238 107 15MB
German Pages 448 Year 1998
Uta Störmer-Caysa Gewissen und Buch
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
14 (248)
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
Gewissen und Buch Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters
von
Uta Störmer-Caysa
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einbätsaufnabme Störmer-Caysa, Uta: Gewissen und Buch : über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelaltets / von Uta Störmer-Caysa. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 14 = (248)) Zugl.: Erlangen, Nürnberg, Univ., Habil.-Schr. 1996 ISBN 3-11-016206-7
ISSN 0946-9419 © Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Vorwort Mit diesem Buch lege ich meine 1996 in Erlangen angenommene Habilschrift in einer leicht überarbeiteten Form vor. Die Druckfassung war im Sommer 1997 fertig; was danach erschien und wovon ich später erfuhr, ist nur im Ausnahmefall noch notiert worden. Hartmut Kugler in Erlangen und Klaus Grubmüller in Göttingen danke ich besonders, weil ich ohne ihre Förderung und Unterstützung die Arbeit kaum zu einem guten Ende hätte bringen können. Geduldig auf meine Fragen und Texte eingelassen haben sich Ulrich Wyss, Maximilian Forschner, Rudolf Große, Fidel Rädle, Almuth Märker, Werner und Ulla Williams, Sabine Seelbach, Burkhard Hasebrink, Volker Honemann, Karl Stackmann, Karl Bertau und Norbert Winkler. Mit Freundschaft und helfender Kollegialität die Arbeit erleichtert haben mir Dietmar Peschel-Rentsch, Elisabeth Schmid, Christoph März, Manfred Eikelmann und Gerd Dicke. Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat meine Studien mit einem Stipendium gefördert. Den Herausgebern dieser Reihe danke ich für die Aufnahme meines Buches. Werner Röcke hat sich die Zeit genommen, mich bei der Überarbeitung für den Druck zu beraten. Ein herzlicher Dank geht an Antje Willing, die die Druckvorlage herstellte und die letzten Korrekturen mitlas. Mein Mann Volker Caysa und meine Tochter Maria erfahren nicht erst aus diesem Vorwort, daß sie mir sehr geholfen haben. Auch der Unterstützung meiner Eltern konnte ich immer gewiß sein. Weil ich ihnen das Buch nicht mehr schenken kann, soll es erinnern an Herbert und Johanna Heller.
Erlangen, im Mai 1998
Uta Störmer-Caysa
Inhalt Vorwort Einleitung
V 1
Erster Teil: Die Geschichte des Gewissensbegriffs im deutschen Mittelalter I.
II.
Voraussetzungen für die Ausbildung eines Gewissensbegriffs in der volkssprachlichen Literatur
8
1. Das Wort und die Sache 'Gewissen' 2. Das Wort ohne die Sache 3. Die Sache ohne das Wort 3.1. Der erste Baustein zur Gewissensvorstellung: Ein selbstreflexives literarisches Ich 3.2. Der zweite Baustein zu einer Vorstellung vom Gewissen: Das Ich als Subjekt seiner Gefühle und Taten Exkurs: subiectum in der mittelalterlichen Ethik . . . . 3.3. Der dritte Baustein zur Vorstellung vom Gewissen: Messen und vergleichen zum Urteil über sich selbst 3.4. Schwierige Entscheidungen und irrendes Gewissen . . Exkurs: Enites Entscheidimgsmonolog und seine Bewertung
48
Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft des 13. Jahrhunderts
58
1. 2. 3. 4. 5.
Die Notwendigkeit eines Gewissensbegriffs Gewissen voraristotelisch: Der Stand im 12. Jahrhundert . . 'Sitz im Leben' Verflechtungen Die franziskanische Gewissenslehre des 13. Jahrhunderts: Alexander von Haies und Bonaventura 6. Das dominikanische Leitmodell des 13. Jahrhunderts: Thomas von Aquin
8 9 22 26 28 30 40 46
58 63 67 72 73 79
VIII
III.
IV.
Inhalt
7. Bonaventura in mittelalterlicher Erwachsenenbildung . . . . 8. Thomas, jenseits der Theologie gelesen 9. Bemerkungen zum Recht
87 88 92
Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300 . . . .
97
1. Gewissen zwischen den Tätigkeitsbreichen der deutschen Franziskaner 2. Berthold und ein Anonymus über das Gewissen im 'Baumgarten geistlicher Herzen 2.1. Die Predigt Bertholds von Regensburg *Z über die zehn Jungfrauen 2.2. Ein Anonymus im bavngart über das Gewissen . . . . 3. Was dachten die deutschen Franziskaner über das Gewissen? 4. Franziskanisch oder zisterziensisch? gewizzen als Übersetzungswort nach dem Zeugnis der deutschen 'Epistola ad Fratres de Monte Dei'
119
Seelenfunke oder Gewissensgrund? Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
126
1. 2. 3. 4.
V.
VI.
Problemhorizont Eckhart: Die Predigt Q 20a Das 'Buch von der geistlichen Armut' Marquards von Lindau synderesis-Lehre: Eckhart ohne Eckhart
Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens in die deutsche Prosa
97 106 108 114 118
126 128 136 156
161
1. Ein Gewissen für Kloster und Stadt Exkurs: Die frühe Reflexion des Problems bei Rudolf von Ems 2. Gewissensberatung bei Beichtvater und Buch 3. Das Beratungsmodell 'Rechtssumme'
161 162 175 179
Der Gewissensbegriff des 14. Jahrhunderts im Spiegel lateinisch-deutscher Wörterbücher
190
Inhalt
IX
Zweiter Teil: Deutsche Summen über die zehn Gebote als Ratgeber für das Gewissen I.
II.
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
200
1. Neue Interessen an einem alten Gegenstand 2. Die scholastischen Summen als Vorbild für Anspruch und Form Exkurs: Nachbarschaftliche Berührungen zu verwandten Literaturtypen 3. Der Anspruch, das Ganze zu lehren: Summen in der volkssprachlichen Wissensliteratur
200
229
Zwischen Vollkommenheit und Kasus: Heinrich von Friemar deutsch
238
1. 2. 3. 4. 5.
III.
IV.
Bemerkungen zum Text Gesetz und Seele Das Gewissen als forum internum Die Struktur des sittlichen Urteils als Textmuster Zusammenhänge: Personaler Gewissensbegriff, subsumtives Urteil, Textstruktur
212 224
238 241 245 252 267
Quertextein in neue Themen: Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
273
1. 2. 3. 4. 5.
273 277 286 296 298
Über das Werk Der conscientia-Begriff und die conscientia erronea Gewissen und Zeit in den Redaktionen Α und C Marquard als Autor über Gewissen und sittliche Fähigkeiten Feste Urteile in unfesten Textstrukturen
Beste deutsche Scholastik: Die Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus von Dinkelsbühl 1. 2. 3. 4.
Bemerkungen zur Textgrundlage Das natürlich Rechte Normative Ethik als Auslegungsethik Die Struktur des sittlichen Urteils als Vorgabe für die Textstruktur 4.1. Das erste Gebot
326 326 331 341 351 352
X
Inhalt
4.2. Das vierte Gebot 4.3. Bauformen des Textes in Abhängigkeit von Gewissensbegriff und Urteilsstruktur V.
366 382
Gewissen, Norm, Normenbuch vorreformatorisch: Die Dekalogerklärungen nach ihrem Materialwert
385
1. Ende eines gemeinsamen Weges: gewissen und synderesis . 2. Das Buch zur Norm
385 389
Abkürzungen Nachschlagewerke Literatur Personen- und Werkregister Sach- und Wortregister
394 395 397 431 434
Einleitung Der Begriff des Gewissens, der auf den ersten Blick wirkt wie die Benennung für eine anthropologische Konstante, zeigt sich - wie die meisten geisteswissenschaftlichen Beschreibungskategorien - sehr bald als historisch gewachsen, als nicht definierbar, aber wohl in seinem Wandel beschreibbar. Ob es ein Gewissen gibt, ist für solche historische Betrachtung nicht die Frage; eine Antwort darauf müßte im übrigen auch mit dem arbeiten, was es zwangsläufig nicht geben kann, nämlich mit einer Definition, deren Gültigkeitsbereich in die Geschichte zurück verlängert werden müßte. Die Frage ist vielmehr, warum es Epochen gibt, die dieses Wort oder eines aus seiner Übersetzungsfamilie (syneidesis, synderesis, conscientia, samwitticheit, conscience usw.) in wiederkehrende Kontexte so einbinden, daß terminologische Verwendung entsteht. Warum und wozu also brauchen sie einen eigenen Begriff Gewissen - neben Bewußtsein, Selbstbewußtsein, praktischer Vernunft? Die Frage weitet sich aus, wenn man in Rechnung stellt, daß mit jeder Übertragung in eine neue Sprache sich die Bedeutung verschiebt, die das übersetzte Wort hatte: Es ist also auch zu untersuchen, wohin ein übernommener Begriff gebogen, woraufhin er verändert wird. Wenn man diesen Fragen für den Begriff des Gewissens nachgeht, befindet man sich in mehrfachen problemgeschichtlichen Überschneidungen. Es geht beim Gewissen immer um eine interne Instanz der Handlungskontrolle, und insofern tangieren die historischen Inhalte der Begriffe aus dem Übersetzungsfeld Gewissen die Vorstellungen des Menschen von sich selbst, vom Verhältnis zu Gott und zum Mitmenschen. Der Wandel dieser Vorstellungen zur Neuzeit hin wird in der Forschung in den Problembündeln Identität, Subjektivität und Individualität erörtert, denn es gilt, trotz und dank aller Bemühungen um Epochenschwellen, als ausgemacht, daß die Neuzeit in einem langandauernden Prozeß erst gelernt hat, Ich zu sagen, Subjekt oder Individuum. Wie sich zeigen wird, braucht die deutsche Literatur erst eine ausgebildete Fähigkeit im Setzen eines literarischen Ichs, muß sie erst literarische Möglichkeiten dafür erproben, wie ein Held zu dem Bewußtsein kommen kann, Täter seiner Taten zu sein. Erst dann kann sie die Vorstellung ins Auge fassen, daß der Held seine Taten verantwortet und dabei nicht nur seine äußere, sondern auch seine innere Vita bilden bis sie ihn unverwechselbar macht. Was im Nachhinein, vom Standpunkt moderner Subjektivität und Individualität, wie ein Hinübertasten über eine Epochenschwelle anmutet,
2
Einleitung
wird in der mittelalterlichen philosophisch-theoretischen Reflexion unter dem Begriff conscientia und dem Schwesterbegriff synderesis verhandelt. Beide führt die deutsche religiöse Prosa des späten Mittelalters ein. Vor wenigen Jahren hat Heinz D. Kittsteiner "Die Entstehung des modernen Gewissens" untersucht (Frankfurt/Leipzig 1991). Sein Buch konzentriert sich im wesentlichen auf die Zeit von der Reformation bis zur Aufklärung. Es setzt einen historisch eingegrenzten Begriff voraus, für den Luthers gewissen beispielhaft gewirkt hat. Aber wie und wann kommt eigentlich der Begriff 'Gewissen' in die deutsche Literatur? Es sieht zunächst so aus, als wäre er eine getreue Nachbildung eines lateinischen. In der Frühzeit des Deutschen sind viele Begriffe aus dem Lateinischen übernommen worden, die mit dem Christentum verbunden waren. Vom neuzeitlichen Standpunkt ist 'Gewissen' ebenso genuin christlich wie 'heiliger Geist'; die Wege scheinen parallel verlaufen zu sein. Das erweist sich aber bei genauerer Betrachtung als fehlerhafte Annahme. Zwar ist conscientia ein Vulgatawort. Es gibt deshalb Lehnübersetzungen schon im Althochdeutschen. Aber sie sind nicht auf ein deutsches Wort zentriert und verlieren sich bald wieder. Der erste Schub deutscher Begriffsbildung blieb für 'Gewissen' fast folgenlos. Spätere Übernahme brauchte aber mit Sicherheit eine besondere Motivation. Wenn sie nach dem 11. Jahrhundert vonstatten ging, ist außerdem fraglich, ob tatsächlich der Vorstellungsgehalt und Begriffsinhalt von conscientia zugrundelag. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts sind nämlich in der Wissenschaft zwei komplementäre Begriffe, conscientia und synderesis, für die Bezeichnung dessen zuständig, was wir heute unter 'Gewissen' zusammenfassen. In den Schulen sind aber auch zu dieser Zeit (und danach, bis in die frühe Neuzeit) die Autoren gelesen worden, die die stoische conscientia-Vorstellung vermittelten: Cicero und Seneca, denen als den Früheren die scholastische Neuerung synderesis unbekannt war. Die Ausgangslage dafür, die Entstehung eines Gewissensbegriffes im Deutschen historisch zu rekonstruieren, ist also denkbar schwierig, weil so vieles gleichzeitig geprüft werden muß: Welche Vorstellung von 'Gewissen' wurde wann aus der lateinischen Kultursphäre übernommen, und warum? Selbst ob es sich überhaupt um Übernahme handelt, darf nicht von vornherein als gewiß gelten: Brauchte man Schulbildung, um nach einem Wort für 'Gewissen' zu suchen? Für diese komplexe hermeneutische Aufgabe bietet eine Äußerung von Foucault einen sinnvollen Lösungsansatz an: Foucault betrachtet die (WiedelEinführung der zumindest jährlichen Ohrenbeichte 1215 als zentrales Datum für die Entstehung einer modernen Geständnisgesellschaft.1 Das wäre ein
M . FOUCAULT: D e r W i l l e z u m W i s s e n . Ü b e r s , v . U . RAULFFU. W . SEITTER. 2 .
Aufl. Frankfurt 1988, S. 75.
Einleitung
3
Anhaltspunkt: Eine religiöse Pflicht für Laien erzwingt den volkssprachlichen, auch für Laien faßlichen Begriff. Das heißt nicht, daß es Benennungen für den entsprechenden Inhalt nicht auch zuvor gegeben haben könnte; nun aber werden sie gebündelt. Einfach und klar verhält es sich dennoch nicht mit dem deutschen Begriff 'Gewissen'. Die Beichtpflicht ist in ganz Europa eingeführt worden, und wenn sie wirklich der Anstoß für die Bildung volkssprachlicher Begriffe vom Gewissen war, dann müßten alle diese volkssprachlichen Gewissensbegriffe im wesentlichen deckungsgleich sein. Diese Erwägung gilt übrigens unabhängig davon, ob man Foucault folgen möchte oder nicht. Auch wenn man von Jacques LeGoff her dächte und die Entwicklung der Fegefeuervorstellungen2 für eine begriffliche Kristallisation der Bilder vom Gewissen verantwortlich machte, hätte man sich wieder an einer gesamteuropäischen Verschiebung orientiert, die sich zuerst in scholastischem Latein fassen ließe und in abgeleiteter Weise in der volkssprachlichen Predigt, dies aber in allen Idiomen gleichermaßen. Auch dann wäre zu erwarten: Alle europäischen Begriffe von 'Gewissen' stimmen wesentlich überein, sind nur Namen für dieselbe Sache. Hält man aber das deutsche 'Gewissen' neben das französische conscience und das englische conscience, also neben zwei Worte, die sich aufs schönste zu ihrer Herkunft bekennen und untereinander gar identisch sind, dann ergibt sich eine Merkwürdigkeit. Das deutsche 'Gewissen' in der Gegenwartssprache ist ganz sicher etwas Moralisches.3 Wenn man nur meint, daß einer seiner selbst innewird, während er etwas tut, dann benutzt man im Deutschen ein anderes Wort, zum Beispiel 'Bewußtsein'. Das französische Wort conscience dagegen kann auch 'Bewußtsein' heißen.4 Auch im Englischen sind die Bedeutungen 'Bewußtsein' und 'inneres Wissen' mit conscience zu benennen.5 Ist es wirklich gleichgültig, ob das Wort fürs moralische Gewissen zugleich auch ein allgemeines Bewußtsein seiner selbst bezeichnet - oder ob dafür regelmäßig ein anderer Begriff benutzt wird? Zum Beispiel ist der berühmte Vers aus Shakespeares 'Hamlet' Thus conscience does make cowards of us all (ΙΙΙ,Ι, Z. 85),
der in der Schlegelübersetzung heißt So macht Gewissen Feige aus uns allen
2 3 4 5
Vgl. LEGOFF, Fegefeuer, bes. S. 350-406. HDG Bd. 1, S. 484. TLF Bd. 5 (1977), S. 1365-1371. OED Bd. 3, S. 754.
4
Einleitung
in dieser deutschen Wortgestalt vielleicht nur ein Mißverständnis, denn es geht tatsächlich um conscience als Besinnung, Bedenken und Bewußtsein: Daß wir die Übel, die wir haben, lieber Ertragen, als zu unbekannten fliehn. So macht *Bedenken* Feige aus uns allen; Der angebornen Farbe der Entschließung Wird des Gedankens Blässe angekränkelt; Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, Verlieren so der Handlung Namen. [...] (ΙΙΙ,Ι, Ζ. 83-90). 6
Sagt eine solche Übersetzungsschwierigkeit nicht vielleicht schon etwas über die besondere Tradition des Begriffs aus, darüber, wie er sich in der jeweiligen Sprachgemeinschaft verfestigt hat, nachdem ihre Gelehrten aufgehört hatten, lateinisch zu schreiben? Denn 'Bewußtsein' und 'Besinnung' sind Inhalte, die dem mittelalterlich-lateinischen conscientia-Begriff durchaus entsprechen, weil conscientia auch die vernünftige Handlungsplanung bezeichnen konnte. Dafür nun braucht das Deutsche in der Gegenwart eigene Worte; die vernünftige, bewußte Planung einer Handlung in der Zukunft, bei der der Aspekt des Guten und Bösen nur einer unter mehreren ist, scheint also im Deutschen irgendwann aus dem Gewissensbegriff herausgefallen zu sein. Die gemeinsame Tradition des Begriffs büßt offenbar bei ihrer Aufspaltung auf volkssprachliche Zweige einiges an Gemeinsamkeit ein. Freilich wäre, wenn es sich so verhielte, für die Untersuchung der Diversifizierung von Gewissensbegriffen und -Vorstellungen die sprachliche Eingrenzung nur ein Behelf für ein Bündel von Bestimmungsgrößen, zu denen alte politische Grenzen, Religionsgemeinschaften, kulturelle Vorbilder und Nachbarschaften ebenso gehören. Aber jedenfalls hätte man einen der (zumindest in der Mediaevistik) seltenen Fälle vor sich, in denen die traditionellen Beschränkungen einer Nationalphilologie für die Einzelanalyse geradezu nötig
And makes us rather bear those ills we have,/ Than fly to others that we know not of?/ Thus conscience does make cowards of us all;/ And thus the native hue of resolution/ Is sicklied o'er with the pale cast of thought;/ And enterprizes of great pith and moment,/ With this regard, their currents turn awry,/ And lose the name of action.
