erklingt, was früh erklang, Glück und Unglück wird Gesang.

Von Glück und Unglück, von Liebesfreude und Liebesleid, von Abschied und Schmerz spricht das Gedicht, das spätestens im August 1771 entstanden sein muss: „Willkommen und Abschied“. Seine vierte Strophe erlaubt in der Tat kaum eine andere als eine radikal autobiographische Lektüre. Sie beschreibt auf poetische Weise jene Situation vom 7. August 1771, als Goethe Friederike

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ohne Erklärung für immer verließ, obwohl oder weil man sich in Sesenheim Hoffnung auf eine engere Verbindung machte. In Dichtung und Wahrheit fasst die beredte Dichterzunge den Abschied in sehr lapidarer Weise: „In solchem Drang und Verwirrung konnte ich doch nicht unterlassen, Friederiken noch einmal zu sehen. Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zumute.“ (III,11) Das Gedicht verleiht den „peinlichen Tagen“ und Goethes verdächtigem Vergessen anders als die Autobiographie einen unvergänglichen Glanz. Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe! Aus deinen Blicken sprach dein Herz. In deinen Küssen welche Liebe, O welche Wonne, welcher Schmerz! Du gingst, ich stund und sah zur Erden Und sah dir nach mit nassem Blick. Und doch, welch Glück, geliebt zu werden, Und lieben, Götter, welch ein Glück!

Aus welchen Gründen auch immer Goethe das Mädchen verließ, die Trennung war sehr schmerzhaft und hatte beiderseits einen schwer bezifferbaren Preis. Die Goethe-Forschung wird ihn gleichwohl am wenigsten nennen können. Zwar glaubte Goethe durch seinen Besuch am 25. September 1779 den unerklärbaren Bruch geheilt, wenn er an Charlotte von Stein schreibt: „Ich blieb die Nacht und schied den andern Morgen bey Sonnenaufgang, von freundlichen Gesichtern verabschiedet dass ich nun auch wieder mit Zufriedenheit an das Eckgen der Welt hindencken, und in Friede mit den Geistern dieser ausgesöhnten in mir leben kann.“ Aber Goethes Glaube ist durch kein Wort des Mädchens bestätigt. Hier wie fast in allen Gedichten der Zeit schweigt das Mädchen, es bleibt sprachlos. Sprachlos blieb Friederike auch in ihrem weiteren Leben. Im Bereich der Spekulationen bewegen sich alle Aussagen über ihre Krankheit, über ihren Liebeskummer und über ihre unklare Beziehung zu Goethes Freund Jakob Michael Reinhold Lenz. Sie blieb unverheiratet und zog nach dem Tod des Vaters 1787/88 in die Pfarre ihres Bruders nach Rothau, später zum Schwager nach Diersburg und zuletzt nach Meißenheim. Die Inschrift auf ihrem

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Grabstein konzentriert ihr Leben auf ein, auf das Ereignis des Jahres 1770/71 und zwar so, dass sie auch darin nicht als ein „Ich“ vorkommt: Ein Strahl der Dichtersonne fiel auf sie So reich, daß er Unsterblichkeit ihr lieh!

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Götz von Berlichingen (1773)

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Das Manuskript, das im Herbst des Jahres 1771 in etwa sechs Wochen in Frankfurt nach der Rückkehr Goethes aus dem Elsass nach der 1731 in Nürnberg erschienenen Lebens-Beschreibung Herrn Gözens von Berlichingen … von Wilhelm Friedrich Pistorius entstand, trug den Titel Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand. Dramatisiert. Die Schwester Cornelia hatte zur Niederschrift gedrängt und das Vorhaben zu dem Schauspiel kritisch begleitet, und sie war auch nicht ganz unschuldig an der ein gutes Jahr später erfolgten Umarbeitung dieses ‚Urgötz‘, den Goethe sorgsam aufbewahrte. Der sensationelle Erfolg des Stückes beim zeitgenössischen Publikum ist nicht dem Umstand geschuldet, dass hier vaterländische Geschichte und verklärte Lebensbeschreibung auf die Bühne gebracht wurden – Geschichte war neben der Bibel und der Mythologie stets die Hauptquelle dramatisch-tragischen Theaters –, sondern dass sie in einer Form vorgestellt sind, die bis dahin gänzlich unbekannt war. Als Formgeber entpuppte sich Shakespeare, den nur die allerwenigsten Geister der Zeit wirklich kannten, und er erlaubte, alle Gesetze der bis dato geltenden aristotelischen Poetik über den Haufen zu werfen. Alles konnte nun wild durcheinandergehen, die Schauplätze, die Zeiten und das Personal – hohe und niedrige Standespersonen konnten reden, wie es dem Autor gerade gefiel, in Vers und/oder in Prosa. „Durch die fortdauernde Teilnahme an Shakespeares Werken“, so fasst Goethe in Dichtung und Wahrheit (III,13) später zusammen, „hatte ich mir den Geist so ausgeweitet, daß mir der enge Bühnenraum und die kurze, einer Vorstellung zugemessene Zeit keineswegs hinlänglich schienen, um etwas Bedeutendes vorzutragen. Das Leben des biedern Götz von Berlichingen, von ihm selbst geschrieben, trieb mich in die historische Behandlungsart, und meine Einbildungskraft dehnte sich dergestalt aus, daß auch meine dramatische Form alle Theatergrenzen überschritt, und sich den lebendigen Ereignissen mehr und mehr zu nähern suchte.“

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Die neue Freiheit bot bisher nicht gekannte Möglichkeiten der Charakterisierung, und die dramaturgische Offenheit ließ erstmals auch Frauenbilder zu, die nicht auf stilisiert-pathetischem Kothurn einherschritten oder in reduziert-stereotypen Rollenklischees vorstellig wurden, sondern die als lebenswahr und -echt empfunden wurden, die in mittlerer menschlicher Lage auch die Identifikation eines bürgerlichen Publikums zuließen. Beispielhaft sind neben der Titelfigur deshalb die um sie gruppierten Frauenfiguren des Stückes geworden, die natürlich allesamt poetisch freie Erfindung sind. Da ist zunächst die Ehefrau des Ritters Götz. „Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat!“, entfährt es dem Klosterbruder Martin im Gespräch mit Götz, der ihm bestätigt, dass er ein „edles fürtrefliches Weib“ habe. Brav ist sie, und das meint nicht bieder und gehorsam, sondern abgeleitet aus dem französischen „brave“ soviel wie „tüchtig“ und bei Männern vor allem „tapfer“. Elisabeth ist auf ihre Art auch tapfer, denn an der Seite des Ritters, der sich für seine Überzeugungen in die Schlacht wirft, muss man diese Tugend besitzen und darf nicht ängstlich sein. Nicht im Sinne von wagemutig, sondern von mutig steht sie standhaft an seiner Seite, gefasst in allen Situationen, und zudem ist sie schlicht, arbeitsam, häuslich. Es sind Attribute, die Adelheid von Walldorf, die höfische Gegenfigur, sicherlich nicht beschreiben können, wohl aber Goethes Mutter, Frau Rat, die ihrerseits in solcher Weise später ihre Schwiegertochter, Goethes Christiane, beschrieb. Diese konnte noch nicht als Vorbild dienen, wohl aber lieferte die Mutter einige Züge zum Bild der Frau an der Seite des rauen Burgherrn auf Jagsthausen. Jedenfalls ließ Goethe die Mutter durchaus glauben, dass sie „in Götz von Berlichingens Hausfrau ihr Ebenbild“ erblicken durfte. (Dichtung und Wahrheit IV,18) Redlichkeit von der Art Elisabeths, das war ein bürgerlicher, ein emanzipatorischer Entwurf als Gegenbild zu höfisch-aristokratischer Geziertheit und Galanterie, und sie hat es schwer, heute in diesem Sinne noch über die Rampe zu kommen. Es haftet ihr unschön klebrig Deutsches an, aber auf dem zeitgenössischen Theater bedeutete es Natürlichkeit und Unmittelbarkeit eines unverfälscht authentischen Lebens. „Die Gestalt eines rohen wohlmeinenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit“, so Goethes Qualifizierung in Dichtung und Wahrheit (II,10), „erregte meinen

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tiefsten Anteil.“ Das war ein Zugriff auf Geschichte, so ganz anders als alles, was die Gottsched-Schule lehrte, und nicht nur mit den männlichen Charakteren, sondern auch mit den Frauenzimmern des Stückes habe es das glückliche Bewenden, dass „der größte Meister in weiblichen Charaktergemälden, Shakespeare selbst“, so kein geringerer als Christoph Martin Wieland im Teutschen Merkur (Juni 1774), „nirgend größer in dieser Art von Malerei als unser Dichter in seinen Gemälden von Maria, Elisabeth und Adelheid“ sei. Wieland war einer der wenigen, der so sprechen durfte und konnte, kannte er doch als Übersetzer Shakespeares Werke als einer der ganz wenigen von Grund aus. Natürlichkeit, Einfachheit und Schlichtheit respektive Natura­ lismus heißt aber nicht Kunstlosigkeit. Goethe hat seine wilden Szenerien eines scheinbar sehr realen Lebens als ein kunstvolles Tableau arrangiert, ein Arrangement, das den Zeitgenossen wiederum sehr deutlich vor Augen trat, weil sie ihre Lutherbibel kannten, die nicht nur der Sprache des Stückes einen völlig neuen Ton gab, sondern auch der Geschichte einer Frau an der Seite eines Ritters von Ehre eine ungeahnte Höhe, die nicht durch ihren Stand bestimmt wurde, sondern durch ihr Verdienst. Schon in der Grundanlage des Stückes wird neben der Chronik und der Lebensbeschreibung das Buch der Bücher, die Bibel, als konturierende und überhöhende Möglichkeit genutzt. Die biblische Gleichnisgeschichte vom Verlorenen Sohn ist dem Konflikt zwischen Götz und Weislingen hinterlegt, und insgesamt begegnet dem aufmerksamen und bibelgeschulten Leser die Geschichte des Ritters Götz als eine Passionsgeschichte. In der mutiert Weislingen sehr schnell zu einer Analogie des verräterischen Judas, mit dem einschlägig bekannten Schicksal. Wenn der Gegenspieler zu Götz wie Judas ist, dann ist der Titelrolle die Zentralfigur des Passionsgeschehens zugewiesen. In der Abendmahlszene (3. Akt/ Saal) von Goethes kunstvoll stilisiertem Naturalismus sitzt Götz zwischen seinen Knechten wie Jesus mit seinen Jüngern. Neben der szenischen Entlehnung kennt der scheinbar sprachliche Naturalismus des Stücks, der ob seiner Derbheit manchen Zeitgenossen ziemlich verstört hat, die hohe Kunst des Zitats, der Anspielung, des Redens in vielen Entnahmen und Paraphrasen aus der Bibel. Szenisch und sprachlich gestaltet sich dann die Gefangennahme des Herrn und die Schlussszene in Analogie zur

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österlichen Geschichte von Leiden, Tod und Auferstehung, und neben dem Lieblingsjünger waren, wie die Bibel ausdrücklich betont, auch Frauen da. Mit Götz werden vom Dichter, wie biblisch vorgezeichnet, auch seine Frauen aufgestellt und ausgezeichnet: Elisabeth und Maria in freier Nachgestaltung der heiligen Szenerie und des Vorbildtextes. Elisabeth erscheint da nicht mehr nur „als eine ehrliche, wenig verfeinerte Hausfrau aus einer Zeit, wo die Frau eines Landedelmanns gleich dem guten Weibe Solomons vor Tag aufstund, ihr Haus besorgte, ihre Küche selbst bestellte“ (so Wieland in seiner schon erwähnten Rezension), sondern als eine Frau wie Maria mit den Schwertern im Herzen unter dem Kreuz, die dem Manne, dem Menschensohn in Not und Tod treu zur Seite steht. Der spricht: „Meine Stunde ist kommen. Ich hoffte sie sollte seyn wie mein Leben. Sein Will geschehe.“ (5. Akt, Heilbronn im Thurn) Der Frau Beistand ist ihm sicher und mehr noch, sie ist die Mittlerin, die seinen letzten Worten unter einem frühlingsblauen Himmel – „Freyheit! Freyheit!“ – die endgültige Richtung weist: Elisabeth Nur droben droben bey dir. Die Welt ist ein Gefängniß. (5. Akt, Gärtgen am Thurn)

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Götz von Berlichingen (1773)

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Goethe hatte im August 1771 Sesenheim ohne Erklärung verlassen und Friederike Brion ratlos und voller Schmerz zurückgelassen. Er fühlte sich durchaus schuldig, und er versuchte in schon öfter geübter poetischer Beichte durch „selbstquälerische Büßung einer inneren Absolution würdig zu werden“. So beginnt seine bekennerhafte Bemerkung in den späten Tagen von Dichtung und Wahrheit (III,12) und im Spezifischen benennt er klar die Stücke und die Figuren, in denen die Aufarbeitung seines schlechten Gewissens erfolgte. „Die beiden Marien in Götz von Berlichingen und Clavigo, und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein.“ Wir dürfen das einigermaßen ernst nehmen, obwohl die Buße natürlich literarisch reichlich Belohnung abwarf. Gleichwohl sind die Umrisse der Figuren von Götz’ Schwester und von Weislingen entschieden weiter angelegt, sodass das Personal der Sesenheimer Wirklichkeit sich doch ziemlich schnell verflüchtigt. Maria, auch Marie genannt, ist das Gegenbild zu Adelheid und umgekehrt, und ein wirkliches Gegenbild zu Friederike gab es wohl allenfalls als ein Wunschbild in Goethes zügellosesten Phantasien, denen an entsprechender Stelle nachgefragt werden soll. Vor den Mädchen, denen er sich weniger in leidenschaftlichen Träumen als in wirklicher inniger Liebe ausgeliefert sah, hatte er Angst, da lief er fast immer davon. Und ein solches Mädchen ist Maria. Weislingen und in gewissem Maße natürlich auch Goethe waren keine ernsthaften Partien für ein Mädchen vom Zuschnitt der stillen und edlen Einfachheit, der absoluten Hingebung und auch der Selbstverleugnung. Etwas mit Seelentiefe und Innigkeit oder später auch mit erotisch-sexueller Verführungskraft war schon gewünscht, auch wenn man anders als Weislingen das Exaltierte, die Intrige und die Hemmungslosigkeit lieber poetischfiktiv ausleben wollte. Vor aufrichtiger Schlichtheit musste man kapitulieren oder weglaufen. Weislingen tut beides; er sagt „ja“ und läuft weg zu Adelheid, und darin unterscheidet sich Goethe von

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der schlechten Figur. Er läuft weg, bevor er „ja“ sagen kann. In dem „ja“ Weislingens wird sein Treuebruch für das Mädchen zu einer tödlichen Gefahr, und denjenigen, der im vollen Bewusstsein der Unehrenhaftigkeit eines nicht eingelösten Heiratsversprechens davonzukommen gedenkt, den ereilt zumindest im Drama die poetische Gerechtigkeit. Warum? Von heute aus gesehen mag die Rolle der Maria für junge Charakterdarstellerinnen als undankbar erscheinen. Aber Maria, im Kloster erzogen und scheinbar bescheiden im Hintergrund des Ritters stehend, ist aus der Sicht von damals keinesfalls blass. Sie ist vielmehr die Ikone einer hoffnungsvollen Zukunft jenseits der gesellschaftlichen Missstände. Das erste Liebesgeständnis zwischen Maria und Weislingen bekommen wir nicht zu hören; es war wohl, wie es die Liebe fordert, privat und intim. Das zweite Geständnis auf offener Bühne aber ist mehr als ein Versprechen unter launigen Privatleuten: Hier wird aus dem Bund der Herzen ein Bündnis weit höherer Qualität mit unabsehbaren gesellschaftlichen Folgen. Weislingen ergreift die Initiative, als Götz zu den Liebesleuten dazu kommt: Weislingen. Hier faß ich eure Hand. Laßt von diesem Augenblick an Freundschaft und Vertrauen gleich einem ewigen Gesetz der Natur unveränderlich unter uns seyn. Erlaubt mir zugleich, diese Hand zu fassen. (Er nimmt Mariens Hand) Und den Besitz des edelsten Fräuleins. Götz. Darf ich ja für euch sagen? Maria. Bestimmt meine Antwort nach dem Werthe seiner Verbindung mit euch. Götz. Es ist ein Glück, daß unsere Vortheile diesmal mit einander gehn. Du brauchst nicht roth zu werden. Deine Blicke sind Beweis genug. Ja denn Weislingen! Gebt euch die Hände, und so sprech ich Amen! Mein Freund und Bruder! Ich danke dir Schwester!

Das geht weit über alle Sesenheimer Wirklichkeit hinaus und postuliert ein wenig Menschheitspathos: Bruder, Schwester, Freund und ewiges Gesetz der Natur. Elisabeth, das treffliche Eheweib, gibt ihren Segen dazu, begleitet von einem freundlich-sinnigen Wunsch, der den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmen wird: „Möget ihr so glücklich seyn, als ihr sie lieb behaltet.“ Weislingens Liebe ist wankelmütig, und das Amen auf alle Versprechen wird schnell von ihm gebrochen, und das Glück auf

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allen Ebenen wandelt sich in rasendes Unglück. Der Absturz ist jäh, apokalyptisch sind die Folgen der gebrochenen Verträge, der nicht eingelösten Versprechen. Das Private ist in Maria sehr politisch und gar nicht blass und undankbar und nur unschuldig und fromm und herzensgut. Franz von Sickingen springt für den nichtswürdigen Weislingen in die Bresche und heiratet Götzens Schwester, aber den Schatten des Elenden vermag er nicht wirklich zu verdrängen, weil sich der Liebesverrat als eine abgrundtief düstere Geschichte gesellschaftlicher und allgemein menschlicher Bosheit und Intrige entwickelt. Weislingen, der Adelheid heiratet, wird von dieser um des Kaisersohnes willen vergiftet; der mit den aufständischen Bauern paktierende Götz zum Tode verurteilt. An diesem Punkt wird die Geschichte zwischen Maria und Weislingen noch einmal kurzgeschlossen. Es gelingt ihr, dass der Sterbende das Todesurteil vernichtet, dass er ein Werk seines Verrats aufhebt und der Barmherzigkeit überantwortet, aber ansonsten sind die Bande menschlich schöner Verhältnisse unrettbar zerrissen für immer. Maria bleibt nur, ihre traurige Privatgeschichte durch ein Gebet für den zu beenden, der sich als ein Verräter wie Judas selbst zu den Qualen der Hölle verdammt sieht: Marie. Erbarmer erbarme dich seiner. Nur Einen Blick deiner Liebe an sein Herz, daß es sich zum Trost öffne, und sein Geist Hofnung, Lebenshofnung in den Tod hinüber bringe.

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Auch Adelheid von Walldorf ist eine unhistorische Figur, und sie repräsentiert zunächst einmal die höfische Welt, die sich hart an der ritterlichen Welt des Götz von Berlichingen reibt; von der bäuerlichen Welt des Stücks ist sie ohnehin so weit abgehoben, dass der soziale Zündstoff bei Hofe gar nicht wahrgenommen wird. Adelheid ist, auch das soll es gegeben haben, keine heilige Elisabeth auf der Wartburg, die zu den Armen herabsteigt, sondern eine ehrgeizige und berechnende Frau, die auch ihre Schönheit und Eleganz klug am Hof für ihren Nutzen einzusetzen weiß. Sie ist bereits Witwe, aber das macht sie eher begehrenswerter, erhöht ihre erotische Ausstrahlung und Weltläufigkeit und umgibt sie mit einem Zug von leichter Dämonie. Ob sie einen Mann liebt oder ihn nur für ihre Zwecke zu instrumentieren weiß, kann sie zunächst gut verbergen, sodass ein weicher Charakter wie Adelbert von Weislingen, ebenfalls eine fiktive Figur, zu einem leichten Opfer ihre Intrigen wird. Ein Schurke ist er nicht, jedenfalls nicht zu Beginn der Geschichte, und auch Adelheid ist nicht als Verbrecherin geboren und noch keine, wenn wir sie kennen lernen. Dies ist wichtig zu betonen, weil die Figuren damit weniger als Typen, denn als Charaktere angelegt sind, die eine Entwicklung haben und natürlich als Kunstfiguren auch einen literarischen Stammbaum. Lessings Personal seines bürgerlichen Trauerspiels Miss Sara Sampson lugt aus allen Falten des dramaturgischen Plots von Goethes Stück, und zunächst besitzen alle Figuren einen moralisch einigermaßen ausgeglichenen Kontostand. Wie könnte Goethe sonst ernstlich behaupten, er habe sich, indem er „Adelheid liebenswürdig zu schildern trachtete, selbst in sie verliebt“. Unwillkürlich, so seine Analyse in Dichtung und Wahrheit, „war meine Feder nur ihr gewidmet, das Interesse an ihrem Schicksal nahm überhand, und wie ohnehin gegen das Ende Götz außer Tätigkeit gesetzt ist, und dann nur zu einer unglücklichen Teilnahme am Bauernkriege zurückkehrt, so war nichts natürli-

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cher, als daß eine reizende Frau ihn bei dem Autor ausstach, der die Kunstfesseln abschüttelnd, in einem neuen Felde sich zu versuchen dachte“. (III,13) Goethe qualifiziert seinen Eifer für Adelheid als „tadelhaften Überfluß“, aus der Sicht von Friederike Brion, der er in Maria Abbitte und poetische Beichte und Buße gewährt haben wollte, stellt sich das doch eher wie ein lustvoller literarischer Seitensprung dar, wie eine willkommene Gelegenheit, eine Sünde durch eine andere vergessen machen zu wollen. Gut, Goethe stutzt Adelheid im zweiten Entwurf, der Druckfassung, etwas zurecht, mildert den Überschwang ein wenig, aber geblieben ist doch die Faszination des Autors für eine dämonische Frau, die nicht die Liebe – die ist ihr nur Mittel zu Zwecken –, sondern ihr Ehrgeiz und ihr Wissen um ihre berauschende Schönheit in den Abgrund stürzt. Schön ist sie und böse wird sie. Sie weiß das eine und sie will das andere. Sein treuer Bediensteter Franz schildert Weislingen im ersten Akt eine Frau, in die der Dichter durchaus verliebt ist, aber auch nur so wie Weislingen vom Hörensagen: Gehört? Das ist eben als wenn ihr sagtet, ich hab die Musik gesehen. Es ist der Zunge so wenig möglich eine Linie ihrer Vollkommenheiten auszudrucken, da das Aug so gar in ihrer Gegenwart sich nicht selbst genug ist.

Sehen muss man sie, meint Franz, schon vom Anschauen wird man – nein nicht besoffen –, sondern trunken vor Seligkeit. Das letztemal daß ich sie sahe, hatte ich nicht mehr Sinne als ein Trunkener. Oder vielmehr, kann ich sagen, ich fühlte in dem Augenblick, wie’s den Heiligen bey himmlischen Erscheinungen seyn mag. Alle Sinne stärker, höher, vollkommener, und doch den Gebrauch von keinem. […] Adel und Freundlichkeit herrschten auf ihrer Stirne. Und das blendende Licht des Angesichts und des Busens wie es von den finstern Haaren erhoben ward! (1. Akt, Jaxthausen)

Willenlos fühlt sich Franz, möchte nur der elfenbeinerne König des Schachspiels in ihrer Hand sein, und ganz so wird Weislingen in ihrer Hand werden, geführt, gänzlich beherrscht und, weil gelingend, auch tief verachtet von Adelheid. Aber anders als Franz und Weislingen ist dem Dichter klar, dass es sich bei Adelheid um eine Wunschprojektion handelt. Insofern ist er einerseits wie Franz und Weislingen und doch andrerseits kein Schurke wie diese, und als

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bestimmender Autor führt natürlich er die Figuren, die ihn nur gelegentlich bestechen können. Sie haben und wollen ihre Schicksale, die privaten wie die politischen, die sich kreuzen und verhaken und wechselseitig verheddern, sodass sich die Intrigen in Richtungen verselbständigen, die nicht vorgesehen waren und ein Ende nehmen, das keiner wirklich wollte. Adelheid, die durch Weislingen in ihrem Glauben an die Tüchtigkeit der Männer verzweifelt und sich nach ihrer Verheiratung selbst im Wege zu ehrgeizigeren Plänen steht, lässt ihn kurzerhand vergiften. Das beschleunigt auch ihren Absturz. Der Bamberger Hof, der durch den „Engel in Weibergestalt“ einmal der „Vorhof des Himmels“ war, ist nun durch sie zu einem Vorhof der Hölle geworden, denn, wie das heimliche Gericht feststellt, ihre Missetat ist groß: „Sie hat sich des Ehebruchs schuldig gemacht, ihren Mann vergiftet durch ihren Knaben. Der Knab hat sich selbst gerichtet, der Mann ist todt.“ (5. Akt, Gewölbe) Ein Engel anderer Art war auch Maria im Anbeginn. Erklärte zuerst Franz dem Weislingen die Schönheit Adelheids, so schildert im Anschluss dieser dem wie ein Dichter schwärmenden Franz die Schönheit Marias. Zwei rivalisierende Engelsbilder werden ins Rennen geschickt. Beide Schwärmer sind begabt mit dem Blick ihres Autors. Weislingen lobt den Tag in vollen Tönen, noch bevor es Abend ist: Meine sanfte Marie wird das Glück meines Lebens machen. Ihre süße Seele bildet sich in ihren blauen Augen. Und weis wie ein Engel des Himmels, gebildet aus Unschuld und Liebe, leitet sie mein Herz zur Ruhe und Glückseligkeit. (1. Akt, Jaxthausen)

Weislingen hat sich dann doch für den gefallenen Engel entschieden, für die luziferische Erscheinung, die im Verlauf des Schauspiels das Negativ zu Berlichingens Schwester Maria wird, wie dieser die erhaben positive Form seines Bruders Weislingen darstellt. Was macht jeweils ihren Unterschied? Die Negativformen, die Hohlformen, sind das Hilfsmittel bei Herstellung der erhabnen Formen, sind der Umweg zum erwünschten Ergebnis.

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Charlotte Sophie Henriette Buff verh. Kestner 1753–1828

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Es war ihr wahrlich nicht an der Wiege gesungen worden, dass sie schon in jungen Jahren eine Weltberühmtheit werden sollte, als sie am 11. Januar 1753 in Wetzlar als zweites von 16 Kindern des Deutsch-Ordens-Amtmanns Heinrich Adam Buff (1711–1795) und seiner Ehefrau Magdalena Ernestina Buff, geb. Feyler (1731– 1771) geboren wurde. Die Alterskonstellation der Eltern war eher üblich: der Vater, bei ihrer Geburt schon 42 Jahre alt, die Mutter gerade 22 Jahre jung. Sie hatte noch 16 Schwangerschaften vor sich, um mit gerade einmal 40 Jahren 1771 zu sterben. Der Jammer im Hause war groß, bei zehn überlebenden Kindern. Lotte versorgte wie selbstverständlich ihre neun Geschwister, denen sie wie eine Mutter war. Schon mit 15 Jahren wurde sie 1768 verlobt mit dem um zwölf Jahre älteren Johann Christian Kestner, der als hannoveranischer Legationssekretär am Reichskammergericht in Wetzlar arbeitete. Heiraten konnten die beiden erst fünf Jahre später, als Kestner in Hannover eine Stelle als Vizearchivar in Aussicht hatte. Nach der Heirat zog das Ehepaar 1773 dorthin, wo Charlotte ihrem Mann 12 Kinder gebar. Kestner brachte es zum königlich großbritannisch-hannoveranischen Hofrat und starb 1800 auf einer Dienstreise in Lüneburg. Charlotte überlebte ihn um 28 Jahre und war, wie nach dem Tode der Mutter um ihre Geschwister, nach dem Tode ihres Mannes um die Versorgung ihrer Kinder bemüht. Sie starb am 16.Januar 1828, betrauert von neun ihrer Kinder, von 15 Enkeln und fünf Urenkeln; ihr Grabmal findet sich auf dem Gartenfriedhof in Hannover. Mit einer solchen Biographie war keine Weltberühmtheit zu erlangen und vermutlich hätte sich nicht einmal das Grabmal der redlichen Frau bis heute erhalten, wenn sich nicht am 25. Mai 1772 ein Praktikant am Reichskammergericht eingetragen hätte: Johann Wolfgang Goethe, ein bis dato nicht sehr erfolgreicher Jurist und auch als kraftgenialischer Dichter eher noch unauffällig. Er hatte wenig Verpflichtungen, viel Zeit und jede Menge Vorsätze, weni-

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ger die Juristerei als vielmehr die Literatur betreffend. Er wollte gerne Homer und Pindar lesen, für seinen Freund Merck ein paar Beiträge für die von diesem herausgegebenen Frankfurter Gelehrten Anzeigen schreiben, eventuell seinen ersten Entwurf des Götz von Berlichingen umarbeiten und sich durchaus auch ein wenig vergnügen. Am 9. Juni 1772 besucht er einen Ball in Volpertshausen bei Wetzlar. In dem dortigen Jagdhause hatten sich etwa 25 Personen eingefunden, darunter einige Juristen des Reichskammergerichts. Auch der Kollege Kestner, den Goethe erst seit wenigen Tagen kannte, war anwesend. Dieser hatte seine Verlobte, Charlotte Buff, dabei. Der Rest ist Literatur, und Goethe belässt es in Dichtung und Wahrheit bei dem Hinweis, dass nicht wiederholt werden soll und kann, was schon getan ist (III,12). Und da ihm vermutlich die unsterblich gewordenen Szenen, die Lotte beim Brotschneiden oder am Fenster beim Gewitter schildern, im Roman genug behandelt schienen, übergeht er sie großzügig und besinnt sich auf die Bruchstücke seines Autorenlebens, die noch im Dunkeln liegen. Nachdem der Selbsterlebensbeschreiber zu Kestner und seiner Braut die nötige Grundskizze geliefert hat, bestimmt er seine eigene Position in dem Beziehungsgeflecht, das völlig unspektakulär war und das jeder Autor als Plot für eine Geschichte als zu dürftig beiseiteschieben würde. „Der neue Ankömmling“, so Goethe über sich, „völlig frei von allen Banden, sorglos in der Gegenwart eines Mädchens, das, schon versagt, den gefälligsten Dienst nicht als Bewerbung auslegen und sich desto eher daran erfreuen konnte, ließ sich ruhig gehen, war aber bald dergestalt eingesponnen und gefesselt, und zugleich von dem jungen Paare so zutraulich und freundlich behandelt, daß er sich selbst nicht mehr kannte. […] Erlaubten es dem Bräutigam seine Geschäfte, so war er an seinem Teil dabei; sie hatten sich alle drei aneinander gewöhnt ohne es zu wollen, und wußten nicht, wie sie dazu kamen, sich nicht entbehren zu können. So lebten sie, den herrlichen Sommer hin, eine echt deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa, und eine reine Neigung die Poesie hergab.“ Die Idylle bekam Risse; sie waren nicht dramatisch, aber doch die schöne Unschuld mit wechselseitigen Eifersüchteleien leicht erröten machend. Goethe hatte sich von Lotte einen Kuss gestohlen, und als sie ihm deklarierte, dass er nichts als Freundschaft hof-

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fen dürfe, begann Goethe sich zu besinnen, dass die Schicklichkeit keinen weiteren Aufenthalt im Deutschen Haus mehr zuließ. Am 28. August feierte man noch gemeinsam Kestners und Goethes Geburtstag und am 11. September 1772 verließ er, der natürlich in Lotte bis zum Enthusiasmus verliebt war, ohne sich zu verabschieden Wetzlar. Ein sentimentales Gespräch der drei Liebesleute am Vorabend – der Vorsatz zu gehen war schon gefasst, der Abschiedsbrief wurde aber erst in der Nacht geschrieben – gab den letzten Anstoß zur sofortigen Abreise. Was der spätere Roman von der Geschichte Lottes, Kestners und Goethes zu erzählen weiß, endet spätestens hier. Das Gespräch vom 10. September schließt mit gleichem Datum (allerdings mit der Jahreszahl 1771) den ersten Teil des 1774 im Herbst erschienenen Romans Die Leiden des jungen Werthers. Goethes nächtlicher Brief an Charlotte Buff ist dort zu Literatur verwandelt nachzulesen. In der Lebensprosa lautete er: „Wohl hoff ich wiederzukommen, aber Gott weis wann. Lotte wie war mirs bey deinem reden ums Herz, da ich wusste es ist das letztemal dass ich Sie sehe. Nicht das letztemal, und doch geh ich morgen fort. Fort ist er. Welcher Geist brachte euch auf den Diskurs. Da ich alles sagen durfte was ich fühlte, ach mir wars um hienieden zu thun, um Ihre Hand die ich zum letztenmal küsste. Das Zimmer in das ich nicht wiederkehren werde, und der liebe Vater der mich zum letztenmal begleitete. Ich binn nun allein, und darf weinen, ich lasse euch glücklich, und gehe nicht aus euern Herzen. Und sehe euch wieder, aber nicht morgen ist nimmer. Sagen Sie meinen Buben er ist fort. Ich mag nicht weiter.“ Goethe war morgens um 7 Uhr ziemlich niedergeschlagen aufgebrochen und wanderte „dem Entschluss nach frei, dem Gefühle nach befangen“ (Dichtung und Wahrheit III,13) der Lahn entlang über Weilburg und Limburg nach Ehrenbreitstein bei Koblenz. Am Montag, dem 14. September, erreichte er das Haus des Geheimrats von La Roche und seiner Ehefrau, der Schriftstellerin Sophie von La Roche. Der heitere Weltsinn, der das Haus regierte, und die Töchter, die 16-jährige Maximiliane und die dreizehnjährige Luise, verbesserten Goethes Stimmung sehr rasch. Am 21. September war er zu rück in Frankfurt, wo er sich Lottens Silhouettenbild in seinem Zimmer ansteckte. Man blieb vorerst in brieflich intensivem Kontakt bis zum Erscheinen des Werther; nach der Heirat

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und dem Umzug der Kestners nach Hannover verlieren sich die Kontakte allmählich. Es gab später noch, wie auch von anderer Seite immer wieder geschehen, kleine Bitten um Vermittlungen und Gefälligkeiten und die eine oder andere Gelegenheit, wo einer der Söhne Charlotte Kestners Goethe kurz begegnete. Sie selbst traf Goethe erst im September 1816 anlässlich eines Aufenthalts in Weimar wieder. Die Wiederbegegnungen der mittlerweile weit über 60-jährigen ehemaligen Jugendfreunde bei einer Einladung zum Essen, bei einer kleinen Teegesellschaft und bei einem Theaterbesuch verliefen ohne nennenswerte Begeisterung. Wiederum blieb es der Literatur vorbehalten, daraus ein Ereignis zu machen. Thomas Mann spielt in seinem 1939 erschienenen Roman Lotte in Weimar noch einmal in virtuoser Erzählweise alle mit den realen Biographien und dem Stoff verbundenen Perspektiven durch, um mit seiner Verbeugung vor Goethe seinerseits eine Selbstbestimmung für sein künstlerisches Werk zu geben.

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Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Mit seinem Abschied am 11. September 1772 aus Wetzlar war natürlich das Szenarium für den Roman Die Leiden des jungen Werthers noch lange nicht entworfen. Es fehlte der Geschichte nicht nur der Schluss, sondern alle Ingredienzien, die die Stimmungslage der Zeit hätten erregen können. Zugegeben, die Hauptszenen des ersten Teils mit der rührend-häuslichen Szene, in der Lotte den Geschwistern das Brot schneidet, und mit dem anschließenden Ball waren mit der „deutschen Idylle“, die Charlotte und Goethe im Sommer 1772 durchlebten, und mit dem Kennenlernen in Volpertshausen noch klar aufeinander beziehbar. Die Charlotte, die Goethe beim Ball und im Deutschordenshof in Wetzlar kennenlernte, und die Lotte, der Werther im Roman begegnet, mochten noch einigermaßen wie Bild und Abbild zueinander passen. Sah der junge Goethe in Charlotte aus der Erinnerung von Dichtung und Wahrheit „eine leicht aufgebaute, nett gebildete Gestalt, eine reine gesunde Natur und die daraus entspringende frohe Lebenstätigkeit“ (III,12), so sieht Werther im Roman – vor allem im zu weltliterarischer Berühmtheit gewordenen Brief vom 16. Juni 1771 – die Situation in einem wohlkalkulierten Paradestück des idyllischen Genres gerade noch erkennbar: Ich gieng durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da […] fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich jemals gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder, von eilf zu zwey Jahren, um ein Mädchen von schöner mittlerer Taille, die ein simples weisses Kleid mit blaßrothen Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brod und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stük nach Proportion ihres Alters und Appetites ab, gabs jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rufte so ungekünstelt sein: Danke! indem es mit den kleinen Händchen lang in die Höh gereicht hatte, eh es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrode vergnügt entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davon nach dem Hofthore zugieng, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darinnen ihre Lotte wegfahren sollte.

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So oder so ähnlich mag es tatsächlich gewesen sein, und vielleicht auch auf dem anschließenden Balle. Doch zunehmend wird da schon deutlich, dass der besinnungslose Glückstaumel Werthers und die empfindsam-sentimentale Art Lottes mit den Wetzlarer Realitäten bei aller Exzentrik, die Goethe durchaus eigen war, nur noch entfernt zu tun hatten: Wir traten an’s Fenster, es donnerte abseitwärts und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquikkendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihrem Ellenbogen gestüzt und ihr Blik durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock! Ich versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Loosung über mich ausgoß. Ich ertrugs nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollesten Thränen.

Goethe selbst war es bald leid, das Verständnis des Werkes auf die Frage reduziert zu sehen, was denn an der Geschichte wahr sei. Herzlich wenig, und mit Goethes Abreise hätte die kleine Idylle ihr Ende gehabt. In Dichtung und Wahrheit rückt Goethe die durch den Roman verwirrten Fakten der Realität zurecht, indem er bei der autobiographischen Darstellung der Zeit in Wetzlar sein berühmtestes Werk völlig unberücksichtigt lässt: „Ich trennte mich von Charlotten“, so die zusammenfassende Passage zu den Monaten Mai bis September 1772 in Wetzlar, „zwar mit reinerem Gewissen als von Friedriken, aber doch nicht ohne Schmerz. Auch dieses Verhältnis war durch Gewohnheit und Nachsicht leidenschaftlicher als billig von meiner Seite geworden; sie dagegen und ihr Bräutigam hielten sich mit Heiterkeit in einem Maße, das nicht schöner und liebenswürdiger sein konnte, und die eben hieraus entspringende Sicherheit ließ mich jede Gefahr vergessen. Indessen konnte ich mir nicht verbergen, daß diesem Abenteuer sein Ende bevorstehe: denn von der zunächst erwarteten Beförderung des jungen Mannes hing die Verbindung mit dem liebenswürdigen Mädchen ab; und da der Mensch, wenn er einigermaßen resolut ist, auch das Notwendige selbst zu wollen übernimmt, so faßte ich den Entschluß, mich freiwillig zu entfernen, ehe ich durch das Unerträgliche vertrieben würde.“ (II,12) Wie aber kam es schließlich doch zu Werthers Lotte und zu

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Werthers Leiden und zu einer literarischen Sensation? Zum einen, und Goethe macht selbst darauf aufmerksam, ist Lotte – wie eine Venus, die aus mehreren Schönheiten herausstudiert wurde –, eine Figur, die obgleich die Hauptzüge von einer geliebten Frau stammen, eine Gestalt mit den Eigenschaften mehrerer „hübscher Kinder“. „Diese mehreren Lotten aber brachten mir unendliche Qual“, erzählt Goethe, „weil jedermann der mich nur ansah, entschieden zu wissen verlangte, wo denn die eigentliche wohnhaft sei.“ (Dichtung und Wahrheit III,12) Die Zudringlichen sollten sich aber selbst Antwort geben, denn Lotte ist eben nicht in Wetzlar „wohnhaft“, noch sind dies Werther oder Albert, sondern im imaginär-fiktiven Raum der Literatur. Lotte ist so wenig Charlotte, wie Werther unmittelbar Goethe und Albert gleich Kestner ist. Für Werther bedurfte es neben Goethe ohnehin noch einer weiteren Figur, die wesentlich Pate stand: Erst der Selbstmord des Legationssekretärs Carl Wilhelm Jerusalem (1747–1772) am 30. Oktober 1772, aus unglücklicher Liebe zu einer verheirateten Frau, lange nach der Abreise Goethes aus Wetzlar, ließ beim Dichter das autobiographische Material zu einer kritischen Masse zusammenschießen. Dass ausgerechnet Kestner völlig ahnungslos seine Pistolen zu Jerusalems Verzweiflungstat zur Verfügung stellte, kam der Dramaturgie des Romans sehr gelegen. Angereichert durch weitere Erlebnisse mit Maximiliane von La Roche und deren um gut zwanzig Jahre älteren Bräutigam Peter Anton Brentano drängte es Goethe erst im Februar 1774 zur Niederschrift einer Geschichte, die wahrer als die Wirklichkeit ist, weil sie diese allenfalls in ihrer Möglichkeitsform zeigt. Als diese Möglichkeitsform ist Werthers Lotte und Alberts Verlobte ein Geschöpf liebevollster Idealisierung seitens des Autors Goethe wie des Briefeschreibers Werther, der ja ein Autor von Goethes Gnaden ist. Durch ihn und durch die ihm zudiktierte Briefform ist alle Freiheit zu den Ausbrüchen an Gefühl und Schwärmerei gegeben und zu allen Wendungen ins Subjektive einer neuen Natur- und Freiheitsbegeisterung, die den Roman Goethes so erfolgreich beim Publikum der Zeit und bis heute werden ließen. Diese Idealisierung Goethes – ihre aus „mehreren Lotten“ gewonnene Anmut, Natürlichkeit, Schlichtheit und Herzensbildung, Unschuld, Liebe und Treue, Empfindsamkeit und Häuslichkeit – darf Werthers Rede in den Superlativ treiben. Er tut es als bür-

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gerlich-empfindsamer Intellektueller durchaus reflexiv kontrolliert, wenn er seinem Freund Wilhelm mitteilt, dass er „ein’s der liebenswürdigsten Geschöpfe habe kennen lernen“ dürfen, ja gar einen Engel. Aber das verwirft er sofort: Einen Engel! Pfuy! das sagt jeder von der seinigen! Nicht wahr? Und doch bin ich nicht im Stande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist, genug, sie hat all meinen Sinn gefangen genommen. So viel Einfalt bey so viel Verstand, so viel Güte bey so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bey dem wahren Leben und der Thätigkeit. – Das ist alles garstiges Gewäsche, was ich da von ihr sage, leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbst ausdrükken. Ein andermal – Nein, nicht ein andermal, jezt gleich will ich dir’s erzählen.

Weil es so schwer zu sagen ist, wie das Mädchen ist, greift er zur Erzählung, in der sich ein Charakter zeigt und beweist: die Idylle im häuslichen Kreise, die unschuldigen Vergnügungen des Balles oder die gemeinsamen Lektüreerlebnisse. Und nie ist diese Erzählung objektiv, sondern sie gibt sich schutzlos in schönster Subjektivität preis. Der Leser kann nicht böse sein, weil er mit den Augen des Helden schauen und lieben und leiden muss. Spricht dieser über die Liebe, so mehr über seine Liebe als über die Liebe der Geliebten, weil er sich der Liebe der schönen Seele, des Traumbildes, das er sich von ihr macht, gar nicht sicher sein kann. So ist Lotte im Gegensatz zu ihrem Urbild Charlotte, die doch sehr geerdet war, ein verklärtes Engelsbild, das uns eher als ätherische denn als irdische Erscheinung begegnet. Diese Diskrepanz verstärkt sich im zweiten Teil des Romans eher noch. Als Werther ein knappes Jahr später, seinem Herzen folgend, im Juli 1772 wieder zu Lotte und Albert zurückkehrt, sind diese verheiratet. Lotte gibt sich glücklich in ihrer Ehe, aber Werther, der kompromisslos alles auf die Liebe setzt, verstrickt sich immer mehr in seine Zweifel am Sinn seines Lebens. In Lottes Beziehung zu ihm vermag er überhaupt nicht mehr zu erkennen, ob es ihrerseits Liebe oder eher Mitleiden mit seiner krankhaften Empfindlichkeit ist, die sie ihm erweist. Er ist vom ersten Tag seiner Rückkehr an darauf fixiert:

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Wilhelm, sie wäre mit mir glüklicher geworden als mit ihm! O er ist nicht der Mensch, die Wünsche dieses Herzens alle zu füllen. (II, am 29. Juli)

Ob Lotte mit ihm glücklicher werden wollte, diese Frage stellt sich ihm ernstlich überhaupt nicht, und da der Roman ganz auf Werther fokussiert ist, bleibt unentschieden, ob Lottes steigende Angst und Verwirrung ihrer Liebe oder ihrer Sorge um Werthers Leben zuzuschreiben sind. Die Sanduhr läuft und die Szenerie wird düsterer und düsterer, so umnachtet, wie der wirkliche Sommer in Wetzlar nicht einen Augenblick war. Roman und Biographie sind zwei sehr getrennte Angelegenheiten, die – auch wenn der Werther-Film von Philipp Stölzl aus dem Jahr 2010 erneut Fiktion und Wirklichkeit vermengt – um der hier erforderlichen Klarheit willen deutlich getrennt bleiben sollten. Goethes Liebe zu Charlotte führte in den Roman (er hat erstaunlicherweise in Wetzlar anders als in Sesenheim keine Gedichte geschrieben), Werthers Liebe zu Lotte führte in einen Untergang, der nicht nur tragisch war, sondern als Selbstmord auch moralisch und religiös heftigen Streit auslöste. Lotte sieht diesen Untergang kommen und sie weiß kein Mittel, Werther zu hindern. Dieser beginnt im Oktober 1772 (II. Teil) nach dem heiteren Homer des Vorjahres im Ossian zu lesen, dessen düstere Nebelstimmungen und gespenstischen Geister das religiös grundierte neue Naturgefühl wie seine Liebe ins Exaltierte treiben. Erstaunt stellt er am 8. November fest: „Sie hat mir meine Exzesse vorgeworfen! Ach mit so viel Liebenswürdigkeit!“, dass der Vorwurf weniger als ein Dämpfer, sondern vielmehr wie ein Brandbeschleuniger wirkt. „Bester“, schreibt er dem Freund Wilhelm, „ich bin dahin! Sie kann mit mir machen was sie will.“ Was will Lotte mit Werther machen? Garantiert nicht das, was er aus seinem Leben zunehmend macht. Sie ist empfindsam, er aber ist krankhaft selbstquälerisch und stellt sein Scheitern in der Liebe dem Tode gleich, von dem er sich immer mehr eingesponnen sieht. Da wir von ihrer Verfassung nichts durch Werthers Briefe erfahren können – er erzählt nicht mehr wie noch im I. Teil, er ist nur noch seiner Introspektion verpflichtet –, kommt zunehmend ein immanenter Erzähler, der fiktive Herausgeber seiner Briefe, ins Spiel. Nur durch ihn erfahren wir von Lotte, und seine Objektivität gibt einen Kontrapunkt zu den immer hitzige-

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ren Auslassungen des verzweifelten Liebhabers. In seiner ruhigen Berichterstattung ist ihr Part in guten und gerechten Händen. Ihre Worte werden in seiner Erzählung gleichsam zu Argumenten des mitleidenden Lesers, um den schwärmerischen Exzessen Werthers Einhalt zu gebieten: O! warum mußten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft für alles, das Sie einmal anfassen, gebohren werden. Ich bitte Sie, fuhr sie fort, indem sie ihn bey der Hand nahm, mässigen Sie sich, Ihr Geist, Ihre Wissenschaft, Ihre Talente, was bieten die Ihnen für mannigfaltige Ergözzungen dar! seyn Sie ein Mann, wenden Sie diese traurige Anhänglichkeit von einem Geschöpfe, das nichts thun kann als Sie bedauren.

Werther aber knirscht mit den Zähnen und blickt Lotte düster an. Solche Argumente klingen dem Verzweifelten eher wie Hohn, der natürlich nie und nimmer beabsichtigt war. Nur einen Augenblik ruhigen Sinn, Werther, sagte sie. Fühlen Sie nicht, daß Sie sich betrügen, sich mit Willen zu Grunde richten? Warum denn mich! Werther! Just mich! das Eigenthum eines andern. Just das! Ich fürchte, ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit mich zu besizzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht.

Wer am Abgrund steht, wer schon zum Sprung entschlossen ist, hört natürlich immer nur das Gegenteil des Gemeinten, wittert heimlichen Hohn: Das könnte man, sagte er mit einem kalten Lachen, drukken lassen, und allen Hofmeistern empfehlen. Liebe Lotte, lassen Sie mir noch ein klein wenig Ruh, es wird alles werden.

Die Wendung kommt schnell. Am Abend des 21. Dezember geht er ein letztes Mal zu Lotte. Sie ist in gedrückter Stimmung. Sie saß in ihrer Einsamkeit, ihr Herz ward weich, sie sah das Vergangene, fühlte all ihren Werth, und ihre Liebe zu ihrem Manne, der nun statt des versprochenen Glüks anfieng das Elend ihres Lebens zu machen. Ihre Gedanken fielen auf Werthern. Sie schalt ihn, und konnte ihn nicht hassen. Ein geheimer Zug hatte ihr ihn vom Anfange ihrer Bekanntschaft theuer gemacht, und nun, nach so viel Zeit, nach so manchen durchlebten Situationen, mußte sein Eindruk unauslöschlich in ihrem Herzen seyn. Ihr gepreßtes Herz machte sich

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endlich in Thränen Luft und gieng in eine stille Melancholie über, in der sie sich je länger je tiefer verlohr.

Als Werther die Treppe hochstürzt, ist ihre Verwirrung groß. Natürlich überstürzen sich auch bei ihr die entgegengesetztesten Gefühle; zudem sieht sie sich in einer kompromittierenden Situation, die zu bestehen ihr schließlich doch die „Reinheit ihres Herzens“ half. Der Höhepunkt wird durch eine lange gemeinsame Lektüre der von Werther übersetzten Ossian-Passagen hinausgezögert, bis die ganze Gewalt der poetischen Rede über den Unglücklichen fällt. Der wohl von Lotte unterrichtete Herausgeber schildert das so: … er warf sich vor Lotten nieder in der vollen Verzweiflung, faßte ihre Hände, drukte sie in seine Augen, wider seine Stirn, und ihr schien eine Ahndung seines schröklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen. Ihre Sinnen verwirrten sich, sie drukte seine Hände, drukte sie wider ihre Brust, neigte sich mit einer wehmüthigen Bewegung zu ihm, und ihre glühenden Wangen berührten sich. Die Welt vergieng ihnen, er schlang seine Arme um sie her, preßte sie an seine Brust, und dekte ihre zitternde stammelnde Lippen mit wüthenden Küssen. Werther! rief sie mit erstikter Stimme sich abwendend, Werther! und drükte mit schwacher Hand seine Brust von der ihrigen! Werther! rief sie mit dem gefaßten Tone des edelsten Gefühls; er widerstund nicht, lies sie aus seinen Armen, und warf sich unsinnig vor sie hin. Sie riß sich auf, und in ängstlicher Verwirrung, bebend zwischen Liebe und Zorn sagte sie: Das ist das leztemal! Werther! Sie sehn mich nicht wieder. Und mit dem vollsten Blik der Liebe auf den Elenden eilte sie in’s Nebenzimmer, und schloß hinter sich zu.

Was weiter geschieht, ist wesentlich Werthers Part, zu dem Lotte nur noch einen unseligen Beitrag leisten muss. Sie reicht Werthers Knaben die gewünschten Pistolen, mit denen er sich in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember erschießt, nachdem er seine bescheidenen Habseligkeiten geordnet hatte. Lotte war schon die letzten Tage in einer „fieberhaften Empörung“ und ihr Herz war von „tausenderley Empfindungen“ zerrüttet. Die Bitte des Knaben um die Pistolen brachten sie in die größte Verlegenheit, die sich bei Bekanntwerden der schrecklichen Nachricht in unendlichen Jammer verwandelte, sodass man für Lottens Leben fürchtete.

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Über die unvermeidlichen Indiskretionen, die mit dem poetischen Selbstheilungsversuch Goethes verbunden waren, zeigten sich die Beteiligten nicht uneingeschränkt begeistert. In einem nicht an Goethe abgeschickten Brief fühlt sich Kestner in seiner Person doch ziemlich prostituiert und zu einem groben Klotz gemacht. Er mutmaßt, damit der Autor umso stolzer auf ihn hintreten und sagen kann, „seht was ich für ein Kerl bin!“ Und auch der wirklichen Lotte, so Kestners Briefentwurf, „würde es in vielen Stücken leid seyn, wenn sie Eurer da gemalten Lotte gleich wäre“.

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Urfaust / Faust ein Fragment / Faust I (1772 / 1792 / 1808)

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Am Dienstag, dem 14. Januar 1772, gab es ein absonderliches Spektakel in Frankfurt, die Hinrichtung der Kindsmörderin Susanna Margarethe Brandt. Goethe hat den Prozess verfolgt. Sie gab wohl die erste Anregung für den Entwurf einer Figur, deren Ausführung sich ansonsten weitgehend der Phantasie des Autors verdankt. Ohne Vorbild in der Tradition des Faust-Stoffes ist Gretchen bereits im ersten Entwurf, den Goethes mit dem sogenannten Urfaust in den Jahren 1772–1775 aufs Papier brachte, voll ausgebildet. Schon dort integriert er in den Kontext der Sage um den mittelalterlichen Magier und Gelehrten Faust ein „bürgerliches Trauerspiel“, in dem er ein vieldiskutiertes Thema der Zeit abhandelt, das bis heute nichts von seiner Brisanz verloren hat. Gretchen – in dieser Verkleinerungsform war das Wort auch eine Bezeichnung für „Hure“ – ist wie Susanna Margarethe Brandt als Kindsmörderin nach der „Oberfläche“ der bürgerlichen Gesellschaft, nach Religion, nach Sitte und Gesetz schuldig. Der Umstand, dass Goethes Geschöpf etwa 10 Jahre jünger ist als die Frankfurter Dienstmagd, dass sie mit gerade mal vierzehn, höchstens sechzehn Jahren erst an der Schwelle vom Kind zur Frau steht, macht sie damals nicht strafunmündig. Sie trägt im Unterschied zum Vorbild sogar noch zusätzliche Schuld am Tod ihrer Mutter, und auch das Schicksal des Bruders Valentin belastet ihr Gewissen. Das ist eine schwere Hürde, um einen Charakter zu rechtfertigen, um den Zuschauer für die Figur einzunehmen und um sein Verständnis für die abgrundtiefen Verstrickungen der menschlichen Natur in schreckliche Untaten zu werben. Keines von Goethes weiblichen Geschöpfen – Adelheid von Walldorf ausgenommen; aber das ist ein anderer Fall – trägt solche Bürden, und dennoch erscheint uns Gretchen, wie sie vor Faust steht, unschuldig und rein, natürlich, schlicht und unverdorben, keiner Bosheit fähig und einfältig fromm. Und es bestand und besteht nie ein Zweifel, dass dieses Gemälde doch nicht über allen Argwohn erhaben, dass das schöne Kind doch nur ein behauptetes Engelsbild, dass

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seine Rettung vielleicht doch nur ein Theatercoup sein könnte. Bei Fausts Himmelfahrt, bei seiner apotheotischen Verklärung seien Zweifel erlaubt, die Stimme von oben, die Gretchens Urteil spricht – „Ist gerettet“ – kennt kein „Aber“, kennt nur Erleichterung und Freude. Das Wunder, wie es Goethe gelang, in der Figur eines unschuldig-schuldigen Mädchens das rührendste Muster, die ergreifendste Mädchengestalt der deutschen Literatur zu schaffen, ist nicht erklärbar. Man kann nur Argumente aufschütten und Einwände verwerfen. Zum einen erscheint es wichtig, dass das eher „kleinbürgerliche Trauerspiel“ eine untypische Voraussetzung hat. Faust ist kein gewissenloser Verführer, Gretchen nicht einfach ein schurkisches Opfer ihrer Unerfahrenheit und Dummheit. Mephistos Plan scheitert zunächst an der Gestalt von Fausts Wahl. Beym Himmel, dieses Kind ist schön! So etwas hab’ ich nie gesehn. Sie ist so sitt- und tugendreich, Und etwas schnippisch doch zugleich. Der Lippe Roth, der Wange Licht, Die Tage der Welt vergess’ ich’s nicht! Wie sie die Augen niederschlägt, Hat tief sich in mein Herz geprägt; Wie sie kurz angebunden war, Das ist nun zum Entzücken gar! (Szene: Straße)

Auf dieses unschuldig-verführerische Kind hat der Teufel keinen Einfluss. Es ist ein gar unschuldig Ding, Das eben für nichts zur Beichte ging; Über die hab’ ich keine Gewalt! (Szene: Straße)

Und auch Faust tickt nicht so, wie der Verführer eigentlich will. Der Gretchen so ungleiche Mann entflammt weniger in sexueller Lust und Begierde, sondern in wirklicher Liebe. Die Rolle des Hans Liederlich, die er etwas unpassend gegen Mephistopheles mimt, legt er schon an Margaretes Kammertür ab und in ihrem Heiligtum wird der große Hans sofort ganz klein. Da steht kein frecher Freier und Buhle, sondern einer, der in aufrichtiger Liebe dahinschmilzt. Das Verhältnis lässt sich Zeit, es wächst, und die höchste Lust wird nicht mit hurerischer Eilfertigkeit erreicht, son-

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dern unterm Bann des mächtigsten aller Gefühle, der Liebe. Einzig in ihr sind sich die Opfer ihrer Ungleichheit gleich. Zugegeben, ihrer beider Liebe ist keine Seelenfreundschaft, bedarf keiner platonischen Verbrämung, in der ihr Autor durchaus Erfahrung und einige Übung besitzt. Er weiß es gleichwohl auch gegenteilig vorzüglich zu formulieren, wobei er im Urfaust noch von „mein Schoß“ sprach: Mein Busen, Gott! drängt Sich nach ihm hin, Ach dürft’ ich fassen Und halten ihn!

Platonisch grundiert ist die Liebe Gretchens an keiner Stelle; sie ist von großer Sinnlichkeit. Dennoch zeigt die Rochade abends im Garten hinterm Haus der Frau Marthe, dass auch Sinnlichkeit und Sinnlichkeit sehr unterschiedlich sein können, dass Koketterie und Galanterie und der natürliche Wunsch der jungen Liebe zwei grundverschiedene Dinge sind. Verwerflich sind sie beide grundsätzlich nicht, auch wenn sie von kleinbürgerlichem und religiösem Vorurteil belastet sind und stark beschränkt werden. Der gesellschaftlich vorgeschobene Riegel gibt Mephistopheles die Möglichkeit, seinen Fuß in die Tür zu bekommen; er nutzt die Hilflosigkeit des Mädchens, das für ihre Liebe unter den geschichtlichen Bedingungen der Zeit und den Grenzen ihres eigenen Denkens keine Möglichkeiten mehr sieht. Vor der Borniertheit der bürgerlichen Sozietät, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit sagt, die nur „die Oberfläche beherrscht“ und die mit allen sie irritierenden Vorgängen nicht umzugehen weiß, kommen die natürlichsten Wünsche außer Tritt und Mephistopheles weiß liebedienerisch und kupplerisch die unlauteren Mittel anzubieten, kennt die Umwege zum Ziel. Drei Tropfen eines Schlafmittels in den Schlaftrunk der Mutter, und die Gelegenheit ist gemacht. Margarete. Seh’ ich dich, bester Mann, nur an, Weiß nicht was mich nach deinem Willen treibt, Ich habe schon so viel für dich gethan, Daß mir zu thun fast nichts mehr übrig bleibt.

Kein Strafgerichtsprozess wird klären, wer davon wusste, dass das gereichte Mittel tödliches Gift war; der Bann, der Mephistopheles fernhielt, ist damit aber gebrochen, und Gretchen wie auch Faust

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stürzen als Opfer des Gelegenheitmachers tiefer und tiefer ins Unglück. Gretchen ist natürlich in Hilflosigkeit und Verlassenheit weit mehr das Opfer als ihr Geliebter, der sie dennoch nicht wie ein schurkischer Verführer fallen lässt, sondern der ihr Schicksal, in das er sich immer mehr auch als Täter verstrickt, wenden möchte. Aber in seinem Rettungsversuch will Faust dennoch ganz der Nutznießer seines teuflischen Paktes sein. Die Rettung mit Hilfe Mephistos lehnt Margarete in ihrer seltsam klaren Geistesverwirrtheit ab und überantwortet sich der irdischen wie schlussendlich auch der göttlichen Gerechtigkeit. Diese Entscheidung im Augenblick der höchsten Not entzieht sie erneut der Gewalt Mephistos. Die Verweigerung der Flucht ist jedoch keine Aufkündigung ihrer unerschütterlichen Liebe, durch die sie im zweiten Teil der Tragödie nun ihrerseits zur Fürbitterin und Retterin des Geliebten werden kann, der, so wird unterstellt, auch sie liebt und, ihr folgend, sich mit ihr zu höheren und höheren Sphären erhebt.

