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German Pages 24 [25] Year 2016
Gespräch zwischen Disziplinen
Fundamentalistische Praxis Religiös und säkular – eine religionssoziologische Perspektive Heinrich Wilhelm Schäfer Anschläge in Paris und in Nizza, Axtangriff im Regionalzug, Kopftücher, der Islamische Staat, Wutdemonstrationen gegen Mohammed-Karikaturen, World Trade Center, Al-Qaida … – dies auf der einen Seite. Auf der anderen Kolonialregime, Zwangsarbeit, arabische Frauen gezwungen zur Gymnastik in Badeanzügen vor den Augen britischer Offiziere, Putsch gegen Mossadegh im Iran, Vertreibung der Palästinenser, Bombardierung Beiruts 1982, säkularistische Folterregimes im Pakt mit dem Westen, jüngst ein völkerrechtswidriger Raubkrieg der USA und Britanniens im Irak … Fundamentalisten sind immer die Anderen. Zudem zeigt schon der erste Teil dieser Aufzählung, dass die Diskussion dieses Themas stark den jeweils aktuellen Ereignissen unterworfen ist. Und der zweite Teil der Aufzählung sollte zweierlei klarmachen: Erstens, man kann die aktuellen Ereignisse auch von einer anderen Warte als der westlichen wahrnehmen. Zweitens, man braucht einen distanzierenden Blick und ein gerütteltes Maß an Faktenstudium, um die Position der Anderen verstehen zu können. Der Begriff des Fundamentalismus, wie er in der öffentlichen Diskussion verwendet wird, ist wenig geeignet, eine solche Distanzierung zu schaffen. Denn wie gesagt: Fundamentalisten sind immer die Anderen. Allerdings, gerade wegen der Gefahr des propagandistischen Missbrauchs sollte die Wissenschaft diesen Begriff nicht den Propagandisten überlassen. Fundamentalismus Ein soziologischer Begriff von Fundamentalismus sollte Folgendes leisten: Erstens sollte er so formal gefasst sein, dass die jeweils Anderen – u.U. auch Fundamentalisten – den Begriff im Gegenzug auch auf seine Verwender anwenden können. Zweitens sollte der Begriff nicht zum Pauschalisieren
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DOI 10.2364/3846998953
taugen, sondern zum genauen Hinsehen auf die sozialen Lagen und die Interessen von Akteuren. Aus dem zweiten Punkt leiten sich weitere Forderungen ab. Die Unterscheidung von Moderne versus Fundamentalismus ist inakzeptabel, weil sie fundamentalistische Ausprägungen der Moderne von vornherein ausschließt. Die Bezeichnung „fundamentalistisch“ kann nicht „wesenhaft“, sondern nur historisch(-soziologisch) auf religiöse oder soziale Bewegungen zugerechnet werden, denn Akteure verändern sich. Nicht jede klare religiöse Selbstdefinition ist schon fundamentalistisch – wenngleich sie einem europäisch-säkularen Intellektuellen (nahezu a priori) so erscheinen mag. Schließlich sollte der Begriff des Fundamentalismus nicht nur auf religiöse Praxis, sondern auch auf andere Praxisformen wie etwa Ökonomie oder Politik zurechenbar sein. Aus den genannten Gründen scheinen mir Arbeitsdefinitionen, wie sie in der Theologie gelegentlich verwendet werden, wenig hilfreich. Während es sicher richtig ist, dass die Entstehung des Begriffs (fundamentals) eng mit der Entstehung des konservativen Evangelikalismus in den USA verbunden ist, so ist diese genealogische Beschränkung des Begriffs heute wenig hilf1 reich. Ebenso wenig hilfreich scheint mir die Beschränkung des Begriffs auf einen bestimmten Umgang mit Texten, da die semantischen und semiotischen Operatoren, die zur Entstehung fundamentalistischer Haltungen führen keineswegs nur mit Texten funktionieren. Ich schlage folglich einen strikt formalen Fundamentalismusbegriff vor: Fundamentalistisch sind solche sozialen (und damit auch religiösen) Akteure, die (1) Überzeugungen (gleich welcher Art) absolut setzen und (2) daraus eine gesellschaftliche Dominanzstrategie ableiten, die das private und öffentliche Leben dem Diktat ihrer Überzeugungen zu unterwerfen sucht. Der Kontext (3) für eine solche Strategie ist die grundlegende Politisierung aller 2 Lebensverhältnisse in der Moderne. Ein solcher Fundamentalismusbegriff ist als Kombination von Kriterien (ein Modell, wenn man so will) konzipiert, das beobachtetes Handeln in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen 1
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Schon damals gab es etwa im Katholizismus (Vaticanum I) eine durchaus ähnliche Tendenz. Siehe Heinrich W. Schäfer, Religiöser Fundamentalismus als Ermächtigungsstrategie, in: Ökumenische Rundschau 41/4, 1992, 434–448, hier 443. Für weitere Literatur verweise ich auf unsere Bielefelder Website: www.uni-bielefeld.de/religionsforschung (Suchmaschine: cirrus uni bielefeld). Dieser Prozess wird von Dieter Senghaas „Fundamentalpolitisierung“ genannt: Zum irdischen Frieden, Frankfurt 2004, 28 ff. Ich vermeide lediglich den Begriff, um keine Assoziationen zum Fundamentalismus aufkommen zu lassen.
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Praxisfeldern (also nicht nur Religion) als fundamentalistisch bzw. nichtfundamentalistisch zu klassifizieren erlaubt. Das erste Kriterium zielt auf die Absolutsetzung eigener Überzeugungen als Mittel der kollektiven Identitätsbildung. Die Akteure (in unserem Fall erst einmal religiöse) ziehen unüberwindbare Grenzen gegenüber anderen, indem sie ihrer eigenen Glaubensüberzeugung absolute (und damit auch universale) Geltung zuschreiben. Sie setzen sich damit zunächst von liberalen Angehörigen ihrer eigenen Position ab, die als Häretiker gesehen werden. Sodann heben sie sich religiös-symbolisch aus ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Diskurs- und Herrschaftszusammenhang heraus. Der zur Identitätskonstruktion verwendete Glaubensinhalt kann dabei sehr unterschiedlich sein; keineswegs immer eine Schrift (die Bibel oder der Koran), wie das von vielen Autoren betont wird. Fundamentalisten können auch den Mahdi, die Kraft des Heiligen Geistes, die Zionsverheißung, das Beispiel der Herrschaft des Propheten in Medina oder sonst etwas favorisieren. In jedem Falle ist mit der Art der Selbstzuschreibung immer eine passende Art der negativen Fremdzuschreibung von Identität auf die Gegner verbunden. Die jeweiligen Glaubensinhalte sind dabei in den Praxiszusammenhängen nicht gleichgültig. Sie sind an religiöse bzw. politische oder kulturelle Traditionen gebunden, entsprechen einer spezifischen Wahrnehmung gesellschaftlicher Krisen und sind an den Handlungschancen der Akteure orientiert. Nur so können sie religiösen Sinn stiften, spezifische Identitäten herausbilden, zur gesellschaftlichen Mobilisierung beitragen und über religiöse Identitätsbezeugungen etwa Politik gestalten. Ähnliches kann man über Positionen in Wirtschaft oder Politik sagen. Neoliberale Wirtschaftspropheten bleiben trotz Systemkrise bei Ihren Dogmen; Politiker behaupten die von ihnen vertretenen Systeme als alternativlos und wesensmäßig legitimiert. Die Absolutsetzung des Eigenen allein lässt allerdings noch nicht auf Fundamentalismus schließen. Das zweite Kriterium spezifiziert den Fundamentalismusbegriff, indem es Dominanzstrategien einbezieht. Max Weber hat zwischen religiösen Strategien der Weltflucht und der Weltbeherrschung unterschieden. Wenn 3 man allerdings beide Strategien auf Fundamentalismus anwendet , wird der Begriff unscharf. Menschen, die sich vor extremer Repression schützen, 3
Martin Riesebrodt, Protestantischer Fundamentalismus in den USA. Die religiöse Rechte im Zeitalter der elektronischen Medien (Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen), Stuttgart 1987, 4f.