Einleitung
5
sind, um letztlich im Vergleich zu einer gesamteuropäischen Begriffsgeschichte zu kommen. Diese Studie versucht, den Weg der deutschen Literatur zum Begriff Gewissen in diesem Sinne zu beleuchten. Den Weg zum Begriff - das bedeutet: auch seine Vorstufen, die Vorstellungen und Reflexionen, die ihn vorbereitet haben. Begriffsgeschichte vollzieht sich nicht nur in Begriffen. Sie wird in Texten geschrieben und speist sich aus Texten. Deren Formung formt auch den Begriff mit. Umgekehrt spiegeln sich theoretische Auffassungen, die sich in wissenschaftlichen Kontexten auch begrifflich fassen lassen, gleichzeitig im Bauplan der Texte: In der scholastischen quaestio, in Spinozas Ethik ordine geometrico ist das augenscheinlich. Wo aber Begrifflichkeit und begriffliches Denken nicht intendiert ist, in der fiktionalen Literatur, zeigen sogar vor allem die Textstrukturen, wie sich der Sinnzusammenhang, in dem der beschreibende Begriff steht, dem Autor darstellt. So greift reine Begriffsgeschichte immer zu kurz, sie ist nur eine Sicht auf die Literaturgeschichte des Problems. In dieser Absicht, im Sinne einer Literaturgeschichte der Ethik, will meine Studie zeigen, daß fiktionale Literatur im Mittelalter allererst geholfen hat, einen Begriff vom Gewissen zu bilden, und daß dieser Begriff vom Gewissen, nachdem er einmal bestimmt und philosophisch durchdacht war, seinerseits die organisierende Mitte einer anderen, eigenen Literaturgattung bilden konnte, eines Typs von Wissenschaftsprosa, dessen Tradition bis zu Kant weiterwirkt (leider kann die Linie hier nicht bis zu diesem Ende verfolgt werden). Die Etablierung dieser deutschen Wissenschaftsprosa setzt die Leistungen voraus, die die deutsche Literatur schon erbracht hatte, als sich die gelehrtlateinische Wissenschaft mit dem Gewissen zu befassen begann. Zuerst zeichneten sich die Umrisse des Problems 'vernünftige Gewissensentscheidung' in volkssprachlichen Versen lyrischer und epischer Werke ab. Was sie künstlerisch vor Augen führten, wurde wenig später von der lateinischen Scholastik auf den Begriff gebracht. In der Sicht der Scholastik kehrte das Gewissen in die volkssprachliche Literatur zurück, und zwar im Rahmen der breiten Rezeption scholastischer Gelehrsamkeit durch volkssprachliche Theologie und Wissensliteratur. Im 14. und 15. Jahrhundert bildeten sich literarische Formen, für die das Gewissen zur textorganisierenden Idee wurde. Sie versuchten scholastisches Denken über das Gewissen auch auf deutsch. Der erste Teil dieses Buches beschreibt die Ansätze zu Gewissensvorstellungen in der deutschen literarischen Tradition bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, rekonstruiert dann die lateinisch-scholastischen Auseinandersetzungen um das Gewissen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts und zeichnet schließlich die Wege der Rezeption nach, die der doppelte scholastische Gewissensbegriff synderesis-conscientia in volkssprachlicher deutscher Theologie und religiöser Prosa bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts nimmt.
6
Einleitung
Der zweite Teil zeigt an drei Auslegungen der 10 Gebote aus dem späten 14. und beginnenden 15. Jahrhundert, welche neuen Textformen und Buchtypen in der volkssprachlichen Literatur entstehen, sobald der ursprünglich philosophische Gewissensbegriff der scholastischen Wissenschaft, bereits gebrochen und verändert durch volkssprachliche Theologie, zu umfassender Normierung des Alltagslebens genutzt wird. Er interpretiert die Auslegungen als Summen des Normwissens und zeigt dabei den engen Zusammenhang zwischen der lebensweltlichen Festlegung eines spezifischen Gewissensbegriffs und der Tendenz zur Beratung beim Buch, zwischen Vorstellungen vom sittlichen Urteil und besonderen Text- und Buchformen.
Erster Teil Die Geschichte des Gewissensbegriffs im deutschen Mittelalter
I. Voraussetzungen für die Ausbildung eines Gewissensbegriffs in der volkssprachlichen Literatur 1. Das Wort und die Sache 'Gewissen' Als im 13. Jahrhundert im Gefolge der Bettelordenstheologien und der Übersetzungsbemühungen dieser Orden eine scholastisch beeinflußte Gewissensvorstellung in den Volkssprachen rezipiert zu werden begann, hatte das Deutsche bereits ein altes Übersetzungswort für conscientia: gewizzen. Es war aber keineswegs auf diese Bedeutung festgelegt. Dennoch setzte es sich in und nach der Reformation gegen die niederdeutsche Lehnübertragung samwitticheit1 durch, weil Luther Gewissen verwendete.2 Bis ins 15. Jahrhundert bestanden beide Wörter nebeneinander her. 3 Der 'Liber ordinis rerum', nach den Ergebnissen vom Schmitt im nd. Sprachgebiet entstanden,4 verwendet in seiner oberdeutschen Fassung - neben einer anderen, inhaltlich bedingten Wiedergabe als gotvorchtikeyt5 - ausschließlich das Interpretament gwissen,6 und auch der im 15. Jahrhundert breit und überregional überlieferte 'Vocabularius Ex quo' verwendet zwar in 10 Gruppenlesarten entweder sanwiczekeit oder gewissn, aber nur in einer Gruppe beide Formen: sanwiczekeit [...] oder gewizzen? Das spricht für eine klare regionale Verteilung und völlige Ersetzbarkeit der Interpretamente beim Übergang in einen anderen Gebrauchsraum: gewizzen ist das südliche, samwitticheit/samwitzekeit das
1
SCHILLER-LÜBBEN B d . 4 , S . 2 2 .
2
Vgl. DWB Bd. 4.1.3. (Getreide bis gewöhniglich), bearb. v. Hermann WUNDERLICH, Sp. 6219-6287. Über den Stellenwert des Gewissensbegriffs bei Luther: ERKSON, S. 2 4 8 .
3
4
5 6 7
Nach den B e l e g e n bei SCHILLER-LÜBBEN, Bd. 4 , S. 2 2 und im FINDEBUCH, S.
296 (5 Belege für die lautverschobenen Formen mit zz und tz) kommt das Wort erst im 13. Jahrhundert in Gebrauch, gibt jedoch viel eindeutiger conscientia wieder als mhd. gewizzen. SCHMITT, P. (Hg.), Liber, Bd. 1, S. IX. Der Überlieferungsschwerpunkt des Glossars, dessen früheste datierte Hs. von 1400 stammt, ist der bairisch-österreichische Raum, ebd. Zu den inhaltlichen Aspekten dieser Glossierung vgl. Teil 1, Kap. VI. SCHMITT, P. (Hg.), Liber, Bd. 1, S. 494. Ex QUO, Bd. 2, S. 618 (C 874).
Das Wort und die Sache 'Gewissen'
9
nördliche Wort für conscientia. Ich werde mich im folgenden auf gewizzen konzentrieren, weil alle Texte, die ich heranziehe, dem Raum entspringen, in dem gewizzen erwartet werden muß, und weil sie tatsächlich ausschließlich gewizzen verwenden. Nun benennt aber mhd. gewizzen nicht von vornherein dasselbe wie conscientia in ihrem zeitgenössischen, religiös geprägten Verständnis. Anderseits sprechen die spätmittelalterlichen Wörterbücher eine klare Sprache, sie schlagen gewizzen als Übersetzungswort gerade vor. In dem Korpus von Wissenstexten aus der 2. Hälfte des 14. und dem 15. Jahrhundert, das im Würzburger Sonderforschungsbereich 226 (Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur) untersucht wurde,8 bot gewizzen den bearbeitenden Sprachwissenschaftlern bereits einen eindeutigen Befund: "Im Korpus ist gewizzen als christlicher Terminus in der Bedeutung 'moralisches Bewußtsein' belegt.9 Der Weg dorthin ist erst durch die Analyse des Übernahmeprozesses von conscientia-^orstellungen in die deutsche Literatur zu beschreiben;10 dieser Übernahmeprozeß findet aber nicht voraussetzungslos statt. Ob sich nun zeigen wird, daß diese Voraussetzungen bedeutungslos werden, oder ob sich im Gegenteil erweist, daß sie die Engführung von Wort und Sache befördern - in jedem Fall ist vorab zu klären: Welche Bedeutungen von gewizzen standen dem 13. Jahrhundert bereit?, und parallel dazu: Welche literarischen Möglichkeiten waren bereits erprobt, um über eine Sache zu handeln, die der moderne Interpret 'Gewissen' nennen würde?
2. Das Wort ohne die Sache Mhd. gewizzen ist als Neutrum und Femininum belegt," denn es geht auf zwei verschiedene althochdeutsche Wortbildungsmuster zurück, die vom
8
Vgl. BRENDEL/FRISCH/MOSER/WOLF, Korpusbeschreibung S. 9-15.
9
BRENDEL/FRISCH/MOSER/WOLF, S . 5 4 .
10
Die Beschreibung bei BRENDEL/FRISCH/MOSER/WOLF, S. 54 "Da conscientia und gewizzen im Korpus mehrmals gemeinsam belegt sind, und die Semantik der Bildung sich in keine der volkssprachlichen Wortbildungstypen einfügt, muß man davon ausgehen, daß die Lehnübersetzung die lateinische Bedeutung autonom in die deutsche Sprache transportiert" ist auf Korpusebene sicher richtig, klammert aber die Frage aus, warum sich unter den konkurrierenden Wortbedeutungen für gewizzen die der Lehnübersetzung durchsetzen kann. Auch wenn das christliche gewizzen ein geistlicher Reimport ist, kann nur reimportiert werden, was bereits vorgeformt war. Das ist natürliche keine rein linguistische Frage. BMZ III, Sp. 790 u. 791, Lexer Bd. 1, Sp. 995, Findebuch, S. 143.
11
10
Voraussetzungen fiir die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
Präteritopräsens weiz Nomina ableiten: Das feminine gewizzeni, die vom Partizip Präteriti genommene Lehnübersetzung des St. Gallener NotkerGlossators für conscientia,n wofür Notker selbst verschiedene Übersetzungswörter benutzt, 13 während der Glossator auch uuizza schreibt, 14 und gawizzi, ein Neutrum, das im Altsächsischen in giwit der Heliandsprache eine Parallele findet.15 Die mhd. Entsprechung dazu ist gewizze, dessen regelhafte Entfaltung in stark flektierten Formen offenbar durch apokopierte Flexionsformen von gewizzene gestört worden ist;16 im Mhd. überlagert sich das Neutrum gewizze mit dem femininen Substantiv, das vom Adjektiv gewis abgeleitet ist, 17 mit gewisse, der Fortentwicklung des bei Otfrid gut belegten
12
13
14
15
16 17
Np 68,20: Notker schreibt Vnde mina scäma. quae mordet conscientiam. diu an minem liden uuirt fanden nals an mir. Der Glossator überträgt den lateinischen Rest: diu mich pizzet in mtnero gewizzeni. (Ich zitiere Notker und den NotkerGlossator mit den herkömmlichen Abkürzungen: Nb ist die Übersetzung von De Consolatione des Boethius, PIPER Bd. 1, S. 1-363, Np die Übersetzung des Psalters, PIPER Bd. 2, S. 3-606. Die Fundstellen beziehen sich auf diese Ausgabe.) Nb S. 116,6-9: giuuizeda-, Nb S. 35,3: muof, Nb S. 158,9 after geuuizenero uuärheite für ueritate conscientiae\ Nb S. 33,22: herza. Vgl. BECKER, S. 112. Für das innere Bewußtsein von einer Handlung verwendet die Reichenauer Beichte aus Steinmeyers Denkmälern auch uuizzantheidi (STEINMEYER, Sprachdenkmäler, S. 332,30: soso ih iz uuizanlheidi gidadi, also mit Wissen; die Formel noch einmal in der Graphie uuizzantheiti ebd., S. 324,37). Dieses Wort kommt in ähnlicher Bedeutung auch in den Murbacher Hymnen XXIV, 13 vor, ed. SIEVERS, S. 54: Für Quia tu ipse testis et iudex/ quem nemo potest f allere/ secreta conscientiae/ nostre uidens uestigia heißt der ahd. Text: thanta du selbo urchundo inti suanari pist/ then nioman mac triugan/ tauganiu uuizzantheiti/ unsera sehanti spor. Np 57,11: pe diu habet er reina conscientiam dero freuuet er sih schreibt Notker, und der Glossator ergänzt über conscientiam: sin uuizza. DWB 4, Sp. 6226f. Vgl. TRIER, S. 66-67, bes. Anm. 3, und S. 90-91. G. BECKER hat darauf hingewiesen, daß giwit des Heliand nicht zwingend nach dem Vorbild von conscientia gebildet sein muß, sondern zu den germanischen Rechtsabstrakta vom gleichen Stamm paßt und also spontan analog gebildet worden sein könnte; und auf jeden Fall bedeutet das Wort im Heliand nicht 'Gewissen', sondern ganz allgemein 'Wissen', ebd., S. 55-56, dazu ebd. Anm. 84. Bei Notker ist gewizze vor allem die Lehnübersetzung von ingenium, vgl. TRIER, S. 76. TRIER urteilt S. 91: "N[otker]s starke Einschränkung von gewizze muß man vor dem Hintergrund von H[eliand] und 0[tfrid] sehen, um ihre Besonderheit zu begreifen. Man erkennt sie dann als den Versuch, volkstümliche und begrifflich schwankende Ausdrucksweisen durch feste Termini (redd) zu ersetzen." DWB 4, Sp. 6227, 6230 u. 6232. Gewis ist die ältere Form des Partizips zu weiz und konkurriert insofern mit der parallelen Bildung gewizzen, vgl. PAUL/MOSER/SCHRÖBLER § 172 S. 206.
Das Wort ohne die Sache
11
ahd. giwissi.18 Das hat grammatische Auswirkungen in Hinsicht auf schwankendes Genus und semantische Auswirkungen im Sinne von Überlagerung und Vermischung.19 Auch im Mnd. stehen einander gewete und geweten gegenüber, hier ist geweten aber stets Neutrum.20 Das feminine Substantiv gewizzene wird früh apokopiert, in einigen Landschaften auch zu gewizzni synkopiert.21 In mhd. Zeit wird die Form gewizzen gebräuchlicher; gewizze tritt zurück.22 Das Genus von gewizzen ist nicht immer klar erkennbar, insbesondere bei pluralischem Gebrauch. Überkreuzungen mit den Neutra sind möglich; in der Dichtung der mhd. Zeit bucht das Deutsche Wörterbuch nur einen Beleg, der eindeutig Neutrum, dafür aber nicht eindeutig gewizze ist, nämlich aus Herborts von Fritzlar Trojanerkrieg:23 Dirre was ir iegelich Dem andern also glich An libe vn an antlitze Doch schit sie daz gewitze Ambet aider vn sin.1* (vv. 3177-3181)
Das Findebuch zum mhd. Wortschatz steuert einen weiteren Beleg für das Neutrum bei, der zeitlich vor der Übersetzungsbewegung der Bettelorden liegt: In der frühmittelhochdeutschen Psalmenübersetzung aus Millstatt ist gewizzen die Wiedergabe von sciential Ansonsten herrscht das gut belegte
18 19
20 21 22 23 24
25
DWB 4, Sp. 6212 u. 6230. Vgl. DWB 4, Sp. 6230, WMU 1, S. 731-735. Familienzusammengehörigkeit und Bedeutungsauffächerung dokumentiert SPLETT, Ahd. Wb. 1,2, S. 1146-1150. DWB 4, Sp. 6239. DWB 4, Sp. 6228. DWB 4, Sp. 6237. DWB 4, Sp. 6227. Der Reim ist in den unverschobenen Formen rein. Ob gewitze aber tatsächlich mhd. gewizze meint und nicht ein starkes Neutrum gewitze (LEXER Bd. 1, Sp. 995 mit diesem Beleg) in der Bedeutung 'Wissen, Weisheit, Verstand', erscheint mir nicht sicher; auf jeden Fall hat antlizze seit ahd. Zeit die Affrikata, vgl. BRAUNE/EGGERS § 159 S. 152. Inhaltlich sind die beiden Verschiebungsergebnisse freilich eng beieinander. Meine Übersetzung: 'Jeder von ihnen war dem anderen an Gestalt und Gesicht ganz gleich, doch das Wissen, der Rang, das Lebensalter und die Denkungsart unterschieden sie.' Ich gebe in diesem Abschnitt der Untersuchung die Übersetzungen zu den im Haupttext herangezogenen Belegstellen an; nicht, weil ich zu deren allgemeinem Verständnis glaube beitragen zu müssen, sondern weil ich Rechenschaft über meine jeweilige Interpretation von gewizzen und verwandten Formen abgeben will. Für Si est scientia in excelso steht: ob da ist gewizzen in der hohe. TÖRNQUIST, S. 115. Übrigens benutzt der Übersetzer ungewizzen für ignorantia, ebd., S. 36.
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Voraussetzungen für die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
Femininum mit der Grundbedeutung 'Wissen', sowohl im Sinne der intellektuellen Fähigkeit als auch im Sinne des Erkenntnisinhaltes. Für das Verstandesvermögen ist in ahd. Zeit für die Straßburger Eide und die Fuldaer Beichte giuuizzi belegt,26 das Wort bewahrt also zunächst selbst in religiösen Kontexten seine säkulare Bedeutung. Das ist für gewizzen noch mittelhochdeutsch so. Die Spannweite des Wissens, für das gewizzen stehen kann, ist groß, wie es sich in den folgenden Belegen aus dem 'Wigalois' Wirnts von Grafenberg zeigt: ir scelde diu was manicvalt an libe und an gewizzen; ( w . 4124f.) 27 dar zuo was ir herzen dach gewizzen, schäm und güete. (vv. 8946f.) 28
Das Wort gewizzen wird aber auch im Mhd. noch, ganz ähnlich wie in den ahd. Beichten, zur Nachahmung lateinischer Terminologie in der Seelen- und Intellektlehre verwendet. Lamprecht von Regensburg läßt in 'Diu tohter Syon' Fides, die Verkörperung des Glaubens, der Seele deren Vermögen als Wege zu Gott erklären; in den nun folgenden Ausführungen zu intelligentia, memoria und voluntas heißt es über das erste Vermögen: intelligentia verstandenheit, diu dines herzen gwizzen treit, mit der solt du dich versten daz du mit nihle umhegen solt dan mit im, daz ist min rät, der dich schuof und erloeset hat. (vv. 806-8II) 25
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29
DENKMÄLER I, S. 231 u. 242. Dagegen wird in einigen Beichten das Bewußtsein oder Nichtbewußtsein von den eigenen Handlungen durch die stehende Formel uuizzanto [...] edder unuuizzanto ausgedrückt: 2. bair. Beichte, ebd., S. 247. Ebenso (mit Unterschieden in Formen und Graphie): 1. bair. Beichte, ebd., S. 246; St. Emmeramer Gebet ebd., S. 248, Würzburger Beichte ebd., S. 246. Übersetzung: 'Ihre glückliche Begabung an Leib und Seele war groß.' Übersetzung: 'Dazu war das Dach ihres Herzens die Kenntnis des Schicklichen, weibliche Zurückhaltung und Güte.' Die Stelle hieße in meiner Wiedergabe: 'Intelligenz (Verstand): Sie trägt das Wissen deines Herzens. Mit ihrer Hilfe sollst du einsehen, daß du dich allein mit dem beschäftigen sollst, der dich schuf und der dich erlöst hat. Das ist [auch] mein Rat.'
Das Wort ohne die Sache
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Die Bedeutung bleibt durch das 13. Jahrhundert hindurch noch weit. Das von Rosenhagen edierte mhd. Lehrgedicht 'Von der Hochfart' hat folgende Stelle: so sul wir denken an die not wie gewis uns si der tot. wir enwizzen wen er kumen wil, so enweiz der mensche nimmer vil welch tot im denne ist beschert, und enweiz niht wa sin sele hin vert. swie wol Christ west den tack da sin tot inne lack, und die marter die er dolde, und welchs todes er sterben solde und war sin sele solde varn, die gewizzen mag das niht bewarn im tet die angest so heiz daz er switzte blutigen sweiz. sone wizzen wir niht wan wir sterben und welches todes wir verderben, da zu wizze wir niht waz unser sele geschiht. (VV. 7 5 - 9 2 ) 3 0
Auch Konrad von Heimesfurt verwendet in 'Diu urstende' das Wort in der Grundbedeutung 'Wissen': und saget uns dannoch me wie ez umb disen strit sie da diu werlt mite umbe get, umbe Jesum von Nazareth, der al hie verdampnet ist. nu jehent genuoge er si Christ, so sprechent sumeltche: "niht!"