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Marie von Beaumarchais Clavigo (1774)

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Vermutlich weil Freitag, der 13. Mai 1774, war, gab Goethe nach dem Mariage-Spiel, in dem man sich als per Los gewählte Paare gerierte, seiner Partnerin Susanna Magdalena Münch ein kühnes Versprechen ab. Als das Mädchen, das ihm beim Spiel dreimal per Los als „Titulargattin“ zugefallen war, ihn keck aufforderte, das im Freundeskreis vorgelesene Fragment de mon voyage d’Espagne des französischen Schriftstellers Pierre Augustin Caron de Beaumarchais in ein Schauspiel zu verwandeln, versprach der Herausgeforderte, den Gegenstand des kleinen Werkes über acht Tage als ein fertiges Stück vorzulegen und vorzulesen. Schon auf dem Nachhauseweg, bei dem er seiner Begleiterin ziemlich still vorkam, hatte Goethe das Stück nach eigener Aussage ziemlich ausgesonnen, wobei er ihr gleichzeitig versicherte, dass die Dramatisierung natürlich nur ihr zuliebe geschehe. Das war ein wenig geschummelt, denn Goethe hatte wohl schon kleine Pläne geschmiedet gehabt, das gerade in Paris erschienene Werk für seine literarischen Absichten zu nutzen. Dass er in einer Rekordzeit von acht Tagen brillieren wollte, schien zwar wie jugendlicher Übermut, aber der eben fertiggestellte Werther-Roman und der großartige Erfolg seines Schauspiels über den Ritter Götz von Berlichingen vom Vorjahr hatten ihn so selbstsicher gemacht, dass er die Kühnheit wagen konnte. In der Freitagsgesellschaft am 20. Mai las er dann tatsächlich sein Drama nach Beaumarchais mit dem Titel Clavigo vor. „Die gute Wirkung, die ich beim Vorlesen erreichte, wird man mir leicht zugestehen“, schreibt Goethe stolz in Dichtung und Wahrheit (III,15). „Meine gebietende Gattin [im Mariage-Spiel] erfreute sich nicht wenig daran, und es war, als wenn unser Verhältnis, wie durch eine geistige Nachkommenschaft, durch diese Produktion sich enger zusammenzöge und befestigte.“ Dabei sollte die Produktion nach Goethes großem Bekennerwort doch eine reumütige Betrachtung vergangener Sünden sein, derer er sich im Verhältnis zu den in Sesenheim und Wetzlar zurückgelassenen Geliebten schuldig gemacht hatte. Erinnern wir uns

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nochmals an Dichtung und Wahrheit, wo der Autor erklärt, dass „die beiden Marien in Götz von Berlichingen und Clavigo, und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen … wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen gewesen sein“ mögen. Das ist für die Maria im Götz von Berlichingen noch glaubwürdig – für Charlotte Buff wurde im Werther ohnehin Genugtuung genug geleistet –, dass Goethe jedoch auch noch im neuen Trauerspiel sich durch Marie von Beaumarchais und Clavigo die Reue von damals von der Seele schreibt, ist eine gelinde Übertreibung. Natürlich gibt es in der Personalstruktur Parallelen, aber die gab die Vorlage vor. Im Götz hat Goethe die Figur der Maria und die schlechte Figur des Weislingen erfunden, hier fallen sie ihm qua Quelle in den Schoß. Funde passen oder passen nicht. Hier passten die Funde doppelt, aber übermäßige Reue müssen wir ihm auch nicht unterstellen. Marie von Beaumarchais ist ein Geschöpf ganz anderer Art als die erste Maria, die redliche Schwester des Götz. Sie ist eine Französin in Spanien, sie ist ein dokumentierter Charakter und eine Figur, die ganz aus der damaligen Gegenwart verständlich ist. Natürlich erfährt Marie von Beaumarchais ihre Umformung, und aus der stolzen Schwester eines versierten und rachespeienden zeitgenössischen französischen Schriftstellers wird ein an ihrer Liebe innig leidendes Geschöpf, wird zuletzt eine Opernfigur, die weit und breit bei Beaumarchais nicht existiert. Ihr widerfährt in der zweimaligen Aufkündigung eines Verlöbnisses ein Schimpf, der zwar an die traditionellen dramatischen Muster von Treuebruch, Ehre und Rache erinnert, der aber bei Goethe entgegengesetzt und zeitgenössisch motiviert wird. Der Bruch erfolgt nicht aus einer Leidenschaft für eine Rivalin wie im Götz und vergleichbaren Exempeln heraus, der Bruch erfolgt auch nicht aus rationalem Kalkül auf der Basis vernünftiger Grundsätze, sondern das Kalkül ist mehr, ist hypermodern, weil es zynisch und chauvinistisch ist. Carlos beeinflusst seinen Freund Clavigo nicht mit abwägenden Grundsätzen zur zweimaligen schweren Verletzung des Mädchens, sondern seine These mit folgenreicher Wirkung, „daß ausserordentliche Menschen eben auch darin ausserordentliche Menschen sind, weil ihre Pflichten von den Pflichten des gemeinen Menschen abgehen“ (4. Akt, Clavigos Wohnung), postuliert ein Recht außerhalb von Gesetz und Moral. Insoweit ist Clavigo keinesfalls eine vom Autor gerechtfertigte Person, sondern mehr als nur ein gewis-

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senloser Verführer; er ist ein Machiavellist, er ist ein aufgeklärter Zyniker, gegen den das Mädchen weder argumentative Mittel noch genügend Werkzeuge der Liebeskunst hat. Nach der ersten, wenngleich erzwungenen Ehrenerklärung vergibt das Mädchen, ihrer Gefühle kaum mehr mächtig, dem scheinbar reuigen Geliebten. Dem wiederholten Zynismus Clavigos ausgeliefert, wird das auf schnellen Konversationston gestimmte Stück für Marie endgültig zu einem Seelendrama jenseits der Sprache. Während sich der Bruder, als er vom zweiten Meineid erfährt, einer verbalen Racheorgie hingibt, versinkt die Schwester in einen mehr oder weniger lautlosen Tod. Der Dichter entzieht ihr fast alle Mittel der Rede, weil ein gebrochenes Herz nur bis an die Lippen, aber nicht darüber hinaus reicht. Fast sprachlos fällt sie zurück, und ihr letztes Wort lautet wie das von Carlos „Clavigo!“ – mit einem vielsagenden Ausrufungszeichen. Wieland fand das zu preziös, jedenfalls unterstellt das seine süffisante Frage in einem Brief vom 15. August 1774 an Friedrich Heinrich Jacobi: „Und was dünkt Ihnen zu der Französin Marie, die vor Liebe und Liebesschmerz ihr zartes Seelchen aushaucht?“ Jacobi widerspricht entschieden und antwortet am 27. August 1774 prompt: „Mariens Tod in dieser Lage kommt mir ganz natürlich und höchst wahrscheinlich vor. Ich mag es nicht dartun psychologisch und medizinisch, daß sie sterben konnte, nicht kritisch, daß sie sterben durfte, und das letztere noch weniger moralisch. Mir hätte man am Ende dieses vierten Aktes den Tod der ganzen Natur verkünden können, ich hätte ihn geglaubt.“ Der Rest ist große Oper mit Fackeln, Leichenzug und viel Musik und noch einem gewichtigen und authentischen Auftritt von Marie als Leiche. Neben ihr ist im sentimentalen Versöhnungstaumel an ihrem Sarg nicht Clavigo in seiner Reue, sondern nur Carlos in seiner Entschlossenheit ebenso glaubwürdig und authentisch. Er bleibt ungerührt von Mariens stummer Rolle und widersteht aller Versöhnlichkeit in Treue zu sich. Vermutlich hat er mit der Kritik seiner zynischen Vernunft recht in Bezug auf das Geschehen, auf eine Geschichte, in der einer seiner Größe psychisch nicht gerecht wurde: Carlos (mit dem Fuße stampfend) Clavigo! Clavigo!

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Anna Elisabeth Schönemann gen. Lili, verh. von Türckheim 1758–1817

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Anders als in Leipzig 1766 bei den Schönkopfs, anders als in Sesenheim 1770 bei den Brions und auch anders als in Wetzlar 1772 bei Familie Buff war Goethe im Januar 1775 , als er zum ersten Mal das Haus der Schönemanns betrat, eine gefeierte öffentliche Person. Er war über Nacht zum Star der deutschen literarischen Welt aufgestiegen. Der Erfolg des Götz von Berlichingen von 1773 war kaum zu überbieten, und doch gelang es Goethe mit den Leiden des jungen Werthers im Herbst 1774 dem dramatischen Hit auch im erzählenden Genre einen Erfolg an die Seite zu stellen, mit dem sein Name parallel zu der im Januar 1775 anhebenden Liebesgeschichte mit Anna Elisabeth Schönemann, genannt Lili, europaweit bekannt wurde. Goethe war noch nicht 26 Jahre alt, das Mädchen hatte das 17. Lebensjahr noch nicht vollendet. Anfang Januar ersuchte ihn ein Freund, mit ihm ein kleines Hauskonzert zu besuchen, „welches in einem angesehenen reformierten Handelshause gegeben wurde“. Es war das „Haus zum Liebeneck“ am großen Kornmarkt in Frankfurt, dem Sitz des Bankhauses Schönemann. Es war schon spät – Goethe vergisst in Dichtung und Wahrheit nicht zu betonen, dass er „wie gewöhnlich anständig angezogen“ war – als die beiden das geräumige Wohnzimmer, in dem eine zahlreiche Gesellschaft versammelt war, betraten. In der Mitte stand ein Flügel, „an den sich sogleich die einzige Tochter des Hauses niedersetzte und mit bedeutender Fertigkeit und Anmut spielte. Ich stand am unteren Ende des Flügels, um ihre Gestalt und Wesen nahe genug bemerken zu können; sie hatte etwas Kindartiges in ihrem Betragen; die Bewegungen wozu das Spiel sie nötigte, waren ungezwungen und leicht.“ (IV,16) Das Kindartige erscheint angesichts des Alters nicht eigentlich bemerkenswert, viel eher, dass das vornehme und in den Verhaltensweisen ihrer geldaristokratischen Gesellschaft gut geübte und schon ein wenig kokette „Fräulein“ recht unbefangen auf den Jungdichter zugeht. Nach geendigter Sonate ergab sich Gelegenheit

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zur Begrüßung und zu einem kleinen Plausch. Goethes Artigkeiten wusste sie sehr vorteilhaft zu erwidern. Ich konnte bemerken, daß sie mich aufmerksam betrachtete und daß ich ganz eigentlich zur Schau stand, welches ich mir wohl konnte gefallen lassen, da man auch mir etwas gar Anmutiges zu schauen gab. Indessen blickten wir einander an, und ich will nicht leugnen, daß ich eine Anziehungskraft von der sanftesten Art zu empfinden glaubte.

Mehr gab es von diesem Abend eigentlich nicht zu berichten, außer von den wechselseitigen Beteuerungen sich bald wieder zu sehen. Was „kein leidenschaftliches Verhältnis zu weissagen schien“, wurde durch die eingeleitete Gastfreiheit sehr schnell zu einem Verhältnis von Person zu Person, bei dem Goethe die Äußerlichkeiten ihrer beider gesellschaftlichen Verhältnisse unterschätzte. Ängstlich bzw. poetisch zart fragt das Gedicht Neue Liebe neues Leben im Februar 1775 den überraschenden Umständen nach: Herz, mein Herz, was soll das geben? Was bedränget dich so sehr? Welch ein fremdes, neues Leben! Ich erkenne dich nicht mehr. Weg ist alles, was du liebtest, Weg, warum du dich betrübtest, Weg dein Fleiß und deine Ruh – Ach, wie kamst du nur dazu!

Lili war aufgewachsen im Genuss aller geselligen Vorteile und Weltvergnügungen, und so zog das lebhafte Weltkind den, der eigentlich der besonnenere ältere Teil der Verbindung sein sollte, ziemlich schnell in ihren Bann. Was Freund Behrisch in Leipzig war, wurde nun Auguste Gräfin zu Stolberg. Sie erhielt in ebenso exaltierter Manier briefliche Mitteilung über Goethes Zustand. Auch wenn er ihn durchaus kritisch sieht, sein Zustand ist dennoch wie er ist: leicht verrückt! „Wenn Sie sich“, so Goethe am 13. Februar, kaum dass die Bekanntschaft fünf oder sechs Wochen währt, „einen Goethe vorstellen können, der im galonirten Rock, sonst von Kopf zu Fuse auch in leidlich konsistenter Galanterie, umleuchtet vom unbedeutenden Prachtglanze der Wandleuchter und Kronenleuchter, mitten unter allerley Leuten, von ein Paar schönen Augen am Spieltische gehalten wird, der in abwechselnder Zerstreuung aus der Gesellschafft, ins Conzert, und von da auf den Ball getrieben wird,

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und mit allem Interesse des Leichtsinns, einer niedlichen Blondine den Hof macht; so haben Sie den gegenwärtigen Fassnachts Goethe, der Ihnen neulich einige dumpfe tiefe Gefühle vorstolperte, der nicht an Sie schreiben mag, der Sie auch manchmal vergißt, weil er sich in Ihrer Gegenwart ganz unausstehlich fühlt.“ Der Frühling brachte nach dem Faschings-Goethe in der ländlichen Umgebung der Stadt Offenbach am Main, wo die Geschäfte des verstorbenen Vaters von der Mutter und einem Teilhaber betrieben wurden, für Lili und Goethe Freiheiten anderer Art. Kleine Landpartien wechselten mit Spaziergängen in den großzügig angelegten Gärten und auf den Terrassen, mit denen die prächtigen Wohn- und weitläufigen Fabrikgebäude umgeben waren; man probierte sich poetisch und musikalisch aus, und Goethe entdeckte das Singspiel und seine Reize als kleine Gattung für schöne gesellschaftliche Gelegenheiten. Aber das Verhältnis der Liebesleute ging nicht eigentlich vorwärts. Es gab von den Familien durchaus Widerstand gegen eine engere Verbindung der Kinder. Da tauchte eine resolute Heiratsvermittlerin, Demoiselle Helene Dorothea Delph aus Heidelberg, zur Ostermesse auf, die es sich zum Auftrag machte, die Wünsche und Hoffnungen des sentimentalen Pärchens zusammenzubringen. Sie unterhandelte mit den Eltern, beseitigte alle Einwände und trat eines Abends mit der Einwilligung zu den Liebesleuten: „‚Gebt euch die Hände!‘ rief sie mit ihrem pathetisch gebieterischen Wesen.“ Lili und Goethe reichen sich die Hände und „nach einem tiefen Atemholen fielen wir einander lebhaft bewegt in die Arme“. Das war um den 20. April, und Goethe gesteht in Dichtung und Wahrheit, dass er sich nun als Bräutigam gefühlt hatte: „Es war ein seltsamer Beschluß des hohen über uns Waltenden, daß ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren sollte, wie es einem Bräutigam zu Mute sei.“ (IV,17) Wie schön auch immer der alte Goethe in seinen Erinnerungen das Bräutigamsgefühl beschreibt, der frischgebackene Verlobte bricht ohne viele Erklärungen kurz darauf am 14. Mai mit den Brüdern Stolberg zu einer gut zweimonatigen Reise in die Schweiz auf. „Mit einiger Andeutung, aber ohne Abschied, trennt’ ich mich von Lili; sie war mir so ans Herz gewachsen, daß ich mich gar nicht von ihr zu entfernen glaubte.“ (IV,18) Das musste irritieren und bis heute daran zweifeln lassen, ob die Liebe zu Lili tat-

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sächlich, wie später behauptet, die tiefste in seinem Leben gewesen sei. Die Schwester Cornelia, die er auf dem Weg nach Zürich in Emmendingen besucht, rät ihm nicht ganz vorurteilsfrei von einer Verheiratung mit Lili ab, und er selber gaukelt sich wohl eine Tiefe vor, die an der Oberfläche saß. „Lilis Park“ und ihre Menagerie und seine Vorstellungen gingen nicht zusammen. Das witzig-selbstironische Gedicht in freien Madrigalversen, entweder bereits vor der Schweizer Reise oder erst im September entstanden, zeigt Goethe in einem Liebeskonflikt, den er so geistreich abhandelt, dass ihm schon vorab jegliche Schärfe und Dramatik genommen scheint. Das große Drama der Liebe war doch eher ein „kleiner Roman“, der „fördersamst abgeschlossen werden“ konnte. Das meinte Goethe zwar von Mademoiselle Delphs Vermittlung, aber die Geschichte von Lili und dem kraftgenialischen Dichter, das spürte dieser selbst, besaß nicht die Qualität für eine heroische ArmidaOper von der Gewalt und Zauberkraft der Liebe, sondern reichte „nur“ für ein kleines Singspiel, in dem der gefangene tollpatschige Bär den Dressurakten der kleinen Zauberfee am Ende doch noch glücklich entkommt. Am 22. Juli war Goethe wieder zurück in Frankfurt. Der ‚kleine Roman‘ hatte sich „fördersamst“ selbst still und leise zu Ende gesponnen. „Ich vermied nicht“, schreibt Goethe rückschauend, „und konnte nicht vermeiden, Lili zu sehen; es war ein schonender zarter Zustand zwischen uns beiden. Ich war unterrichtet, man habe sie in meiner Abwesenheit völlig überzeugt sie müsse sich von mir trennen, und dieses sei um so notwendiger, ja tunlicher, weil ich durch meine Reise und eine ganz willkürliche Abwesenheit mich genugsam selbst erklärt habe.“ (Dichtung und Wahrheit IV,19) Goethes Einsprüche gegen diese Wendung seiner Verlobungsgeschichte mit Anna Elisabeth Schönemann waren eher matt; er schien heimlich sogar darauf gehofft zu haben. Das Gedicht Lilis Park, das seine Situation trefflich schilderte, das ihm „geistreich-herzliche Linderung“ schaffte, resümierte mit gespieltem Augenaufschlag: Und ich! – Götter, ists in euren Händen, Dieses dumpfe Zauberwerk zu enden: Wie dank ich, wenn ihr mir die Freiheit schafft!

Er bekam, was er wollte: seine Freiheit. „Das Leben in ihrem Zauberkreise, das Leben nur auf ihre Weise“ (Neue Liebe neues

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Leben), war schnell zu Ende. Zur Herbstmesse wurde das Ver­ löbnis mit Lili gelöst. Er selbst will nach Italien aufbrechen, aber die Stafette des Weimarer Herzogs Carl August holt ihn am 3. November in Heidelberg ein und bewegt ihn zur Umkehr und zum Umzug nach Weimar. Lili ließ er in ihrer Wirklichkeit zurück, in der, so Goethes sich selbst entlastende Erklärung, schnell der „Schwarm jener Gespenster“ wieder erschien, der ihm ärgerlich aus eifersüchtigen Gründen war und der manches bedenkliche Erinnern an die zauberkundige kleine Armida erregte. Armida war schnell erwachsen und gar nicht so, wie Goethe sie sah. Sie war weder eine kokett-oberflächliche noch eine unsentimental-protzige Blondine. Sie wusste sich die vielen Freier mit den Onkelsmanieren oder die mit verbindlichem Anstand Zudringlichen vom Leibe zu halten. Drei Jahre nach der Verlobung mit Goethe heiratete sie 1778 den bei ihrer Familie hochwillkommenen Straßburger Bankier Bernhard Friedrich von Türckheim. Jetzt war sie 20 Jahre alt und ihr Ehemann 26 Jahre. „Ich ging zu Lili“, schreibt Goethe von seiner zweiten Schweizer Reise am 26. September 1779 an Charlotte von Stein, „und fand den schönen Grasaffen mit einer Puppe von sieben Wochen spielen, und ihre Mutter bey ihr.“ Goethes Ton ist, wiewohl der Frau von Stein geschuldet, herablassend und unschön. Zu der „einen Puppe“ kamen im Laufe der Jahre noch weitere vier Kinder, für die sie aufopferungsvoll sorgte, vor allem in den Zeiten, in denen der 1792 zum Bürgermeister von Straßburg aufgestiegene Gemahl von der Revolution und der Guillotine bedroht war und fliehen musste. Auf strapaziösen Märschen floh sie mit den Kindern nach Mannheim und bewies Festigkeit und Charakterstärke. Seine Darstellung in Dichtung und Wahrheit über das Jahr 1775 hielt Goethe bis nach dem Tod von Elise von Türckheim, wie sie sich nun nannte, am 6. Mai 1817 zurück. Sie liegt mit ihrem Gatten in der Kirche des elsässischen Ortes Krautergersheim begraben, wo sich die Familie nach den Revolutionswirren einen Landsitz eingerichtet hatte.

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War der Götz von Berlichingen ausufernd in seiner shakespearisierenden Manier, so zeigte sich Goethe mit dem Clavigo beherrschter in den Formen des traditionellen Theaters und seiner dramaturgischen Regeln. Auch Stella, das Schauspiel für Liebende, das als Haupttitel wiederum den Namen der Zentralfigur bekam, nimmt sich, was die Formalien anbetrifft, zurück. Anders verhält es sich mit dem empfindsamen Inhalt des zwischen Februar und April 1775 entstandenen Bühnenstückes. Es ist verglichen mit den in die modische Kategorie Empfindsamkeit fallenden Werken Goethes wie mit den Arbeiten seiner literarisch-zärtlichen Zeitgenossen ausufernd und stellt einen Höhepunkt der Bewegung dar. Von der mitteilsamen Postmeisterin ist über die Titelfigur und ihre Gefühlslagen bereits in der Exposition einiges zu erfahren. Die Frau Baronesse im Rittergut gegenüber der Postmeisterei sei eine allerliebste Frau, die beste Seele von der Welt, und Kinder liebe sie über alles. Sie liebte auch einen Mann, mit dem sie sich vor acht Jahren blutjung, „nicht älter als sechzehn Jahre“, hier einkaufte. Doch dieser Mann, und das trübt das idyllische Gemälde der Postmeisterin, ging nicht in die Kirche, hatte also keine Religion, keinen Gott und mithin keine Ordnung – sprich, verheiratet seien sie auch nicht gewesen, vielleicht ein geheimnisvoller Entführungsfall. Vor drei Jahren sei der Offizier vormals in fremden Kriegsdiensten unbegreiflicherweise einfach verschwunden und habe die gnädige Frau sehr unglücklich zurückgelassen. Sie feiere aber jährlich sein Verschwinden, als wäre es sein Sterbetag. In der Opferrolle der geschilderten engelsgleichen und gütigen Schönheit erkennt sich Madame Sommer, die eben angekommen ist und die später als Cezilie geoutet wird, sofort wieder. Sie könnte der Postmeisterin mit einem vergleichbaren Schicksal aufwarten. Vorerst erfährt diese aber nur, dass sie für ihre Tochter Luzie bei der Baronesse eine Stelle zu finden hofft. Das Ende des ersten Akts sieht das Personal vollzählig, denn der verschwundene Lebensgefährte Stellas ist reumütig zurückgekehrt, und der

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zweite und dritte Akt offenbart eine weder für damalige noch für heutige Verhältnisse wenig verwunderliche Personenkonstellation, an der eigentlich nur wundersam ist, dass alle ohne Verabredung rein zufällig zu gleicher Zeit und am selben Ort zusammentreffen. Die Personenkonstellation ist eher banal: Fernando ist der Gemahl von Cezilie und der Vater von Luzie. Er hat, wie das in den besten Familien vorkommt, sich eine Geliebte gesucht, Stella, und hat Frau und Kind darob verlassen. Natürlich wusste Stella nichts von der Ehefrau, die Ehefrau nichts von der Geliebten. Mit dem Auftauchen des doppelt Flüchtigen, der nicht einmal ein rechter Bigamist zu nennen ist, just im Augenblick, wo die Tochter bei der Geliebten des Vaters mit ihrer Mutter um eine Stelle nachsucht, ist ein Knoten geschürzt, der mit viel dramatisch-theatralischem Krach und Effekt sich in ein Komödien- wie in ein Tragödienende auflösen ließe. Stella und Fernando neigen zum tragischen Ende. Klar, dass der Offizier immer Pistolen bei sich hat, die Dame Stella neigt eher zu Gift oder Flucht. Die Kultivierung der neuen geselligen Gefühle, die Vervoll­ kommnung der Sprache über Freundschaft, Liebe und Mitgefühl sowie die Nivellierung moralisch-sittlicher Prämissen als Ein­ schränkung der individuellen Gefühlslagen hatte in Goethes Leiden des jungen Werthers schon einen hohen Stand erreicht. Aber in einem Akt der Verzweiflung wurden dieser Bewegung ständiger Verfeinerung durch einen sehr unsentimentalen und gewaltsamen Schuss die engen Grenzen aufgezeigt, innerhalb derer die Zeitgenossen das leidenschaftliche Bekenntnis zu intimerer Durchlässigkeit zu tolerieren bereit waren. Eine ausdrucksstarke und gestenreiche Dauersublimierung der sexuellen Wünsche unter dem schönen modischen Gefühlsschleier der Empfindsamkeit und platonischen Freundschaft war auch ein Zwang, und diesem Zwang wollte sich das Schauspiel für Liebende diesmal nicht beugen. Der Wunsch nach erweiterten Gefühlsbindungen jenseits legitimierter Zweierbeziehungen sollte nicht in einem Akt der Gewalt ausgelöscht werden, will sagen, ein untragischer Schluss war eine dramatische Notwendigkeit. Aber „untragisch“ konnte auch nicht einfach bedeuten, das Happy End des alten Komödienmusters nachzustellen, das die Hochzeit der Paare kennt, wobei hier ein Paar ohnehin schon verheiratet war. Auch für die dritte Person musste Platz sein, musste eine Lösung gefunden werden. Als Cezilie in der

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ersten Fassung die Pistolen Fernandos sieht, sagt sie als Sprachrohr der Überzeugung des Autors: Cäcilie. […] Wir sind nun wohl sehr verworren; sollte das nicht zu lösen sein? Ich hab viel gelitten, und drum nichts von gewaltsamem Entschließen.

Die Frauen des Stückes, Cezilie mehr als Stella, haben diese Notwendigkeit entschieden schneller verinnerlicht als der galante und treulose Mann, der im Zentrum der komplexen Empfindungslage steht. Nach Turbulenzen, in denen Fernando seinerseits hin- und hergerissen zwischen zwei verwandten Frauenseelen ist und andrerseits von den Damen generös hin- und hergeschoben wird, versucht es die wie Stella feinfühlige, aber reifere Cezilie mit einem Vorschlag ganz anderer Art. Sie erzählt die rührende Geschichte des Grafen von Gleichen und seiner Doppelehe. Auch dort seien wie hier alle drei Empfindsamen durch ihre Liebe legitimiert und im Recht. Es klingt wie im Märchen: ‚Jede soll ihn haben, ohne der andern was zu rauben – Und‘, rief sie an seinem Halse, zu seinen Füßen, ‚wir sind dein!‘ – – Sie faßten seine Hände, hingen an ihm – Und Gott im Himmel freute sich der Liebe, und sein heiliger Statthalter sprach seinen Segen dazu. Und ihr Glück und ihre Liebe faßte selig Eine Wohnung, Ein Bett, und Ein Grab. (5. Akt)

Der Mann, der Offizier Fernando, derjenige, der den größten Gewinn aus der Situation beziehen könnte, markiert den Erschreckten: Zwei Frauen, Eine Wohnung, Ein Bett und Ein Grab? Hat dieser Mann nie den Traum geträumt, der eine typisch männliche Wunschphantasie ist und den jeder geträumt hat, auch wenn er nie von der schönen Legende vom Grafen von Gleichen gehört hat? Goethe und sein Sprachrohr Cezilie versuchen nach den Vorgaben der Empfindsamkeit – alle lieben einander noch immer – den dritten Weg nach dem alten Muster. Sie quälen die Figuren in ein Happy End jenseits der alten Komödie, in ein sehr sentimentales Ende einer ménage à trois, für die es keine verbindliche gesellschaftliche Norm gab und gibt, sondern in der sich die Protagonisten vermutlich unter großen Schwierigkeiten völlig neu orientieren müssen. Über den Preis für die gedoppelten Intimitäten, für die Liebesfreiheit erfährt man natürlich nichts, er ist jenseits des Stückendes zu begleichen. Wir vermuten, dass sich Gott im Himmel auch über das Ende

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der modernen Legende freut, seine heiligen Statthalter auf Erden aber eher weniger; doch wo ohnehin alle Anhänger einer freien Religiosität sind, bedürfen sie anders als noch der Graf von Gleichen keiner religiösen oder staatlichen Legitimierung. Frei mit Goethes Werther möchte man sagen: „Kein Geistlicher hat sie begleitet“, nachdem sie sich in Mozartscher Heiterkeit gefunden hatten: Cezilie (eröffnet die Türe des Cabinets und ruft). Stella! Stella (ihr um den Hals fallend). Gott! Gott! Fernando (springt auf in der Bewegung zu fliehen). Cezilie (faßt ihn). Stella! nimm die Hälfte des, der ganz dein gehört – Du hast ihn gerettet – von ihm selbst gerettet – Du gibst mir ihn wieder! Fernando. Stella! (er neigt sich zu ihr). Stella. Ich faß es nicht! Cezilie. Du fühlst’s. Stella (an seinem Hals). Ich darf? – – Cezilie. Dankst du mir’s, daß ich dich Flüchtling zurück hielt? Stella (an ihrem Hals). O du! – – Fernando (beide umarmend). Mein! Mein! Stella (seine Hand fassend, an ihm hangend). Ich bin dein! Cezilie (seine Hand fassend, an seinem Hals). Wir sind dein! (5. Akt)

Wie nicht anders zu erwarten, das Stück machte Skandal. Goethes warnender Hinweis in einem Brief vom 1. August 1775 an Sophie von La Roche bezüglich seiner Stella war kein Akt von Hellseherei: „Es ist nicht ein Stück für jedermann.“ Das zeigte schon die Uraufführung. Sie fand am 8. Februar 1776 in Hamburg durch Friedrich Ludwig Schröder statt, aber der Hauptpastor Johann Melchior Goeze sprach keinen Segen zum Schauspiel für Liebende. Er, der sich auch noch mit Lessing anlegen wird, verhinderte weitere Vorstellungen. Gedruckt erschien das Stück im selben Jahr, und das Echo war erwartungsgemäß geteilt, wobei es eine Besonderheit gab: Wer nicht mit seinem moralischen Einwand rausrücken wollte, konnte die Gründe seiner Ablehnung in formalen Schwächen finden. Welcher böse Geist Goethe dazu veranlasste, in den Jahren 1803–05 eine Fassung für die Weimarer Bühne mit tragischem Ausgang herzustellen, weiß er und Gott allein. Mutmaßlich beugte er sich den Konventionen. Der neue tragische Schluss war jedenfalls Rückfall in alte Schablonen, und wenigstens heute erfreut sich die erste Fassung großer Beliebtheit auf den Bühnen.

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Mit dem Alter der Personen in Goethes Schauspiel Stella verhält es sich ungefähr so: Stella war, als sie mit Fernando, ihrem Geliebten, das Rittergut bezog, wie wir hörten, etwa 16 Jahre alt. Sie bekam bald ein Töchterchen, Mina, das früh starb. Als sie von Fernando nach fünf Jahren verlassen wurde, umgab sie das Grab mit einer Einsiedelei, in der sie ihr eigenes Grab bestellen ließ. Das ist wiederum drei Jahre her, und Luzie, die Tochter der ihrerseits von ihrem Gemahl Fernando verlassenen Cezilie, die der gesprächigen Postmeisterin aufmerksam zuhört, rechnet gut mit. „Da wär sie jetzt nicht über vier und zwanzig.“ Das Mädchen seinerseits, sehr jung und schnippisch, wie die Wirtin dem gerade angekommenen Fernando versichert, dürfte also zum Zeitpunkt der Handlung keinesfalls älter sein als Stella bei ihrer Entführung; allerdings scheint sie weniger romantisch und sentimental veranlagt. Sie wirkt lebensfroher und etwas resoluter, aber die „Blüte der Liebe“ hat sich ihr bisher noch nicht erschlossen. Dass sie mit 21 Jahren wie Stella ihr Grab bestellen könnte, dass sie wie ihre Mutter sich über den Verlust des Gemahls Jahre und Jahre quälen würde, scheint unwahrscheinlich zu sein. „Es ist nun einmal Zeit, ihn zu vergessen“, erklärt sie – in der 2. Fassung – der Mutter in bestimmtem Ton. Die ist mit Anfang bis Mitte dreißig eine Frau im besten Alter und in Fragen empfindsam-reifer Liebe eine erklärte Fachfrau. Sie könnte also noch einmal einen neuen Versuch wagen. Luzie hat den Verlust des Vaters, es dürfte nun etwa acht Jahre her sein, ohne große Blessuren verkraftet. Der Auszug aus dem Haus, das die Mutter wegen der Flucht des Ehemanns verkaufen musste, hat sie mehr geschmerzt. Jedenfalls erklärt sie auch dem ihr unbekannten und sehr galanten Tischgesellschafter Fernando, zu dem sie die Postmeisterin gesetzt hat, recht offen, dass sie wegen des Vaters keinesfalls wie ihre Mutter vor Kummer sterben möchte. Die Situation ist einigermaßen grotesk-komisch, denn derjenige, dem sie dieses erklärt, ist ausgerechnet ihr unbekannter Vater,

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der, hätte der Mann Mitte dreißig nur etwas mehr Zeit, sicherlich galant auf eine weitere, eine dritte Verbindung zusteuern würde. So war es bei Cezilie, so bei Stella, so schön könnte es mit dieser Sechzehnjährigen wieder werden, der er zum Abschied die Hand küsst, dass es ihr nun doch etwas anders wird: „Das ist ein wunderbarer Mensch! er scheint aber gut zu sein.“ (Ende 1. Akt) Es kommt anders, ganz anders, auch wenn es vorerst noch den Anschein hat, das Stück weise dem liebenswürdigen Teenager eine moderierende Rolle zu. Ihre stückimmanente Herkunft ist klar, die literarische Abstammung des Fräuleins ebenfalls. Es findet sich in der Tradition der Typenkomödie und heißt dort „Lisette“; auch hat sie in der Anlage einige Verwandtschaft mit Franziska, der munteren Begleiterin der Minna von Barnhelm. Das gleichnamige Lustspiel, das Lessing 1767 vorgelegt hatte, fand sofort die Bewunderung des jungen Goethe, und die Minna dürfte auf die Anlage seiner Stella entschieden abgefärbt haben. „Lessing hatte“, so erinnert sich Goethe in Dichtung und Wahrheit (II,8), „in den zwei ersten Akten der Minna ein unerreichbares Muster aufgestellt, wie ein Drama zu exponieren sei, und es war mir nichts angelegener, als in seinen Sinn und seine Absichten einzudringen.“ Woran er sich nicht mehr zu erinnern scheint, ist, bei welchem Stück er ganz besonders in Lessings Kunst der Exposition einzudringen versuchte. Beim ersten Akt der Stella wird es aber ziemlich schnell klar. Wohl weiß Goethes autobiografisches Gedächtnis sich der Mitschuldigen zu erinnern, aber die Stella meidet seine Erinnerung völlig. Dass sich Goethe im Fortgang der Geschichte der Stella dann aber auf das Muster besann, das Lessing mit seinem bürgerlichen Trauerspiel Miss Sara Sampson geliefert hat, ist ebenfalls unverkennbar, auch wenn er der Katastrophe des Vorbilds im Sinne der „rührenden Komödie“ auswich. Es gibt zwar auch in Lessings Stück zwischen den rivalisierenden Frauen um den einen, den einzigen Mann, zwischen Sara und der Marwood, eine Tochter, aber sie ist zu jung und kindlich angelegt, um mehr als nur eine dekorative Funktion zu bekommen. Der Schwenk Goethes hatte wohl Folgen für die Figur der in der Exposition so vorzüglich angelegten Tochter der Madame Sommer, für die artige Luzie. Im Reigen der Frauen um Fernando geht das lebensfrohe Geschöpf irgendwie unter. Goethe vergisst das Mädchen einfach, das er so schön konzipiert hat; er verweigert ihm das Leben. Er lässt es links liegen und macht die, die ein Angelpunkt

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hätte werden können, zunehmend zu einem bloßen dramaturgischen Vehikel, zu einer Bedientencharge, die ihren wohlangelegten Part am Ende des 4. Akts durch einen höchst bescheidenen Abgang beenden muss. Der Befehl zum Löschen des blinden Motivs lautet: Geh ihr nach, Luzie! Beobachte sie! (Luzie ab.)

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Herzogin von Sachsen-Weimar und Eisenach 1739–1807

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Als am 16. März 1756 zwischen dem 18-jährigen Herzog Ernst August II. Constantin von Sachsen-Weimar und Eisenach und der 16-jährigen Prinzessin Anna Amalia von BraunschweigWolfenbüttel Hochzeit gefeiert wurde, glaubte man im kleinen Herzogtum berechtigterweise in eine glückliche Zukunft blicken zu dürfen. Schon am 3. September 1757 stellte sich ein Erbprinz ein; er erhielt den Namen Carl August und bald war Anna Amalia wieder schwanger. Dann aber kam alles anders, als erwartet und erhofft: ganz anders, aber sicherlich nicht schlechter für das Herzogtum. Als das zweite Kind, wiederum ein Sohn, zur Welt kam, gab es keinen Herzog mehr in Weimar. Der war am 28. Mai 1758 fünf Tage vor seinem 21. Geburtstag unerwartet gestorben, und so bekam das Herzogtum bis zur Volljährigkeit des erstgeborenen Sohnes 1775 die Regentschaft einer ihrerseits gerade volljährig gewordenen jungen Witwe. Trotz des von Friedrich dem Großen, ihrem Onkel, gegen Sachsen 1756 eröffneten Krieges, der sich zu einer ganz Europa sieben Jahre erschütternden Auseinandersetzung ausweitete, gelang es ihr, die Landesverwaltung umsichtig zu steuern und bei ihrem Rückzug am 3. September 1775 aus der Vormundschaftspflicht ihrem Sohn das herzogliche Erbe in leidlicher Verfassung zu übergeben. Zwar waren der Siebenjährige Krieg und der Weimarer Schlossbrand von 1774 für die Staatsfinanzen einigermaßen verheerend, aber Anna Amalias Reformversuche auf den Gebieten des Sozial-, Verwaltungs- und Bildungswesens boten eine gute Voraussetzung zum Auf- und Weiterbau einer modernen und aufgeklärten Verwaltung. Nicht nur als Landesmutter auf Zeit war ihr Bildung und kulturelle Förderung des Gemeinwesens eine stete Sorge und Aufgabe, sondern sie legte auch in ihrem privaten Bereich entschieden Wert auf die Förderung der geistigen und musischen Neigungen ihrer Söhne. So bestellte sie den Dichter Christoph Martin Wieland zum Prinzenerzieher in Weimar und

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begann ihre kleine Hofhaltung weniger durch Prachtaufwand als durch die Unterstützung der schönen Künste zu profilieren. Das Hoftheater florierte unter ihrer Regentschaft, und 1766 konnte die Herzogliche Bibliothek in das umgebaute ‚Grüne Schlösschen‘ verlagert werden. Sie heisst seit 1991 ihr zu Ehren Herzogin Anna Amalia Bibliothek und erinnert bis heute mehr als nur symbolisch an ihren Einsatz für den Aufstieg Weimars zum kulturellen Mittelpunkt Deutschlands. Da sie selbst eine vorzügliche standesgemäße Erziehung genossen hatte, fiel ihr der Einsatz für ihr gerne als ‚Musenhof ‘ bezeichnetes Kulturwerk leicht. Der Musik war sie sogar mehr als nur auf dilettierende Weise verbunden. Die reichsten Früchte ihrer Kunstliebhaberei aber trug die Unterstützung und Förderung der Einladung und Berufung des jungen Goethe durch ihren gerade volljährig gewordenen Sohn Carl August. Auf Umwegen gelangt Goethe gerade noch mit knapper Not an den Ort seiner schicksalhaften Bestimmung. Am 7. November 1775 , morgens um fünf Uhr, kommt er in Weimar an. Sowohl der junge Herzog als auch die sich nun ins Privatleben zurückziehende Mutter sind sich einig in der Bewertung des literarischen Ranges ihres Gastes und auch menschlich sind beide von seinem edlen, wenn auch noch nicht gebändigten Charakter angetan. Altersmäßig gerade in der Mitte stehend zwischen Anna Amalia und dem Sohn, war Goethe die ideale Figur, wechselseitig die Temperamente zwischen Freiheit und Pflichten sich austoben und ausgleichend entwickeln zu lassen. Im gemeinsamen Ausleben des kraftgenialischen Überschwangs hält Goethe den Herzog ganz im Sinne der Mutter am langen Zügel, und eine weitere weiblich steuernde Hand wird hilfreich werden: Charlotte von Stein. Ihnen beiden und Wieland verdankt sich im Kern das Wunder von Weimar. Die Kleinstadt, die Provinz wird auf Jahrzehnte zum Zentrum einer Nation, die sich erst spät über die Emanzipation im Geistigen-Schönen der Sprache und der Künste zu installieren vermag. Als Prinzenerzieher holte die Herzogin-Mutter schon 1772 Wieland nach Weimar, Wieland zog Carl Ludwig Knebel, den Ur- und Duzfreund Goethes, ebenfalls als Erzieher nach sich; über ihn vermittelte sich die Begegnung des Herzogs mit Goethe, der seinen Straßburger Freund Herder nach sich zog. Schiller drängte es in diesen Kreis, und auch im folgenden Jahrhundert wird die Attraktion des Ortes nicht nachlassen, die Geister der Kulturnation an sich zu ziehen.

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Der Brand des Schlosses und die Vernichtung des Theatersaales, den Anna Amalia, überzeugt von der Bildung des Geschmacks und der Sitten durch eine stehende Bühne, für die Bevölkerung zum allgemeinen und unentgeltlichen Besuch geöffnet hatte, war eine Katastrophe und doch auch eine Fügung, die weitreichende produktive Auswirkungen zeitigte. Unter dem Beistand von Anna Amalia entstand als Ersatz für die abgezogenen stehenden Theatertruppen ein Liebhabertheater, das, dirigiert und geleitet von Goethes Phantasie, neue Möglichkeiten und Formen theatralischer Darstellung hervorbrachte. Alternative Spielorte und dramatische Mischformen entstanden im Kontext gesellschaftlicher Gelegenheiten, die den festen Ensembles bislang fremd waren. Die alternativen Spielorte bedichtet Goethe persönlich in seinem Trauer- und Loblied auf den Theatermeister Mieding: In engen Hütten und im reichen Saal, Auf Höhen Ettersburgs, in Tiefurts Tal, Im leichten Zelt, auf Teppichen der Pracht Und unter dem Gewölb’ der hohen Nacht.

Das war inspirierend auch für die Formen der Darbietungen, die sich vor allem durch Corona Schröters Talente und der Herzogin musikalisch-kompositorische Fähigkeiten als theatralische Ereignisse zeigten, in denen sich Musik und Pantomine, Tanz und Sprache, Drama, Oper und dekorativ schmückendes Beiwerk durch hohe szenische Phantasie lebendig-neu verbanden. Und wenn im Loblied Ettersburg und Tiefurt genannt werden, so wird damit indirekt natürlich auch Anna Amalia der fördernde und unterstützende Geist genannt, denn sie hatte sich hier, unterstützt von ihrer ersten Hofdame Louise von Göchhausen, in den Idyllen ihrer Witwenschaft, die Idee ihres Musenhofes praktisch eingerichtet. Der Bogen spannte sich mit abflachender Intensität nach der Auflösung des Liebhabertheaters im Jahre 1783 bis ins Jahr 1791, in dem das neue Hoftheater eröffnet wurde. Diese Phase wurde begleitet durch das Erscheinen des Tiefurter Journals und von der Entstehung des Romans Wilhelm Meisters theatralische Sendung in den Jahren 1777–1785. Der sogenannte ‚Urmeister‘ geht dann in den 1795 /96 erschienenen großen Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre ein, dessen Abschluss nicht zuletzt Anna Amalia angemahnt hatte. Im September 1788 erfüllte sie sich einen Traum, der eigentlich nur logische Folge und Resultat ihrer stillen Neigungen zu Kunst

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und Wissenschaft und ihres Umgangs mit geistreichen und bedeutenden Personen sein konnte. Sie bereitete sich, so Goethe in seiner Gedenkschrift auf den Tod der Herzogin aus dem Jahre 1807 „vor zu einer Reise jenseits der Alpen“, denn sie erhoffte sich einen höheren Genuß […] von dem Anschauen dessen, was sie in den Künsten so lange geahndet hatte, besonders von der Musik, von der sie sich früher gründlich zu unterrichten wußte; eine neue Erweiterung der Lebensansichten durch die Bekanntschaft edler und gebildeter Menschen, die jene glücklichen Gegenden als Einheimische und Fremde verherrlichten, und jede Stunde des Umgangs zu einem merkwürdigen Zeitmoment erhöhten.

Die Reise, die Goethe vorbereiten half, geriet zu einem anregenden Aufenthalt von fast zwei Jahren. Der Dichter reiste im März 1790 zur Abholung der Herzogin nach Venedig, wo er einigermaßen unwillig bis Mai auf Anna Amalia warten musste. Mitte Juni war man dann wieder zurück in Weimar, und Anna Amalia setzte ihre wöchentlichen Geselligkeiten, die sogenannte „Tafelrunde“, in der Goethe den Ton angab, fort. Naturgemäß standen nun die italienischen Themen im Vordergrund, denn Anna Amalia hatte, so Goethe, „mancherlei Schätze der Kunst und der Erfahrung“ mitgebracht, die nun verarbeitet werden wollten. Wurde zunächst, wie Herder erzählt, bei der Herzoginmutter gewöhnlich montags Shakespeare und Lessing, Goethe und Wieland gelesen, so etablierte sich später noch eine „Freitagsgesellschaft“, auf der vor einem ausgewählten Hörerkreis die Isolation der Gelehrten und Künstler überwunden werden sollte. Diese Professionalisierung der Geselligkeiten wie auch des Weimarer Theaterwesens durch Goethe und Schiller sah die Herzogin durchaus mit gemischten Gefühlen. Gleichwohl blieben die Beziehungen zwischen Anna Amalia und Goethe zeitlebens sehr vertraut, sehr herzlich und persönlich. Dass sich hinter dieser wechselseitigen Wertschätzung eine Affäre, eine verbotene Liebe verbergen sollte, ist allerdings eine These, die sich weniger für eine wissenschaftlich biographische Darstellung eignet, sondern als Annahme, aus der sich weit eher fiktionaler Gewinn ziehen ließe. Goethe besuchte die Tafelrunde seiner edlen, früh verwitweten Freundin, in der er eine vollkommene Fürstin sah, bis zu deren Tod am 10. April 1807 wann immer er konnte. Er war im Kreis der

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Tafelrunde ein gern gesehener Gast und er fasste das Leben und den unerwarteten und leisen Abgang seiner großen Gönnerin, der zuletzt durch den Tod naher Verwandter und durch den unbarmherzigen Krieg einiges Ungemach beschieden war, im Entwurf einer Grabschrift wundervoll zusammen: Anna Amalia zu Sachsen Geborne zu Braunschweig erhabnes verehrend Schönes genießend Gutes wirkend Förderte Sie alles was Menschheit ehrt ziert und bestätigt Sterblich von 1739–1807 unsterblich nun fortwirkend fürs Ewige

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Charlotte Albertine Ernestine von Stein 1742–1827

vor der ‚Italienischen Reise‘

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„Ich bin im Packen begriffen“, schreibt Goethe an Charlotte von Stein aus Weimar am 27. August 1777. Er war im Begriff nach Ilmenau zu fahren; von dort wird er nach Eisenach und zur Wartburg weitergehen. Zwischen zwei Adieus eingefügt, findet sich wie nebenbei eine deutliche Ansage: „Adieu. Meine Verständnisse sind dunkel, nur ist mir ziemlich klar dass ich Sie liebe. Adieu.“ Ende November 1777 tritt Goethe allein zu Pferde seine Harzreise an, auf der er am 10. Dezember den Brocken besteigt. Ein literarisch-poetisches Ergebnis ist das berühmt gewordene Gedicht Harzreise im Winter, das Albrecht Schöne ganz neu zu lesen gelehrt hat, zu lesen als das Protokoll eines „auspiciums“, eines Orakels. Die gelingende Brockenbesteigung sollte ihm als eine höhere Zustimmung für sein weiteres Leben in Weimar gelten, sollte ihm seine dunklen Verständnisse als ein Befestigungszeichen verbürgen. Am Abend des 10. Dezember 1777 bestätigt er die vollste Erfüllung seiner Hoffnungen an die Geliebte: „Ich will Ihnen entdecken: sagen Sies niemand: dass meine Reise auf den Harz war, dass ich wünschte den Brocken zu besteigen, und nun liebste bin ich heut oben gewesen, ganz natürlich, ob mir’s schon seit 8 Tagen alle Menschen als unmöglich versichern. Aber das W i e, von allem, das warum, soll aufgehoben seyn wenn ich Sie wiedersehe.“ Goethe war endgültig in Weimar für die restlichen Tage und Jahre seines Lebens angekommen. Die Ankunft am 7. November 1775 war vorläufig, war zunächst vom einladenden Herzog Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach als unverbindlicher Besuch vorgeschlagen. Aber aus den paar Wochen erwuchs in Freundschaft zum Herzog und nicht zuletzt in Liebe zu Charlotte von Stein schnell eine neue Heimat und eine herausfordernde Lebensaufgabe. Beide taten alles, um den gefeierten, aber gleichwohl gesellschaftlich nicht ebenbürtigen bürgerlichen Dichter und Aufsteiger an den Hof zu binden. Anna Amalia, die HerzoginMutter, tat das Ihrige. Als Charlotte von Stein Goethe am 11. November 1775 erstmals

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in Person begegnete, waren die beiden einander im wörtlichen Sinne keine unbeschriebenen Blätter mehr. Man war durch einen Kontaktmann, den vielbeachteten Schweizer Arzt Johann Georg Zimmermann, einander interessant gemacht worden. Goethe besaß durch ihn einen Schattenriss der Frau von Stein, und diese kannte natürlich ihrerseits Goethes Werke. Man hatte sich also im eigentlichen wie übertragenen Sinne bereits ein Bild voneinander gemacht. Was Zimmermann am 12. Dezember 1774 an Lavater nach Zürich schrieb, mochte er so ähnlich am 25. Dezember auch an Goethe vermittelt haben: Sie ist sehr fromm, und zwar mit einem rührend schwärmerischen Schwung der Seele. Auf ihrem leichten Zephirgang aus ihrer theatralischen Fertigkeit in künstlichen Tänzen würdest Du nicht schließen, was doch sehr wahr ist, daß stilles Mondeslicht und Mitternacht ihr Herz mit Gottesruhe füllt. Sie ist einige und dreißig Jahre alt, hat sehr viele Kinder und schwache Nerven. Ihre Wangen sind sehr rot, ihre Haare ganz schwarz, ihre Haut italienisch wie ihre Augen. Der Körper mager; ihr ganzes Wesen elegant mit Simplizität.

Um das Psychogramm durch einen Faktencheck abzugleichen, sei noch angeführt: Goethe war gut 26 Jahre alt, Charlotte von Stein konnte am 25. Dezember 1775 ihren 33. Geburtstag feiern. Goethe war ungebunden, Charlotte von Stein war seit 1764 mit dem um sieben Jahre älteren Baron Gottlob Ernst Josias Friedrich von Stein verheiratet. Die Hofdame hatte ihm bis 1774 sieben Kinder geboren: vier früh verstorbene Mädchen und drei Söhne. Sie war eine pflichtbewusste, aber keine glückliche Ehefrau und Mutter. Sie war einsam in dieser Ehe; Goethe holte sie nach seiner Ankunft in Weimar aus dieser Einsamkeit und in sie kehrte sie, als hätte sie Zimmermanns Betrachtungen über die Einsamkeit (1756) verinnerlicht, nach Goethes Rückkehr aus Italien wieder zurück. Die Biographie dieser klugen und in den höfischen Um­ gangsformen versierten und literarisch gebildeten Frau aus niederem Adel mit schwarzen Augen und von zierlich-schlichter Eleganz wurde ab dem Tag der ersten Begegnung mit Goethe – wie die Lebensgeschichte von Friederike Brion oder die von Charlotte Buff – ein allererster Fall für die Literaturgeschichte. Dennoch blieb gerade sie das größte Rätsel, allein schon deshalb,

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weil im Gegensatz zu den fast 1800 erhaltenen Briefen, Zettelchen, Billetten, kleinen Botschaften und kurzen Nachrichten Goethes von ihrer Hand nichts überliefert ist. Auch in ihrem Falle, einer bis zu Goethes fluchtartiger Abreise nach Italien fast elf Jahre währenden Beziehung, wird uns diese Frau nur durchs Augenglas der Liebe des Geliebten kenntlich. Ihre Perspektive fehlt uns, denn sie hatte ihre eigenen Briefe nach dem Bruch mit Goethe nach seiner Rückkehr aus Italien zurückerbeten und verbrannt. Goethes Briefe hat sie hingegen sorgfältig aufbewahrt und später ihrem Sohn Fritz vermacht. Man kann es drehen und wenden, wie man will, und es ist völlig nebensächlich, wie eine gewisse psychoanalytische Schule unterstellt, ob Charlotte von Stein und Goethe mehr miteinander hatten als eine nur platonische Beziehung, eine untadelige Seelenfreundschaft oder eine in den gesellschaftlichen Konventionen tolerierte, weil distanziert kontrollierte Leidenschaft und literarische Passion: ihre Beziehung ist die Geschichte einer großen Liebe, sozusagen die gelungene Variation der Dreiecksgeschichte von Lotte, Werther und Albert. Letztere war schnell und tragisch zu Ende. Diese, immerhin die Beziehung zu einer verheirateten Frau und Mutter, konnte gelingen, weil der Freiherr von Stein seiner Präfiguration im Roman doch sehr ungleich war, weil er anscheinend nie „halb verdrüßliche“ oder „halb spöttische Fragen“ über den allgegenwärtigen Hausfreund gestellt hat, weil er zu Eifersucht anscheinend nicht fähig war. Goethe hat die Konstellation im Hause Stein durchaus in Parallele zu Werther gesehen, als er Charlotte am 28. April 1777 schrieb: „Gestern hab ich einen wunderbaaren Tag gehabt, habe nach Tisch von ungefähr Werthern in die Hand gekriegt, wo mir alles wie neu und fremd war.“ Und das Widmungsgedicht in der Geliebten Handexemplar des Romans, vermutlich ebenfalls vom April 1777, vergleicht die vormalige Situation – und es ist die Romansituation – mit der neuen Lebenslage. Was mir in Kopf und Herzen stritt, Seit manchen lieben Jahren! Was ich da träumend jauchzt und litt Muß wachend nun erfahren.

Man erstaunt geradezu über die Zeitgenossen, die gerne jedes Skandälchen und jeden Klatsch begierig aufgriffen, dass sie, bibelfest wie sie waren, sich nie daran erinnerten, was dort, Beischlaf

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hin oder her, ihr Handeln und Tun leitend, stand: „Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ (Matth. 5,28) Goethe selbst wusste es besser, und er hat die Heiligkeit der Ehe später in den Wahlverwandtschaften ja in sehr unerbittlicher Weise zum Thema gemacht. Ein Thema war es auch in dieser biographischen Konstellation, gelebt vor aller Augen und Öffentlichkeit; aber der große Seelenroman ließ die Fragen der Sittlichkeit zweitrangig werden, ließ jedenfalls den kühnen und zehn Jahre währenden Drahtseilakt zwischen Liebe und Eros, zwischen Herzenskult und Ehebruch gelingen und auch die nachbetrachtende Literaturgeschichte machte nie ein Aufhebens von einem Verhältnis, das doch offensichtlich auf Kosten des Ehemanns fragwürdig und höchst suspekt war. Mit dem Aufbruch nach Italien und den neuen Erfahrungen erotischer Sinnlichkeit war das entsagungsvolle Seelenabenteuer aber endgültig zugunsten eines Liebesabenteuers beendet, das mit Christiane Vulpius erotisch-sexuell weniger entsagungsvoll war, aber anders als das Psychodrama gesellschaftlicher Ächtung anheimfiel. Die Seelenfreundin hat auf ihre Art den „Bettschatz“ gelehrt, was Verzicht auf standesgemäßer Ebene ist, wie hoch der Preis für körperliche Sinnlichkeit und Freuden veranschlagt werden musste. Auf die geistigen Freuden, auf zarte Sinnlichkeit und hohe Sittlichkeit, auf erotische Selbstbeherrschung und Entsagung und anhaltende Resignation hatte Charlotte das Monopol und sie konnte es unangefochten über Jahre behaupten und einen jungen und stürmischen Liebhaber bei platonischer Laune halten, seine Wünsche und Leidenschaften mit ihrem unterkühlten Wesen therapeutisch mäßigen und seinen Ausbruch aus ihrer Liebe lange durch ihr einfühlsames Interesse an seinen Plänen und Werken hindern. Der keusche Mond wurde, als wäre Zimmermanns Psychogramm ein Orakel gewesen, zu ihrer beider Sternzeichen am Himmel ihrer Liebe. „Ich sagte“, so der Brief an die Geliebte von der gelungenen Brockenbesteigung, „ich habe einen Wunsch auf den Vollmond! – Nun Liebste tret ich vor die Thüre hinaus da liegt der Brocken im hohen herrlichen Mondschein über den Fichten vor mir und ich war oben heut und habe auf dem Teufels Altar meinem Gott den liebsten Danck geopfert.“ (10. Dezember 1777) In einer Kohlezeichnung hat er den Berg im fahlen Mondlicht festge-

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halten, und im poetischen Bild werden der Mond und die Geliebte zu einer festen Größe im Leben des Paares. Mir ist es, denk ich nur an dich, Als in den Mond zu sehn; Ein stiller Friede kommt auf mich, Weiß nicht, wie mir geschehn.

Das Gedicht Jägers Nacht-/Abendlied arbeitet damit und die Fassungen von An den Mond, die das Thema gefühlvoll variieren. Sie gehören ohnehin zu den Bestsellern aus Goethes Lyrik. Er hat die Wendung „An den Mond“ nicht erfunden; es war das 18. Jahrhundert mit seiner Empfindsamkeit, das die magische Ansprache, die poetische Kontaktaufnahme und die intime Zwiesprache mit einem bis dato verkannten Gegenstand breit aufstellte und zu pflegen begann. Das Himmelsgestirn wurde zur Vermittlungsstation neuer Gefühle, zum Zeichen, in dem freundschaftliches Zugeneigtsein und unschuldige Liebe zueinanderfanden. Wenn Charlotte von Stein und Goethe nicht in diesem Zeichen zueinanderfanden, dann bestätigte Goethe zumindest im Bilde des Mondes ab 1777 ihr mehr als nur freundschaftliches Zugeneigtsein. Die Anfänge liegen eher im Dunkel, denn über den ersten Eindruck ihrer Begegnung vom 11. November gibt es keine Zeugnisse; man traf sich beim Tee im Stadthaus der Steins in Gesellschaft, vermutlich war auch der Herzog anwesend. Wann der Mond ihrer Liebe aufging, lässt sich schwer ermitteln. Die Kommunikation beginnt jedenfalls höchst geheimnisvoll. Wenn die Datierung stimmt, dann schreibt Goethe Anfang Januar 1776 einen eindeutig vieldeutigen Satz: „Und wie ich Ihnen meine Liebe nie sagen kann, kann ich Ihnen auch meine Freude nicht sagen.“ Das ist entschieden ein Wort, wenn auch ein Wort aus der Negation, wobei offen bleibt, ob es sich um objektive Hindernisse handelt oder um subjektive Sprachnöte. Für Letzteres, dass es dem Dichter die Sprache verschlug, spricht wenig, mehr für einen Grund ganz eigener Art. Die Korrespondenz entwickelt sich schnell und erreicht das vertrauliche „Du“ und wiederholt das „liebhaben“ bald außerordentlich oft. An die Beichtigerin Auguste Gräfin zu Stolberg, der er sich stets monologisierend eröffnet hat, wendet er sich nur in Andeutung: „Könntest du mein Schweigen verstehen! Liebes Gustgen! – Ich kann, ich kann nichts sagen!“ (11. Februar 1776),

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aber der vertrauten Tante Johanna Fahlmer verrät er bereits am 14. Februar 1776: „Eine herrliche Seele ist die Frau von Stein, an die ich so was man sagen mögte geheftet und genistelt bin.“ Derjenige, der bisher immer schnell geflohen ist, wenn es ums wohnliche Niederlassen ging, wenn es auch nur ansatzweise um Nestbau ging, fühlt sich problemlos und überaus schnell zu Hause im heimischen Kreise einer Frau, die doch ihrer ganzen Kontur nach kein Muster behaglichen Familienlebens repräsentierte. Gleichwohl kanalisiert sie Goethes verwirrte Gefühle und mäßigt seine Widersprüchlichkeiten, wendet sein Pathos und seine Leidenschaftlichkeit auf erträgliche Alltäglichkeit, aufs Nebensächliche und gar aufs scheinbar Belanglose. Wenn er im Hause Stein, wenn er unter ihrem Dache in Kochberg nächtigt, wenn ihm dort das Lager bereitet ist, wird die Nähe zu beglückender Intimität und zusammen mit ihren Kindern zu einem beinahe angemaßten Familienregiment ohne eigentliche Verpflichtung und Verantwortung bei stets offenen Türen, falls sich die Bindungen, die Fesseln, die Nesseln lösen sollten. Er ist, wie er sich gelegentlich voller Selbstironie nennt, ein „ehmännischer Liebhaber“. Die Beziehung wird im Laufe des Jahres 1776 rasch sehr intensiv. Manchmal scheint es, trotz gelegentlich abweisender Botschaften, als sei Charlotte von Stein, mehr noch als Goethe, der gebende Partner gewesen. Sie verweist ihm sein wildes Gebaren, macht erhebliche Vorbehalte geltend, verbietet ihm das vertrauliche „Du“, das er sich schon zu Beginn ihrer Bekanntschaft herausgenommen hatte, und zeigt ihm dennoch immer wieder – wenngleich stets unter Betonung ihres Status als verheiratete Frau –, dass sie ihm mehr als nur wohlgesinnt war, dass sie ihn liebte. Auf der Rückseite eines Briefes von Goethe an die Geliebte vom 7. Oktober 1776 notiert sie die verräterischen Zeilen: Ob’s unrecht ist was ich empfinde und ob ich büßen muß die mir so liebe Sünde will mein Gewissen mir nicht sagen; vernicht’ es Himmel du! wenn michs je könt anklagen.