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indem sie sich in eine abgeschlossene Gemeinschaft zurückziehen und die Welt fliehen, ihre Mitmenschen ansonsten aber in Frieden lassen und sie freundlich grüßen, sollten nicht als Fundamentalisten bezeichnet werden. Ein weiter Fundamentalismusbegriff würde solche Menschen mit Zeitgenossen zusammenwürfeln, die ihre Existenzberechtigung darin sehen, der Öffentlichkeit absolute Begriffe von gut und böse unter Umständen mit Gewalt aufzunötigen. Die Differenz zwischen diesen Verhaltensweisen lässt sich praktisch bei allen religiösen Bewegungen feststellen. Im Evangelikalismus oder der Pfingstbewegung, ebenso wie bei islamischen Bewegungen oder Hindutva lassen sich solche Gruppen ausmachen, die sich in Enklaven zurückziehen, und andere, die aggressive politische Machtstrategien verfolgen. Beide setzen ihre religiösen Überzeugungen absolut; die einen zum Schutz, die anderen zum Machterwerb. Wenn der Fundamentalismusbegriff in religiösen, sozialen und politischen Zusammenhängen trennscharf sein 4 soll, empfiehlt es sich, mit Eisenstadt dem „jakobinischen“ Charakter des Fundamentalismus besonderes Gewicht beizumessen. Fundamentalisten versuchen, bestimmte Praxisfelder oder gar ganze Gesellschaften gemäß ihren Überzeugungen zu gestalten – notfalls, aber keineswegs immer, mit Gewalt. Der Kampf um gesellschaftliche Dominanz und politische Herrschaft (und nicht der Gebrauch von Medien oder Boden-Luft-Raketen) macht Fundamentalismen zu modernen sozialen Bewegungen. Diese Kriterien, die Absolutsetzung des Eigenen und die Dominanzstrategie, sind abhängig voneinander. Eine bestimmte Handlungsweise kann nur dann als fundamentalistisch bezeichnet werden, wenn sie beiden Kriterien genügt. Die bloße Absolutsetzung eigener Überzeugungen kann, wie schon gesagt, ein Schutz gegen Repression sein, ohne dass Universalitätsansprüche praktisch geltend gemacht werden. Umgekehrt kann es nötig und über das Widerstandsrecht legitimiert sein, gegen eine Diktatur revolutionäre Gewalt anzuwenden, um allgemeine politische Beteiligung (und somit 5 nicht absolut gesetzte eigene Positionen) durchzusetzen. Folglich kann gemäß unserem Doppelkriterium ein sozialer Akteur nur dann als funda-
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Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000 – Ders., Fundamentalism, Phenomenology, and Comparative Dimensions, in: MartinE. Marty/R. Scott Appleby (Hg.): Fundamentalisms comprehended. The Fundamentalism Project, Vol. 5, Chicago 1995, 259 276. Ähnlich Martin E. Marty/R. Scott Appleby, Herausforderung Fundamentalismus. Frankfurt 1996, 15 (mit dem Beispiel der Familien Yoder und Morris).
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mentalistisch bezeichnet werden, wenn er eine Überzeugung absolut setzt und mit Dominanzstrategien gesellschaftlich durchzusetzen sucht. Das dritte Kriterium bezieht sich weniger auf die Einstellungen und Strategien der Gruppen selbst als auf ihren Handlungskontext. Religiöse Fundamentalismen entstehen in der Auseinandersetzung sozialer (oder spezifischer: religiöser) Akteure mit der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Moderne. Das betrifft einerseits die Technologie, vor allem aber die Entscheidungs- bzw. Herrschaftsstrukturen. In der Literatur ist man sich einig, dass Fundamentalisten (im Gegensatz zu Traditionalisten!) mit moderner Technologie keine Schwierigkeiten haben. Ihr Problem und zugleich ihre Chance ist die grundlegende Politisierung (Senghaas) aller gesellschaftlichen Verhältnisse in der Moderne: Identitäten, Lebenswege, religiöse Orientierungen, Sexualität, ökonomische Chancen usw. – alles wird von Traditionen entkoppelt und zum Gegenstand des privaten und öffentlichen Aushandelns von Interessengegensätzen. Genau hier greifen die jakobinischen Strategien von Fundamentalisten. Fundamentalisten versuchen also nicht primär, traditionelle gesellschaftliche Organisation (etwa Altershierarchien in indianischen Dörfern) gegen Veränderung abzusichern. Das Schlachtfeld der Fundamentalisten sind die Konflikte um das moderne Leben selbst. Traditionelle Kleidungsstücke beispielsweise oder Familienstrukturen sind nicht mehr einfach, was sie mal waren, sondern werden von fundamentalistischen Gruppierungen zu Emblemen für ihre Machtansprüche über die Gesellschaft als Ganze gemacht. Fundamentalistische Akteure agieren nach dem höchst modernen Muster sozialer Bewegungen. Im Blick auf die heute besonders augenfällige Opposition zwischen islamischem und christlichem Fundamentalismus lässt sich durch die Anwendung des Doppelkriteriums feststellen, dass weder Evangelikalismus noch Islamismus als Ganze fundamentalistisch sind. Aus soziologischer Perspektive sind noch weitere Unterscheidungen von Bedeutung. Zunächst sollte man nach Organisationsstufen differenzieren: Führungskader, Aktivisten und mobilisierbare Unterstützter in der Bevölkerung. Sodann macht es Sinn, verschiedene Phasen voneinander zu unterscheiden: Bewegungen können fundamentalistische Phasen durchlaufen, sich mit veränderten Handlungsmöglichkeiten aber auf demokratische Prozeduren einlassen und im Laufe der Zeit ihre fundamentalistischen Eigenschaften verlieren (wie etwa der Fall bei großen Teilen der ägyptischen Muslimbrüder bis 2013). Von besonderer Bedeutung ist es, die spezifische soziale Positionierung der Akteure zu berücksichtigen: zum einen ihre soziale Schichtenzugehörigkeit inklusive der entsprechenden Laufbahnperspektive; zum anderen ihre Positionierung in der jeweiligen Moderne (europäisch, US-amerikanisch, isla-
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misch, chinesisch etc.) und deren gesellschaftlichen Prozessen. Nur wenn man diese unterschiedlichen Positionierungen beachtet, werden die spezifischen Dynamiken fundamentalistischer Praxis hinreichend deutlich. Dazu kann in diesem kurzen Beitrag nur eine ganz knappe kontrastive Skizze zweier besonders aktueller Vertreter fundamentalistischer Strategien geliefert werden, des US-amerikanischen und des islamischen Fundamentalismus.6 Da im Blick auf den Islam gern von „Islamismus“ gesprochen wird, um zum Ausdruck zu bringen, dass religiöse Überzeugungen sozio-politisches Programm sind, werde ich hier im Blick auf derart programmorientierte Christen von „Christismus“ sprechen. Christismus Im Protestantismus der USA finden sich zwei Phasen starker fundamentalistischer Aktivität: die Jahrhundertwende zum zwanzigsten Jahrhundert sowie die zum einundzwanzigsten. Die erste Phase – die intellektualistisch moderne, sozusagen – stand unter dem Zeichen des biblischen Literalismus. Die aktuelle Aktivitätsphase – die magisch-postmoderne, beginnend etwa in den achtziger Jahren – wird von neopfingstlichen Medienunternehmern getragen und setzt direkte Eingebungen des Heiligen Geistes für diese Herrschaften sowie eine aktivistische apokalyptische Zeitkonzeption absolut. Historisch blickt das US-amerikanische Christentum, also auch seine fundamentalistischen Strömungen, zurück auf eine mit Unabhängigkeitskrieg und Staatsgründung bereits realisierte Revolution der Moderne. Die spezifisch US-amerikanische Moderne beruht auf der religiös legitimierten Schöpfung einer Nation quasi ex nihilo sowie der gegenseitigen Bedingung von Nation und christlicher Religion – bei gleichzeitiger institutioneller Trennung von Staat und Kirchen. Für ihre Bürger verkörpert die Nation die gelungene Revolution. Sie ist Gestalt gewordene Utopie, „Stadt auf dem Berge“, „Licht der Völker“. Das American System braucht also in Zukunft nicht mehr revolutioniert, sondern nur noch immer wieder einmal gereinigt und auf seine Ursprünge zurückgeführt zu werden. Politischer Traditionalismus wird so zum retrograden revolutionären Operator. Heute verbindet das fundamentalistische Sozialmilieu stagnierende (meist evangelikale) und aufsteigende (meist charismatische) Positionen der 6
Eine genauere Analyse findet sich in Heinrich W. Schäfer, Kampf der Fundamentalismen, Frankfurt 2008.