30
Datierung: 2.13. D. 13. Jh. Das Glossar übersetzt die Stelle mit 'Gewissen' (Kleinere Erz. ed. ROSENHAGEN III, S. 234), das halte ich für falsch. Ich würde übersetzen: 'So sollen wir an die Notwendigkeit denken, mit der uns der Tod gewiß ist. Wir wissen nicht, wann er kommen wird. Sodann weiß der Mensch nie recht, welcher Tod ihm dann beschert sein wird, und er weiß nicht, wohin seine Seele geht. Wenn auch Christus den Tag wußte, der seinen Tod beschloß, und die Marter, die er zu dulden hatte, und welchen Todes er sterben würde und wohin seine Seele ginge - dieses Wissen konnte nicht verhindern, daß ihm vor Angst so heiß wurde, daß er blutigen Schweiß schwitzte. Wir dagegen wissen nicht, wann wir sterben und in welchem Tod wir verderben; zudem wissen wir nicht, was unserer Seele geschehen wird.'
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Voraussetzungen filr die Ausbildung eines Gewissensbegriffs .swej iuwer gewizzen dar an giht, dä sul wir uns läzen an.' (vv. 1659-1667) 31
Besondere Bedeutungen von gewizzen gibt es in der Rechtssphäre. Bereits das Deutsche Wörterbuch registriert häufige ί-Graphie im Rechtsbereich; auch das Wörterbuch der mhd. Urkundensprache, das die deutschen Urkunden bis 1300 auswertet, ordnet bairische Belege mit ss-Graphie dem Lemma gewizzen zu.32 Es verzeichnet anderseits kein eigenes Lemma gewisse, dagegen ist gewisse in der Dichtung bis ins 14. Jahrhundert belegt.33 Offenbar ist für das Urkundenkorpus eine sichere Ausgrenzung derjenigen Belege, in denen gewisse zugrundeliegt, nicht möglich, sobald die unterschiedliche Graphie, verstanden als Reflex unterschiedlicher Herkunft, als Kriterium fehlt, denn die Bedeutung 'Gewißheit' fällt mit einer Hauptbedeutung von gewizzen, nämlich 'Wissen als Resultat', weitgehend zusammen. Hier findet sich bestätigt, was auch die Belegreihe im DWB bereits darstellt, nämlich die partielle Überkreuzung von gewisse und gewizze/gewizzen.34 Daß sie nicht nur in der Rechtssprache vor sich geht, zeigen zwei Belege aus dem deutschen Lucidarius, der noch ins 12. Jahrhundert gehört. Die handschriftlich überlieferten Wortformen beider Belege sind gleich; dennoch geht es in der ersten Passage um eine Art von Gewißheit, in der zweiten werden die Kontrollfunktionen beschrieben, die in der gesamten theologischen Tradition der conscientia im Sinn von 'Gewissen' zugerechnet werden. Beide Belege zeigen Suffigierung mit -heit. Der iunger sprach: Hanl die zweifloten stäle alse die büch sprechent? - Der meister sprach: Jr stäle ist die gewissenheil irs herzen, da mite si uberwunden hant die lastir dirre weite. Jedoch sizzent si uf stülen, die gemachint sint uon dem luste.35
31
32
Anm. zum Vers 1666 im Kommentar zu Konrad von Heimesfurt ed. GARTNER/HOFFMANN, S. 145: gewizzen 'Wissen, Kenntnis'. Datierung S. LXI: 13. Jahrhundert, term, ante quem aus frühester Hs. um 1300: S. XLVIII. Meine Übersetzung heißt: 'Und sagt uns außerdem, wie es um den Prozeß steht, von dem alle Welt spricht: um Jesus von Nazareth, der hier verurteilt worden ist. Nun behaupten genügend Leute, daß er der Gesalbte sei, dagegen sagen andere: Er ist es nicht. Was euer Sachverstand dazu meint, darauf werden wir uns verlassen.' DWB 4, Sp. 6237f., W M U 1, Sp. 733.
33
FINDEBUCH, S .
34
DWB 4, Sp. 6212 u. 6230. LUCIDARIUS ED. GOTTSCHALL/STEER III.55, S. 139f. Übersetzung: 'Der Jünger sprach: Haben die Apostel Throne, wie die Bücher sagen? Der Meister sprach: Ihr Thron ist die Gewißheit ihres Herzens, mit der sie die Laster dieser Welt überwunden haben. Jedoch sitzen sie auf Thronen, die aus Freude gemacht sind.'
35
142.
Das Wort ohne die Sache
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Der iunger sprach: Hant die rehten iemannen, der sie beschirme, oder die vbilen iemannen, der si rüge? - Do sprach der meisler: Niht. Wen iegelichez herzen gewissenheit. alse die ist, also vert er öch. Wen daz lieht dez flirinen crüces, daz het sie alle durch lühtet, daz si alle iegeliches herze sehent, also wol alse nu die weit die sunne sihet.i6 Terminologisch eindeutig ist gewizzen im Bereich des Rechts als Name eines prozeßrechtlichen Standards, wie es im Rügeverfahren zum Beispiel gegen Verletzer des Landfriedens angewandt wurde. Hier zeugen sieben Anwesende gegen den Rechtsbrecher, sie übersagen oder übersibenen damit seine eigene Stimme, wenn sie aus eigenem sicherem Wissen sprechen können. Der bairische Landfriede von 1256 enthält die Bestimmung: swer andern veindlichen haim suchet, wirt er des uberredet mit siben oder mit der gewizzen, er sol in der acht sin,37
geziugen
Daß es sich hier um eine stehende Formel für einen prozeßrechtlichen Sachverhalt handelt, geht aus einer Stelle in lateinischem Königsrecht hervor, in dem das deutsche Wort die lateinische Bestimmung erklärt und nicht etwa umgekehrt. In den Constitutiones König Rudolfs heißt es 1279: culpis, excessibus etforefactis quibuslibet, [...] corrigendisper inquisicionem vulgarem, quae vulgariter gewizzende dicitur.n
36
37
38
LUCIDARIUS ED. GOTTSCHALL/STEER III.66, S. 142. Die Richter sind nach III. 57, S. 140: Die zwelfooten vnde die Martiler vnde die münche vnde die megede. Übersetzung: 'Der Jünger sprach: Haben die Gerechten jemanden, der sie verteidigt, oder die Schlechten jemanden, der sie anklagt? Da sprach der Meister: Nein. Sondern wie das Gewissen in jedem Herzen ist, so fahrt der Mensch auch. Denn das Licht des strahlenden Kreuzes hat sie alle durchleuchtet, so daß sie alle jedes Herz so gut sehen, wie jetzt die Welt die Sonne sieht.' URKUNDEN, 475 AB, 16,20. Vgl. WMU 1, S. 734. Übersetzung: 'Wer den anderen mit Fehde überzieht, der soll in der Acht sein, wenn ihm das mit sieben Zeugen gegen seine Aussage (durch das Vergewisserungsverfahren) nachgewiesen werden kann.' MGH Leges 4.3, ed. J. SCHWALM, Hannover/Leipzig 1904-1906, S. 222, vgl. DWB 4, Sp. 6229. Die Vermischung des substantivierten Infinitivs mit Formen des Gerundiums ist eine mhd. häufige Erscheinung, vgl. PAUL/MOSER/SCHRÖBLER § 155, Anm. 9, PAUL/WIEHL/GROSSE § 240, Anm. 9. Übersetzung: 'in jeder Schuld, Übertretung und Tatabsicht, die durch das gewöhnlichen Verfahren zu richten sind, das in der Volkssprache 'Vergewisserung' heißt.'
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Voraussetzungen für die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
Die Bezeichnung leitet sich von der Formel ab, mit der die Zeugen ihre Aussage bekräftigen: Ihnen sei der Gesetzesverletzer als ein solcher kund und gewizzen.39 Diese Formel ist in den Urkunden mehrfach belegt.40 Der juristische Kern dieses Verfahrens, das in der Mitte des 13. Jahrhunderts so konstant gewizzen genannt wird, daß das Wort als Interpretament in einen lateinischen Kontext importiert werden kann, ist das Zeugnisablegen aus eigener Anschauung und daher Kenntnis. Das Wissen, das der Bezeichnung zugrundeliegt, bezieht sich nicht auf die eigenen Handlungen, sondern auf die einer fremden Person, die Gewißheit ist jedoch selbsterlangt. Das Wörterbuch der mhd. Urkundensprache weist aus, daß es sich hier nicht um eine einzeln stehende Spezialbedeutung handelt, sondern daß dieser prozeßrechtliche Terminus in eine breite rechtssprachliche Verwendung des Wortes mit ähnlicher Grundbedeutung eingebunden ist. Es verzeichnet 77 Belege für gewizzen und trennt ihre Verwendung nach 6 Bedeutungen: Wissen/Billigung; Bewußtsein/Verstand; Kenntnis/Information; Einsicht/Erkenntnis; Wissen/Gewissen; Bezeugung/Bestätigung, wobei das Siebenerzeugnis der letzten Bedeutung, der des Bezeugens und Bestätigens, zugeordnet ist.41 In allen diesen Bedeutungsvarianten handelt es sich um ein Wissen, das sich auf die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der Rechtsordnung bezieht. Das gilt auch für die Beleggruppe, für die das neuhochdeutsche Interpretament 'Gewissen' vorgeschlagen wird: vnd da von, wan ich daz vorgenant güt ennher wider min gewizzen han inne gehabt manich iar, so erchenn ich mich dar an gein got vnd geantwurtte [...] daz selb gät [...] dem capitel ze Salzburch42
oder daz ich daz selbe guet ze vnreht wider mein gewizzen vnd meiner sei gewarhait ine gehabt han.43
39 40 41 42
43
Vgl. SCHRÖDER/KÜNSSBERG, S. 855 unter 'Übersiebenung'. WMU 1, S. 734. WMU 1, S. 733-734. WMU 1, S. 734. Übersetzung: 'Und deshalb bekenne ich mich, weil ich das zuvor benannte Gut bisher wider besseres Wissen einige Jahre verwaltet habe, darin als gegen Gott handelnd und überantworte das Gut dem Kapitel in Salzburg.' WMU 1, S. 734. Übersetzung: 'daß ich dieses Gut zu Unrecht, gegen mein besseres Wissen und die Bürgschaft meiner Seele, verwaltet habe.'
Das Wort ohne die Sache
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Dieser Wortgebrauch wendet gewizzen ausdrücklich auf eigene Handlungen an. Auch der Schwabenspiegel (2. Hälfte 13. Jh.) bietet das Wort in der Bedeutung: eigenes Bewußtsein von einer selbst herbeigeführten Lage oder selbst ausgeführten Handlung, das diese Lage oder Handlung als übereinstimmend mit der Rechtsnorm bestätigt und das als Zeuge angerufen werden kann, wenn andere Zeugen fehlen: Swaz vaernde guot heizet, hat daz ein man in sinr gewer driv iar. ane rehte widerspräche der bi im in dem land ist. vnd seit im sin gewizzen daz er reht dar zvo hat. so hat er ez mit rehte. seit aber im sin gewizzen. daz er niht reht dar zvo hat. swie lange er ez danne in siner gewalt hat. so hat erz mit vnreht.44
Knut Wolfgang Nörr ist am kanonischen Recht dem Gebrauch des Begriffes fides nachgegangen und kommt für dieses Wort, das eine wesentliche Rolle im Vertragsrecht spielt, zu dem Schluß, "daß bis in den einzelnen Begriff hinein sich Recht und Religion verschränken, sich letztlich nicht trennen lassen", und er fährt fort: "wir könnten dasselbe Phänomen an anderen Begriffen, beispielsweise dem der conscientia beobachten".45 Die Stelle aus dem Schwabenspiegel zeigt, daß das deutsche Wort gewizzen im weltlichen Recht auch für eigene innere Handlungsvoraussetzungen steht, die das Urteil über die Rechtsverbindlichkeit einer Handlung wesentlich bedingen. Das stellt es in die Nähe von conscientia und fides als Rechtsbegriffen, und weil es sich um eine in Wissen gegründete Voraussetzung handelt, nimmt gewizzen ein ähnlich breites Bedeutungsfeld an wie das lateinische conscientia. Daß es sich in der Rechtssphäre um ein etabliertes Wort handelt, geht aus den Verwendungen in Urkunden klar hervor, allerdings sieht man dort auch, daß das Deutsche es ohne jeden Rückgriff auf die lateinische conscientia terminologisch verwenden kann (nämlich im prozeßrechtlichen Sinn). Die Bedeutungsgruppen 'Sicherheit', 'Gewißheit', 'konkretes Rechtsbewußtsein' dagegen stehen dem lateinischen Rechtsbegriff conscientia nahe.46 Gerd Althoff hat am Beispiel von satisfactio als einem durch Vermittler herbeigeführten öffentlichen Rechtshandeln darauf hingewiesen, daß "die theologische
44
SCHWABENSPIEGEL Z , E r s t e r L a n d r e c h t s t e i l 5 6 , S . 5 3 - 5 4 . V g l . D W B 4 , S p . 6 2 3 8 .
Übersetzung: 'Was man bewegliche Habe nennt: Hat die ein Mann drei Jahre ohne rechtsgültigen Einspruch nach Landrecht in seinem Gewahrsam, und sagt ihm sein Gewissen, daß er dazu ein Recht hat, dann besitzt er sie rechtens. Sagt ihm aber sein Gewissen, daß er kein Recht dazu hat, dann besitzt er sie widerrechtlich, wie lange er sie auch in seiner Gewalt hat.' 45
NÖRR, R e c h t , S .
46
Das WMU weist in einem Fall sogar direkte Parallelität der Formel nach: mit merer gewizzen für cum maiori conscientia, (1, S. 733).
10.
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Voraussetzungen für die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
Seite von Buße und Genugtuung dem Mittelalter wohl stets präsent war".47 Wenn, wie ich vermute, ein solcher Zusammenhang auch für gewizzen unterstellt werden darf, dann bezöge sich die terminologische Verwendung von gewizzen als "Bewußtsein von einer Rechtmäßigkeit" dadurch auf die eigene Person, daß das potentiell theologische Bedeutungselement des Selbstbezuges juristisch interpretiert wird. Denknotwendig ist die Vermittlung durch theologische Inhalte keineswegs; die Verwendung von conscientia bei Kirchenvätern, in der Bibel und bei stoischen Autoren, also in Texten, die in den Schulen gelesen wurden, könnte die Zweisträngigkeit der Belege mit gewizzen, nämlich einerseits für Wissen über fremde Handlungsvoraussetzungen und Handlungen, anderseits für Wissen über die eigenen, im Sinne der Durchsetzung eines Übersetzungswortes hinreichend erklären. Da die Belege aus deutschen Urkunden erst gegen die Mitte des Jahrhunderts zahlreicher werden, bleibt der Schluß von ihnen zurück auf die lexikalischen Voraussetzungen für die Rezeption scholastischer Gewissenslehre problematisch. Für die Möglichkeit, ihn dennoch zu wagen, spricht allerdings das Gesetz der Textsorte Urkunde, nämlich das Streben nach Eindeutigkeit in den Formulierungen. Insofern steht jeder Urkundenbeleg für eine nicht dokumentierte Geschichte der Durchsetzung des Wortes in einem Standardkontext. Die Wortverwendung der Rechtssprache in der Betrachtung nicht zu sehr von der in anderen Gattungen abzutrennen und im Gegenteil zu unterstellen, daß die Rechtssprache bereits gefestigte Bedeutungen aufnimmt, scheint mir auch durch die folgende Beobachtung geraten. Von der im Wörterbuch der mhd. Urkundensprache verzeichneten Bedeutungsvariante 'Bezeugung' aus kann gewizzen im 13. Jahrhundert auch die Bedeutung 'verbürgte Sicherheit' annehmen, wobei sicher der vom DWB konstatierte Zusammenfall von gewizzen als 'rechtsrelevante Kenntnis' und gewisse als Übersetzungswort für securitas48 eine Rolle spielt. Hierher gehört im Recht: daß alle Sehef, dy an der Saltzach aufgeent, sullen wann hintz Halle geen, änderst wo nindert, vnnd hat des mein Herr gut gewissen [...]49
47 48 49
vnnd
ALTHOFF, Genugtuung, S. 249. DWB 4, Sp. 6230. LORI, Bergrecht, S. 3 (Auszug aus Herzog Heinrichs in Baiern Saalbuch vom Saltzrechte zu Reichenall), vgl. DRWB 4, Sp. 804. Übersetzung: 'Daß alle Schiffe, die die Salzach hinauffahren, nur nach Hallein fahren und nirgendwohin sonst, und hat mein Herr dafür gute Sicherheiten [...]'
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Das Wort ohne die Sache
Hier ist gut gewissen nicht die bloße Informiertheit, erst recht nicht eine moralische oder religiöse Qualität, die allenfalls juristisch als Umstand zu Buche schlägt, sondern das gute Bewußtsein von einer handfesten Garantie, einer Bürgschaft durch Leute, die es wissen müssen, also durch Vermittler wie im Falle der satisfaction Ich zweifle, ob nicht doch zwei Lemmata hätten angesetzt werden können. Es gibt gewissen in der Bedeutung 'Sicherheit geben, gewährleisten' als Verbum: vnd sol vns daz selbe g9t geben von sand Michels tag[...\ vnd sol vns daz gewissen mit erbern bürgend
über ein iar halbes [...]
So kommt das Verb auch in der Dichtung vor.52 In Gotfrids 'Tristan' heißt es: in getar niht sprechen vürbaz, im gewisset uns e daz mit triuwen oder mit eiden, daz ir uns armen beiden guot utide genadig wellet wesen. (vv. 12095-12099) 53
In Verbindung mit diesem Verb bezeichnet das Substantiv gewissen das Bewußtsein von den Voraussetzungen und Bedingungen einer fremden Handlung, ein Bewußtsein, das durch Zusicherung entsteht. Der oben zitierte Beleg vnnd hat des mein Herr gut gewissen zeigt aber an, daß dieses Bewußtsein beim Empfänger der Bürgschaft sekundär eigene Handlungsvoraussetzungen nach sich zieht, die mit den fremden gemeinsam unter einem Fall verhandelt werden. In der Dichtung findet sich nun, wie ich meine, das Zwischenglied zwischen gewissen im Sinne 'Sicherheit über das Handeln des anderen' und gewizzen im Sinn 'Sicherheit über eigenes Handeln' an prominenter Stelle belegt. 'Swer meret die gewizzen min, dem wil ich dienen, obe ich kan; und wil doch mannen vremede sin,
50 51
Vgl. DRWB 4, Sp. 804. WMU 1, S. 733. Übersetzung: 'Und soll uns das Gut geben innerhalb eines halben Jahres nach St. Michael, und soll uns das mit ehrbaren Bürgen zusichern.'
52
Andere Belege: LEXER Bd. 1, Sp. 9 9 4 , FINDEBUCH, S. 143.
53
Übersetzung: 'Ich wage nicht weiterzusprechen, wenn Ihr uns nicht zuvor auf Eure Dienstpflicht und auf Euren Eid zusichert, daß Ihr uns armen beiden gut und hilfreich sein wollt.'