Mochte bis zu diesem heimlichen Selbsteingeständnis der beidseitige Gestus einer grundsätzlichen Resignation vorherrschen, der jegliche Intimitäten verbot, die reine Seelenfreundschaft kannte, wie das Stichwort „Sünde“ nahelegt, zunehmend Untertöne und vermutlich Zärtlichkeiten und Intimitäten, die durchaus von einer

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erotischen Beziehung zu sprechen erlauben. Der Ton der Briefe, die keusche Stimmung der sogenannten „Lida-Lyrik“, verändert sich. Sieht er sich am 16. April 1776 noch wie einen Heiligen von ihrem Herzen entfernt und noch am 7. Oktober wie einen, der seine Arme vergebens nach einer himmelwärts auffahrenden Madonna ausstreckt, so bittet er Charlotte am 3. November „um das Mittel gegen die Wunde Lippe, nur etwa dass ich’s finde heut Abend wenn ich zurückkomme“. Das heilende Mittel, das er von der besten Frau erbittet, steht in einem auffälligen Kontext zu dem Gedicht, das am Vortag, am 2. November 1776, entstand. Es ist dem berühmten, jung verstorbenen humanistisch-neulateinischen Dichter Johannes Secundus (eigentlich Jan Nikolai Everaerts 1511–36) gewidmet, mit dessen hocherotischem Lobpreis des Küssens und der Freuden der körperlichen Liebe sich Goethe am 1. November wohl ausführlich beschäftigt hatte. Der Titel des Gedichts lautet An den Geist des Johannes Sekundus; die Verse nehmen ein delikates Motiv seines Gedichtzyklus auf, das Bild von der aus ungehemmtem sinnlichem Verlangen schmerzhaft zerbissenen Lippe. Goethe hat es Charlotte geschickt, mit der er laut Tagebuch am 31. Oktober „zu Nacht gessen“ hat. Anschließend gab es, so steht lapidar zu lesen „Tanz bis früh 3“. Lieber, heiliger, großer Küsser, Der du mirs in lechzend atmender Glückseligkeit fast vorgetan hast! Wem soll ichs klagen, klagt ich dirs nicht! Dir, dessen Lieder wie ein warmes Kissen Heilender Kräuter mir unters Herz sich legten, Daß es wieder aus dem krampfigen Starren Erdetreibens klopfend sich erholte. Ach, wie klag ich dirs, daß meine Lippe blutet, Mir gespalten ist und erbärmlich schmerzet, Meine Lippe, die so viel gewohnt ist Von der Liebe süßtem Glück zu schwellen Und, wie eine goldne Himmelspforte, Lallende Seligkeit aus und ein zu stammeln. Gesprungen ist sie! Nicht vom Biß der Holden, Die in voller ringsumfangender Liebe, Mehr möcht haben von mir und möchte mich Ganzen Ganz erküssen und fressen, und was sie könnte! Nicht gesprungen, weil nach ihrem Hauche Meine Lippen unheilige Lüfte entweihten.

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Ach, gesprungen, weil mich Öden, Kalten, Über beizenden Reif der Herbstwind anpackt. Und da ist Traubensaft und der Saft der Bienen, An meines Herdes treuem Feuer vereinigt, Der soll mir helfen! Wahrlich, er hilft nicht, Denn von der Liebe alles heilendem Gift-Balsam ist kein Tröpfchen drunter.

Das klingt entschieden anzüglicher als das berühmte Gedicht vom 14. April 1776 am Beginn der Beziehung: Warum gabst du uns die tiefen Blicke. Auch hier versucht Goethe seine Beziehung zu Charlotte zu charakterisieren, aber der Text kennt keine Forderung, sondern nur resignative Momente der Glücksversagung, eine Zukunft, die einzig aus Erinnern eines abgelebten Schicksals besteht. Ach du warst in abgelebten Zeiten Meine Schwester oder meine Frau.

Schlussendlich wird in allem Auf und Ab dieser Beziehung zwischen Seelenfreundschaft und erotischer Leidenschaft die beidseitige Entsagungsgeste die Oberhand behalten. Nicht zur Sonne seines Lebens, wie das Tagebuch Charlotte in chiffrierter Weise gerne bezeichnet, wird die Geliebte werden, ihre Liebe bleibt ihm träumend in den Erscheinungen einer sanften Natur und des stillen Mondes gegenwärtig. Nach dem Orakelspruch der Brockenbesteigung scheinen die schicklichen Grenzen der Beziehung definitiv abgeklärt, und wie jede Beziehung ist auch diese à la longue dem Verschleiß ausgesetzt. Spannungen und Enttäuschungen bleiben nicht aus, und selbst wenn sie körperlich-sexuelle Erfahrungen beinhaltet haben sollte, musste sie unvollendet bleiben, hatte sie keine Zukunft. Das musste nicht das Sakrament sein, aber doch eine öffentliche Akzeptanz und nicht ein lebenslang verborgenes Noviziat. Goethe versucht bei Gelegenheiten aus der platonischen Akademie auszubrechen und seine Laura in leicht boshafter Manier eifersüchtig zu machen. Das geschieht zum einen mit gewissen dichterischen Produkten, die Charlotte von Stein gar nicht goutieren mochte – so die Figur der Geliebten Egmonts, den Goethe in den Jahren 1778/79 wieder in Arbeit nahm –, das geschieht, wenn er ihr von Begegnungen der dritten Art mit anderen weiblichen Geschöpfen berichtet. Das Wiedersehen mit Corona Schröter, die er von Leipzig ans Weimarer Liebhabertheater engagieren soll,

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veranlasst ihn am 25. März 1776 zu seltsamen Anspielungen, die in den Ohren der Geliebten merkwürdig klingen mochten: „Die Schröter ist ein Engel – wenn mir doch Gott so ein Weib bescheeren wollte dass ich euch könnt in Frieden lassen – doch sie sieht dir nicht ähnlich gnug.“ Als er auf seiner zweiten Schweizer Reise im Oktober 1779 in Lausanne die Bekanntschaft mit Maria Antonia von Branconi macht, lässt er sich, hingerissen von ihrer Schönheit, ebenfalls zu aufreizend rätselhaften Andeutungen verführen. „Am Ende“, so schreibt er am 23. Oktober 1779 nach einem Abendessen bei der Marquise an Frau von Stein, ist von ihr zu sagen was Ulyss von den Felsen der Scylla erzählt. ‚Unverlezt die Flügel streicht kein Vogel vorbey, auch die schnelle Taube nicht die dem Jovi Ambrosia bringt, er muss sich für iedesmal andrer bedienen.‘ Pour la colombe du jour elle a echappé belle doch mag er sich für das nächstemal anderer bedienen.

Was sich Charlotte in solchen Fällen dachte, wissen wir nicht, aber dass es ihr gelang, einen leidenschaftlichen Mann in seinen besten Jahren in unerfüllbarer Liebe ohne Zukunft an sich zu binden, mutet heutigem Verständnis nach wie ein Wunder an. Dass dieser dieses Wunder poetisch in unvergleichlicher Sprache bestätigte, macht es für Dritte glaubwürdig und unbezweifelbar. Am 9. Oktober 1781 ging ein Blatt an Lotte – erst im Druck stand dann ‚Lida‘ –, das ihrer Existenz Genugtuung von höchster Güte sein mochte: Den einzigen, Lida, welchen du lieben kannst, Forderst du ganz für dich und mit Recht. Auch ist er einzig dein. Denn seit ich von dir bin Scheint mir des schnellsten Lebens Lärmende Bewegung Nur ein leichter Flor, durch den ich deine Gestalt Immerfort wie in Wolken erblicke; Sie leuchtet mir freundlich und treu, Wie durch des Nordlichts bewegliche Strahlen Ewige Sterne schimmern.

Die Beziehung zu Charlotte von Stein ging ins siebte Jahr und das Band, das beide zusammenhielt, war fester geknüpft als je zuvor. Die Briefe, in denen er sich fast täglich, indem er ihr in eher prosaischer denn poetischer Sprache seine Liebe versicherte, ihre Zuwendung und ein Zeichen ihrer Gegenliebe erbat, wurden ausführlicher und

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nehmen ihrer Anzahl nach nicht nur die erste Position unter den Adressaten ein, sondern sie bestimmen seine Korrespondenz fast vollständig. Von den 466 Briefen der Zeit vom November 1780 bis zum Ende Juni 1782 gehen über 370 Briefe an Charlotte von Stein. Die prozentuale Rate von etwa 80 % bestimmte aber auch schon die Jahre seit 1776 und sie wird sich bis zur Abreise nach Italien am 3. September 1786 nicht wesentlich verändern. Allein schon dies zeigt, wie ausschließlich Charlotte Goethe an sich zu binden, zu konzentrieren vermochte. Weimar war für ihn Charlotte; die Gesellschaft, der er in den ersten Jahren noch in großer Ausgelassenheit verbunden war, langweilte ihn zunehmend. Das kleine Billett vom 23. März 1781 ist bezeichnend für diese Entwicklung: Sagen kann ich nicht, und darfs nicht begreifen was deine Liebe für ein Umkehrens in meinem innersten würckt. Es ist ein Zustand den ich so alt ich bin noch nicht kenne. Wer lernt aus in der Liebe. Adieu. Gott erhalte dich.

Wenn Goethe und Charlotte in Weimar sind, dann sehen sie sich fast täglich. Worüber sie dann sprechen, entzieht sich unserer Kenntnis. Aber es ist beiden ein inniges Bedürfnis, neben dem täglichen schriftlichen Diskurs sich Aug in Auge zu begegnen. Sie können nicht mehr leben, ohne einander zu sehen, und Goethe hofft täglich auf das Licht in ihrem Fenster, das ihn zum Kommen einlädt. „Das Geheimniß dieser edlen Liebe“, wie Goethe in Dichters Namen in seinem in den Jahren 1780/81 entstehenden Schauspiel Torquato Tasso erklären lässt, wird „dem holden Lied bescheiden anvertraut.“ Sie hat ein „Recht, Jahrhunderte / Zu bleiben und im Stillen fortzuwirken“. (II,1) Die Liebe wie das Lied wirkt fort, und so entstehen neben seiner rastlosen Liebe zu Charlotte in diesen Jahren als Krone seines Lebens die Ur- bzw. Prosafassungen der Iphigenie (Februar/März 1779), des Egmont (1778 /79 und 1782) und des Tasso (März 1780 bis November 1781). In Verse gebracht werden sie erst in Italien, und sie sind unerachtet ihrer Allgemeingültigkeit doch immer auch Zeugnisse und Spiegel einer gelebten und doch auch nur geträumten Beziehung. Die ‚Lieder‘ fanden sich in Italien vollendet, die Liebe fand sich durch diese Erfahrung ebenfalls vollendet, aber anders, als Charlotte das wahrhaben wollte. Sie hatte sich in ihrer platonischen Vollendung überlebt und war nach der Rückkehr nicht mehr zu leben.

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Angedeutet hatte sich das natürlich auf sehr zarte Weise immer und immer wieder in den Jahren vor 1786. Wiederholt gab es Signale, die auf Fluchtgedanken Goethes schließen ließen. Charlotte, gefangen und befangen in der kleinen Hof- und Familienwelt, konnte oder wollte sie nicht zur Kenntnis nehmen. Aber vermutlich war sich Goethe selber nicht im Klaren, wie sehr er einer Wiedergeburt bedurfte. Eine Analyse seiner Briefe aus dem letzten Jahr vor der Abreise, die die Signale einer sich andeutenden Flucht klar zu erkennen glaubt, ist allemal ein spekulatives Unterfangen, das sich nur post festum bestätigt, aber kaum beweist. Ab wann der Plan der Reise zum festen Entschluss wurde, bleibt unklar, und unangebracht ist es, die Reise als Flucht zu interpretieren. Er trat sie am 3. September 1786 zwar eigenmächtig, ohne Urlaub, heimlich und unterm Inkognito Philipp Möller an, aber wer wieder zurückkommen will, bricht schwerlich alle Brücken hinter sich ab. Und Goethe wollte geistig-schöpferisch neugeboren wieder zurückkommen; er machte sich nur kurzzeitig unauffindbar und war im Falle von Charlottes Reaktion eher überrascht, dass sie seine heimliche Reise als Beendigung eines aussichtslosen Verhältnisses begreifen wollte. Er vermochte in seinem letzten Brief vor der Abreise und in seinem ersten Brief aus Italien nichts von Flucht, von endgültigem Abschied und Abbruch der Beziehung gelten lassen. Am 30. August 1786 schreibt er aus Karlsbad an Charlotte von Stein, die er gut zwei Wochen zuvor bis Schneeberg zurückbegleitet hatte: „Sonntag d. 3 ten Sept. denck ich von hier wegzugehn.“ Er macht am Tag darauf, am 1. September, auch kein Hehl daraus, dass er, wie er sich ausdrückt, in die Einsamkeit der Welt hinauszugehen gedenkt, in der er jedoch nicht bleiben möchte. Das „wiederhohl ich dir aber“, versichert er, daß ich dich herzlich liebe, daß unsre letzte Fahrt nach Schneeberg mich recht glücklich gemacht hat und daß deine Versicherung: daß dir wieder Freude zu meiner Liebe aufgeht, mir ganz allein Freude ins Leben bringen kann. Ich habe bisher im Stillen gar mancherley getragen, und nichts so sehnlich gewünscht als daß unser Verhältnis sich so herstellen möge, daß keine Gewalt ihm etwas anhaben könne.

Und am 2. September folgt nachts um elfe noch eine Nachschrift:

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Endlich, endlich bin ich fertig und doch nicht fertig […] aber ich will fort und sage auch dir noch einmal Adieu! Lebe wohl du süses Herz! ich bin dein.

Definitiver Abschied, Abbruch, Flucht ist das nicht. Das müsste entschieden anders klingen. Selbst wenn es gespielte Naivität sein sollte, der erste Brief aus Italien vom 18. September 1786, der das Reiserätsel noch immer nicht lüftet, klingt nicht nach Aufkündigung ihrer seltsamen „Gedanken-Ehe“. Auf einem ganz kleinen Blätchen geb ich meiner Geliebten ein Lebenszeichen, ohne ihr noch zu sagen wo ich sey. Ich bin wohl und wünschte nur das Gute was ich genieße mit dir zu theilen, ein Wunsch der mich offt mit Sehnsucht überfällt.

Kann oder will er sich nicht vorstellen, dass „klein Hänschen wohlgemut“ die Mutter weinen macht, dass Charlotte diese Reise, menschlich verständlich, als einen Abschied, als einen Verrat an ihr und ihrer Liebe verstehen musste. Natürlich war er sich im Klaren, dass sie nicht begeistert war. Am 7. November klingt es schuldbewusst aus seinen Zeilen: Laß dich’s nicht verdrießen meine Beste daß dein Geliebter in die Ferne gegangen ist, er wird dir beßer und glücklicher wiedergegeben werden.

Aber am 9. Dezember, nachdem er schon lange sein „Tagebuch der Italiänischen Reise für Frau von Stein“ abgeschickt hatte, ist er geradezu entgeistert, als er nur ein Zettelchen von ihrer Hand in des Kammerdieners Brief eingeschlossen erhält: Das war also alles was du einem Freunde, einem Geliebten zu sagen hattest, der sich so lange nach einem guten Worte von dir sehnt. Der keinen Tag, ja keine Stunde gelebt hat, seit er dich verließ ohne an dich zu dencken.

„Verließ“, das war Charlottes Stichwort fürderhin und Goethe hat das fatale Wort wohl unbewusst hingesetzt. Er konnte sich das Ausmaß ihrer Enttäuschung in aller Unschuld und natürlich auch zu seinem Selbstschutz einfach nicht vorstellen. Er hatte wohl geschwiegen, hatte nichts von seiner Reise verlauten lassen, weil er genau wusste, dass er sie, da Charlotte sie unmöglich würde erlaubt haben, nicht mehr angetreten hätte. Dabei war die Reise, die Begierde, Italien zu sehen, einerseits übermächtig geworden – „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“ entstand Ende 1784 –, andererseits wurde sie als Therapeutikum so notwendig wie jene

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zur Brockenbesteigung. Auch sie sollte ihm Klarheit bringen und ihm die Möglichkeit geben, neben seinem amtlichen Leben vor allem sein Leben mit dieser Frau neu zu bestimmen. Von Abbruch seinerseits konnte selbst in heimlichsten Gedanken keine Rede sein. Das aber war naiv, und die Banalitäten des trivialen Lebens obsiegten wie anderswo auch in ihrer beider scheinbar so exponierten und außerordentlichen Liebesbeziehung. Charlotte von Stein war vielleicht nicht durch den Weggang, aber durch seinen abschiedslosen Weggang tief gekränkt und maßlos enttäuscht. Sie hielt stets auf Distanz, aber so viel Distanz warf sie, das erkannte sie augenblicklich, zurück in ihre Einsamkeit, in ein ihr unerträgliches Hauswesen mit einem Mann, der nie eine Rolle gespielt hatte. Es war aus für sie, aber Goethe war blind. Konsequent forderte sie ihre Briefe zurück. Goethes Antwort aus Rom am 13. Dezember auf das beigelegte „Zettelgen“ vom 9. Dezember 1786 lässt keinen anderen Schluss auf dessen Inhalt zu. Dein Zettelchen hat mich geschmerzt aber am meisten dadrum daß ich dir Schmerzen verursacht habe. Du willst mir schweigen? du willst die Zeugniße deiner Liebe zurücknehmen? Das kannst du nicht ohne viel zu leiden, und ich bin schuld daran.

Sie wollte schweigen und leiden und sie blieb sich darin treu. Der Briefwechsel bricht zwar nicht gänzlich ab, aber er wird sehr einseitig. Goethe wollte es nicht wahrhaben und antwortet ihr weiterhin auf „bitter süße“ Briefe und führt ein Tagebuch für sie, das seinen Zumutungen die Krone aufsetzt. Er schützt sie als Adressatin vor und denkt dabei an eine allgemeine Öffentlichkeit. Auch das musste sie kränken, aber es war nicht mehr ausschlaggebend. Der Bruch war endgültig. Das war der wirkliche Preis seiner Italienischen Reise. Als Goethe am 18. Juni 1788 wieder in Weimar ankam, gab er sich noch immer erstaunt, wie abweisend und eisig er empfangen wurde. Er versuchte vorsichtige Annäherungen, die kläglich misslangen. Im eigentlichen wie uneigentlichen Sinn, er kam nicht mehr zu Charlotte zurück. Es hätte der Begegnung mit Christiane Vulpius am 12. Juli 1788 und der späten Entdeckung durch den Sohn Fritz im Frühjahr 1789 nicht mehr bedurft, um das Ende zu bekräftigen. Christiane war nur der Lackmustest, der erkenn-

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bar machte, was schon lange geschehen war. Allerdings bekam sie am meisten Charlottes Hass und Rache zu spüren. Goethe konnte sich leicht freisprechen von solchen Gefühlen, denn sein Rückzug mündete in eine die verlassene Charlotte von Stein letztlich provozierende Zweisamkeit. Im Jahre 1796 – die Wunden begannen langsam zu vernarben – zieht Goethe in einem nicht veröffentlichen Xenion eine Zwischenbilanz, nicht wissend, dass man noch eine 31-jährige gemeinsame Strecke im engen Rahmen einer kleinstädtisch-höfischen Gesellschaft zu meistern hatte. Das vorläufige Ergebnis so vieler Liebesbriefe – vielleicht waren es zu viele – klingt fast buchhalterisch: An *** Ja, ich liebte dich einst, dich wie ich keine noch liebte, Aber wir fanden uns nicht, finden uns ewig nicht mehr.

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Die Geschwister (1776)

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Die Petitesse, die Goethe laut Tagebuch vom Samstag, dem 26. Oktober 1776, unter dem Titel Die Geschwister auf dem Heimritt von der Jagd „erfunden“ hat, ist der Form, dem Aufbau und dem Inhalt nach höchst konventionell. Er selbst bestätigt sehr viel später im Gespräch mit Kanzler Friedrich von Müller am 15. September 1823 diese Einschätzung: „Die Geschwister entwarf Goethe auf einer kleinen Reise nach Thalbürgel zum Großherzog; in wenig Tagen waren sie fertig. Es reut ihn, daß er nicht damals ein Dutzend ähnlicher Stücke hinwarf, aber er geriet bald an die Iphigenie und ward viel ernster.“ Goethe schrieb den Einakter für vier Darsteller in der Tat in zwei Tagen, am Montag und Dienstag, der nachfolgenden Woche schnell nieder, und schon am Mittwoch, dem 30. Oktober, begann er mit Amalie von Kotzebue in der Rolle der Marianne zu proben. Er selbst übernahm die männliche Hauptrolle des Bruders Wilhelm. „Die Geschwister führte er dann“, so erzählt Kanzler Müller weiter, „auf einem kleinen Privattheater mit Demoiselle Kotzebue … selbst auf, nicht ohne wechselseitige Neigung. Sie sei sehr anmutig und naiv gewesen, weit mehr als ihre jetzige Tochter, die etwas kurz Angebundenes habe. Der nachmalige Staatsrat Kotzebue [ihr damals 15-jähriger Bruder] machte den Postillion.“ Das Aufführungsdatum war der 21. November 1776, und das Privattheater das Weimarer Liebhabertheater. Das kleine Stück zeigt in kleinbürgerlicher Idylle, Harmonie und Häuslichkeit einen bescheiden erfolgreichen Kaufmann und dessen Schwester, die ihm seit dem Tod der Mutter mit wirklicher Passion den Haushalt führt. Die Szene malt ihr Küchenregiment mit einigen treffenden Auftritten aus und zeigt dabei eine Schwester, die ihren Bruder abgöttisch liebt. Deshalb verweigert sich Marianne auch der Werbung durch den ältlichen und etwas biederen Fabrice, der ein langjähriger Freund des Hauses ist. Sie verweist ihn an den Bruder und erhofft sich einen ablehnenden Bescheid durch ihn. Wilhelm lehnt den Antrag von Fabrice zu ihrer Freude tat-

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sächlich ab, aber aus Gründen, die ihr bisher verborgen waren. Sie ist nicht seine Schwester, sondern die in sein Haus aufgenommene Tochter seiner verwitweten und jungverstorbenen Geliebten Charlotte. Das Geständnis erklärt Mariannes platonisch-schwesterliche Liebe augenblicklich neu, und auch Wilhelm befreit es aus seiner Zurückhaltung gegenüber der vermeintlichen Schwester, in der er heimlich schon immer das verjüngte Bild seiner engelsgleichen Charlotte liebte. Fabrice fügt sich freundschaftlich verbunden in die für ihn enttäuschende neue Familienaufstellung. Das Stück erfreute sich im 19. Jahrhundert auf der Bühne mäßiger Beliebtheit und ist heute auf dem Spielplan der Theater nicht mehr zu finden. Die alte Schule der Goetheverehrung sah im rührenden Verlauf der Handlung und in der liebenswürdigen und bezaubernden Liebe Mariannes und der Redlichkeit des Kaufmanns Wilhelm ein treffendes Abbild ehrenwerter deutscher Bürgerlichkeit, in dem sich auf „schöne und innige Weise die Beschäftigung der Hände mit der des Herzens verbindet“. Selten sei der Ehestand schöner gezeichnet worden als in der Schilderung der Bruderliebe Mariannes, mit der sie die Werbung von Fabrice sanft zurückweist. Sie will ein Hausmütterchen sein: Marianne. Es ist nun so. – Wenn ich aufwache, horch’ ich, ob der Bruder schon auf ist; rührt sich nichts, hui bin ich aus dem Bette in der Küche, mache Feuer an, daß das Wasser über und über kocht, bis die Magd aufsteht und er seinen Kaffee hat, wie er die Augen auftut. […] Und dann setze ich mich hin und stricke Strümpfe für meinen Bruder, und hab’ eine Wirtschaft, und messe sie ihm zehnmal an, ob sie auch lang genug sind, ob die Wade recht sitzt, ob der Fuß nicht zu kurz ist, daß er manchmal ungeduldig wird. Es ist mir auch nicht ums Messen, es ist mir nur, daß ich was um ihn zu tun habe, daß er mich einmal ansehen muß, wenn er ein paar Stunden geschrieben hat, und er mir nicht Hypochonder wird. Denn es tut ihm doch wohl, wenn er mich ansieht; ich seh’s ihm an den Augen ab, wenn er mir’s gleich sonst nicht will merken lassen.

Wer auch immer von den frühromantischen Damen und Herren in Jena sich über Schillers Frauenbild lustig gemacht hat – „Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe […] / Flicken zerrissene Pantalons“ und „Kochen dem Manne die kräftigen Suppen“ –, der Parodist August Wilhelm Schlegel hätte Goethe nicht schonen

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müssen, der sein Parademädchen sich solcherart glücklich erklären lässt: Marianne. […] Wenn ich ihn nicht hätte, wüßt’ ich nicht, was ich in der Welt anfangen sollte. Ich tue doch auch alles für mich, und mir ist, als wenn ich alles für ihn täte, weil ich auch bei dem, was ich für mich tue, immer an ihn denke.

Tempi passati! Der unermessliche deutsche Liebesreichtum im Charakter der Marianne hat alle Attraktivität verloren. Sie ist kein Spiegel deutscher Frauenherzen mehr und die Bühne von heute hat das Stück mangels Aktualität ausrangiert. Trotzdem erfreuen sich Marianne und Wilhelm und Charlotte seit einiger Zeit in einschlägig wissenschaftlich orientierten Diskursen einer großen Aufmerksamkeit, ja Beliebtheit. Die psychoanalytisch orientierte Schule der Goetheverehrung hat das Stück gegen den Strich gebürstet und wittert in der behaglichen Kunstübung viel geheimnisvolle Biographie, viel intime Lebensbeichte, viel tiefenpsychologisch-brisanten Hintergrund. Zur Geheimnistuerei hat Goethe selbst beigetragen, indem er diverse briefliche Verbote aussprach. Zwar legte er der Schwester Cornelia das Stück als Köder vor, nicht anders der heißumschwärmten Charlotte von Stein, aber sie sollten es auf keinen Fall weitergeben, nicht abschreiben und dergleichen Mystizismen mehr. Er selbst hielt sich eher nicht ans Gebot zu solcher Verschwiegenheit, denn er machte den Text schon drei Wochen nach der Niederschrift von der Bühne herab öffentlich. Nun hat auch oder gerade die alte Schule der Interpreten gemutmaßt, dass sich die Schwärmerei, mit der Wilhelm von seiner verstorbenen Geliebten spricht, und dass der Brief, den er von der „heiligen Frau“ ansatzweise vorliest, auf die umworbene Charlotte von Stein beziehen könnten. Auch war unübersehbar, dass Goethe hinter der Figur der Marianne ein Stück weit das Bild seiner geliebten Schwester Cornelia versteckt hat. Ferner war immer erkennbar, dass Goethe gerne Charlotte von Stein und die Schwester miteinander in Vergleich brachte, um ihrer beider nonnenhafte Reinheit und körperliche Unnahbarkeit zu betonen. Die Interpretation im psychoanalytisch geschulten Diskurs erklärt aber nun das kleine Schauspiel, dies alles folgerichtig verknüpfend, als eine Wunschphantasie, in der sich Goethe als vom Inzesttabu befreit imaginiert und in der ihm mit der Schwester eine erotisch-eheliche Beziehung einzugehen erlaubt ist. Ob das kleine Schauspiel,

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von Goethes Hand locker hingeworfen, damit aber gerettet ist, bleibt zweifelhaft. Ohnehin drängt sich unüberhörbar die Frage auf, warum sich die Wünsche im Stück auf die Tochter, die verjüngte Mutter, beziehen, die Gott sei’s gedankt keine Schwester ist, während sich in den Weimarer Tagen und Monaten des Jahres 1776 alle Wünsche auf Charlotte von Stein richten, die in der Erinnerung des Stückes eine Gestorbene ist. Cornelia Goethe, verheiratete Schlosser, der das Stück geschickt wurde, konnte darin wohl kaum eine versteckte Liebeserklärung erkennen, wo sie den Bruder in Weimarer Umständen so glücklich wusste, und Charlotte von Stein mochte sich in dem Stück wie eine in einer Kirche aufbewahrte Reliquie begegnen, keinesfalls als die aktuell Geliebte, die, wie das Gedicht an sie sagt, „in abgelebten Zeiten / seine Schwester oder seine Frau“ war.

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Corona Elisabeth Wilhelmine Schröter 1751–1802

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An Corona Schröter, nach der Aufführung des Oratoriums Santa Elena al Calvario von Hasse Leipzig, Dezember 1767 Unwiderstehlich muß die Schöne uns entzücken, Die frommer Andacht Reize schmücken. Wenn jemand diesen Satz durch Zweifeln noch entehrt, So hat er dich niemals als Helena gehört.

Die Autorschaft für die Huldigung an Corona Schröter ist zweifelhaft, aber die biographische Faktenlage ist eindeutig: Der 16-jährige Goethe, ab Oktober 1765 als Student in Leipzig, hat die gefeierte Sängerin Corona Schröter in tragenden Rollen in Johann Adam Hillers und Johann Adolph Hasses großen Konzerten gehört, gesehen und bewundert. Mit zwölf Jahren kam die aus einer Musikerfamilie in Guben stammende Sängerin 1763 von Warschau nach Leipzig, und bereits als 14-jähriges Mädchen überzeugte sie in ihren Partien das Publikum, das sie stürmisch feierte. Goethe lernte sie in diversen Gesellschaften im Umkreis der Familie Breitkopf persönlich näher kennen und konnte sich von ihr auch als Schauspielerin überzeugen. Nach dem Weimarer Schlossbrand vom 6. Mai 1774, bei dem auch das Schlosstheater vernichtet wurde, gründete man eine sich aus bürgerlichen und adeligen Mitgliedern zusammensetzende Liebhabergesellschaft, die durch ein professionelles Engagement verstärkt werden sollte. Im März 1776 erhielt Goethe deshalb vom Herzog den Auftrag, bei Corona Schröter in Leipzig vorzusprechen, um sie für das Weimarer Liebhabertheater und als Kammersängerin der Herzogin Anna Amalia zu gewinnen. Am Montag, dem 25. März, traf er nachmittags 3 Uhr am „Marien Tags Feste“ den Kopf voller Erinnerungen in Leipzig ein. Er eilte sofort zu Corona Schröter, die ihm wohl aus seinem Schauspiel Stella einige Monolog-Passagen rezitierte. Er ist hingerissen und noch

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nachts um 10 Uhr schreibt er an Charlotte von Stein: „Die Schröter ist ein Engel.“ Der Nachsatz lässt bei einem frisch Verliebten aufhorchen: – wenn mir doch Gott so ein Weib bescheeren wollte dass ich euch könnt in Frieden lassen –

Der Herzog erhält am nächsten Tag einen ähnlich lautenden Bescheid: „Die Schrötern ist gar lieb und gut.“ Alles weitere, so sein Brief, will er sich aber für den mündlichen Bericht aufsparen. Wegen Charlotte bestätigt er am 26. März 1776 nochmals: „Ich bin bey der Schrötern – ein edel Geschöpf in seiner Art.“ Diese Etikettierung wird ihr bis an ihr Lebensende bleiben, denn sie wird künftig im Weimarer Liebhabertheater für ‚edle Einfalt und stille Größe‘ zuständig sein. Bereits am 16. November 1776 trifft die Künstlerin in der kleinen Provinzstadt ein. Sie erhält ein jährliches Gehalt von 400 Talern auf Lebenszeit. Wenn man ihren relativ frühen Tod bedenkt, kommt dieser Zusicherung eine gewisse schicksalhafte Bedeutung zu, denn Corona Schröters Ruhm bleibt unauslöschlich mit Weimar und mit Goethe und vor allem mit seiner Iphigenie auf Tauris verbunden. Die Weimarer Gesellschaft, insbesondere die Herrenwelt, war von Corona Schröters klassischer Schönheit und Anmut, von ihrem Liebreiz, ihrem ausdrucksvollen Theaterspiel, ihrer pantomimischtänzerischen Begabung und der schönen Stimme hingerissen. Sie bereicherte als Stern erster Güte das Weimarer Theaterleben durch ihre Auftritte in Opern und Oratorien, im Schauspiel und in kleinen Singspielen. Goethe hofierte die lebenslustig-gesellige und doch seelenvoll-reine Darstellerin, mit der in den Jahren bis 1783 alte und neugeschriebene Werke zu Hauf in Szene gehen. Sie spielte im Triumph der Empfindsamkeit (30. Januar 1778) und im Jahrmarkts-Fest zu Plunderweilern (20. Oktober 1778 in Ettersburg mit den Gesangstücken in der Komposition der Herzogin-Mutter Anna Amalia), sie trat in der Pastorale Die Laune des Verliebten auf (20. Mai 1779) und im SingspielJery und Bätely (12. Juli 1780). Goethe schreibt seine Texte auf ihre darstellerischen Mög­lich­ keiten hin. Sie besitzt aber noch weit mehr Talente als nur als Sängerin und Schauspielerin: Sie spielt gut Klavier und bläst die Flöte, sie zeichnet und malt und sie versucht sich in Fremdsprachen. Für das Singspiel Die Fischerin mit der eingelegten Ballade vom

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Erlkönig komponiert sie selbst die Musik (22. Juli 1782 im Park von Tiefurt). Theatergeschichte aber schreibt sie als Iphigenie in der legendären Uraufführung der ersten Prosafassung am 6. April 1779 im Redoutentheater in Weimar. Sie war die IphigenienGestalt und Goethe, wie Christoph Wilhelm Hufeland, sein späterer Hausarzt, schwärmt, der ideale Orest. Mit der Rolle der seelenvollen Priesterin und mit diesem Seelendrama verbindet sich nicht nur die Erinnerung an den Höhepunkt ihrer persönlichen Karriere, sondern diese Rolle, diese Figur und dieses Stück war ein epochemachendes Ereignis. Mit der Iphigenie auf Tauris begann ein Zeitalter, das Zeitalter der sogenannten Weimarer Klassik. Trotz der Faktenlage, die vordergründig auf Charlotte von Stein weist, stellt sich natürlich die Frage, wer für die Figur der Iphigenie sonst noch Modell gestanden haben könnte. Corona Schröter hat Goethe sicherlich tief beeindruckt. Im Tagebuch vom 1. April 1780 findet sich die auf Corona (Crone) gemünzte verdächtige Bemerkung: „Da wir alle nicht mehr verliebt sind und die Lava Oberfläche verkühlt ist, ging’s recht munter und artig, nur in die Rizzen darf man noch nicht visitiren, da brennt’s noch.“ Nicht nur Goethe lud Corona zu sich ins Haus, ritt mit ihr aus, speiste mit ihr, ging tanzen oder lief Schlittschuh mit der ersten Dame der Theatertruppe, sondern auch der Herzog stellte ihr nach und hatte ein Auge auf sie geworfen. Er erhielt von Goethe diesbezüglich ordentliche Rügen, gegen die er aber ziemlich immun war. „Abends nach dem Conzert eine radicale Erklärung mit dem Herzog über Corona“, heißt es in Goethes Tagebuch am 10. Januar 1779. Wir treffen Carl August aber natürlich weiterhin im Dunstkreis der unnahbaren, in seinen Augen marmorkalten Corona. Für den Schürzenjäger gibt es gute Gelegenheiten, etwa als Darsteller hinter der Bühne zusammen mit der Schröter in dem allegorischen Schattenspiel Minervens Geburt, Leben und Thaten. Carl Friedrich Sigismund von Seckendorff, der Kammerherr Carl Augusts, hatte es zu Goethes Geburtstag am 28. August 1781 verfasst und komponiert. Im neueröffneten Waldtheater in Tiefurt ging es über die Bühne, und Corona, die ansonsten zumeist antikisch Gewandete, trug nur einen leichten Schleier, den der Erotiker Wieland als „allergenaueste Übereinstimmung mit dem Götterkostüm“ zu genießen wusste. Das war delikat und von einiger Delikatesse war auch der Umstand, dass Charlotte von Stein bei der Uraufführung der

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Iphigenie nicht anwesend war. Im Februar und März des Jahres 1779 entstanden, spiegelt das Stück Goethes Verhältnis zu Charlotte von Stein in mythischer Einkleidung in vielfachen Verästelungen wider: in der schwesterlich-brüderlichen Beziehung von Iphigenie und Orest, in der Verweigerungshaltung der Priesterin gegenüber Thoas’ Werbung oder in der abweisenden und gleichwohl heilenden Art der auf ihren Ruf als Unberührbare bedachten Frau. Es war ihr Stück und sie hat es wohl in Eifersucht einer Frau überlassen, mit der Goethe sie durchaus immer wieder aus ihrer Reserve locken wollte. Da glühte ein Feuer, geschürt von einem Engel vergleichbarer Art, aber jünger, biegsamer, anmutiger und graziöser als der spröde Charme der Hofdame. Goethes jähe Neigung einerseits/ andererseits erregte einen Zwiespalt seiner Gefühle, den Charlotte mit feinem Gespür witterte. Man blieb nicht gleichgültig, wenn der Geliebte auf der Bühne, auch wenn es nur in der Fiktion ist, mit seiner Partnerin zum Traumpaar wird, wenn dieser gar ihre weibliche Größe in einem Ton rühmt, der eigentlich für eine andere nicht veräußerbar war. Die Liebeserklärung war untadelig und frei von Zweideutigkeiten und gut platziert in einem Gelegenheitsgedicht, in einem Trauergedicht Auf Miedings Tod. Der gute Geist der Weimarer Liebhaberbühne fürs Bühnenbild und für die Theatermaschinerie, Johann Martin Mieding, war 56-jährig am 27. Januar 1782 überraschend während der Vorbereitungen für die Geburtstagsfeier der Herzogin Louise gestorben. Goethe stellt das Denkmal von Papier und Tinte für den beliebten und rechtschaffenen Mann ins Panorama des Weimarer Musensitzes, in dem die Huldigung für Corona Schröter nur folgerichtig und unbeanstandet eingefügt werden konnte. Ihr Freunde, Platz! Weicht einen kleinen Schritt! Seht, wer da kommt und festlich näher tritt? Sie ist es selbst – die Gute fehlt uns nie, – Wir sind erhört, die Musen senden sie. Ihr kennt sie wohl; sie ists die stets gefällt; Als eine Blume zeigt sie sich der Welt: Zum Muster wuchs das schöne Bild empor, Vollendet nun, sie ist’s und stellt es vor. Es gönnten ihr die Musen jede Gunst, Und die Natur erschuf in ihr die Kunst. So häuft sie willig jeden Reiz auf sich, Und selbst dein Name ziert, Corona, dich.

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Sie tritt herbei. Seht sie gefällig stehn! Nur absichtslos, doch wie mit Absicht schön. Und, hocherstaunt, seht ihr in ihr vereint Ein Ideal, das Künstlern nur erscheint.

Es scheint, als wäre mit Miedings Tod dem Liebhabertheater der gute Geist abhanden gekommen. Bei nachlassender Begeisterung wird es im Jahre 1783 eingestellt und Corona Schröter zieht sich von der Bühne zurück. Die Berührungspunkte zwischen offiziellem Leiter und spiritus rector als Autor, Dramaturg, Regisseur und Schauspieler werden seltener. Zwar bleibt Corona Schröter im gesellschaftlichen Leben Weimars präsent, aber ihre Glanzzeit ist vorüber. Sie gibt Gesangs- und Schauspielunterricht, präsentiert sich 178 7 mit ihren Bildern der Öffentlichkeit, publiziert 1786 und 1794 ihre Liedkompositionen nach Klopstock, Herder, Goethe und Schiller, beginnt ein zartes und dezent verheimlichtes eheähnliches Verhältnis mit dem Kammerherrn Friedrich Hildebrand von Einsiedel. Der Neigung zu dem liebenswürdigen und exzentrischen Edelmann blieb ein öffentlicher Status verwehrt, und als Corona aus Krankheitsgründen 1801 ihren Wohnsitz nach Ilmenau verlegt, reißen die letzten Kontakte zu den Freunden in Weimar ab. Am 23. August 1802 stirbt sie vereinsamt und allein und wird in aller Stille begraben. Niemand aus Weimar stand an ihrem Grab. Goethes Nekrolog war bereits 20 Jahre alt und wurde, wie er meinte, damals ohne Vorbedeutung geschrieben. Auch das zu Ehren der Künstlerin errichtete Amor-Denkmal im Tiefurter Landschaftspark stammte schon aus dem Jahr 1784. Es zeigt Amor, der mit einer vergifteten Pfeilspitze eine Nachtigall füttert. Die Verse Goethes unter der Szene hat er am 26. Mai 1782 an Charlotte von Stein gesandt. Als Huldigung für Corona Schröter ist das Epigramm ziemlich verschlüsselt und nur für den Wissenden als eine Verbeugung vor der großen Künstlerin zu verstehen. Dich hat Amor gewiss, o Saengerin, fuetternd erzogen Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost Schluerfend saugtest du Gift in die unschuldige Kehle Und mit der Liebe Gewalt trifft Philomele das Herz

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Iphigenie auf Tauris (1779/1787)

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Am 6. April 1779 spricht Iphigenie, verkörpert von Corona Schröter, in ihrem berühmten Auftrittsmonolog anlässlich der Uraufführung des Stückes im Redoutentheater in Weimar so: Heraus in eure Schatten, ewig rege Wipfel des heiligen Hains, hinein ins Heiligthum der Göttin, der ich diene, tret’ ich mit immer neuem Schauder, und meine Seele gewöhnt sich nicht hierher! So manche Jahre wohn’ ich hier unter euch verborgen, und immer bin ich wie im ersten, fremd, denn mein Verlangen steht hinüber nach dem schönen Lande der Griechen, und immer möcht’ ich übers Meer hinüber, das Schicksal meiner Vielgeliebten teilen. Weh dem! der fern von Eltern und Geschwistern ein einsam Leben führt; ihn läßt der Gram des schönsten Glückes nicht genießen (I,1).

Und so spricht sie acht Jahre später in der Fassung von 1787, die in Rom unter dem Eindruck der unmittelbaren Begegnung Goethes mit der antiken Welt entstanden ist: Iphigenie: Heraus in eure Schatten, rege Wipfel Des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines, Wie in der Göttinn stilles Heiligthum, Tret’ ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl, Als wenn ich sie zum erstenmal beträte, Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher. So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe; Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd. Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten, Und an dem Ufer steh ich lange Tage, Das Land der Griechen mit der Seele suchend; Und gegen meine Seufzer bringt die Welle Nur dumpfe Töne brausend mir herüber. Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram Das nächste Glück vor seinen Lippen weg.

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Dass hier im Jahre 1787 Verse gegen eine sehr elegante und melodisch-natürliche Prosa gesetzt werden, macht das Schauspiel Iphigenie auf Tauris mitnichten zu einem klassischen, gar zu einem gräzisierenden Schauspiel. Es handelt sich um kein antikisch orientiertes Versmaß, sondern die jambisch-ungereimten und ebenfalls auf Natürlichkeit und nicht auf Deklamation pochenden Verse sind dem von den Stürmern und Drängern hymnisch verehrten und alles andere als poetologisch-griechisch vorbildhaften Shakespeare entlehnt. Am Beginn aber von Goethes klassischer Wendung um 1779, bei der er die edle griechische Priesterin in den Mittelpunkt einer sehr konzentrierten Handlung nach den Regeln des Aristoteles stellt, kann von Vorbildlichkeit der griechischen Muster, jedenfalls der sprachlichen Gestaltung nach, überhaupt keine Rede sein. Er verwendet schlicht die Prosa des bürgerlichen Trauerspiels, die das französisierende Alexandrinerdrama abgelöst hat. Die Großtat Lessings, die Einführung des Blankverses Shakespeare’scher Ordnung in seinem ebenfalls 1779 vorgelegten dramatischen Gedicht Nathan der Weise konnte nach Lage der Dinge noch nicht in Goethes poetische Werkstatt als neue Formatvorlage durchgedrungen sein. Goethe probiert und probiert weiter in Prosa, und selbst der feurige Jungspund Schiller wirft seine Prosatiraden schneller über Bord und zieht mit Goethe bei dem Wettlauf in die Klassik noch gleichauf, indem er nach einem Prosaanlauf seinen Dom Carlos 1787 im englischen Blankvers zeitgleich zur Versfassung der Iphigenie auf Tauris vorlegt. Dass das neue, dem Natürlichkeitsideal verpflichtete klassische Versmaß in Abwendung von der klassischen Doktrin auf dem Umweg über den antiklassischen Shakespeare gewonnen wurde, ist eine Absonderlichkeit, die wir kaum mehr realisieren, wenn wir die griechische Priesterin, am Strande von Tauris das Land der Griechen mit der Seele suchend, sprechen hören. Über solch absonderliche Umwege wird aber nicht nur ein sprachlich weiches, ins Lyrische tendierende Ideal gefunden, sondern über die gewaltigen Umwege der Fetzendramaturgie des Götz von Berlichingen wird auch die Einheitenlehre als freie und schmiegsame Norm zurückgewonnen. Der Handlungsbogen, über den uns die idealische Gestalt mit der schönen Seele durch Raum und Zeit ins wahrhaft Menschliche geleitet, ist ebenfalls dem neuen Leitbild von der edlen Einfalt und der stillen Größe verpflichtet. Vollends aber

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wird der alte Inhalt, hier die Geschichte der aus Todesnot geretteten und zum barbarischen Dienst entführten Priesterin, einer sanften Metamorphose unterworfen. In der Priesterin selbst offenbart sich die im alten Muster als Dea ex machina eingreifende Göttin Diana; ihre Inkarnation im menschlich-humanen Schwesterbild vollbringt die Heilung des Bruders Orest, nur im weiblichen Handlungsmuster geschieht die Entsühnung der Welt im Bekenntnis zu Wahrheit und Offenheit. Das Drama, in dem eine unendlich leise Frau im genau ausbalancierten Zentrum einer von Gewalt und List dominierten reinen Männerwelt steht, ist – auch dies seltsam genug – ein reines Frauenstück geworden. Für die hohe Frau standen neben dem literarischen Vorbild aus dem Drama des jüngsten der drei großen griechischen Tragiker, aus der Iphigenie bei den Taurern des Euripides, drei Frauen aus dem Leben des Dichters Modell: zum einen und zuallererst natürlich die stets weiß gekleidete und sinnlich-stürmischen Leidenschaften eher unzugängliche Charlotte von Stein, zum andern die sich gerne antikisch gewandet gebende Schauspielerin Corona Schröter und, nicht zu unterschätzen, Goethes unglückliche Schwester Cornelia. Ihre ausführliche Vorstellung erfolgt in diesem Buch gehörigen Orts, sodass hier der kurze Aufriss des Gedankenspiels von subtil platonischerotischen Liebesverhältnissen genügen mag. Goethe borgt sich neben der Vorlage des Euripides auch eine Konstellation aus seinem Schauspiel Die Geschwister, wobei sich die Rolle des Bruders und Liebhabers Wilhelm in der Iphigenie doppelt. Goethe spielt zwar selbst den Orest, aber er umwirbt als Bruder nicht nur die rettende und erlösende Schwester, sondern als der Barbarenkönig Thoas auch die in der Bühnenfigur verhüllte und ihn freundlichsanft abweisende Charlotte von Stein. Diese entfacht er zu dezenter Eifersucht, indem er sie mit der verehrten Corona Schröter provoziert, mit der er sich auf der Bühne als das schönste Paar präsentiert, das Weimar aufzubieten hatte. Gleichzeitig wetteifert der Orestdarsteller mit dem Freund Carl August, der die Iphigeniendarstellerin in der Rolle des Pylades (der Freund des Orest!) umschwärmt. Viele Ebenen in einem filigranen Bau, umwoben von erotischen wie wahrhaft platonischen Empfindungen, machen die Entstehung und die Geburt des Klassikers aller deutschen Klassiker vielfach spannend.

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Dabei ist Goethes Iphigenie, wie seine Schwester, wie Charlotte von Stein, zur Liebenden nicht geboren und berufen: Sie sind Schwestern und ihrer aller Schwesterbild ist die keusche Diana, die Göttin des Mondes. Als solche Schwestern und Dienerinnen der Hüterin der Frauen und Kinder haben sie ein ausgesprochen feinfühlig-kritisches Verhältnis zu den Männern, zu deren Taten und zu deren Welt entwickelt. Iphigenie im Besonderen macht, gespeist aus ihren Erfahrungen mit der Gewalttätigkeit der Männer – ihr Vater Agamemnon opfert sie um seiner Kriegsziele willen; Thoas fordert ihren Dienst für seine Menschenopfer –, kein Hehl aus ihrem Widerwillen gegen dieses hochsymbolisch schuldhaft gezeichnete Geschlecht. Der Frauen Zustand ist beklagenswerth. Zu Haus’ und in dem Kriege herrscht der Mann Und in der Fremde weiß er sich zu helfen. Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg! Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet. Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück! (I,1)

Und als Arkas in der anschließenden Szene die Werbung des Königs um ihre Hand ankündigt, argumentiert sie nicht nur allgemein, sondern pro domo in diesem Sinne: Ein unnütz Leben ist ein früher Tod; Dieß Frauenschicksal ist vor allen mein’s. (I,2)

Dass die blutigen Männeropfer ausgerechnet an den Stufen des Tempels der Diana von deren Dienerin vollzogen werden müssen, setzt dem unmenschlichen System noch eine ganz besonders bizarre Krone auf. Mit der Ankunft des Orest und mit der Verstrickung in die Intrige um seine Befreiung gerät die edle Haltung Iphigeniens ins Wanken. Ein Stoßseufzer entringt sich der Brust: O trüg’ ich doch ein männlich Herz in mir, Das, wenn es einen kühnen Vorsatz hegt, Vor jeder andern Stimme sich verschließt! (IV,4)

Es bleibt glücklicherweise beim Stoßseufzer, und sie versucht gar nicht nach männlichem Handlungsmuster zu verfahren. Ihre Kühnheit entscheidet sich gegen den Vertrauensmissbrauch gegenüber Thoas und für die Offenbarung des Fluchtplans. Nun steht

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sie zwischen Thoas und dem bewaffneten Orest, zwischen dem über alles geliebten Bruder und dem abgewiesenem Liebhaber. Die zweifellos auf Leben und Tod angelegte Auseinandersetzung der Männer wird durch eine Finte, eine spitzfindige Interpretation verhindert. Solche Textauslegungen sind zwiespältig, denn über unterschiedlichen Auslegungen kann man in die heftig­ sten Auseinandersetzungen geraten; die Kunst der Interpretation kann aber auch zu befreiend-befriedenden Ergebnissen kommen, wie im Falle von Orests Auftrag. Nicht das Götterbild von Apollos Schwester Diana soll er aus Tauris entführen, sondern die Schwester Iphigenie, das Schwesterbild der Diana, sein ihm verwandtes Blut, soll er nach Hause führen. Das ist für Thoas eine Wahl zwischen Scylla und Charybdis und das Stück zwingt ihn zu einer Entscheidung. Das tut er anders als die beredten Geschwister wortkarg und mit grandioser Geste, auch wenn ihm dafür die Anerkennung von den traditionellen Lesarten erstaunlicherweise verwehrt bleibt. Die haben in dem Schluss des „ganz verteufelt humanen“ (an Schiller, 19. Januar 1802) Frauenstücks nicht nur die schöne Rede, sondern auch die gute Tat selbst, das realisierte Humanitätsprogramm allein Iphigenie, der Mittlerin und Lehrerin, zugeschrieben. Sympathisierend mit denen, die sich human gerne überlegen dünken, deutete man die Schlussszene des Schauspiels gerne so, dass die geheime Liebe des Dichters wie des Gedichts mit Thoas verdrängt wurde. Aber nicht Iphigenie, sondern er hat das letzte Wort im Stück und sein berühmtes „Lebt wohl!“ ist mehr als eine Abschiedsfloskel. Zum einen realisiert einzig die Humanität des Barbaren das Versöhnungs- und Rettungswerk; er ist dessen Subjekt und nicht dessen Objekt; er setzt, nachdem Iphigenie dem ‚aufklärungsblinden‘ Bruder und dessen Freund mit ihrem Bekenntnis Einhalt geboten hat, die tragische Norm außer Kraft. Zum anderen ermöglicht Thoas dieses Werk mit einer Generosität, die alle beschämen muss – insbesondere die beiden keineswegs ‚aufgeklärten‘ Griechen. Er allein bezahlt den vollen Preis, über den er sich nicht im Unklaren ist. Sein „Lebt wohl!“, das bei Euripides dem König als blinder Gehorsamsakt auf einen trockenen Befehl der Göttin Athene hin abverlangt wird, sollte endlich in der von Goethe intendierten Tragweite gewürdigt werden. Dass es nicht mehr auf Befehl gesprochen wird, ist deutlich; aber es ist auch entschieden mehr als nur eine widerwillig

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der Lehrerin nachgesprochene Formel. Als Schüler interpretiert, bleibt Thoas stets außen vor und wird als der höchsten Humanität noch nicht teilhaftig in den Hintergrund des Tableaus geschoben, in dem zu verblassen eigentlich der Part Orests und Pylades’ ist. Goethes Zumutung besteht jedoch nicht nur darin, dass Thoas’ unvermitteltes „Lebt wohl!“ das Eintrittsbillett ins Pantheon griechischer Humanität ist, sondern dass er durch die harte Fügung des kargen „So geht!“ mit dem seinen vollen Wortzauber entfaltenden „Lebt wohl!“ wie durch ein Wunder urplötzlich selbst der Mittelpunkt eines Kreises ist, von dem sich eine neue Sitte begründet. Die Stimme der Wahrheit und der Menschlichkeit hört nicht nur jeder, ob Grieche, ob Barbar; in Goethes Iphigenie auf Tauris tönt sie zu guter Letzt sogar überzeugender aus dem Munde des „rohen Skythen“, der den Eid auf die Oberhoheit der neuen Königin aus eben der Freiheit und Autonomie gegen sein eigenes Interesse leistet wie zuvor schon Iphigenie. Er steht ihr deshalb in nichts nach, ja sein Beispiel löst ihr Vorbild ab; ihrer beider Händedruck ist nicht nur ein Zeichen aufrichtiger Versöhnung und freundlichen Abschieds, sondern das Bild einer gelungenen Verabschiedung, nämlich einer Aufhebung griechischen Geistes in einem universellen Kontext allgemeiner Friedfertigkeit zwischen den Geschlechtern sowohl als auch zwischen den Völkern.

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Goethe in Rom: „Das verfluchte zweite Kissen“

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Faustina ist die erotische Größe in Goethes Leben, in der die Wünsche der Biographen und Wirklichkeit des Biographierten, in der Fakten und Fiktionen im fließenden Übergang befindlich sind. Das Leben, jedes Leben, ist ein Paradoxon und so gilt hier wie überall, es gab sie und es gab sie nicht. Weil es keine Faustina gab, heißt das ja nicht, dass Goethe in Rom keine Liebschaften hatte; er berichtet ja selber von der schönen Mailänderin Maddalena Riggi, von der es, anders als vom Phantom Faustina, sogar ein Bild gibt. Das Bild ist von seiner römischen Freundin Angelika Kauffmann, die der Dichter auf seine Weise verehrte. Goethe hatte in Rom nicht nur Liebschaften, sondern er machte vermutlich sogar sexuelle Erfahrungen, Erfahrungen, die mit Frau von Stein immer so schwer vorstellbar sind. Dass Goethe in den Briefen aus Rom dem Herzog gegenüber prahlt, will nichts bedeuten, zeigt aber, dass die südlich freiere Atmosphäre Italiens ihn durchaus beschäftigte, wenn ihn auch die Angst vor syphilitischer Ansteckung ängstigte. „Sie schreiben“, so Goethe an den Herzog Carl August am 16. Februar 178 8 mit einigem Renommiergehabe, „so überzeugend, daß man ein cervello tosto [geröstetes Hirn] sein müßte, um nicht in den süßen Blumen Garten gelockt zu werden. Es scheint, daß Ihre guten Gedanken unterm 22. Jan. unmittelbar nach Rom gewürckt haben, denn ich könnte schon von einigen anmutigen Spaziergängen“ und von mäßiger Bewegung erzählen, die „das Gemüth erfrischt und den Körper in ein köstliches Gleichgewicht bringt. Wie ich solches in meinem Leben mehr als einmal erfahren, dagegen auch die Unbequemlichkeit gespürt habe, wenn ich mich von dem breiten Wege, auf dem engen Pfad der Enthaltsamkeit nd Sicherheit einleiten wollte.“ Dass ihn der Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, wie seine abgebildete Skizze festhält, beim Beseitigen amouröser Spuren ertappt, ist, anders als die Behauptungen auf geduldigem Briefpapier, fast schon ein glaubwürdiger Beweis für ein sexuelles Abenteuer. Dennoch, Faustina di Giovanni, verheiratete Antonini,

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die 1899 als journalistische Entdeckung die Neugier befriedigte, kann es schwerlich gewesen sein. Die 1764 geborene Wirtstochter soll, wie wiederum neuere Nachforschungen ergaben, schon 1784 gestorben sein. Nicht sie wurde Witwe, sondern Antonini wurde Witwer. Mit wem also liegt Goethe in Rom im Bett und versucht sich in neuen Versformen? Froh empfind’ ich mich nun auf klassischem Boden begeistert! Lauter und reizender spricht Vorwelt und Mitwelt zu mir. Ich befolge den Rat, durchblättre die Werke der Alten Mit geschäftiger Hand täglich mit neuem Genuß. Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt; Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt. Und belehr ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab. Dann versteh ich erst recht den Marmor, ich denk und vergleiche, Sehe mit fühlendem Aug, fühle mit sehender Hand. Raubet die Liebste denn gleich mir einige Stunden des Tages, Gibt sie Stunden der Nacht mir zur Entschädigung hin. Wird doch nicht immer geküsst, es wird vernünftig gesprochen; Überfällt sie der Schlaf, lieg ich und denke mir viel. Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet Und des Hexameters Maß, leise, mit fingernder Hand, Ihr auf den Rücken gezählt, sie atmet in lieblichem Schlummer, Und es durchglühet ihr Hauch mir bis ins Tiefste die Brust. Amor schüret indes die Lampe und denket der Zeiten, Da er den nämlichen Dienst seinen Triumvirn getan.

Erst in der XVIII. Römischen Elegie wird ein Name genannt, dort wo im Manuskript noch „mein Mädchen“ stand, findet sich im Druck nun „Faustina“ und eben diese „Faustina“ findet der Dichter bei seinem zweiten italienischen Aufenthalt nicht mehr. Die Reise nach Venedig hat er unwillig absolviert und da ist es nicht weiter verwunderlich, wenn im Fünften Venezianischen Epigramm die Klage zu hören ist: Schön ist das Land; doch ach, Faustinen find’ ich nicht wieder. Das ist Italien nicht mehr, das ich mit Schmerzen verließ.

Dass Faustina hier eine Chiffre ist und nie und nimmer eine reale Person, geht aus dem Kontext klar hervor. Denn natürlich ist Italien realiter noch immer Italien und Faustina in Venedig zu suchen, wäre töricht zu nennen, wo sie doch anscheinend in Rom lebt. Geht es hier um einen zeitkritischen Reflex, so in den

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Elegien um ein esoterisches Programm, das Faustina überschrieben ist und in dem nach der Rückkehr aus Italien die Summe gezogen wird. Die Summe ist poetisch verdichtet und eröffnet eine Perspektive auf ein unheroisch-arkadisches Panorama antikischer Welt, die in menschlich-intimen Dimensionen und natürlichen und befreiten Lebensverhältnissen als ein nostalgisch-utopisches Ideal formuliert wird. Dafür sind die Triumvirn dem Dichter die Gewährsleute, sind ihm die römischen Elegiker Catull, Tibull und Properz die Bezugsgrößen. In deren Spuren geht der naiv-moderne Nachahmer und wie diese ihr Programm mit den Namen ihrer Geliebten stempeln so der Verfasser der Erotica Romana seinen Entwurf einer glücklich-freien Welt. Faustina ist die bewusste Entsprechung zu Lesbia oder Cynthia oder Hostia oder Clodia beim römischen Kleeblatt. Dass es, wie in fast aller Literatur hinter der Esoterik des literarischen Anknüpfungs- und Verwandlungsspiels die Exoterik einer vordergründigen Handlung gibt, in die sich Quellen und Fakten wirklichen Lebens und persönliche Erfahrungen des Autors mischen können, gilt auch im Falle von Goethes römischer Geliebter. Aber die Exoterik ist keine bare Münze, eher eine Legende, wird durch Vermischung eine Mystifizierung, die Goethe gerne pflegte. Er macht es in Dichtung und Wahrheit, wie der Titel ja schon kundtut, er macht es in der Italienischen Reise und im primär poetischen Werk ohnehin. Vermutlich gibt es die überwältigende erotische Erfahrung und sexuelle Erfüllung und vermutlich gab es eine Römerin und einen Onkel und eine Mutter in der „Osteria alla Campana“, in der viele Deutsche verkehrten. Vielleicht war die Frau tatsächlich eine junge Witwe, aber Faustina hieß sie sicherlich nicht. Und weiter in der Legende, es gab auch „mein Mädchen“, und das war eher Christiane Vulpius als die Römerin, und ob diese die Stunden fürs Stelldichein mit dem verschütteten Wein auf den Tisch schrieb (15. Elegie) – es mag so Usus gewesen sein. Auf jeden Fall werden Fakten so zur Fiktion, werden biografische Kerne in ausschmückender Phantasie, wird alltäglich-irdisches Geschehen zu symbolischem Gehalt und schlussendlich zur Ikone, zur zehnten, zur erotischen Muse, die qua Definition anders als ihre neun klassisch verbürgten Schwestern keine Jungfrau mehr ist. Goethe scheint die Legende von der Römerin namens Faustina

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mit zunehmendem Alter, nachdem die Entrüstungen über die Erotica Romana abgeklungen waren, mit Behagen gepflegt und forciert zu haben. Sollten nach dem Erscheinen der Elegien in Schillers Horen diese künftig, so die erregten Zeitgenossen, nun mit „u“ geschrieben werden, so wird die Geschichte von der Römerin im Gespräch mit dem Maler und Archäologen Wilhelm Johann Karl Zahn, der im September 1827 aus Italien kommend mit Goethe Erinnerungen an Rom austauscht, zum harmlos biederen Plausch über wechselseitige touristische Erfahrungen: „Kennen Sie auch die Osteria alla Campana?“ fragte er weiter. „Die Weinschenke zur Glocke? Gewiß. Wir deutschen Künstler haben noch im vorigen Jahre Ihren Geburtstag dortselbst gefeiert.“ „Ist der Falerner noch immer gut?“ „Vortrefflich.“ „Und was liefert die Küche?“ „Ah, man erhält Stuffato, eine Art Schmorbraten, Maccaroni und ein Gebackenes, das sie Fritti nennen.“ „Es ist noch alles, wie zu meiner Zeit!“ sagte Goethe und schmunzelte behaglich. Dann fuhr er fort: „In dieser Osteria hatte ich meinen gewöhnlichen Verkehr. Hier traf ich die Römerin, die mich zu den ‚Elegien‘ begeisterte. In Begleitung ihres Oheims kam sie hierher, und unter den Augen des guten Mannes verabredeten wir unsere Zusammenkünfte, indem wir den Finger in den verschütteten Wein tauchten und die Stunde auf den Tisch schrieben. – Erinnern Sie sich wohl:“

Und nun wird zitatweise von den Gesprächspartnern die Poesie zum Beleg für eine Wirklichkeit umfunktioniert, als wäre sie ein Notat aus Goethes Tagebuch: Hier stand unser Tisch, den Deutsche vertraulich umgaben; Drüben suchte das Kind neben der Mutter den Platz, Rückte vielmals die Bank und wußt es artig zu machen, Daß ich halb ihr Gesicht, völlig den Nacken gewann. Lauter sprach sie, als hier die Römerin pfleget, credenzte, Blickte rückwärts nach mir, goß und verfehlte das Glas, Wein floß über den Tisch und sie, mit zierlichem Finger, Zog auf dem hölzernen Blatt Kreise der Feuchtigkeit hin. Meinen Namen verschlang sie dem ihren; ich schaute begierig Immer dem Fingerchen nach, und sie bemerkte mich wohl.