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unteren und oberen Mittelschicht zu einem gesellschafts- und außenpolitischen Kraftpol, der von den Organisationen der Religiösen Rechten repräsentiert wird, zum Teil von der sogenannten Tea Party. Die Absolutsetzung der eigenen Position erfolgt dabei tendenziell schichtenspezifisch. Die aufsteigenden Charismatiker legen den Akzent auf ihre Rolle in der „geistlichen Kriegsführung“ und aktivistischen Apokalyptik. Für America ist es immer „fünf vor Zwölf“ in der Bekämpfung seiner Feinde. In der stagnierenden Mittelschicht bleibt hingegen der evangelikale Ansatz dominant, der sich allerdings in nationalistische Politikstrategien nahtlos einbinden lässt. Beide Strömungen bedienen sich der für US-amerikanische Politik charakteristischen Verbindung von Recht, Moral und Religion, ohne die Grenzen zwischen Staat und Kirchen prinzipiell in Frage zu stellen, wohl aber bemüht, die Verfassung religiös umzugestalten. Modern ist der US-Fundamentalismus vor allem durch seine Identifikation mit dem US-amerikanischen Modell: der Schaffung einer Nation aus einem religiös-politischen Willensakt des Volkes, der Konkretisierung einer Utopie. Diese Identifikation mit dem Gründungsmythos führt den Fundamentalismus in Übereinstimmung mit dem „Amerikanismus“ der Grand Old Party und den von den Republikanern repräsentierten technokratischen und militärischen Oligarchien, ohne dass Fundamentalisten deshalb selbst technokratisch wären oder die Oligarchen religiös-fundamentalistisch. Ihre Handlungschancen lassen sich die Fundamentalisten folglich durch das amerikanische politische System vorgeben. Innenpolitisch tendieren sie weniger zur eigenen Machtübernahme und Verantwortung als zu lobbyistischen Einfluss-Strategien auf bestehende Machtzentren, meist in Synergie mit den Technokraten. Außenpolitisch – besonders in der heutigen Hegemoniekrise – geht es ihnen in fundamentalistisch-technokratischem Schulterschluss um America als kulturell-religiöses Ideal. America ist Christentum und das Christentum ist amerikanisch. Die Durchsetzung US-amerikanischer Interessen gegenüber den Fremden wird zur Christenpflicht. Und gemäß dem Gründungsmythos erscheinen die Länder der Fremden nur als Wüstenei jenseits der Siedlungsgrenze (frontier). Auf diese Weise werden internationale Interessenskonflikte in Identitätskonflikte verwandelt. Der Fundamentalismus in den USA trägt zur Verschärfung bestehender Konflikte bei, indem er politische Interessensgegensätze religiös radikalisiert. Fundamentalisten sagen etwa über „den“ Islam das, was die Civil Religion nicht sagen darf, nämlich dass er dämonisch sei. Insbesondere die charismatische, postmillenaristische Apokalyptik platziert die aggressive Außenpolitik technokratischer Globalisten als Protagonistin des Guten in ihrem metaphysischen Skript des Geschichtsverlaufs: der Kampf des Guten und Göttlichen
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gegen die dämonischen Mächte des Bösen (so etwa in den Romanen von Frank Perretti, der Left Behind-Serie und den entsprechenden Ballerspielen für Computer). Interessensidentitäten zwischen Technokraten und Fundamentalisten, die in der Innenperspektive bloße Übereinstimmungen von objektiven Positionen im gesellschaftlichen Raum sind, verdichten sich in der Perspektive nach außen zum strategischen Schulterschluss der Akteure. Die Fundamentalisten sind auch in dieser Hinsicht keine neokonservativen Technokraten; aber gerade dadurch, dass sie selbst keine sind, sondern die American religiösen Werte mobilisieren, sind sie die besten Verbündeten der Technokraten. Die Synergien zwischen Neocons und religiösen Radikalen unter der Regierung G. W. Bush stehen exemplarisch für eine solche Verbindung. Der Irak-Krieg seit 2003 kann als die entsprechende Form des Aufzwingens eigener, absolut gesetzter Überzeugungen auf Andere gewertet werden – nicht zuletzt, wenn man das delikate Detail berücksichtigt, dass Kenneth Graham (der Sohn Billys) gleich nach Bushs Mission AccomplishedAuftritt christliche Missionare in den Irak geschickt hat, um das Werk Bushs und Cheneys mit expliziter Christianisierung zu vollenden. Islamismus Die faktische Auslöschung der irakischen Mittelschicht durch das Wirtschaftsembargo seit 1990 (UNO Resolution 661) und der Irakkrieg 2003 sowie das aus beidem folgende Chaos im Irak hat in jüngster Zeit – provokativ gesagt – für einen größeren militärisch-religiösen Versuch der autonomen Reorganisation der dortigen Gesellschaft geführt: dem Islamischen 7 Staat. In Ermangelung politischer Organisationsmöglichkeiten hatte der Ableger der – von den USA mit geschaffenen – Al-Qaida im Irak leichtes Spiel, entlassene Beamte sowie Militär- und Geheimdienstangehörige unter den Kampfbannern des Islams zu rekrutieren. Religiöse Identität fungiert als Operator politischer Mobilisierung. In welchem historischen Zusammenhang steht diese Form religiöser Plausbilisierung politischer Strategien? Im sunnitischen Islamismus des Nahen Ostens lassen sich ebenfalls zwei Entwicklungsphasen unterschieden. Die erste wurde vor allem von den Muslimbrüdern getragen; sie gipfelt in deren bewaffneten Aktivitäten gegen 7
Die US-Verwaltung unter Paul Bremer hatte dies verboten und stattdessen mit religiösen und ethnischen Führungspersonen verhandelt und somit die religiöse und ethnische „Identisierung“ der Politik im Irak vorangetrieben.