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Voraussetzungen fur die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
wand ich ein senede herze hän. Ez waere mir ein groziu nöl, wurde er mir äne maze liep. so laete senfler mir der tot, liez er mich des geniezen niet.' (MF 35,32-39,4)*
Diese Strophe aus MF stellt das DWB zu Belegen für gewizzen im Sinne allgemeinen Unterwiesenseins. Die Strophe wird Dietmar von Aist in der Forschung im allgemeinen abgesprochen, sie ist wahrscheinlich um einiges jünger. 55 Carl von Kraus, Elisabeth Lea und Moser/Tervooren haben Übersetzungen vorgeschlagen, die auf spezifisches Wissen um höfisches Verhalten ausgehen: höfische Vollkommenheit, Bildung, höfische Haltung.56 Günther Schweikle bleibt näher am Wortkörper und übersetzt: 'Wissen'. 57 Diese Wiedergabemöglichkeiten gehen sämtlich von einer Zugehörigkeit zum engeren Feld von ahd. gewizzeni aus. Mir scheint nun, daß eine juristische Auffassung des Sachverhalts gewizzen im Sinne der Überkreuzung mit gewisse in der Strophe eher angemessen und sinnentsprechend sei: Ein weibliches Rollen-Ich bezeichnet verbürgte Rechtsgewißheit als Bedingung und Zweck möglichen Dienstes. Der zugesicherte Schutz vor möglichen Übergriffen macht die Artikulation des Begehrens allererst möglich. Das doch in MF 35,34 wäre dann nicht verstärkend, sondern adversativ zu lesen, und der ganze Vers würde nicht bedeuten, daß "eine emotionale Erfahrung (MF 35,35) die Beziehung zu anderen Partnern ausschließen läßt",58 sondern er wäre eine Grenzziehung in der Bindung selbst, die in der Rede von mannen hypothetisch allgemein gedacht wird wie das Swer in MF 35,32: Das senede herze (MF 35,35) ist, denn der Vers wird mit kausalem wand eingeleitet, eine innere Gefahr, die durch Willensentscheidung (MF 35,34) gebannt werden muß, um eine Minnebeziehung überhaupt eingehen zu können.59 Unmäßige Liebe würde nicht nur zweiseitige, sondern allseitige Auslieferung und Verlust der Souveränität bedeuten (MF 36,1); die nächsten beiden Verse (MF 36,3-4) erklären, daß diese Erwägungen auch ein Spiel mit der Möglichkeit
54 55 56
Vgl. DWB 4, Sp. 6228. Vgl. MF, S. 62 u. MF II, S. 72. Vgl. M F , S . 6 2 u. M F II, S. 8 8 , LEA, S. 2 5 9 .
57
SCHWEIKLE, M i n n e l y r i k , S . 1 4 7 .
58
So versteht EDCELMANN, Denkformen, S. 91f. die Stelle. Zitat S. 92. Auch SCHWEIKLE, Minnelyrik, S. 147 übersetzt: 'und will auch (andere) Männer meiden'. Da es sich um einen selbstgeäußerten Vorsatz handelt, ändert es nichts an der Einschätzung, wenn man wil ich (MF 35,33) nicht mit 'will ich', sondern mit 'werde ich' übersetzt; ebenso liegt der Fall für und wil doch (MF 35,34).
59
Das Wort ohne die Sache
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beinhalten, die Frau könne sich dem Liebenden gegenüber sehr wohl ihrer Handlungsfreiheit begeben. Das So in MF 36,3 trägt keinen eindeutigen textuellen Rückverweis, und geniezen (MF 36,4) hat eine weite Bedeutung: als Gegensatzbegriff zu entgelten bezieht es sich auf die bloße Abwesenheit von Sanktionen, aber es ist auch eine positive Bezeichnung fiir Handlungsergebnisse. Wenn man, wie es Manfred Eikelmann vorgeführt hat, das Spiel mit den konditionalen Gefiigen ernstnimmt,60 so steht der anzitierte, konjunktivische Minnetod in MF 36,3 unter der doppelten Bedingung, daß erstens die grdziu not unmäßiger Liebe eintritt und daß zweitens der Geliebte die Erwartung der Frau nicht erfüllt, nämlich zum mindesten, sie für ihre Liebe ungestraft zu lassen, aber auch, Freude und Genuß zu geben. Die bedrohliche Konsequenz, die nicht ausgesprochen wird und der der Tod vorgezogen würde - sanfter (MF 36,3) ohne korrespondierenden Positiv -, kann nur eintreten, wenn sich die Willensentscheidung zum mannen vremede sin (MF 35,34) gegen die Macht der Liebe nicht aufrechterhalten läßt; dann wäre die liebende Frau ihrer eigenen Verfügungsgewalt über sich beraubt und in die Verantwortung des Geliebten übergeben. Er kann nur verantwortlich handeln, wenn er nicht ihren Tod vorzieht, sondern ihr freiwillig den Handlungsspielraum einräumt, der ihr verlorengegangen ist, also wenn er ihr - im Gefühl und in der Welt - Sicherheit leistet. Das heißt: gewizzen kann in MF 35,32 nicht eine Qualität des höfischen Habitus sein, denn sie ginge verloren, sobald die Frau äne maze liebt, und fiele somit als Sicherungsmechanismus aus; die gewizzen muß vielmehr als Rechtsbegriff aufgefaßt sein, aber in seiner subjektiven Spiegelung, als Bewußtsein einer Sicherheit, die vom anderen verbürgt wird und die eine Bedrohung noch dann abwendet, wenn die höfischen Selbstschutztechniken nicht mehr greifen. Also übersetze ich: 'Wer immer mein Bewußtsein der Rechtssicherheit vergrößert, dem will ich dienen, wenn ich kann. Und dennoch will ich Männern nicht gehören (vremede als Gegensatz von eigen), weil ich ein Herz habe, das liebend nach Liebe verlangt. Es wäre für mich eine große Bedrängnis, wenn ich ihn schrankenlos zu lieben begänne. Wenn er mich das nicht als gut empfinden ließe, dann wäre es besser für mich zu sterben.' In diesem Sinne schlage ich vor, die Strophe als das Bindeglied von gewisse und gewizzen zu verstehen, nämlich als die Ankunft der verbürgten Sicherheit im Gefühl der Gewißheit, aus dem heraus der Empfänger der Bürgschaft seinerseits handeln kann. Mir scheint nun wichtig herauszustellen, daß auch der juristische Terminus gewizzen im Sinne der Übersiebenung diese Kluft von Objektivem und Subjektivem, Fremdem und Eigenem überbrückt, denn er ist zum gewizzen-Begriff der eben behandelten Strophe genau spiegelverkehrt
60
Vgl. EIKELMANN, Denkformen, S. 92.
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Voraussetzungen für die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
gebildet: als selbsterlangte Gewißheit über eine fremde Handlung, die zu eigenem Handeln herausfordert. Die Ps.-Dietmar-Strophe dagegen spricht über eine durch fremde Zusicherung erlangte Gewißheit über die Möglichkeiten eigenen (reaktiven) Handelns. So ergibt sich das Bild, daß der alleinige Bezug von gewizzen auf eine handelnde und reflektierende Person, also die Bedeutung 'eigenes Bewußtsein von einer selbst herbeigeführten Rechtslage' - Belege habe ich oben angeführt - sich als Spezialfall innerhalb einer weiteren Wortverwendung etabliert. Im 13. Jahrhundert ist die subjektive Seite des Gewissens in die objektive Gewißheit noch bruchlos eingebunden. Es ist, gemessen am sprachlichen Signal dafür, nichts deutlich Besonderes, daß der Mensch sein Bemühen um Klarheit der Handlungsvoraussetzungen auf sich selbst richtet. Daß es aber um eigene Handlungsvoraussetzungen geht, ist dem selbstreflexiven und dem objektiven Gebrauch von gewizzen gemeinsam. Der Sprachgebrauch von gewizzen außerhalb der Übersetzung aus philosophischer Wissenschaft spiegelt also deutlich ein Verhältnis zur Sache, dem sich auch die mittelalterliche Theorie der conscientia vordringlich widmet (anders als neuzeitliche Gewissensauffassungen): gewizzen ist wie conscientia eine handlungsorientierende Größe, es ist auf die Zukunft hin orientiert, auch wenn es Wissen von Vergangenem enthält.
3. Die Sache ohne das Wort Die Eingemeindung von Abstrakta aus einem fremden Kulturkreis ist schwieriger und folgt anderen Regeln als die von Sachbezeichnungen. Die Vorteile einer Mauer aus Stein (lat. murus, gegenüber Wand vom Verbum winden) sind augenfällig, aber wozu man Begriffe wie heiliger Geist oder Gewissen bilden soll, muß begründet werden. Im Fall von conscientia gibt es, wie der vorige Abschnitt zeigen sollte, um 1200 zwar ein bevorzugtes Übersetzungswort, nämlich die Lehnübersetzung gewizzen, aber umgekehrt ist die Entsprechung zu conscientia unter den Bedeutungen von gewizzen nicht ausgezeichent. Ist die Sache nicht wichtig genug, um ihr ein Wort zu reservieren? Die Lage wird sich um 1500, als Luther vom Gewissen spricht, signifikant anders darstellen (wie noch behandelt werden wird). Schon in der zweiten Hälfte des 14. und im 15. Jahrhundert kann man in einer bestimmten Literatur, nämlich in Wissenstexten mit lateinischem Vorbild, davon ausgehen, daß gewizzen regelmäßig für conscientia steht.61 Also darf man
BRENDEL/FRISCH/MOSER/WOLF haben 78 Belege gewizzen erhoben, die sämtlich der Grundbedeutung 'moralisches Bewußtsein' entsprechen, S. 54.
Die Sache ohne das Wort
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annehmen, daß - jedenfalls vom Resultat aus - die Aneignung von gewizze/gewissen ebenso erfolgreich war wie die von ther heilago geist. Dies ist eine Fügung, die ursprünglich der angelsächsischen Mission entstammt und sich gegen ther wtho ätum durchsetzen konnte,62 obgleich sie ursprünglich 'unverletzliches Gespenst' bedeutete und folglich dem Sinn nach überhaupt nicht paßte. Diese Analogie zwischen 'Gewissen' und 'heiliger Geist' trägt noch keine Antwort in sich, sondern stellt nur eine Frage: In den Wellen der frühmittelalterlichen Mission war es offenbar so, daß die zusätzlich auf das Wort gelegte Bedeutung (z.B. spiritus auf ags. gäst, ahd. geist) die Vorstellung beeinflußte, für die das Wort ursprünglich stand (so daß sich 'Dämon/Gespenst' zu 'Geist' verschob). Zugleich hat sich aber auch die Vorstellung verändert, die dem übersetzten Begriff zugrundegelegen hatte, weil das neue sprachliche Medium seine eigenen Assoziationen hinzubrachte (ζ. B. sanctus zu 'heiltragend'). Diesen Prozeß gegenseitiger Annäherung hat Theodor Frings in einem nach wie vor eindrucksvollen Aufsatz beschrieben.63 Er erwähnt dort auch die St. Gallener Übersetzung gewizzeni, springt aber bei diesem Wort gleich zu Luther.64 Wenn dieser Fall wirklich in die Reihe von 'heilig' und 'Geist' gehört, dann sind hier die Leistungen der Volkssprache viel später erbracht worden, aber auch sie hat das Ihrige beigesteuert;65 wie ich glaube, durch literarische Modelle der Lyrik und der
62 63 64
65
Vgl. FRINGS, Antike, S. 47. FRINGS, Antike. "Als aber in St. Gallen um 1000 über quae mordet conscientiam einer Psalmenerklärung der Glosator schrieb diu mih pizzet in minero gewizzeni, da fand er von Partizip zu Partizip, Bildungssilbe zu Bildungssilbe und in Übereinstimmung mit der besonderen Übersetzungstechnik seines Klosters das Wort, das glückte, dem Luther die evangelische Tiefe, das Denken des 18. Jahrhunderts die sittliche Weite gab [...]". Frings, Antike, S. 50. BRENDEL/FRISCH/MOSER/WOLF, betonen (m. E. zu stark) die Sonderstellung von gewizzen, die sich daraus ergibt, daß "die Semantik der Bildung sich in keine der volkssprachlichen Wortbildungstypen einfügt", S. 54; daher trete gewizzen häufig in einer Paarformel mit conscientia auf (S. 54, S. 46). Es könnte aber einem Autor durchaus vernünftig erschienen sein, sein polysemes Übersetzungswort durch Zufügung des lateinischen Ursprungswortes zu monosemieren, und niemand und nichts zwang je die Autoren, gerade dieses polyseme Wort beizubehalten, auch wenn es einmal als Äquivalent erprobt worden war; es mußte also als deutsche Entsprechung als geeignet empfunden worden sein. Dafür kann man, wie mir scheint, aber kein Wortbildungsmuster verantwortlich machen, sondern eher den gemeinsamen Horizont aus Vorstellungen, die sich mit dem Wort gewizzen zeitgenössisch verknüpfen, und aus nichtwissenschaftlichen Assoziationen des Übersetzers zum Begriff conscientia.
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Voraussetzungen fur die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
Epik, die dem Problem 'Gewissen' außerhalb der Theologie Konturen gaben. Auch im Lateinischen erlangt die conscientia ja erst im 11.-13. Jahrhundert terminologische Präzision; so könnte man annehmen, daß im Fall des Gewissens phasenverschoben ein Prozeß der Akkulturation stattgefunden hat, den andere Leitwörter des Christentums längst durchlaufen hatten. Das 12. Jahrhundert war für die Sprecher des Deutschen kein stammelndes Jahrhundert mehr. Fast alles, was einer sich zu sagen vorgenommen haben könnte, war auch auf deutsch zu sagen (und zu verstehen), ausgenommen möglicherweise einige spezielle Wissensinhalte, aber solche Reservate gibt es auf allen Sprachstufen. Deutsch wurde auch gedichtet und geschrieben. In einer solchen literarischen Kultur findet das Wichtige, das gedacht wird, mit einiger Wahrscheinlichkeit den Weg aufs Pergament. Falls es also einen Vorstellungskern 'Gewissen' gegeben hat, muß man danach im Geschriebenen suchen, und man darf nur diejenigen Invarianten suchen, die der gesamten europäischen Gewissenstradition gemeinam sind. Um nun einen Begriff vom Gewissen fassen zu können - gleich unter welchem Namen -, mußte zuvor folgendes gedacht werden: Eine literarische Figur (als Modell des einzelnen Menschen) mußte 'ich' sagen können und damit mehr meinen als die empirische Einheit ihrer selbst, sie mußte über dieses Ich reflektieren können, die seelische Einheit ihres Selbst in der grammatischen Person mitdenken. Und sie mußte dahin geführt werden, sich selbst ihre Taten anzurechnen und sich als den Täter aller eigenen Taten zu definieren. Beides ist für eine Vorstellung 'Gewissen' unentbehrlich. Die empirische Einheit 'ich' gibt es immer nur für den Augenblick. Das moralische Gefühl, recht oder falsch gehandelt zu haben, muß mit der Unterstellung arbeiten, daß dieses Ich auch soeben war und mutmaßlich in der nächsten Stunde noch sein wird, und zwar als dasselbe. Dann kann das Ich sich selbst erforschen, sich fragen: Wie bin ich?, sich also reflexiv zu sich selbst verhalten. Und erst wenn es sich seine Taten anrechnet, kann es sie verantworten. Doch daß ein Text ein selbstreflexives Ich vorstellt, reicht für die Unterstellung eines literarischen Gewissensmodells ebensowenig aus wie der Befund, daß eine literarische Figur sich ihre Taten selbst anrechnet. Beide Voraussetzungen sind nötig, um 'Gewissen' denken und ins Bild setzen zu können, aber sie sind noch nicht die Gewissensvorstellung selbst. Gewissen kann erst eine innere Instanz genannt werden, vor der der einzelne seine Taten rechtfertigt oder verurteilt. So sieht es die gesamte Tradition des Begriffs vor der und nach der hier in Rede stehenden Zeit. Das Urteil über sich und die eigene Tat setzt einen Maßstab voraus, an dem gemessen wird, und bildet sich durch Vergleich mit diesem Maßstab. Wenn es die zukünftige Tat betrifft, mündet es in die bewußte Wahl des Besseren zuungunsten des weniger Guten, das verworfen werden muß.
Die Sache ohne das Wort
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Nach diesen Operationen des Messens, Vergleichens und Wählens läßt sich in literarischen Werken sinnvoll forschen. Nach aller Erwartung wird man mehr Stellen finden, als vom Gewissen im nhd. oder auch nur im überzeitlichen Sinn reden, aber jene müßten darunter sein. Dieter Kartschoke hat 1988 in einem längeren Aufsatz mit dem Titel 'Der epische Held auf dem Weg zu seinem Gewissen' in der epischen Literatur um 1200 nach Erzählstrukturen gesucht, die ähnliche Probleme abbilden, wie sie die gelehrte Scholastik für conscientia und synderesis erörtert.66 Er hat dabei auch auf Konstellationen im Minnesang Bezug genommen. Das Vorverständnis für seine Suche formuliert er so: "In dem Augenblick, da der potentiell scheiternde und okkasionell tatsächlich fehlgehende ritterliche Held zum Bewußtsein seines eigenen Handelns geführt wird, ist die Unmittelbarkeit und Selbstverständlichkeit seines Handelns gebrochen; er bekommt ein Gewissen."67 Damit werden zwei Kriterien angegeben, von denen das zweite auf dem ersten aufbaut: Der ideale Ritter kann scheitern, und er hat ein Bewußtsein davon. Das Scheitern läßt Kartschoke so unbestimmt; er meint das Ankommen im Ungewollten, das die Krisensituationen des von Chr6tien erfundenen Epentyps kennzeichnet.68 Folglich beginnt er seine Geschichte epischer Gewissensentwicklung auch mit Konstellationen, in denen ein Held sich durch Liebe in ungewollter Handlungsbindung befindet und dadurch unter "Reflexionszwang"69 gerät. Hier wird die Parallele zum Minnesang - "dieser Reflexionskunst par excellence"70 - gezogen: erzwungenes, reflexives Denken und Handlungsabstinenz in der Epik wie im Minnesang, sobald der Held oder das Sänger-Ich durch das Erlebnis der Liebe daran gehindert wird, sich in erprobter, praktikabler Weise zu verhalten.71 Kartschoke prüft weiter Entscheidungssituationen von epischen Helden und kommt zu dem Schluß, daß zwar nicht der Begriff, wohl aber die Sache Gewissen mehrfach gestaltet sei. Das Gewissen des epischen Helden sei eine Entscheidungsinstanz mit rationaler Bewandtnis.72
66 61
Vgl. KARTSCHOKE, Held, S. 158f. KARTSCHOKE, Held, S. 162.
68
Vgl. KARTSCHOKE, Held, S. 162.
69
KARTSCHOKE, Held, S. 165. KARTSCHOKE, Held, S. 165.
70
71 72
Vgl. KARTSCHOKE, Held, S. 165-166. KARTSCHOKE, Held, S. 188. Auf die ebenda angesprochene Diskussion um Schuld und Scham werde ich mich im folgenden nicht einlassen, weil ich sonst für die gesamte Untersuchung Ehr- und Gewissensbegriff parallel führen müßte.
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Voraussetzungen fur die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
Kartschokes Darlegungen werden hier so breit referiert, weil ich alle seine Grundansichten teile und in allen Einzelheiten anderer Meinung bin. Ein solches Verhältnis läßt sich allein in Anmerkungen kaum ohne Unredlichkeit darstellen. Im Versuch, anzuknüpfen und weiterzufragen, prüfe ich die literaturgeschichtlichen Schritte, die mir als Vorbedingungen für ein literarisches Modell 'Gewissen' systematisch erforderlich erscheinen. Dabei frage ich nach der inneren Richterinstanz, die man 'Gewissen' nennen könnte, und ich ziehe immer wieder Texte heran, die auch Kartschoke interpretiert hat.
3.1.
Der erste Baustein zur Gewissensvorstellung: Ein selbstreflexives literarisches Ich
Die literarische Konstruktion eines ausstellungswürdigen Ich, eines Ich, das im Wortsinne der Rede wert ist, ist im wesentlichen eine Leistung der lyrischen Gattungen, die sich der höfischen Liebe widmen. Rainer Warning hat von der Vortragssituation aus darauf hingewiesen, daß ein Sänger, dessen Selbstverhältnis die Anwesenden als das eines empirischen Ichs unterstellen müssen, die Hörer, sobald sein fiktives Ich sich der grammatischen Kategorien der Selbstreferenz bedient, in den Stand setzt, mit Identifizierungsmustern zu spielen, und zwar auf zwei Ebenen: Dieses lyrische Ich, das als grammatisches Subjekt auftritt, könnte ein wirkliches Ich, ein wirkliches Subjekt einer besungenen Liebe sein; und es ist zumindest nicht ausgeschlossen, daß der Sänger selbstreferentiell spricht.73 Das Ich-Sagen74 ist
73
V g l . WARNING, Ich, S. 1 3 0 f .