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Endlich zog sie behende das Zeichen der römischen Fünfe Und ein Strichlein davor; schnell, und sobald ichs gesehn Schlang sie Kreise durch Kreise, die Lettern und Ziffern zu löschen, Aber die köstliche Vier blieb mir ins Auge geprägt.

Eine solche Frau – ihr Name ist beliebig – wäre auch in Venedig zu finden gewesen, aber Faustina war in der Tat nicht mehr zu finden. Sie ist die Chiffre für das „et in arcadia ego“ geworden, sie steht für die Erfahrung des vollkommenen irdischen Glücks, das der Dichter in Italien und sonst nie mehr im Leben genoss. Sie ist die personifizierte Antike, in ihr wurde das Wortspiel ROMA=AMOR wirklich, wurden die Steine Fleisch. Die römische Bilanz gut einen Monat vor der Rückreise, die Goethe unterm 14. März 1788 in der Italienischen Reise zieht, konnte besser nicht sein und sie beinhaltet, ohne dass dies ausgesprochen wird, auch Faustina. Sie verrät vielleicht sogar zeitliche Anhaltspunkte für Goethes Begegnung mit der Römerin, aber da die Summe ja erst 1829 geschrieben und veröffentlicht wurde, steckt zwischen ihren Zeilen auch das Wissen um die Elegien – ihre Hexameter entstanden ja nicht in Rom, sondern im Weimarer Gartenhaus – und um Christiane, durch die die Römerin als Faustina erst das Licht der poetischen Welt erblicken konnte. Ja ich kann sagen, daß ich die höchste Zufriedenheit meines Lebens in diesen acht Wochen genossen habe, und nun wenigstens einen äußersten Punkt kenne, nach welchem ich das Thermometer meiner Existenz künftig abmessen kann.

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Clärchen Egmont (1788)

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Clärchen, die Geliebte des Grafen Egmont in dem Trauerspiel um die historischen Ereignisse vom Abfall der Niederlande von Spanien, ist eine rein poetisch-unhistorische Figur. Goethe musste also keinerlei Rücksicht auf etwaige Vorgaben der Überlieferung nehmen. Er konnte mit der bürgerlich-schlichten Geliebten des Grafen in aller Freiheit das Bild einer Frau entwerfen, die in ihrer Naturwahrheit, in ihrer bedingungslosen Liebe und in ihrem kompromisslosen Freitod zu Bewunderung, aber auch zu entschiedener Ablehnung herausgefordert hat. Gelegentlich wurde das einfache und schlichte Mädchen nämlich ziemlich verkannt, indem man ihre unbedingte Liebe als Liebedienerei, gar als Hurerei, und ihr Wesen als vulgär ausgelegt hat. Man unterstellte mangelnde Selbstlosigkeit ihrer Liebe, weil die soziale Kluft zwischen ihr und dem glänzenden Volkshelden allzu offensichtlich ist, um nicht schnöden Vorteil zu wittern. Auch hat Egmonts Verhalten in der Tat manchmal etwas von gönnerhafter Herablassung. Und dennoch sind keine Zweifel angebracht, denn da, wo sich der Charakter am lautersten und unzweideutigsten ausspricht, im lyrischen Gebilde, im Lied, ist vollkommene Klarheit und Reinheit und Lauterkeit der Gefühle angezeigt: Clärchen singt. Freudvoll Und leidvoll, Gedankenvoll seyn; Langen Und bangen In schwebender Pein; Himmelhoch jauchzend, Zum Tode betrübt; Glücklich allein Ist die Seele, die liebt.

Der Text dieses Liedchens, das Goethe seinem Mädchen in den Mund legt, ist sprichwörtlich geworden. Die Mutter spielt gleich-

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wohl die skeptische Stimme, indem sie mit einem Verweis auf Clärchens Lied reagiert: Mutter. Laß das Heyopopeyo.

Sie qualifiziert das ganze Lied in abschätziger Art und Weise, aber ihre Kritik resultiert aus einem eigennützigen Grund. Sie weiß, dass es auf Egmont hin gesungen ist, auf die Intimität einer Beziehung, die der Mutter zwar schmeichelt, die sie aber für aussichtslos hält. Sie favorisiert den unglücklich liebenden, aber bieder soliden Brackenburg und sagt ihr das auch überdeutlich. Mutter. Du hast doch nichts im Kopfe als deine Liebe. Vergäßest du nur nicht alles über das Eine. Den Brackenburg solltest du in Ehren halten, sag’ ich dir. Er kann dich noch einmal glücklich machen.

Clärchen vergisst über ihrer Liebe, über dem in seinem Glanz strahlenden Ritter des „Goldenen Vlieses“, durch das sich Egmont wie Siegfried für unangreifbar hält, wirklich alles: auf der Ebene der Idylle den Hunger, auf der Ebene der großen Tragödie sogar ihr eigenes Leben. Der, der sich so geliebt sieht, dünkt sich, in ihren Armen ein anderer zu sein als vor den Augen des Volks, als auf der politischen Weltbühne. An ihrem Herzen fühlt er sich „ruhig, offen, glücklich, geliebt und gekannt“, und nur in ihrer Liebe glaubt er selbst authentisch zu sein. Schon hier, im Augenblick dieses Geständnisses, ist Clärchen zu sterben bereit (Ende III. Akt), und es bedarf für sie keiner politischen Ereignisse, um diese Bereitschaft in die Tat umzusetzen. Die Liebe ist es primär, um derentwillen sie für Egmont Gift nimmt, und nicht ihr politisches Scheitern in einem kläglich inszenierten Aufruhr zur Freilassung Egmonts. Das ist nicht ihre Welt, und ihre Versuche darin nehmen nicht einmal Herzog Albas Schergen ernst. Unbehelligt eilt sie mit dem „elenden guten“ Brackenburg nach Hause mit der bedeutungsvollen Frage auf den Lippen: „Weißt du, wo meine Heimath ist?“ Die irdischen Dinge streben unaufhaltsam ihrem vorgezeichneten Ende zu. Clärchen trinkt in der sicheren Gewissheit, dass ihr Geliebter zum Tode verurteilt ist, das Giftfläschchen aus, das sie bei Gelegenheit Brackenburg scherzend entwendet hat. Goethe macht davon kein großes Aufheben daraus, keine grässliche Theaterszene, weil Clärchen noch für einen großen Auftritt vorgesehen ist, den

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sie zwingend, aber erst dann absolvieren kann, wenn sie die dunkle Pforte, aus der kein Rückweg ist, durchschritten hat. Für diesen Auftritt wandelt sich die Szene, wird die Tragödie eine große Oper und das schlichte Mädchen eine Allegorie der Freiheit, für die Egmont sein Leben lassen muss. Sie, die aus dem Volke kam, wird zur Inkarnation, zum Inbegriff der Ideen des Sieges und auch zu einer Chiffre für das Volk selbst, das ihm in Liebe und Verehrung aus ihrer Hand den Lorbeerkranz reicht. Beethoven war begeistert und stürzte sich in die Komposition seiner Musik zum Egmont. Das wirkliche Finale gehört dann doch wieder der Erde. Die himmlische Erscheinung ist zerstoben. Es war ein Traum, und der Tod ist real, auch wenn Egmont mithilfe des Bildes, mithilfe seiner verklärten Geliebten den letzten Weg zur Hinrichtung gefasster und leichter antritt: Verschwunden ist der Kranz! Du schönes Bild, das Licht des Tages hat dich verscheuchet! Ja sie waren’s, sie waren vereint, die beyden süßesten Freuden meines Herzens. Die göttliche Freyheit, von meiner Geliebten borgte sie die Gestalt; das reitzende Mädchen kleidete sich in der Freundinn himmlisches Gewand. In einem ernsten Augenblick erscheinen sie vereinigt, ernster als lieblich. Mit blutbefleckten Sohlen trat sie vor mir auf, die wehenden Falten des Saumes mit Blut befleckt. Es war mein Blut und vieler Edeln Blut. Nein, es ward nicht umsonst vergossen. Schreitet durch! Braves Volk! Die Siegesgöttinn führt dich an! Und wie das Meer durch eure Dämme bricht, so brecht, so reißt den Wall der Tyranney zusammen, und schwämmt ersäufend sie von ihrem Grunde, den sie sich anmaßt, weg. (V. Akt, Ende)

Nach diesem Monolog hat auch Egmont wie Clärchen die dunkle Pforte, aus der kein Rückweg ist, zu durchschreiten, und erst wenn der Vorhang gefallen ist und keinesfalls vorher, fällt die Musik wieder ein und schließt, so die Szenenanweisung, mit einer Siegessymphonie das Stück.

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Margarete von Parma Egmont (1788)

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Anders als Graf Egmonts Geliebte Clärchen ist ihr politischer weiblicher Widerpart, Margarete von Parma, keine poetische, sondern eine historisch recht genau verbürgte Figur. Die Tochter Kaiser Karls V. lebte von 1522 bis 15 86 und war auf Wunsch ihres Halbbruders Philipps II. in den Jahren von 15 59 bis 1567 die Generalstatthalterin in den Niederlanden. Ihrer Regentschaft war das Glück versagt. Goethe legt das historische Urteil über sie im Gespräch mit ihrem Berater Machiavell in ihren eigenen Mund: Das Gute, was ich hier gethan habe, sieht gewiß in der Ferne wie nichts aus, eben weil’s gut ist […] ich werde vor meinen Augen mein Werk verloren sehn, und überdieß noch seine Schuld [Albas] zu tragen haben. (III. Akt)

Um wenigstens vor der Welt und dem Volk zu zeigen, dass sie mit dem Finsterling Alba, den ihr der misstrauische Bruder in Spanien ab Herbst 1567 an die Seite stellte, keine gemeinsame Sache mache, legt sie die Regentschaft nieder und verlässt am 30. Dezember Brüssel. Diese allen verständliche Demonstration ihrer Entrüstung gegen die Politik des Herzogs von Alba geht eindeutig zulasten Egmonts, der damit dessen Willkür mit der letzten Konsequenz ausgeliefert ist und der nach seiner Verhaftung am 9. September 1567 am 5. Juni 1568 auf dem Marktplatz von Brüssel enthauptet wird. Goethe zieht das Geschehen natürlich auf entschieden knappere Zeitspannen zusammen. In der Mitte des dritten Aktes, in der Mitte des Stücks, erklärt Margarete von Parma ihren Rückzug von der Regentschaft und verschwindet aus dem Stück. Das ist nach klassischer Regel zum genau definierten Zeitpunkt der Umschlag in den Untergang des Helden, die sogenannte Peripetie. Genau dann, als Margarete damit das Schicksal des Helden besiegelt, glaubt dieser sich in den Armen seiner Geliebten glücklicher und sicherer denn je, zum einen in seiner Liebe, zum anderen im Vertrauen des Königs und der Politik der Regentin. Die zwei scheinbar so retardierenden Szenen des dritten Akts, in denen Egmonts Schicksal einmal indirekt und einmal direkt

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durch die beiden sein Leben bestimmenden Frauen entschieden wird, sind zeitgleich zu denken. Egmont kommt von Margarete von Parma, macht Station bei seinem Liebchen und eilt zu Alba in seine Verhaftung. Im Gespräch mit Clärchen kommt wie von ungefähr die Rede auf die Regentin. Das Mädchen fragt neugierig, aber nicht eifersüchtig dem Verhältnis Egmonts zu dieser Frau nach, von der sie instinktiv spürt, dass sie im Gespinst der Politik die Stelle einnimmt, die sie auf dem Felde der Liebe behaupten darf. Egmont gibt freimütige Antworten und zeigt sich in seiner poetischen Realität als der Charakter, den Goethe zwar theoretisch früh konzipiert hatte, den er aber erst in mehrmaligen Anläufen (1775, 1778/79, 1782 und schließlich 1787 in Italien) in die endgültige dramatische Form bringen konnte. Dieser Charakter war vom historischen nicht unterschieden in seiner selbstbewusst-freien Sorglosigkeit, seiner toleranten Grunddisposition, seiner Fröhlichkeit und Geradlinigkeit. Der redliche Krämer Soest fordert seine Mitbürger in der Eingangsszene aus diesem Grunde zu einem Trunk auf das Wohl Egmonts auf: Weil man ihm ansieht, daß er uns wohl will; weil ihm die Fröhlichkeit, das freye Leben, die gute Meinung aus den Augen sieht; weil er nichts besitzt, das er dem Dürftigen nicht mittheilte, auch dem, der’s nicht bedarf. Laßt den Grafen Egmont leben! (I. Akt)

Da, wo Goethe an diesem Charakter Änderungen anbrachte, geht es darum, ihn für die Frauen, wie den verjüngten Faust für Gretchen, attraktiv zu machen. Für sie wird der historische Egmont, der mit Sabine von Bayern als biederer Ehemann elf Kinder hatte, zu einer idealtypischen Figur umgeformt. In der poetischen Hexenküche und der dichterischen Retortenstube musste er gehörig verjüngt werden, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit (IV,20) erzählt: Allein zu meinem Gebrauche mußte ich ihn in einen solchen Charakter umwandeln, der solche Eigenschaften besaß, die einen Jüngling besser zieren als einen Mann in Jahren, einen Unbeweibten besser als einen Hausvater, einen Unabhängigen mehr als einen, der, noch so frei gesinnt, durch mancherlei Verhältnisse begrenzt ist. Als ich ihn nun so in meinen Gedanken verjüngt und von allen Bedingungen losgebunden hatte, gab ich ihm die ungemeßne Lebenslust, das grenzenlose Zutrauen zu sich selbst, die Gabe, alle Menschen an sich zu ziehn (attrattiva)

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und so die Gunst des Volks, die stille Neigung einer Fürstin, die ausgesprochene eines Naturmädchens, die Teilnahme eines Staatsklugen zu gewinnen, ja selbst den Sohn seines größten Widersachers für sich einzunehmen.

Von der ausgesprochenen Neigung des Naturmädchens erhalten wir eindrucksvolle Szenen, von der stillen Neigung einer Fürstin erfahren wir erst sehr spät im Stück, als die Fürstin schon weg ist und Egmont im Kerker liegt. Anders als die privat-amouröse Beziehung mit Clärchen, die, wie auch Egmonts freie Liebesauffassung, von Goethes liberaler Lebensweise in Rom erheblichen Gewinn gezogen haben dürfte, ist die Beziehung zur Fürstin sehr taktvoll verborgen und von höfischer Konvention gebändigt. Nur sehr zart deutet Egmont diese Beziehung an, wenn er in seinem großen Monolog im Gefängnis seine Zweifel an einer Rettung zu befragen unternimmt. Ist die Gerechtigkeit des Königs, der du lebenslang vertrautest, ist der Regentinn Freundschaft, die fast, (du darfst es dir gestehn,) fast Liebe war; sind sie auf einmal wie ein glänzend Feuerbild der Nacht verschwunden? (V. Akt)

Es ist, wie gesagt, ein sehr zartes und heimliches Eingeständnis einer Beziehung, mit dem der politisch-höfischen und gescheiterten weiblichen Kontrastfigur zum bürgerlich-privaten Bild des Glücks doch ihre Humanität im harten Gegenschnitt zum politisch-militaristischen Herzog von Alba bestätigt wird. Sie hat keinen Egmont greifbar, von dem sie wie Clärchen sagen könnte „mein Egmont“, aber doch einen, mit dem sie sich immer wieder zu beschäftigen hatte. Auch wenn sie mit ihm zankt, ihn schilt, ihm grollt, ist sie auf ihn fixiert, ist er ein Gegenstand ihrer Neigung und Abneigung, den sie nicht zu ergründen vermag. Für das unreflektierte Clärchen ist er eindeutig, für die reflektierte Margarete vieldeutig und undurchschaubar und vielleicht auch geheimnisvoll, für den freien Egmont ist sie „Eine rechte Amazone!“ (III. Akt), deren weibliche Reize allerdings durch „ein Bärtchen auf der Oberlippe“ und gelegentliche Gichtanfälle für ihn sichtlich eingeschränkt sind.

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Johanna Christiana Sophia Vulpius verh. von Goethe 1765–1816

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Mochten böse Zungen – und es gab viele unter den Zeitgenossen und auch späterhin – an Christiane Vulpius kein gutes Haar lassen, sie durfte sich der Liebe Goethes während ihrer 28 gemeinsamen Jahre sicher sein. Er liebte sie, und sie liebte ihn, und wer auch immer sich zu Verleumdung, zu Klatsch, Neid, Missgunst und zu übler Nachrede verstand, dem gebrach es, anders als das Lied sagt, vielleicht seinerseits nicht an Lieb und Gunst, aber doch entschieden an Einfühlungsvermögen in Goethes Natur, in seinen Freiund Eigensinn, dem himmlische und irdische Liebe wohl gleichermaßen behagte. Nicht dass es die beiden nicht bekümmert hätte, was das Geschwätz hinter ihrem Rücken alles zu tuscheln wusste – Christiane weinte oft bittere Tränen und hatte schlechte Träume, aus denen sie schreiend aufwachte (24. November 1798) –, aber es vermochte die Stetigkeit und Festigkeit ihres Liebesbündnisses nie wirklich zu erschüttern. Der Briefwechsel der beiden zeigt sie dem staunenden Publikum in einem so innigen und unverkünstel­ ten Verhältnis, dass es wunder nimmt, warum es so lange gedauert hat, bis der Frau an Goethes Seite Gerechtigkeit widerfuhr. Nicht Gerechtigkeit von Goethe, der das Verhältnis erst 18 Jahre nach seinem Beginn legalisierte, obwohl er es immer als eine Gewissensehe betrachtete, sondern seitens einer Gesellschaft, die prüde war, die in Standeskonventionen dachte, die ihre Abläufe nicht gestört sehen wollte und die auch ihre lockeren Sitten, ihre Mätressenwirtschaft, ihre Geliebten und ihre unehelichen Kinder mit zynischer Doppelmoral nach anerkannten Spielregeln handhabte. Am 12. Juli 1788 begegneten sie vermutlich einander zum ersten Mal; jedenfalls feierten sie diesen Tag immer als ihren Hochzeitstag. Christiane, die Vollwaise, überraschte Goethe im Park an der Ilm, um ihm auf Anweisung ihres Bruders eine Bittschrift zu seiner Unterstützung zu übergeben. Der Auftritt des anmutigen 23-jährigen Mädchens war ein voller Erfolg. Ihre sinn-

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lich-reizende Art gepaart mit kindlich-naiver Unschuld hat den gerade aus Italien zurückgekehrten Dichter augenblicklich aus tiefer Niedergeschlagenheit erlöst. Die unspektakuläre Begegnung wurde schnell schicksalhaft, denn wie im Sturm eroberte das Naturwesen das Herz des Mannes, von dem alle Frauen Weimars und die Leserinnen in ganz Deutschland träumten. Binnen vier Wochen war Christiane seine Geliebte und er nahm das Mädchen mit den schwarzen Kinderaugen und den dunklen Locken in sein Gartenhaus auf. Den Herbst und Winter konnte man die Liebesstunden noch geheim halten, aber im Frühling 1789 wurde es zum öffentlichen Geheimnis. Klatsch und Entrüstung waren die Folge, obgleich Goethe das Verhältnis sehr bald als gültige Beziehung erklärte: „Ich bin verheiratet, nur nicht durch Zeremonie.“ Die Zeremonie verweigerte er 18 lange Jahre und sicherlich nicht aus Ehescheu, wie gerne erklärt wird, sondern weil seine Freigeistigkeit und Freiheit sich gerne von bürgerlichen und kirchlich-zeremoniellen Gepflogenheiten distanziert hielt. Schon am 14. August 1788 vermerkte Caroline Herder ihrem Mann gegenüber, ohne von Goethes neuen häuslichen Umständen zu wissen, eine auffallende Lustigkeit im Gespräch über „seine häusliche menschliche Situation“. „Er hat nun“, stellt sie erstaunt fest, „alles Glück und Wohlsein auf Proportion und das Unglück auf Disproportion reduziert. Ihm sei es jetzt gar wohl, daß er ein Haus habe, Essen und Trinken hätte und dergleichen. Alles, was Du in Deinen drei Bänden der Philosophie von den Tartaren bis zu den Römern geschrieben hättest, käme alles darauf hinaus, daß ein Mensch ein Hauswesen besäße, und (setzte ich hinzu) mit Vernunft sich regierte!“ Gesagt und getan und mit praktischem Vorsatz und Sinn alle Theorie und Philosophie in die Schranken verwiesen: Der 39-jährige Goethe begründete mit Christiane sein Hauswesen und teilte schicksalhaft sein Leben in eine Zeit davor, in eine Hoch-Zeit mit ihr, die mehr als ein Drittel des Lebens umspannte, und in eine Zeit nach ihr, die immer noch 16 erfüllte Jahre brachte. Die Zeit davor war die Zeit der Frau von Stein, und langfristig führte Goethes Affäre, die wilde Ehe mit Christiane – die Zeitgenossen konnten diese wunderbare Lebensgemeinschaft nur unter solchen Vorzeichen verstehen –, zum Bruch mit Charlotte von Stein. In dem in Italien fertiggestellten und 1788 erschienenen

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Trauerspiel Egmont schien er in der Liebe zwischen Clärchen und Egmont über alle Standesgrenzen hinweg bereits Sehnsüchte zu artikulieren, die ihm nun mit Christiane unverhofft zu Wirklichkeit wurden. Frau von Stein missfiel mit feinem Gespür die Verklärung eines Frauenzimmers, das ihr so ungleich war, dessen Anziehungskraft auf Goethe sie aber deutlich spürte. Als ihrem Sohn Fritz bei einem zufälligen Besuch in Goethes Gartenhaus „ein kleines korpulentes Frauenzimmer“ begegnete, „welche auch daselbst zu Hause zu sein vermeint“, war es endgültig klar, dass das idealisierte Clärchen eine liederliche Dirne war, dass Goethe seit seiner Rückkehr aus Italien den Egmont spielte. Caroline Herder fand sich ebenfalls betreffs seiner Häuslichkeit bestätigt, doch fehlte ihr natürlich wie aller Welt die regierende Vernunft bei solchen Verhältnissen. Dem in Rom befindlichen Herder schreibt sie am 8. März 1789: Ich habe nun das Geheimnis von der Stein selbst, warum sie mit Goethe nicht mehr recht gut sein will. Er hat die junge Vulpius zu seinem Klärchen und läßt sie oft zu sich kommen usw. Sie verdenkt ihm dies sehr. Da er ein so vorzüglicher Mann ist, auch schon 40 Jahre alt ist, so sollte er nichts tun, wodurch er sich zu den andern so herabwürdigt.

Dass die Stein ihm die Vulpius verdenkt, ist natürlich, dass sie auch Herder missfällt, schon bedenklicher, dass ganz Weimar sich in Anzüglichkeiten erging, machte den Bruch nicht nur für Charlotte und Goethe zur persönlichen lebenslangen Belastung, sondern für Goethe und Christiane Zeit ihrer Gemeinschaft zu einer gesellschaftlichen Herausforderung, die nur mit großer Anstrengung und unter Anspannung aller Kräfte bewältigt werden konnte. Am 7. November 182 1 schreibt Goethe dem ihn bewundernden Carl Ernst Schubarth über seine Erfahrungen bezüglich einer in antiker freier Form sich bewegenden Liebe in ziemlich ernüchterten Worten: „… ich darf wohl aussprechen, daß jedes Schlimme, Schlimmste, was uns innerhalb des Gesetzes begegnet, es sey natürlich oder bürgerlich, körperlich oder ökonomisch, immer noch nicht den tausendsten Theil der Unbilden aufwiegt, die wir durchkämpfen müssen, wenn wir außer oder neben dem Gesetz, oder vielleicht gar Gesetz und Herkommen durchkreuzend [einhergehen] und doch zugleich mit uns selbst, mit andern und der moralischen Weltordnung im Gleichgewicht zu bleiben die Nothwendigkeit empfinden.“

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Post festum ist man klüger, und er rät dem jungen Mann zur Ehe, zu dem, was er aus gutem Grunde mit sich und mit Christiane selbst und der moralischen Weltordnung im Gleichgewicht, verweigerte. Goethe war zwar gewillt, sich häuslich einzurichten, aber nicht unterm Gesetz und Sakrament. Als er 1793 bei der Belagerung von Mainz auswärtig sein musste, bestätigt er sein Credo gegenüber Friedrich Heinrich Jacobi erneut: „Mein herumschweifendes Leben und die politische Stimmung aller Menschen treibt mich nach Hause, wo ich einen Kreis um mich ziehen kann, in welchem ausser Lieb und Freundschaft, Kunst und Wissenschaft nichts herein kann.“ (Frankfurt, 19. August 1793) Goethes neues Hauswesen veränderte, wie jede Aufhebung eines Junggesellendaseins, aber nicht nur seine Beziehungen zur Frauenwelt Weimars, in der spezifischen Art, wie er es provokativ außerhalb des Gesetzes eingerichtet hatte, steckte auch der Versuch eines neuen, nachitalienischen Lebensentwurfs, einer Abgrenzung gegenüber der Adelsgesellschaft des Hofes und den Ansprüchen seines Dienstherrn. Die Wahl von Christiane und die Entscheidung für die freie Liebe mit ihr, sollte dem „Freyherrn“, wie ihn die Mutter zu nennen pflegte, einen Freiraum für ein ungeteiltes Dichtertum schaffen. Das ging nur mit ihr, der Vollwaisen, in deren Existenz sich niemand von außen zu mischen vermochte, und durch ein Hauswesen, das durch seine herausfordernde Libertinage zu einer Art Exil wurde, zu dem der Zugang selbst für den Herzog erschwert war und das ihm die Gesellschaft des Hofes auf Distanz hielt. Das Konzept hatte natürlich auch seine Schwachstellen, und den Preis für das Refugium hatte vor allem Christiane zu zahlen. Die Ablehnung bei Hofe zu ertragen, wäre ein Leichtes gewesen, und der Unmut über Goethes Neuheidentum und seine Missachtung des Ehesakraments konnte ihr gleichgültig bleiben. Sie drängte ihn bis zur Legalisierung ihrer Lebensgemeinschaft auch nie mit der Bitte um Heirat. Aber sie musste schmerzlich feststellen, dass sie Goethe wie Circe den Odysseus nicht auf Dauer fesseln konnte. Der Spagat zwischen Abgeschirmtheit – vor allem im neuen Haus am Frauenplan – und den Forderungen an die exponierte Stellung Goethes in der Welt bescherte ihr einsame Tage und viele Stunden qualvollen Wartens. Vermutlich war ihre Tanzlust und ihre Trinkfreude nicht nur Ausdruck einer natürlichen Vitalität, Fröhlichkeit, Lebensfreude und eines Behagens an Fest, Theater

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und Spiel, sondern auch ein Stück Kompensation vergossener Tränen. Aber selbst innerhalb des Refugiums, innerhalb der kleinen Welt des Hauswesens musste sie mit den Jahren ihrer freien Partnerschaft zunehmend feststellen, dass sie und das Kind hinter das Dichtertum zurückzutreten hatten. Diese Lektion schmerzte mehr als die Zurückweisung durch die Gesellschaft, aber sie akzeptierte die Rangfolge nach und nach, und sie machte sich auf ihren Gebieten und mit ihren Fertigkeiten ihrem „Geheimderath“ letztendlich unersetzlich. Doch bevor sie das Hauswesen unumschränkt und mit Glanz beherrschte, zog sie Goethe zuallererst in ihren erotischen Bann. Sie erfüllte nicht nur von eigenem Verlangen begünstigt die lange hintangestellten Wünsche eines um 16 Jahre älteren Mannes, sondern die wohlfeile Situation erfüllte auf schönste Weise ein mythisches Muster. Hier konnte sich an idyllischem Orte vollziehen, was ihn seine Triumvirn, die römischen Elegien-Dichter Catull, Tibull und Properz, gelehrt hatten. Alles Rätseln um Goethes Liebschaften und vor allem um seine sexuellen Beziehungen dahin und dorthin und die tiefenpsychologischen Spekulationen auf seinen Seelenhaushalt lösen sich vor der Sensation des einfachen Mädchens in Nichts auf. Im September des Begegnungsjahres findet das Italienerlebnis in der lustvollen Vereinigung mit der neuen, gar nicht jungfräulichen Muse Christiane Ausdruck in den Römischen Elegien. Wie die Göttin, die Gelegenheit heißt, erscheint Christiane, ………………… ein bräunliches Mädchen, die Haare Fielen ihr dunkel und reich über die Stirne herab: Kurze Locken ringelten sich ums zierliche Hälschen, Ungeflochtenes Haar krauste vom Scheitel sich auf. Und ich verkannte sie nicht, ergriff die Eilende, lieblich Gab sie Umarmung und Kuß bald mir gelehrig zurück. O wie war ich beglückt! – Doch stille, die Zeit ist vorüber, Und umwunden bin ich römische Flechten von euch. (Vierte Elegie)

Das Erscheinen dieser Verse in Schillers Horen 1795 (wobei die vier delikatesten Texte in weiser Voraussicht ohnehin ausgespart wurden) fachte erneut das Getuschel über das unstandesgemäße Paar an. Der Klatschkolumnist Weimars, der Gymnasialdirektor Karl August Bötticher, brachte es auf den Punkt, indem er sich zum

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Sprecher aller ehrbaren Frauen machte, die „empört seien über die bordellmäßige Nacktheit“ der Dichtung, sodass die Horen, wie er von Herder zu kolportieren wusste, nun „mit dem u gedruckt werden“ müssten. „Die meisten Elegien“, so das Lästermaul, „sind bei seiner Rückkunft im ersten Rausche mit der Dame Vulpius geschrieben.“ Spätestens Ende April 1789 wird Christiane, die seit dem Spätsommer 1788 bei Goethe wohnt, festgestellt haben, dass sie schwanger ist. Der Sohn August wird am 25. Dezember geboren werden, und Goethe erfährt von der Schwangerschaft wohl im Mai. Die Tage in Tuskulum sind nun endgültig zu Ende; Christianes Ängste sind begründet; sie ist ganz dem Belieben ihres Liebhabers ausgesetzt. Gleichzeitig steht eine uneheliche Schwangerschaft als Unzucht unter Strafe. Goethes hoher Stand ist zwar ein Schutzbrief gegen Strafen und öffentliche Bloßstellungen, aber nur solange er sich zu ihr bekennt. Er tut es, wie schon die Vierte Elegie antizipiert und das Venezianische Epigramm (Nr. 102) im Nachhinein bestätigt und heißt den unbekannten Erdenbürger willkommen: Wonniglich ist’s, die Geliebte verlangend im Arme zu halten, Wenn ihr klopfendes Herz Liebe zuerst dir gesteht. Wonniglicher, das Pochen des Neulebendigen fühlen, Das in dem lieblichen Schoß immer sich nährend bewegt. Schon versucht es die Sprünge der raschen Jugend; es klopfet Ungeduldig schon an, sehnt sich nach himmlischem Licht. Harre noch wenige Tage! Auf allen Pfaden des Lebens Führen die Horen dich streng, wie es das Schicksal gebeut. Widerfahre dir, was dir auch will, du wachsender Liebling: Liebe bildete dich; werde dir Liebe zu Teil!

Das ist so menschlich wie provokativ, und es beschwört einen nicht enden wollenden Kampf und tausend Unbilden mit Stadt und Hof herauf. Kein Gewinn ohne Verlust, kein Verlust ohne Gewinn: Das Hin und Her in dem Selbstbehauptungsspiel des freien Weltbürgers und Künstlers, das Christiane mutig mitspielte, ist nicht immer leicht zu durchschauen, weil die den Anstand angeblich verletzenden Angelegenheiten des von allen Regierungsgeschäften entlasteten Geheimen Rats und geadelten Staatsdieners von allen Seiten gehörig verunklärt wurden. Dennoch sind die künftigen Wege voller Steine des Anstoßes. Schon die Taufe von Julius August Walter war eine Angelegenheit von äußerster Delikatesse. War der Herzog

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Taufpate oder nicht? Er kam nicht und vermutlich war Goethe auch nicht bei der Taufe dabei. Er hielt sich ja stets auf wiederum provozierende Weise von solchen Zeremonien wie Taufen und Begräbnissen fern. Welchen Namen erhält das Kind? Goethes Name steht nicht im Kirchenbuch, aber als unehelich wird es auch nicht verzeichnet. Erst 1801 wird der Sohn legitimiert. Die Anfänge des neuen Standes bereiten Goethe Schwierigkeiten. Eine Art Verbannung aus dem Haus am Frauenplan muss ertragen werden; die Rolle als Hausvater liegt ihm nicht. Es treibt ihn fort und wieder zurück. Er nimmt die Einladung der Herzogin Anna Amalia, sie aus Italien als Begleiter abzuholen, nicht unwillig an, sehnt sich dort aber bald nach Frau und Kind, die ihm, wie er an die Herders am 2 8. Mai 1790 aus Mantua schreibt, „sehr nahe liegen“. „Ich gestehe gern, daß ich das Mädchen leidenschaftlich liebe. Wie sehr ich an sie geknüpft bin, habe ich erst auf dieser Reise gefühlt.“ Kaum trifft er am 18. Juni 1790 in Weimar bei Christiane ein, muss sie ihn am 26. Juli schon wieder ins preußische Feldlager nach Schlesien abgeben. Auch von dort meldet er sich bei den Herders mit Sehnsüchten nach seinem noch nicht wirklich eingerichteten Hauswesen. Dass er aus „dem lärmenden, schmutzigen, stinkenden Breslau“ baldmöglichst „erlöst zu sein“ wünschte, ist eins; es ist hier wie „all und überall Lumperei und Lauserei“. Ein anderes aber ist, so sein Brief aus Breslau vom 11. September 1790, dass „ich gewiß keine eigentlich vergnügte Stunde“ habe, „bis ich mit Euch zu Nacht gegessen und bei meinem Mädchen geschlafen habe. Wenn Ihr mich lieb behaltet, wenige Gute mir geneigt bleiben, mein Mädchen treu ist, mein Kind lebt, mein großer Ofen gut heizt, so hab’ ich vorerst nichts weiter zu wünschen.“ Vorerst wird das tatsächlich so sein, die nächsten eineinhalb Jahre lang. Goethe wird zu Hause in Weimar bleiben und für ihn, für Frau und Kind wird die Zeit vor den Toren der Stadt bis zum Wiedereinzug im Juni 1792 am Frauenplan eine Zeit der Konsolidierung und Gewöhnung in die Behaglichkeit eines nach und nach von Christiane virtuos beherrschten Hauswesens, das sie mit Klugheit führte und mit erotischer Lust wie noch zu Zeiten im Gartenhaus bediente. Das war alles andere als bieder und nur der Herzog erhielt lateinische Kunde davon. Goethe arbeitete nicht nur an der Redaktion der Römischen Elegien, sondern schon seit

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einiger Zeit an einem lateinischen Kommentar zur Sammlung der sogenannten Priapeia. Seine Beschäftigung mit der erotischen Dichtung des Altertums und ihrer Wiederentdeckung in der Renaissance erläuterte er dem Herzog brieflich prosaisch – „Mit Vergünstigung der Göttin Lucina hat man auch der Liebe wieder zu pflegen angefangen“ (6. Februar 1790) – und poetisch deutlicher mit den Briefversen vom 24. März 1791: Indes macht draußen vor dem Tor, Wo allerliebste Kätzchen blühen, Durch alle zwölf Kategorien Mir Amor seine Späße vor.

Definitiv erfährt unterm 3. März 1790 Friedrich Heinrich Jacobi, dass es zwischen Theorie und Praxis enge Verbindungen gibt: „Übrigens studiere ich die Alten und folge ihrem Beispiel so gut es in Thüringen gehen will.“ Amor und die unter der Umschreibung „Gartengott“ weniger anstößige sexuelle Lust bestimmen die vom ländlichen Herd erwärmten Nächte, machen sie zum „glänzenden Fest“ (IX. Elegie); die Tage macht die thüringische Faustina, macht Christiane angenehm und behaglich. Sie tut es wiederum nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung. Ehrgeizig legt sie trotz sich vermehrender Dienerschaft stets Hand in Küche und Keller und Waschhaus an, und der gelebte Alltag fließt in Goethes Sprache und in seine Texte ein. Spargel und Artischocken verklären sich zu Poesie, die Wäsche, die Schnupftücher und Halsbinden, das Bleichen und Bügeln einerseits und andrerseits die Unterröckchen und Shawls und die Hütchen nach der neuesten Mode geben den Generalbass zu so menschlich-freundlichen Begriffen, in denen das bürgerliche Dasein, wie es sich später in Hermann und Dorothea darstellt, triumphiert: Genügsamkeit und treuer Sinn, Harmlosigkeit im besten Sinne und Beschränktheit ohne den negativen Beiklang von heute, Geduld und Dulden und Ausharren und Beharrung, Verlässlichkeit und Biedersinn, Treue und Lust am Guten und Schönen. Wie ein kleines Sprachwunder wirkt es, wenn Christiane für die Angelegenheiten des Alltags und ihrer weiblichen Körperlichkeit und Befindlichkeit, ihrer Sexualität und den Vorgängen von Schwangerschaft und Geburt eine Sprache von ebenso großer Ungezwungenheit wie von verspielt-launigem Ausdruck entwickelt.

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Nichts Olympisches bestimmt das Leben – auch wenn Christiane gerne ins Hoftheater geht und später in Lauchstädt einen wohltuenden Einfluss im Theaterbetrieb ausübt –, sondern sein farbigbunter Abglanz findet sich in einer Sprache, die nie ihre regionale Verwurzelung verleugnet und die bei aller Schlichtheit immer ‚adäquat‘ ist, nie dumm, nie banal. Der „Haus- und Küchenschatz“ schreibt natürlich – orthografisch wie’s beliebt – wie ihm der Schnabel gewachsen ist (manches Hoffräulein konnt’s nicht viel besser), aber da sie sich nur wenigen anvertrauen durfte, blieben ihre Botschaften wie persönlich-intimer Herzenslaut. Und Goethe mochte ihn und las ihn gerne mehrmals und hat sich jede Schulmeisterei untersagt. Christiane wünscht sich, „wir könnten so ein paar SchlampampsStündchen halten“ (13. Mai 1793); sie liebt das „Äugeln“ und nennt sich gerne „hasig“. Von sprachlich köstlicher Kreativität sind ferner die „Schlender- und Hätschelstündchen“, und wenn sie von Goethe eine Geschenksendung erwartet – und er ist immer spendabel –, spricht sie von einem „Schwänchen“. Macht sie einen kleinen Tagesausflug, wird der zu einem „Rutscherchen“, und wenn sie „aufgequäkelt“ genug ist, hat sie wieder Lust, im Hause zu „gräbeln“. Wenn die Frau auf Reisen ihren Mann stehen soll, dann lässt sie auch mal die Pistolen weiter als sonst herausgucken, und wenn sie um ihn besorgt ist, weiß sie liebevoll zu sagen: „Liebster, Bester, nimm mir es nicht übel, daß ich so gramsele, aber es wird mir dießmal schwerer als jemals, Dich so lange zu entbehren; wir waren so aneinander gewöhnt.“ (aus Weimar, 18. Aug. 1797) Herrlich heutig zu lesen ist, dass ihr „Allersuperbester“ ihr etwas mitbringen soll, weil sie so tugendhaft auf ihn wartet, obwohl ihr gar nicht tugendhaft zumute ist: „Nun, mein allerbester, superber, geliebter Schatz, muß mich ein bißchen mit dir unterhalten, sonsten will es gar nicht gehen. Erstens muß ich dir sagen, daß ich Dich ganz höllisch lieb habe und heute sehr hasig bin“ und dass „Frühling und Abend ist, und das Wetterglas steiget.“ (22. Mai 1798) Liebe geht bekanntlich durch den Magen, und im Verhältnis von Christiane und Goethe teilt sie sich auch in dieser körperlichen Weise nachdrücklich mit. Sie lieben zu tafeln, gut zu essen und durchaus nicht spartanisch zu trinken. Wenn es ihm auf Reisen mit dem Essen nicht gut geht, betrübt sie sich: „ich wünschte, ich könnte mich alle Tage ein paar Stunden unsichtbar machen und Dir

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kochen, da sollte es wohl schmecken.“ (23. Mai 1798) Umgekehrt tröstet Goethe, wenn die Gerüchteküche wieder dampft, mit gradem Sinn und mit liebender Aufrichtigkeit: „Betrübe dich nicht über das, was außer dir vorgeht! die Menschen sind nicht anders gegen einander, im Großen wie im Kleinen. Denke, daß ich dich liebe, und daß ich keine andere Sorge habe, als dir eine unabhängige Existenz zu verschaffen; es wird mir ja das auch wie so manches Andre gelingen.“ (Jena, 5. Aug. 1798) Der Trost hilft über den Winter, der gutes Eis zum Schlittschuh- und Schlittenfahren hat, er lässt auf die Redoute hoffen und auf die „Zauberflöte“: „Heute gehe [ich] in die Zauberflöte zum 30. Mal.“ (6. April 1799) „Krabskrälligkeit“ und „Pfuiteufelchen“ waren ebenfalls schöne Wortbildungen aus dem Sonderwortschatz des Paares. Die Psychoanalyse glaubte sie als widerliche Ausdrücke für Schwangerschaft beziehungsweise für ein Un- oder Neugeborenes denunzieren zu müssen. Aber die Seelenzergliederei scheint nach einem berühmten On-dit tatsächlich die Krankheit zu sein, die zu heilen sie vorgibt. Die kosenden Wortschöpfungen für die Zeiten der „guten Hoffnung“ und „anderer Umstände“ werden von Goethe in zärtlich behütende Worte verpackt: „Nimm Dich auch hübsch in Acht daß Du Dir und dem Ankommenden nicht schadest, küsse den Kleinen und behalte mich recht lieb.“ (Marienborn, 3. Juli 1793) Zu Beginn des Jahres 1791 wird Christiane wieder „krabskrällig“ von den vielen „Schlampamps-Stündchen“ nach der Rückkehr aus dem schlesischen Feldlager. Die Erwartung ist hoch, die Enttäuschung und Trauer nicht minder. Am 14. Oktober 1791 kommt Christiane mit einem toten Knaben nieder. Goethe stürzt sich vermehrt in seine naturwissenschaftlichen Studien und zieht ab 1792 Christianes Bruder Christian August Vulpius als Mitarbeiter des von ihm seit Anfang 1791 geleiteten Weimarer Hoftheaters heran. Bruder und Schwester besuchen vermehrt das Komödienhaus, und mit dem anstehenden Wiedereinzug ins Haus am Frauenplan scheint der Skandal um Goethes unstandesgemäße Hälfte im Trott des Alltäglichen zu versanden. Allerdings holt das Haus am Frauenplan seine Bewohner entschieden aus der Traulichkeit im heimlichen Stübchen hinterm großen Ofen in den Jägerhäusern vor den Toren der Stadt ins Rampenlicht einer unbarmherzigen Öffentlichkeit zurück. Zudem bleibt Christiane mit dem Umbau alleingestellt, da Goethe am 8.

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August 1792 mit dem Herzog als dessen zivile Begleitung in den Krieg nach Frankreich mitzieht. Halb zog er ihn, halb sank er hin und Christiane stand tausend Ängste um sein Leben aus. Während Goethe in Valmy am 20. September 1792 „eine neue Epoche der Weltgeschichte“ anbrechen sieht, vergisst er darüber keinesfalls die Annehmlichkeiten von Bett, Tisch und Haus. „Wärst Du nur jetzt bei mir!“, schreibt er aus dem Lager bei Verdun am 10. September 1792, dann „solltest du“, so seine praktische Philosophie, „dich nicht beklagen, wie es manchmal zu Hause geschieht.“ „Es sind überall große breite Betten“, aber – der Wunsch endet in einem Stoßseufzer: „Ach! Mein Liebchen! Es ist nichts besser als beisammen zu sein. Wir wollen es uns immer sagen, wenn wir uns wieder haben.“ Noch ist von der heiligen Dreiheit des heimischen Herds nur die erste Position abgehandelt. Die zweite folgt mit gespielter Entrüstung auf den Fuß: „Denk nur! Wir sind so nah an Champagne und finden kein gut Glas Wein. Auf dem Frauenplan solls besser werden, wenn nur erst mein Liebchen Küche und Keller besorgt.“ Mit dem Auftrag für Haus und Kind wird die Dreiheit besiegelt: „Sei ja ein guter Hausschatz und bereite mir eine hübsche Wohnung. Sorge für das Bübchen und behalte mich lieb.“ Das vermeintliche „Rutscherchen“ nach Paris endet in einer militärischen Katastrophe. Sein zweiter Feldzug war ein Rückzug, aber am 16. Dezember 1792 ist er wenigstens heil und gesund in Weimar zurück. Es bleiben vier Monate Heimaturlaub; sie genügen, dass Christiane wieder schwanger wird. Ab Mitte Mai 1793 ist sie bis Ende August mit dem neuen Haus und dem Kind und dem werdenden „Pfuiteufelchen“ auf sich gestellt. In Frankfurt ist Goethe – und das ist neben dem militärischen Erfolg der Rückeroberung von Mainz ein erfreulicher privater Ertrag des Feldzugs – bei seiner Mutter vorstellig geworden und hat ihr gebeichtet, wie er und mit wem er seit fast fünf Jahren lebt. Christiane darf sich von Katharina Elisabeth Goethe, der Schwiegermutter ohne Zeremonie, angenommen fühlen. Nach und nach wird daraus ein festes Herzensband werden. Lieber ohne Trauschein vergnügt und glücklich als in einer fatalen Ehe, sagt die weise Frau Aja, die spürt, dass ihr Christiane wohl ähnlich ist. Diesmal wird es ein Mädchen und es soll Caroline heißen. Es kommt am 21. November zur Welt und stirbt am 4. Dezember. Gegenüber Friedrich Heinrich Jacobi kommentiert Goethe am

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5. Dezember 1793 eher kryptisch: „Nach dem neuen Jahre sage ich mehr, denn die trübe Jahrszeit hat mir trübe Schicksale gebracht. – Wir wollen die Wiederkehr der Sonne erwarten.“ Über Christianes Schmerz lässt sich nur spekulieren. Schwangerschaft und Kindstod wird sich noch ein viertes und fünftes Mal wiederholen. Der November des Jahres 1795 bringt erneut trübe Schicksale. Das vierte Kind, wiederum ein Sohn, stirbt am 18. des Monats nach gut zwei Wochen. Das fünfte Kind lässt sieben weitere Jahre auf sich warten. Im Dezember 1802 gebiert Christiane ein letztes Mal. Es ist wieder eine Tochter, die auf den Namen Kathinka getauft wird. Am 16. Dezember wird Schiller benachrichtigt: „Ein ganz kleines Mädchen ist bey uns glücklich angekommen. Biß jetzt geht alles gut.“ Drei Tage später muss er von Freund Goethe erfahren: „Bey uns geht es nicht gut, wie Sie mir vielleicht gestern in der Oper anmerckten. Der neue Gast wird wohl schwerlich lange verweilen und die Mutter, so gefaßt sie sonst ist, leidet an Körper und Gemüth.“ Dem Mädchen ist das nämliche Schicksal wie den anderen Kindern Christianes beschieden. Das Kind stirbt noch am selben Tag. Nicht nur deshalb leidet die Mutter an Körper und Gemüt; in den vierzehn Jahren, seit ihr Verhältnis zu Goethe öffentlich wurde, hat sich an ihrer Situation wenig geändert. Es war ein stetes Auf und Ab der Gefühle bei wenigen Liebesstunden und vielem Alleinsein, mit bösen gesellschaftlichen Ausgrenzungen und bescheidener Wertschätzung. Christiane blieb stets treu ergeben im Hintergrund einer großzügigen Haushaltung, umsorgte den Geliebten, der mit ihr litt und auch durch sie litt. Er wusste sich keine Lösung ihrer Probleme und Konflikte nach außen, die natürlich auch ihre persönliche Beziehung nicht unbelastet ließen. Die seit 1794 bestehende Freundschaft mit Schiller schloss wohl Charlotte Schiller ein, aber Christiane blieb außen vor. Das Haus am Frauenplan war zwar unter erheblichem Einsatz von Christiane ebenfalls seit 1794 fertig und wandte sich mit seinem repräsentativen Eingangsbereich an Welt und Gesellschaft, aber die Hausherrin schwand darin zum bespöttelten Schatten. Goethe seinerseits flüchtete sich mehr und mehr nach Jena, wo er sich in seiner Arbeit weniger eingeschränkt sah, oder im Sommer nach Karlsbad und hielt sich zunehmend auf Distanz. Beider Wirkungskreise laufen immer mehr auseinander.

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Der Plan einer erneuten Italienreise im Jahre 1797 wird zwar aufgegeben – Christiane und die Mutter waren entschieden dagegen: Die Kriegswirren kamen zu Hilfe – aber eine dritte Reise in die Schweiz musste als Kompensation dienen. Für Christiane ergab sich als Kompensation eine juristische Fixierung ihrer beider Verhältnisse. In einem Testament vom 24. Juli 1797 setzt Goethe den Sohn August mit „meiner Freundinn und vieljährigen Hausgenossin, Christianen Vulpius“ zum Universalerben ein, und der Mutter seines Kindes vermacht er den Nießbrauch seines Besitzes mit der Bedingung, „daß sie auf die Erziehung des Sohnes mütterlich das nöthige verwende“. Zu dieser existenziellen Absicherung tritt ganz nebenbei die Versicherung, dass Goethe Christiane hinsichtlich der Erziehung des Kindes vollvertraut und dass er sie nie durch Einwände oder Vorgaben einschränken wollte. Sechs Tage später, am 30. Juli, kommt zusätzliche Freude auf, weil man wenigstens bis Frankfurt mit auf die Reise gehen darf, um bei der Mutter mit dem Söhnchen vorstellig zu werden. Christiane fährt bereits nach drei Tagen zurück; die Zeit hatte genügt, aus den Frauen Freundinnen zu machen. Der Hätschelhans bleibt noch weitere drei Wochen vor Ort, bevor er Richtung Schweiz aufbricht; es wird sein letzter Besuch bei der Mutter gewesen sein. Zurück in Weimar bedankt sich Christiane überschwänglich bei Goethe für die Reise, die ihr die liebe Frau Rath menschlich so nahe gebracht habe, dass sie sich nun wie verwandelt vorkomme. Der Mutter dankt sie es bis zu deren Tod 1808 mit ihren Briefen nach Frankfurt. Was auch immer Goethe mit seiner eigentümlichen Formu­ lierung von einer „unabhängigen Existenz“ für Christiane im Brief aus Jena vom 5. August 1798 sagen wollte, ihrer beider Verhältnis bewegt sich in diesen Jahren ständig zwischen Trennung und Heirat. Die Brief- und Tagebuchzeugnisse machen diesen inneren Konflikt zwischen Last und Befreiung vor lauter Taktieren und diplomatischen Winkelzügen weniger gut sichtbar als das poetische Wort. Zwei Elegien sind es, die deutliche, wenn auch zärtliche Sprache für das Problem finden, das in der Prosa des Lebens stets banal und kläglich klingt: Trennung und Scheidung. Von der einen Elegie, der im Juni 1798 entstandenen Meta­ morphose der Pflanzen, schreibt Goethe nach Christianes Tod ausdrücklich: „Höchst willkommen war dieses Gedicht der eigentli-

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chen Geliebten, welche das Recht hatte, die lieblichen Bilder auf sich zu beziehen.“ (1817 in Zur Morphologie. Schicksal der Druckschrift) Es nimmt Wunder bei solchen Versen an Scheidung zu denken. O, gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß, Freundschaft sich mit Macht aus unserm Innern enthüllte, Und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt. Denke, wie mannigfach bald die, bald jene Gestalten, Still entfaltend, Natur unsern Gefühlen geliehn! Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe Strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf, Gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun Sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.

Von der Elegie Amyntas, die während der Schweizer Reise 1797 entstand, darf ein solcher biographischer Bezug, wie ihn Goethe für Die Metamorphose der Pflanzen einräumt, ohne die literarischen Zusammenhänge in den Hintergrund zu rücken, nicht minder behauptet werden. Christiane hatte auch hier das Recht, die Bilder auf sich zu beziehen. Sie waren lieblich und verzweifelt, und die Klage des Baumes über das Bedrängende der Liebe löst sich in der Schlusswendung in die Anerkennung wechselseitiger Liebe ohne Einschränkung. Sollte ihr Goethe das Gedicht nicht gezeigt haben, sie konnte es spätestens in Schillers Musen-Almanach für 1799 nachlesen. Und hätten die literarisch versierten Leser Weimars nur irgend Sinn gehabt für Goethes Verse und wären guten Willens gewesen, so hätten sie sich spätestens ab jetzt jedes böse Wort verkneifen müssen. Welche Frau durfte sich schon so ernst genommen sehen, so wertgeschätzt sein wie Christiane, das Naturwesen, für das der Dichter, der Wissenschaft und Poesie vereint sehen wollte, die wunderbarsten Naturbilder ersann, und als offenes Geheimnis, aber in poetischer Scheu, aussprach. Amyntas weist den Rat des Freundes Nikias, der ihm schon fast ein Gegner zu sein scheint, zurück. Trotz des klaren, aber harten Wortes des Seelenarztes, zögert er, sich zu trennen. Wovon wird nicht gesagt, aber die Lehre eines gewaltig vom Efeu umrankten und darob fast unfruchtbar gewordenen Baumes macht es deutlich. Als Amyntas, der Gärtner, diesen Baum von seiner erdrückenden Last zu befreien versucht, hört er erschauernd, wie der Baum ihm tief erseufzend und kläglich klagend aus seiner Krone zuflüstert:

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O verletze mich nicht! du reißest mit diesem Geflechte, Das du gewaltig zerstörst, grausam das Leben mir aus. Hab ich nicht selbst sie genährt und sanft sie herauf mir erzogen? Ist wie mein eigenes Laub nicht mir das ihre verwandt? Soll ich nicht lieben die Pflanze, die, meiner einzig bedürftig, Still mit begieriger Kraft mir um die Seite sich schlingt? Tausend Ranken wurzelten an, mit tausend und tausend Fasern senket sie fest mir in das Leben sich ein. Nahrung nimmt sie von mir; was ich bedürftig, genießt sie, Und so saug sie das Mark, sauget die Seele mir aus. Nur vergebens nähr’ ich mich noch; die gewaltige Wurzel Sendet lebendigen Safts, ach! nur die Hälfte hinauf. Denn der gefährliche Gast, der geliebteste, maßet behende Unterweges die Kraft herbstlicher Früchte sich an. Nichts gelangt zur Krone hinauf, die äußersten Wipfel Dorren, es dorret der Ast über dem Bache schon hin. Ja, die Verräterin ist’s! sie schmeichelt mir Leben und Güter, Schmeichelt die strebende Kraft, schmeichelt die Hoffnung mir ab. Sie nur fühl ich, nur sie, die umschlingende, freue der Fesseln, Freue des tötenden Schmucks, fremder Umlaubung mich nur. Halte das Messer zurück! o Nikias, schone den Armen, Der sich in liebender Lust, willig gezwungen, verzehrt! Süß ist jede Verschwendung; o laß mich der schönsten genießen! Wer sich der Liebe vertraut, hält er sein Leben zu Rat?