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das säkularistische Nasser-Regime in Ägypten und der Ausbreitung der Bruderschaft im arabischen Raum. Hier geht der Kampf gegen die als „Ungläubige“ disqualifizierten muslimischen Feinde im Inneren. Demokratische Erfolge der Bruderschaft in jüngerer Zeit (Präsident Mursi) wurden mit einem westlich orientierten Militärputsch 2013 blutig zunichtegemacht. In der jüngeren Geschichte können vor allem Al-Qaida und der Islamische Staat als fundamentalistische Akteure par excellence gelten. Ersterer hat mit der Ideologie von „Treue und Bruch“ die weltweite, individuell verpflichtende Gewalt gegen Feinde des Islams propagiert. Letzterer verfolgt aufgrund der Lage im Irak eine territoriale Strategie mit sekundärem Terroreinsatz in westlichen Ländern Historisch entsteht der islamische Fundamentalismus unter genau umgekehrten Kontextvoraussetzungen wie der US-amerikanische. Die Moderne kommt nicht im Zuge einer selbstbestimmten De-Kolonisierung, sondern umgekehrt als unterdrückende Kolonisierung durch westliche Mächte. Sie ist mit Kolonialverwaltungen, autoritären Regimes westlicher oder sowjetischer Prägung und mit Säkularismus identifiziert. Die islamischen Fundamentalisten interpretieren diesen Gegensatz zwischen säkularem Westen und islamischem Orient als eine Ehrverletzung für den Islam. In sozialer Hinsicht gehören die Aktivisten des islamischen Fundamentalismus vielfach gesellschaftlichen Zwischenschichten an, die am Aufstieg gehindert werden. Sie nehmen eine doppelte Unterdrückung wahr: unter dem Zugriff des Machtzentrums im Westen und unter den meist autoritärsäkularistischen Machthabern ihrer eigenen Gesellschaften. Sie setzen ihre eigene Position gegenüber den Gegnern absolut durch Bezug auf die Autorität des Korans sowie auf Utopien einer islamischen Theokratie. Die fundamentalistische Utopie wird als Wiederherstellung der Ehre des Islams wahrgenommen. Der Koran ist als Quasi-Verfassung aus göttlicher Offenbarung zwar mit einem universalistischen Geltungsanspruch verbunden. Doch faktisch richten sich die Kontrollstrategien nur auf das nächst höhere Zentrum: die islamische Welt, die umma. Lediglich im Terrorismus gegen westliche Ziele schafft sich ein universaler Anspruch praktisch-militärische Geltung als Affirmation und symbolische Wiederherstellung der eigenen Ehre. Die Handlungschancen der islamisch-fundamentalistischen Bewegungen müssen von diesen selbst über die anti-systemische Mobilisierung von Freiwilligen in sozialen Bewegungen und Kaderorganisationen erzeugt werden. Dabei kommen – besonders im Fall Al-Qaidas – bewegungsexterne Finanzquellen unterschiedlichster Interessenlagen dazu. Im Fall des Islamischen Staates stehen (auch) territorial verortete Finanzquellen zur Verfügung, wie
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etwa Erdölverkäufe oder Steuererhebung. Die Handlungslogik folgt in hohem Maße identitätspolitischen Mustern, insofern als zur Mobilisierung soziale und politische Interessenskonflikte in religiöse Identitätskonflikte umgewandelt werden. Dabei muss die religiöse Mobilisierungskraft so stark sein, dass sie eigenständig politisches bzw. militärisches Handeln freisetzen kann (da ja der islamische Fundamentalismus, anders als der USamerikanische, keine von herrschenden Schichten eröffneten Handlungsspielräume vorfindet). Anstatt sich staatlichen Interessenspolitiken religiös anschließen zu können, ist der islamische Fundamentalismus in der Regel – mit der Ausnahme Irans und Afghanistans unter den Taliban – darauf angewiesen, permanent islamische Identität als eine „Religion unter Beschuss“ neu zu konstruieren bzw. am Leben zu erhalten. In diesem Sinne fungieren reale Attacken von außen (insbesondere der „Kreuzritter“) oder auch publizistisch ausgeschlachtete „Beleidigungen“ als wichtiges Mittel der Mobilisierung. Zum anderen macht diese Dynamik der Erzeugung von religiösfundamentalistischen Identitäten es notwendig, mögliche Friedensbemühungen durch Waffengewalt zu unterlaufen. Die dabei entstehende Gewalt nach außen stärkt wiederum die fundamentalistische Identität. Die Dynamik dieses prekären Zusammenhangs von religiös-paramilitärischer Identitätsstiftung macht deutlich, wie wichtig die Emblematik gewaltsamer Aktionen nach außen für die innere Stabilität und Dauer der Bewegungen sind. Das wurde besonders deutlich in Bin Ladens charismatischen Videoauftritten und wird in der Netzpropaganda des Islamischen Staates perfektioniert. Gerade die Tatsache, dass der aktuelle islamische Fundamentalismus in höchstem Maße von seiner Organisationsform als einer kaderkontrollierten sozialen Bewegung bestimmt wird, macht seine Modernität aus. Modern ist er keineswegs nur in seiner Verwendung von Technik, sondern vor allem darin, dass er als Bewegung Politik utopisch-revolutionär konzipiert – jakobinisch also. Prozedural-demokratische Modernität kann akzeptiert werden, wenn sie den Bewegungszielen nützt oder mindestens nicht schadet. Dadurch wandelt sich jedoch die Bewegung, wie die ägyptischen (und auch die jordanischen) Muslimbrüder unter Beweis gestellt haben. Bei Bewegungen mit dem Ziel des Kalifats dürfte dies allerdings bedeutend schwieriger sein. Hermeneutische Modernität zu akzeptieren ist tendenziell fundamentalistischen Bewegungen im Islam ebenso unmöglich wie denen im Christentum. Damit wäre ihr religiöser Absolutheitsanspruch ebenso gefährdet wie ihre Expansivität. Doch selbst wenn Republiken mit institutioneller Trennung von Politik und Religion aus islamistischen Bewegungen entstehen (sollten), wie dies in Ägypten unter Mursi möglich gewesen wäre, wäre der politische Diskurs mit größter Wahrscheinlich stark von Religion ge-
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prägt – und wäre darin dem Verhältnis von Religion und Politik in den USA durchaus ähnlich. Praxislogiken Welches sind nun Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser beiden Fundamentalismen? Die Gemeinsamkeiten liegen darin, dass beide in einem technokratischen Sinne modern und politisch mehr oder weniger anpassungsfähig sind. Sie sind nicht grundsätzlich gegen demokratische Prozeduren, aber sie bekämpfen Säkularismus im Interesse religiöser Machtansprüche in der Politik. Die Unterschiede sind markanter. Hinsichtlich der Befürwortung bzw. der Anwendung von Gewalt lässt sich Folgendes festhalten. Der muslimische Fundamentalismus propagiert irreguläre Gewalt von unten gegen Regierungen, Militär und mittlerweile auch Zivilbevölkerung. Der US-amerikanische Fundamentalismus legitimiert und propagiert militärische Gewalt gegen fremde Staaten und Zivilbevölkerung, wie zum Beispiel Präventivkriege, geheimdienstliche Morde und Folter. Im Blick auf die Modelle sozialer Organisation optiert der islamische Fundamentalismus für staatlich organisierte innere und für internationale Gerechtigkeit. Dagegen propagieren US-amerikanische Fundamentalisten Besitzindividualismus sowie neoliberale Prosperitäts- und Exklusionsstrategien. Dies dürfte wohl die entscheidende Differenz zwischen beiden Fundamentalismen sein. Dieser Unterschied verweist zudem in besonderem Maße auf die unterschiedlichen sozialen Positionen, die beide Fundamentalismen im globalen sozialen Raum besetzen. Skizziert man, wo die beiden Fundamentalismen im Raum der globalen Verteilung von Macht und Fortschritt stehen, ergibt sich folgendes Bild. Der US-amerikanische Fundamentalismus ist weit oben positioniert und mit der Position der technokratischen neoliberalen Oligarchie der USA – global gesehen – in etwa identisch. Der islamische Fundamentalismus hingegen nimmt die Position einer globalen, mäßig modernisierten Mittelschicht ein. Unterhalb des Fundamentalismus sind im traditionellen Bereich noch kommunale bzw. kommunitaristische Bewegungen angesiedelt, wie etwa Hindu-Organisationen, und im modernen Bereich politische Organisationen und soziale Bewegungen der Dritten Welt. Damit steht der islamische Fundamentalismus in der klassischen Position revolutionärer Mittelschichten, die in der Lage sind, untere Schichten für ihre Ziele zu kooptieren. Dieses Panorama ist besonders interessant, wenn man nicht aus nordatlantischer oder eurozentrischer Position schaut,