74
Der deutsche Minnesang macht, aus sprachlichen Notwendigkeiten, diese Eigenschaft besonders augenfällig. 152 der 939 Strophen in Hugo MOSERS und Helmut TERVOORENS Ausgabe der Sammlung 'Des Minnesangs Frühling' beginnen mit ich. Das ist beinahe jede sechste. MF bucht außerdem 29 Strophenanfänge mit mir, 25 mit mich und 33 mit min oder flektierten Formen davon. Es wäre zu erwägen, ob dieser hochfrequente Gebrauch des Pronomens eine bleibende Eigenschaft deutscher Liebeslyrik ist oder ob er eher einen Einübungs- und Lernvorgang anzeigt. Dazu auch DINZELBACHER, Ego non legi, S. 735. Es hatte griechische und lateinische Liebeslyrik gegeben - solche in germanischen Dialekten aber nicht. Deshalb wäre folgende Konstellation möglich: Nachdem es auch für die volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters einmal feststeht, daß die Befindlichkeiten eines liebenden Ich literaturwürdig sind, nachdem man um primäre Ausdrucksmöglichkeiten dafür nicht mehr ringen muß, weitet sich das Spektrum dessen, worin der Leser oder Hörer Spiegelungen einer solchen Konstellation sehen kann, und das naive 'Ich, ich, ich', das im Deutschen der einfachen grammatischen Notwendigkeit folgt, geht literarisch wieder zurück. Es ist schwer, einen einleuchtenden Vergleichsmaßstab zu finden; ich habe die Strophen und zusammengehörigen Versfolgen von Else Lasker-Schüler, die eine der großen Ich-
Die Sache ohne das Wort
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eine Einladung zur Identifikation; die spielerische Verfuhrung des Publikums besteht dabei darin, daß der zweite Schritt der m ö g l i c h e n Identifizierung für die Hörer nicht v o n vornherein unmöglich scheint; w e n n sie ihn aber auch nur als Möglichkeit anvisieren, müssen sie, zumindest für die Dauer dieser Überlegung, unterstellen, daß es die besungene Konstellation nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Wirklichkeit gibt. 7 5 Inhaltlich gesprochen, wird damit die Möglichkeit eingeräumt, daß Ichsagen in literarischer Rede über eigene Gefühle m ö g l i c h und sinnvoll ist, und zwar trotz und dank der Differenzerfahrung v o n Liebe: 7 6 Ich ist mehr als das Nicht-Sie und das Nicht-Alle und etwas qualitativ anderes als die Projektionen eines einzelnen oder kollektiven Dritten. Dieser Fixpunkt wird g e g e n die Bedrohung durch Dissoziation und g e g e n die Subsumtion unter T y p e n behauptet: Auch der Vers Min herze und min lip diu wellent scheiden (Friedrich von Hausen, MF 49,9)
75
76
Sagerinnen der modernen Lyrik ist und die zudem nicht nur, aber überwiegend über Liebe schreibt, ausgezählt und komme nach der Ausgabe von Friedhelm Kemp (Gesammelte Werke Bd. 1, München 1959) für ein Korpus von 1318 Strophen oder strophenähnlichen Verseinheiten auf 140 Anfänge mit Ich, das ist etwa jede zehnte Strophe. Das gesamte lyrische Werk Goethes nach der Hamburger Ausgabe enthält einschließlich des West-östlichen Diwan 48 solcher IchStrophen; hier ist der Vergleich jedoch durch die Varianz der lyrischen Gattungen weniger aussagekräftig. Grundsätzlich zur Semantik der ersten Person: HOLENSTEIN, Grammatik und SCHERNER, Kategorie. Die literarische Bedeutung untersucht (allerdings ohne Blick auf das Mittelalter) CHARPA, Ich. Vgl. WARNING, Ich, S. 130: "Was aber das Auseinandertreten von Autor und lyrischem Ich freisetzt, ist das Spiel mit der Möglichkeit einer Identität von besungener und realer Erfahrung, und über dieses Spiel begründet die Autorauctorilas den Anspruch der Fiktion, gelebte Realität zu werden." Hier folge ich HAUG, Entdeckung, S. 74-77. Daß mit der Entdeckung der Differenzerfahrung und ihrer literarischen Ausformung allerdings gleichzeitig eine Art von Bankerott des neuplatonischen Teilhabe- und Aufstiegsmodells im Denken von der Welt und den Menschen einhergeht, wie Haug in diesem Aufsatz nahelegt, leuchtet mir weniger ein; ich denke vielmehr an ein Ineinander der leitenden Ideen: Die Teilhabe (an der Schöpfung, am Menschengeist mit seinem Bezug zum göttlichen Intellekt) ist der gesicherte Ausgangspunkt, von dem aus Vereinzelung durch Differenz (in der Liebe, im singulären Denken) nicht als Bedrohung erfahren, sondern als Gewinn aufgefaßt werden kann. So ist die Literaturgeschichte nicht nur in der lateinischen Scholastik verlaufen - zum Beispiel bei der späten, erst Ende des 13. Jahrhunderts erreichten Loslösung des Liber de causis vom Namen des Aristoteles -, sondern auch in der deutschen Mystik: Mechthild von Magdeburg fußt auf dem sittlichen Zutrauen zur Liebe und zur Differenzerfahrung durch Liebe und unterstellt dennoch einen ascensus.
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Voraussetzungen für die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
rechnet mit einem bündelnden Ich. Um Selbstentzweiung und Selbstbehauptung geht es immer wieder: Min herze, ir schoene und diu minne habent gesworn zuo ein ander, des ich waene, üf miner vröuden tot. zyviu habent diu driu mich einen dar zuo erkorn? (Heinrich von Morungen, MF 134,6-8)
Die Liebe ist wie das Herz im Ich und außerhalb seiner, das Ich muß beide bemeistern, um sich als einheitlich und seiner selbst mächtig empfinden zu können: Minne, lä mich vri! du soll mich eine wile sunder liebe län du hast mir gar den sin benomen. (Albrecht von Johansdorf MF 94,25-27)
Solches Rechten mit der Liebe und mit dem eigenen Herzen reflektiert eine Situation, in der das Ich Objekt fremder Handlungsträger, aber Subjekt der Reflexion darüber und in dieser Reflexion einheitlich ist: Mich hät das herze und ein unwiser rät ze verre verleitet an tumplichen muot, da doch min dienst vil kleine vervät. (Bernger von Horheim MF 114,3-5).
Der Sinn des Ich-Sagens, der Ich-Fiktion, besteht im bewußten Festhalten an personaler Integrität auf einer neuen, nunmehr reflektierten Stufe, also gegen das völlige Aufgehen in gemeinschaftlichen Verhaltens- und Gefühlsmustern und gegen die umgekehrte Gefahr, durch die Macht eines Affekts gänzlich aus solchen Mustern getragen und damit für menschliche Gemeinschaft untauglich zu werden. Das reflexive Verhältnis des Ich zu sich selbst ist der Bereich, in dem das Ich ganz bei sich, ganz einheitlich ist, während es auf der Ebene dessen, worüber es reflektiert, einem zwar Eigenen, aber als fremd Empfundenen zu unterliegen droht.
3.2.
Der zweite Baustein zu einer Vorstellung vom Gewissen: Das Ich als Subjekt seiner Gefühle und Taten
In der mittelalterlichen Minnelyrik ist Reflexion die Fähigkeit des literarischen Ich, die seine Einheit verbürgt. In der Reflexion geht es immer um die Bemeisterung des Affekts; das Ich ist außerhalb der Reflexion nicht gewiß.
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Die Liebe ist ein Eigenes, denn es ist das sprechende Ich, das liebt, aber sie wird auch als Fremdes, Bedrohliches erlebt. Wenn die Reflexion aussetzt, droht das Ich wieder zu dissoziieren. Das heißt: Im eigentlichen Sinn ist das literarische Ich nur der Rede wert, sofern es ein Bewußtsein davon entwickelt, daß es selbst ja derjenigen Macht zugrundeliegt, der es sich unterworfen sieht. Indem die Dichtung über höfische Liebe Regeln und Formen findet, mit diesem Unterliegen umzugehen, führt sie ihr jeweiliges lyrisches Ich zur Besinnung darauf, daß ein Affekt immer einen Träger braucht, daß er etwas erfordert (nämlich das Ich), das ihm zugrundeliegt. Ohne ein Zugrundeliegendes kein Affekt, also auch kein Unterworfensein unter den Affekt. Das lyrische Ich erfährt diese in sich widersprüchliche Dopplung von Zugrundeliegen und Unterliegen an sich selbst. Der Topos des Minnetodes ist ein Gedankenspiel damit, wie das Unterworfensein abgewehrt werden kann: weil das Ich nämlich aufhört, der Liebe unterworfen zu sein, sobald es aufhört, ihr zugrundezuliegen.77 Ich tuon sam der swan, der singet, swenne er (Heinrich von Morungen MF 139,15)
stirbet.
Die Erwägung, daß das Unglück selbstgemacht sei, hebt die Entfremdung zwischen dem der Liebe unterworfenen Ich und dem zugrundeliegenden Ich auf: Ich hän mir selber gemachet die
swaere,
daz ich der ger, diu sich mir wil entsagen. (Rudolf von Fenis MF 83,11-12)
Diese Konstellation eines Ich, das nur literarisches Ich wird, indem es sich reflektierend seiner Affekte bemeistert, hat Klaus Grubmüller vor Jahren als das 'Ich als Rolle' beschrieben.78 Es ist aber gleichzeitig eine Konstellation, die sehr nahe an dem mittelalterlichen Verständnis von 'Subjekt' liegt, und das scheint mir wichtig, weil sich in diesem Sinne das Subjekt-Werden auch im Minnesang findet und nicht nur in der höfischen Epik, in der ein Held lernt, sich als Subjekt seiner Taten zu begreifen (worauf noch einzugehen sein wird). Der mittelalterliche Subjektbegriff bildet nämlich in seinem Oszillieren zwischen Zugrundeliegen und Unterliegen den gedanklichen Rahmen ab, in dem aus dem Ich ein Subjekt wird, das sich seine Gefühle und Taten anrech-
77
So verstehe ich das bei weitem vorsichtiger argumentierende Kapitel 'Die Konfiguration des Liebestodes' bei EKELMANN, Denkformen, S. 189-247.
78
V g l . GRUBMÜLLER, Ich, S. 3 9 2 f .
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Voraussetzungen fur die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
net, er bietet eine einheitliche Betrachtungsweise für Minnesang und höfische Epik an. Deshalb füge ich an dieser Stelle einen Exkurs über subiectum in der Hochscholastik ein, zumal die Vorstellung von 'Subjekt' im Mittelalter von der nachkritischen modernen wesentlich abweicht und dieses Nebeneinander von Begriffsinhalten die Gefahr von Mißverständnissen mit sich bringt. D e n Dichtern des Minnesangs gegenüber, auch denen der höfischen Epik gegenüber sind die begrifflichen Klärungen der scholastischen Autoren schon wissenschaftliche Leistungen der Nachgeborenen. Aber es liegen keine hundert Jahre zwischen den ersten Dichtungen und den klassischen wissenschaftlichen Texten zum Thema, der kulturelle Zusammenhang ist ohne Brüche. 79
Exkurs: subiectum in der mittelalterlichen Ethik Der mittelalterliche Subjektbegriff (subiectum) stammt aus der an Aristoteles orientierten Metaphysik, und zwar aus der Kategorienlehre, die durch die Übersetzung des Boethius und seinen Kommentar, mehr noch durch die Isagoge des Porphyrios bekannt war und daher zur ars vetus gehörte.80 Er ist durch diese Herkunft immer mit dem Substanzbegriff verbunden geblieben und mit ihm gemeinsam korrelativ übertragen worden: Substanz (ουσία) im eigentlichen Sinn
79
GRUBMÜLLER, Ich, S. 387-397 hat ein tiefes Mißtrauen gegen den mittelalterlichen Begriff des Subjekts, wahrscheinlich deshalb, weil er von der Subjektivität her fragt, die eine abgeleitete neuzeitliche Kategorie ist und schon den Begriff des tätigen, selbstmächtigen Subjekts unterstellt (vgl. ebd. S. 387f. und 397). Ergeht davon aus, daß der Subjektbegriff dem Mittelalter beinahe unbekannt sei und "vor allem in sprachtheoretisch-logischen Zusammenhängen für dasjenige, was der Erkenntnis unterworfen wird", (ebd.), Verwendung finde. Tatsächlich läßt sich das Wort subiectum, wenn man sprachlogische Zusammenhänge unterstellt, am ehesten mit 'Subjekt' wiedergeben, in mittelalterlichen Aussagen über den Menschen geht das in aller Regel nicht oder nur gewaltsam. Zwei Beispiele aus meiner begrenzten Erfahrung mit dem Übersetzen scholastischer Texte über das Gewissen: Bonaventura In II Sent. dist. 39 stellt sich im allen Erörterungen vorangehenden Abschnitt Tractatio quaestionum u.a. die Frage: Primo quaeritur de ipsa conscientia in comparatione ad subiectum, utrum scilicet sit ex parte cognitivae, vel ex parte affectivae. (Opera Quaracchi II S. 898). Thomas von Aquin argumentiert De veritate q. 16 a. 1 ad 2 gegen die Ansicht, die synderesis sei eine Seelenpotenz, sogar in begriffslogischer Absicht, und trotzdem wäre eine Übersetzung mit 'Subjekt' sehr problematisch: Ad secundum dicendum quod quando ex accidente supervenit subiecto aliquid speciale praeter id quod competit sibi ex sua natura, tunc nihil prohibet accidens dividi contra subiectum, vel subiectum cum accidente contra subiectum absolute sumptum [...].
80
V g l . GRABMANN, M e t h o d e I, S . 1 7 - 2 0 , MARKOWSKI, S . 7 5 .
Die Sache ohne das Wort
31
oder erste Substanz ist nach der Kategorienschrift, was weder von einem Zugrundeliegenden {ΰτοκάμίνον = subiectum) ausgesagt werden kann noch in einem Zugrundeliegenden ist, also das einzelne selbständig Seiende, weil es selbst Zugrundeliegendes ist. Die erste Substanz, zum Beispiel der einzelne Mensch, ist also Substanz und Subjekt gleichermaßen. Nun nimmt Aristoteles weiter zweite Substanzen an, das sind die Gattungs- und Artbegriffe, und erwägt weiter, ob es auch Substanzen gäbe, die nicht aus Stoff und Form zusammengesetzt, sondern immateriell sind. Hier hat die ontologische Interpretation von Theologie ein reiches Anknüpfungsfeld gefunden. Um nun die ontologischen Unterschiede auch terminologisch festzuhalten, verwenden scholastische Autoren, wenn es um den Menschen geht, vorzugsweise nicht das Begriffspaar Substanz - Akzidens, sondern Subjekt - Akzidens.81 Der Mensch ist eine zusammengesetzte Substanz aus Stoff und Form, die Form ist die Seele. Solche Substanzen sind veränderlich. 82 Das seinshafte Zugrundeliegen, das den Begriff des ύτοκΐίμβνον und seiner lateinischen Entsprechung subiectum ausmacht, ist deshalb gleichzeitig ein Unterliegen
81
82
Vgl. Thomas, De veritate, q. 16, a. 1, ad 2 (Text oben Anm. 79); q. 17, a. 1, ad 2. Für weitere Belege und den Vergleich der Wortfelder Substanz, Subjekt und Akzidens vgl. DEFERRARI, Dictionary, S. 16-18 {accidens), S. 1000-1002 (subiectum), S. 1004-1008 (substantia). Vollständigkeit bietet der Index Thomisticus von Robert Busa. Vorwiegend substantia, kaum aber subiectum auf Gott zu beziehen und umgekehrt eher subiectum als substantia auf den Menschen hat Abälard begonnen. Theologia Summi boni Buch 2, Kap. 1: Bene autem spiritualis doctor [Augustinus] divinam substantiam simplicem esse astruit, hoc est ab omni accidente, ab omni formae participatione immunem, ut nihil scilicet in deo sit, quod deus non sit. [...] Omne quippe accidens teste Porphyrio tarn adesse quam abesse potest subiecto, in quo est, praeter corruptionem ipsius, etiam si numquam actualiter contingat ipsum α subiecto recedere. [...] His itaque rationibus patet divinam substantiam omnino individuam, omnino informem perseverare [...] Creaturae autem quantumlibet bonae adiunctione egent alterius; ex qua quidem indigentia imperfectionem suam profitentur. Virtutes quippe, quae animam bonam faciunt, subiecto indigent, quo sustententur [...] Abälard, Theologia Summi boni ed. NIGGLI, S. 90,87ff., S. 92,114ff.. S. 94,129f., S. 94,129ff. Die Herausgeberin übersetzt die Stelle folgendermaßen, wobei zu beachten ist, daß sie das letzte subiecto als Substrat wiedergibt: "Glänzend legte der geistvolle Lehrer dar, daß die göttliche Substanz einfach ist, d.h. sowohl frei von jedem Akzidens als von jeglicher Teilhabe an einer Form, so daß es nichts in Gott gibt, das nicht Gott ist. [...] Denn jedes Akzidens kann nach Porphyr dem Subjekt, in dem es ist, ebenso einwohnen wie ihm fehlen (auch wenn in Wirklichkeit nie zuträfe, daß es aus dem Subjekt verschwindet), und zwar ohne Zerstörung des letzteren. [...] Logisch erhellt aus diesen Überlegungen: Die göttliche Substanz überdauert als gänzlich unteilbar und formlos. [...] Die Geschöpfe aber, so gut sie sein mögen, bedürfen der Verbindung mit einem anderen. Mit dieser Bedürftigkeit bekennen sie ihre Unvollkommenheit. Die Tugenden, die eine Seele gut machen, bedürfen eines Substrats [subiecto indigent], um durch es aufrecht erhalten zu werden." Ebd., S. 91, S. 93-95, S. 95. V g l . VOLLRATH, S u b s t a n z , S. 9 4 - 9 5 ; DE VRIES, S. 9 0 - 9 1 .