Diese poetischen Geständnisse in großer literarischer Tradition und auf sehr privater Folie waren nicht rückholbar. Beiden blieb im banalen Leben, sollten die Deutungen ob einer Trennung nur ein Körnchen Wahrheit enthalten, nur die Möglichkeit eines großzügigen Arrangements. Sie konnten es sich einrichten und manchmal gab es Anstalten, als wolle Goethe Hochzeit machen. Ein gemeinsamer Ausflug nach Leipzig zur Messe im Mai 1800 konnte fast diesen Eindruck vermitteln, aber der Augenblick schien ihm offenbar nicht reif. Goethes Erkrankung und Christianes aufopferungsvolle Pflege im Januar 1801 verbanden ihn, der jetzt endgültig „Ein Mann von 50 Jahren“ war, noch endgültiger ihr. Das letzte Kind kam und ging sofort wieder, Schiller zog nach Weimar und Goethe hatte weniger Grund nach Jena auszuweichen. Der Freund starb am 9. Mai 1805, und erst die durch unnatürliche Ereignisse gestörten Verhältnisse im Jahre 1806 brachten endlich die amtliche und sakramentale Legitimierung einer mutigen und

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freien Lebensgemeinschaft, die auch weiterhin eine schmerzhafte Partnerschaft blieb. Schmerzhaft war die Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober, vor allem als die Franzosen in Weimar einrückten und auch in Goethes Haus plündernd einfielen. Christiane ließ, bildlich gesprochen, die Pistolen wieder einmal weiter als sonst herausgucken und rettete Goethe, wenn nicht das Leben, so doch aus großer Gefahr. Und vor allen sah er seine Papiere durch ihr beherztes Eingreifen gerettet. Jetzt war der Augenblick gekommen. Am 19. Oktober 1806 lässt sich Goethe mit Christiane vom Hofprediger Wilhelm Christoph Günther in der Sakristei der Hofkirche trauen. Nichtsdestotrotz feierten sie beide weiterhin den 12. Juli als Hochzeitstag. Die Heirat brachte, widerwillig zwar, einige Anerkennung in Weimar und behilflich war eine Dame, die zusammen mit ihrer Tochter Adele erst kürzlich aus Danzig eingetroffen war. Sie hieß Johanna Schopenhauer, und bereits am 20. Oktober führte Goethe seine eben angetraute Frau als Gattin bei den Damen ein. Am 24. Oktober 1806 schreibt Johanna über die Visite an ihren Sohn Arthur: „ich empfing sie, als ob ich nicht wüßte, wer sie vorher gewesen wäre, ich denke, wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, können wir ihr wohl eine Tasse Tee geben. Ich sah deutlich, wie sehr mein Benehmen ihn freute; […] Goethe blieb fast zwei Stunden, und war so gesprächig und freundlich, wie man ihn seit Jahren nicht gesehen hat. Er hat sie noch zu niemand als zu mir in Person geführt. Als Fremden und Großstädterin traut er mir zu, daß ich die Frau so nehmen werde, als sie genommen werden muß; sie war in der Tat sehr verlegen, aber ich half ihr bald durch. In meiner Lage und bei dem Ansehen und der Liebe, die ich mir hier in kurzer Zeit erworben habe, kann ich ihr das gesellschaftliche Leben sehr erleichtern. Goethe wünscht es und hat Vertrauen zu mir, und ich werde es gewiß verdienen. Morgen will ich die Gegenvisite machen.“ War damit der Bann gebrochen, die Ausgrenzung überwunden? Es ging schwerer voran, als Johanna Schopenhauer denken mochte. Christiane musste nicht mehr auf ihrer alten Bank in der Komödie sitzen, sondern sie, die seit 1803 fast stellvertretend für Goethe neben allen ihren häuslichen Aufgaben auch noch den sommerlichen Theaterbetrieb in Bad Lauchstädt moderierend

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und kommentierend begleitete, durfte nun in der Loge neben der Schopenhauer sitzen (Brief vom 30./31. Dez. 1808 an Sohn August). Die sogenannte erste Gesellschaft Weimars blieb immer noch kühl distanziert, und ob sich Christiane als die Frau ihres geliebten „Geheimderaths“ und als spätere Frau Staatsministerin von Goethe wirklich gesellschaftlich angenommen fühlen durfte, bleibt höchst zweifelhaft und zwiespältig. Zwiespältig blieb die Legalisierung auch im Binnenverhältnis der Liebenden. Die Flucht unter das Gesetz in Kriegszeiten war ein hoher Preis. Mit der Ehe legalisierte sich Goethe eher eine Freistellung aus seiner Beschützerfunktion, erteilte sich Absolution für seine vielen Abwesenheiten. Die erkämpfte Eigenständigkeit für Christiane entpuppte sich bald als reine Oberfläche und als vermeintliche Freiheit. Das Jahrzehnt, das Christiane mit Goethe in ehelicher Verbindung noch geschenkt war, machte sie nicht glücklicher. Die Zeiten, da das Naturwesen noch erotisch punkten konnte, als ihre sinnliche Ausstrahlung und Begabung noch wirkmächtig waren, verblassten. Fünf Schwangerschaften, vier tote Kinder und die Kompensation der Demütigungen durch großzügig zugestandene Vergnügungen hatten ihre physische Konstitution erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Dass sie korpulent wurde, dass bei einem öffentlichkeitsliebenden Manne wie Goethe wie selbstverständlich erotische Konkurrenz aufkam, ist eins. Goethe begann in den langen Aufenthalten in den böhmischen Bädern mit vielerlei weiblicher Jugend zu „äugeln“. Die schönen Augen gehörten Silvie von Ziegesar, Wilhelmine Herzlieb, Pauline Gotter, Bettine von Arnim. Christiane erträgt es ohne allzu große Eifersüchteleien: „Ist denn Bettine in Karlsbad angekommen und die Frau von Eybenberg?“, fragt sie scheinbar unschuldig in ihrem Brief aus Weimar vom 24. Mai 1810. Dann hakt sie nach und bringt sich nachdrücklich in Erinnerung: Und hier sagt man, die Silvie und Gottern gingen auch hin. Was willst Du denn mit allen Äuglichen anfangen? Das wird zu viel. Vergiß nur nicht ganz Dein ältestes, mich, ich bitte Dich, denke doch zuweilen an mich. Ich will indeß fest auf Dich vertrauen, man mag sagen, was man will. Denn Du bist es doch allein, der meiner gedenkt. – Lebe wohl und behalte lieb C. v. Goethe

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Die erotische Konkurrenz war eins; sie erledigte sich, weil die Damen sich ernsthaft binden wollten. Das andere aber war, dass Christiane zu kränkeln begann; sie versuchte es vor ihrem „Geheimderath“ zu verbergen, um ihn nicht zu beunruhigen und in seiner Arbeit zu stören. Schon in den Jahren 1807 und 1808 verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand – vielleicht auch psychisch bedingt. Im Frühjahr 1815 aber wird sie ernstlich krank. Dennoch gilt ihre Sorge unausgesetzt seinem Wohlbefinden, seiner Gesundheit: „Daß du dich nicht wohl befindest, hat mir viele Sorge gemacht.“ (Jena, 10. März 1815) Goethe geht es erstaunlich gut; immerhin – er ist 66 Jahre alt und verjüngt sich zunehmend; er wird, anders als die Männer ansonsten in der Ehe, zunehmend schlanker. Er begibt sich wie schon 1814 auch 1815 vom Mai bis zum Oktober auf Reisen in die Rheinund Maingegenden. Die Begegnung mit Marianne von Willemer sieht ihn in einer Hochphase poetischer Produktion. Im September entsteht das berühmte Gingo-biloba-Gedicht, ein naturmystischsymbolisches Gegenbild zum vom Efeu oder der Weinrebe umrankten Apfel- oder Ulmbaum. Das ist Glück, aber die Poesie ist nicht das Leben. Was ihm in derem Jenseits gelang, sieht er hinieden nie recht gelungen. In der Inkarnation der Poesie, in der Euphoriongestalt im Faust II wird Bilanz gezogen. Am Beispiel wird dezent auch Biographisches deutlich: Ach! zum Erdenglück geboren, Hoher Ahnen, großer Kraft, Leider! früh dir selbst verloren, Jugendblüthe weggerafft. Scharfer Blick die Welt zu schauen, Mitsinn jedem Herzensdrang, Liebesgluth der besten Frauen Und ein eigenster Gesang. Doch du ranntest unaufhaltsam Frei in’s willenlose Netz, So entzweytest du gewaltsam Dich mit Sitte, mit Gesetz; Doch zuletzt das höchste Sinnen Gab dem reinen Muth Gewicht, Wolltest Herrliches gewinnen, Aber es gelang dir nicht. Wem gelingt es? –

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„Trübe Frage“, antwortet der Chor, und in der Selbstbefragung des Dichters klingen Frage und Antwort an vielen Stellen der Briefe und Tagebücher prosaisch-skeptisch wieder. In fürchterlichster Prosa stellt sich natürlich die Schuldfrage. Warum gelang es Goethe nicht, Christiane vom Bett- und Hausschatz zur Frau an seiner Seite zu machen? Seine Antwort ist: „weil ich die Menschen lasse wie sie sind, niemandem etwas nehme, sondern nur empfange und gebe.“ (aus Heidelberg, 27. September 1815) Die fürchterlich prosaische Gegenfrage wäre: Wollte Christiane von ihrem Selbstverständnis her denn die Frau an Goethes Seite sein? – Die Prosa des Lebens ist banal und solche Fragen helfen kaum weiter und werden niemandem gerecht. Es gibt zumindest eine poetische Antwort, und wenn es in diesem Bezirk kein Falsches gibt – andernfalls wäre sie schlecht –, dann leuchtet die Aussage des Briefes als unverbrüchliche Wahrheit in die Welt und macht die bösen Zungen aller Zeiten und Zonen schweigen. Die Wahrheit ist so schlicht wie herzlich und menschenfreundlich, ist so wie die, auf die sie sich bezieht. Sie trägt im Erstdruck von 1815 den Titel „Gefunden“ und den Zusatz „Frau von Goethe“. Entstanden ist das Gedicht am 26. August 1813, also gut 25 Jahre nach der ersten Begegnung von Christiane und Goethe. Ich ging im Walde So für mich hin, Und nichts zu suchen, Das war mein Sinn. Im Schatten sah ich Ein Blümlein stehn, Wie Sterne leuchtend, Wie Äuglein schön. Ich wollt’ es brechen; Da sagt’ es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein? Ich grub’s mit allen Den Würzlein aus, Zum Garten trug ich’s Am hübschen Haus.

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Und pflanzt es wieder Am stillen Ort; Nun zweigt es immer Und blüht so fort.

Das „Blümchen“ zweigte und blühte noch knappe zwei Jahre so fort. Sie starb nach einem schmerzvollen Todeskampf an Nierenversagen. Christianes briefliche Schlusswendung aus Jena vom 13. Mai 1793 – „Leb wohl, Du Süßer. Deine Dich ewig liebende Christel“ – besaß in Variationen bis zuletzt für sie wie auch für ihn Gültigkeit. Aus der unmittelbaren Verlusterfahrung formuliert Goethe seine Schlusswendung im Tagebucheintrag vom 6. Juni 1816: „Nahes Ende meiner Frau. Letzter fürchterlicher Kampf ihrer Natur. Sie verschied gegen Mittag. Leere und Todtenstille in und außer mir.“ Poetisch verdichtet ist seine Schlussformel auf ihren Tod, die die Bedeutung von Christianes Leben für sein Leben ausspricht – in heutigen Maßstäben gemessen ein kurzes und doch reiches Leben –, eine nicht minder unbezweifelbare Botschaft. Sie steht auf ihrem Grabstein auf dem Jakobsfriedhof in Weimar Du versuchst, o Sonne, vergebens Durch die düstern Wolken zu scheinen! Der ganze Gewinn meines Lebens Ist ihren Verlust zu beweinen.

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Leonore von Este Torquato Tasso (1790)

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Der sogenannte „Urtasso“ entstand zwischen März 1780 und November 1781; dieser Prosaentwurf gedieh nicht über den zweiten Akt hinaus und ging mit guten Vorsätzen neben der Iphigenie mit auf die Italienische Reise. Er durfte als einziges Manuskript sogar mit auf die Schiffsreise nach Sizilien. Trotz verschiedentlicher Anregungen kam Goethe bei seinen Versuchen, das Schauspiel weiterzutreiben, aber keinen Schritt voran. Erst auf der Heimreise von Rom nach Weimar schien der Knoten nicht zuletzt ob neuer Lektüreeindrücke gelöst zu sein. Doch es zog sich noch über ein Jahr hin bis der Stoff 1788/89 nach dem Durchgang durch die italienische Verjüngung die definitive Form und Sprache erhielt. In den Jahren zwischen 1780 und dem Erscheinen des Tasso 1790 hatte sich einiges verändert, insbesondere Goethes Verhältnis zu Charlotte von Stein, die von allem Anfang an natürlich hinter der Figur der Leonore von Este (1537–1581) gesehen werden muss. Da die Liebesverbindung der kränkelnden und unverheirateten Schwester Herzog Alphons’ II. von Este (1533–1597) zu dem angebeteten Dichter Torquato Tasso (1544–1595) ohnehin eine Erfindung Goethes ist, bestimmt die Beziehung zu Charlotte von Stein das Schauspiel nicht nur in seiner Grundanlage, sondern die Entwicklung und Lösung der Beziehung zu Charlotte schreibt sich in der poetischen Figur der Prinzessin auch in die Akte jenseits des Prosaentwurfs, der nicht erhalten ist, fort. Natürlich ist die Rekapitulation ihrer Beziehung im Schauspiel nicht als ein Blick durchs Schlüsselloch angelegt, aber die poetischen Umsetzungen in klassischen Formulierungen und übertragbaren Handlungsmustern lassen doch, wie Tasso formuliert, „das Geheimniß einer edlen Liebe“ (II,1) erahnen. Er vertraut es bescheiden „dem holden Lied“ an, Goethe chiffriert es im dramatischen Gedicht. Das führt uns die Prinzessin Leonore und Tasso als Widerbild von Iphigenie und Thoas vor. Die Priesterin hat sich aus dem heiligen Tempelhain herabbegeben in den Gartenplatz von Belriguardo und träumt sich im Kostüm arkadischer Schäferinnen

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zusammen mit ihrer Freundin, der Gräfin Leonore Sanvitale, in die goldne Zeit der Dichter. Zu einem solchen mutiert nun Thoas, indem er das Schwert mit der Pflugschar der Dichter, mit der Feder, vertauscht. Die Konflikte sind nicht mehr barbarisch tödlich, sie sind ziviler geworden, bürgerlicher, auch wenn der zum Dichter domestizierte König von Tauris bei passender Gelegenheit durchaus zum Degen greift, ungestüm wird, heftig und unbeherrscht, und sich erlaubt, was ihm gefällt. Solches Verhalten kam bei der Priesterin nicht gut an, bei der Prinzessin nicht minder, und bei Charlotte von Stein war Mäßigung Gesetz, war zu akzeptieren: Erlaubt ist was sich ziemt. (II,1)

Die berühmt gewordenen Repliken zwischen Tasso und der Prinzessin entstammen dem 1. Auftritt des 11. Aufzugs, der den Dichter in ihrer platonischen Schule zeigt bzw. der Goethe im Widerspiel mit seiner Besänftigerin Charlotte diskutieren sieht. Sie, die Schülerin des Plato (I,1), die Muse des Dichters, die ihm bei Überreichung seines neuesten Werkes den Ehrenkranz, mit dem sie den Dichter Vergil schmückte, aufs Haupt setzt, zeigt ihm in der langen Unterredung, die eher eine Unterweisung ist, in welch engen Grenzen ihre leidenschaftslose Zärtlichkeit sich bewegt. Sie, die sich unvermählt für ihn aufsparen will, weist ihn trotz tiefer Zeichen ihrer Neigung in die Schranken: Nicht weiter, Tasso! Viele Dinge sind’s, Die wir mit Heftigkeit ergreifen sollen: Doch andre können nur durch Mäßigung Und durch Entbehren unser eigen werden. So, sagt man, sey die Tugend, sey die Liebe, Die ihr verwandt ist. Das bedenke wohl! (II,1)

Dass die Liebe der Tugend verwandt sei, dieses Bekenntnis ziert vielleicht die Schülerin des Plato, aber solche Neigung ohne jegliche erotische Glut ist auf Dauer der Dichter Sache nicht. Es kommt, wie es bei aufgestauten Seelenlagen kommen muss: Tasso und die Prinzessin verfehlen einander zunehmend. Er drängt auf ein sinnliches Pfand ihrer Zuneigung, sie ist nur gewillt, ein Zeichen zu geben, das von ihrer seelischen Zuneigung kündet. Die Konflikte dieser wechselseitig starken Neigung verstärken sich ob Tassos Entgleisungen auf dem höfisch-gesellschaftlichem Parkett. Seine

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Duellforderung und alles diplomatische Bemühen, die Situation doch noch zu retten, lassen seinen Entschluss endgültig werden. Er will nach Rom. Wie ein roter Faden zieht sich das Stichwort weiterhin durch das Stück, bis auch die Prinzessin erschreckt die Frage stellt: Du gehst nach Rom? (V,4)

Rom, das heißt endgültiger Verlust, das ist Leonore wie Charlotte klar. Mit diesem Stichwort springt das Stück spätestens hier aus seinem Entwurfsstadium von 1780 ins Jahr 1786, in dem Goethe mit seiner heimlichen Abreise nach Rom sich gleichsam im Inkognito seines dichterischen Vorbilds sowohl von Frau von Stein als auch von der Last des Hofes zu Weimar lösen wollte. Im Stück bekommt die Loslösung zwar einen anderen dramatischen Impuls als im wirklichen Leben, wo die Heimlichkeit der Flucht zum beschönigenden Stein des Anstoßes wurde, aber in der Szene des Schauspiels, in der die überirdisch-himmlische Liebe endgültig auf irdische Füße fällt, wird der wahre Grund deutlicher und radikaler in Tassos Worten ausgesprochen. Unwiderstehlich ziehst du mich zu dir, Und unaufhaltsam dringt mein Herz dir zu. Du hast mich ganz auf ewig dir gewonnen, So nimm denn auch mein ganzes Wesen hin. Er fällt ihr in die Arme und drückt sie fest an sich. Prinzessinn ihn von sich stoßend und hinweg eilend. Hinweg! (V,4)

Ob Charlotte von Stein sich darin wiedererkannt hat? Immerhin war die Szene wohl in den Weimarer Tagen des Jahres 1789 geschrieben, als ihrer beider Verhältnis auf dem Tiefpunkt war, als sie nämlich von dem Erotikum in Goethes Haus, als sie erstmals von seiner Liebe zu Christiane Vulpius erfuhr. Die Szene buhlt nicht um einvernehmlichen Sex, nein, sie bittet nur um einen einvernehmlichen Kuss und glaubt, ihn dem Protagonisten gestatten zu dürfen. Weiß Gott, die Prinzessin hat beredt zu Zeichen der Liebe aufgefordert; sie meinte aber wohl ein Gedicht und keinen Kuss. Dieser Eklat war anders als die Duellforderung nicht mehr heilbar. Tasso verlässt Belriguardo, verlässt die Prinzessin endgültig, weiß sich aber gerettet in dem Lied, das er nun zu schreiben beginnt. Es trägt den Titel Torquato Tasso und gipfelt in dem Bekenntnis:

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– Nur Eines bleibt: Die Thräne hat uns die Natur verliehen, Den Schrey des Schmerzens, wenn der Mann zuletzt Es nicht mehr trägt – Und mir noch über alles – Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede, Die tiefste Fülle meiner Noth zu klagen: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide. (V,5)

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Leonore Sanvitale Torquato Tasso (1790)

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Leonore Sanvitale erklärt im Beginn des Schauspiels Torquato Tasso etwas, was der Zuschauer ohnehin sieht und was keiner Worte bedürfte. Wir winden Kränze. Dieser, bunt von Blumen, Schwillt immer mehr und mehr in meiner Hand, Du hast mit höherm Sinn und größerm Herzen Den zarten schlanken Lorber dir gewählt. (I,1)

Dann kränzt Leonore von Este Vergil mit ihrem Lorbeerkranz, Leonore Sanvitale schmückt die Herme des Ariost mit ihrem üppig-bunten Blumenkranz. Beide sind sie ländlich gewandet wie beglückte Schäferinnen und man könnte von den beiden Freundinnen glauben, sie seien wie Zwillingsschwestern ein Herz und eine Seele. Aber es gibt doch Unterschiede im Charakter der seelenverwandten Frauen, die nicht größer, aber doch so groß sind wie ihre unterschiedlichen Kränze. Ist der Lorbeerkranz zart und schlank und schlicht und unscheinbar, so der andere blühend und farbenfroh wie der Frühling. Der Lorbeer weist im mythologischen Geflecht der Szene auf Apoll und die Kunst, die Blumen bringen die Göttin der Liebe, Aphrodite, in Erinnerung. Leonore Sanvitale weiß das Blumenorakel durchaus kunstvoll zu deuten, indem sie dem Symbol für den unvergänglichen Ruhm der Kunst den Preis verleiht. Beide tragen sie auch den gleichen Namen Leonore, und wenn der Dichter, wie die Prinzessin feinsinnig bemerkt, seinen Gegenstand in seinen Liedern benennt, dann gibt er ihm höchst zweideutig diesen Namen. So viel Einheit in der Zweiheit will Leonore Sanvitale auch bei diesem Spiel nicht gelten lassen. Sie weiß zu unterscheiden: Es ist dein Name wie es meiner ist. Ich nähm’ es übel wenn’s ein andrer wäre. Mich freut es daß er sein Gefühl für dich In diesem Doppelsinn verbergen kann. Ich bin zufrieden daß er meiner auch Bey dieses Namens holdem Klang gedenkt. (I,)

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Und da sie ihn ohnehin beide platonisch lieben, sollte auch keine Eifersucht im Spiele ihrer Verehrung sein, und der Lobpreis der Schönheit der Dame(n) Leonore seinerseits trägt ihrerseits einen gewissen Schutzschild: Leonore Sanvitale ist im Gegensatz zur Prinzessin verheiratet. Noch ist es früh am Morgen und bekanntlich verläuft nicht jeder Tag so, dass man ihn am Abend loben kann; den Tag am Abend wird man in einem Schauspiel der klassischen Art nach der Einheitenlehre von Ort und Zeit, und der Tasso ist darin vorbildlich, im seltensten Falle loben können, weil im Drama immer Drama und Ungemach lauert. So auch hier: Die Dame Leonore, die Gräfin von Scandiano, wird sehr schnell eigennützige Gegenspielerin der Prinzessin, und sie hat wie ihr Blumenkranz in Konkurrenz zum schlichten Lorbeerkranz einiges mehr an Frische, an Leben, an Liebesversprechung und an Schönheit zu bieten. Ihr irdisch weltlicher Charakter weiß sich sehr schnell in Szene zu setzen gegen das abgehobene Bild von tiefer Innerlichkeit der Prinzessin. Der Zufall des peinlichen Vorfalls mit dem gezogenen Degen kommt ihr zu Hilfe, und ihr Plan ist schnell reif, den Dichter für sich zu gewinnen: Du mußt ihn haben, und ihr nimmst du nichts: Denn ihre Neigung zu dem werthen Manne Ist ihren andern Leidenschaften gleich. Sie leuchten, wie der stille Schein des Monds Dem Wandrer spärlich auf dem Pfad zu Nacht; Sie wärmen nicht, und gießen keine Lust Noch Lebensfreud’ umher. Sie wird sich freuen, Wenn sie ihn fern, wenn sie ihn glücklich weiß, Wie sie genoß, wenn sie ihn täglich sah. (III,3)

Goethe wusste um die Verführungskraft der Frauen vom Geschlecht der Aphrodite, und die Lust bei Dechiffrierung ihrer ästhetischen Verfassung war, wie auch die Beispiele Faustina oder die Schöne aus dem Tagebuch-Gedicht belegen, ziemlich ungezügelt. Wenn die biographisch-positivistische Schule als Vorbild für die Prinzessin, für Tasso und für Alphons II. problemlos Charlotte von Stein, Goethe und Carl August namhaft machen konnte, so musste doch auch eine Entschlüsselung für die Sanvitale möglich sein. Neben der noch naheliegenden Corona Schröter oder der „gar lieblichen“ Marchesa Brianconi aus Neapel, mit denen Goethe Frau

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von Stein gelegentlich eifersüchtig machen wollte, wurden auch viele unsinnige Vergleiche angestellt. Es gibt aber kein Vorbild für das farbenkräftigere Gegenbild zur Prinzessin. Leonore darf nicht als die Prinzessin ausschließendes, sondern als deren ergänzendes Bild betrachtet werden, und natürlich gilt es, die Prinzessin als komplementär zu Leonore Sanvitale zu verstehen. Schlüsseltexte sind Schlüsseltexte, aber die besonders guten fordern auch entschieden dazu auf, respektvoll Abstand zu halten und allzu große Nähe zu meiden. In der dritten Szene des dritten Aufzugs sehen wir Leonore Sanvitale in ein Selbstgespräch verwickelt, das gewissermaßen die vorhergehende lange Unterredung mit der Prinzessin auf den Punkt bringt. Sie bedauert das edle, schöne Herz, das sich ihr in seiner Verzweiflung eröffnet hat. Dann erwägt sie nochmals, durchaus nicht abgefeimt, sondern skrupulös, ihren Vorschlag, Tasso möge sich auf einige Zeit von Ferrara entfernen – natürlich eigennützigerweise, um bei ihr Aufenthalt zu nehmen. Der Prinzessin leiser Vorwurf mag ihr im Ohre klingen: Du willst dich in Genuß, o Freundin, setzen, Ich soll entbehren; heißt das billig seyn? (III,2)

Und also beginnt sie ihre Reflexion auf ihre Vorschläge mit sehr ernsthaften Fragen, die deutlich zeigen, dass hier keine Intrigantin, keine eifersüchtige Rivalin am Werk ist, wie Tasso in seinem Verfolgungswahn vermutet. Ist’s redlich so zu handeln? Bist du nicht reich genug? Was fehlt dir noch? Gemahl und Sohn und Güter, Rang und Schönheit, Das hast du alles, und du willst noch ihn Zu diesem allen haben? Liebst du ihn? Was ist es sonst, warum du ihn nicht mehr Entbehren magst?

Das Eingeständnis aus tiefster Seele, das sich anschließt, verneint die letzte Frage eher. Nein, es ist nicht wirklich Liebe, was sie treibt, ihn zu besitzen, es ist ein Glanz von Ewigkeit her, von dem sie sich an seiner Seite beleuchtet fände. Das ist Eros von ganz anderer Art, und mit Wunschphantasien auf heiße Liebesnächte haben ihre Überlegungen rein gar nichts zu tun.

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Du darfst es dir gestehn. Wie reizend ist’s, in seinem schönen Geiste Sich selber zu bespiegeln! Wird ein Glück Nicht doppelt groß und herrlich, wenn sein Lied Uns wie auf Himmels-Wolken trägt und hebt? Dann bist du erst beneidenswerth! Du bist, Du hast das nicht allein, was viele wünschen, Es weiß, es kennt auch jeder, was du hast! Dich nennt dein Vaterland und sieht auf dich, Das ist der höchste Gipfel jedes Glücks.

Spinnt Leonore hier nicht Garn vom gleichen Rocken wie die Prinzessin, nur dass diese sich von innen heraus, jene sich von außen her ins rechte Licht gestellt wünscht. Und wenn Leonore das umgekehrte Spiegelbild der Prinzessin ist, dann sind die in sie gelegten und von ihr ausformulierten Gedanken und Wünsche doch auch das, was Charlotte von Stein im Innersten bewegt haben mag. Sind das nicht Worte, die einerseits ihr Zaudern und Zögern, ihre Reserve in Liebesdingen erklären und andererseits ihren Ausschließlichkeitsanspruch auf Goethes selbstlose Liebe beschreiben? Wo ist ein Mann, der meinem Freunde sich Vergleichen darf? Wie ihn die Welt verehrt, So wird die Nachwelt ihn verehrend nennen. Wie herrlich ist’s, im Glanze dieses Lebens Ihn an der Seite haben! so mit ihm Der Zukunft sich mit leichtem Schritte nahn! Alsdann vermag die Zeit, das Alter nichts Auf dich, und nichts der freche Ruf, Der hin und her des Beyfalls Woge treibt: Das was vergänglich ist, bewahrt sein Lied. (III,3)

Im Drama Goethes bringen sich beide Frauen um ihre Chance. Sowohl die Prinzessin als auch Leonore werden in ihren Hoff­ nungen tief enttäuscht. Tasso wird von Ferrara weggehen – die Prinzessin verweigert den symbolischen Kuss und stößt ihn ihrem Naturell gemäß von sich –, aber Leonore kann ihn auch nicht für sich gewinnen. Er geht nach Rom. Es gilt für die beiden Frauen ein ähnliches Verhältnis, wie es Leonore am komplementären Beispiel der Männer, am Beispiel von Tasso und Antonio, beschreibt.

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Zwey Männer sind’s, ich hab’ es lang gefühlt, Die darum Feinde sind, weil die Natur Nicht Einen Mann aus ihnen beyden formte. (III,2)

Die beiden Männer finden sich im Schluss des Stückes als Freunde, ganz so, wie es Leonore der Prinzessin erklärt hat, aber nicht mehr zu hoffen wagte: Und wären sie zu ihrem Vortheil klug, So würden sie als Freunde sich verbinden; Dann stünden sie für Einen Mann, und gingen Mit Macht und Glück und Lust durch’s Leben hin.

Das Stück belässt es bei zwei Männern, die Wirklichkeit hat aus den zwei Männern einen geformt: Er heißt Goethe, ist Tasso und Antonio, und in ihm hat das Drama ein Happy End gefunden. Im Falle der beiden liebend-bewundernden Frauen hat die Wirklichkeit wie das Stück das glückliche Ende verwehrt. Es fand sich in Goethes Welt keine Frau, in der die Natur zwei „Feindinnen“ zu einer Freundin geformt hätte.

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Charlotte Albertine Ernestine von Stein 1742–1827

nach der ‚Italienischen Reise‘

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Das 18. Jahrhundert gilt gemeinhin als das Goldene Zeitalter der Briefkultur. Wer seine Briefe zurückforderte oder zurück­ stellte, nahm sich in Person zurück. Angesichts heutiger Kom­ munikationstechniken würde dies eher lächerlich wirken. Schiller gab am 18. Februar 1790 auf der Durchreise von Jena nach Erfurt in Weimar die Briefe, die er von Charlotte von Kalb erhalten hatte, zurück und reduzierte hinfort seine Beziehung zu den Kalbs auf einen gesellschaftlich-förmlichen Umgang. Er hatte der „Kalbin“ Tage zuvor brieflich seine Liebe zu Charlotte von Lengefeld bekannt, und wenige Tage nach der Rückgabe der Dokumente einer subtilen Intimität heiratete er die Rivalin. Schon im Dezember 1786 hatte Charlotte von Stein ihre Briefe von Goethe zurückgefordert. „…du willst die Zeugnisse deiner Liebe zurücknehmen? Das kannst du nicht…“, entfährt es ihm entgeistert in seinem Brief aus Rom vom 13. Dezember 1786. Sie konnte und wollte es, und es hätte schlagartig klar sein müssen, dass wer die Zeugnisse seiner Liebe zurückforderte, seiner Liebe im Dialog der Herzen einen Schlusspunkt setzen wollte. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung mehr. Der Rest war pure Höflichkeit und reiner Benimm. Goethe schreibt gegen dieses Fait accompli in Tagebuch und Briefen aus Italien vergeblich an und muss dennoch der feindselig gestimmten und verletzten Frau im Laufe des Jahres 1789, spätestens nachdem sein Verhältnis mit Christiane Vulpius öffentlich wird, das Zurückgeforderte aushändigen. Das Autodafé ihrerseits ließ noch auf sich warten. Dafür, dass sie ihre Briefe erst um 1826 verbrannte, dafür, dass sie Goethes Briefe hingegen über ihren Tod hinaus bewahrt hat, gibt es wohl keine zureichende Erklärung. Der Verlust ist groß und gibt ein Rätsel auf, das zumindest im Jahre 1789 verständlicher erschienen wäre. Da war die Wunde offen und Zorn und Hass am größten. Goethes Rechtfertigungsbriefe vom 1. und 8. Juni 1789 waren nicht sehr rücksichtsvoll und in ihren Gründen und in ihrem Gestus so banal, wie es diese Standardsituation eh und je mit sich bringt. Sie

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sind nicht frei von Gezänk und Kleinlichkeiten, und es nimmt einen nicht wunder, dass darauf eine lange Stille folgte. Die Stille hatte einen lauten Widerhall in der Weimarer Gesellschaft, die vieles zu tuscheln und zu erzählen wusste. Goethe schwieg, und er hatte Charlottes herablassendes Mitleid zu ertragen – er ist ihr entsetzlich dick geworden –, und das verachtungsvolle Mitleid der Weimarer ob der unstandesgemäßen Haushälterin, ob seiner Magd und seiner peinlichen erotischen Verirrung. Einzig über Fritz von Stein, den Goethe stets wie einen Sohn behandelt hatte, gibt es bescheidene Anknüpfungspunkte, die sich umgekehrt mit Goethes Sohn August leicht intensivierten. Ob die Freundschaft mit Schiller und seiner Frau, denen Charlotte von Stein als Patentante verbunden war, rückwirkend für das Verhältnis Goethes zu Frau von Stein hilfreich war, ist eher zu bezweifeln. Für Charlotte Schiller war Goethes Geliebte lebenslang ein „rundes Nichts“, und sie war nicht wirklich bemüht, den Groll der Patentante und innigen Freundin auf Goethe zu mildern. Sich aus dem Weg zu gehen, sich wechselseitig zu meiden, diese anfängliche Strategie ließen beider Anwesenheitspflichten bei Hof und zu den gesellschaftlichen Anlässen auf Dauer nicht zu. Man fand einen höflichen-kühlen Umgangston und eine beidseitige Duldung aufgrund äußerer Notwendigkeiten. Nach dem Tod von Charlottes Mann im September 1793 versucht sie in einem Drama mit dem Titel Dido ihre Enttäuschung poetisch zu verarbeiten. Die Verarbeitung ist trotz Schillers Lob kein poetisches Musterstück. Gleichwohl schrieb sie sich damit vermutlich für eine schleichende sentimental-zähe Versöhnlichkeit frei, die sich zwischen den beiden ehemals Seelenverwandten in den Jahren danach ausbreitete. Als der „Geheimderath“, wie sie ihn in beginnender altersweiser Abgeklärtheit zu nennen pflegt, in den Jahren nach 1801 des Öfteren ernstliche Erkrankungen erleidet, kehrt fast alte Vertraulichkeit und Freundlichkeit in ihre Briefe zurück. Die endliche Legalisierung des Verhältnisses mit Christiane vermag keine emotionalen Saiten mehr zu berühren, und auch ihr Tod 1816 löst keine überraschenden Reaktionen aus. Sie ist zur „theuren Freundinn“ geworden und die Literatur wird wieder zum Vehikel ihrer Kommunikation. In diesem höflich sich erweiternden Dialog kamen die Römischen Elegien natürlich nicht vor. Aber über den Wilhelm Meister und die dort eingefügten ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘ entspinnt

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sich wieder ein zarter Austausch der Gedanken und der Seelen. Die Wahlverwandtschaften lassen den Widerwillen gegen den in ihren Augen mürrisch und bieder gewordenen Dichter weiter schwinden und vollends im Torquato Tasso, dessen in Italien begonnene Versfassung zwar 1789 vollendet, aber erst 1807 in Weimar uraufgeführt wurde, findet sie den beseligenden Hauch alter Zeiten wieder. Dort konnte sie sich und den Goethe, der ihr lieb war, wiederentdecken. Die ernüchternde Gegenwart mit ihren steifen Begegnungen schlägt sich allenfalls in kleinen Gelegenheitsversen nieder, die Rolle einer Muse und Göttin war dahin. Auffällig und bemerkenswert ist die Tatsache, dass Goethe, der sein Leben in intensiven autobiographischen Rückspiegelungen verarbeitet hat, über die Zeit mit Charlotte von Stein ein seltsames Stillschweigen wahrte. Die Phase von seiner Ankunft in Weimar bis zur Abreise nach Italien ist eine beredte Leerstelle, die umso schmerzlicher wiegt, als Charlottes Briefe fehlen. Warum hat sie sie 1826 verbrannt, zu einer Zeit, da beider Liebe schon längst Geschichte war? Sicherlich kannte sie das 1820 in Über Kunst und Alterthum erschienene Gedicht Goethes ‚Zwischen beiden Welten‘. Es greift wohl Verse auf, die in der Zeit ihrer engsten Beziehung entstanden sind, und rundet sie mit drei ergänzenden Zeilen aus der Rückschau. Das Gedicht ist eine Huldigung an die Frau in Goethes Leben, die – wie einst die Entdeckung Shakespeares – seinem Leben Ziel und Richtung gab, die ihm in beglückender geistigseelischer und menschlicher Gemeinschaft zur Vollendung seiner Existenz verhalf. Das Gedicht erhebt sie zur Ehre seiner Altäre, und ihre Briefe hätten die Heiligsprechung keinesfalls in Frage gestellt – im Gegenteil. Zwischen beiden Welten Einer Einzigen angehören, Einen Einzigen verehren, Wie vereint es Herz und Sinn! Lida! Glück der nächsten Nähe, William! Stern der schönsten Höhe, Euch verdank’ ich was ich bin. Tag’ und Jahre sind verschwunden, Und doch ruht auf jenen Stunden Meines Wertes Vollgewinn.

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Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

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Die beiden Protagonisten des Stückes, das Goethe Ende Oktober 1776 unter dem Titel Die Geschwister auf dem Heimritt von der Jagd „erfunden“ hat, heißen Marianne und Wilhelm. Zwei der Protagonisten des Romans, den Goethe gleich im Anschluss ab dem 16. Februar 1777 zu schreiben begann, heißen ebenfalls Mariane und Wilhelm. Die Figuren des Stücks und die Figuren des Romans, der sogenannte „Ur-Meister“, haben aber trotz Namensgleichheit herzlich wenig miteinander zu tun. Auch in der Umarbeitung der fragmentarischen Vorform von Wilhelm Meisters theatralischer Sendung zum beispielhaft werdenden klassischen Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, der in den Jahren 1795 und 1796 erschien, hat sich am Profil der Figuren nichts Grundsätzliches verändert. Der Wilhelm des Stückes ist ein verantwortungsbewusster Kaufmann, den Wilhelm des Romans drängt es zum Theater. Dazwischen liegen Welten – auch zwischen Marianne und Mariane liegen Welten. Einen gewissen verführerischen Duft der Frauen verströmt zwar jede der beiden Damen, aber im einen Fall ist es eher morgendlicher Kaffee- und Küchenduft in wohliger Häuslichkeit, im Falle des Romans ist es magische Theaterluft, die unbürgerliche Freiheiten verspricht. Denn die Welt der liebreizenden Schauspielerin Mariane verströmt aber nicht nur den Duft von Parfum, von Schminke und Puder und kokettiert mit Verkleidung und Maskerade, mit Bändern und bunten Tüchern, mit Hüten und zarter Wäsche, mit Seidenstrümpfen und Schuhen, mit Blumen und kleinen Präsenten, sondern sie lockt auch mit erotischem Abenteuer und heißer Liebe. So jedenfalls nimmt sie Wilhelm Meister wahr und stilisiert sich die Geliebte zur Königin einer Traum- und Idealwelt, in der er seinen Wunsch zum Eintritt in eine höhere Welt und zur vollen Selbstverwirklichung erfüllbar glaubt. Auf den Flügeln der Einbildungskraft hatte sich Wilhelms Begierde zu dem reizenden Mädchen erhoben; nach einem kurzen Umgange hatte er ihre Neigung gewonnen, er

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fand sich im Besitz einer Person, die er so sehr liebte, ja verehrte: denn sie war ihm zuerst in dem günstigen Lichte theatralischer Vorstellung erschienen, und seine Leidenschaft zur Bühne verband sich mit der ersten Liebe zu einem weiblichen Geschöpfe. Seine Jugend ließ ihn reiche Freuden genießen, die von einer lebhaften Dichtung erhöht und erhalten wurden. (I,3)

In dem jungen Mann Wilhelm steckt neben William Shakespeare vermutlich viel Erfahrung des jungen Goethe, ohne den Roman als eine Autobiographie zu lesen, und Mariane wird wohl eine Zusammenfassung von Frankfurter und Leipziger Bühnenschön­ heiten sein. Auffallend und zum Bild der Vollkommenheit der Theaterverhältnisse passend ist, dass sie dem Geliebten beim ersten Auftritt, den wir erleben, in einer Hosenrolle als ein fescher Offizier entgegentritt. Dass die verklärte Theatergeschichte auch noch einige kritische Untertöne erhalten wird, ist zu erwarten; der Leser weiß ohnehin über die Situation Wilhelms von allem Anfang an mehr als dieser selbst über sich. Der weiteren Spannungsentwicklung des kleinen Liebesromans sind in überraschender Aufdeckung von Affären und Eifersuchtsszenen also eher Grenzen gesetzt. Mariane ist verliebt in Wilhelm, aber sie hat – allen außer Wilhelm bekannt – ein Verhältnis mit dem reichen Kaufmann Norberg, der geschäftlich unterwegs ist und der sie aushält. Die Schatten der Traumwelt beginnen zu wachsen, das Elend des Schauspielerberufs der Zeit macht sich schon leise bemerkbar, aber um es in die Zielgerade zu führen, muss der Held erst einmal ins Bett der Heldin. „So brachte Wilhelm“, lässt der Erzähler wissen, „seine Nächte im Genusse vertraulicher Liebe, seine Tage in Erwartung neuer seliger Stunden zu.“ (I,9) Mochten die zeitgenössischen Leser dies als frivol und schlüpfrig empfinden, die Geschichte war weit entfernt von einem der üblichen erotischen Romane der Zeit. Mariane macht sich zwar Vorwürfe wegen Norberg, fühlt ihre Liebe aber gerechtfertigt, weil sie sich in den Idealismus Wilhelm hinüber gerettet sieht. Sein Jubel über die Eroberung hinter den Kulissen des Theaters – „Sie ist dein! Sie hat sich dir hingegeben!“ (I,9) – scheint ihm in seiner naiven Verblendung die Eroberung des Theaters selbst zu sein. Wilhelm wünscht sich schon lange aus seiner Herkunft zu retten, will seinen bürgerlichen Stand wenigstens geistig adeln, und so

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glaubt er, „den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm durch Marianen die Hand reichte“. (I,9) Von ihm sieht er sich ganz in Manier seiner Helden aus dem Puppentheater zu Großem ausersehen, und die Liebe ist die Bestätigung seines Auftrags. Er ist jung, er hat Mut, und er sieht nur das schöne, nicht das arme und sozial gefährdete Mädchen an seiner Seite. Seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar; das hohe Ziel, das er sich vorgesteckt sah, schien ihm näher, indem er an Marianens Hand hinstrebte, und in selbstgefälliger Bescheidenheit erblickte er in sich den trefflichen Schauspieler, den Schöpfer eines künftigen Nationaltheaters, nach dem er so vielfältig hatte seufzen hören. (I,9)

Aber ein richtiger Bildungsroman kann seinen Helden natürlich nicht auf direktem Wege in den Himmel befördern. Wilhelm rüstet sich wohlgemut für den Aufbruch in die Welt. Dem armen Mädchen, der androgynen Wohlgestalt in Männerkleidern, der kleinen Schauspielerin aber wird im Romangeschehen eine undankbare Rolle zudiktiert. Wilhelm muss sich von ihr als betrogen entdecken, und für einen Betrug, der einer ist und eigentlich auch keiner, wird sie vom Schicksal, das von Autors Gnaden waltet, so hart bestraft, dass einem das Mädchen leid tun muss. Eine kleine Reise als Vorbereitung zur größeren in die Theaterwelt hatte Wilhelms Anschauungen von der sozialen Wirklichkeit des Schauspielerberufs ernüchtert. Vollends aber fühlt er sich in seinem Innersten getroffen, als ihm nach seiner Rückkehr durch einen unglücklichen Zufall ein Brief Norbergs an Mariane in die Hände fällt: Heute Nacht komm ich zu dir. Ich glaube wohl, daß dir’s leid tut, von hier wegzugehen; aber habe Geduld; auf die Messe komm ich dir nach. (I,17)

Das ist ein harter Schnitt in Wilhelms erster und naturgemäß damit größter Liebe, und einen solchen Schnitt setzt auch der Erzähler. Was für Wilhelm schlagartig endigt, darf auch erzähltechnisch als beendete Sache erachtet werden. „Deswegen sollen“, so die Wendung des Erzählers ans Publikum, „unsre Leser nicht umständlich mit dem Jammer und der Not unsers verunglückten Freundes, in die er geriet, als er seine Hoffnungen und Wünsche auf eine so unerwartete Weise zerstört sah, unterhalten werden.“ (II,1)

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Umständlich soll auch hier nicht vom Jammer und der Not Marianes berichtet werden, aber ein mitleidender und mitfühlender Blick auf ihre weiteren Schicksale sei erlaubt. Mariane ist schwanger, und Wilhelm hat es eigentlich auch schon freudig vermutet und erhofft. Die gute Hoffnung aber zerschlägt alle ihre Pläne am Theater; sie verliert ihre Stelle, hält sich aber trotz der Notlage von Norberg in Erwartung einer Rückkehr von Wilhelm fern. Der Gram und der Kummer über sein Fernbleiben zehrt sie auf, und die Geburt eines Sohnes besiegelt ihr Ende. Erst Jahre später erhält Wilhelm einen Brief mit Marianes letzten Worten: Wenn dieses Blatt jemals zu dir kommt, so bedaure deine unglückliche Geliebte, deine Liebe hat ihr den Tod gegeben. Der Knabe, dessen Geburt ich nur wenige Tage überlebe, ist dein; ich sterbe dir treu, sosehr der Schein auch gegen mich sprechen mag; mit dir verlor ich alles, was mich an das Leben fesselte. Ich sterbe zufrieden, da man mir versichert, das Kind sei gesund und werde leben. (VII,8)

Es erhält den Namen Felix, und es lebt schon seit geraumer Zeit neben Mignon an Wilhelms Seite, ohne dass dieser von seiner Vaterschaft weiß. Als Begleiter auf der Wanderschaft Wilhelms wird er erst jenseits der Lehrjahre in Wilhelm Meisters Wanderjahren, die 1821 erschienen, von Bedeutung.

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Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

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„Wir überspringen vielmehr einige Jahre und suchen ihn erst da wieder auf, wo wir ihn in einer Art von Tätigkeit und Genuß zu finden hoffen, wenn wir vorher nur kürzlich so viel, als zum Zusammenhang der Geschichte nötig ist, vorgetragen haben.“ (II,1) Mit diesen Worten versucht sich der Erzähler in Goethes Wilhelm Meister einen Übergang von der Katastrophe des Helden mit seiner Geliebten Mariane in seine weiteren Lehrjahre beim Theater zu bauen. Zunächst geht es seiner Theaterliebe wie der Liebe allgemein: Sie scheint für immer beendet zu sein. Wilhelm kehrt in dieser „Pseudo-Konfession“, wie Goethe seinen Roman gegenüber Herder im Mai 1794 brieflich nannte, dem Theater den Rücken, veranstaltet nach der Rückkehr ins Elternhaus ein Autodafé mit seinen poetisch-dramatischen Schreibversuchen und wird nach Überwindung einer unerklärlichen Krankheit für einige Jahre seinem Namensvetter aus dem Stück Die Geschwister vergleichbar. Er widmete sich im Comptoir des Vaters und an der Börse, im Laden und Gewölbe mit großem Eifer den Handelsgeschäften, aber nicht mit dem „heiteren Fleiße“, sondern dem „stillen Fleiße der Pflicht“. (II,2) Es verwundert kaum, dass er bei dieser Einstellung, als er ein zweites Mal auf Geschäftsreise geschickt wird, sofort wieder rückfällig wird. Überall, in den abgelegensten Gebieten und den Herbergen der Reisenden, begegnet er dem, was er nicht sucht und doch magisch findet: das Theater, und zwar in vielfältigen Formen, als Laienspiel und als Gauklermärchen, als Wandertheater oder als höfisches Fest. Und immer korrespondiert dieser Versuchung eine noch weit höhere Versuchung in vielfachen weiblichen Gestalten. Sie bilden ein Spalier, eine Figurenreihe im Bildungsgange Wilhelm Meisters, die von Mariane, über Philine und Mignon, die Gräfin, Aurelie, Therese und die schöne Seele Klettenberg bis zur Amazone Natalie reicht. Die Begegnung mit Philine eröffnet den Reigen dieser ‚éducation sentimentale avant la lettre‘. Das Mädchen kokettiert

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aus einem seiner Herberge gegenüber liegenden Fenster mit ihm, und er lässt der Blondine auf ihre übermütige Bitte hin ein Blumenbouquet überbringen. Nachdenkend „über dieses artige Abenteuer“ purzelt ihm beim Gang auf sein Zimmer schon das nächste Muster weiblicher Erziehung fast vor die Füße. Es ist das eigenartigste Probestück seiner Lehrjahre des Herzens und heißt Mignon. Der Kontrast zwischen ihr und Philine ist kaum größer zu denken. Reden und Schweigen beherrschen sie zum Beispiel sehr unterschiedlich, aber im Singen sind sie auf je eigene Weise stark. Statt zu argumentieren, singen sie und drücken sich darin als authentische Charaktere aus. Philine, deren frevelhafte Reize von einer kleinen Schramme an der Stirn noch erhöht werden, ist eine Theaterschönheit ganz anderer Art als Mignon. Sie weiß ihre ganze Lebensphilosophie von der Leichtigkeit des Seins nicht nur in eine sehr zierliche und gefällige Melodie zu verpacken, sondern sie vermag den Text von der Schönheit des leichten Sinns – gelegentlich auch des Leichtsinns – auch auf eine hinreißende Weise zum Vortrag zu bringen. Singet nicht in Trauertönen Von der Einsamkeit der Nacht; Nein, sie ist, o holde Schönen, Zur Geselligkeit gemacht.

Die Geselligkeiten der Nacht sind eins, ein anderes ist ihr Geschlecht: Die Nacht ist weiblich. Während der männliche Tag nur Plagen, allenfalls nichtige Zerstreuungen bietet, offeriert die schönere Hälfte des Lebens, die Nacht, alles, was das Herz sich wünscht: Liebe, Küsse und die leichten Spiele Amors. Darum an dem langen Tage Merke dir es, liebe Brust: Jeder Tag hat seine Plage, Und die Nacht hat ihre Lust. (V,10)

Philine singts und eilt mit Gelächter und klappernden Absätzen die Treppe hinunter. Nicht ihre frivole Antwort auf die verkopften Männer bringt die Frauen in Stellung gegen sie, sondern ihr Selbstbewusstsein, mit dem sie sich die Männer nimmt, die sie reizen. Aurelie, die tragische Variante von Philine, geifert ihr hinterher: „Wie sie mir zuwider ist! recht meinem innern Wesen zuwider! bis auf die kleinsten Zufälligkeiten.“ (V,10) Diese Zufälligkeiten summieren sich aus Sicht der Frauen zu einem ziemlich unschö-

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nen Katalog weiblicher Unarten. Philine ist unmoralisch, falsch und boshaft. Natürlich ist sie naschhaft, sie kokettiert, sie ist frech und heuchlerisch. Sie küsst die Männer auf offener Straße, ist aber gleichzeitig treulos und impertinent. Sie kompromittiert die Männer auf ihre Weise, aber die Männer finden ihre Schamlosigkeit eher süß, finden ihren Übermut nur Mutwilligkeit. Für sie ist Philine witzig und neckisch, klug und schlau, frisch, froh und heiter. Eine Priesterin ist sie nicht, keine Jungfrau und keine Heroine, und das gefällt den Männern. Ihre Lieder können gelegentlich sogar schlüpfrig und unanständig werden, aber wenn die Gesellschaft stimmt, dann hat allenfalls der Erzähler augenzwinkernde Skrupel, die Texte mitzuteilen. (II,11) Wilhelm leistet ihr Widerstand. Er hat sich seit der grausamen Entdeckung von Marianes offensichtlicher Untreue geschworen, „sich vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten, das treulose Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine süßen Wünsche in seinem Busen zu verschließen“. (II,10) Er benimmt sich wie eine Äbtissin, meint Philine. Aber sie will ihn und kriegt ihn mit ihren Waffen herum, und, wie nicht anders zu erwarten, verführt sie ihn damit auch wieder zum Theater. Wilhelm verdrängt seinen dienstlichen Auftrag und beschönigt seinen Betrug am Vater später in dem Bekenntnisbrief an seinen Geschäftspartner: Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. Ich habe, seit ich dich verlassen, durch Leibesübung viel gewonnen; ich habe viel von meiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt und stelle mich so ziemlich dar. Ebenso habe ich meine Sprache und Stimme ausgebildet, und ich darf ohne Eitelkeit sagen, daß ich in Gesellschaften nicht mißfalle. Nun leugne ich Dir nicht, daß mein Trieb täglich unüberwindlicher wird, eine öffentliche Person zu sein, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken. (V,3)

Zu dieser aus Sicht des elterlichen Hauses betrüblichen Wendung trägt Philine ihr gehörig Teil bei. Ihr graziös-sinnliches Spiel lässt Wilhelm in doppelter Hinsicht seine Vorsätze vergessen, und ausgerechnet der Flatterhaft-Treulosen gelingt es, denjenigen in ihre zweifelhafte Theatergesellschaft und die Umarmungen der Nächte zu locken, der jeder Untreue auf immer Feindschaft geschworen hat.

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Nur scheinheilige Pietisten und Philister können den verführbaren und verführten Helden als einen Gefallenen betrachten, weil – anders als im sentimental-moralischen Roman – im Bildungsroman, wie er programmatisch sich mit dem Wilhelm Meister etabliert, die Verführbarkeit zum Erziehungsprogramm gehört. Philines List ist einfach. Sie macht Wilhelm eifersüchtig, denn obwohl er sich wehrt, ist er ihr und ihrer Welt vom ersten Augenblick an erlegen. Aber sie macht sich ihm auch unentbehrlich, sie pflegt ihn, als er nach einem Überfall der Theatertruppe durch Räuber schwer verletzt wird, und sie verkuppelt ihn geradezu an die Gräfin, als sie auf dem Schloss gastieren. Dann endlich bekommt sie ihn doch. In der Nacht nach seinem größten Theatertriumph mit seiner Einrichtung und Inszenierung von Shakespeares ‚Hamlet‘ spielt sie auf ihre witzige Weise auch einen Geist. Während die Truppe anschließend den Erfolg feiert, schleicht sie sich in Wilhelms Zimmer, und als er, nachdem er sich der Kleider entledigt hatte, etwas angetrunken ins Bett fällt, spielt sie ihre Version der mitternächtlichen Gespensterszene Shakespeares: Der Schlaf wollte sogleich sich seiner bemeistern; allein ein Geräusch, das in seiner Stube hinter dem Ofen zu entstehen schien, machte ihn aufmerksam. Eben schwebte vor seiner erhitzten Phantasie das Bild des geharnischten Königs; er richtete sich auf, das Gespenst anzureden, als er sich von zarten Armen umschlungen, seinen Mund mit lebhaften Küssen verschlossen und eine Brust an der seinigen fühlte, die er wegzustoßen nicht Mut hatte. (V,12)

Philine hat, was sie will, vielleicht sogar ein Kind von ihm; Wilhelm wollte nichts Genaueres wissen, die Ereignisse überstürzen sich. Das Haus, in dem die Schauspieler logieren, brennt ab, und Philine verschwindet mit Friedrich treulos und unsentimental aus dem Zauberkreis des Theaters und des Helden, der sich immer wie „ein rechter Stock“ zu ihr betragen hatte. (II,12) „Die Entfernung Philinens machte“, so der sarkastische Kommentar des Erzählers, „keine auffallende Sensation weder auf dem Theater noch im Publiko. Es war ihr mit allem wenig Ernst; die Frauen haßten sie durchgängig, und die Männer hätten sie lieber unter vier Augen als auf dem Theater gesehen, und so war ihr schönes und für die Bühne selbst glückliches Talent verloren.“ (V,16) In Goethes Werk ist sie eher nicht verloren. Sie ist die gelungenste, lebendigste und

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glücklichste Marginalie in seinem Werk, die sich einen von Goethe bewunderten Satz aus Spinozas Ethik passend gemacht hat: Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht; und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an? (IV,9)

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Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

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Novalis, der bekanntlich Friedrich von Hardenberg hieß, hatte leicht spotten, als er Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre ziemlich abwertend eine „Wallfahrt nach dem Adelsdiplom“ nannte. Wer hat, der hat, und Wilhelm hätte auch gerne das, was andere durch Geburt schon immer hatten: ein Vorrecht, das nicht auf der sozialen Stufenleiter zu erreichen war, sondern nur durch Bildung als Adel des Geistes. Auf dem problematischen Wege des Schauspielerberufs glaubt er sich in harter Selbsterziehung zu einem solchen rundum freien Individuum bilden zu können. Da mutet es wie ein Geschenk des Himmels an, als die Theatertruppe eine Einladung aufs Schloss eines älteren Grafen und seiner entschieden jüngeren Gattin bekommt. Die Herrschaften erwarten den Prinzen und wünschen ihm eine unerwartete Freude zu machen, unerachtet der Tatsache, dass die Theaterleute nur Deutsche und keine Franzosen sind. Die bunte und wilde Theaterwelt und die sogenannte ‚große Welt‘ stoßen dabei nicht immer glücklich aufeinander und geben Wilhelm schnell Einblicke in eine Wirklichkeit, die er bisher eher mit rosaroter Brille gesehen hatte. Schon die Vorstellung der Truppe durch den Direktor Melina verläuft einigermaßen grotesk-komisch. Aber die gewandte Philine vergisst nicht, den Aushilfsdarsteller und Theaterdichter Wilhelm in die Präsentation vor dem gräflichen Paar mit einzubeziehen und ihn als potenziellen ersten Liebhaber bei der Gräfin vorzustellen. Widerwillig lässt sich Wilhelm herbei, ist aber bei einiger Verwirrung schnell vom Liebreiz der Gräfin überwältigt. Ihre Schönheit, Jugend, Anmut, Zierlichkeit und feines Betragen machten den angenehmsten Eindruck auf ihn, um so mehr, da ihre Reden und Gebärden mit einer gewissen Schamhaftigkeit, ja man dürfte sagen Verlegenheit begleitet waren. Auch dem Grafen ward er vorgestellt, der aber wenig acht auf ihn hatte (III,1).

Die Gräfin, nach außen ganz Sitte und Anstand, weiß aber sehr wohl mit der huldreichsten Miene Andeutungen zu machen, noch

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dazu, wo sie den Gatten in Bezug auf den jungen Mann achtlos weiß: „wir sehen uns bald wieder“ ist schon fast ein Versprechen aus ihrem Munde. Wilhelm verleugnete sich zuerst seinen Wunsch, der schönen Gräfin näher zu kommen, durch Gründe allgemeiner Art, wie etwa seiner Verbesserung der Menschenkenntnis und Vermehrung seiner Erfahrungen im Umgang mit der großen Welt, ihrem Leben und ihren Kunstansichten. Als ihn aber der vom Grafen für die Kompagnie abgestellte Baron als einen versierten Theaterdichter zum Lever der Gräfin empfiehlt, will er durch seine Vorlesung bei ihr die größte Ehre einlegen. Die Szene ist ein herrliches Kabinettstück seiner vereitelten Hoffnungen auf einen großen Auftritt als Dichter. Immer wenn Wilhelm sich an der Reihe dünkt, wird er gehindert: einmal vom Friseur, dann durch das Servieren des Frühstücks, dann durch Philine, darauf durch den eintretenden Grafen, der den Tagesplan bespricht, schließlich durch Aufwartung einiger Offiziere. Zu guter Letzt kommt noch ein Galanteriewarenhändler dazwischen, und am Ende wird er unverrichteter Dinge wegkomplimentiert, wobei er durch ein vom kleinen Mohren der Gräfin überreichtes Geschenk gnädig gestimmt werden soll. Hugo von Hofmannsthal hat übrigens für den 1. Akt seines Rosenkavaliers diese Szene neben anderen Vorlagen zum Ausgangspunkt des großen Morgenempfangs der Frau Feldmarschallin, der Fürstin Werdenberg, gemacht. Wilhelm ist enttäuscht, aber er erhält Genugtuung, und zwar durch Philine. Die ist in ihrem Element und weiß sich durch ihre Affenpossen bei der Gräfin und der ganzen Gesellschaft des Hauses beliebt zu machen. Nicht alles läuft bei den Aufführungen in Anwesenheit des Prinzen zu Wilhelms Zufriedenheit ab, aber dafür wurde er „der Gräfin von Tag zu Tag interessanter“. Nur so viel erlaubt sich der Erzähler von Wilhelms Innenleben zu verraten, dass „auch in ihm eine stille Neigung gegen sie aufzukeimen anfing. Sie konnte, wenn er auf dem Theater war, die Augen nicht von ihm abwenden, und er schien bald nur allein gegen sie gerichtet zu spielen und zu rezitieren. Sich wechselseitig anzusehen war ihnen ein unaussprechliches Vergnügen, dem sich ihre harmlosen Seelen ganz überließen, ohne lebhaftere Wünsche zu nähren oder für irgendeine Folge besorgt zu sein.“ (III,8) Was sich so harmlos zeigt, ist ein Flirt über einen Abgrund hin-

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weg, „über die ungeheure Kluft der Geburt und des Standes“ (III,8). Für die Belehrung des Lesers von damals scheint der Hinweis fast überflüssig, für den heutigen Leser ist er deutlich zu markieren. Diejenige, die locker über die Abgründe wechseln konnte, war Philine, die anscheinend sehr selbstlos den Mann, den sie für sich zu erobern gedachte, an die Gräfin empfahl. Sie schwärmt ihr von seinen Tugenden vor und macht sie noch neugieriger. Dann wird Wilhelm von ihr und der zu vielerlei Scherzen aufgelegten Baronesse ins häusliche Kostüm des Grafen gesteckt und in seinem Kabinett platziert. Er ist in einiger Verlegenheit ob der zweifelhaften Maskerade, und in der Tat schlägt das arrangierte Stelldichein mit der Gräfin zunächst auf groteske Weise fehl. Statt der Gräfin erscheint der Graf, der über sich selbst so erschreckt, dass er hinfort in eine seltsame Melancholie verfällt. Da das Kriegsgeschehen, das den Prinzen sein Quartier auf dem Schloss nehmen ließ, vorwärts rückte, wird auch der Abschied gefeiert. Die Gräfin wartet in reicher Aufschmückung auf den Beginn des großen Gastmahles, und, um die Langeweile zu überbrücken, schlägt Philine vor, Wilhelm sein gerade fertiges Manuskript vorlesen zu lassen. Er ist hingerissen von ihr und verliest sich in seiner Zerstreuung ziemlich oft. Als Dank überreicht die Gräfin Wilhelm einen wertvollen Ring, an dem dem Helden ihre eingearbeiteten Haare in seiner Herzensillusion natürlich das Wertvollste sind. Sein Verstummen vor ihr und ihrem Geschenk kommentiert Philine auf ihre schalkhafte Weise. Wenn der Herr Dichter, dem sonst die Worte nicht fehlten, keinen Dank über die Lippen bringe, dann solle er doch wie sie wenigstens pantomimisch seinen Dank ausdrücken. Und als Philine die rechte Hand der Gräfin küsst, ergreift er seinerseits, ihr zu Füssen fallend, die linke, auf die er seine Lippen drückt. Nach einigen Artigkeiten und kleinen Verwegenheiten verschwindet das schelmische Kind Philine und lässt Wilhelm in dieser Lage bei der Gräfin allein zurück. Die Szenerie beschreibt den Beginn einer Liebe, die damit auch ihr Ende findet. Er küßte ihre Hand und wollte aufstehn; aber wie im Traum das Seltsamste aus dem Seltsamsten sich entwickelnd uns überrascht, so hielt er, ohne zu wissen, wie es geschah, die Gräfin in seinen Armen, ihre Lippen ruhten auf den seinigen, und ihre wechselseitigen lebhaften Küsse gewährten ihnen

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eine Seligkeit, die wir nur aus dem ersten aufbrausenden Schaum des frisch eingeschenkten Bechers der Liebe schlürfen. (III,12)

Die kleinen Bitterkeiten im Nachklang dieser Liebe sind eher nebensächlich und fast banal zu nennen. Das Wichtigste in den marginalen Schicksalen von Graf und Gräfin ist die Tatsache, dass die Gräfin ein schöner Vorschein der schwesterlichen Baronesse Natalie ist, die Wilhelm als verwegene junge Reiterin bei einem Raubüberfall hilft und die er am Ende aller Liebeshändel zu seiner Frau gewinnt. Die Wallfahrt zum Adelsdiplom ist zu Ende, aber als Wilhelms Gattin existiert sie in den Wanderjahren nur als Empfängerin seiner Briefe. Besonders lustvoll dürfen wir uns diese Ehe somit nicht vorstellen.