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sondern versucht, die Perspektive derer einzunehmen, die unten im Raum stehen. Aus diesem Blickwinkel beteiligt sich der US-Fundamentalismus an einem aggressiven Ausbau von Privilegien einer Supermacht auf Kosten der restlichen Welt. Dagegen hat der islamische Fundamentalismus eine Position, aus der er die Rolle eines Vorkämpfers sozialer Gerechtigkeit einnehmen kann. Dem ist förderlich, dass viele islamistische Bewegungen, wie etwa Hamas oder Hisbollah, ihren religiös-politischen Aktivismus mit wirksamen Sozialprogrammen und einer politischen Gerechtigkeitsforderung verbinden. Sogar für den IS trifft zu, dass er – neben Massakern und Folter – in den von ihm kontrollierten Gebieten Sozial- und Infrastrukturprogramme vorantreibt. Das alles kann einen Robin Hood-Effekt zeitigen. Die große Masse der Kommunalisten, die sich auf ihre ethnischen und/oder religiösen Gemeinschaften zurückziehen, werden Sympathien empfinden; und politisch-säkular mobilisierte Revolutionäre entdecken womöglich objektive Interessensidentitäten. Wir können festhalten, dass die beiden Fundamentalismen in der globalen Machtverteilung auf unterschiedlich starken und miteinander konfligierenden Positionen stehen. Dabei haben die islamischen Fundamentalisten die Chance, andere Akteure der Dritten Welt für ihre Ziele zu gewinnen; ihr US-Amerikanisches Pendant steht mit seiner Dominanzstrategie allein. Was die Rationalität ihres Handelns angeht, so ist – in einem instrumentalistischen Sinne von Rationalität – keine der beiden fundamentalistischen Akteursgruppen irrational; nicht einmal darin, dass sie religiös sind. Jede für sich genommen hat eine durchaus rationale Strategie der Interessenvertretung einer bestimmten Position im Raum der globalen Machtverteilung. Beide bisher untersuchten Fundamentalismen setzen bestimmte religiöse Inhalte absolut und streben auf dieser Grundlage die Beherrschung eines übergeordneten Machtzentrums an. Aber Fundamentalist in diesem Sinne kann man auch sein, wenn man andere Überzeugungen als religiöse verabsolutiert und mit Herrschaftsstrategien verbindet. Fundamentalismus ist – wie oben schon bemerkt – nicht damit definiert, dass man ihn als irrationale religiöse Verirrung gegen die Wahrheit säkularer Rationalität absetzt. Aus der Perspektive unseres Doppelkriteriums ist auch ein kritischer Blick auf Europa geboten, denn Säkularismus und Rationalismus können ebenfalls absolut gesetzt werden und in Dominanzstrategien münden. Säkularismus Man kann die Auseinandersetzung europäischer Intellektueller mit fundamentalistischer Praxis – also auch den vorliegenden Band – als Manöver in
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einem globalen Kampf um Deutungshoheit auffassen (ein Kampf der wiederum nur ein strategisches Moment unter vielen anderen ist, wie z.B. die Kämpfe um Ressourcenzugang, industrielle Dominanz, Finanzmarktkontrolle, Handelsvorteile und militärische Vorherrschaft). Im Blick auf mögliche europäische Positionen im Kampf um Deutungshoheit stellt sich die Frage, welche der praktischen Ausformungen europäischer Moderne stark gemacht werden und wie sie im Lichte unseres FundamentalismusKriteriums bewertet werden sollten. Kann man von nicht-religiösem europäischem bzw. westlichem Fundamentalismus sprechen? Ich unterscheide drei Stränge der europäischen Moderne, die ein sehr unterschiedliches Bild abgeben. Bei der Differenzierung der ersten beiden Stränge beziehe ich mich auf Shmuel Eisenstadt. Dieser unterscheidet in seiner Theorie europäischer Moderne zwischen technokratischer und reflexiv-demokratischer Moderne. Mir scheint es angezeigt, die Klassifikation um einen dritten Strang zu erweitern und damit den zweiten etwas stärker zu spezifizieren: − instrumentell-technokratische, − prozedural-demokratische und − hermeneutisch-pluralistische Moderne. Der politisch-kulturelle Aspekt der so genannten „zweiten Moderne“ (Beck) wäre damit in der Klassifikation durch den Typus der „hermeneutisch-pluralistischen“ Moderne für sich gewürdigt. Diese drei Strömungen sind in unterschiedlicher Weise anfällig für beziehungsweise resistent gegen Fundamentalismus, und zwar religiösen ebenso wie säkularen. Religion allerdings spielt für die europäische Moderne eine sehr geringe und vor allem eine negative Rolle. Damit verhält es sich in der europäischen Moderne exakt umgekehrt wie in der US-amerikanischen oder der islamischen. In Europa wird das Schwert der bürgerlichen Revolution gegen Kirche und Adel geführt. Der politische Diskurs wird a-religiös bis anti-religiös. Doch das schützt nicht gegen Fundamentalismus. Auch Anhänger säkularer Ideologien können ihre Überzeugungen absolut setzen und die Herrschaft über andere anstreben. In der FundamentalismusLiteratur der achtziger Jahre wurde immer wieder einmal hervorgehoben, dass auch die westliche Moderne sich fundamentalistisch gebärden kann. Dieses Urteil trifft vor allem für die instrumentell-technokratische Moderne zu. Dementsprechend werde ich im Folgenden zunächst diese diskutieren. Die prozedural-demokratische Moderne – in ihrer etwas ambivalenten
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Zwischenstellung zwischen beiden anderen Strömungen – werde ich aus Raumgründen hier nicht berücksichtigen8, sondern, im Gegenzug zur technokratischen Strömung, die hermeneutisch-pluralistische als spezifisch europäisches bzw. westliches Antidot gegen Fundamentalismus stark machen. Die technokratisch-instrumentelle Strömung der Moderne birgt, wenn sie nicht von prozedural-demokratischer und/oder reflexiv-hermeneutischer Moderne kontrolliert wird, ein spezifisches Fundamentalismus-Risiko. Sie ist in der industriellen Revolution entstanden und Grundlage der Meisterschaft des Westens in der technischen Beherrschung von Natur und Gesellschaft. Empiristische Erkenntnistheorie, materialistisch zweckrationales Planen, methodologischer Individualismus und Technik gewinnen nicht nur an Bedeutung für die Naturbeherrschung, sondern auch für Wirtschaft, Krieg und Sozialtechnologie. Dieser Rationalitätstypus wird gefördert durch einen gesellschaftlichen Strukturwandel seit der frühen Moderne. Die Ökonomie gewinnt gegenüber der Politik immer mehr an Steuerungskraft – ein Prozess, der sich durch die Transnationalisierung der Wirtschaft und die entsprechenden globalistischen Strategien der Wirtschaftsakteure und ihrer politischen Wegbereiter in den letzten Jahrzehnten beschleunigt hat. Das technokratische Programm der rein „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer) ist durch Kolonialismus, Technisierung, militärische Dominanz und ökonomische Vereinheitlichung im Hinblick auf seine weltweite Verbreitung der heute wichtigste Strang europäischer und US-amerikanischer Moderne. Für dieses Pro-gramm stehen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die neoliberalen Diktaturen in Lateinamerika (und die deutsche Zusammenarbeit mit ihnen etwa durch Waffenexporte an Juntas) ebenso wie die jüngste Regime Change-Politik in arabischen Ländern, die in säkularistischer Absicht religiös-fundamentalistische Reaktionen produziert. In den (neo-)kolonisierten und modernisierten Gesellschaften ist der Effekt des Technokratie-Impulses ambivalent. Einerseits lassen sich Versprechungen der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung einlösen; dies allerdings fast nur für neue Mittelschichten im Service- und Finanzsektor bei bleibend prekärer Lage. Dadurch ist dieser Typ von Moderne vor allem für die Herrschenden interessant. Durch das Fehlen einer wirklich demokratischen 9 Komponente läuft diese Modernisierung zugleich auf Post-Demokratien
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Siehe dazu Schäfer, Kampf, 206ff. Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt 2008.