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Voraussetzungen für die Ausbildung eines Gewissensbegriffs unter die wesensmäßige Bewegung, die von den Akzidentien mitbestimmt wird. Ein menschliches subiectum ist der seiende Träger seiner akzidentiellen Fähigkeiten, Haltungen und Handlungen. Wenn nun die Form grundsätzlich in höherem Grade Anteil am wesentlichen Sein hat als der Stoff®3 und wenn die Seele die Form des Körpers ist, verändert eine Bewegung der Seele den Menschen in seinem wesentlichen Sein. Die Seele aber unterliegt den Rückwirkungen der Handlungen und Haltungen des Menschen. (Hier knüpfen die philosophischen Theorien zu mystischen Lehren mit der Ergänzung an, daß auch die menschliche Seele Unveränderliches, reines Sein, zu eigen haben könne). Die theologische Interpretation dazu ist der individuelle Werdegang der einzelnen Seele vor dem Tode und ihr Weiterleben nach dem Tode als abgetrennte Substanz. Subiectum heißen in der mittelalterlichen Ethik vorzüglich die Teile, Kräfte oder Fähigkeiten der Seele, in denen der Wesensgrund von moralisch wertenden oder bewertbaren Fähigkeiten, Haltungen oder Eigenschaften gesucht wird.84 Ein subiectum ist immer Subjekt von etwas. Sobald es um Fehlentscheidung, Laster oder Sünde geht, tritt die Konnotation 'Unterliegen' deutlich hervor (weil der Seinsgrund eines Makels in der geschöpflichen Welt nicht in reinem Sinne gut sein kann und weil die Seele nicht unveränderlich ist).85 Noch Luther übersetzt in der Flugschrift 'Von der Freiheit eines Christenmenschen' (1520) unterthan mit subiectus.86 Bei Thomas liefert die Denk- und Urteilsfähigkeit der Seele das entscheidende Argument gegen das Unterliegen unter die Sünde, er lehnt beispielsweise die conscientia als subiectum des Lasters explizit ab, während sie implizit als subiectum des sittlichen Urteils erscheint.87 Das Zugrundeliegen ist
83 84
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87
Met. Ζ 3, 1029a 29f. Vgl. DE VRIES, S. 89. Thomas zum Beispiel bestimmt De ver. q. 16 a. 1 die synderesis als Habitus und will nun ad 5 erklären, inwiefern in ihr die allgemeinen Grundsätze des Rechts enthalten sind. Dazu argumentiert er: Ad quintum dicendum quod scribi aliquid in alio intelligitur dupliciter: uno modo sicut in subiecto et sic in anima non potest aliquid scribi nisi quantum ad potentiam, vel sicut in continente et sie nihil prohibet etiam habitui aliquid inscribi [...]. Ebd. ad 13 ordnet er den Habitus synderesis den Formen des Intellekts zu: Non autemponitur quod intellectus agens sit subiectum habituum sed magis intellectus possibilis; unde et ipsa potentia quae habitui naturali subicitur magis videtur esse potentia passiva vel activa. So trägt Thomas in De veritate q. 17 a. 1 das zweite Argument für die Auffassung, die conscientia sei ein Habitus (was Thomas bestreitet) so vor: Praeterea, nihil est subiectum vitii nisi potentia animae; sed conscientia est subiectum inquinationis utpatet Tit. I: "Inquinata est eorum mens et conscientia". L u t h e r S t A II, S . 2 6 4 Z . 1 7 f , W A V I I , S . 4 9 , Z . 2 3 u . 2 5 . V g l . JUNGHANS,
Untertan, S. 132. De veritate q. 17 a. 1 ad 2, ad 3: Ad secundum dicendum quod inquinatio non dicitur esse in conscientia sicut in subiecto sed sicut scitum in cognitione [...] Ad tertium [...] Est igitur eadem conscientia quae prius erat immunda etpostmodum munda; non quidem ita quod conscientia sit subiectum munditiae et immunditiae, sed quia per conscientiam examinantem utrumque cognoscitur, non quod sit idem actus numero quo prius sciebat aliquis se esse immundum et post seit se esse
33
Die Sache ohne das Wort
in seinem Ausgangszustand zugleich Unterliegen. Die Fähigkeit zu denken und zu entscheiden hebt das menschliche Zugrundeliegende jedoch aus der Unterworfenheit heraus, denn der Mensch liegt auch seinen Denkakten und den überlegten Handlungen zugrunde, die sich gegen dasjenige Übel richten können, dem der Mensch sonst im Sinne des Unterliegens zugrundeläge. Nach meinem Verständnis ist die Tendenz der Wortverwendung: Subiectum heißt, nachdem das Wort zur Wesensbestimmung moralisch relevanter Haltungen, Fähigkeiten und Handlungen herangezogen worden war, auch ein lebender Mensch bezüglich derselben Handlungen, Fähigkeiten und Haltungen; ein Mensch, der sich noch verändern kann, weil er nämlich sein Fühlen, Denken und Tun trägt, aber deren Rückwirkungen auch wiederum unterliegt, indem sich seine Seele ändert. 88 Weil diese Änderung für die mittelalterliche Theologie nicht ohne Ruder und Steuer geschehen, sondern von der Selbstbesinnung der Seele auf deren Heil beeinflußt werden soll, vermag die spätere Philosophie hier anzuknüpfen und die Richtung der Frage umzukehren, nämlich nicht mehr: Was ist das Subjekt dieser Haltung oder Tat?, sondern: Welche Gedanken, Haltungen und Taten sind demselben menschlichen Subjekt zuzuschreiben, welche sind ihm möglich? Im 13. Jahrhundert aber bewegt sich subiectum erst auf den selbstbewußten Menschen zu, und es gibt in diesem und im nächsten Jahrhundert eine Fülle von anderen, konkurrierenden theoretischen Ansätzen, die Selbstgewißheit thematisieren.89 Auf welche Weise kann ein Mensch seinen Affekten und seinen Handlungen zugrundeliegen, ohne ihnen unterworfen zu sein? In welchem Maße kann er durch Reflexion zu einem Bewußtsein seines Zugrundeliegens kommen? Fragt er sich in diesem Bewußtsein, ob er das, was er trägt, auch tragen will? Diese Probleme sehe ich in der Literatur schon um 1200 aufgeworfen, ehe sich die Philosophie ihnen in breiterem Maße widmet. Wenn es überhaupt ein Verhältnis des Gebens und Nehmens gibt - was mir nicht völlig gewiß ist, weil man auch mit einem mündlich vermittelten gemeinsamen Problembewußtsein einer sozialen Schicht rechnen könnte, die sich in verschiedenen Kultursphären verschieden äußert wenn es ein Geben und Nehmen also gegeben haben sollte, dann ist die Kunst schneller im Finden der Frage, wenn auch die Wissenschaft beharrlicher an der Antwort arbeiten wird.
purum, sed quia ex eisdern principiis utrumque cognoscitur
[...].
88
V g l . D E VRIES, S. 91.
89
Daß die Intellekttheorie der dominikanischen Philosophen des 14. Jahrhunderts in ihrer Wirkungsgeschichte mit Subjekt- und Subjektivitätsphilosophie zusammengehen kann, obgleich subiectum für sie kein tragender Begriff ist, liegt daran, daß sie die Themen der Reflexivität und Selbstreferenz handlungsbedingenden Denkens vom Kategoriallogos und Wesenslogos in Met. Ζ 1029b und De anima III 6 430b her aufgreift, vgl. dazu MOJSISCH, Eckhart, S. 120.
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Voraussetzungen fur die Ausbildung eines Gewissensbegriffs
Das lyrische Ich im Minnesang verhält sich literarisch zur gestalteten, der Fiktion nach erfahrenen Liebe so, daß die mittelalterliche Ethik - wenn sie sich denn für den Sachverhalt interessierte - es das subiectum dieser Liebe nennen könnte. Ganz so, wie dort subiectum mit genitivischem Attribut verwendet wird, bezieht sich die behauptete Selbsterfahrung des literarischen Ich als subiectum nicht auf eine Totalität von Bezügen und Möglichkeiten, sondern auf einen abgegrenzten Sachverhalt. Das lyrische Ich stellt dieses Subjektsein an sich selbst als Grenzerfahrung, als lebenssteigernde, aber auch lebensbedrohliche Zumutung dar, es tut, was auch ein philosophisch gedachtes menschliches subiectum der gleichen Epoche notwendig tun muß: Es erlangt ein Bewußtsein von seiner schwierigen Doppellage, nämlich der Unentrinnbarkeit des Unterliegens, wenn die Liebe einmal fest behauptet wird, und einem Zugrundeliegen, dessen potentielle Freiwilligkeit schon in den Blick genommen wird, sobald im Minnetod eine Aufhebung der notwendig scheinenden Beziehung überhaupt gedacht (und beredet) werden kann. Wie die Lyrik das Ich zum Subjekt seiner Affekte werden läßt, so übt die höfische Epik ihre Helden darin ein, sich als Subjekte ihrer Taten zu verstehen. Der Protagonist lernt, sich über seine selbstgewählten Taten zu definieren. Den Zwang, sich eine Tat anzurechnen, übt eine Anklage von außen aus. Nur ausnahmsweise geht die persönliche Einsicht in die Verfehlung der Anklage voraus wie in Hartmanns 'Iwein': nü kom min her Iwein in einen seneden gedanc: er däht, daz twelen wcer ze lanc, daz er von sinem wibe tele: ir gebot unde ir bete diu heter übergangen, (vv. 3082-87)
Erec vv. 3013-52 dagegen wird von den Klagen seiner Frau ebenso überrascht wie Wolframs Parzival von den üblen Wünschen, die seinen Abschied von der Gralsburg vv. 244,26-30 begleiten und die ihm erst erklärt werden müssen (vv. 254,20-255,20). Im 'Iwein' muß die innere Anklage von außen wiederholt werden, um die Krise auszulösen, im 'Parzival' reicht die innerfamiliäre Anklage (im Dialog zwischen Sigune und Parzival) noch nicht hin, sie muß durch die öffentliche (durch Cundrie am Artushof, vv. 314,23-318,4) ergänzt werden. Die verlorene Ehre durch Taten wiederzugewinnen stellt die Helden vor die Aufgabe, ein inneres Fahrtenbuch zu führen. Während sie zuvor, wie es auch den Nebenfiguren erlaubt ist, schlicht typische Taten vollbringen und es dabei bewenden lassen durften (denn die Öffentlichkeit übernahm deren Summierung), müssen sie jetzt ihre Taten selbst addieren und aufeinander beziehen. Erec lernt dabei, daß seine eigene Tatenbilanz
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nicht dadurch ausgeglichen werden kann, daß er die Schuld der Entehrung auf Enite abwälzt und sie sich bewähren läßt - seine Ehre muß seine Leistung sein, die Umkehrtat gibt es nur im höchsteigenen Bezugssystem. Enite ist schon bis an die Grenze des Menschenmöglichen geprüft worden, als Erec gegen einen Mann kämpft, der ihm gerade zu Hilfe kommen will - und dem Guivreiz unterliegt. Erst diese Übersetzung seines vorherigen Fehlers gegen Enite (die ihm ständig zu Hilfe kommen will und dafür angegriffen wird) in eine Sprache, die er versteht, in die Sprache des Kampfes, zeigt ihm, daß sein Weg nicht etwa zu Ende ist, nur weil Enite schlechterdings auf keine weitere Probe hätte gestellt werden können. Wenn Enite zu lang Intolerables toleriert hatte und das ihre Schuld war, dann hat sie inzwischen bis zur möglichen Selbstauslöschung Neinsagen üben müssen. Es darf nicht nur um Enites Fehler gehen, auch wenn Enite als Teil von Erec begriffen werden kann;90 sondern Erec soll und muß es in erster Linie um seinen eigenen Fehler zu tun sein. Das Bedürfnis nach der spiegelbildlichen Tat, die seine eigene Tatenbilanz um eine Handlung verändert, die mit seiner eigenen Verfehlung zu tun hat, entsteht wesentlich erst hier. Erst mit Guivreiz gelangt er auf dem baz gebuwen Weg (v. 7817), dem biblischen Weg der Sünde, nicht zu Artus, zu dem der rechte Weg geführt hätte, sondern zu Mabonagrin. Erst jetzt ist Erec, ihm selbst faßlich, auf dem Weg, den seine eigene Verfehlung ihm weist, und er kann die aventiure bestehen, die auf ihn gewartet hat. Hartmanns 'Iwein' gibt der Vita seiner Umkehrtaten sogar einen eigenen Namen - er nennt ihren Täter den Ritter mit dem Löwen. Dieser Name ist eigentlich keiner, er enthält keine implizite Herkunftsbezeichnung (während Erec fil de roi Lac ist, was er entweder selbst angibt oder seinem Gegenüber zu wissen zutraut, und während Iwein selbst bei seiner ersten Erwerbung Laudines von deren Kenntnis seiner Herkunft profitiert, vv. 2109-2114). Sich Löwenritter zu nennen bedeutet eine Selbstbezeichnung über ein erworbenes Attribut. Die Wahl zwischen dem Löwen und dem aus der Sündenallegorie vertrauten Wurm vv. 3835-3864 hat ein handfestes Resultat, nämlich die Begleitung des Löwen. Dieses neue Selbst Iweins ist also konsequent über die Handlungen definiert: Der Löwenritter wird ausschließlich durch Taten gut, vor sich selbst und vor anderen. Er kann nicht von einem Vorschuß an Vortrefflichkeit zehren, den ihm Stand, Herkunft und Ruf gewähren: vor sich selbst nicht, weil er erfahren hat, daß sie nicht ausreichen, vor anderen nicht,
90
Dazu unten im Exkurs über Enites Entscheidungsmonolog.
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weil jene davon nicht wissen können oder nicht zu wissen scheinen.91 Der Löwe, der ihm seinen Entschluß zum Guten immer vor Augen hält, macht ihm jede nächste Entscheidung für das Gute und Edle leichter, denn er kommt als leibhaftige Erinnerung an eine solche Entscheidung überallhin mit, er kann sogar helfend eingreifen, wo seine Mitwirkung ausgeschlossen werden sollte ( w . 6711-6771). Also gehört er jetzt zu Iwein und kann von ihm nicht mehr getrennt werden, wie Iwein und der Hörer oder Leser dadurch erfahren, daß der gerade erst in die Erzählung getretene Löwe seinem neuen Herrn alsbald nachsterben will (vv. 3950-3956). Diesen Löwen hätte die scholastische Ethik begrifflich als habitus beschrieben: Die gute Tat macht den Täter zum Guten geneigt, die böse Tat biegt ihn zum Bösen: Die handelnde Person liegt ihren Taten zugrunde, aber sie wirken auch auf sie zurück, sie unterliegt ihrer Prägung. Diese Prägung wird das Subjekt durch einfachen Entschluß nicht los, sie fördert einen Typ von Handlungen, und insofern unterliegt das Subjekt ihr und der aus ihr entspringenden Handlung. Das entspricht der Ambivalenz von subiectum. Das Subjekt erwirbt sich Eigenschaften, indem es auf charakteristische Weise handelt, es gibt also - durch die Ausrichtung seiner Seele, den habitus, im Bild durch die ständige Begleitung des Löwen - selbst die Richtung vor, in der es eine Prägung zulassen will. Erst nachdem sich Iwein einen solchen verläßlichen Begleiter seiner Handlungen erworben hat, kann sich der Löwenritter vornehmen, Iweintaten zu tun. Die beiden Namen sind ja der Versuch, unterschiedene Subjekte des Handelns zu behaupten oder zumindest darzustellen. Der eine hat Wohltaten empfangen und Fehler gemacht, der andere erweist sich dankbar und gleicht Fehler aus. Die Iweintaten des Löwenritters sind Iweinschulden, die objektiv abzutragen sind. Solange sie ein anderer beglichen hat, stehen sie für Iwein offen. Die gute Tat ist nicht frei verfügbar, gehört nicht allen, sondern wird dem einzelnen zugeschrieben und angerechnet wie die böse. Die Verbiegung kann nur durch entgegenge-
91
Die Herrin von Narison weiß von ihrer Hofdame, daß der gefundene Mann Iwein ist (vv. 3384-86: 'vrouwe, lebt her Iwein, so lit er äne zwtvel hie, oder ichn gesach in nie.'). Beide kennen aber auch die Geschichte seines Verschwindens: nü jach des ein ieglich man wie er verloren wcere vv. 3372-73. Weder Herrin noch Hofdame reden Iwein mit seinem Namen an oder drängen ihn, sich zu erkennen zu geben. Das entspricht ihrem Interesse, ihn zum Bleiben zu bewegen (denn wenn sie ihn nicht als Iwein kennen, kann ihnen nicht vorgehalten werden, sie müßten von Laudine wissen). Insofern laden ihn die beiden ein, seine IweinIdentität und damit alle seine Iweintaten abzulegen und eine neue Folge ritterlicher Taten zu beginnen. Anders als in Iweins selbstgewähltem Umweg über den Löwenritter gäbe es aber von dieser vorgeschlagenen Neubestimmung seines Selbst aus keinen Weg zurück zu Laudine, das muß Iwein ablehnen.
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setzte Neigung ausgeglichen werden. Wer weder gut noch böse war, weil er sein Leben gerade beginnt, hat noch keine Neigung, weder eine zum Guten noch eine zum Bösen. In diesem Sinne hat es der Tor einfacher mit seiner ersten guten Tat (die ihn zum Ritter macht), als es Iwein gehabt hätte, der Löwenritter mit seiner ersten wiederum leichter als der Tor und so fort. Die Hinneigung zu einer Richtung ist bei starker Prägung kaum anders möglich als in deren Sinn, sie ist aus neutraler Stellung weniger kraftaufwendig als aus der entgegengesetzten Richtung. Das ist der Sinn des Wahnsinns: Wenn es Iwein nicht mehr gibt, dann ist er auch nicht mehr vorgeprägt. Der Tor kann sich durch ritterliches Handeln adeln und in diesem neuen, undeterminierten Zustand frei das Gute wählen, der Löwenritter kann handeln, wie Iwein gehandelt hätte, wenn er der Löwenritter wäre. Diese Diversifizierung der Handlungssubjekte trägt Iwein in sich selbst aus: Lunete nimmt ihn als Iwein in Anspruch, aber er kann ihr nur als Löwenritter wirksam helfen, weil der Löwe ihm hilft. 92 Ihr gegenüber ist er beide, sie hatte ihn selbst angeklagt, aber auch zu ihrem Schutz gesucht, sie kennt also Iwein als Subjekt der bösen wie der guten Tat und nimmt ihn in entscheidender Situation als Täter der guten Tat in Anspruch, im Vertrauen, daß er dazu in der Lage sei und daß die gute Tat das sei, was man von ihm erwarten könne. Laudine dagegen geht davon aus, daß Iwein ein verwerflicher Mensch sei, der Löwenritter ein vortrefflicher. Iwein ist ihr gegenüber und insofern auch für sich selbst beide, wobei in dieser Konstellation Iwein das Subjekt der schlechten Tat geblieben ist; anderseits hätte der Löwenritter Lunete nicht befreien können, wenn er nicht Iwein wäre, und insofern ist Iwein in seinen alten Bestimmungen auch für den Iwein-Löwenritter wieder als Handlungssubjekt in Erscheinung getreten, diesmal im positiven Sinn. Die beiden Subjekte des Gerichtskampfes für Lunete fallen zusammen, weil sie dieselbe unverwechselbare, nichtwiederholbare Handlung tun, und diese Handlung ist ritterlich. Erst in deren Vollzug steht auch für den siegenden Iwein-Löwenritter fest, daß Iwein kein korrumpiertes Handlungssubjekt ist, denn er hat den Löwenritter nicht zum Erliegen gebracht. Damit ist die Abgrenzung von sich selbst nicht mehr sittlich erforderlich. Das muß Iwein jedoch erst erproben: Bei der Begegnung mit Gawan wagt er nur Iwein zu sein. der lewe envuor nihl mit in zwein (den heter under wegen län: ern wolt in niht zem kämpfe hän) (vv. 6902-04)
92
Ähnlich Ragotzky/Weinmayer, S. 232.
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Die animalisch-lebendige Erinnerung an die Wahl des Edlen93 ist nicht mehr nötig, der Löwenritter ohne Löwen besteht als Iwein, der trotz der einen Verfehlung sonst gewohnheitsmäßig ritterlich gehandelt hat, so daß nun Iwein auch die Taten des Löwenritters getan hat (aber zuvor schon viele andere), anstatt daß der Löwenritter versäumte oder pflichtgemäße Iweintaten tunmuß (aber nichts getan hat vor der Hilfe für den Löwen). Iwein zu sein schließt einen Fehler ein und viele Vortrefflichkeiten, Löwenritter zu sein hat den einzigen Mangel der fehlenden Vergangenheit, ihn allein zum Subjekt der neuen Iweintaten zu erklären hieße, auf Laudine zu verzichten. Iwein muß ihn zu seinem Teil machen, um sie wiederzugewinnen. Also löst er als Löwenritter das Brunnenwetter aus, in der Überzeugung, daß selbst Iwein, stünde er noch im Land, seinem neuen Selbst unterliegen müßte. Lunete ihrerseits, die den Herausforderer nicht kennt, kommt auf die Idee, ihrer Herrin den Ritter mit dem Löwen zum Kämpfer anzubieten, ihrerseits in der Überzeugung, daß Iwein jedem möglichen Eroberer überlegen sein würde. Laudine schwört ausdrücklich dem Löwenritter die Aussöhnung mit seiner Frau zu. ob der riter her kumt und mir ze miner not gevrumt, Mit tem der leu varend ist, daz ich an allen argen list mine mäht und minen sin dar an kerende bin daz ich im wider gewinne siner vrouwen minne. (vv. 7925-7932)
Damit verpflichtet sie sich, dem Löwenritter zu helfen, sich mit seiner Dame auszusöhnen - seinen Angaben darüber muß sie glauben. Sie verhilft also dem Löwenritter dazu, ein Iwein zu sein, dem vergeben worden ist, unabhängig von ihren inneren Widerständen gegen eine Versöhnung mit Iwein in der /w^'n-Identität. Ihre Hoffnung geht auf Künftiges, das nicht dem IweinMuster entspricht, sondern das Löwenritter-Paradigma einschließt:
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Dieses Verständnis des Iwein-Löwen geht parallel zu der bei CZERWINSKI, Glanz, S. 19-57 am 'Willehalm' entwickelten Ansicht, daß die frühen Formen selbstreflexiver Personenführung in der Epik die Eigenschaften des Inneren durch äußere Zeichen abbilden, und zwar im Unterschied zu späteren Formen der Kunstentwicklung so, daß nicht nur der Rezipient des Zeichens bedarf, sondern auch die Figur selbst, der ihr innerer Zustand erst faßlich und glaubhaft wird, sobald er sich dinglich manifestiert.