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In dem Wirtshaus auf dem Markt, in dem Wilhelm Meister am Ende seiner Geschäftsreise absteigt, geht es hoch her. Er ist unschlüssig, ob er bleiben soll. Es ist laut, unerträglich laut sogar, und nur der Wohlwollende würde die soeben ankommende Zirkusgesellschaft als lebhaft oder gar als lustig bezeichnen. Als er sich dennoch zum Bleiben entschließt, springt ihm, so der von den Umständen sichtlich animierte Erzähler, auf der Treppe nach seinem Zimmer ein junges Geschöpf entgegen, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte. (II,4)

Es ist ein Mädchen von etwa zwölf bis dreizehn Jahren namens Mignon, das gebrochen Deutsch mit Einschlägen von Französisch und Italienisch sprach. Wilhelm fühlt sich sofort unwiderstehlich zu ihm hingezogen. Er kauft, als er mit ansehen muss, wie der italienische Zirkusdirektor das geheimnisvolle Wesen schlagen will, diesem das Kind für dreißig Taler ab und nimmt es in seine Dienste. Das Mädchen, über dessen Herkunft nichts zu erfahren ist, akzeptiert Wilhelm bereitwillig als neuen Beschützer, als Vater, Freund und heimlicherweise als Geliebten. Wenig später taucht in der Herberge ein alter, bärtiger Mann auf, den der Wirt als einen Sänger und Harfenspieler ankündigt. Er gibt einige Stücke seines Repertoires zum Besten, und wieder ist Wilhelm, wie schon bei Mignon, tief berührt vom Geheimnis eines Menschen, das aus seinen Liedern erahnbar wird. Die rätselhafte romantische Figur schließt sich Wilhelm und Mignon auf dem Weg durch die Theaterwelt an, und solange das seltsame Trio seiner unbewussten symbolischen Bestimmung folgt, halten

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sich die Gefährdungen des Dämonischen und Schicksalhaften in Grenzen. Mignon ist – aber das erfährt der Leser erst sehr viel später aus den Erzählungen ihres Onkels, des Marchese Cipriani, (VIII,9) – das Kind des Harfners aus einer inszestuösen Verbindung mit seiner Schwester Sperata. Friedrich Schlegel nennt die drei in seiner Wilhelm-Meister-Rezension „die heilige Familie der Naturpoesie“. Und tatsächlich ist die Bestimmung zur Poesie der Wesenskern des düsteren Harfners und der mystisch träumerischen Mignon. Ohne die Lieder, die ihnen in den Mund gelegt werden, könnten sie nie wirklich aus dem Vordergrund des Romans in seine Tiefe treten. Mignon ist nicht einfach ob der äußerlichen Gestaltung als ungezähmtes, wildes Italienermädchen die Verkörperung deutscher Italiensehnsüchte, sondern sie konnte nur durch das Lied zur Offenbarung der wunderbar mythischen Sehnsucht nach dem Süden werden, in die sich ein allgemeines Heimweh des Herzens nach jedem fernen Glück ausspricht. Auch der Harfner erzählt in seinen Sehnsuchtsliedern nach Tod und Erlösung von diesem Heimweh. Genau bei dem Stichwort Glück setzt das bekannteste der Mignon-Lieder ein, das schon vor der Italienreise 1782/83 entstand. Goethe hat ihm im Romangefüge eine erzähltechnisch raffinierte Gelenkfunktion zugedacht. Das Lied verweist am Beginn des dritten Buches auf die Zukunft des Trios. Wer es singt, ist bei dem lyrischen Kapiteleinsatz aber keineswegs klar, denn erst Stunden später wird es Wilhelm von Mignon vor der Türe gesungen und auf einer Zither begleitet hören können. Aber Wilhelm sitzt unmittelbar vor dem Einsatz des Liedes, am Ausgang des zweiten Buches, eng umschlungen mit der verzweifelten Mignon, die Wilhelm zu verlieren fürchtet, weil er entschlossen ist, wieder in die väterliche Handelswelt zurückzukehren. Er verspricht ihr aber nach einer zu Tränen rührenden Szene: „Du bist mein! ich werde dich behalten, dich nicht verlassen!“ (II,14) Ob ihm in diesem Augenblick wirklich klar ist, wie Mignon das versteht, darf bezweifelt werden. Sie sagt es, ihrerseits überströmt von einer weichen Heiterkeit auf ihrem Gesicht, ja auch ziemlich missverständlich: „Mein Vater! rief sie, du willst mich nicht verlassen! willst mein Vater sein! – Ich bin dein Kind!“ (II,14) Das Lied wird es dann deutlicher formulieren, indem der Refrain variierend sagt: o mein Geliebter – o mein Beschützer – o Vater. Und

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gleichsam, als hebe das Lied, das den Geliebten für immer in ihre Heimat-Räume ziehen will, unmittelbar an, „fing vor der Türe die Harfe an zu klingen; der Alte brachte seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, sein Kind immer fester in Armen haltend, des reinsten, unbeschreiblichsten Glückes genoß“. Kennst du das Land? wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl? Dahin! Dahin! Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn! Kennst du das Haus? auf Säulen ruht sein Dach, Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach, Und Marmorbilder stehn und sehn mich an: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Kennst du es wohl? Dahin! Dahin! Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn! Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg, In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut, Es stürzt der Fels und über ihn die Flut: Kennst du ihn wohl? Dahin! Dahin! Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn! (III,1)

Wilhelm hat nicht verstanden. Erst wenn Mignon tot ist, wird er dahin ziehn, wo sie geboren wurde, wo ihre Heimat war. Aber das ist jenseits seiner Lehrjahre, und die münden mit seiner Hinwendung zur Turmgesellschaft in Bahnen, die Mignons und des Harfners Todesurteil sind. Mignon hatte das nächtliche erotische Abenteuer Wilhelms mit Philine, das wohl ihrem Wunschdenken zuvorkam und dessen Zeugin sie wurde, im Kontext der wilden Unordnung und der verworrenen Wirtschaft des Theaters einigermaßen verdrängt, aber unter anderen Umständen wird eine vergleichbare Verlusterfahrung zur tödlichen Katastrophe werden. Der Arzt, der ein guter Psychologe ist, wird Wilhelm über den Vorfall zwar spät, aber immerhin aufklären und auf die gefährliche Situation hinweisen.

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Mignon empfand unerhörte Qual, alle die heftigen Empfindungen einer leidenschaftlichen Eifersucht mischten sich [in jener Nacht] zu dem unbekannten Verlangen einer dunkeln Begierde und griffen die halbentwickelte Natur gewaltsam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehnsucht und Erwartung lebhaft geschlagen hatte, fing auf einmal an zu stocken und drückte wie eine bleierne Last ihren Busen, sie konnte nicht zu Atem kommen, sie wußte sich nicht zu helfen, sie hörte die Harfe des Alten, eilte zu ihm unter das Dach und brachte die Nacht zu seinen Füßen unter entsetzlichen Zuckungen hin. (VIII,3)

Wilhelm ist blind für die Liebe Mignons, die die Liebe einer Muse ist, weil sie die Inkarnation, die Allegorie der Poesie selbst ist wie später im Faust II Euphorion. Diese Liebe ist von anderer Qualität als die Liebe sonstiger Frauen, und Wilhelm übersieht Mignon auf dem Wege in die aufgeklärte Turmgesellschaft immer mehr. Goethe nimmt als Autor seiner Bildungsidee diesen Weg des Helden billigend als ein wünschenswertes Ziel in Kauf, und so müssen der Harfner und Mignon sterben. In der Welt der bürgerlichen Ökonomie, der Landvermesser und Großgrundreformer, der Reformpädagogen und Mediziner mit ihren Kategorien von Sauberkeit, von Ordnung und vor allem von Nützlichkeit ist für sie und ihre poetische Existenz kein Platz mehr. In einer jener nächtlichen Szene mit Philine völlig analog nachgebauten Situation, die der Arzt so trefflich analysiert hatte, stirbt die selbstlos-hingebungsvoll liebende Mignon am Herzeleid. Sie kommt, in der vergleichsweise ernüchternden Tageshelle des Turmes ohnehin schon schwer erkrankt, wie von ungefähr gelaufen, als Therese, seine zukünftige Frau, zu Wilhelm ins Zimmer tritt. Er tat einen Schritt gegen sie, sie sprang auf ihn zu und hing an seinem Halse. O meine Therese! rief er aus. / Mein Freund! mein Geliebter! mein Gatte! ja, auf ewig die Deine! rief sie unter den lebhaftesten Küssen. (VIII,5)

Man beachte in dieser poetisierten bürgerlichen Geschichte den Dreiklang: Mein Freund – mein Geliebter – mein Gatte. Er tönt, anders als der Dreiklang im Refrain von Mignons Lied, prosaisch. Das könnte Mignon im Bewusstsein von der Schönheit und vom Geheimnis ihres Textes verschmerzen, was ihr jedoch den Todesstoß versetzt, ist der Verlust Wilhelms, den sie als einen Verrat an ihrer Liebe versteht. Sie kam, sah und stirbt:

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Mignon fuhr auf einmal mit der linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig ausstreckte, fiel sie mit einem Schrei zu Nataliens Füßen für tot nieder. (VIII,5)

Auch Novalis fühlte mit Mignon und auch er empfand das als Verrat Goethes an der Poesie. Er konnte sich nicht genug tun, Goethe dafür zu tadeln. Wilhelm Meister sei eigentlich ein Candide, gegen die Poesie gerichtet. „Wilhelm soll“, so schimpft er, „ökonomisch werden durch die ökonomische Familie, in die er kommt.“ Wilhelm verrät die heilige Familie der Poesie, „ist undichterisch im höchsten Grade, was den Geist betrifft – so poetisch auch die Darstellung ist“. In der Tat, die Bestattungsrituale für Mignon finden in allegorischer Verbrämung im Saal der Vergangenheit statt. Die ökonomische Familienzukunft beginnt als ein Augenblick „des höchsten Glückes“, in dem Wilhelm ausdrücklich nicht „an jene Zeiten“ erinnert werden will (VIII,10), wo er Philine kennenlernte und in den Armen Mignons schon einmal das „reinste unbeschreiblichste Glück genoß“. (II,14) Das Glück in diesem Happy End des Romans ist aber das trügerische Glück Fausts nach seiner Begegnung mit Helena, nach dem Tode von Euphorion, als er sich wie Wilhelm im sicheren Besitz eines Königreiches wähnt. Faust stirbt im Augenblick und aus Wilhelm wird ein lebenslang Entsagender. Goethe stilisierte sich auch als ein Entsagender, aber immerhin blieb ihm zu sagen, was er litt. Die Poetische Natur ist die Wahre – Übrig bleibende.

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Christiane Amalie Louise Becker geb. Neumann 1778–1797

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Als Kind bezauberte sie schon auf der Bühne; mit 13 Jahren verlor sie ihren Vater Johann Christian Neumann, der ein vorzüglicher Schauspieler war und der sie so ausgebildet hatte, dass sie 1791 in das Ensemble des neugegründeten Hoftheaters in Weimar übernommen wurde. Ab da kümmerte sich Goethe als Direktor des Hauses persönlich um ihre weitere schauspielerische Ausbildung. Als 15-Jährige heiratete sie den renommierten Schauspieler Heinrich Becker, dem sie in den Jahren 1794 und 1796 zwei Töchter gebar. Das zweite Kind starb, noch nicht ganz ein Jahr alt, und wenige Wochen danach starb sie selbst am 22. September 1797 an einer tuberkulösen Erkrankung. In den wenigen Jahren ihrer steilen Karriere spielte „Neumanns Christel“, wie sie in Weimar liebevoll genannt wurde, in blutjungem Alter neben den großen dramatisch-tragischen Rollen der Ophelia im Hamlet, der Emilia Galotti von Lessing, der Amalie in den Räubern, der Louise in Kabale und Liebe, der Eboli im Don Carlos und dem Klärchen in Goethes Egmont auch die heiter-komische Partie der Minna von Barnhelm sowie diverse Knabenrollen und sprach einige Theaterprologe und Epiloge. Ihre letzte Rolle war die Fee Euphrosyne in der Zauberoper Das Petermännchen von Joseph Weigl, die Goethe noch im Mai 1797 vor seiner dritten Reise in die Schweiz in Szene gesetzt hatte. Die Nachricht von Christiane Beckers Tod traf ihn unerwartet und hart fernab von Weimar. Das Mädchen war ihm, wie er aus Zürich am 25. Oktober 1797 an den Gymnasialdirektor und ihm keineswegs immer wohlgesonnenen Weimarer ‚Klatschkolumnist‘ Karl August Böttiger schrieb, „in mehr als Einem Sinne lieb“. Als Schauspielerin schienen sich in ihr die besten Seiten von Corona Schröter weiterzubilden; in ihr glaubte der Theaterleiter und Regisseur sich in seinen energischen Bemühungen um Stil und klassische Gesetzmäßigkeit am besten verstanden. Als Mann war er von der entzückenden Munterkeit des Wesens zwischen Mädchen und Knabe, zwischen Kind und Frau hingerissen und

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als Dichter gab ihm ihre Anmut Anregung, seine Mädchen und Frauen nach ihr und ihren Eigenschaften zu bilden. „Liebende“, so meint Goethe in dem Brief aus Zürich, „haben Thränen und Dichter Rhythmen zur Ehre der Todten, ich wünschte, daß mir etwas zu ihrem Andenken gelänge.“ Im Juni 1798 war dann das ‚Totengedenken‘ auf Christiane Becker abgeschlossen. Goethe besann sich auf ihre letzte Rolle, besann sich aber auch darauf, dass der Name der Fee in der Zauberoper natürlich ältere Bedeutungsschichten enthält, die das Wiener Volkstheater eher ignorierte. Euphrosyne ist der Name einer der drei Grazien, die Zeus mit Euronyme gezeugt hatte. Die Anmut und Munterkeit des Mädchens erhält in der Göttin des Frohsinns die mythologische Folie, und im Kontrast zur hellen Grunddisposition der Figur gestalten sich die elegische Erinnerung und der Trauergesang umso eindringlicher. Im letzten Abendlicht über den eisigen Gipfeln des Gebirges tritt dem Ich der Elegie aus einer glühenden Wolke das Bild Euphrosynes entgegen. Sie wendet sich an ihn, nennt den Wanderer Mann, Lehrer, Freund und Vater und glaubt sich durch ihn noch immer erkannt. Ja, schon sagt mir gerührt dein Blick, mir sagt es die Träne: Euphrosyne, sie ist noch von dem Freunde gekannt.

Sie ruft in ihm die Bilder vergangener, unwiederbringlicher Tage zurück, in denen sie beide auf den Brettern des Theaters – durch die Liebe und durch die Kunst – vereilenden Werten nicht Dauer, aber doch Größe verliehen haben. Die erinnerte Probenszene, die eine Sterbeszene aus einem Shakespeare-Stück ist, evoziert eine zweite Szene jenseits der Theaterrealität, eine Szene von liebender Unschuld zwischen einem Mann und einem Mädchen, das gerade einen toten Knaben spielt. Freundlich faßtest du mich, den Zerschmetterten, trugst mich [von dannen,

Und ich heuchelte lang, dir an dem Busen, den Tod. Endlich schlug die Augen ich auf und sah dich, in ernste, Stille Betrachtung versenkt, über den Liebling geneigt. Kindlich strebt ich empor und küßte dir dankbar die Hände, Reichte zum reinen Kuß dir den gefälligen Mund.

Goethe verhehlte nie, dass er sich zu Christiane Becker hingezogen fühlte. Aber wie die „stille Betrachtung“ über der Leiche in

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der Theaterszene auch zeigt, Goethe sieht ihrer beider Verhältnis doch eher in dezenter Zurückhaltung des Älteren gegenüber der viel Jüngeren, sieht sie doch eher als eine Tochter, die ihn und nicht er sie überleben soll. Weil aber im Falle ihres so unerwarteten und frühen Todes das Schicksal die Ordnung des Lebens verkehrt hat, bittet sie ihn, Vater, Lehrer, Freund, kurz den Dichter, um ein rühmendes Gedenken, damit seine Gesänge an ihr vollenden, was ihr das Leben versagt hat. Der Dichter tut es, erfüllt den Wunsch einer zur Vollendung ihres Lebens nötigen Totenklage. Aber er tut es, indem nicht er selbst die Rühmung ausspricht, sondern indem er den Wunsch in vollendeter Gestaltung in ihren eigenen Mund legt: Einen Wunsch nur vernimm, freundlich gewähre mir ihn: Laß nicht ungerühmt mich zu den Schatten hinabgehn! Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod. Denn gestaltlos schweben umher in Persephoneias Reiche, massenweis, Schatten, vom Namen getrennt; Wen der Dichter aber gerühmt, der wandelt, gestaltet, Einzeln, gesellet dem Chor aller Heroen sich zu. Freudig tret ich einher, von deinem Liede verkündet, Und der Göttin Blick weilet gefällig auf mir. Mild empfängt sie mich dann und nennt mich; es winken [die hohen Göttlichen Frauen mich an, immer die nächsten am Thron. Penelopeia redet zu mir, die treuste der Weiber, Auch Euadne, gelehnt auf den geliebten Gemahl. Jüngere nahen sich dann, zu früh Heruntergesandte, Und beklagen mit mir unser gemeines Geschick. Wenn Antigone kommt, die schwesterlichste der Seelen, Seh ich als Schwestern sie an und trete würdig zu ihnen; Denn der tragischen Kunst holde Geschöpfe sind sie. Bildete doch ein Dichter auch mich; und seine Gesänge, Ja, sie vollenden an mir, was mir das Leben versagt.

Neben dem poetischen Andenken an die Tote war man in Weimar auch um ein kleines Denkmal bemüht, das im Frühjahr 1800 auf dem Rosenhügel im Park an der Ilm aufgestellt wurde. Heute steht es auf dem Historischen Friedhof der Stadt, obwohl die Schauspielerin auf dem Friedhof bei der Jakobskirche begraben wurde.

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Hermann und Dorothea (1797)

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„Man will Wahrheit, man will Wirklichkeit und verdirbt dadurch die Poesie.“ Was Goethe im Gespräch mit Johann Peter Eckermann am 27. Dezember 1826 kritisiert, gilt von der Lotte im Werther bis zur Helena im Faust. Die Kritik war im Speziellen aber auf Hermann und Dorothea gemünzt. Goethe verdross die Nachfrage nach der Stadt am Rhein, die in dem zwischen dem 11. September 1796 und dem 8. Juni 1797 entstandenen Epos gemeint sein könnte. Jede beliebige sei zu denken, meinte der Dichter, der den Stoff aus einer Geschichte von 1731 gezogen hatte. In ihr ging es um ein protestantisches Mädchen, das aus Glaubensgründen von Salzburg nach Ostpreußen vertrieben wurde. Aus seinen Erfahrungen anlässlich der Teilnahme an der Kampagne in Frankreich und vor allem aus den Erfahrungen bei der Belagerung von Mainz, wo er die Flucht der linksrheinischen Deutschen vor den anrückenden Franzosen nach Osten hautnah miterleben konnte, verlegte er die Handlung der alten Kalendergeschichte in die rechtsrheinische Gegenwart von 1796. Gleichzeitig mit der Verlegung der Vorlage formte Goethe die erbauliche Anekdote aus Salzburg in ein modernes Epos des bürgerlichen Lebens um, in eine Erzählung, die in klassischer Form und Sprache ein buntes Panorama des alltäglichen Lebens, seiner Personen und Situationen entwarf. Sosehr das äußere Geschehen durch die Wirren der Revolution, die politische Umwälzung der Zeit, durch Flucht und Vertreibung dramatisch bestimmt ist, so sehr gerät es im Inneren zu einer idyllischen Beschreibung behaglich-biederen Lebens in einem äußerst abgehobenen literarischen Rahmen. Aber gerade der scheinbar dem holzschnittartigen Genre widersprechende Duktus des der antiken Verskunst abgerungenen Hexameters ergab treffliche Wendungen und Sentenzen und hinterließ, bald zum deutschen Hausbuch geworden, viel Sprichwörtliches. Die Neunzahl der Gesänge, in die das Buch geteilt war, und die nach der Neunzahl der Musen benannt wurden, störte da nicht, auch wenn mancher sich identifizierende

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und mitfühlende Leser schon bei der Aussprache ihrer Namen vermutlich ein wenig ins Stolpern geriet: Melpomene, Polyhymnia, Terpsichore oder Kalliope. Die Namen standen dem Erfolg des Buches nicht im Wege, weil es die rührende Geschichte zweier Menschen erzählt, wie sie durchschnittlicher in positivem Sinne nicht sein konnten. Hermann, der tüchtige, aber schüchterne Sohn des rechtschaffenen Wirts zum Löwen, den die Mutter mit milden Gaben für die notleidenden Flüchtlinge vor der Stadt losschickt, lernt dort die junge und hilfsbereite Dorothea kennen; sie ist, es versteht sich fast von selbst, hübsch, aber arm, und Hermann ist augenblicklich Feuer und Flamme für das Mädchen. Kaum dass er zu Hause ist, erklärt er, dass er unerachtet bereits für ihn als künftige Ehefrau ins Visier genommener Mädchen nur diese Eine zu heiraten gedenkt. Mit Müttern lässt sich da immer leichter reden, aber der Vater sträubt sich doch erheblich gegen die Wahl des Sohnes. Das geht so zwischen Traurigkeit des Sohnes, Widerspenstigkeit des Vaters und mütterlichem Verständnis hin und her. Hermann kämpft um seine Braut, die aber noch keine Ahnung von seiner Liebe hat. Es drohen Familienzerwürfnisse, weil Hermann trotzig von zu Hause weg will. Aber natürlich ist so ein Empfindsamer nicht für die Soldaten geboren, und die Mutter kann ihm diese Idee auch schnell ausreden, indem sie den Pfarrer für des Sohnes Auserwählte einzuspannen gedenkt. Der Geistliche Herr wird mit dem Apotheker sofort auf Brautschau geschickt. Die Auskünfte, die sie erhalten, könnten nicht besser ausfallen; man rühmt des Mädchens praktische Veranlagung, ihre selbstlose Hilfsbereitschaft und ihren Mut, sodass die Brautwerber Hermann erlauben, sich selbst mit seinem Liebesanliegen an das Mädchen zu wenden. Alles geht nach Wunsch, und beide treffen am Brunnen zu einem traulichen Gespräch zusammen: Hermann voll Liebe im Herzen, das Mädchen verständigen Blicks. Aber er bringt sein Anliegen nicht über die Lippen, und statt als Braut bringt er sie als Magd und Dienerin nach Hause. Dennoch hat es beim Aufbruch vom Brunnen gefunkt, auch wenn es noch kleine Umwege geben wird. Also standen sie auf und schauten beide noch einmal In den Brunnen zurück, und süßes Verlangen ergriff sie. (VIII,106 ff)

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Zunächst geht ihr Weg zu Fuß nach Hause und der Dichter ist sehr bemüht, sie vor Ankunft doch noch zum Paar zu vereinen. „Hermann und Dorothea“ ist über den achten Gesang gesetzt, und das herrliche Paar führt ein artiges Gespräch, das im Kern doch aneinander vorbeigeht. Sie fragt eher dienstlich beflissen: ‚Aber wer sagt mir nunmehr: wie soll ich dir selber begegnen, Dir, dem einzigen Sohn und künftig meinem Gebieter?‘

Er antwortet zweideutig verliebt; dabei wäre die Situation wie gemacht für ein Geständnis: Also sprach sie, und eben gelangten sie unter den Birnbaum. Herrlich glänzte der Mond, der volle, vom Himmel herunter; Nacht war’s, völlig bedeckt das letzte Schimmern der Sonne. Und so lagen vor ihnen in Massen gegeneinander Lichter, hell wie der Tag, und Schatten dunkeler Nächte. Und es hörte die Frage, die freundliche, gern in dem Schatten Hermann, des herrlichen Baums, am Orte, der ihm so lieb war, Der noch heute die Tränen um seine Vertriebne gesehen. Und indem sie sich nieder ein wenig zu ruhen gesetzet, Sagte der liebende Jüngling, die Hand des Mädchens ergreifend: ‚Laß dein Herz dir es sagen, und folg ihm frei nur in allem!‘ Aber er wagte kein weiteres Wort, so sehr auch die Stunde Günstig war; er fürchtete, nur ein Nein zu ereilen (VIII,50f.).

Es gibt da einen Ring an ihrem Finger, der ihm Angst macht, und ganz unbegründet war sie nicht. Sie trägt den schlichten Schmuck zum Gedenken an ihren in den revolutionären Kämpfen in Paris umgekommenen Bräutigam. Mit Worten kann der unbeholfen schüchterne Freier die Situation nicht klären, aber auch anderweitige Gelegenheiten, die ihm der Dichter zu einem Geständnis bietet, vermag er zögerlich nicht zu nutzen. Von Ferne sehen sie schon das erleuchtete Haus, aber beim Gang den Weinberg hinunter strauchelt das Mädchen und droht zu stürzen. Eilig streckte gewandt der sinnige Jüngling den Arm aus, Hielt empor die Geliebte; sie sank ihm leis auf die Schulter, Brust war gesenkt an Brust und Wang’ an Wange. So stand er, Starr wie ein Marmorbild, vom ernsten Willen gebändigt, Drückte nicht fester sie an, er stemmte sich gegen die Schwere. Und so fühlt’ er die herrliche Last, die Wärme des Herzens Und den Balsam des Atems, an seinen Lippen verhauchet (VIII,91 f.)

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Den letzten Vers, so viel Missbilligung Goethescher Verskunst darf sein, lassen wir lieber weg. Er würde, sicherlich nicht ironisch gemeint, lauten: Trug mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes. (VIII,98)

Solche Ausrutscher sind historisch bedingt, und historisch bedingt sind auch die in Goethes Gedicht kanonisierten Werte und Normen der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem patriarchalischen Familiensinn und den doch heute sehr klischeehaft anmutenden geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen. Das 19. Jahrhundert hat sie geliebt und sie auch noch patriotisch bis nationalistisch überhöht und gefeiert. Aber spätestens nach dem Zusammenbruch der ständisch-bürgerlichen Wertekultur im 20. Jahrhundert verflog die Begeisterung für Goethes nach dem Werther erfolgreichstes Buch zu seinen Lebzeiten. Es ist etwas schade, weil mit der Spreu der Bedingtheiten auch der Weizen der Schönheiten sich aus dem Auge verlor, und vielleicht brauchen Dorothea und Hermann auch nur eine kleine Verschnaufpause wie die volkstümlich überstrapazierten, aber gleichwohl wunderschönen Balladen der Klassiker. Um eine kleine Rast bittet auch Dorothea, damit ihr schmerzender Fuß, den sie fast fallend verletzte, sich wieder ein wenig erholen könne. Es dünkt ihr für die Eltern ein schlechtes Zeichen, wenn beim Eintritt ins Haus die neue Magd mit hinkendem Fuße erscheint. Fast hätte sie Recht bekommen, denn es ergeben sich, obwohl alle bis auf Dorothea beim Einritt ins Haus wissen, was Sache ist, doch einige missliche und fast kränkende Verwirrungen, vor allem vonseiten des Vaters. Mithilfe des redegewandten Pfarrers und mit übernatürlichem Beistand der für das Finale angerufenen Musen können sie aber glücklich beigelegt werden. Dorothea muss erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass ihre Anwerbung als Magd eine verstohlene Brautwerbung war, die Hermann nun endlich doch über die Lippen bringt. Die Musen wie die Eltern wie der Pfarrer schauten ihn mit Erstaunen an. Und es schaute das Mädchen mit tiefer Rührung zum Jüngling Und vermied nicht Umarmung und Kuß, den Gipfel der Freude, Wenn sie den Liebenden sind die lang ersehnte Versichrung Künftigen Glücks im Leben, das nun ein unendliches scheinet. (IX,222f.)

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Der Rest des Gedichts ist – historisch bedingt – eher Schweigen, auch wenn es ein Rest ist, den Goethe mit vielen Körnchen würzigen Salzes abgeschmeckt hat, wie zum Beispiel: Nur ein Fremdling, sagt man mit Recht, ist der Mensch hier auf Erden. (IX,269)

– oder Liebe die Liebenden rein und halte dem Guten dich dankbar. (IX,285)

– oder Du bist mein; und nun ist das Meine meiner als jemals. (IX,311)

Für diejenigen, die beim Nachwürzen den schönen Rest von einer wiederhergestellten harmonischen bürgerlichen Ordnung nach den Wirren der Revolution patriotisch-nationalistisch versalzen haben, ist Goethe nur sehr bedingt verantwortlich zu machen.

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Henriette Caroline Friederike Jagemann nobilitierte Frau von Heygendorff 1777–1848

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In Goethes Tagebuch findet sich zum 28. Januar 1797 der harmlos klingende Eintrag: „Früh. Contrackt mit Mlle Jagemann.“ Mit der routinemäßigen Vertragsunterzeichnung begann für Goethe ein zwei, respektive drei Jahrzehnte währendes Verhältnis mit einer Frau und Künstlerin, das nie zur Routine wurde. Es blieb zeitlebens konfliktbeladen und voller Stolpersteine. Und noch fataler: Caroline Jagemann wurde nicht nur Goethes Problem Nummer eins am Weimarer Theater, sondern sie belastete auch entschieden sein Freundschaftsverhältnis zu Herzog Carl August. – Wer war diese Frau, die dem arrivierten Mann des Herzogs mit seinen vielen Sonderrechten gefährlich werden konnte? Mademoiselle Jagemann, frisch engagiert als Hofsängerin und Hofschauspielerin auf Lebenszeit, war drei Tage vor Vertrags­ unterzeichnung gerade 20 Jahre alt geworden. Sie kam vom Nationaltheater in Mannheim zurück nach Weimar, wo sie als Tochter von Anna Amalias Hofbibliothekar Christian Joseph Jagemann geboren worden war. Am 5. Februar sang sie, so der nächste Eintrag in Goethes Tagebuch, „zum ersten male bey Hofe“. Der Eindruck, den das zierliche Mädchen hinterließ, muss vorzüglich gewesen sein, und auch als sie am 18. Februar im Hoftheater in Paul Wranitzkys Oper Oberon, König der Elfen debütierte, hat sie beim Publikum, allen voran bei der Weimarer Männerwelt, großen Eindruck hinterlassen. „Ehemänner gedachten ihrer Vorzüge mit mehr Enthusiasmus, als den Frauen lieb war, und gleicherweise sah man eine erregbare Jugend hingerissen“, kommentierte Goethe in den Tag- und Jahresheften 1801. Unter die erregbare Jugend reihte sich Jahre später ausgerechnet der erklärte Frauenfeind Arthur Schopenhauer. Mit knapp 20 Jahren hat er Caroline Jagemann 1809 auf der Bühne gesehen und ist ihr im Salon seiner Mutter begegnet. Es hat sich ein Liebesgedicht auf die Künstlerin erhalten – sie erfuhr davon natürlich nie etwas – und eine spontane Äußerung gegenüber seiner Mutter: „Dieses Weib würde ich heimführen und wenn

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sie sich Steine klopfend an der Landstraße fände.“ Unter den Ehemännern aber fand sich kein Geringerer als der Gatte der Herzogin Louise, Herzog Carl August persönlich: Er war wie schon bei Corona Schröter ganz besonders von ihren Vorzügen begeistert und mit um die vierzig just im rechten Alter, und er litt entsetzlich in seiner Standesehe. Er machte die Künstlerin, deren Leistungen Goethe ohne Einschränkungen bejahte, 1802 zu seiner auch durch die Herzogin Louise anerkannten Nebenfrau. Er hatte drei Kinder mit ihr, adelte sie am 25. Januar, ihrem 32. Geburtstag, 1808 zu einer Frau von Heygendorff, schenkte ihr ein Rittergut und eine Stadtwohnung und brachte durch diese Vorzugsstellung Goethe als Theaterleiter in arge Verlegenheiten. Der Widerspenstigen Zähmung sollte ihm nie gelingen. Über ihren Intrigen demissioniert er am 13. April 1817 als Theaterdirektor; die Freundschaft zwischen Fürst und Dichter hält der Zerreißprobe zwar notdürftig stand, aber als der Herzog 1828 stirbt und die Jagemann ziemlich fluchtartig das ihr mittlerweile feindselig gesinnte Weimar verlässt, tritt eine Frau aus Goethes Leben, der er nicht gewachsen war. Weder als Person noch als Autorität konnte er je ihre Anerkennung erringen; seine vielbewunderte Geschmeidigkeit im Umgang mit Frauen stieß sich hart an ihrer Wirklichkeit. Goethe hatte sich mit den Jahren seiner klassischen Wende im täglichen Theaterbetrieb zu einer recht pedantischen Autorität entwickelt, die vom Ensemble respektiert wurde. Aber genau dieses Ensemble wollte der Jungstar nicht anerkennen. Es kam ihr provinziell vor; sie sah sich umgeben von in ihren Augen bescheidenen Begabungen und sie belustigte sich über die kärglichen Bedingungen des Betriebs. Ihre Sonderrolle betonend, wollte sie nicht nur durch ihr Talent wahrgenommen werden, sondern auch mit ihren Vorstellungen von einer professionellen Bühne, wie sie sie in Mannheim kennengelernt hatte. Da sich das mit Goethes Reglement nicht in Einklang bringen ließ, hätte sie sich vermutlich bald um einen neuen Kontrakt anderweitig umgesehen. Der Konflikt wurde aber, da sie verständlicherweise nicht von der sich anbahnenden Verbindung zum Herzog lassen wollte, zum unerfreulichen Dauerbrenner. Sie denunzierte die Kolleginnen und Kollegen einer sklavischen Unterwürfigkeit und Goethe der Willkür und des Despotismus. Hier rächte sich zum ersten Mal in

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auffälliger Weise, dass Weimar eben eine sehr geschlossene und mithin nicht sehr konfliktfähige Gesellschaft war. Von allem Anfang an waren Renitenz und Krach angesagt. Sie wollte sich nicht in das Ensemble fügen, in dem sie sowohl in großen Opernrollen als auch in den großen Sprechrollen des Schauspiels brillierte. Durch ihre sehr persönliche Charakterisierungskunst füllte sie als Sängerin die Rolle der Konstanze in Mozarts Entführung aus dem Serail ebenso trefflich aus wie der die Elisabeth in Schillers Maria Stuart. Sie konnte als Jungfrau von Orleans überzeugen – zunächst allerdings mit einem Vorbehalt: als Mätresse des Herzogs schien sie nicht die ideale Besetzung für diese Rolle – und als Donna Elvira im Don Giovanni. Ihr Spektrum reichte von der zarten Thekla in Schillers Wallenstein über die Eleonore in Goethes Tasso bis zur Lady Macbeth. Ihr Selbstbewusstsein war groß, und obwohl es kein Rollenmonopol geben sollte, holte sie sich, was ihr behagte, und wies Aufgaben zurück, die sie als lästige Pflichten empfand. Gegen Goethes literarisch-klassisches Theaterspiel, seine Prinzipien der Regie und der Ausstattung opponierte sie offen, und da sie das Ohr des Herzogs, des obersten Dienstherren hatte, fielen ihren Intrigen gegen die Intendanz Goethes in regelmäßigen Abständen diverse Kollegen zum Opfer. 1801 erreichte sie ob unterschiedlicher Auffassungen der musikalischen Tempi die Entlassung des verdienten Hofkapellmeisters Johann Friedrich Kranz, und zusammen mit dem Bassisten Strohmeyer gelang ihr 1808 die Ablösung der Oper von Goethes Oberleitung. Goethe schmerzte der Verzicht zwar enorm, aber er befreite ihn vorerst auch ein wenig von dem nervenaufreibenden Konflikt mit der eigenwilligen Künstlerin. Die Details sind Fußnoten der Theatergeschichte. Aber Goethe hat sich getäuscht. Der Dauerstreit nimmt kein Ende, nicht zuletzt deshalb, weil Caroline Jagemann sich ja nicht aus dem Schauspielbereich zurückzieht. Sie klammert sich mit dem Nachlassen ihrer musikalischen Kraft an lohnende Sprechrollen, in denen sie ihre Talente noch immer vorteilhaft ans Publikum bringen kann. Insofern bleibt das Verhältnis Goethes zu Caroline Jagemann weiterhin gespannt, und er begegnet der nunmehrigen Freifrau von Heygendorff ab 1809 mit noch steiferer Höflichkeit. Zwar besucht er gelegentlich pflichtschuldigst ihre in ihrem Weimarer Haus stattfindenden Geselligkeiten, aber es bleibt bei wechselseitigen Animositäten.

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Nach dem Tod von Goethes Frau Christiane im Jahr 1816 – die Jagemann soll sie auf dem Sterbebett besucht haben –, die lange Jahre mit großem Geschick Goethes guter Geist, sein verlängerter Arm und ein ausgleichendes Korrektiv zwischen seiner Theaterleitung und den Schauspielern war, empfindet er die Hoftheaterbürde immer belastender. Er versucht, sie auf geziemende Weise loszuwerden. Der lang gehegte Plan blieb ihm verwehrt: Er, der Hunde nicht leiden konnte, muss wegen eines Hundes auf der Bühne demissionieren. Die Jagemann hat definitiv gewonnen. Er räumt das Feld. Obwohl Goethe in Paragraph 10 seiner Theatergesetze den Auftritt von Hunden auf der Bühne – „Auch dürfen keine Hunde auf der Bühne erscheinen“ (aus welchen Gründen auch immer!) – schon vor Jahren verboten hatte, setzte Caroline Jagemann das mit erheblicher Sensation auf den Bühnen von Wien, Paris und London gespielte Stück Der Hund des Aubri in der Übersetzung von Ignaz Franz Castelli für den 12. April auf den Spielplan. Goethe weilt in Jena und der Herzog hat das Spektakel abgesegnet und das Malheur billigend in Kauf genommen. Goethe legt seine Amtsgeschäfte im Zorn und voller Empörung nieder. Der Herzog nimmt den Rücktritt am 13. April 1817 als einen Wunsch um Entlassung an. Die Verstimmung des Geheimrats ob seiner Brüskierung und der unwürdigen Verabschiedung nach seiner mehr als vierzigjährigen Bemühung um das Weimarer Theater hält lange an und erhält erneut Nahrung, als nach dem Theaterbrand vom März 1825 der geplante Neubau mit den von Goethe angeregten Plänen zugunsten der Vorschläge des Favoriten der Jagemann verworfen werden. Zur Feier der Genesung Goethes von einer schweren Herz­ beutelerkrankung gibt es aber einen späten Versöh­nungs­versuch. Die neue Oberleitung bestimmte zur Festaufführung Goethes Schauspiel Torquato Tasso, in dem Caroline von Heygen­ dorff, mittlerweile eine alternde Dame, die Prinzessin spielte. Anstatt wie im Stück geschrieben, der Büste Vergils oder der des Ariost einen Lorbeerkranz aufzusetzen, schmückte die Prinzessin die zusätzlich aufgestellte Büste Goethes mit dem Kranz und sprach einige Huldigungsverse. Leider war der Geehrte nicht anwesend, sodass der Kranz bei einem Hausbesuch nach der Vorstellung am 22. März 1823 persönlich zugestellt werden musste. Goethe notiert im Tagebuch reichlich nüchtern: „Abends Hofrath Meyer.

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Allein. Später Frau von Heygendorff, den Kranz aus der heutigen Vorstellung des Tasso bringend. Dazu die Kinder. Alle von der guten Darstellung des heutigen Abends rühmlich erzählend.“ Krankheit mag ein Grund gewesen sein, warum der zu Ehrende nicht erschienen war, aber Goethes Interesse an den Aktivitäten seiner Nachfolgerin waren schon lange erloschen. Nur selten besuchte er das Hoftheater, zumeist in Begleitung seiner Schwiegertochter Ottilie. Die Ära seiner Nachfolgerin ging ohnehin bald und überraschend schnell zu Ende. Am 11. Juni 1828 spielte Caroline Jagemann noch einmal die Lady Macbeth. Es war, sie konnte es nicht wissen, ihre letzte Vorstellung in Weimar. Am 14. Juni starb Carl August auf der Rückreise von einem Berlinbesuch auf Schloss Graditz bei Torgau. Der Nachfolger des Großherzogs, sein ältester Sohn Carl Friedrich, und dessen Frau Maria Paulowna teilten die Begeisterung des Vaters beziehungsweise des Schwiegervaters für die Jagemann eher nicht. Diese verließ sofort die Bühne und ihren Wirkungs- und Herkunftsort Weimar für immer. Zwanzig Jahre waren ihr als Frau von Heygendorff, geb. Jagemann, außerhalb Weimar noch geschenkt. Sie brachte sie teils in München, teils in Berlin und in Dresden zu. Dort starb sie am 10. Juli 1848 und wurde auf dem Trinitatisfriedhof begraben. In ihren Erinnerungen, die sie als Rechtfertigung für sich und für ihre und Carl Augusts Söhne schrieb, stellt sie die Geschichte ihres Verhältnisses zu Goethe dar, und gerecht abwägend wird man sagen müssen, dass sie nicht in jedem Falle im Unrecht war. Den Rücktritt Goethes von der Theaterleitung 1817 kommentiert sie ausführlich und resümiert keineswegs abschätzig: Der Abgang Goethes vom Theater war in einem Alter, das den aufreibenden Anstrengungen nicht mehr gewachsen war, eine sehr natürliche Sache, das Auftreten Dragons das Satyrspiel nach pathetischem Hauptstück; so bald der Vorhang gefallen war, hatte der Hund seine Rolle ausgespielt, das unvergängliche Verdienst des Dichters um das Theater bleibt bestehen, so lange ein solches existiert.

Das Theater, so erfahren wir von einem Mitwirkenden, „war überfüllt, das Publikum klatschte lebhaften Beifall und rief am Schlusse Karsten [den Wiener Schauspieler mit dem dressierten weißen Königpudel „Nero“] heraus, der den Pudel an einer Schnur mit sich führte“.

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Ihren eigenen Abgang von der Bühne und von Weimar stellt sie in einem Brief an den sie verehrenden Großherzog Georg von Mecklenburg-Strelitz am 18. August 1834 so dar: Ich wußte neuerdings [also nach Carl Augusts Tod] nicht, wohin ich mich wenden sollte, als der König von Bayern mir durch eine aus Brückenau kommende Dame sagen ließ, er werde mir den Aufenthalt in München angenehm machen, wenn ich dort meinen Wohnsitz aufschlagen wolle. Ich glaubte, den Ruf des Geschicks zu vernehmen, und beschloß, ihm zu folgen. Ich ordnete meine weimarischen Verhältnisse, ich möchte sagen können, so gut als möglich. Wie in diesen Tagen der große Goethe sich klein benahm, wäre eine passende Unterschrift für ein Bild, das seine steife Gestalt neben meiner erstaunten und indignierten Person vorstellte.

Der „große Goethe“ war wie schon nach Schillers Tod, wie beim Tod seiner Frau, wie nach des Herzogs Ableben nicht zur Beerdigung erschienen.

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Die natürliche Tochter (1803/04)

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1823 ruft sich Goethe in den Tag- und Jahresheften für das Jahr 1799 einen Plan in Erinnerung, der seine Werkreihe Der Groß-Cophta (1792), Der Bürgergeneral (1793) und Die Aufgeregten (1793/1817) fortsetzen sollte: Die Memoiren der Stephanie von Bourbon Conti erregen in mir die Konzeption der Natürlichen Tochter. In dem Plane bereitete ich mir ein Gefäß, worin ich alles, was ich so manches Jahr über die französische Revolution und deren Folgen geschrieben und gedacht, mit geziemendem Ernste niederzulegen hoffte.

„Mit geziemendem Ernst“ hat Goethe dann in den Jahren 1802 und 1803 ein fünfaktiges Trauerspiel in feierlichem Blankvers verfasst, das durchaus kein Fragment und doch ein Torso geblieben ist. Was zur Französischen Revolution zu sagen war, ist nur sehr unvollständig in dem 1803 in Weimar uraufgeführten und in Cottas Taschenbuch auf das Jahr 1804 unter dem Titel Die natürliche Tochter erschienenen Drama niedergelegt und sollte in einer Fortsetzung, gegebenenfalls in einer Trilogie, erst wirklich greifbar werden. Als ein solcher Torso ist das Trauerspiel natürlich sehr rätselhaft geblieben, seinem Gegenstand gegenüber disproportional und für viele Interpretationen offen und allemal für sehr gegensätzliche Lesarten gut. Für eine Irritation sorgt schon der Schluss des Trauerspiels, das mit einer eigenartigen Hochzeit endet. Mit großer Geste reicht die junge, kühne, aristokratische Titelheldin ihrem zukünftigen Gatten die Hand zum Jawort: Daß ich empfinde, welch ein Mann du bist, Gerecht, gefühlvoll, tätig, zuverlässig: Davon empfange den Beweis, den höchsten, Den eine Frau besonnen geben kann! Ich zaudre nicht, ich eile, dir zu folgen! Hier meine Hand: wir gehen zum Altar. (2950 f.)

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Bei allem „geziemendem Ernst“ und allem hier zur Schau gestelltem Pathos: Eugenie, die hochwohlgeborene natürliche Tochter eines Herzogs, nach dem Vorbild der hochstaplerischen bourbonischen Prinzessin Stephanie Louise de Bourbon-Conti und ihres in ein europaweites Spionagesystem verwickelten Vaters, heiratet nur einen bescheiden-bürgerlichen, doch sehr noblen Gerichtsrat. Die Ehe, die hier geschlossen wird, ist eher eine Scheinehe, weil nur zu ihrer Rettung eingegangen. Eugenie hatte sich für ihr Jawort deshalb selbstgefällig ausbedungen, mit dem Gerichtsrat wie Bruder und Schwester leben zu dürfen, am liebsten sogar solitär, getrennt von Bett und Tisch, als Einsiedlerin. Sie will sich entsagungsvoll für höhere Aufgaben, von denen wir leider nichts mehr erfahren werden, aufsparen: Ein edleres Gefühl – laß mich’s verbergen! Hält mich am Vaterland, an dir zurück. Nun sei’s gefragt: Vermagst du, hohen Muts, Entsagung der Entsagenden zu weihen? Vermagst du zu versprechen, mich als Bruder Mit reiner Neigung zu empfangen? mir, Der liebevollen Schwester, Schutz und Rat Und stille Lebensfreude zu gewähren? (2885 f.)

Er gesteht es schweren Herzens zu und versteht eigentlich nicht, warum sie mit solchen Forderungen sein aufrichtiges und mutigstolzes Angebot ablehnt, das ihr im Privaten eine Zuflucht anzubieten wagt, die es selbst mit dem König aufnimmt: Im Hause, wo der Gatte sicher waltet, Da wohnt allein der Friede, den vergebens Im Weiten du, da draußen, suchen magst. Unruh’ge Mißgunst, grimmige Verleumdung, Verhallendes, parteiisches Bestreben, Nicht wirken sie auf diesen heil’gen Kreis! Vernunft und Liebe hegen jedes Glück, Und jeden Unfall mildert ihre Hand. Komm! rette dich zu mir! Ich kenne mich! Und weiß, was ich versprechen darf und kann. […] Auf ewig bist du mein, versorgt, beschützt. Der König fordre dich von mir zurück: Als Gatte kann ich mit dem König rechten. (2179 f.)

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Das Angebot des Gerichtsrats hat ein weniger prätentiöses Pendant in Goethes Biographie. Er ist in nachitalienischer Zeit des Hofes und der Kriegsdienste gegen die linksrheinische Revolution überdrüssig und imaginiert sich ein Exil, ein Refugium nach dem Maßstabe seiner poetischen Figur. An Friedrich Heinrich Jacobi schreibt er am 19. August 1793: „Mein herumschweifendes Leben und die politische Stimmung aller Menschen treibt mich nach Hause, wo ich einen Kreis um mich ziehen kann, in welchem ausser Lieb und Freundschaft, Kunst und Wissenschaft nichts herein kann.“ Auch bei ihm soll der König, der in Weimar nur anders heißt, kein Zutritts- und Zugriffsrecht mehr haben. Es war eine Illusion, und es wird bei Eugenie vermutlich nicht anders sein, wenn auch aus anderen Gründen. Das uneheliche, nie legitimierte stolze Wesen rettet sich zu dem kleinen Gerichtsrat, zu einem Gatten, dem sie, wie sich selbst, ein doppelt entsagungsvolles Leben abverlangt. Der höhere Sinn für diese widersinnige Rettung in ein Scheinleben wird behauptet, bleibt aber verschlossen, und Eugenie tritt am Ende des Trauerspiels aus mysteriösen Verhältnissen in eine noch ungewissere dunkle Zukunft. Sie ist geheimnisvoll wie vielleicht nur noch Mignon im Wilhelm Meister. Das Geheimnis, das dort allerdings um das seltsame Mädchen gesponnen ist, hat seinen Urgrund in seiner poetischen Existenz. Das Geheimnis der hochstrebenden und ehrgeizigen jungen Frau in einem hoch symbolisch aufgeladenen Trauerspiel, das mit seinem Ende der Gattung opponiert, ist eher ein Rätsel geworden, das der Stoff mit sich brachte. Der ist im Kern ein höfisches Intrigenstück, und es ist bezeichnend, dass der Autor des Geistersehers – ein durchaus vergleichbarer Stoff –, dass Schiller dem Freund die Geschichte aus dem Zusammenbruch des Ancien Régime zur Bearbeitung empfahl. Er wäre vermutlich selbst dafür der geeignetere Autor gewesen – obwohl, er hatte die Lust am Geisterseher verloren und hat ihn nur provisorisch vollendet. „Wenn Sie, liebe Freundin, dereinst dieses Stück lesen“, schreibt Goethe am 4. April 1803 an Marianne von Eybenberg zwei Tage nach der Uraufführung, die sehr reserviert aufgenommen wurde, „sollen Sie beurtheilen, ob dieses ‚natürliche Töchterchen‘ wohl in der Reihe ihrer übrigen weiblichen Geschwister stehen darf.“ Sie darf und darf auch nicht stehen! Von ihrer Verwandtschaft mit der geheimnisvollen Mignon war schon die Rede, nach Herkunft

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und Schicksal zeigt sie auf Marie von Beaumarchais im Clavigo, sie liebt Schmuck so weiblich unschuldig wie Gretchen im Faust (für beide ein Sturz in das Verderben) und als wilde Reiterin hat sie amazonenhafte Züge wie Margarete von Parma im Egmont oder wie Iphigenie und Natalie im Wilhelm Meister. Aber sie ist unfertig und könnte wie die schöne Griechin bei Schiller auch eine abgefeimte Betrügerin sein trotz Goethes gegenteiliger Beteuerungen. Wer weiß, wie sich „das weibliche, in die Welt aufblickende Wesen, von kindlicher, ja kindischer Naivetät an bis zum Heroismus durch hunderterley Motive hin“ wirklich noch entwickelt hätte? Es gibt Figuren, die eine Eigendynamik entwickeln, die den Dichter seine klassizistische Konzeption für einen überaus ereignisreichen und kolportagehaften Stoff vergessen machen könnten. „Im Ganzen“, fährt Goethe in seinem Brief an die Freundin Marianne von Eybenberg fort, „nimmt sich’s gut aus, im Einzelnen kann ihm hie und da nachgeholfen werden, da sich’s denn wohl auf unserm Theater erhalten möchte.“ Goethe hat nicht nachgeholfen und auch nichts weiter über das Geschick Eugenies ausgeführt. Sie war wohl zu einem tragischen Ende bestimmt, wie aus dem Schema einer Fortsetzung erahnbar ist. Ihr Vorbild hat die Wirren der Revolution allerdings ganz gut überstanden; Stephanie Louise de Bourbon-Conti starb 1825 im Alter von 69 Jahren und hätte wie die historische Marie von Beaumarchais ihren Bühnentod im Sinne der Redensart „Totgesagte leben länger“ ganz gut verschmerzt.

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Maria Paulowna

Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. Großfürstin von Russland 1786–1859

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Während eines kurzen gesundheitlichen Zwischenhochs schrieb Schiller auf Goethes Wunsch zwischen dem 4. und dem 8. November 1804 ein kleines Festspiel mit dem Titel Die Huldigung der Künste. Darin spricht ein Genius im Namen der sieben Künste: Und alle, die wir hier vor dir erschienen, Der hohen Künste heil’ger Götterkreis, Sind wir bereit, o Fürstin, dir zu dienen. Gebiete du, und schnell, auf dein Geheiß, Wie Thebens Mauer bei der Leier Tönen, Belebt sich der empfindungslose Stein, Entfaltet sich dir eine Welt des Schönen.

Die Fürstin, der sich die Schönheiten der Künste in aller Fülle andienen, zog am Freitag, den 9. November 1804 unter großem Prunkaufwand in Weimar ein. „Nachmittag halb 3 Uhr, erfolgte die Höchsterfreuliche Ankunft unsers Durchlauchten Herrn Erb-Prinzen mit Höchstdero Frau Gemahlin, Maria Paulowna Kaiserliche Hoheit. Der Empfang geschahe von dem gesamten Hof und sämmtlichen wirklichen Räten und Assessoren der LandesCollegien an der untersten Treppe im Schloss […]. Ohngefähr eine gute Stunde nach der Ankunft, war Familien-Tafel in dem sogenannten Kurfürstlichen Zimmer.“ Am Montag darauf, am 12. November, erschien die 18-jährige Großfürstin und Erbprinzessin im Theater, wo Schillers Huldigungsgedicht als ein Vorspiel gegeben wurde. Wie sehr sich die Tochter des russischen Zaren Pauls I. und Enkelin Katharinas der Großen in ihre Rolle fand, als Schützerin und Förderin der Musen in die Fußstapfen der Herzoginmutter Anna Amalia zu treten, konnte Schiller nicht mehr miterleben, auch wenn Goethes Urteil schon ziemlich schnell feststand. Am 26. April 1805, also noch kurz vor Schillers Tod, weiß er in einem Brief an Marianne von Eybenberg lobend zu sagen, dass die Erbprinzessin „ein Wunder von Anmuth und Artigkeit ist. Die Eigenschaften, welche die hohe Societät an vornehmen Damen erwartet, ja fordert,

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erinnere ich mich niemals so vollkommen vereinigt gesehen zu haben.“ Es war ein vorschnelles Lob, das sich aber die neue Frau, die dem Weimarer Hof nicht nur eine üppige Aussteuer, sondern auch beachtliches politisches Prestige und ansehnliche Geldmittel einbrachte, durchaus redlich verdiente. Sie übernahm von Anna Amalia sehr rasch die Mittelpunktrolle und ließ sich mit großer Offenheit ins kulturelle und nicht zuletzt gesellschaftliche Leben der Kleinstadt einbinden. Auch in sozialer Hinsicht war sie engagiert und trug Fürsorge für Mütter, Kinder und Kranke. Politisch war sie für das Herzogtum in den napoleonischen Wirren durch ihre russische Herkunft gar so etwas wie eine Bestandsgarantie. Goethe blieb lebenslang bei seiner hohen Wertschätzung und widmete der gebildeten und verehrten Frau, die ab 182 8 nach Carl Augusts Tod zusammen mit ihrem Mann, dem Großherzog Carl Friedrich, dem Ländchen als Landesmutter vorstand, einige rühmende Gelegenheitsgedichte. Man kam sich über ihre Kinder und Goethes Enkelkinder auch familiär sehr nahe, und als Goethe altersbedingt seltener bei Hof erschien, besuchte sie ihn zumeist donnerstags zu Hause. Über den letzten Besuch vor seinem Tod am Donnerstag, dem 22. März 1832, berichtet Maria Paulowna an Caroline von Egloffstein: Ich hatte Goethen am Donnerstag, den 15. März, also am letzten Tage, wo er noch gesund war, so wohl, heiter, gesprächig und teilnehmend gefunden, daß ich nicht erwarten konnte, ihn zum letztenmal auf dieser Welt gesehen zu haben: auch beunruhigte mich seine Krankheit nicht bis ganz zuletzt, weil ich mich von ihrer Gefahr nicht überzeugen konnte (25. April 1832).

Danach stand sie fördernd an der Seite von Franz Liszt, der durch sie im Herzogtum freundliche Aufnahme fand und dort bis zu ihrem Tode zehn Jahre lang als Hofkapellmeister wirkte und Weimar auch auf musikalischem Gebiet zu einer ersten Adresse in Deutschland machte. Nach dem Tode ihres Mannes reiste sie ein letztes Mal nach Russland, und am 23. Juni 1859 verstarb sie, vom Volk verehrt, auf dem Sommersitz des weimarischen Fürstenhauses, auf Schloss Belvedere. In einer für sie errichteten Russisch-Orthodoxen Grabkapelle nahe der Weimarer Fürstengruft fand sie ihre letzte Ruhestätte. Auf die Bewohnerin des barocken Lustschlosses hatte

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Goethe zum 21. August 1824 ein kleines Begleitgedicht zu einem Bild des Schlosses verfasst: Schloss Belvedere in der Abendsonne Erleuchtet außen hehr vom Sonnengold, Bewohnt im Innern traulich, froh und hold. Erzeige sich dein ganzes Leben so: Nach außen herrlich, innen hold und froh.

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Bettine von Arnim

geb. Catharina Elisabetha Ludovica Magdalena Brentano 1785–1859

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Die Mutter von Bettine von Arnim, Maximiliane von La Roche, verheiratete Brentano und Tochter der berühmten Schriftstellerin Sophie von La Roche, war mit ihren schwarzen Augen bereits zu weltliterarischer Berühmtheit gelangt. Goethe lernte das 16-jährige Mädchen im September 1772 von Wetzlar kommend auf Schloss Ehrenbreitstein bei Koblenz kennen und verguckte sich wohl sofort in ihre ausdrucksvollen Augen, die er dann seiner Heldin Lotte in seinem Roman Die Leiden des jungen Werthers andichtete. Damit waren anscheinend ein für alle Mal die besten Voraussetzungen geschaffen, alles und jedes im Umfeld der Familie Brentano in Literatur zu verwandeln. Schon früh wurde Bettine von Arnim auf die Liebe Goethes zu ihrer Mutter aufmerksam. Deren früher Tod 1793 mochte wie auch der Versuch ihres älteren Bruders Clemens Brentano, sie intensiv auf Goethes Werk einzustimmen, ein G rund dafür sein, die Verklärung und Mystifizierung von Goethes Person lebenslang weit über alle belegbare Wirklichkeit hinaus betrieben zu haben. Schon in ihrer Jugendzeit identifizierte sie sich mit der Gestalt der knabenhaften Mignon aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, und sie träumte davon, verkleidet wie diese Goethe zu besuchen. Ihr erster Besuch in Weimar im April 1807 kam zunächst aber nur auf Umwegen über Goethes Mutter zustande. Im Juli 1806 begann Bettine Kontakte mit ihr in Frankfurt aufzunehmen und von ihr ließ sie sich dann ausführlich aus der Jugendzeit des Dichters erzählen. Die freundliche „Frau Rath“ tat das natürlich nicht ungern und munitionierte die schwärmerische Verehrerin mit Geschichten, die später selbst Goethe überraschten. Spontan beschloss sie, wie der Bruder Clemens dem Dichterfreund und späteren Ehemann Bettines Achim von Arnim berichtet, daraus eine Art geheimer Biographie des „göttlichen“ Goethe zu machen. Nach diesem Vorlauf setzte sie mit ungezügeltem Temperament ihren Kopf durch und machte sich gegen den Rat des älteren Bruders und Vormunds Franz von Brentano auf nach Weimar.

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Am 23. April 1807 kam „Mamsell Brentano“. So trocken notiert Goethes Tagebuch den Besuch des Mädchens, das sich durch Wieland hatte empfehlen lassen. Bettine gelang es aber wohl doch, ziemlichen Eindruck zu machen und sich ihr literarisches Projekt absegnen zu lassen. Die angeblich etwa dreistündige Begegnung verlief gemäß ihrer stilisierenden Ausschmückung und Überhöhung in ihrer mystifizierenden Biographie, die 183 5 nach Goethes und Achim von Arnims Tod unter dem Titel Goethe ‚s Briefwechsel mit einem Kinde erschien, ziemlich sensationell. Der Bruder Clemens Brentano mochte der Version der schwärmerischen Schwester gerne Glauben geschenkt haben und erzählte es im Juli 1807 dem Freund Arnim in ähnlich begeisterten Worten: [In Weimar] „war sie bei Goethe drei Stunden, und er steckte ihr einen Ring an den Finger und gedachte unsrer Mutter […] Goethens Gespräche mit Bettinen sind ein Schatz für uns Freunde, er war wie ein Kind; er gestand ihr […], dass er sie ewig um sich wünsche, daß er dann nie alt geworden, daß er nie einen Jüngling so schnell geliebt wie Dich, daß sie um ihn bleiben möge. Er hat ihr erlaubt, sein Leben nach den Aussagen seiner Mutter zu schreiben. Er wollte ihr noch viel dazu sagen, das solle seine Biographie werden, einfältig wie die Haimonskinder.