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oder autokratische Gesellschaftsformen sowie auf ökonomische, soziale und kulturelle Marginalisierung großer Bevölkerungsanteile hinaus. Dem leistet die immanente Logik der Technokratie Vorschub. Die einseitige Fixierung auf technische und wirtschaftliche Nutzenmaximierung birgt eine Tendenz zur Absolutsetzung der eigenen Zwecke und Mittel. Diese kommt zustande, wenn Nutzen und Wahrheit gleichgesetzt werden, wenn also gesellschaftliche Transzendenz in der Reproduktionslogik des technokratischen Systems selbst verortet wird, sich das System selbst zum Zweck wird und der Mensch dem System zum Mittel. Die Annahme, dass Technologie überall denselben Funktionsprinzipien unterliege, läuft zudem auf die Vorstellung universaler Geltung technokratischer Logik hinaus. Die Tatsache schließlich, dass nur der Erfolg – technisches Funktionieren sowie wirtschaftliche Akkumulation und deren elitäre Aneignung – zählt, verleiht dem System eine expansive Logik. Dazu kommt die Unterwerfung des Individuums unter das technokratische Funktionssystem, indem die Logik des Systems auf einem theoretischen Trugbild des lebendigen Individuums aufbaut. Der „methodologische Individualismus“ entwirft das mathematische Modell eines rational handelnden und Nutzen maximierenden Alleswissers, der mit dem lebendigen Menschen nichts mehr zu tun hat; mehr noch: der Menschen in ihren wirklichen Lebensvollzügen sogar notwendig negiert – und zwar um der Rationalität und des ökonomischen Einsatzes des Modells willen (früher das fordistische Fließband, heute big data). Hier wird in der frühen Moderne ein theoretischer Modellmensch geboren, der im monetaristischen Kapitalismus unserer Tage sich anschickt zu triumphieren. Diese Liberalität huldigt nicht dem lebendigen Individuum, sondern der seriellen Vereinzelung von Produktionseinheiten (human capital) unter ökonomischem Kalkül. Das liberale, wahl-freie Individuum lässt sich zugleich von einer utilitaristischen Ethik zum objektiv altruistischen Egoisten verklären. Und so stellt es jeden bisher dagewesenen – und in vielen Ländern der Dritten Welt noch wirksamen – Gemeinschaftsbezug menschlichen Lebens nicht nur de facto, sondern auch de jure in Frage. Der Ökonomismus des technokratischen Systems erhebt dagegen das ökonomische Interesse zum zentralen Merkmal der Identität des Menschen schlechthin. Der Mensch ist, was er besitzt und was er zu besitzen anstrebt. Wenn nun menschliche Identität sich über ökonomische Güter – letztlich Geld – definiert, so wird der Kampf um ökonomische Interessen selbst zu einem Identitätskampf: Es geht dann nicht mehr nur um das bloße Interesse an einem austauschbaren Gut, sondern es geht um das (ökonomistisch verstandene) Menschsein selbst. Auf diese Weise leistet der Ökonomismus genau das, was religiöse Fundamentalismen leisten: Interessens- in
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Identitätskonflikte zu verwandeln. Er ist dabei sogar noch viel effektiver: Wenn nämlich ökonomisches Interesse selbst schon Identität ist, braucht dieser Fundamentalismus für seine Umwandlung nicht einmal das Medium zu wechseln. Er braucht keine Religion, denn die Ökonomie ist ihm Herrgott genug.10 Die der technokratisch-instrumentellen Moderne entsprechende Praxis kann im Sinne unseres Doppelkriteriums als fundamentalistisch bezeichnet werden. Historisch kann man auf die kommunistischen und diktatorischkapitalistischen Applikationen der technisch-instrumentellen Moderne verweisen: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ (Lenin). Aktuell kann man auf den ökonomistischen „Globalismus“ verweisen. Ulrich Beck11 bezeichnet damit jenes Programm, mit dem sich neoliberale Wirtschaftsrationalität absolut setzt, indem sie die Grunddifferenz zwischen Politik und Ökonomie liquidiert – mit anderen Worten: einen „Imperialismus des Ökonomischen“ (Beck) oder auch ökonomistischen Totalitarismus.12 Angesichts der Alternativlosigkeit der Selbstpräsentation und der Kompromisslosigkeit des Übergriffes auf Andere kann man somit durchaus von einem Fundamentalismus des Ökonomischen sprechen. In Abwandlung Lenins: Dieser Fundamentalismus ist „neoliberale Kapitalmacht plus Digitalisierung“. Wenn dieses Modell technokratischer Oligarchie im Zuge des Globalismus anderen Gesellschaften aufgezwungen wird, so wird dort die Würde des Menschen selbst angegriffen, insbesondere jener Menschen, denen eine Beteiligung an den ökonomischen Leistungen dieses Systems verweigert wird, nicht zuletzt arbeitslosen jungen Männern. Und so produziert es unter den Angegriffenen höchst rationalen Widerstand – religiösen zunächst und dann auch politischen. Wahlverwandtschaften zwischen dem technokratischen Programm und religiösem Fundamentalismus sind nicht selten. Beim Fundamentalismus der USA liegen sie auf der Hand. Die Fundamentalisten profitieren durch politischen Einfluss, die Technokraten durch das fundamentalistische Wahl10 Darin ist er übrigens dem Faschismus ähnlich, dem im politischen Feld eine ähnliche fundamentalistische Transformationsleistung gelungen ist. Eine von der US-Regierung (Kissinger) sowie vom Chicago-Monetarismus (Friedman) gleichermaßen vorangetriebene Fusion von politischem Faschismus und ökonomischem Neoliberalismus war das Folterregime des Generals Pinochet ab 1973 in Chile. 11 Ulrich Beck, Was ist Globalisierung? Frankfurt 2004, 26f. 12 In den USA breit diskutiert als „economics imperialism“.
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volk. Im kriminellen System des Islamischen Staats gehört die Kooperation im technokratisch-instrumentellen Globalismus zum inneren Funktionieren (und sei es nur der Mittelbeschaffung durch Öl- und andere Geschäfte), auch wenn die Propaganda das genaue Gegenteil verkündet.13 Die Wahlverwandtschaften zu religiösen Fundamentalismen sind aber nicht das Entscheidende. Sie legen nur das fundamentalistische Potenzial der technokratisch-instrumentellen Moderne bloß. Was Europa und die politisch liberale Strömung in den USA betrifft, ist der fundamentalistische Impuls der technokratischen Moderne durch den an universalen Menschenrechten orientierten Einfluss der prozeduraldemokratischen Moderne (Kant, Habermas, Rawls) mehr oder weniger gut im Zaum gehalten worden. Das kompromisslosere Gegenprogramm der europäischen und US-amerikanischen Moderne zum technokratischen Fundamentalismus wird allerdings von der hermeneutisch-pluralistischen Moderne vertreten. Gerechtigkeitspluralismus Die hermeneutisch-pluralistische Strömung ist die schwächste der europäischen Moderne. Das liegt wahrscheinlich daran, dass man mit der Erinnerung an die Endlichkeit des Menschen und die Vorläufigkeit seines Denkens und Tuns keinen Staat machen kann. Es handelt sich um eine Strömung europäischen Denkens, die zurückgeht auf die antike Rhetorik und aus der Renaissance von Erasmus und Vico her kommt. Sie reicht über Lessing, Schleiermacher, den Historismus, die philosophische Hermeneutik und die Phänomenologie bis zur heutigen Postmoderne (z.B. Lyotard) und zu Vermittlungstheorien mit der prozedural-demokratischen Moderne (z.B. Welsch) sowie in die reflexive praxeologische Soziologie (z.B. Bourdieu) und die Soziologie der „Zweiten Moderne“ (Ulrich Beck). Ähnliches Denken findet man in der Theologie (z.B. Gerhard Ebeling, Wolfgang Nethöfel, Ingolf Dalferth). Auch im angelsächsischen Sprachraum finden sich Philosophen (z.B. Richard Rorty, Michael Walzer), Theologen (z.B. David Tracy, Gordon Kaufmann) und Soziologen (z.B. Manuel Castells), die dieses Denken vertreten. 13 Als weiteres Beispiel könnte man mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Regierung Narendra Modis (lange engagiert bei Rashtriya Swayamsevak Sangh, RSS) zunächst über Gujarat und heute über ganz Indien als eine Fusion zwischen neoliberaler Wirtschaftsstrategie und religiös-kulturellem Fundamentalismus bezeichnen.