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gedienen miiez ich noch umb in daz er mich lieber welle hän danner mich noch hat getan, (vv. 8094-96)
Sie erwirbt sich beim Löwenritter durch die versprochene Beschwichtigung ihrer selbst ein Verdienst, für das Iwein zu Dank verpflichtet ist; damit kehrt sie die bisher einsinnige Zeitfolge der Handlungssubjekte Iwein - Löwenritter um. Nun faßt auch sie Iwein wieder als Subjekt einer künftigen guten Handlung ins Auge, wie Lunete es auf ihrer Suche nach einem Helfer bereits getan hatte. Wie nach dem Tode Askalons muß die vernünftige Erwägung Lunetes, daß die negative Erfahrung eine positive Erwartung zulasse, erst durch die Herrin bestätigt und in die Tat umgesetzt werden, damit sie für Iwein wirksam werden kann. Das Angebot des Löwenritters, Lunetes Herrin gegen den Herausforderer zu helfen, bleibt formal davon unberührt, daß Laudine Iwein als Hausherrn anerkennt. Wenn er sich an seine Zusicherungen hielte, müßte er jetzt gegen sich selbst kämpfen, und zwar unter Laudines Augen: als der, der Laudine erwerben will, gegen den, der Laudine hat und verteidigt, Löwenritter gegen Iwein. Das steigert die Aufspaltung in mehrere Handlungssubjekte ins offenbar Groteske und Unmögliche, weil nur derjenige Iwein Laudine hat und verteidigt, dem sie um seiner Löwenritterexistenz willen vergeben hat, so wie nur derjenige Löwenritter Laudine erwerben will, der sich durch Iweins Verlust dazu ins Recht gesetzt und verpflichtet sah. Laudine bündelt, statt seinen Kampf mit sich selbst zu fordern, in ihrer Entschuldigung seine beiden Identitäten. 'her iwein, lieber herre min, nü beget genäde an mir. von minen schulden habent ir grözen kumber erliten: nü wil ich iuch durch got biten daz ir ruochet mir vergebn, wand er mich, unz ich hän daz lehn, iemer mere riuwen muoz•' (vv. 8122-29)
Das ist einerseits eine Formfrage: Die Frau, die Iweins Herrschaft anerkennt, nimmt alle Schuld an den Störungen in der Beziehung auf sich. Anderseits hat die Äußerung auch noch eine wörtliche Bedeutung: Iwein soll Laudine nachsehen, was der Löwenritter erlitten hat. Dem alten, unveränderten Handlungssubjekt Iwein hätte sie, wie sie zuvor (vv. 8080- 8091) klar zum Ausdruck gebracht hat, nichts abzubitten. Das Leiden des Löwenritters (an der Entfremdung von seiner Herrin, im Gerichtskampf für Lunete) kann sie akzep-
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tieren und als von ihr verursacht verstehen. Gerade weil suone ein objektiver Vorgang ist, in dem das gekränkte Gemüt zurückzutreten hat, sobald die objektive Seite der Kränkung beigelegt ist, kann die Versöhnung zur wechselseitigen Bestätigung von Identitäten werden: Laudine versichert Iwein seiner Identität mit dem Löwenritter und ihrer Anerkennung der Doppelperson; Iwein versichert sie ihres natürlichen Rechtes auf den Löwenritter und seine Dienste. Sie konstituiert das Objekt ihres Handelns so: Ein Körper, aus dem tönt und von dem andere sagen, er sei immer derselbe gewesen (denn Laudine erkennt den Löwenritter nie als Iwein) vollführte, wie aus ihm tönt und wie andere sagen, zwei Serien aufeinander bezogener Taten, die beide mit ihr zu tun hatten. Daß sie mit ihr zu tun hatten, weiß sie gewiß, alles andere daran entspringt fremdem Zeugnis. Niemand kann von ihr verlangen, dem zu glauben. Wenn sie es dennoch tut, dann sieht sie das kontinuierliche, verbindende Prinzip dieser beiden Handlungsabfolgen in sich selbst (andere Kontinuitäten sind nicht erweisbar). Wenn sie das aber ist, dann muß der Löwenritter sie erwerben wollen, denn Iwein hat sie verloren. Nur wenn der Löwenritter sie erwerben will, ist er Iwein. Daraufhin kann Laudine weise darauf verzichten, Iweins Kampf mit sich selbst zu fordern - sie verhält sich, als wisse sie, daß nur Iwein der Herausforderer sein könne. Iwein braucht die Bestätigung von außen, durch ihre Sicht auf ihn als einheitliches Objekt, um sich bruchlos als Subjekt der eigenen Taten zu denken und zu behandeln. Er muß sie sozusagen fragen, ob er wieder Iwein sein darf und ob er als Iwein weiter Löwenritter sein wird, obgleich er für sich sicher weiß, daß er dieselben Arme, dieselben Beine, denselben Kopf durch beide Leben getragen hat. Aber diese empirische Sicherheit reicht ihm selbst nicht aus. Das Einheitsbewußtsein der Person muß sich gegen den Aussagewert widersprüchlicher Taten behaupten. Es kommt nicht vorgängig aus dem einzelnen und seiner naiven Überzeugung der eigenen physischen Kontinuität, sondern muß in Beziehung zu den Handlungen objektiv und dialogisch errungen werden, so wie auch in der mittelalterlichen Ethik subiectum immer in Hinsicht auf etwas bestimmt wird, aber mehrere Akzidentien denselben Träger haben können.
3.3.
Der dritte Baustein zur Vorstellung vom Gewissen: Messen und vergleichen zum Urteil über sich selbst
Was dem Gewissen in der gesamten Tradition des Begriffs und der Vorstellung zugeschrieben wird, nämlich zu urteilen, setzt einen Maßstab und einen Vergleich mit diesem Maßstab voraus. Nun wird in der höfischen Epik ständig gemessen: nämlich die Vortrefflichkeit des einen an der Kampfstärke
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und Gesinnung des anderen. Inhaltlich haben alle Protagonisten das Maß des Ritterlichen verinnerlicht, aber ausgetragen wird das Messen extern - daß einer im Recht ist, durchaus auch im moralischen Sinn, zeigt sich, wenn er siegt, aber es zeigt sich nicht nur, sondern es erweist sich eben dadurch erst. Erec war im Kampf gegen Guivreiz unterlegen; er schließt bei Hartmann daraus, daß er im Unrecht gewesen sein müsse: swelh man toerliche tuot, wirts im gelönet, daz ist guol. sit daz ich tumber man ie von tumpheit muot gewan sö grözer unmäze daz ich vremder straze eine wolde walten unde vor behalten sö manegem guoten knehte, do tätet ir mir rehte. (vv. 7010-19)
Das ist die Logik des Gerichtskampfes, dessen wiederholte, aufwendige Inszenierung im höfischen Roman in auffälligem Umkehrverhältnis zu seiner realgeschichtlichen Bedeutung als Mittel der Rechtsfindung steht.94 waz von diu, sint iuwer dri? want ir daz ich eine si? got gestuont der wärheit ie: mit ten beiden
bin ich hie ( v v .
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läßt Hartmann seinen Iwein antworten, der vor dem Gerichtskampf um Lunetes Schicksal vom Truchsessen aufgefordert wird, angesichts der erkennbaren Übermacht dreier Gegner zu verzichten. In Gotfrids 'Tristan' raten dem Truchsessen, der den Drachen erschlagen haben will und Isolde beansprucht, die eigenen Verwandten, vom Gerichtskampf zurückzutreten, weil er sich nur gegen ihn entscheiden könne: truhsceze, dine tageding diu hceten boesen ursprinc, ze boesem ende sint s 'ouch komen.
94
Seit dem 4. Laterankonzil war es den Priestern verboten, Gottesurteile zu segnen; eine Dekretale Honorius' III. von 1222 bezeichnet Gottesurteile auch in weltlicher Rechtsfindung als verwerflich, vgl. ERLER, Gottesurteil, Sp. 1272f. Die Volksrechte halten noch an gerichtlichen Zweikämpfen fest; eine Vorschrift darüber gibt S s p . I 6 3 , v g l . ERLER. e b d . S p .
1771.
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waz hästü dich an genomen? wiltü dich mit unrehte bieten ze vehte, daz gäl dir wcetlich an daz leben, (vv. 11319-25)
Der Gerichtskampf gestaltet im fiktionalen Text ein erwünschtes, ideales Prinzip von Moralität und Recht, eines, das die innere Bewandtnis eines Handelns sinnfällig nach außen erweist. Seine Besonderheit gegenüber anderen Kampfsituationen liegt darin, daß die Berechtigung, den Kampf zu führen, dem Kämpfenden unstrittig sein muß (bezeichnenderweise ist das dubiose Gottesurteil zugunsten Isoldes in Gotfrids Tristan w . 15518-15750 eben kein Kampf). Die moralische und juristische Sicherheit, das Gute und Rechte zu vertreten, muß zwar bestätigt werden, aber sie ist als Eingangsbedingung unverzichtbar. Eine solche Konstellation kennt auch die spätere scholastische Gewissenslehre. Wie im nächsten Abschnitt genauer erläutert werden wird, hat der franziskanische Ordensgeneral Bonaventura in der Mitte des 13. Jahrhunderts das Gewissen als eine Urteilsinstanz beschrieben, die zwar ständig befragt werden soll, deren Urteile für den einzelnen jedoch nur dann unbedingt bindend sind, wenn sie mit dem objektiv Richtigen und Guten übereinstimmen; bei Bonaventura entscheidet freilich nicht Kampf darüber, was das objektiv Gute sei, sondern der geistliche Vorgesetzte. Dieser Versuch einer wissenschaftlichen Beschreibung fällt jedoch schon in ein anderes Jahrhundert, und zwar nicht nur der zufälligen äußerlichen Chronologie nach; er ist Bestandteil einer breiten wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Seele und ihren Vermögen, die erst im Gefolge der Aristotelesrezeption in Gang kommt. Deshalb sollte festgehalten werden, daß die höfische Epik bereits eine solche Verknüpfung von Selbstbeurteilung und öffentlicher Bestätigung kennt und daß sie dafür sogar ein eigenes literarisches Schema entworfen hat: eben den Gerichtskampf. Wie sich der Kämpfende mit dem Kämpfenden mißt, damit offenbar werde, wer auf der richtigen Seite steht, so entsteht aus dem einsamen Vergleich mit einem unfraglich gültigen Maßstab eine Selbsteinschätzung des Helden. Gregorius und seine Mutter hadern bei Hartmann zwar beide mit Gott: vervluochet was diu stunde von unsers herren munde, dä ich inne wart geborn (vv. 2563-65)
sagt sie, und stnen zom huop er hin ze gote (v. 2608)
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heißt es von ihm; dennoch betrachten beide sich selbst und einander ohne Zögern als sündig und schuldig. Ihre Einschätzung mich wundert, nach der missetat die mir der Up begangen hat, daz mich diu erde geruochet tragen (vv. 2681-83).
wird von ihm ohne weiteres bestätigt: ir sit ein schuldec
wip (v. 2721).
Der Zorn Gottes gilt als verdient: sus senflet sinen [Gottes] zornmuot, den wir so gar verdienet hän. ich wil im ouch ze buoze stän. (vv. 2734-36).
Schuld ist hier etwas Objektives, und sie wirkt einsinnig: Zwar befleckt sie den Schuldigen, der deshalb büßen muß: er sprach: 'herre, ich bin ein man, daz ich niht ahte wizzen kan miner süntlichen schulde (vv. 2955-57);
aber die Frage nach Fehlentscheidungen, die die Sünde herbeigeführt haben, wird nicht gestellt.95 Die Sünde ist nicht nur unermeßlich groß, sondern auch so geartet, daß Gregorius sie nicht genau als Fehlhandlung begrenzen kann, was auch bedeutet, daß er sie als eigene Fehlhandlung eigentlich nicht versteht. Die Buße, die er sich vorgesetzt hat, ist deshalb zwar unmäßig schwer, aber sie bringt ihn sich selbst und den Antrieben, die ihn in die Schuld geführt haben, nicht näher. Er organisiert sich ein Leiden, das mit der inneren Bewandtnis seiner Verfehlung nichts zu tun hat. Der nicht wußte, wer er ist, der nicht wußte, was er tut, den schildert Hartmann unverändert als vortrefflich, und als er wiederum nicht weiß, daß es nun genug sei, schlägt ihm selbst dies zum Guten aus. Im Rückblick sagt er zur Mutter swie groz und swie swcere miner Sünden last wcere, des hat nü got vergezzen (vv. 3927-29).
95
Vgl. OHLY, Der Verfluchte, S. 10 u. ebd. Anm. 5 zur vorausgegangenen Forschung.
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Er hat immer getan, was er glaubte tun zu müssen, auch in der Buße; sein Handlungsprogramm hat sich durch die Besinnung auf eigene Schuld nicht verändert. Solche Veränderung verlangt ihm seine Geschichte auch nicht ab. Er war schuldig nach einem objektiven Maßstab des Erlaubten und Verbotenen, und er ist nun entschuldigt nach dem Maß der äußeren Begebenheiten. Allein daran, was alle übereinstimmend für richtig halten, muß er sich messen. In Hartmanns 'Gregorius' zeigt sich besonders deutlich, wie tief der Graben ist, der das Schuldeingeständnis des Helden vom 'Gewissensbiß' trennt. Aber auch in anderen Werken sind für das Schuldbewußtsein, dessen die epischen Helden fähig sind, die Gründe der schuldhaften Handlung bemerkenswert unwichtig. Der arme Heinrich klagt sich, weil die offenbare Strafe ihm eine Schuld nahelegt, sogar einer Gottlosigkeit an, über die Hartmann zuvor nichts - eher das Gegenteil - zu berichten wußte: Ich hän den schämelichen spot vil wol gedienet umbe got. (vv. 383-84)
daz als den daz äne
herze mir do also stuont, alle welttören tuonl dar rastet ir muot si ere unde guot got mügen hän. (vv. 395-99)
Auch hier ist der äußere Maßstab - die Krankheit als Strafe - sicherer als jede Stellungnahme zu Motiven und Intentionen. Die Strafe ist eingetreten, also war das vorhergehende Leben schlecht. Der Aussatz evaluiert, er ist das Maß. Der Aussätzige muß sündhaft gewesen sein. Die Suche nach eigenen Verfehlungen kommt nicht aus innerer Unrast, sondern interpretiert einen äußeren Zustand. Dazu braucht man kein Gewissen im modernen Sinn; und wenn man die Instanz, die die Anklagen spricht, Gewissen nennen will, dann braucht dieses Gewissen keinen eigenen, inneren Maßstab des Guten und Bösen. In beiden Fällen könnte man gattungsbedingte Besonderheiten vermuten. Aber auch Iwein schöpft seine Selbstanklage aus dem Wissen um den Verstoß gegen einen objektiv gültigen Wert. Es ist für ihn keine Frage, ob er verpflichtet gewesen wäre, Laudines Frist einzuhalten. In dem Moment, in dem ihm die Aufforderung wieder bewußt wird, erkennt er gleichzeitig seine Übertretung an. Das Bewußtsein von der Verfehlung und das Bewußtsein von der verletzten Norm fallen zusammen; Ursachenforschung wird nicht betrieben.
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Die Reflexion des Veldekeschen Eneas, die von Kartschoke neben diese Iwein-Stelle gerückt wird,96 folgt nicht ganz demselben Muster. Eneas blickt, nachdem er an sich selbst die Symptome der Liebeskrankheit wahrgenommen hat, auf seine Beziehung zu Dido zurück: ware mir do zer selber stunt zehin teil von minnen so chunt, als ich sider han vemVmen, ich enware nie von ir chumen. Diu was mir', sprach her, 'vil holt, von div han ich sunde unde schvlt,
daz siv verlos ir lib. (w. 296.13-19)9'7 Zwar hat auch hier der schuldbewußte Held ein objektives Wissen von der Verfehlung oder ihren Folgen: Eneas hat vv. 3296-3306 Dido unter den Toten gesehen, ehe er sich überhaupt die Frage stellen kann, ob er an ihrem Schicksal nicht einen schuldhaften Anteil hat. Aber anders als Iwein und Gregorius bezieht er seine früheren Handlungsvoraussetzungen in die Überlegung ein. Er kannte die Liebe nicht; hätte er sie gekannt, dann hätte er die Liebende nicht so verlassen. Die Umstände erklären, aber sie entschuldigen nicht: Bei Veldeke spricht sich Eneas selbst schuldig. So differenziert überlegen die anderen rückblickenden Helden nicht; allerdings geht es dort auch nie um Liebe, und das mag eine Rolle spielen. Der Typus 'Held, der sich selbst schuldig spricht' forscht nicht in sich nach dem sittlichen Verstoß, den er möglicherweise begangen hat, sondern er braucht sichere Kenntnis von einer Übertretung oder von einer Strafe, um eine Tat zu bereuen. Gev/issenserforschung ist das nicht, weder im modernen noch im mittelalterlichen Sinn. Denn der einzige Bereich, in dem es schon vor der Wende zum 13. Jahrhundert eine Kultur der Gewissenserforschimg gibt, der monastische nämlich, orientiert den zur Vollkommenheit Strebenden darauf, seine Taten und Gesinnungen regelmäßig, möglichst täglich, zu durchmustern und darüber nachzudenken, ob sie etwa einem Gebot widerstreiten.98 Das rückblickende Selbsturteil des epischen Helden der höfischen
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KARTSCHOKE, H e l d , S .
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Für den Eneasroman benutze ich die Ausgabe von FROMM. Die Probleme dieser Wahl sind mir bewußt. Die Stelle ist in der frühen Berliner Handschrift überliefert, und mit FROMM S. 746 halte ich die Orientierung an einem Textzeugen aus dem hauptsächlichen Wirkungsraum vorläufig für die ehrlichste Lösung. Bernhard von Clairvaux und Wilhelm v. St. Thierry haben von der stoischen Gewissenslehre die tägliche Selbstbefragung übernommen. Eine Breitenwirkung dieser Lehren vor dem 13. Jahrhundert ist allerdings nicht sicher anzunehmen.
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167.
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Romane dagegen sucht die Schuld nicht in ihm auf, sondern es richtet die einzelne Handlung, sobald ihm nahegelegt wird, sie mit einem objektiven Maß oder Wert zu vergleichen. Im Zweifelsfall hat die wertsetzende Umwelt recht, oder die göttliche Fügung zeigt das Maß an. Das Urteil über sich selbst wird vom Verstand gefällt. So sieht nun allerdings auch die Gewissenstheorie des 13. Jahrhunderts den Prozeß: conscientia ist ein Teil der praktischen Vernunft. Selbstbeurteilung kommt dort mit einem diffusen moralischen Gefühl des Zufriedenseins oder Mißbehagens nicht aus. Sie braucht für die scholastischen Theorien zwingend einen inneren Maßstab. Im Hinblick auf diese spätere Entwicklung spielt die epische Darstellung von Helden, die sich selbst als schuldig bekennen, eine widersprüchliche Vorläuferrolle: Einerseits enthält sie viel mehr objektive Moral als jede spätere Gewissenstheorie, weil in ihr das Richtige und Falsche immer außerhalb des handelnden Subjekts als richtig oder falsch erwiesen sein muß. Anderseits bieten gerade diese objektiven Stützen des subjektiven Urteils die Gewähr, daß das Selbsturteil als Verstandesurteil gefallt wird, sie bringen es erst in Gang.
3.4.