Es wurde weniger eine einfältige, sondern eine merkwürdig stilisierte, eine künstlich naive Pseudoautobiographie, eine schriftstellerische Phantasie, in der die Briefpartner und die Originale zu Fiktionen geworden sind. Noch aber mussten erst die biographischen Eckdaten gelebt werden. Natürlich kann Bettine anders als in ihren Wünschen nicht ewig bei Goethe bleiben; die paar Stunden mussten fürs Erste genügen. Immerhin, sie hatte ihn gesehen und ihr Herz, so ihre Mitteilung an Frau Rat vom 5. Mai 1807, „ist geschwellt wie das volle Segel eines Schiffes“. Deshalb kommt sie wieder und immer noch einmal wieder; fast immer überraschend und zuletzt unangenehm zudringlich. Es gelingt ihr neben Goethe und der Mutter auch Frau Christiane und Sohn August für sich einzunehmen. Sie stilisiert sich in ihrer Exaltiertheit zu des Dichters Psyche, und sie bemerkt nicht unbedingt, dass gewisse verliebte Schmeicheleien aus seiner Hand gar nicht ihr, dem Seelchen, sondern dem ‚Herzchen‘ gehören: der 18-jährigen Wilhelmine Herzlieb, genannt Minna

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oder Minchen, die im November/Dezember 1807 die Zuneigung des Dichters gewann, just nachdem Bettine zum zweiten Mal in Weimar auf Eroberungstour war. Er huldigte nicht nur der exaltierten öffentlichen Liebe Bettines, sondern vor allem der verhaltenen und scheuen Liebe von Minna Herzlieb in seinem in der Folgezeit entstehenden Sonettenkranz. Bettine aber reklamierte in ihrer Zudringlichkeit alles für sich und maßte sich Texte und Rollen an, die ihr nicht zustanden. Der Besuch vom 1. bis zum 11. November 1807 in Weimar ist für Bettine trotz Goethes letztlicher Unerreichbarkeit ein voller Triumph. Fast täglich sind die Demoiselles Brentano zu Besuch bei Goethe oder gar zu Tisch geladen. Der Dichter sieht sich konfrontiert mit vier Kindern der ehemals geliebten Maximiliane mit den schwarzen Augen: Mit den Schwestern Bettine, Meline, Gunda und dem Bruder Clemens; auch sein Freund Achim von Arnim ist vor Ort. Goethe sieht sich von schwarzen Augen umringt und von Wunderhorn-Romantik bezaubert. Aber während er für Bettine ein Idol ist, ein Vaterersatz und ein Geliebter, Freund und Lehrer zugleich, scheint sie für ihn eher eine von vielen Frauen und Mädchen zu sein, die ihn verehrten, heimlich liebten und ihm Briefe schrieben. Der Abgang war in Bettines Augen pompös. Sie schwärmt vom „Du“, das sie sich erkämpft hat, von Umarmungen und Küssen und ergeht sich in erotischen Fantasien, die ihr zu einem Roman werden. Briefe gehen hin und her und auch die eine oder andere Abschrift der entstehenden Sonette. Aber Goethe ist zurückhaltend und versucht Bettines Überschwang zu zügeln. Während in den Folgejahren Minna Herzlieb in der Figur der Ottilie im Roman Die Wahlverwandtschaften durchgezeichnet wird, erscheint Bettina dort allenfalls als blasse Folie der launenhaften Luciane, der der Autor mit relativer Distanziertheit begegnet. Erst 1810 kam ihr ganz großer Moment vor dem jähen Absturz. Auf dem Weg nach Berlin machte sie mit den Savignys Station im böhmischen Kurbad Teplitz, in dem sich Goethe von Karlsbad kommend seit dem 6. August aufhielt. Sie hatte einen Wunsch Beethovens, der ihr in Wien im Mai ausgerechnet seine Komposition des Mignon-Liedes „Kennst du das Land“ vorgespielt hatte, im Gepäck. Sie sollte Goethe für Beethoven interessieren. Natürlich nutzte sie den Auftrag, um ihn zu einem Gespräch

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über die Botin zu machen, um den Besuch zu einem grandiosen Selbstgespräch zu stilisieren, in dem sie ihren erotischen Fantasien und ungezügelten sexuellen Wünschen freien Lauf lassen konnte. Was in den Tagen ihres Aufenthalts vom 9. bis zum 12. August 1810 in Teplitz geschah, ist schwer auszumachen. Jedenfalls ist Bettine nach Riemers Urteil „noch so klug und unklug wie sonst und gleich unbegreiflich“. Goethe findet sie „hübscher und liebenswürdiger wie sonst“, aber die Meldung geht am 13. August 1810 an Christiane und klingt mit der einschränkenden Nachricht, dass es wohl bald auf eine Heirat mit Arnim hinauslaufe, unverdächtig und harmlos. Auch dass sie außer zu ihm „gegen andre Menschen sehr unartig“ ist, gehört zur Strategie der Verunklärung – wenn es denn überhaupt eine sein sollte. Die Faktenlage ist dünn, der Bericht, den Bettine wohl erst Jahre nach diesen Tagen verfasste, ist hingegen ein überdimensionales Mythologem, in dem selbst beim Zugeständnis literarischer Überhöhung die Balance zwischen Wunsch und Wirklichkeit entschieden außer Kraft gesetzt erscheint. Sie hat die Aufzeichnungen nicht einmal in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde eingebaut, wo ohnehin die Grenzen zur literarischen Fälschung, oder besser gesagt zum Roman, auf breiter Front eingerissen waren. Was sollten da noch Rücksichtnahmen, wo es doch um den Höhepunkt ihres Lebens, jedenfalls ihres Goethekults ging: Es war in der Abenddämmerung im heißen Augustmonat in Teplitz, er saß am offnen Fenster, ich stand vor ihm und hielt ihn umhalst […] Vielleicht weil er’s nicht länger ertragen mochte. Frug er, ob mir nicht heiß sei, und ob ich nicht wolle, dass mich die Kühlung anwehe, ich nickte, so sag’ er: „Mache doch den Busen frei, dass ihm die Abendluft zugute komme.“ Und da er sah, dass ich nichts dagegen sagte, obschon ich rot ward, so öffnete er meine Kleidung; er sah mich an und sagte: „Das Abendrot hat sich auf deine Wangen eingebrennt“, und dann küsste er mich auf die Brust und senkte die Stirne darauf. – „Kein Wunder,“ sagte ich, „meine Sonne geht mir ja im eigenen Busen unter.“ Er sah mich an, lang, und waren beide still. – Er fragt’: „Hat dir noch nie jemand den Busen berührt?“ – „Nein“, sagt ich, „mir selbst ist so fremd, dass du mich anrührst.“ – Da drückte er viele, viele und heftige Küsse mir auf den Hals, mir war bang, er solle mich loslassen, und er war doch so gewaltig schön, ich musste lächeln in der Angst und war doch ganz freudig, dass mir’s galt, diese

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zuckenden Lippen und dies heimliche Atemsuchen, und wie der Blitz war’s, der mich erschüttere, und meine Haare, die von Natur sich krausen, hingen herunter, er wollte Ruhe wieder, ich sah es recht in seinem Gesicht, wie er sich fasste, und sammelte mein zerstreutes Haar in der Hand, und war immer wieder still, wie wenn er hätte sprechen wollen und hatte nicht Atem. Dann sagt er so leise erst: „Du bist wie das Gewitter, deine Haare regnen, deine Lippen wetterleuchten, und deine Augen donnern.“ [sic!] – Da fand ich auch meine Stimme: „Und du bist wie Zeus, du winkest mit den Brauen, und der Olympus erzittert.“ – „Wenn du künftig abends dich auskleidest und die Sterne leuchten dir in den Busen wie jetzt, willst du da meiner Küsse gedenken?“ – „Ja!“ „Und willst denken, dass ich wie die Sterne ohne Zahl tausendfach das Siegel meiner Liebe dir in den Busen drücken möcht’?“ – „Ja!“ – „Und willst denken, dass es Unvergessliches ist, Unsterbliches, was ich in dir erleben, willst du das glauben?“ – „Ja!“ sagt’ ich, „ich will’s glauben!“ – Er … ja wie war’s doch? – Er seufzte so tief und lehnte den Kopf an mich und: „Verzeih mir’s“, sagte er, „dass ich so ganz stark nicht bin“, und sah zu mir hinauf und drückte mir den Busen fest.

Das geht noch einige Zeit so fort, und es folgt eine erklärende Nachschrift an einen fiktiven Adressaten, er möge ihre Erzählung nicht als Koketterie missdeuten. Nach heißen Küssen und Bissen endet das intime Bekenntnis mit Goethes Eingeständnis: Weib! Weib! wenn du wüsstest, wie süß du bist, dann! ja dann erst könntest du’s begreifen, wie streng die Fesseln sind, die deine Unschuld mir anlegt, dass ich’s nicht vermag, sie zu zerreißen.

Die Unschuld der Frau, die immer noch das ‚Kind‘ spielte, blieb einigermaßen gewahrt, obwohl die Weiterfahrt nach Berlin, um Arnim zu heiraten, von erotischen Fantasien in sündhaft zu nennendem Geiste begleitet war. Übers Jahr war Bettine Frau von Arnim, und mit ihrem Ehemann kam sie am 25. August 1811 für fast einen Monat wieder nach Weimar. Die Arnims kamen und kamen wieder, speisten da und da, feierten Geburtstag mit Goethe, der trotz seiner Arbeit an Dichtung und Wahrheit äußerst zuvorkommend war. Bettine ist schon schwanger und gelegentlich unpässlich, so dass sich die Abreise verzögert. Es schleichen sich kleine Unstimmigkeiten ein, und zum 7. September bemerken Riemers Aufzeichnungen, dass Goethe beim abendlichen Besuch Bettinas

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Geschwätzigkeit durch ein penetrantes Beharren auf einem Thema über den am Himmel stehenden Kometen ausbremst. Er nimmt ein Fernrohr und dessen langer Schweif „wehrte diese wiederkehrende Fliege, die sich ihm gern auf den Schoß gesetzt hätte, dieses alte, damals schon verheiratete Kind wie mit einer Rute ab“. Riemers ziemlich ungalant zu Papier gebrachte Beobachtung belegt erhöhte Empfindlichkeiten, die auch von anderer Seite bei anderen Gelegenheiten bestätigt sind. Ausgerechnet am Freitag, dem 13. September, entluden sich dann die Gereiztheiten in einem veritablen Krach zwischen Bettine und Christiane, der zu einem Weimarer Skandal hochgepäppelt wurde. Die Damen besuchten gemeinsam eine von Johann Heinrich Meyer zusammengestellte Ausstellung und gerieten sich in einer hitzig-lauten Diskussion über die Qualität der Bilder buchstäblich in die Haare. Ob beabsichtigt oder eher nicht, die mit ihrem Schirm gestikulierende und gereizte Christiane hat Bettine vermutlich die Brille von der Nase gestoßen. Das ergab einen erregten Wortwechsel ganz neuer Art, in dem sich der wechselseitig angestaute Ärger wohl endgültig Luft verschaffte. Die Geheimrätin von Goethe verließ die Ausstellung, hatte aber zumeist den Spott der Weimarer Damen gegen sich. Frau von Arnim hatte zwar deren Sympathien; ihr wurde aber das Haus ihres Idols verboten und Goethe stand ohne zu zögern auf der Seite seiner Frau. Von Bettines Seite fielen so böse und unheilbare Reden wie die von einer toll gewordenen Blutwurst, die sie gebissen habe, aber zur Strafe musste sie den umschwärmten Dichter nun für immer meiden. Die ganz seltenen Begegnungen nach dem Tod von Christiane konnten an der Situation nichts mehr verändern. Goethe empfand die Episoden mit Bettine in ihrer pubertär-obsessiven Art später eher als peinlich. Sie ging ihm auf die Nerven. Er nannte sie eine „leidige Bremse“ und am 7. August 1830 scheint das immer nüchtern-objektive Tagebuch fast zu triumphieren: „Frau von Arnims Zudringlichkeit abgewiesen.“ Bettine hatte wohl versucht, wieder einmal vorgelassen zu werden. Wenn Achim von Arnim tatsächlich der gelegentlich ge­ äußerten Meinung gewesen sein sollte, seine Frau würde nach den Ereignissen vom September 1811 nicht mehr gerne von Goethe hören wollen, so mochte das seine Wahrheit sein. Bettina konnte ihn aber nie vergessen, auch oder gerade weil sie von ihrem Gott

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auf Erden verbannt war. Kaum dass Arnim und Goethe tot waren, ließ sie ihre Zurückhaltung fallen. Sie machte sich an das Buch, das ihrer Obsession Ausdruck zu geben imstande war: an das lange geplante Denkmal, den Briefwechsel Goethes mit einer Frau, die sich auch 1835 noch immer in der Rolle des Kindes mit einer höheren Wahrheit gefiel. Was Goethe dazu wohl gesagt hätte? Der Bruder Clemens Brentano beschrieb ihre Beziehung zu Goethe in einem Brief an die Schwester vom Herbst 183 4 als das „Leiden, sich einen Götzen schaffen zu müssen und mit allen Kräften der Seele liebend ihn zu beleben und anzubeten, trotz selbst der innersten Mahnung, es sei Wahnsinn“. Demnach ist das Buch leicht als das Tagebuch einer Liebeswahnsinnigen zu lesen, das Goethe in seiner Raserei ganz sicher nicht gefallen hätte, auch wenn er sich zu Zeiten von der Person, von der es erzählt, geschmeichelt fühlte.

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Christiane Friederike Wilhelmine Herzlieb gen. Minna oder Minchen 1789–1865

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Im Jahre 1798 etablierte sich der junge, gebildete Buchhändler, Drucker und Verleger Carl Friedrich Ernst Frommann in Jena. Er pflegte ein offenes geselliges Haus und Goethe verkehrte gerne während seiner Arbeitsaufenthalte in Jena bei ihm. Frommann nahm 1798 auch die verwaiste Tochter eines Theologen, Christiane Friederike Wilhelmine Herzlieb, zu sich ins Haus und zog sie zusammen mit zwei eigenen Kindern groß. Liebevoll Minna oder Minchen genannt, war das 1789 geborene Mädchen Goethe seit diesen Kindertagen bekannt, und er liebte das musisch begabte Kind wie ein ihm versagtes eigenes Töchterchen. Aus kleinen Wunschtöchterchen werden bezaubernde 18-jährige Mädchen, und der in den Endfünfzigern stehende Dichter entwickelt im Winter des Jahres 1807 auf 1808, als er wieder in Jena weilt, eine mehr als herzliche Zuneigung. Man darf es Liebe nennen, auch wenn es nicht die Leidenschaft wurde, die frühere Biographen etwas voreilig unterstellt haben. Während Bettine von Arnim Goethe nach ihrem Besuch im November 1807 mit Briefen voller zweideutigem Enthusiasmus überschüttet, beginnt er bei dem im Frommann’schen Hause mit Riemer und Zacharias Werner entbrannten Sonettenwettbewerb das madonnenhaft unschuldige Wesen rätselhaft zu verklären. Als kleines artges Kind nach Feld und Auen Sprangst du mit mir, so manchen Frühlingsmorgen. »Für solch ein Töchterchen, mit holden Sorgen, Möcht’ ich als Vater segnend Häuser bauen!« Und als du anfingst in die Welt zu schauen, War deine Freude häusliches Besorgen. »Solch eine Schwester! und ich wär geborgen: Wie könnt’ ich ihr, ach! wie sie mir vertrauen!« Nun kann den schönen Wachstum nichts beschränken; Ich fühl’ im Herzen heißes Liebetoben. Umfaß’ ich sie, die Schmerzen zu beschwichtgen?

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Doch ach! nun muß ich dich als Fürstin denken: Du stehst so schroff vor mir emporgehoben; Ich beuge mich vor deinem Blick, dem flüchtgen.

Väterliche und brüderliche Liebesempfindungen verwandelt die Zeit in leidenschaftliche Liebe, so das Gedicht, die der Dichter in distanzierende und wohl auch entsagende Altersliebe verwandelt. Die Neigung zu Minna Herzlieb, so viel scheint gewiss, ist mehr als ein Flirt, mehr als das „Kokettieren“ mit Bettine, mehr als das „Äugeln“ mit all den jungen Badebekanntschaften in den Jahren nach der späten Eheschließung mit Christiane. Neben Bettine von Arnim und Minna Herzlieb treten in diesen Jahren noch Pauline Gotter, die spätere Frau Schellings und Silvie von Ziegesar, die er „Tochter“, „Freundin“ und „Liebchen“ nennt, sowie Marianne von Eybenberg, ein eher schon vollreifer Badekur-Flirt, in einem Theaterstück auf, das mit Goethes eigenen Worten „Der Mann von funfzig Jahren“ betitelt werden könnte. Die jungen Verehrerinnen und Schwärmerinnen kennen einander und wissen sich auch in deutlicher Konkurrenz. Pauline Gotter, die 25-jährige hübsche Tochter des Gothaer Legationsrates und Schriftstellers Friedrich Wilhelm Gotter schreibt am 25. September 1811 sehr schadenfroh an ihre Mutter über den Zank zwischen Bettine von Arnim und der Frau Gemeinerätin [!]: „Dank sei’s der Vulpiade, ich habe nun nichts mehr von dieser Nebenbuhlerin zu befürchten. Goethe hat sie nicht wieder sehen wollen!“ Auch andere erotische Konkurrenz erledigte sich im Laufe der Sommeraufenthalte ganz von selbst, weil sich die Damen ernsthaft binden wollten. Goethe hatte Minna Herzlieb, wie er Christiane am 6. November 1812 relativ unverblümt, nachdem die Liebesgeschichte lange zu Ende war, gesteht, „mehr wie billig geliebt“. Ihr Wesen hat ihn nicht nur zum „Äugeln“ und zu Gelegenheitsdichtungen, sondern zu wirklich literarischer Produktion angeregt. Er lieh der Figur der Ottilie im Roman Die Wahlverwandtschaften sicherlich einige Züge des verwaisten Mädchens. Man glaubt jedenfalls hinter Wilhelmine jenes literarische Konterfei tiefer Innerlichkeit zu erkennen, das Ottilie charakterisiert, wenn sie sich am 10. Februar 1808 ihrer Freundin Christiane Selig gegenüber so offenbart: Goethe war aus Weimar herübergekommen, um hier recht ungestört seine schönen Gedanken für die Menschheit bearbeiten zu können […]. Er war immer so heiter und

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gesellig, daß es einem unbeschreiblich wohl und doch auch weh in seiner Gegenwart wurde. Ich kann dir versichern, liebe, beste Christiane, daß ich manchen Abend, wenn ich in meine Stube kam und alles so still um mich herum war, und ich überdachte, was für goldne Worte ich den Abend wieder aus seinem Munde gehört hatte, und dachte, was der Mensch doch aus sich machen kann, ich ganz in Tränen zerfloß und mich nur damit beruhigen konnte, daß die Menschen nicht alle zu einer Stufe geboren sind, sondern ein jeder da, wo ihn das Schicksal hingeführt hat, würken und handeln muß, wie es in seinen Kräften ist, und damit Punktum.

Minna Herzlieb vermied im Alter gewandt und doch auch verlegen der Frage auszuweichen, ob sie sich in der Ottilie des Romans erkenne. Sie war in der Tat wie Goethes poetische Erfindung und wie die dahinter aufscheinende Schwester des Dichters disponiert und nicht unbedingt für die Ehe geschaffen. Sie hatte wie die Schwester Cornelia, wie das literarische Ebenbild im Roman eine Scheu vor physisch-sinnlicher Liebe, wollte eher eine Ikone unorthodoxer Heiligkeit sein. Sie hatte ein vergleichbar trauriges Schicksal wie diese auch. Sie schloss zwar nach zwei gescheiterten Liebesgeschichten 1821 eine Vernunftehe mit dem Jenaer Juristen Professor Karl Wilhelm Walch, aber das Zusammenleben mit dem um über 10 Jahre älteren Mann war wenig glücklich und verursachte ihr zunehmend psychische Störungen; sie starb geistig umnachtet in einer Görlitzer Heilanstalt.

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Charlotte

Die Wahlverwandtschaften (1809)

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Den Namen des männlichen Protagonisten von Goethes Eheund Gesellschaftsroman Die Wahlverwandtschaften, der 1809 in Tübingen erschien, erfahren wir unmittelbar im Auftakt des Romans. „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter“ lautet der zitathaft gewordene Eingang der Geschichte (I,1). Der Name seiner Frau fällt, nachdem sich der Baron nach ihrem Verbleib beim Gärtner erkundigt hat, eher nebenbei: An der Thüre empfing Charlotte ihren Gemahl und ließ ihn dergestalt niedersitzen, daß er durch Thüre und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick übersehen konnte. Er freute sich daran, in Hoffnung daß der Frühling bald alles noch reichlicher beleben würde.

Es ist Frühling, der Baron setzt frische Pfropfreiser, in der neuen Gartenanlage wird Charlottes Mooshütte soeben fertig, und das Panorama in die Landschaft ist prächtig. Goethe bietet ein Bild des Friedens, ein verkapptes Bild von Adam und Eva im Paradies. Der Baron und die Baronin haben sich – er war ihre und sie war seine Jugendliebe – spät und über Umwege doch noch gefunden und leben jetzt allein auf ihrem großen Besitztum. Kaum zu glauben, dass mit einem völlig unschuldig-arglosen Nachsatz Eduards diese Idylle sich unvermittelt aufmacht, ins Unheil zu steuern. „Nur eines habe ich zu erinnern, setzte er hinzu: die Hütte scheint mir etwas zu eng.“ „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher“, meinte der französische Philosoph Blaise Pascal, „dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Mit kleinen Modifikationen trifft sein Diktum in umgekehrter Weise auch auf Eduard und Charlotte und ihr neues Glück zu. Sie, so lässt der Erzähler wissen, leidet nicht an der Enge und Abgeschlossenheit: „Für uns beyde doch geräumig genug, versetzte Charlotte.“ Die Replik scheint ihr beizupflichten und widerspricht gleichzeitig: „Nun freylich, sagte Eduard, für einen Dritten ist auch wohl noch Platz.“ Und wie zum

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Beweis, wie großzügig die Enge der Hütte in Wirklichkeit doch bemessen sei, gibt es noch eine Zugabe: „Warum nicht? versetzte Charlotte, und auch für ein Viertes. Für größere Gesellschaft wollen wir schon andere Stellen bereiten.“ Ob der Mensch aus seinem Zimmer in die Welt läuft oder sich Welt, Leben und Menschen in seine Ein- bzw. Zweisamkeit holt, ist hier nicht entscheidend. Entscheidend ist, und Goethe legt es seiner Hauptprotagonistin Charlotte, die das Geschehen als einzige Figur durchgängig vom Anfang bis zum Ende des Romans bestimmt, in ihren vernünftig weise sprechenden Mund: „Nichts ist bedeutender in jedem Zustande, als die Dazwischenkunft eines Dritten.“ (I,1) Sie weiß das, was Pascal nur mit anderer Richtungsbestimmung ausgedrückt hat, aus reicher Erfahrung zu belegen: „Ich habe Freunde gesehen, Geschwister, Liebende, Gatten, deren Verhältniß durch den zufälligen oder gewählten Hinzutritt einer neuen Person ganz und gar verändert, deren Lage völlig umgekehrt worden.“ Eduard glaubt sich, anders als noch unmündige Menschen, in dieser Hinsicht sicher, weil er sich durch Erfahrung und Vernunft auf- und abgeklärt denkt, aber Charlotte ist misstrauisch: „Das Bewußtseyn, mein Liebster, entgegnete Charlotte, ist keine hinlängliche Waffe, ja manchmal eine gefährliche, für den der sie führt; und aus diesem allen tritt wenigstens so viel hervor, daß wir uns ja nicht übereilen sollen. Gönne mir noch einige Tage; entscheide nicht!“ – Die Bedenkfrist zeigt, dass es sich nicht nur um einen allgemeinen Fall philosophisch-gesellschaftlichen Räsonnements handelt, sondern dass die Unterhaltung aus sehr konkreten Wünschen gespeist ist. Eduard will den Hauptmann, seinen Freund, ins Haus holen, und Charlotte nimmt im Gegenzug Ottilie, ihre Nichte, ins Haus. Damit ist aus dem Wunsch sich „selbst zu leben“ in nuce eine gesellschaftliche Konstellation geworden, mit allen möglichen Chancen, aber auch Gefährdungen und Zerstörungen, die die symbolträchtig berühmte chemische Gleichnisrede von den Wahlverwandtschaften der „todtscheinenden und doch zur Thätigkeit innerlich immer bereiten“ Materien im vierten Kapitel des Ersten Teils (I,4) aufzeigt und in reizvoller Konversation als Menetekel an die Wand malt. Der langen Rede kurzen Sinn von den chemischen Wundern liefert der Hauptmann mit einem eher formelhaften Schema:

Charlotte • 297

Denken sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich eben so zu einem D verhält; bringen Sie nun die beyden Paare in Berührung: A wird sich zu D, C zu B werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe.

Die Übertragung und Anwendung der Formel auf den praktischen Gleichnisfall liefert Eduard in eigennütziger Verkürzung zum unmittelbaren Gebrauch: Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B: denn eigentlich hänge ich doch nur von dir ab und folge dir, wie dem A das B. Das C ist ganz deutlich der Capitain, der mich für dießmal dir einigermaßen entzieht. Nun ist es billig, daß wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir für ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das liebenswürdige Dämchen Ottilie, gegen deren Annäherung du dich nicht länger vertheidigen darfst.

Der Praxistest wird schnell zeigen, dass sich seine Ergebnisse, die eigennützig verkürzten Formelergebnisse, als falsch erweisen, weil sie, wie Charlotte in ihrer subtileren und weniger formelhaft umgesetzten Gleichnisrede witzig anmerkt, die von den Männern als Wahlverwandtschaften gepriesenen Verbindungen eher als Naturnotwendigkeiten erachtet, wobei der Chemiker der Gelegenheitsmacher ist. Und „Gelegenheit macht Verhältnisse wie sie Diebe macht“, fügt sie schelmisch hinzu. Es wird so kommen, wie Charlotte in ihrer unsentimentalen Nüchternheit und reifen Verstandesklarheit befürchtet. Nicht D wird A dem B entziehen und C dem A das B, sondern, wie ein kühler Rechner doch sehen müsste: Ottilie wird Eduard von Charlotte scheiden und der Capitain wird Charlotte dem Jugendgeliebten entfremden. Die weitere strenge Komposition ist klar; aber Goethe lässt seine Protagonisten durchaus in gewissen Freiheiten von der gemachten Gelegenheit Gebrauch machen. Die scheinbare Naturnotwendigkeit, das schlichte Liebe-über-Kreuz-Schema, das Partnertauschmuster oder das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel wird – gegen die Regeln der chemischen Wahlverwandtschaften – durch mehr oder weniger Leidenschaftlichkeiten moderiert, ja durch willentliche Entsagung geradezu fast konterkariert und durch ein O,

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ein unschuldiges Kind, beschleunigend und bereinigend zum tragischen Ende geführt. Charlotte bleibt in allen Phasen des Versuchsablaufs die feinfühlig Nüchterne, die sinnlich Beherrschte, die treulos Treue, die verstandesklar Liebende und die großzügig Entsagende. Vom Beginn bis zum Ende des Romans demonstriert Goethe in ihrer Figur das Sittlich-Konventionelle ohne die Pikanterien und Freizügigkeiten ihres Standes, zeigt er den Adel des allgemein Menschlichen ohne Hang zur Prüderie moralisierender Kleingeistigkeit. Sie ist nicht frei von Versuchungen und emotionalen Verwirrungen, und das Kind, das sie von Eduard bekommt, das aber den Namen Otto erhält, das dem Hauptmann ähnelt und die Augen von Ottilie hat, stellt sie als Schuldlos-Schuldige dar, als jemand, der zum Tragischen bestimmt ist, der aber anders als Ottilie und Eduard ihm auszuweichen weiß. In dieser Fähigkeit regiert sie das Ende von Goethes tragischelegischem Eheroman, der bei seinem Erscheinen viel kontroversen Wirbel ausgelöst hat. Selbst Charlotte, die von allem Anfang an die Skeptikerin war, die instinktiv wusste, dass das Experiment, die Vergesellschaftung ihrer Beziehung zu Eduard in Ausweglosigkeit münden würde, hätte sich nicht träumen lassen, in welch verhängnisvoll-tragischen Dimensionen sich ihrer aller Schicksal festbeißen würde. Dass da eine Heilige eingeschlafen war und ein Seliger neben ihr zu liegen kam, wäre vielleicht für ein stark religiös bestimmtes Gemüt von Trost gewesen, für Charlottes Bewusstsein musste sich die Szene voller Bitterkeit darstellen. Sie gibt Eduard zwar seinen Platz neben Ottilie, aber der da liegt, ist noch immer ihr Gemahl, der Vater ihres Kindes, der an seinem Tode einige Schuld trägt. Sie, die Entsagungsvolle, trug allein das Leid der Hinterbliebenen, denn zum Hauptmann, den sie durchaus liebte, hielt sie in allen Verwirrungen achtungsvollen Abstand bis zuletzt, als sich noch einmal ein Hoffnungsschimmer auftun wollte: Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schuldig bleiben, ver­ setzte Charlotte. Wir haben nicht verschuldet unglücklich zu werden; aber auch nicht verdient zusammen glücklich zu seyn. (II,14)

Das ist angesichts des Glücks der unglücklich Liebenden im Tod – ein Glück eher von des Autors dezenter Ironie sub specie aeternitatis – eine graue und bleischwere Lebensbilanz. Charlotte trägt

Charlotte • 299

sie in Gefasstheit und Gelassenheit, so wie sie das Experiment in Mäßigung und in der Klarheit der Vernunft durchlaufen hat. Auch für sie war die Verführung groß, die Gelegenheiten, die der große Chemiker bot, im Sinne naturnotwendiger Wahlverwandtschaften zu ergreifen; nach Maßgabe ihrer freien praktischen Vernunft bestätigte sie aber die Gebote der Sittlichkeit und verzichtete auf ihre Liebe. Darin ist sie groß und unübertroffen.

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Ottilie

Die Wahlverwandtschaften (1809)

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Charlotte hatte von ihrer verstorbenen Schwester eine Nichte namens Ottilie, die sie als Pflegetochter ins Haus nahm. Sie erzog das Kind zusammen mit ihrer eigenen Tochter Luciane aus ihrer ersten Ehe. Soweit erinnert die Konstellation in Goethes 1809 erschienenem Roman Die Wahlverwandtschaften ganz vordergründig an Christiane Friederike Wilhelmine Herzlieb, die Pflegetochter des Buchhändlers Frommann in Jena, in dessen Haus Goethe zur Zeit der ersten Idee und Abfassung des Romans gerne verkehrte. Er verliebte sich in die 18-Jährige wie in eine ihm versagte Tochter, sodass ihm das Profil des verwaisten Mädchens zunehmend als eine Hintergrundfolie für das Bild der im Eingang des Romans etwa 17-jährigen Pflegetochter Ottilie dienlich war. Charlotte hatte, um ihre an große Erwartungen geknüpfte neue Beziehung zu Eduard nicht vorzubelasten, die beiden Mädchen in ein Pensionat gegeben, in dem sich die stille und eher bedächtig erscheinende Ottilie anders als Luciane nur sehr schwer zurechtfand. Mit ihren Leistungen war die Schulleitung sehr unzufrieden, aber gerade ob der scheinbaren Defizite in der Entwicklung Ottiliens war sie Charlotte fast mehr ans Herz gewachsen als die übermütige und lebenslustige eigene Tochter. Dass ausgerechnet das zarte und dienstbare Wesen ohne ausgeprägtes Selbstbewusstsein für die entschiedensten Konflikte sorgt, als es in das symbolische Experiment zurückgeholt wird, war nicht abzusehen. Die Entwicklung in den erweiterten häuslichen Verhältnissen läuft zunächst in stillem Wollen und Wählen, ohne dass es den Beteiligten selbst besonders klar geworden wäre. Doch in langsamen Überkreuzungen der Beziehungen gestalten sich diese zunehmend als ‚liaisons dangereuses‘. Charlotte und der Hauptmann wissen ihre Emotionen und Leidenschaften zu kontrollieren, aber als Eduard, der nicht gewohnt ist, sich etwas zu versagen, in seinem Überschwang der Leidenschaften Ottilie in ihrer ahnungslosen Unbewusstheit in Liebesangelegenheiten immer fester in das zwanghafte chemische Gleichnis bindet, gerät das häusliche

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Gleichgewicht ins Wanken. Das Kräftespiel zwischen den verschiedenen Charakteren der kleinen Gesellschaft beginnt sich unkalkulierbar zu entwickeln, und besonders Ottilie sorgt wie beim Pendelschwingen für erstaunliche Ausschläge und überraschende Wendungen. Leise begibt sich das demütig-unschuldige und engelhaftunsinnliche Wesen auf den Weg einer Leidenschaft unter dem Gesetz der Wahlverwandtschaft. Sie zieht Eduard, schon eher der Mann von fünfzig Jahren, wie in Goethes berühmter Novelle aus Wilhelm Meisters Wanderjahre (II. Buch, 3. bis 5. Kap.), ohne jegliche Koketterie und ihrer Verführungskraft unbewusst in ihren Bann – und ihrem Autor Goethe wird sie zu einer seiner Lieblingsfiguren, wusste er sich doch selber anfällig für solcherart Verführung. Schon am Morgen nach ihrer Ankunft gibt es wie nebenbei das erste Zeichen einer beginnenden Wirkung, als Eduard zu Charlotte sagt: … es ist ein angenehmes unterhaltendes Mädchen.

Charlotte ist anderer Meinung: Unterhaltend? versetzte Charlotte mit Lächeln: sie hat ja den Mund noch nicht aufgethan.

Ottilie wird den Mund auch weiterhin nicht sehr weit auftun; beredter ist ihre eindrückliche Gestensprache, am beredtsten wird sie sich in ihrem Tagebuch zeigen, das aber nicht eigentlich das Geheimnis ihrer Person verständlicher macht, sondern sie in ihren Bemerkungen über Erziehung, über Kunst und Natur, Tod und Vergänglichkeit in einer sehr reflektierten Art und Weise zeigt. Die sich wie ein roter Faden durch den zweiten Teil des Romans ziehenden Reflexionen machen Ottilie eher noch schwerer begreifbar auf dem Weg von der Liebenden zur Heiligen. Die Verhältnisse im Haus verändern sich auffallend. War Eduard bisher mit seinem Freund, dem Hauptmann, in diversen Aktivitäten engagiert, so gesellt er sich, seit Ottilie im Haus ist, mehr zu ihr. Charlotte hingegen entdeckt den Hauptmann als einen verständigen Freund, und dieser vergisst, so der Erzähler mit deutlichem Hinweis auf die Sinnhaftigkeit der Sache, seine chronometrische Secunden-Uhr aufzuziehen. Die Männer „schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnden, daß die Zeit an-

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fange ihnen gleichgültig zu werden“. Sie geraten aus dem Tritt regulärer Arbeit und füllen das Vakuum mit Spaziergängen, mit gemeinsamen Musikstunden und mit Lektüre, bei der sich Ottilie anders als Charlotte ohne Tadel an Eduards Seite schmiegen durfte, um ihm ins Buch zu schauen. Noch belächeln Charlotte und der Hauptmann die offensichtliche Zuneigung, bemerken aber in ihrem stillen Einverständnis ebenfalls Regungen, die weit mehr sind als nur Sympathie. Der Hauptmann erschrickt vor seiner Liebe und beginnt Charlotte zu meiden, die ihn, als ihr die Gründe seiner Zurückhaltung klar werden, dafür umso mehr zu lieben beginnt. Man feiert Geburtstag, und die innere Geselligkeit sieht sich in eine größere Gesellschaft des Dorfes gestellt. Zusätzlich sagen sich für die kommenden Tage neue Gäste an. Es sind Freunde aus früherer Hofzeit, ein verheirateter Graf und seine Geliebte, eine geschiedene Baronesse. Die Gespräche sind weitläufig und kommen von den neuen Gartenanlagen auf vergangene gemeinsame Tage, auf Charlottes und Eduards frühere Ehen und auf des Grafen Scheidungsprobleme zu sprechen. Daneben bietet dieser dem Hauptmann, den er schnell als einen äußerst tüchtigen Mann zu schätzen weiß, eine neue Stelle an, und die Baronesse schlägt für Ottilie Dienste außer Haus vor. Urplötzlich flammen die verschwiegenen Liebschaften, die sich von unvermuteter Trennung bedroht sehen, heftig auf, und die künftige Nacht findet Charlotte und Eduard seit langem wieder in ehelicher Umarmung, aber in außerehelichem gedanklichem Beischlaf. Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen; Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander. (I,11)

Das Kind aber, das aus dieser Gedankensünde, aus diesem seltsamen Ehebruch geboren wird, ähnelt in auffälliger Weise dem Hauptmann, während seine schwarzen Augen die von Ottilie sind. Bekanntlich vergehen, bis es so weit ist, neun Monate von insgesamt 18 Monaten Handlungszeit, neun Monate, in denen die intime kleine Gesellschaft sehr durcheinandergewirbelt wird. Der Hauptmann geht; aber nicht Ottilie, sein Pendant im Gleichnis, die ja wegen ihm geholt wurde, verlässt das Haus, sondern Eduard, von dem Charlotte die Aufkündigung seines Verhältnisses mit Ottilie

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verlangt. Zum Verzicht auf Ottilie ist er nicht bereit, aber als er erfährt, dass Charlotte schwanger ist, nimmt er Abschied: Eduard sehnte sich nach äußerer Gefahr, um der innerlichen das Gleichgewicht zu halten. Er sehnte sich nach dem Untergang, weil ihm das Daseyn unerträglich zu werden drohte (I,18).

Nun gehört den Frauen das Haus, und Ottilie verstummt noch mehr und zieht sich in ihr Tagebuch und in ihre Arbeit an der Neugestaltung des Friedhofs und der Restaurierung der Be­ gräbniskapelle zurück. Der Stimmungswechsel im Hand­lungs­ verlauf ist deutlich spürbar, und die Düsternis kann auch das närrische Treiben nicht aufhellen, das Luciane veranstaltet, als sie für einige Zeit zu Besuch kommt. Im Kontrast dazu beginnt Ottilies Persönlichkeit in ihrer Herzenstrauer um Eduard zu gewinnen; auch ihr Weg in eine Heiligkeit jenseits der kanonischen Altäre des Glaubens deutet sich an. In den Tableaux vivants, die Luciane nach berühmten Gemälden zur Belustigung veranstaltet, fällt Ottilie an Weihnachten die Rolle der Maria mit dem Kinde zu. „Ottiliens Gestalt, Gebärde, Miene, Blick übertraf aber alles was je ein Maler dargestellt hat“ (II,6), und Charlotte ist zu Tränen gerührt, weiß sie sich doch selbst als werdende Mutter. Charlottens Niederkunft naht heran, und Ottilie, so erfahren wir, ist ängstlich besorgt und von den schwarzen Augen des Kindes betroffen. Sie weiß sich zunehmend schuldig und möchte Charlotte und Eduard wieder über das Kind vereinigt sehen. Umgekehrt hatte Charlotte in ihrer großzügig empfindsamen Art Eduard heimlich Ottilien zugedacht, und für Eduard bestand ohnehin nie ein Zweifel: Ottilie ist mein, und was noch zwischen diesem Gedanken und der Ausführung liegt, kann ich nur für nichts bedeutend ansehen. (II,12)

Mit diesem Vorsatz empfiehlt er gleichzeitig dem Hauptmann, der jetzt zum Major befördert ist, seine Stelle an der Seite Charlottes einzunehmen. Der Mensch denkt, die naturgesetzlichen Kräfte wirken, die sittliche Freiheit steuert dagegen, und das Schicksal schlägt zu. Als Ottilie dann vom heimlich zurückgekehrten Eduard das Geheimnis erfährt, das über dem Dasein dieses Kindes waltet, will sie die Entscheidung über ihr Schicksal an der Seite Eduards nur aus Charlottes Mund akzeptieren.

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Sie muß unser Schicksal entscheiden, laß uns ihr nicht vorgreifen. Ich bin die Deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muß ich dir entsagen. (II,13)

Das Schicksal aber spielt unkalkulierbar und in eigener Weise und führt durch ein Unglück auf der Überfahrt über den See das Wünschen und Hoffen und Wollen aller in eine Katastrophe. Der Kahn mit der aufgeregten Ottilie und dem Kind beginnt zu schwanken, das Kind entgleitet dem Mädchen und kommt im Wasser zu Tode. Wiederum interpretiert Eduard den Tod des Kindes im Sinne seiner Wünsche, aber diesen Wünschen stellt sich Ottiliens Entschluss zu völliger Entsagung ihrer Liebe zu Eduard entgegen. Sie begreift sich als schuldig, als Gezeichnete, und erklärt unmissverständlich: Eduardens werd’ ich nie! Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin. Ich will es büßen; und Niemand gedenke mich von meinem Vorsatz abzubringen! (II,14)

In der Feierlichkeit, in der der Vorsatz verkündet wird, ist es das Todesurteil über sich selbst und für ihn. Sie, die nie viel geredet hatte, die nie viel gegessen hatte, verstummt nun völlig und verweigert heimlich alle Nahrung. Sie sieht sich in ihrer Askese von Dämonie umstellt, was aber dem Ruf ihrer Heiligkeit eher förderlich scheint. Ihr Versuch, die beiden Ehegatten wieder zu vereinen, misslingt kläglich: „Mit Eifer und Gewalt faßt sie die Hände beyder Ehegatten, drückt sie zusammen und eilt auf ihr Zimmer.“ (II,17) Aber schnell erweist sich die rückeroberte Idylle von einst, „der häusliche Zirkel als ein Scheinbild des vorigen Lebens“. (II,17) Ausgerechnet der stets um Ausgleich besorgte Mittler, ein ehemaliger Geistlicher, zerreißt den verzeihlichen Wahn, in dem sich alle befinden, denn Ottilie ist von seinen Worten über die Ehrfurcht vor der ehelichen Verbindung so betroffen, dass sie augenblicklich stirbt. Sie hat ihr Schicksal aus eigenem Antrieb zu Sühne und Heiligung herbeigezwungen, aber sie hat gegen ihren Willen damit auch das Schicksal Eduards unfreiwillig vollendet. Er erlaubt, Ottilie „allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt“ (II,18) in der Friedhofkapelle aufzubahren. Schneewittchens Beerdigung zeitigt ein erstes Wunder an ihrer Dienerin Nanny; dieses wiederum zieht Wundersüchtige

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und Wundergläubige an. An Eduard aber geschieht kein Wunder. Anstatt ihrem Gebot „zu leben“ (II,18) Folge zu leisten, scheint er sich, so die Erzählung, die ins Märchen mündet, „mit Vorsatz der Speise, des Gesprächs zu enthalten“. (II,18) In dieser Nachahmung, ja Nachfolge der Geliebten, die Pein und Seligkeit zugleich ist, findet man ihn endlich tot. Charlottes Entsagung, schmerzlich aufs Leben verpflichtet, „… gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, daß Niemand weiter in diesem Gewölbe beygesetzt werde“. (II,18) Ihr weiteres Leben verläuft in sozialem Dienst und mildtätiger Fürsorge. Ernst ist das Leben, heiter ist der Tod. Goethe, der ihn stets scheute, malt ihn als Märchen: So ruhen die Liebenden neben einander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es seyn, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen. (II,18)

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Maria Ludovika Beatrix Kaiserin von Österreich 1787–1816

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Der Sommer 1810 in den Bädern von Karlsbad und Teplitz dauerte von Mitte Mai bis Oktober, war also lang und aufregend. Nicht nur, weil Goethe in Karlsbad von vielen „Äugelchen“ umschwärmt wurde, die Goethes ältestes „Äugelchen“ Christiane aufmerksam registrierte, nicht nur, weil ihm im August in Teplitz Bettine von Arnim ziemlich auf den Leib rückte, sondern dieser Sommer begann mit einer neuen Damenbekanntschaft von allerhöchstem Rang, die auch mit einigem poetischen Aufwand verbunden war. Schon am 31. Mai trat der Polizeikommissär Josef von Hoch an den Dichter mit dem Ansuchen heran, auf die Ankunft der Kaiserin ein Gedicht zu verfertigen. Am 2. Juni vermerkt Goethes Tagebuch dann die Verfertigung eines solchen, das sofort in Druck gegeben wurde. Die junge 23-jährige Angedichtete war Ihro Allerdurchlauchtigste Majestät, Maria Ludovika Beatrix, Kaiserin von Österreich, seit 1808 die dritte Gemahlin von Kaiser Franz I. von Österreich. Sie kam auf Anraten ihres Leibarztes zur Erholung nach Karlsbad, denn sie schien ihm etwas abgemagert und erschöpft zu sein. Am Mittwoch, dem 6. Juni 1810, gegen 1 Uhr fuhr sie unter Glockengeläut und Böllerschüssen in Karlsbad ein. Durch ein Spalier von 24 weiß gekleideten und mit Kränzen gezierten Mädchen erstieg die Kaiserin die Treppe ihrer Unterkunft im Weißen Löwen, und mit der Überreichung des Gedichts von Goethe fand der Empfang ein vorläufiges Ende. Abends aber gab die Kaiserin in Begleitung diverser Hoheiten im Sächsischen Saale noch einen Empfang für die in Karlsbad anwesenden Fremden. Der Polizeibericht, den Josef von Hoch am nächsten Tag für den Kaiser verfasste, vermerkte ausdrücklich: „Ihre Majestät geruheten auch den anwesenden Dichter Goethe Ihrer gnädigen Aufmerksamkeit zu würdigen, und durch Ihre geistvolle Huld zur höchsten Bewunderung zu verleiten.“ Huld und Bewunderung in ausgeglichenem Wechsel bestimmten auch die weiteren Tage ihres Aufenthaltes bis zum 22. Juni des

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Jahres. Goethe verfertigte noch einige Gedichte auf die Kaiserin (Der Kaiserin Becher‘ Der Kaiserin Platz, Der Kaiserin Abschied); es gab weitere Begegnungen und Gespräche mit ihr, und der Dichter Goethe war bei den Illuminationen und beim Zapfenstreich, war bei Konzert und Ball dabei, und er war natürlich auch in die Feierlichkeiten involviert anlässlich der Einweihung des Platzes der Kaiserin, worauf er ja ein Gedicht gemacht hatte. Die Kaiserin scheint sich gerne mit ihm unterhalten zu haben und hat ihn wohl sehr dringend nach Wien eingeladen. Das erzählt jedenfalls die stets gut unterrichtete Caroline von Humboldt, die uns auch verrät, dass Goethe von der Kaiserin sehr eingenommen ist. Sie versucht das in einem Brief vom 23. Februar 1811 an Christian Heinrich Schlosser aus ihrer Kenntnis der Person Maria Ludovikas als verständlich zu belegen: Für mich ist sie die einzige sehr interessante Frau hier [in Wien], und ich wünschte, daß die Umstände es mir vergönnten, sie öfter zu sehen, was aber in meiner Lage nicht sein kann. Nie in meinem Leben habe ich mehr Seele, mehr inneres Leben sich in Blick und Stimme ausdrücken sehen, als in ihr. Es ist schwer zu glauben, wenn man sie sieht und hört, daß sie nicht zu etwas Großem aufgehoben sein sollte.

Just im Februar 1811 traf von der Kaiserin ein kleines Geschenk an den Dichter ein, eine goldene Dose mit einem brillantenen Kranz und dem Namenszug der Kaiserin. Goethe war darüber höchlich erfreut, und wenn er auch keine Post von ihr erhielt, so wurde ihm doch von Caroline von Humboldt brieflich zugesteckt: Die Kaiserin hat mir mehrmalen von dem Glück gesprochen, das Ihre Bekanntschaft, teurer Goethe, ihr gewährt habe.

Die in Italien aufgewachsene Kaiserin, die sprachlich eher an italienischer und französischer Literatur geschult war, scheint durch Goethes Bekanntschaft ihr Deutsch perfektioniert und ihre Beschäftigung mit deutschsprachigen Autoren ausgeweitet zu haben, denn als sie im Jahre 1812 wieder ins böhmische Bad, diesmal nach Teplitz, kommt, wird der literarische Austausch intensiviert. Natürlich ist der Dichter, der eigentlich in Karlsbad residiert, während des Aufenthalts der Kaiserin vor Ort in Teplitz, und wieder schreibt er ein Festgedicht zu ihrer erwarteten Ankunft, die sich aber etwas verzögerte, weil sie sich in Dresden mit Napoleon

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und der französischen Kaiserin Marie Louise, ihrer Stieftochter, traf. Auch diese bekam ein Gedicht gewidmet, als sie am 2. Juli in Karlsbad mit ihrem Vater, Kaiser Franz I. von Österreich, eintraf. Während Napoleon schon Richtung Russland in seinen Untergang unterwegs war, fühlte sich Goethe im Juli in Karlsbad für dessen zweite Gattin und ab 15. Juli bis zum 10. August in Teplitz für dessen kaiserliche Schwiegermutter poetisch verantwortlich. Vielleicht sollte man sich pikanterweise vergegenwärtigen, dass Ehefrau und Schwiegermutter Napoleons gerade 21 bzw. 25 Jahre alt waren und dass sie beide eigentlich gut habsburgisch Napoleon hassten. Ein Sommer, zwei hübsche junge Kaiserinnen, der eine Ehemann in Kriegsangelegenheiten unterwegs, der andere in dritter Ehe schon etwas verbraucht: Der 63-jährige Dichter war in seinem Element, die Verse gingen ihm gut von der Hand, das Tagebuch und die Briefe verzeichnen es ausführlich. Er wird von der französischen Hoheit belobigt, aber das war nur das Vorspiel. In Teplitz geht das höfisch-poetische tête à tête so weit, dass Beethoven, mit dem Goethe in diesen Tagen ebenfalls persönliche Bekanntschaft macht, am 9. August 1812 an Breitkopf und Härtel tadelnd bemerkt: „Göthe behagt die Hofluft zu sehr mehr als es einem Dichter ziemt.“ Am Mittwoch, dem 15. Juli, ist er erstmals um 9 Uhr bei Ihro Majestät, am Donnerstag erneut, auch am Freitag und am Samstag zu Mittag. Nach der Tafel darf er das Gedicht vorlesen, und er schließt daraus auf ihre Zufriedenheit. Am Sonntag, dem 19. Juli, berichtet er stolz an seine Frau: Fast alle Morgen habe ich das Glück gehabt der Kayserinn vorzulesen. Sie spricht meistens dazwischen und äussert sich über die bedeutenden Gegenstände mit ausserordentlichem Geist und Originalität. Man kann sich kaum einen Begriff von ihren Vorzügen machen. Ihr werdet über gewisse Dinge die ich zu erzählen habe erstaunen, beynahe erschrecken. – Schon dreymal war ich zur Tafel geladen. Da ist sie denn, wo möglich, noch heitrer und anmutiger als sonst; sie neckt diesen oder jenen von den Gästen und reizt ihn zum Widerspruch, und weis der Sache zuletzt immer eine angenehme Wendung zu geben.

Goethe erzählt in den nächsten Brieftagen so fort und fort und genießt es sichtlich, dass er den herzoglichen Schürzenjäger Carl August, der natürlich auch vor Ort jederzeit dabei ist, offensichtlich aussticht. Man feiert gemeinsam dessen Namenstag mit der

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Kaiserin, und laut Polizeibericht erklärte Carl August hingerissen: „Er würde mit Vergnügen für diese göttliche Frau sein Leben wagen.“ Die Kaiserin verabschiedet sich erst zum 10. August, und bis dahin gibt es noch einige Überraschungen. Goethe liest und liest bei der Kaiserin, er ist erleichtert, dass er es schafft, die Arnims, die auch vor Ort sind, gänzlich zu ignorieren – „ich bin sehr froh daß ich die Tollhäusler los bin“ (an Christiane, 5. August 1812) –, und er gibt gesprächsweise Veranlassung zu einem kleinen Theaterstück. Die Kaiserin setzt sich eine ganze Nacht lang hin und schreibt, so Goethe an Christiane, ein klein Theaterstück, „das ich ein wenig zurecht gerückt habe.“ Das Stück heißt Die Wette und behandelt ein kleines delikates erotisches Problem, nämlich die Frage, welches der beiden Geschlechter das Recht habe, zuerst die Liebe zu gestehen. Ganz akademisch wird das alles wohl nicht durchgespielt worden sein, zumal Goethe bei der Aufführung selbst eine Rolle spielen sollte und schon eifrig geprobt hatte; leider wurde er unpässlich, sodass sein Auftritt unterblieb. Auch Ihre kaiserliche Majestät waren, als sie am 10. August Teplitz um 2 ¼ verließ, „nicht wohl“. Zur erotisierten Stimmung dieser Wochen voller Literatur und kleiner Festlichkeiten trug auch die verwitwete Gräfin Josephine O‘Donell, Hofdame und Vertraute der Kaiserin, bei. Über sie wird der Kontakt über die Abreise hinaus weitergepflegt, aber er wird auch mit einem Schleier des Geheimnisses überzogen. Die Kaiserin bittet über die Gräfin am 4. Januar 1813 um äußerste Zurückhaltung bei literarischen Anspielungen des Dichters. Ganz hat sich Goethe dem Wunsch nicht gefügt, denn im Westöstlichen Divan findet sich im Buch der Liebe ein Gedicht, das unter Berücksichtigung dieser Umstände den anspielungsreichen Titel trägt: Geheimstes. Es ist wirklich sehr verrätselt und dürfte Goethes Verehrung für die Kaiserin keinem der Zeitgenossen erkennbar gemacht haben. Goethe prunkt da mit einer Liebe in Anspielungen, deren biographische Hintergründe – wenn überhaupt – nur zäher Germanistenfleiß ergründen konnte. Als das Gedicht, das dem ziemlich zudringlichen Interesse an ihrer Privatperson spottet, erschien, war die junge Kaiserin ohnehin schon drei Jahre tot. Dass sie kränklich war, unterlag nicht der Verschwiegenheit, wie krank sie war, hat wohl keiner erkannt.

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Am 7. April 1816 verstarb Maria Ludovika Beatrix in ihrer von Napoleon befreiten oberitalienischen Heimat kinderlos mit nur 28 Jahren an Lungenschwindsucht. Goethe erwähnt in den Tagund Jahresheften 1816 ihren Tod unter den Ereignissen des Jahres, die ihn nahe berührt haben. Der Tod der Kaiserin von Österreich versetzte mich, schreibt er, „in einen Zustand, dessen Nachgefühl mich niemals wieder verlassen hat“.

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Helena Faust II (1832)

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Dass die Welt sich nicht unmittelbar, sondern nur im Gleichnis offenbart, wird zu Beginn des zweiten Teils von Goethes Tragödie Faust in überzeugender Deutlichkeit vorgestellt: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. (4727)

In Helena, der schönsten Frau aller Zeiten, wird uns in solch symbolischer Bilderweise die aus dem Mythos geborene, geschichtlich gewordene antike Schönheit vor Augen geführt. Als eine historische Person hat Helena nie existiert, und selbst als ein Bühnencharakter aus Fleisch und Blut hat sie kein unverwechselbares Einzelschicksal. Sie ist als Idee und Urbild mehr aus Geist denn aus Fleisch geboren und, um es in Goethes eigener Terminologie zu sagen, eine Phantasmagorie, ein Trugbild der positivsten Art, eine Geist(er)erscheinung, um die als Kunst erstarrte klassisch-antike Welt in neuer Belebung aufzubereiten. Um den Kern dieser Schönheit, ihr Urbild, zeigen zu können, ist viel theatralischer Aufwand, viel optisch-technisches Zauberspiel, viel Theater auf dem Theater notwendig. Goethe hat die Beschwörung des Phantoms der Helena und ihre Verkuppelung mit Faust nicht erfunden, aber er hat diesen Teil der Faustsage auf seine ureigengeniale Weise aufgegriffen und entwickelt. Aus der teuflischen Buhlerin, nach der Faust in sexueller Leidenschaft giert, wird ein Objekt von Fausts höherer Begierde nach Schönheit und euphorischer Liebe, gestaltet sich eine Verbindung, eine Hochzeit und Vereinigung der abendländischen Kulturen. Das ist viel, fast zu viel, jedenfalls wenn eine Miniatur nur den Umriss dieser Schönheit anzudeuten vermag. Des Kaisers Wunsch im ersten Akt ist Fausts Befehl. Er wünscht Helena und Paris zu sehen. Faust steigt ins Reich der Mütter, um aus der Sphäre der Urbilder das der Helena zu präsentieren. Der Inbegriff der höchsten Schönheit wird dann dem Kaiser und dem Hofstaat mit theatralischem Brimborium als ein Laterna-magicaSpektakel vor Augen gezaubert. Das ist zunächst fast kabarettreif.

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Während Faust, hingerissen von den Zauberspiegelungen, fast aus seiner Theaterrolle fällt, kommentiert das ritterlichhöfische Publikum in Art einer Mauerschau die Schönheit Helenas und ihren Liebhaber Paris teils bewundernd, teils respektlos und sarkastisch, und liefert indirekt natürlich auch die mittelalterlich-moralisierende Bewertung einer vom Christentum überwundenen heidnischen Figur mit: Dame. Ich merke schon sie nimmt ihn in die Lehre; In solchem Fall sind alle Männer dumm, Er glaubt wohl auch daß er der erste wäre. Ritter. Laßt mir sie gelten! Majestätisch fein! – Dame. Die Buhlerin! Das nenn’ ich doch gemein! Page. Ich möchte wohl an seiner Stelle seyn! Hofmann. Wer würde nicht in solchem Netz gefangen? Dame. Das Kleinod ist durch manche Hand gegangen, Auch die Verguldung ziemlich abgebraucht. Andre. Vom zehnten Jahr an hat sie nichts getaugt. (6521)

So weit der Kommentar zu den flüchtigen Erscheinungen von Helena und Paris am Kaiserhof, die Faust durch seine besitzergreifende Ungeduld vertreibt. Aber Faust lässt nicht ab, unermüdlich nach Helena zu suchen. Er eilt in rastloser Suche durch das von klassischen Gestalten, grotesken Fabelwesen und gefährlichen Gespenstern bevölkerte Reich der griechischen Mythologie, um zu Helena zu gelangen. Da die Akte des Riesendramas durch keine logisch-kausale Handlung miteinander verbunden sind, weil allein schon ihre Zeit etwa 3000 Jahre umfasst, bleibt der Weg als ein zweiter Orpheus in die Unterwelt zu Persephoneia unklar, Fausts Wiederkehr mit Helena noch unerklärlicher. Das Ergebnis aber ist dramatisches Faktum. Faust ist im dritten Akt als mittelalterlicher Burgherr auf griechischem Boden zurück aus dem Orkus, und im Beginn des dritten Aktes steht auch Helena unvermittelt vor uns, und der wuchtige Eingangsvers, mit dem sie sich nach dem Muster des Euripides selbst vorstellt, überrascht uns, die Szene am Kaiserhof erinnernd, dem Inhalt nach nicht im Geringsten: Bewundert viel und viel gescholten, Helena (8488).

Die Wertschätzung durch die Zeiten ist eine Sache, die mit dem Auftritt nun jenseits des Gaukelspiels behauptete physische Präsenz der Helena eine andere. Ihr Status im Reigen der poeti-

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schen Frauengestalten Goethes ist doppelt fiktional; ihre physische Existenz ist von anderer Qualität, und im Realismus der Werke ist ihr Dasein entschieden irrealer grundiert. Mag Goethe auch behaupten, „daß Persephone der Hellena erlaubte, wieder in die Wirklichkeit zu treten“ („Ankündigung der Helena-Dichtung“, 10. Juni 1826), so nennt er die Helena-Handlung doch gleichzeitig eine klassisch-romantische Phantasmagorie, ein Zwischenspiel zu Faust, kurz und gut eine Handlung, die der Held eher träumt als wirklich durchlebt. Bevor Faust es aber unternehmen darf, „sich um die Gunst der weltberühmten königlichen Schönheit zu bewerben“ („An­ kündigung der Helena-Dichtung“, 10. Juni 1826), muss nicht nur ihr Verhältnis zu ihrem Gatten Menelas geklärt werden, sondern auch das deutlich-undeutliche Wissen um ihren augenblicklich eigenartig unwirklichen Zustand. Ist sie von Menelas als Opfer ausersehen, ist sie nur eine Projektion, ein Bild dem Bild Achills? Ich als Idol, ihm dem Idol verband ich mich. Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst. Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol. (Sinkt dem Halbchor in die Arme.) (8879 f.)

Schimärenhaftigkeit und ihr höheres Bewusstsein ihrer vormaligen Existenz, die sie sehr wohl als ein zum Märchen verdichtetes Leben begreift, schließen sich nicht aus. War ich das alles? Bin ich’s? Werd’ ich’s künftig seyn, Das Traum- und Schreckbild jener Städteverwüstenden? (8839 ff.)

Der Mythos ist im Augenblick des Auftritts bis zu dem Punkt ihrer Rückkehr aus Troja entwickelt, aber Kausalität und Kontinuität ihrer Biographie geraten im weiteren Verlauf der Handlung zunehmend außer Tritt, heben sich doch die Räume und Zeiten auf. Kein dramaturgischer Demiurg kommt ihr zu Hilfe, weil Goethe poetologisch alle Grenzen sprengt und alle Wirklichkeit weitet. Er versetzt Helena aus ihrer Zeitlosigkeit in geschichtliche Zeit, in im Zeitraffer vorübergehendes Dasein, in dem sie einen Tod erleidet, bei dem vom Körperlichen kein somatischer, sondern nur ein symbolischer Rest bleibt: Kleid und Schleier. Bevor Helena, die dem Menelas vorausgeeilt ist, die Vor­ bereitungen im heimischen Palast für das anbefohlene Opfer treffen kann, arrangiert Mephistopheles in Gestalt der alten, hässli-

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chen Verwalterin Phorkyas bereits den nächsten Raub beziehungsweise die erneute Entführung der göttlich schönen Frau auf Fausts phantastisch mittelalterliche Burg. Der arkadische Ort ist für sein Vorhaben gut gewählt: Faust hält in formvollendeter Reimweise um die Hand Helenas an; sie willigt begeistert im romantisch-modernen Gleichklang der dialogisch aufgebauten Wendung ein. Helena. So sage denn, wie sprech’ ich auch so schön? Faust. Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn. Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt, Man sieht sich um und fragt – Wer mit genießt, Helena. Faust. Nun schaut der Geist nicht vorwärts nicht zurück, Die Gegenwart allein – Ist unser Glück. Helena. Faust. Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand; Bestätigung wer gibt sie? Helena. Meine Hand. (9377 f.)