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Der entscheidende Unterschied dieser Strömung zur rationalistisch orientierten prozedural-demokratischen in kantischer Tradition ist die Annahme, die menschliche Existenz und sein Wissen seien endlich, geschichtlich, kontingent und eben deshalb auch vielgestaltig und nicht zu vereinheitlichen – für Universalismus nicht geeignet. Zu dieser Einsicht hat übrigens die Theologie der Aufklärung, nicht zuletzt Lessing, einen wichtigen Beitrag geleistet, indem sie die Bibel als historisches Dokument kenntlich gemacht hat. Die hermeneutische Theologie der Moderne erinnert daran, dass Menschen eben nicht über die Frucht des Baumes der Erkenntnis verfügen – weder Rationalisten noch Technokraten, noch religiöse Fundamentalisten, noch die Hermeneutiker selbst. Der Eingang zum Paradies – zur volonté générale, zur technologischen Perfektion oder zur göttlichen Wahrheit – ist vom Flammenschwert des Engels versperrt. Was bleibt, ist die eigene Endlichkeit in der eigenen Partikularität. Wenn man diese freilich anerkennt, ist die Anerkennung der Anderen als ebenso in ihrer Partikularität Gefangenen möglich. Endliches, vorläufiges Zusammenleben und der Brückenbau „transversaler Vernunft“ (Welsch) können gelingen. Parallel zu dieser Entwicklung verabschiedet sich die europäische Moderne von der mittelalterlichen Ontologie der Substanzen. Das Denken orientiert sich immer mehr am Relationalen und Relativen. Die Metapher des Netzwerks bekommt in Philosophie, Semiotik, Ethnologie und Soziologie der Zweiten Moderne eine immer größere Bedeutung. Das NetzwerkDenken scheint mir der Organisation von Wissen und Gesellschaft in der Zweiten Moderne auf besondere Weise zu entsprechen. Netze bestehen aus Fäden (den Relationen) und aus Knoten (dem, was sonst als Substanz oder Subjekt gefasst wird). Knoten können in einem Netzwerk ohne Fäden nicht einmal erzeugt werden. Ohne Relationen sind sie nichts – schon gar keine 14 Subjekte oder Substanzen. Erkennt man die eigene Endlichkeit und Relativität in einem weiten Netzwerk von gesellschaftlichen Relationen an, trägt schon dies entscheidend zur Fundamentalismusresistenz bei. Mit der hermeneutisch-pluralistischen Strömung der Moderne sind spezifische Fähigkeiten verbunden, die Anforderungen der aktuellen (welt-)gesell14 Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Verwendung der Netzwerk-Metapher ist nicht dieselbe wie in meiner Theorie von Identität als Netzwerk. Vgl. Heinrich W. Schäfer, Identität als Netzwerk. Habitus, Sozialstruktur und religiöse Mobilisierung. Wiesbaden 2015 m – ders., Identität als Netzwerk. Ein Theorieentwurf am Beispiel religiöser Bewegungen im Bürgerkrieg Guatemalas, in: Berliner Journal für Soziologie, 15/2, 2005, 259– 282.
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schaftlichen Transformationen auf eine nicht-fundamentalistische, pluralistische Weise zu verarbeiten. Diese spezifischen Kompetenzen gilt es zu kultivieren. Dazu scheint es mir allerdings auch nötig, die hermeneutischpluralistische Tradition an einem wichtigen Punkt ein wenig zu modifizieren. Denn ihr Denken hat viel Sinn für die Differenz von Zeichen, aber zu wenig Sinn für soziale Differenz und Fragen der Gerechtigkeit. Gerade dies aber ist unabdingbar für eine geistige Orientierung, die den globalen Konflikten gewachsen sein soll. Denn erstens haben wir in der Rekonstruktion des globalen Machtraumes gesehen, dass der Kampf der Fundamentalismen schlechterdings nicht verstanden und bearbeitet werden kann, wenn man die sozialen Interessengegensätze ausblendet. Und zweitens reicht eine Theorie der Vernunft und des Verstehens nicht hin, wenn sie die gesellschaftlichen Bedingungen des Operierens der Vernunft nicht beachtet. In der Sprache Pierre Bourdieus: Eine 15 soziologisch geschulte „Realpolitik der Vernunft“ ist gefragt. Das heißt vor allem, dass die Fragen von Macht, Ungleichheit und sozialer Gerechtigkeit mit ins hermeneutische Spiel kommen und die spezifischen Kompetenzen hermeneutisch-pluralistischer Moderne entscheidend mitprägen sollten. Im Blick auf die Fundamentalismus-Problematik seien hier vier spezifische, zum Teil aber noch stärker zu entwickelnde Fertigkeiten knapp skizziert: Pluralitätskompetenz, Identitätskompetenz, Gerechtigkeitskompetenz und sozialhermeneutische Kompetenz. Pluralitätskompetenz: Mit dem Beschleunigungsschub der Globalisierung in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bricht konfliktgeladene Pluralität über die Welt herein: von „Neuen Kriegen“ über Widerstand bedrohter Akteure bis hin zu Parallelgesellschaften und ethnischen Konflikten auf Stadtviertelebene. Fundamentalismen reagieren auf Pluralitätszumutungen, indem sie ihre eigene Position mit göttlicher Absolutheit gleichsetzen. Dies geschieht meist über Offenbarungsprätentionen wie etwa die Verbalinspiration einer Schrift oder die Unmittelbarkeit göttlichen Geistes. In scharfem Gegensatz dazu steht die Pluralitätsbearbeitung in der ökumeni16 schen Bewegung. Unter der Annahme, dass göttliche Offenbarung immer geschichtlich ist und interpretiert werden muss, haben sich Ökumeniker 15 Pierre Bourdieu/Loic J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt 1996, 212ff. 16 Zur Klärung sei hier angemerkt, dass ich mit „Ökumene“ nicht die interkonfessionelle Konsensökumene kirchlicher Lehrgespräche meine, sondern die ökumenische Bewegung als soziale Bewegung und – soweit der Weltkirchenrat als Bewegungsorganisation angesprochen ist – das Engagement des Rats in den Bereichen von Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie sowie im interreligiösen Dialog.
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bereits in den Dialog mit fremden Religionen begeben, bevor die postmodernen Philosophen auf den zunehmenden Pluralitätsdruck reagierten. Der ökumenische Dialog schließt starke Überzeugungen gerade nicht aus. Doch wird die Dialogizität selbst zum grundlegenden Kriterium religiöser bzw. theologischer Wahrheit. Die Wahrheitsfähigkeit der Vernunft ist an den Dialog gebunden, das heißt an die Gehalte fremder Praxis. Wahrheit erschließt sich so über das Fremde. Die ökumenische Diskussion nimmt damit die philosophische Debatte über Einheit und Pluralität der Vernunft vorweg. Ihr Vernunftbegriff entspricht implizit dem der transversalen Vernunft von Wolfgang Welsch: Vernunft als Kapazität des Brückenschlagens zwischen unterschiedlichen Rationalitäten, als Kapazität der Vernetzung des Unterschiedlichen oder gar Entgegengesetzten. Pluralitätskompetenz findet sich also nicht in bloßer Liberalität und deren Universalisierung, sondern vielmehr darin, das Fremde in seiner prinzipiellen Legitimität anzuerkennen und irritierend auf das Eigene wirken zu lassen. Diese Fertigkeit wird noch entscheidend vertieft durch die unten zu skizzierende sozialhermeneutische Kompetenz. Identitätskompetenz: Die genannten Pluralitätszumutungen schlagen auf Identitäten zurück. Einheitliche Lebensläufe zerfallen in diskontinuierliche Phasen; Identitäten werden zunehmend heterogen und in sich selbst widersprüchlich. Dagegen reagieren Fundamentalismen mit Identitätspolitiken, die in sich geschlossene und unveränderliche Identitäten konstruieren beziehungsweise im Sinne eines strategischen Essenzialismus vorgaukeln: Identität, essenzialistisch aufgefasst als feste Substanz oder einheitliches Subjekt. Das Dilemma zwischen Identitätszerfall und Identitätszementierung lässt sich freilich lösen, wenn man Identität als ein Netzwerk von Dispositionen 17 begreift auffasst, ähnlich wie Richard Rorty die Sprache, das Selbst und die Gesellschaft als Netzwerke von Überzeugungen.18 Selbst starke religiöse Überzeugungen können dann immer noch als offen genug betrachtet werden, sodass sich neben den Differenzen zu anderen Überzeugungen auch Überlappungen feststellen lassen. Damit können mindestens Ansätze zur Vermittlung in Identitätskonflikten gefunden werden. Im Übrigen transpor-
17 Vgl. Schäfer, Identität als Netzwerk. 18 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt 1995. Das Dispositionsnetzwerk ist freilich zunächst einmal eine wissenschaftliche Konzeption, die noch weit davon entfernt ist, öffentlichen Einfluss zu gewinnen.