Die Szene nähert sich dem Augenblick, da Fausts Versprechen gegenüber Mephistopheles eingelöst werden müsste. Aber über den Augenblick höchster Erfüllung in neubelebter Gegenwart der urbildlichen Schönheit Helenas scheint der nordische Teufel keine Gewalt zu haben. Oder sind ihm die Hände nur deshalb gebunden, weil, anders als bei Gretchen, es sich hier nur um den seligsten Moment in einem Hexenküchentraum handelt? Der zeitaufhebende Augenblick, der sich aller Wirklichkeit verweigert, indem er stehen bleibt, Ewigkeit wird, es gibt ihn hier nicht und auch später nur als Vorgefühl. Bekanntlich bekommt der Teufel den Wetteinsatz, Fausts Seele, auch am Ende nicht, ebenso wenig wie Helena im Augenblick ihres höchsten Glücks ins Dasein tritt. Der eine wird im Tod, die andere im Orkus den Augenblick als Ewigkeit erleiden. Helena. Ich fühle mich so fern und doch so nah, Und sage nur zu gern: da bin ich! da! Faust. Ich athme kaum, mir zittert, stockt das Wort, Es ist ein Traum, verschwunden Tag und Ort. Helena. Ich scheine mir verlebt und doch so neu, In dich verwebt, dem Unbekannten treu. Faust. Durchgrüble nicht das einzigste Geschick, Daseyn ist Pflicht und wär’s ein Augenblick. (9411 ff.)

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Auch das Kind, das nach der Hochzeit in poetisch-liebender Vereinigung erzeugt und geboren wird, ist euphorisches Traum­ gespinst, ist schöne Poesie, wird nicht Dasein, sondern ist reines Freisein. Der Chor sagt bzw. singt von reiner Idealität bei herrlichsinnlicher Erscheinung Euphorions. Der steigt unaufhaltsam in die Lüfte und ängstigt Mutter und Vater. Der Chor ist begeistert: Heilige Poesie Himmelan steige sie! Glänze, der schönste Stern, Fern und so weiter fern, Und sie erreicht uns doch Immer, man hört sie noch, Vernimmt sie gern. (9863 f.)

Der Traum geht zu Ende. Wie Ikarus stürzt Euphorion in den Tod, und mit dem toten Sohn verabschiedet sich auch Helena. Er war ihr Schicksal. Eine schnelle Umarmung und eine klare Ansage: Persephoneia nimm den Knaben auf und mich. (9944)

Sie treten wieder zurück aus Fausts Vision, und der Visionär steht wie jeder Träumende mit fast leeren Händen da. Nur Kleid und Schleier der Schönheit bleibt ihm in Armen und man darf das durchaus bildlich verstehen: der schöne Schein. Ihn soll er, so Phorkyas mahnend, festhalten. Nach Gretchens tragisch-bitterem Ende bedurfte es eines langen Heilschlafes, damit Faust für die gesteigerte Wirklichkeit des zweiten Teils der Tragödie gerüstet war. Diesmal hören wir von keinem Heilschlaf, denn die Helena-Tragödie, wenn sie denn überhaupt eine gewesen sein sollte, war ein Erwachen aus Traum und Wunsch und Phantasie und war wie alle Träume selber heilsam nötig. Goethe hat sich nach dem 1827 erfolgten Vorabdruck der klassisch-romantischen Phantasmagorie redlich bemüht, den Helena-Akt als ein Zwischenspiel im zweiten Faust zu widerrufen. Der Verzicht auf den Untertitel im endgültigen Faust-Manuskript vermag gleichwohl den Eindruck nicht zu tilgen, dass dies nur um der Behauptung einer höheren dramatischen Einheit willen geschah. Helenas Wirklichkeit bleibt trotzdem Illusion. Was sollte so schlimm daran sein, dass die größte Liebesgeschichte der Welt sich nicht aus logisch-kausalen Ursachen entwickelt und in vernunft­gemäßer Folge in ein tragisches Ende stürzt? Die wahren

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Abenteuer finden ohnehin nur im Kopfe statt und werden im besten Falle ein ästhetisches Ereignis von der Art, wie es nur Goethe mit der schönsten Frau der Welt erfinden konnte.

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Marianne von Willemer

eigentl. Maria Anna Katharina Theresia geb. Pirngruber, gen. Jung 1784–1860

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Der Name Marianne von Willemer ist unauflöslich mit Goethes umfangreichstem lyrischem Werk, dem West-oestlichen Divan verbunden. Dies war aber nicht immer bekannt. Als die Sammlung im August 1819 im Verlag der Cotta’schen Buchhandlung in Stuttgart erschien, wusste niemand von der leidenschaftlichen Liebe Goethes zu dieser Frau, und bis 1869 (Herman Grimm) respektive 1877 (Briefwechsel veröffentlicht durch Theodor Creizenach) wusste auch die philologische Welt nichts von dem enormen poetischen Anteil, den Marianne an den Gedichten der Sammlung hatte. Goethes West-oestlicher Divan erfreute sich nach seinem Erscheinen in der literarischen Welt nur einer gedämpften Aufmerksamkeit. Ganz anders war es um die Wirkung der Gedichte auf die Musiker bestellt. Sie spielten die Vorreiterrolle in der Aufnahme von Goethes lyrischem Vermächtnis, das einen neuen, weltliterarischen Bezugsrahmen etablierte. Der 24-jährige Franz Schubert (1797–1828) hatte bereits 1821 intuitiv Herman Grimms erst 1869 aufgedeckten philologischen Befund von der orientalischen Maskerade vorweggenommen, indem er mit großem Gespür für Goethes esoterisches Maskenspiel just zwei Gedichte aus dem Buch Suleika vertonte, die von Marianne von Willemer sind (Suleika I – Was bedeutet die Bewegung? [D 720] und Suleika II – Ach, um deine feuchten Schwingen [D 717]). Schuberts hauchzartes Wunder an Einfühlung forderte zum Wettstreit heraus. Der 24-jährige Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809–1847) schuf 1833 /34 ebenfalls Kompositionen auf diese beiden Gedichte [Opus 34,4 sanft elegisch/Opus 57,3 stürmisch bewegt], und auch Robert Schumann (1840) war von Goethes hochvirtuosem Spiel mit den Stilformen und -haltungen unterschiedlicher Literaturen und Kulturen fasziniert. Sie ahnten vorab das den Texten innewohnende Geheimnis, das ihren späteren Komponisten-Kollegen durch den von Theodor Creizenach 1877 veröffentlichten Briefwechsel bestätigt wurde. Für sie war die Konstellation Marianne-Suleika und Goethe-Hatem dann eine klare Vorgabe: Das galt vor allem für

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Hugo Wolf (1860–1903), der 1888/89 immerhin 17 Gedichte des West-oestlichen Divan mit Konzentration auf das Buch Suleika vertonte. In der Reihe der Komponistennamen dürfen auch Richard Strauss (1919/1922/1925/1935) und Feruccio Busoni (1919/1924) nicht fehlen, weder Othmar Schoeck (1906/1915 ) noch Luigi Dallapiccola (1953). Sie alle haben sich auf je eigene Weise als authentische Divan-Interpreten erwiesen und ihm auf ihre Art und ihrem hohen Paar Hatem und Suleika vielleicht nachhaltigere Ewigkeit gesichert als die Philologen. Suleikas Urbild, Marianne von Willemer, war noch nicht ganz 30 Jahre alt, als sie Goethe am 4. August 1814 in Wiesbaden kennenlernte. Er war mehr als doppelt so alt; am 28. August wird er sein 65. Lebensjahr vollenden. Der Altersunterschied scheint für Marianne kein Problem gewesen zu sein, denn der Mann, dem sie seit Jahren in einer Hausgemeinschaft verbunden war und den sie knapp acht Wochen später offiziell heiraten wird, der ebenso kunstwie eigensinnige Bankier Johann Jacob Willemer, war seinerseits um 24 Jahre älter als sie. Er hatte das 16-jährige Mädchen 1800 als Pflegekind in sein Frankfurter Haus aufgenommen und zusammen mit seinen Töchtern erziehen lassen. Dem Theaterfreund war das Mädchen, das mit seiner Mutter 1798 in der Truppe des Tanzmeisters Traub von Wien nach Frankfurt kam, ob seiner musischen Begabungen aufgefallen. Er wollte das Talent der unehelichen Tochter der Wiener Schauspielerin Anna Maria Elisabeth Pirngruber – der Vater war ein österreichischer Theaterleiter namens Jung – ausbilden lassen und traf eine Vereinbarung mit der Mutter zur Sicherstellung dieses Vorhabens. Geld vermag viel, aber das Pflegekindschaftsverhältnis forderte Spekulationen heraus. Der junge Clemens Brentano verband die beiden als Tänzerin Biondetta und als Arzt und Magier Apo in seinen ab 1802 entstehenden Romanzen vom Rosenkranz literarisch-schicksalhaft: Als Biondetta am Tag ihres zwanzigsten Geburtstags von der Bühne Abschied nimmt, um in ein Kloster zu gehen, setzt der in sie verliebte Apo durch seine Zauberkräfte das Theater in Brand. Marianne von Willemer waren also poetische und theatralische Maskeraden nicht fremd, als sie Goethe zur mitdichtenden Korrespondentin und Rollenspielerin in seinen orientalisierenden Verhüllungs- und Verjüngungsszenarien machte. Just zum Zeitpunkt, da sie den zum zweiten Male verwitweten Willemer am

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27. September 1814 aus zweifellos persönlicher Zuneigung heiratete, begann sie zeitgleich auch Goethes Suleika freizusetzen. Nach Jahren einer eingeschränkten literarischen Produktivität begann für Goethe nach den Napoleonischen Kriegen ab 1814 ein unerwarteter und belebender Wandel, der zum einen angeregt war durch seine erneute Beschäftigung mit dem Orient und dem Diwan des persischen Dichters Hafis und zum anderen durch die Begegnung mit der jungen Frau des alten Familienfreundes Willemer. Als er am 25. Juli 1814 in die Rhein- und Maingegenden und zur Kur nach Wiesbaden aufbrach, hatte die erste HafisLektüre in der Übersetzung von Joseph von Hammer bereits schöne poetische Ergebnisse gezeitigt. Am 21. Juni war bereits das Gedicht Erschaffen und Beleben in Bad Berka entstanden, das die neuen poetischen Impulse klar benannte: So, Hafis, mag dein holder Sang, Dein heiliges Exempel Uns führen, bey der Gläser Klang, Zu unsres Schöpfers Tempel.

Auf der Fahrt Richtung Westen entstanden neue Gedichte, und als er am 29. Juli in Wiesbaden eintraf, konstatierte das poetische Reisetagebuch unter dem Titel Im Gegenwärtigen Vergangnes die endgültige Ankunft beim persischen Dichter Hafis: Und mit diesem Lied und Wendung Sind wir wieder bey Hafisen Denn es ziemt des Tags Vollendung Mit Genießern zu genießen.

Die Stimmung war vorzüglich und Goethe bestimmte sich mit dem Gedicht Selige Sehnsucht zu einer Neugeburt, die in der Begegnung mit Marianne von Willemer am 4. August 1814 fast unmerklich einsetzt. Im September trifft er die Willemers in Frankfurt wieder und am 15. September stattet ihnen Goethe auf ihrem Sommersitz, auf der Gerbermühle bei Frankfurt, einen ersten Besuch ab. Das Verhältnis von Pflegevater und Pflegetochter war längstens seit ihrer gemeinsamen Italienreise auf Goethes Spuren in den Jahren 1810/11 ein für alle ersichtliches Liebesverhältnis geworden, und als Goethe im Oktober erneut auf die Gerbermühle kommt, sind die beiden auch offiziell ein Paar. An Christiane schreibt er aus Frankfurt am 12. Oktober: „Abend zu Frau Geheimräthinn Willemer: denn dieser unser würdiger Freund ist nunmehr in

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forma verheirathet. Sie ist so freundlich und gut wie vormals. Er war nicht zu Hause.“ Goethe mochte in dem nicht ganz unproblematischen Verhältnis der Willemers Parallelen zu seinem Verhältnis zu Christiane Vulpius gesehen haben, aber darüber hinaus begann er wohl auch mit Willemers Frau zu „liebäugeln“. So jedenfalls der Jargon bei den Eheleuten Goethe. Und Willemer selbst fühlte sich durch die Tatsache, dass der berühmte Dichter seine Frau liebte, eher geehrt als hintergangen. Aber die Liebe kam zunächst auf leisen Sohlen und musste sich noch übers Jahr gedulden. War Goethe 1814 ganze drei Monate unterwegs an Rhein und Main, so im darauffolgenden Jahr fast fünf Monate. Er hatte am Divan weitergearbeitet, hatte das Königsbuch des persischen Dichters Firdusi und den Koran gelesen und bei der Abreise von Weimar am 24. Mai 1815 erste Suleika-Gedichte verfasst. Am 3. Juli gibt es Besuch in Wiesbaden von Willemer, mit dem er im Kursaal zum Essen ist und der ihm in Geldsachen freundschaftlichst seine Dienste anbietet. Ab dem 12. August ist Goethe dann zu Gast auf der Gerbermühle, und aus den Sympathien des Vorjahres wird nun eine leidenschaftliche Beziehung, über die wenig Faktisches überliefert ist. Aber fünf unbeschwerte Sommerwochen, heitere Abende mit Essen, Wein und Gesang, Spaziergängen und Ausflügen in die Stadt sind verführerisch und neben aller erotischen Delikatesse auch poetisch unglaublich produktiv. Jenseits dürrer Daten sind die entstehenden Gedichte beredte Zeugen einer verschwiegenen und doch leidenschaftlichen Liebe. Mit dem Gedicht Nicht Gelegenheit macht Diebe wendet sich Goethe, der ja schon Ende Mai auf dem Weg von Weimar nach Wiesbaden die Grundlinien für das literarisch entlehnte Muster­ paar Jussuph und Suleika entworfen hatte, direkt an Marianne und eröffnet um den 12. September den Gedichtdialog, in dem er sich den Namen Hatem gibt. Am 15. September wird das zu Weltberühmtheit gelangte Gedicht Gingo biloba entworfen und vielleicht in den Heidelberger Tagen vom 23. bis zum 26. September vollendet. Sulpiz Boisserée, der Goethe als Kunstberater begleitete, berichtet von dem heiteren Abend, an dem man in der schönen warmen Abendluft auf dem Balkon saß. Goethe hatte der Willemer ein Blatt des Gingko biloba als Sinnbild der Freundschaft geschickt aus der Stadt. Man weiß

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nicht, ob es eins, das sich in zwei teilt, oder zwei, die sich in eins verbinden. So war der Inhalt des Verses.

Als Sinnbild der Freundschaft deutet Boisserée das Blatt des Baumes wie das Gedicht; Marianne und Goethe, Suleika und Hatem sprechen deutlicher, und zwar von Liebe. Am 16. September antwortet Marianne unmittelbar auf Goethes Gedicht Nicht Gelegenheit macht Diebe mit dem Gedicht Hochbeglückt in deiner Liebe, wobei die Aufforderung Gieb dich mir aus freyer Wahl

nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lässt. Die Antwort in den Schlusszeilen auf die rhetorische Frage Macht uns nicht die Liebe reich?

ist sich sehr gewiss: Halt ich dich in meinen Armen, Jedem Glück ist meines gleich.

Über der Gerbermühle, in der des Abends die „liebe, kleine Frau“, Marianne Willemer, etwa am Samstag, den 16. September, „mit ganz besonderem Affekt und Rührung“ Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere singt – daneben auch Mignons Ballade Kennst du das Land –, schwebt ein Hauch von Wahlverwandtschaften. Am nächsten Abend geht es mit Gesang und Mozart weiter; sie singt – Goethe nennt sie einen kleinen Don Juan – dessen Arie: „Reich mir die Hand, mein Leben“. Boisserée notiert brav: „würklich war ihr Gesang so verführerisch gewesen, dass wir alle in lautes Lachen ausbrachen und sie den Kopf in die Noten versteckte und sich nicht erholen konnte“. Aber über der lustigen Stimmung scheint niemand das heimliche Kosen und Flüstern gespürt zu haben. „Endlich las Goethe“ an jenem Sonntagabend, am 17. September, „noch Gedichte, […] und die kleine Frau schmückte sich mit ihrem Turban und orientalischen farbigen Shawl, den Goethe ihr geschenkt. Es wurde viel gelesen, auch viel Liebesgedichte an Suleika, Jussuph und Suleika usw.“ Die poetische Produktion der späten Septembertage geht weiter und spielt eine große Liebe aus der Vergänglichkeit in die Überzeitlichkeit. Der kleine Don Juan liefert am selbigen Tag neben Gesang und Verkleidung noch eine in Reime gebrachte Frage ab.

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Der Fluss habe ihr, so das Gedicht Als ich auf dem Euphrat schiffte, den vom Geliebten geschenkten Ring im Traum vom Finger stibitzt. Und nach dem unterdrückten Reimwort Goethe auf Morgenröthe fragt Suleika: „Was bedeutet dieser Traum?“ Und Hatem-Goethe bietet ihr noch den selbigen Tag eine Antwort, die den Verlust des Traumgeschehens in eine Vermählung umdeutet. Am Montag, dem 18. September, ist ein erster, wenngleich noch vorläufiger Abschied festgelegt und die Liebenden hatten wohl einander versprochen, künftig beim Vollmond ihrer Liebe zu gedenken (24. Oktober: „Vollmondnacht“). Goethe fährt nach Heidelberg und die Willemers kommen fünf Tage später nach. Hier in Heidelberg beginnen nun die Gedichte zum Buch Suleika geradezu von den Schlossbäumen zu purzeln (21. September: Geheimschrift und Die schön geschriebenen … Blätter) und in der Reisekutsche der Willemers entsteht ebenfalls Poesie von Mariannes Hand und aus Goethe’schem Geiste. In liebender Erwartung sitzt er am Schlossbrunnen, wartend und schreibend (22. September: An des lust’gen Brunnens Rand und Die Sonne kommt! sowie Sag du hast wohl viel gedichtet“), und ihr bringt der Ostwind tausend Grüße und Küsse von dem entfernten Geliebten in die Reisekutsche (23. September: Was bedeutet die Bewegung). „Mittags, als wir bei Tische, kömmt Willemer unerwartet“, notiert Goethe am Samstag, 23. September, im Tagebuch. Er hatte ihm für Montag zu kommen geschrieben. Aber umso besser: Das unerwartete, weil verfrühte Wiedersehen wird am Sonntag in poetisch reicher Münze bezahlt (24. September: Wiederfinden): Ist es möglich, Stern der Sterne, Drück’ ich wieder dich ans Herz!

Die überbordende Freude mündet in eine kosmogonische Weltdeutung, das Liebesgedicht endet in einem zweiten Schöp­ fungsakt. So, mit morgenrothen Flügeln Riß es mich an deinen Mund, Und die Nacht mit tausend Siegeln Kräftigt sternenhell den Bund. Beyde sind wir auf der Erde Musterhaft in Freud und Quaal Und ein zweytes Wort: Es werde! Trennt uns nicht zum zweytenmal.

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Nicht genug der Weltdeutung und Neuschöpfung an diesem Tag; auch die Selbstdeutung muss sein. Die Kastanien sind Ende September reif und auf dem Schlosse ist, so das Tagebuch, bereits Nebel. Aus dem fallen die braunen reifen Früchte; Kern um Kastanienkern will durch seinen Fall Luft und Licht gewinnen (24. September: An vollen Büschelzweigen): Die Schale platzt und nieder Macht er sich freudig los; So fallen meine Lieder Gehäuft in deinen Schoos.

Geständnis über Geständnis folgt auch noch am Montag und am Dienstag. Wir dürfen vermuten, dass es am Montag wohl Küsse im Schlossgarten gab: Wort um Wort und Blick um Blick; Kuß und Kuß, vom treusten Munde, Hauch um Hauch und Glück um Glück. So am Abend, so am Morgen! (25. September: Lieb’ um Liebe, Stund’ um Stunde)

Den Küssen folgte am Dienstag Hatems Versicherung: Alles Erdenglück vereinet Find’ ich in Suleika nur. (26. September: Volk und Knecht und Überwinder)

Dennoch, sie wussten, dass ihre Zeit abgelaufen war. Der Diens­ tag war als Abschiedstag festgelegt. Ihm ist es zum Weinen (26. September: Deinem Blick mich zu bequemen) und ihren Abschiedsschmerz regiert allein die Hoffnung aufs nächste Jahr (26. September Ach! um deine feuchten Schwingen): Ach für Leid müßt ich vergehen, Hofft ich nicht zu sehn ihn wieder.

Und wieder wird der Wind zum Boten gemacht (diesmal der Westwind), zum sanften Tröster im sehnlichen Leiden. Erneut kommt ein Auftrag an ihn aus der Kutsche, die sie von Heidelberg nach Frankfurt zurückbringt: Eile denn zu meinem Lieben, Spreche sanft zu seinem Herzen; Doch vermeid’ ihn zu betrüben Und verbirg ihm meine Schmerzen.

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Sag ihm, aber sag’s bescheiden: Seine Liebe sey mein Leben, Freudiges Gefühl von beyden Wird mir seine Nähe geben.

Sie sahen sich nie wieder. Es entstanden noch Gedichte zu Hauf, nun vor allem in Goethes Reisekutsche zwischen Heidelberg, Mannheim und Karlsruhe. Goethe meditiert über Liebestrunkenheit, und am 30. September schreibt er mit dem Gedicht Locken! haltet mich gefangen ein autobiographisch-poetisches Geständnis nieder. Gerade durch den absichtlich vorenthaltenen Reim „Goethe“ auf „Morgenröthe“ wird die Verhüllung zur Offenbarung. Du beschämst wie Morgenröthe Jener Gipfel ernste Wand, Und noch einmal fühlet Hatem Frühlingshauch und Sommerbrand.

Es gingen in den Jahren bis zum Erscheinen des Divan im August 1819 erstaunlich verhaltene und resignierte Briefe hin und her; auch gab es trotz werbender Einladungen keinen Besuch von keiner Seite mehr. Marianne von Willemer bewahrte eine scheue Zurückhaltung in Bezug auf ihr Verhältnis mit Goethe. Sie war zweifellos auch enttäuscht, sie begann zu leiden und sie kränkelte. Sie lebte aus der Erinnerung und nicht mehr aus der Gegenwart. Die Heftigkeit der Vergangenheit, das Glück jener Tage ist tiefer Melancholie gewichen. Wohl im Dezember 1818 teilt sie Goethe mit: Jener Froh- und Leichtsinn, den Sie so liebreich an mir entschuldigten, ja sogar nothwendig fanden, kommt gewaltig ins Gedränge und die wünschenswerthe Ruhe, von der man so viele Lobeserhebungen macht und die ich sehr begierig wäre kennen zu lernen, will sich noch immer nicht einfinden. Doch wem die Erinnerung so viel Herrliches bietet, darf mit der Gegenwart nicht rechten.

Ihr Mann mochte sich durch Goethes Liebe zu seiner Frau durchaus geehrt fühlen, aber wie die Dinge wirklich standen, verriet sie ihm wohl nicht. Und als sie im Jahr 1819 endlich ein Exemplar des fertigen Werks erhält und sich selbst und ihre Liebe gedruckt findet, ist sie natürlich überglücklich und gerührt. Aber Willemer wird wohl so genau nicht gelesen haben und er erfuhr – genauso wenig wie die literarische Öffentlichkeit – nicht, wie stark

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Marianne in das Buch Suleika des West-oestlichen Divans involviert war, wie sehr sie ihn geliebt hatte. Sie hielt es vor ihm und vor aller Öffentlichkeit verborgen. Nicht einmal Goethes Tod markierte die Grenze ihrer Zurückhaltung, sondern allenfalls der Tod ihres Mannes, den sie fürsorglich pflegte. Aber auch nach dessen Tod 1838 zögerte sie, ihr Geheimnis preiszugeben. Erst Jahre nach ihrem eigenen Tode offenbarten sich die wahren Verhältnisse, die Goethe bei Rücksendung aller Papiere, die er von Mariannes Hand hatte, wenige Wochen vor seinem Tode noch einmal brieflich-prosaisch und poetisch bestätigte. Der Brief vom 10. Februar 1832, der das erst nach seinem Tode zu öffnende Paket mit allen ihr beiderseitiges Verhältnis betreffenden Papieren begleitete, spricht von Blättern, „die auf die schönsten Tage meines Lebens hindeuten“, von Blättern, die „uns das frohe Gefühl geben daß wir gelebt haben“. Das Begleitgedicht, im Paket mit eingeschlossen, sagt es auf seine Weise: Vor die Augen meiner Lieben, Zu den Fingern, die’s geschrieben, – Einst, mit heißestem Verlangen So erwartet, wie empfangen – Zu der Brust der sie entquollen Diese Blätter wandern sollen; Immer liebevoll bereit, Zeugen allerschönster Zeit.

Dieses Mal war, anders als in anderen Fällen, die Rücksendung der Briefschaften und intimen Papillons ausnahmsweise kein Akt der Aufkündigung, sondern die sentimentale Bestätigung einer großer Liebe.

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Ulrike Theodore Sophie von Levetzow 1804–1899

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Im Jahr 1823 kam Goethe am 17. September von seinem Sommeraufenthalt in den böhmischen Bädern nach Weimar zurück. Wann immer es die Zeitläufte zuließen, besuchte er seit 1785 sommers die Kurorte und Bäder Karlsbad, Marienbad, Franzensbad und Teplitz im damals zu Österreich gehörigen Böhmen. 1823 zählte er bereits den 17. Kuraufenthalt, und es war sein letzter Ausflug ins Bad. Er weiß es jedoch noch nicht. Am 28. August wird er 74 Jahre alt und feiert in Elbogen bei Karlsbad im „Weißen Roß“ mit der Familie Levetzow Geburtstag. „Gegen 9 Uhr“, so unterrichtet das Tagebuch, „kamen wir in Elbogen an. […] Im weißen Roß eingekehrt, wo Stadelmann alles gestern bestellt hatte.“ Dann geht man spazieren; nach dem Essen gibt es das Dessert, das der Diener Stadelmann und der Schreiber John nachgebracht haben. Von den Levetzows erhält Goethe einen schönen Geburtstagskuchen und zwei Flaschen Rheinwein und von den Töchtern einen Becher aus geschliffenem böhmischem Glas mit ihren eingravierten Namen und dem Tagesdatum: Ulrike, Bertha und Amélie. „Glücklich zurückgekehrt bey einbrechender Nacht.“ Es scheint die pure Idylle. Goethe hatte zwei Jahre zuvor erstmals die Bekanntschaft mit der Familie Levetzow in Marienbad gemacht. Solche Bekanntschaften waren ihm ja ein Bedürfnis geworden; deshalb fuhr er ins Bad, denn dort konnte man die mondäne und weniger mondäne Welt treffen und kennenlernen, Personen des Hochadels ebenso wie die der Politik und der Diplomatie, der Künste und Wissenschaften. Die Familie Levetzow gehörte zum niederen Adel. Der Vater Ulrikes, die 1821 gerade 17 Jahre zählte, war mecklenburg-schwerinscher Kammerherr, hatte sich aber von der Mutter getrennt. Im Hause deren Vaters Friedrich von Brösigke hatte Goethe Quartier bezogen und sich sofort mit den Kindern der wiederverheirateten Mutter angefreundet, und besonders der anmutigen Ulrike gehörte sofort Goethes väterliche Zuneigung. Das Mädchen sah ihn jedenfalls bis zum Sommer 1823 als eine solche Vaterfigur, als einen alten, freundlichen Herrn, der ihr bo-

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tanische und mineralogische Unterweisungen gab und sie hin und wieder mit Schokolade verwöhnte. Genieße dies nach deiner eignen Weise Wo nicht als Trank, doch als beliebte Speise.

Bei Goethe aber veränderte sich im Jahresrhythmus sein Interesse an dem behüteten Mädchen. Aus väterlicher Aufmerksamkeit wurde Liebe und sich steigernde Leidenschaftlichkeit. Ulrike schien es nicht zu bemerken: „Auch in diesem Sommer“, so schreibt sie später in ihren kurzen Erinnerungen, „war Goethe sehr freundlich mit mir und zeichnete mich bei jeder Gelegenheit aus; oft sagte er zu meiner Großmutter, wie sehr er wünsche, noch einen Sohn zu haben, denn er müßte dann mein Mann werden, mich würde er ganz nach seinem Sinn ausbilden, er habe eine große und väterliche Liebe für mich.“ Zum Abschied schenkt er ihr ein Buch. Im Jahr zuvor war es etwas Poetisches, diesmal etwas Autobiographisches: Aus meinem Leben (2. Abteilung, 5. Teil. Auch ich in der Champagne). Ins Buch schreibt er ihr folgende Widmung: Wie schlimm es einem Freund ergangen, Davon gibt dieses Buch Bericht. Nun ist sein tröstendes Verlangen: Zur guten Zeit vergiß ihn nicht. Marienbad d. 24. Juli 1822.

Sie vergaß ihn nicht, er vergaß sie nicht, aber wohl auf unterschiedliche Weise. Aus dem „Töchterchen“ – eine Bezeichnung, die sie so gerne hörte – für einen Wunschsohn war eine Braut für den Vater geworden, und die Idylle vom 28. August 1823 trügt doch gewaltig, denn über dem schönen Geburtstag lag große Spannung und viel Unausgesprochenes. Goethe hatte den Großherzog Carl August als Bittsteller und Brautwerber geworben. Dieser war wie Goethe seit dem 2. Juli in Marienbad, und am 11. Juli trifft auch Frau von Levetzow mit den Kindern dort ein. Man wohnt sehr benachbart und sieht sich täglich. Am 25. Juli schickt Goethe an seinen Sohn August einen Brief mit den Tagebuchaufzeichnungen vom 11. bis zum 24. Juli mit der vielsagenden Bemerkung: Wenn Dame Ottilie mir von Eisenacher Abenteuern etwas vertrauen will, so soll es mir sehr erfreulich seyn; weiß sie

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dagegen im Tagebuch den Worten Terrasse, Gesellschaft, Familie den rechten Sinn zu geben, so ist sie ganz in meinem Geheimniß.

Die Schwiegertochter Ottilie war durchaus in „seinem Geheimniß“ und sehr schnell auch schon andre Damen und Herren und man war nicht überall entzückt von den Frühlingstrieben des alten Herrn. Caroline von Humboldt weiß bereits am 12. August 1823 an ihren Mann zu berichten: Man spricht hier viel von zwei Fräulein von Levetzow, ohne die man Goethen selten oder nie in Marienbad zu sehen bekäme. Sie hängen immer an seinen Armen. Man sagte vorige Woche sogar, er hätte die Älteste geheiratet. Doch hoffe ich, sind solche Ideen dem dreiundsiebzigjährigen Goethe fremd.

Sie waren ihm nicht fremd, und er dichtet in diesem August gegen die heimlichen Klatschereien über seine Leidenschaft für Ulrike von Levetzow: Tadelt man daß wir uns lieben, Dürfen wir uns nicht betrüben, Tadel ist von keiner Kraft. Andern Dingen mag das gelten Kein Mißbilligen, kein Schelten Macht die Liebe tadelhaft.

Das „wir“ in diesem Gedicht bekommt einen etwas anrührend naiven Klang, wenn man bedenkt, dass die Geliebte von ihrer Liebe eigentlich keinen Begriff und keine Ahnung hatte. Sie wollte sein „liebes Töchterchen“ sein, mehr nicht. Umso erstaunter ist sie, als ihr Goethe irgendwann Anfang August durch Serenissimus einen Heiratsantrag macht. Selbst in hohem Alter, als Ulrike ihre Geschichte mit Goethe zu Papier bringt, schwingt noch immer eine entwaffnende Unschuld in ihrem Text mit: Ich sagte schon, daß der Großherzog sehr befreundet mit meinen Großeltern und meiner Mutter war, auch uns hatte er schon als Kinder öfters gesehen; er war mit uns allen sehr freundlich und gnädig, und er war es, welcher meinen Eltern und auch mir sagte, daß ich Goethe heiraten möchte; erst nahmen wir es für Scherz und meinten, daß Goethe sicher nicht daran denke, was er widersprach und oft wiederholte, ja selbst mir es von der lockendsten Seite schilderte, wie ich die erste Dame am Hof und in Weimar sein würde …

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Selbst an die jährliche Pension nach Goethes Tod war schon gedacht und der Aufzählung der Vorteile für diese Partie schien vonseiten des Herzogs kein Ende. Aber Ulrike brauchte keine Zeit zu überlegen. Sie sagte, sie „hätte Goethe sehr lieb, so wie einen Vater, und wenn er ganz allein stünde“, da wollte sie ihn nehmen. Aber da er mit Familie gut versorgt sei, erklärt sie der Mutter, brauche er sie nicht. Auch würde ihr die Trennung von Mutter, Schwestern und Großeltern gar zu schwer. Kurz und gut, sie „hätte noch gar keine Lust zu heiraten“. „So war es abgemacht“, stellt das alte, über 90-jährige unverheiratete Stiftsfräulein aus der Erinnerung fest, aber anders als der Großherzog sprach „Goethe selbst nie darüber, weder mit meiner Mutter noch mit mir, wenn er mich auch seinen Liebling nannte …“. Die Levetzows reisten am 17. August 1823 nach Karlsbad und Goethe erhielt eine unausgesprochene Vertröstung; obwohl man fröhlich auseinanderging in dem Bewusstsein, sich wiederzusehen, war die Abreise von Marienbad nach Karlsbad auch eine kleine, willkommene Flucht vor dem förmlichen Antrag des Großherzogs. Goethe spürte es und er schrieb Ottilie von Goethe tags darauf: „Denke nun zwischendurch vieles Würdige, das man erst erkennt, wenn es vorüber ist; so begreifst du das Bittersüße des Kelchs, den ich bis auf die Neige getrunken und ausgeschlürft habe.“ Poetischer und weniger verschlüsselt klingt das Lied von der bittersüßen Neige, das Goethe der Meisterin der Töne, der Pianistin Madame Marie Szymanowska am selben Tag ins Album schrieb: Die Leidenschaft bringt Leiden! – Wer beschwichtigt Beklommnes Herz das allzuviel verloren Wo sind die Stunden allzuschnell verflüchtigt? Vergebens war das Schönste dir erkoren!

Die Musik der großen Künstlerin hatte ihm seine Situation zwischen Leidenschaft und Entsagung noch deutlicher gemacht und er fühlt die Leiden seiner bangenden Liebe in ihrer Musik bestätigt. Zum ersten Mal beginnt Goethe Musik als eine höhere Offenbarung zu begreifen und er zwingt diese Erfahrung in die Schlusszeilen dieses Widmungsgedichts, das dann unter dem Titel Aussöhnung zum dritten Teil der berühmten Trilogie der Leidenschaft bestimmt wird. Da fühlte sich – o! daß es ewig bliebe! – Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.

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Umgetrieben vor Erwartung einer Antwort auf seinen Antrag trat Goethe aus dem Marienbader „Zauberkreis“ (so an Carl Friedrich Zelter am 24. August 1823) und reiste den Damen nach Karlsbad nach und ließ sie nicht entkommen. Er machte den Tag seines 74. Geburtstags am 28. August sogar zum „Tag des öffentlichen Geheimnisses“ und jeder mochte darunter sich seinen Teil denken. Ulrike zuvörderst, die Mutter ebenso und natürlich Sohn und Schwiegertochter und das klatschende Weimar. Wie er auch hoffen mochte, er bekam keine Antwort, und als man des Abends in Karlsbad zurück war, legt der Liebhaber, trotz der Musik, mit der er umringt wurde, sich eher melancholisch zu Bett. Es bleiben noch wenige Tage und am 5. September gibt es einen „allgemeinen, etwas tumultuarischen Abschied“. Am 6. September redigiert Goethe laut seinem Tagebuch bereits „an dem Gedicht“, an der großen Elegie, die bei der Ankunft am 17. September in Weimar als Kernstück der Trilogie im Wesentlichen fertig ist. Das Gedicht weiß es endgültig. Seiner Liebe bleibt nur die Entsagung, auch wenn die Briefe an Frau von Levetzow weiterhin dezente Hoffnungen formulieren. Aus Eger klingt es am 9. September zurückhaltend bittend: Und wenn ich mich nun zu der Tochter wende so geht es mir eben so; doch da sie selbst mit Worten nicht freygebig seyn mag so verzeiht sie mir wohl wenn ich diesmal zurückhalte. Doch wenn mein Liebling (wofür zu gelten sie nun einmal nicht ablehnen kann) sich manchmal wiederhohlen will was sie auswendig weis, das heist das Innerste meiner Gesinnung, so wird sie sich alles besser sagen als ich in meinem jetzigen Zustand vermöchte. Dabei wird sie nicht abläugnen daß es eine schöne Sache sey geliebt zu werden, wenn auch der Freund manchmal unbequem fallen möchte.

Noch am Silvesterabend werden Hoffnungen fürs kommende Jahr artikuliert, die sich begegnen mögen. Es blieb dabei, das Mädchen war nicht zu haben. Ihre brieflichen Nachschriften und ihre späten Erinnerungen waren brav und bieder und wirkten im Verhältnis zu Goethes Liebeskrankheit fast banal. Sie haben von seiner Tragödie nichts verstanden. Ich kann nur wiederholen, was ich schon oft gesagt, es war eine schöne Zeit, welche wir mit dem so liebenswürdigen Manne verlebt haben, und die Briefe, welche er noch lange

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Jahre mit meiner Mutter wechselte, zeigten, daß er sie auch nicht vergessen.

Wie sollte er sie nicht vergessen haben, denn ihn kostete die schöne Zeit, hätte er sich sein Leiden nicht von der Seele schreiben können, fast das Leben. Als die Elegie fertig war, brachte sie Goethe persönlich in eine Reinschrift, die er nur ausgewählten Freunden zu lesen gab, so zuerst Johann Peter Eckermann, dann Wilhelm von Humboldt und Carl Friedrich Zelter, dem engvertrauten Freund. Der besucht ihn im November und findet ihn sterbenskrank. Immer und immer wieder muss ihm Zelter die Marienbader Elegie vorlesen, und als ob die Lesung als Therapie anschlagen würde, kann er Goethe am 13. Dezember wieder in völliger Munterkeit verlassen. Der düstere Ton der Elegie hat nicht das letzte Wort: Die Musik als das Medium der „Aussöhnung“ mit des Schicksals Allgewalt hat das letzte Wort und verspricht Heilung. Aber es ist wohl eine sehr stille, innige und wehmütige Musik, wehmütig und befreiend wie die Tränen des Schmerzes und der Trauer. Sie mögen trocknen, man kann sie abwischen, aber sie hinterlassen eine Bitternis im Herzen. Wer einmal geweint hat, der mag zwar auf der Kippe der Elegie noch zum Stehen kommen, aber der Abgrund bleibt ungesichert, trotz wiederhergestellter Munterkeit. Wenn es auch nur ein vordergründiges Zeichen dafür ist, Goethe besuchte die böhmischen Bäder nach dem Marienbader Sommer 1823 nie mehr. Er meidet den Abgrund, den die Elegie aufreißt und vor dem die Töne wie die Tränen nur mühsam bewahren. Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, Der ich noch erst den Göttern Liebling war; Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren, So reich an Gütern, reicher an Gefahr; Sie drängten mich zum grabeseligen Munde, Sie trennen mich, und richten mich zugrunde.

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Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette von Goethe geb. Freiin von Pogwisch 1796–1872

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Mit 21 Jahren erheiratet sich Ottilie von Pogwisch am Dienstag, dem 17. Juni 1817, abends um 7 Uhr im Haus am Frauenplan einen großen Namen: von Goethe. Sie wird den Erwartungen, die an diesen Namen geknüpft sind, voll gerecht, solange mit ihm die Beziehung der adelsstolzen, aber verarmten jungen Dame zum großen Dichter der Nation beschrieben wird. Ihre vielfältigen Talente und ihre außerordentliche Liebenswürdigkeit und ihr Temperament konnte sie in die wohlgeordnete, gleichwohl weltoffene Häuslichkeit Goethes bestens einbringen, nachdem das Haus durch Christianes Tod im Juni 1816 verwaist war. Anders als Goethes Frau führte die Schwiegertochter das Haus als eine Herrin des Salons und nicht der Küche. Das scheint Goethe gefallen zu haben, musste er es doch in den Jahren seiner Ehe schmerzlich entbehren. Nicht zuletzt deshalb hat Goethe sie und sie Goethe auch ganz besonders ins Herz geschlossen, und ihrer beider Verhältnis in Zuneigung und beidseitigem Einfühlungsvermögen erlitt bis zum Tode des von Ottilie bewunderten Schwiegervaters keinerlei Trübung. Leider aber hatte nicht Vater Goethe Ottilie geheiratet, sondern Sohn August von Goethe, und diese Heirat machte, obwohl sich die Ehe glücklich anließ, Ottilies Lebensdrama aus. War Goethe – wie auch andere Männer im Umkreis des schwärmerischen Mädchens – ein männliches Ideal für sie, so blieb der Sohn August in seiner eher prosaischen Art ein mit ihrer temperamentvollen Launenhaftigkeit auf Dauer unvereinbarer Charakter. Sie nahm den Sohn, um dem Vater nahe zu sein, anders lassen sich Äußerungen kaum verstehen, wie die an Adele Schopenhauer am 8. August 1816. Da berichtet sie von einem zufälligen Treffen und einem huldvollen Gespräch mit dem Dichter: Der Geheimrat war freundlich und gütig, begleitete mich wieder zurück und schenkte mir Blumen; – wunderbar war es, – … Großer Gott, ich verging in dieser Stunde fast vor Glück und Wehmut.

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An Silvester 1816 war Verlobung, und das Glück schien vollkommen. Auch Goethe blickte, wie er schon am 2. Januar 1817 unmittelbar nach dem stillen Ereignis an Carl Ludwig Knebel ausführlich darlegte, hoffnungsfroh in die Zukunft: Die Nachricht, daß mein Sohn die ältere Fräulein von Pogwisch heirathet, wird schon zu dir gelangt seyn. Es ist der Wille der beiden jungen Leute, die schon längst einander wohlwollten. Ich hatte mir schon früher erwartet, daß es ernstlicher werden müßte, und jetzt ist es gerade die schicklichste Zeit. Jedermann übersieht leicht, daß durch diese Verbindung gar manche gute und angenehme Verhältnisse angeknüpft werden. Hof und Stadt scheinen zufrieden und so mag es denn gewagt sein.

Das Wagnis schien geglückt: verliebt, verlobt, verheiratet und 1818 stellte sich das erste Kind ein, 1820 das zweite Kind und endlich 1827 ein Töchterchen für den Großpapa, der ihm den Namen Alma verordnete. Immer hören wir von Goethe, wie er sich freut und wie er in Ottiliens Leben bis zu seinem Tode die stabile Größe schlechthin darstellt. Wie sie ihm das Haus repräsentiert, wie sie ihn als Vorleserin und Übersetzerin, als Begleiterin und Botschafterin bei Hofe und immer wieder als Krankenpflegerin umsorgt und wie sie sich selber zu inszenieren weiß, ist eines. Das andere aber war, dass es mit August von Goethe, mit dem sie die Mansardenwohnung des Goethehauses bezog, innerhalb weniger Jahre schlechter und schlechter stand. Dabei war August sehr um seine Frau bemüht, aber selbst Goethe musste erkennen, dass Ottilie ihn mit ihren kleinen Affären und Amouren konstant verletzte und kompromittierte. Einig mit August war sich Ottilie allerdings in einer Angelegenheit, als sie nämlich 1823 durch Goethes Absicht, Ulrike von Levetzow als Frau ins Haus zu holen, ihre Vorzugsstellung bedroht sah. Sie wird die Nachricht ihres Mannes aus dem Böhmischen gerne gehört haben, als dieser ihr am 14. September nach den Gefühlstumulten vom „Tag des öffentlichen Geheimnisses“ beruhigend berichten konnte: „Gestern abend habe ich mit dem Vater bis gegen 9 Uhr zugebracht, wir tranken zusammen, und nichts störte unser Zusammensein. Der bewußte Name [Ulrike von Levetzow], das Wort Familie, ist noch nicht genannt worden, und ich fange an zu hoffen, daß alles gut gehen und sich die ganze Geschichte wie ein Traumbild auflösen werde.“

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Die Angelegenheit erledigte sich bekanntlich gütlich, weil Goethe bei dem Marienbader Teenager nicht reüssieren konnte. Weniger gut ging es im Verhältnis von August und Ottilie weiter. Er begann wohl zu trinken, begann auch sein Verhältnis zum dominanten Vater zu hinterfragen; er entfremdete sich zunehmend und geriet in psychische Notlagen, aus denen zu entkommen eine heilende Italienreise das beste Mittel erschien. Am 22. April 1830 reiste er mit Eckermann in der Hoffnung auf Gesundung ab; die Kur in äußerster Not schien zu gelingen. Am 16. Oktober 1830 schreibt er an den Vater: „Mein höchster Wunsch ist erfüllt! Ich habe Italien gesehen und genossen … Es ist das erste Mal, im 40ten Jahre, daß ich zum Gefühl der Selbständigkeit gekommen …“ Keine zwei Wochen später starb August von Goethe am 27. Oktober 1830 in Rom entweder durch einen Schlaganfall oder durch eine Menengitis im Beisein des Malers Friedrich Preller und im Hause von Georg Christian August Kestner, dem 4. Sohn der großen Jugendliebe Charlotte Buff, verheiratete Kestner. August liegt auf dem Protestantischen Friedhof bei der Cestius-Pyramide begraben. Als Goethe die Nachricht am 10. November durch den Freund und Kanzler Friedrich von Müller schonend überbracht wird, fürchtet man um sein Leben. Ottilie fühlt sich durch den Tod des Gatten eher befreit. Sie verbleibt bis zum Tode Goethes am 22. März 1832 in ihrer hilfreich-sorgenden Funktion im Haus am Frauenplan, doch die dann endgültig gewonnene Freiheit brachte ihr auch weiterhin kein Glück. Der Fixstern ihres Lebens war verschwunden, und der Verlust hat sie haltlos zurückgelassen. Sie blieb unstet und exaltiert. Weder war sie in der Lage, ihre ökonomischen Angelegenheiten zu regeln noch ihre weiteren Beziehungen zu Männern; ihre Sehnsucht nach der großen Liebe blieb ungestillt. Auch wusste sie ihrer Rastlosigkeit kein Ziel zu geben. Sie wechselte, obwohl ihr Goethe lebenslange freie Nutzung von Haus und Garten nebst einer soliden finanziellen Absicherung testamentarisch gesichert hatte, unentwegt ihre Aufenthaltsorte: Mainz, Frankfurt, Wien, Leipzig, Berlin, Dresden, Meran, Rom, Neapel, Florenz, Genua, Venedig. Das waren nicht eigentlich Reisen, sondern Fluchten vor sich selbst und dem Haus am Frauenplan, in das sie, durch Geldnot gezwungen, spät zurückkehrte. Erst 1870 bezieht sie zwei Jahre vor ihrem Tod am 26. Oktober 1872 mit fast

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76 Jahren wieder die Mansarde im Goethehaus. Ihr Nachlass, bestehend aus Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen (Erlebnisse und Geständnisse) wurde erst im 20. Jahrhundert nach und nach entdeckt und herausgegeben, und er vermittelt das Bild einer zwar ungewöhnlichen, aber auch sehr ziellosen und getriebenen Frau. Goethe hat die Defizite Ottiliens durchaus gesehen, auch wenn er zumeist schwieg und sich aus dem Zwist zwischen Sohn und Schwiegertochter heraushielt. Ein erster Platz in jeder hagiographisch-verklärenden Lebensbeschreibung Goethes gebührt Ottilie von Goethe aber allemal: Es ist die Sterbestunde des Helden ihres Lebens. Von ihr berichtet uns am 23. März 1832 die Malerin Louise Seidler, die mit Goethe seit ihrer Jugend eng vertraut war: Um 10 Uhr hörte er beinah ganz zu sprechen auf, einzelnes abgerechnet, zum Beispiel: ‚Setze Dich zu mir, liebe Tochter, ganz nahe‘, später: ‚Gib mir Dein liebes Pfötchen.‘ Die Augen waren meistens nur halb auf; er öffnete sie nur noch, die mit unaussprechlicher Liebe anzublicken, die, in seinem Geist sich bemühend zu handeln, festblieb und keine Träne vergoß, ihm die Kissen unterstützte, seine Hand hielt, bis der letzte Atemzug sich verlor. Ein einziger heftiger war der ganze Kampf, den diese große herrliche Natur zu bestehen hatte. Der Kopf blieb ruhig dabei in seiner Lage, die Hände desgleichen. So blieb die Tochter noch lange sitzend, unbeweglich, als schon viele Menschen hereingestürzt, den jammervollen Anblick zu teilen; sie drückte dann die schönen Augen für immer zu, ließ die Kinder rufen, ihn noch einmal zu sehen, und ging dann hinauf, wo ihr erst nach einigen Stunden die Natur eine lindernde Träne vergönnte!

Anhang

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Literaturverzeichnis Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimarer Ausgabe. Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Weimar, Böhlau, 1887–1919. – München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987 (= dtv 5946) Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Artemis Gedenkausgabe in 18 Bänden. Hrsg. von Ernst Beutler. Unveränderter Nachdruck der Bände 1–17 der Ausgabe Zürich: Artemis Verlag 1948–1954. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1977 Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens in 33 Bänden. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder, München: Hanser Verlag. Genehmigte Taschenbuchausgabe München: btb verlag 2006 Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. dtv-Bibliothek der Erstausgaben. Hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997 ff (= Die Leiden des jungen Werthers 1997, West-oestlicher Divan 1997, Faust. Eine Tragödie 1997, Faust II. 1997, Iphigenie auf Tauris 1998, Torquato Tasso 1998, Die Wahlverwandtschaften 1999, Mährchen / Novelle 1999, Egmont 2006, Götz von Berlichingen mit der eisernen Faust 2006) *** Goethes Gespräche. Biedermannsche Ausgabe. [Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann]. Fünf Bände in sechs Teilbänden nach der im Artemis Verlag, Zürich, von 1965– 1987 erschienen Ausgabe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Heinz Schlaffer (= Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens in 33 Bänden. Münchner Ausgabe. Band 19). München 2006 Sauer, August: Ulrike von Levetzows Erinnerungen an Goethe. Prag: [Privatdr.] 1919 (= Veröffentlichungen der Gesellschaft deutscher Bücherfreunde in Böhmen, Nr. 2, 6 Bl., 15 S., mit 12 Lichtdr. Taf.) Kleßmann, Eckart (Hrsg.): Goethe aus der Nähe. Texte von Zeitgenossen, ausgewählt und kommentiert von Eckart Kleßmann. Zürich: Artemis & Winkler Verlag 1994 Dobel, Richard (Hrsg.): Lexikon der Goethe-Zitate. Zürich: Artemis Verlag 1968 GOETHES LEBEN von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik von Robert Steiger und [ab Bd. 6:] Angelika Reimann. 8 Bände. Zürich / München: Artemis-Verlag 1982–1996 *** Göres, Jörn (Hrsg.): Goethes Leben in Bilddokumenten. München: Beck Verlag 1981 Michel, Christoph (Hrsg.): Goethe. Sein Leben in Bildern und Texten. Vorwort von Adolf Muschg. Frankfurt: Insel Verlag 1982 *** Creizenach, Theodor (Hrsg): Briefwechsel zwischen Goethe und Marianne von Willemer (Suleika). Stuttgart: J.G. Cotta 1877 Damm, Sigrid (Hrsg): Behalte mich ja lieb! Christianes und Goethes Ehebriefe. Auswahl und Nachwort von Sigrid Damm. Frankfurt a.M. / Leipzig: Insel Verlag 1998 (= Insel-Bücherei Nr. 1190) Damm, Sigrid (Hrsg): Christiane Goethe. Tagebuch 1816 und Briefe. Nach der Handschrift hrsg. von Sigrid Damm. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1999 (= insel taschenbuch 2561) Gräf, Hans Gerhard (Hrsg): Goethes Briefwechsel mit seiner Frau. Hrsg. von Gerhard Gräf, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Rütten & Loening 1916

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Ries, John (Hrsg.): Die Briefe der Elise von Türckheim, geb. Schönemann. Goethes Lili. Frankfurt: Englert & Schlosser 1924 *** Wilpert, Gero von: Goethe-Lexikon. Stuttgart: Kröner Verlag 1998 Biedrzynski, Effi: Goethes Weimar. Das Lexikon der Personen und Schauplätze. Zürich: Artemis & Winkler Verlag 1992. Neuausgabe, ergänzt um ein Personen-, Sach- und Ortsregister, Mannheim: Artemis & Winkler 2010 Jeßing, Benedikt / Lutz, Bernd / Wild, Inge: Metzler Goethe Lexikon: alles über Personen, Werke, Orte, Sachen, Begriffe, Alltag und Kurioses. Stuttgart: Metzler Verlag 1999 Lösch, Michael: Who’s who bei Goethe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998 *** Appel, Sabine: Im Feengarten. Goethe und die Frauen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1998 Bamberg, Eduard von (Hrsg.): Die Erinnerungen der Karoline Jagemann. Nebst zahlreichen unveröffentlichten Dokumenten aus der Goethezeit. Dresden 1926 Damm, Sigrid: Christiane und Goethe. Eine Recherche. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 1998 (= insel taschenbuch 2800, Frankfurt 2001) Damm, Sigrid: Cornelia Goethe. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 1992 (= insel taschenbuch 1452, 12Frankfurt 2009) Damm, Sigrid: Goethes letzte Reise. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 2007 (= insel taschenbuch 3300, Frankfurt 2009) Eissler, Kurt R.: Goethe. Eine psychoanalytische Studie 1775–1786. Hrsg. v. Rüdiger Scholz, in Verb. mit Wolfram Mauser und Johannes Cremerius. Aus dem Amerikanischen von Peter Fischer (Bd. 1) und Peter Scholz (Bd. 2). Frankfurt a. M.: Stroemfeld Verlag 1983 / 1985 Fischer-Dieskau, Dietrich: Goethe als Intendant. Theaterleidenschaften im klassischen Weimar. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2006 Gersdorff, Dagmar: Die erste große Liebe: Goethe und Lili Schönemann. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 2002 (= insel taschenbuch 1229) Gersdorff, Dagmar: Goethes späte Liebe. Die Geschichte der Ulrike von Levetzow. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 2005 (= insel taschenbuch 1265) Goethes Lotte. Ein Frauenleben um 1800. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in Hannover / Weimar / Wetzlar. Hannover 2003 (= Schriften des Historischen Museums Hannover 21) Hardach-Pinke, Irene: Ottilies Geheimnis. Als Schwiegertochter im Hause Goethe. Königstein / Taunus: Helmer Verlag 2008 Henscheid, Eckhard: Goethe unter Frauen. Mit Illustrationen von Klaus Ensikat. Berlin: Alexander Fest Verlag 1999 Hohoff, Curt: Johann Wolfgang von Goethe. Dichtung und Leben. München: Langen Müller 1989 Koopmann, Helmut: Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe. München: Beck Verlag 2002; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004 Kühn, Paul: Die Frauen um Goethe. Weimarer Interieurs. (Band I: Die Frauen. Ehe, Seelenfreund­ schaft, Liebe. Band II: Familie und Freundschaft. Bildung. Geselligkeit. Alter und neue Jugend.) Leipzig: Klinkhardt & Biermann 1911 / 1912 Kühnlenz, Fritz: Weimarer Porträts. Männer und Frauen und Männer um Goethe und Schiller. Rudolstadt: Greifenverlag 1961 Laufenberg, Walter: Goethe und die Bajadere. Das Geheimnis des West-östlichen Diwans. München / Berlin: F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung 1993 Oehlke, Waldemar (Hrsg): Bettine von Arnim. Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 1984 (= insel taschenbuch 767) Pecht, Friedrich / Ramberg, Arthur von: Goethe-Galerie. Charaktere aus Goethes’s Werken.

354 • Gezeichnet von Friedrich Pecht und Arthur von Ramberg. Funfzig Blätter in Stahlstich. Mit erläuterndem Texte von Friedrich Pecht. Leipzig: Brockhaus 1864 Rahmeyer, Ruth: Werthers Lotte. Goethes Liebe für einen Sommer. Die Biographie der Charlotte Kestner. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 1999 (= insel taschenbuch 2272) Reißinger, Marianne: „Zwei Seelen, ach, in meiner Brust“. Goethe ganz privat. München: Langen Müller 2003 Seele, Astrid: Frauen um Goethe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1997; überarbeitete Neuausgabe Reinbek bei Hamburg 2000 Seydel, Renate (Hrsg.): Charlotte von Stein und Johann Wolfgang von Goethe. Die Geschichte einer großen Liebe. München: Nymphenburger 1993 Wilpert, Gero von: Die 101 wichtigsten Fragen – Goethe. München: C.H. Beck 2007 Winter, Ingelore M.: Goethes Charlotte von Stein. Die Geschichte einer Liebe erzählt nach seinen Briefen und Tagebüchern. Düsseldorf: Droste Verlag 1992 Zapperi, Roberto: Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom. Aus dem Italienischen von Ingeborg Walter. München: Beck Verlag 1999 Zittel, Manfred: Erste Lieb’ und Freundschaft. Goethes Leipziger Jahre. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2007 *** Goethezitate aus den Werken sind im Text so nachgewiesen, dass sie in der Regel in jeder Ausgabe ohne Probleme auffindbar sind. Briefzitate und Tagebücher sind durch ihr Datum nachgewiesen und können so in der Weimarer Sophienausgabe weiterverfolgt werden. Andere Dokumente sind vorrangig nach Goethes Leben von Tag zu Tag oder nach Goethes Gespräche. Biedermannsche Ausgabe zitiert. Die Schreibweisen der Frauennamen aus Goethes Lebenswirklichkeit sind besonders Catharina / Katharina, Friederica / Friederika, Louise / Luise oder bei den Endungen a / e uneinheitlich überliefert. Detailuntersuchungen liegen nicht vor. Daher wurden die jeweils im 18. Jahrhundert vermutlich am häufigsten verwendeten Schreibweisen übernommen.

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Abbildungsverzeichnis Die Darstellungen der Frauen aus Goethes Dichtungen entstammen dem Buch von Friedrich Pecht und Arthur von Ramberg, das 1864 in erster Ausgabe erschien (siehe Literaturverzeichnis). Friedrich Pecht wurde am 2. Oktober 1814 in Konstanz geboren. Der Historien- und Porträtmaler erhielt seine Ausbildung in München. Er lebte und wirkte an wechselnden Orten, so in Dresden, Leipzig, Paris, Weimar und in Italien. Ab 1854 begann er bei der Augsburger Allgemeinen Zeitung als Kunstreferent. Als Kunstschriftsteller und zugleich als Maler gab er neben der Goethe-Galerie, auch eine Schiller-Galerie, eine Lessing-Galerie und eine Shakespeare-Galerie heraus. In München, das er sich nach seinen Wanderjahren zum Wohnsitz erwählte, starb der produktive Künstler am 24. April 1903. Arthur Georg Freiherr von Ramberg wurde am 4. September 1819 Wien geboren. Er war wie Friedrich Pecht ausgebildet als Historienmaler, arbeitete wie dieser als Lithograph und Zeichner für den Kupferstich. Beeinflusst von Schwind und Piloty wurde er Professor an der Kunstschule in Weimar und ab 1866 an der Akademie in München. Dort entstand zusammen mit Friedrich Pecht zum Schillerjahr 1859 die Schiller-Galerie, und auch zur Goethe-Galerie hat er ein Blatt beigetragen. Er hat aber jenseits dieser gemeinsamen Arbeit in eigener Manier Schillers Gedichte, Wielands Oberon, Goethes Hermann und Dorothea und Voß’ Louise illustriert. Er starb am 5. Februar 1875 in München. *** Alle Abbildungen der realen Frauen um Goethe sind nach bekannten Darstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Katharina Elisabeth Textor / Frau Rat Goethe: Unbekannter Künstler Cornelia Friederica Christiana Goethe: Zeichnung von Johann Ludwig Morgenstern Anna Katharina Schönkopf: Miniatur von Auguste Hüssener Susanna Katharina von Klettenberg: Miniatur, anonym Friederike Elisabeth Brion: Unbekannter Künstler Charlotte Sophie Henriette Buff: nach einem Pastell von Johann Heinrich Schröder Anna Elisabeth Schönemann: Unbekannter Künstler Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar und Eisenach: Gemälde von Johann Ernst Heinsius Charlotte Albertine Ernestine von Stein: Vermutlich Selbstbildnis Corona Elisabeth Wilhelmine Schröter: Gemälde von Anton Graff Faustina: Zeichnung von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein Johanna Christiana Sophie Vulpius: Miniatur von Karl Joseph Raabe Charlotte Albertine Ernestine von Stein: Stich des vermutlichen Selbstporträts Christiane Amalie Louise Becker: Silberstiftzeichnung von Johann Heinrich Lips Henriette Karoline Friedericke Jagemann: Rollenporträt (Ion) von Jakob Wilhelm Christian Roux Maria Paulowna, Großherzogin von Weimar: Ölporträt von Vladimir Lukich Borovikovsky Bettine von Arnim: Zeichnung von Ludwig Emil Grimm Christiane Friederike Wilhelmine Herzlieb: Ölbild von Louise Caroline Sophie Seidler Maria Ludovika Beatrix, Kaiserin von Österreich: Unbekannter Maler Marianne von Willemer: Pastell von Johann Jacob de Lose Theodore Ulrike Sophie von Levetzow: nach Pastellgemälde von unbekannter Hand Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette von Goethe: Pastell von Louise Caroline Sophie Seidler

Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre M.A. (* 1946) ist Literatur-, Theaterund Kunstwissenschaftler. Er lehrte an der Universität München, arbeitete als Museumsleiter und hat zur Literatur und Kunst zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-45012-1

Goethes Frauen Joseph Kiermeier-Debre

Nach der Mode der Galeriewerke des 19. Jahrhunderts werden in diesem Buch die wichtigsten Frauen aus Goethes Leben und Dichtung in empfindsamen und dokumentarischen Bildern, in nacherzählendem und interpretierendem Wort und im Zitat vorgestellt. Im Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Phantasie lässt sich der große Klassiker aus ungewöhnlicher Perspektive neu entdecken und mit Blick auf Shakespeares und Schillers Frauenbilder konstatieren: Das Ewig – Weibliche/ Zog sie hinan.

Joseph Kiermeier-Debre

Goethes Frauen 44 Porträts aus Leben und Dichtung