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tiert die Metapher des Netzwerks die Grundlagen für eine über Reziprozität und Solidarität operierende praxeologische Ethik.19 Gerechtigkeitskompetenz – die Fähigkeit, die eigene intellektuelle und politische Praxis systematisch an der Gerechtigkeitsfrage zu orientieren ohne damit die anderen Kompetenzen zu vernachlässigen – ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie der hermeneutisch-pluralistischen Moderne nicht schon mitgegeben ist. Zudem kann das globale Gerechtigkeitsproblem im neoliberalen Kapitalismus nicht als belanglos abgetan werden. Wir haben gesehen, dass die unterschiedlichen Fundamentalismen auf signifikant unterschiedliche Weise auf dieses Problem reagieren. Während der US-amerikanische Fundamentalismus an sozialen Exklusionsstrategien arbeitet, kapitalisiert der islamische Fundamentalismus die Nachfrage nach Gerechtigkeit für sich. In beiden Fällen ist jedenfalls deutlich, dass sich die fundamentalistischen Strategien nur verstehen und bekämpfen lassen, wenn man das Problem der Gerechtigkeit adressiert. Während neuere philosophische Gerechtigkeitstheorien und Zusammenschlüsse wie das Weltsozialforum das Problem aufgegriffen haben, hat auch hier die ökumenische Bewegung die Rolle eines Vorreiters. Die Themen von Frieden und Gerechtigkeit bestimmen ihre Agenda schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts in wachsendem Maße in globaler Perspektive. Eine der Erfahrungen ist die, dass Pluralitätskompetenz ohne die Beachtung von sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit allenfalls unter sozial gleichgestellten Akteuren zum Zuge kommen kann, unter stark ungleich positionierten Handelnden aber ins Leere läuft. Es spricht also vieles dafür, den Praxisansatz hermeneutischpluralistischer Moderne um die ökumenischen Erfahrungen mit der Gerechtigkeitsfrage zu ergänzen. Dazu ist die Entwicklung sozialhermeneutischer Kompetenz eine entscheidende Voraussetzung. Sozialhermeneutische Kompetenz: Soziale Ungleichheit ist nicht einfach nur ein ethisches Problem. Sie hat vielmehr mit den erkenntnistheoretischen bzw. hermeneutischen Voraussetzungen von Moderne überhaupt zu tun. Kant hat, wie man weiß, die Operationen der Vernunft an die Begrenzungen von Raum und Zeit gebunden. Heute wissen wir, dass sie auch durch sozialisationsbedingte Festlegungen – etwa die Prägungen des Habitus – 19 Vgl. Heinrich W. Schäfer: „We gonna bin-laden them!“ Überlegungen zu einer methodologisch-kommunitaristischen Friedensethik, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 51/3, 2007, 169–181 – Ders., Capabilities – from a relationist viewpoint, in: Hans-Uwe Otto/ Holger Ziegler (Hg.): Closing the Capabilities Gap – Renegotiating social justice for the young, Opladen 2011, 127 143.
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bedingt sind.20 Selbstreflexivität wird damit um eine besondere Qualität erweitert: die Beachtung der sozialen Position der Erkennenden als Bedingung von Erkenntnis. Habermas formulierte diese Qualität als den Zusammenhang von „Erkenntnis und Interesse“.21 Diese Reflexionsfigur schützt Aufklärung vor Borniertheit. Denn Aufgeklärte, die sich zwar als aufgeklärt apostrophieren, sich selbst aber nicht relativieren im Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer eigenen Aufgeklärtheit, sind nicht aufgeklärt, sondern eben nur borniert. In der „ersten Moderne“ hat die Einsicht in den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse die Form der Ideologiekritik angenommen. Im Zusammenhang der subjektiv-konstruktivistischen und pluralitätsorientierten Diskussionen der „zweiten Moderne“ wird die ideologiekritische Perspektive allerdings immer weniger beachtet. Damit droht die Debatte hinter erkenntnistheoretische Standards zurückzufallen, die noch deutlich älter sind als die Moderne selbst – wie etwa Ciceros hermeneutischer Schlüssel cui bono? leicht erkennen lässt. Auch in diesem Zusammenhang hat das Christentum einen wichtigen Beitrag geleistet. Das Symbol des Kreuzes hat immer wieder daran erinnert, dass die spezifisch christliche Sicht auf die Welt „von unten her“ blickt, vom Blickpunkt der Gefolterten und Marginalisierten aus. Die Theologie der Befreiung und die feministische Theologie haben daraus veritable hermeneutische Ansätze gemacht. Für die Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus – sei er religiös oder säkular – heißt das zweierlei. Zunächst liegt es auf der Hand, dass die Mobilisierungsdynamiken der Fundamentalisten ohne Berücksichtigung der jeweiligen sozialen Position nicht zutreffend verstanden werden können. Sodann – und das ist ebenso wichtig – hat es wenig Sinn, Kritik an Fundamentalismen zu üben, wenn man sich selbst nicht fragt, wie stark man selbst in deren Entstehungsursachen verwickelt ist. Kurz, und im Blick auf unseren Gegenstand zugespitzt: Wenn man selbst am oberen Ende der globalen Wohlstandsskala steht, sollte man es sich nicht leisten wollen, die Welt zu deuten, ohne dabei die legitimen Interessen derjenigen ernst zu nehmen, die systematisch vom Wohlstand marginalisiert bzw. ausgeschlossen oder auch zur Wohlstandserzeugung ausgebeutet werden. Man sollte die eigene Positi20 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Frankfurt 1982 – Heinrich W. Schäfer, Praxis – Theologie – Religion. Grundlinien einer Theologie- und Religionstheorie im Anschluss an Pierre Bourdieu, Frankfurt 2004. 21 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1970.
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on ihnen gegenüber mit bedenken – womit wiederum das Gerechtigkeitsproblem thematisch wird. Fazit Um die Fundamentalismusproblematik im Rahmen des globalen Kampfes um Deutungshoheit in den Blick zu bekommen, haben wir ein Doppelkriterium für Fundamentalismus etabliert und können hier aus unserer Untersuchung Folgendes festhalten. Erstens, Fundamentalismen sind Identitätspolitiken, deren Mobilisierungsdynamik sich in hohem Maße aus ihrer Fähigkeit ableitet, Probleme sozialer Ungleichheit verabsolutierend zu deuten und in Ermächtigungsstrategien umzuwandeln. Die globale Gerechtigkeitsfrage wird als wichtiger Hintergrund der Problematik sichtbar. Zweitens, Fundamentalismen sind nicht nur in religiöser sondern auch in säkularer Form möglich. Von besonderer Bedeutung für die globale Fundamentalismusproblematik ist, dass auch die westliche Moderne in ihrer technokratisch-instrumentellen Strömung ein hohes fundamentalistisches Potenzial aufweist – wenn sie nicht demokratisch und im Blick auf gerechte Verteilung von Gütern und Chancen unter politischer Kontrolle gehalten wird. Diese beiden Ergebnisse zusammengenommen verweisen darauf, dass sich das Problem der religiösen Fundamentalismen nicht lösen lässt, indem ihnen gegenüber einfach die politische Legitimität einer säkularen, technokratisch geprägten und (neo-)liberal verfassten westlichen Moderne behauptet wird. Ein solcher Versuch läuft darauf hinaus, den Teufel mit Beelzebub austreiben zu wollen. Dass dies faktisch versucht wird, zeigen gewaltsame „Demokratisierungs“-Versuche“ im Nahen Osten hinreichend deutlich. Eine offene Gesellschaft lässt sich nur entwickeln, indem die für sie notwendigen Bedingungen geschaffen werden. Dazu gehört vor allem die Reduktion der gesellschaftlichen Ungleichheit nicht nur auf ein erträgliches, sondern 22 auf ein produktives Maß , denn Demokratie ist entscheidend auf relative 23 Gleichheit angewiesen. Dies entspricht der Tradition einer soziologisch aufgeklärten hermeneutisch-pluralistischen Moderne in hohem Maße. Denn – selbst wenn es mittlerweile fast in Vergessenheit geraten ist – neben
22 Franz Josef Radermacher, Balance oder Zerstörung, Wien 2002. 23 Crouch, Postdemokratie.
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der Freiheit und Gleichheit hat die französische Revolution auch die Brüderlichkeit proklamiert. Abstract This article pleads for a broad understanding of fundamentalisms which is not only religiously grounded, but appears in secular forms as well. A high fundamentalist potential is inherent in the technocratic and economy-based appearance of western modernity. A common feature of both religious and secular fundamentalisms is the tendency to interpret interest conflicts as identity conflicts. In particular a global economy fundamentalism shows religious traits without being religious itself. The essential questions of global justice lie in the background of each of the various forms of fundamentalism.
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