Schwierige Entscheidungen und irrendes Gewissen
Ein heroischer Held darf schlicht die Taten tun, die ihm vor die Füße fallen. Er muß sie auch tun, daraus ergeben sich tragische Konstellationen. So führen die Autoren der höfischen Romane ihre Helden nicht oft; sie bringen sie vielmehr wiederholt in Situationen, in denen die Protagonisten den Anschein von gleichwertigen Handlungsmöglichkeiten nur mit ihrem internalisierten Normenverständnis überwinden können, also ihre persönliche Heldennorm aufstellen müssen: Der handelt groß, der das für ihn und für alle Richtige herausfindet und tut. Ein äußeres Maß dafür ist Ehre, aber sie mißt erst die getane Tat. Ein inneres ist der schwierigere Weg. Es anzulegen kann, wie Kartschoke am Beispiel des Jüngeren Titurel ausführt, endlich so weit führen, daß der Held tut, was niemand von ihm verlangen kann." Die eigentlichen Probleme fangen aber für die Helden erst dort an, wo sie sich auch auf dieses Kriterium nicht verlassen können, wo sie nämlich beide Aufgaben als Pflichten verstehen, sie aber nicht miteinander vereinbaren können. Solche Entscheidungen werden, um es vorwegzunehmen, in der
Selbst die wirkungsmächtige 'Epistola ad fratres de Monte Dei' Wilhelms, in der das Motiv mehrfach vorkommt, ist aus dem 12. Jahrhundert nur 7mal überliefert (so nachgewiesen in der Liste bei HONEMANN, Epistola, S. 12-87, die 214 erhaltene Textzeugen dokumentiert). 99
V g l . KARTSCHOKE, H e l d , S . 1 9 4 u. 1 9 6 f .
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mittelalterlichen Ethik im Kontext der Gewissenslehre abgehandelt, und zwar nicht nur nebenbei, sondern in ihrem Zentrum. Es sind dort Vernunftentscheidungen und zugleich moralische Urteile. Das ist aber im späten 12. und im 13. Jahrhundert in der Wissenschaft nicht selbstverständlich, sondern noch eine aufsehenerregende Neuerung, sozusagen eine Übersetzung des alten augustinischen Problems in aristotelische Denkformen. Darum ist es für die Chronologie der gedanklichen Entwürfe außerordentlich interessant, ob die vorausgehende fiktionale Literatur das prospektive, vernünftige Gewissen überhaupt kennt und wie sie sich die Lösungsstrategien für die schwierigen Entscheidungen vorstellt. Die schwierigen Entscheidungen werden in den Epen eigens hervorgehoben, sie heben sich von der Normallage des Entschließens ab. Denn das Richtige zu tun, auch wenn es ihn in Gefahr bringt, wird jedem Helden abverlangt, es gehört zu seiner Vorzüglichkeit. Wenn ein Held hier zögert, ist es auffallig. Daß der arme Heinrich sich bei Hartmann selbst ermahnen muß du enweist ouch rehte waz du tuost, sit du benamen ersterben muost, daz du diz lästerliche leben daz dir got hat gegeben niht vil willeclichen treist und ouch dar zuo niene weist ob dich des kindes tot ernert (vv. 1247-53)
kennzeichnet ihn als zu Recht gestraft, und Iweins Überlegungen, ob er dem Drachen oder dem Löwen helfen soll, stehen am Anfang seiner Umkehrvita: hern [wein tete der zwivel we wederm er helfen solde, und bedäht sich daz er wolde helfen dem edelen tiere. doch vorhter des, swie schiere des wurmes tot ergienge, daz in daz niht vervienge, der leu bestüend in zehant. (vv. 3846-53)
In den Kontext dieser Situationen, in denen Überlegenmüssen eher ein Zeichen von Schwäche denn eines von Überlegenheit ist, gehören auch die bereits von Emil Walker herausgearbeiteten Konstellationen, in denen, wie Kartschoke zusammenfaßt, "die Entscheidungsmonologe zunächst [...] den Frauen und (eher passiven) Nebenfiguren in den Mund gelegt werden". 100 100
KARTSCHOKE, Held, S. 168, vgl. WALKER, S. 181-188.
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Exkurs: Enites Entscheidungsmonolog und seine Bewertung Um zu erklären, wie allmählich eine höhere Wertung von Besinnung zustande kommen kann, kam Kartschoke auf die bestechende Idee, in Hartmanns 'Erec' ein Doppelwesen Erec/Enite anzusetzen: Enite sei Erecs extrapoliertes Gewissen.101 Da mir das Gewissen ebenfalls sehr am Herzen liegt und ich in ähnlicher Richtung suche, aber nicht finden kann, was Kartschoke fand, versuche ich, seine Annahme zu prüfen. Wenn Kartschoke Enite als Erecs Gewissen bezeichnet, dann müßte er auch einräumen, daß Enite als Gewissen für Erec die Entscheidungen fallt und bewertet. Sie ist dann sein höherer Seelenteil, und indirekt wird ein Doppelwesen mit Doppelseele unterstellt, denn Erec ganz zum Werkzeug zu degradieren läßt sich mit dem Text nicht vereinbaren. Ingrid Kasten hat dagegen bemerkt, daß Enite sich in ihrem Entscheidungsmonolog so verhält, als hätte sie zumindest im Rhetorikunterricht Kenntnis von der Lehre der Normenabwägung erlangt.102 Das ist ohne Zweifel richtig. Ich glaube aber nicht, daß man Enite deshalb als eine gänzlich auf eigene Rechnung handelnde und denkende Person unterstellen darf. Hier bin ich grundsätzlich auf Kartschokes Seite und verteidige die Doppelperson, weil nämlich Hartmanns Enite selbst von einer Seeleneinheit ausgeht. und ruoche got unser seien phlegen, die enscheident sich benamen niht, swaz dem libe geschiht (vv. 5839-5841) sagt sie trotz aller Fremdheitserlebnisse auf dem getrennten Ausritt. Enite behauptet jedoch auch die Inferiorität ihrer Natur, und das geht mit ihrer Auffassung als Erecs Gewissen schlecht zusammen. ja ist einer seihen not wtbes herze ze kranc (vv. 3165-66) kommentiert sie, nach einer Anrufung Gottes um Rat, ihren bravourösen Syllogismus der praktischen Vernunft
101 102
KARTSCHOKE, H e l d , S. 167. KASTEN, D i l e m m a , S. 2 9 .
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nü enkan ichz wcegeste niht ersehen: waz sol mir armen geschehen? wan swederz ich mir kiese daz ich doch Verliese. warne ich mtnen lieben man, da genim ich schaden an, wan so hän ich den lip verlorn. wirt aber diu warnunge verborn, daz ist mins gesellen tot. (vv. 3156-3164) Sie entscheidet: 'bezzer ist verlorn min Up, ein als unklagebcere wip, dan ein also vorder man, wan da verlür maneger an. erst edel unde rtche: wir wegen ungeliche. vür in wil ich sterben, e ich in sihe verderben [...]'. (vv. 3168-3175) Das logische Dilemma 'Wenn ich schweige, stirbt mein Mann. Wenn ich spreche, sterbe ich. Nun schweige ich oder spreche ich. Also stirbt er oder sterbe ich' mit der anschließenden Güterabwägung 'Es ist besser, daß ich sterbe. Also spreche ich' würde, allein auf Enite bezogen, die Selbstabschaffung der so entscheidenden Vernunft anvisieren; das heißt, wenn Enite wirklich Erecs extrapoliertes Gewissen wäre, dann wäre er anschließend ohne Gewissen. Anderseits: Als vollständiges Wesen, auf dem Standpunkt selbstzentrierter praktischer Vernunft, würde Enite von der Selbsterhaltung her argumentieren, etwa nach dem Muster: 'Wenn ich schweige, verliere ich durch die Räuber meine Ehre. Wenn ich spreche, verliere ich durch meinen Mann das Leben. Es ist besser, das Leben zu verlieren als die Ehre. Also spreche ich.' Nun ist aber in ihrer Güterabwägung das Leben ihres Mannes ein höheres Gut als ihr eigenes, und ihre restriktiven Entscheidungen auf dem gesamten gemeinsamen Weg betreffen immer nur sie selbst, bis zum Todeswunsch, wogegen Erec grundsätzlich für beide entscheidet. Selbst dort, wo Enite ihren Tod in Rechnung stellt oder sogar anstrebt, gebietet sie nicht über sich selbst, denn die vermutete Folge bleibt aus. Das heißt, ihre voluntativen Akte müssen an Erec übergeben werden, um wirksam zu sein, und sie können dort revidiert werden. Mein Vorschlag, Kartschokes Idee von der arbeitsteiligen Seele von ErecEnite zu retten und von diesem Ausgangspunkt aus über die Gestaltung einer Vorstellung 'Gewissen' nachzudenken, wäre, die Konstellation der gemeinsamen Ausfahrt und das Schweigegebot an Enite stärker von Erec her zu verstehen. Erec und Enite werden vor dem Sündenfall der Entfremdung von der Gesellschaft als eine quasiparadiesische leibseelische Einheit geschildert. Diese Einheit beginnt hie-
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rarchisch, das heißt im augustinisch-theologischen Sinne richtig,103 gleitet aber in einen ordnungsbedrohenden herrschaftsfreien Zustand: Erec verhält sich zu Enite wie der höhere Teil der Seele, wenn er durch die Sinne gefangen ist. Er muß sie auf ihre Anklage hin erst abfragen: Denn Wahrnehmungen der Sinne lösen erst Verstandesbilder aus, wenn sie richtig befragt und verstanden werden. Enite ist das Sinnenprinzip, sie sieht und hört. Erec verarbeitet die Fehlermeldung seiner Sinnlichkeit richtig, was nur er leisten kann, und mißtraut nunmehr seinen Wahrnehmungen und Gefühlen: Er gebietet Enite zu schweigen, läßt sie aber vor sich herreiten und für sich sehen. diu vrouwe reit gewcefens bar: dä was er gewäfent gar, als ein guot ritter sol. des gehörte er noch gesach so wol uz der isenwcete als er bldzer täte. des was im wamunge not und vrumte im dicke vür den tot. (vv. 4154-4161) Diese Ambivalenz ist auf Übertretung hin angelegt, aber es wären für Enite zwei Arten von Übertretung möglich: eine, die sich von der Bevormundung freimachen will, und eine, die sich der Herrschaft freiwillig unterwirft. Enite sieht auf dem Weg die Gefahr, denn sie ist sein Auge. Sie glaubt seiner Drohung, denn das Auge selbst weiß nicht, wann es nützlich und wann unbotmäßig ist. Sie warnt ihn doch, das ist ihre Bestimmung: ich tetez durch mine triuwe. (v. 3262f.) daz gelübede beleip unstcete, wan si zebrach ez da zehant, als si betwanc der Triuwen bant. (vv. 4143-4145) Erec bestraft seine niederen Seelenkräfte in Enite, indem er sie zur Einsicht in ihre Nichtigkeit nötigt und sich den letztrichterlichen Spruch über alle ihre Taten vorbehält. Aber allein, ohne Zutrauen zur Unterstützung durch seinen anderen Wesensteil - er läßt Enite zurück, als er mit den Riesen kämpft -, gerät Erec an
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Mit dieser theologisch-philosophisch geprägten Beschreibungssprache will ich selbstverständlich nicht behaupten, daß Hartmann (oder Chretien) einen zeitgenössischen Traktat über die Seele bearbeitet haben. Genaue Entsprechungen zu markanten Positionen habe ich auch nicht identifizieren können. Das grundlegende Verhältnis des Menschen zu seiner Seele gehörte aber naturgemäß zu den bevorzugten Gegenständen der Predigt, auch in der Volkssprache. Es wäre verwunderlich, wenn sich zentrale Vorstellungen vom Aufbau der Seele und ihren Funktionen nicht in fiktionaler und theologischer Literatur parallel gestaltet fänden.
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den Rand des Todes. Dieser klinische Tod ihrer Gemeinschaft bedroht auch Enite. Erst als sie ein Leben ohne das Telos ihres Wesens ablehnt, hört Erec bereitwillig auf ihren Ruf. Diese Art der Versöhnung mit sich selbst basiert im 'Erec' auf einem selbstentwickelten Handlungsprogramm: Der Held stellt nicht die Norm wieder her, die er verletzt hat (der Artushof wäre dafür eine Gewähr gewesen), sondern er verhält sich überbietend im Sinne seiner internalisierten Handlungsnonn. So liegt er, und zwar als einzelner, seinen Handlungen zugrunde, er ist Subjekt seiner selbstgewählten Handlungen. Von hier aus komme ich noch einmal auf Kartschokes Auffassung der Enite zurück. Sie als Erecs Gewissen zu verstehen hindert mich die Tatsache, daß Erec sich an ihre Entscheidungen nicht hält, daß sie nicht für ihn entscheiden kann. Aber hat sie nun selbst ein Gewissen? Ihr Entscheidungsmonolog ist ja nicht wegzuinterpretieren. Für sich selbst genommen, kann sie denken, sie ist nicht reiner Leib. Aber sie fällt Hinordnungsentscheidungen, sie sieht sich selbst nur mit Erec gemeinsam als vollständiges Wesen. Das behindert eine Interpretation, die fragt, was Enite für sich ist und denkt, und auch den Schluß von ihrer Wahl zwischen Handlungsmöglichkeiten auf ihr Subjektsein, denn Enite ist nicht wesentlich Eines, sondern sie ist Teil. Für sie selbst sind ihre Entscheidungen wiederum richtig, unter der Voraussetzung, daß sie der inferiore Teil der angestrebten Einheit sei. Auch wenn die Form ihres Denkens im Entscheidungsmonolog genau der gleicht, die seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in der Gewissenstheorie dem selbstbewußten menschlichen Subjekt zugeschrieben wird: Nicht zu wissen, was man tun soll, ist vor der literarischen Folie des ritterlichen Helden keine Tugend.104 Erec fällt seine Entschlüsse still und augenblicklich, Enite muß sich die Voraussetzungen und Folgen explizieren.105 Sie muß sich erst darauf besinnen, daß sie ihrem höheren Selbst Erec nicht schaden will und darf. Ich folgere aus dieser Konstellation, daß die vernünftige Erwägung und die bewußte Wahl zwischen zwei Möglichkeiten bei Hartmann eben nicht schon - wie später bei Thomas von Aquin in der Theorie des irrenden Gewissens - an sich edel und vorzüglich ist, besonders dann nicht, wenn sie bei einer einfachen Pflicht endet. Überlegen heißt hier noch: unterlegen sein; deshalb wird es dem niederen Seelenteil zugeordnet.
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KARTSCHOKE, Held, S. 168 bemerkt deshalb: "Es kann nach dem bisher Gesagten nicht verwundern, daß die Entscheidungsmonologe zunächst wieder den Frauen und (eher passiven) Nebenfiguren in den Mund gelegt werden". In Hartmanns 'Gregorius' gibt es auch eine syllogistische Abwägung, die klar als Schwäche interpretiert wird. Sie wird bezeichnenderweise einer Frau in den Mund gelegt, nämlich der Mutter des Gregorius: si gedähte: 'swige ich stille, /so ergät des tiuvels wille/ und wirde mines bruoder brät,/ unde wirde ich aber lät,/ so haben wir iemer mere/ verloren unser ere. Ί alsus versümte si der gedanc,/ unz daz er mit ir geranc, / wan er was starc und si ze kranc, / daz erz ane der guoten danc/ brähte üf ein endespil. Vv. 385-395.
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Wenn der Held dagegen zwischen zwei Handlungen die Wahl hat, zu denen er sich gleichermaßen verpflichtet fühlt, die einander jedoch auszuschließen scheinen, dann wird die Besinnung geadelt. Solche Reflexionen können auch dort in die Handlung treten, wo weder Erzählstruktur noch Erzählweise die Fähigkeit des Helden zum richtigen Entschluß als eingeschränkt erscheinen lassen. Hartmanns Iwein beschließt zunächst, zuerst den Riesen zu besiegen und dann zum Gerichtskampf für Lunete zu eilen, kann sich darauf aber dem Hausherrn gegenüber nur unter der Bedingung verpflichten ob ir des gewis sit daz uns der rise kume vruo. (v. 4748f.)
Er schläft noch ruhig und erwacht erst, dö der tac üfgie 4820. Seine Zweifel an der eigenen spontanen Entscheidung (vv. 4870-4913) setzen erst ein, als der Riese unhöfisch auf sich warten läßt und Iwein durch das Festhalten an dem neuen Vorsatz den alten gefährdet sieht. Sobald der Riese erscheint, wird stracks das Nötige getan. Als Wolfram seinen Gawan in eine ähnliche, allerdings nicht durch Zeitdruck zugespitzte Situation führt, kommentiert er sie: waz weit ir daz Gäwän nu tuo, ern bestehe waz disiu mcere sin? (V. 349,28f.) 106
In beiden Fällen soll der Held seine Vortrefflichkeit dadurch zeigen, daß er die Quadratur des Kreises löst und mehr als das Menschenmögliche tut. Die Entscheidungssituation wird aufgebaut, damit der Held zeigen kann: Dies oder das - das mag für andere gelten. Beides - das ist mir angemessen. Die Auflösung einer unabweislichen Alternative in eine rühmliche Doppeltat scheint einen epischen Helden besonders auszuzeichnen. Enite wählt in ihrem Entscheidungsmonolog w . 3149-79 zwischen Handlungen, die sich bei aller persönlichen Vortrefflichkeit nicht miteinander vereinen lassen - schweigen und sprechen kann sie nicht gleichzeitig. Sie wird nicht in gleicher Weise wie Iwein und Gawan als Heldin überhöht, indem sie das Unmögliche tun darf. Aber sie zeichnet sich, vielleicht als Teil von Erec, dadurch aus, daß sie zur Wahl in der Lage ist. Zwischen unvermittelbaren
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KARTSCHOKE, Held, S. 173 macht darauf aufmerksam, daß nicht die Entscheidungssituation selbst, sondern die Übergabe der Entscheidung ans Publikum den besonderen Zug von Wolframs Erzählen ausmacht.
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Polen bewegen sich nämlich auch die zahlreichen Erwägungen über die Ungewißheiten der Liebe in Gotfrids 'Tristan'. 107 Marke sagt zu sich selbst: 'ist hie an disen dingen iht? weder ist hie schulde oder niht? hie mite was aber der zwivel da. 'schulde?' sprach er 'triuwen jä. 'schulde?' sprach er 'triuwen nein', (vv. 17527-31)
Tristan kann sich nicht entscheiden, ob er Isolde Weißhand begehrt oder nicht begehrt: er dähte dicke wider sich: 'weder wil ich oder enwil ich? ich wcene nein, ich wane jä.'(vv.
19253-55)
Bei Veldeke weiß Eneas nicht, ob er Lavinias Liebe trauen soll: diu vAb kunnen liste vil: waz ob si mich betriegen wil, und den heren Turnum al daz selbe wil tun oder lihte hat getan (sus sprach der wise Troiän) und tut daz dorch die scholde, daz si unser beider holde dä mit erwerbe mit sinne, sweder unser sie gewinne, daz her si minne deste baz? (vv. 11241-51)
er entschließt sich jedoch endlich: ich wil daz wizzen äne wän, daz ez was der Minnen rät än valsch und äne missetät. (vv. 11259-61)
Offenbar werden in diesen epischen Modellen schwieriger Entscheidungen verschiedene Möglichkeiten ihres Aufbaus und ihrer möglichen Lösung durchgespielt; es gibt das Verharren in der Unlösbarkeit, die Entscheidung für eine Lösung (und das Ausschlagen der anderen) und die überbietende Zusammenfuhrung des unversöhnlich Erscheinenden.
107
KARTSCHOKE, Held, S. 169-171 hat die wichtigsten zusammengestellt.
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Ingrid Kasten hat ähnliche epische Konfigurationen aus der Verfügbarkeit rhetorischer Lehren der judizialen Rede108 erklärt. Die Bedeutung solcher Gestaltungsversuche sieht sich aber sofort ganz anders an, wenn man einen Blick auf die mittelalterlich-wissenschaftliche Relevanz des Problems wirft. Wie zwischen zwei gleichwertigen Handlungen die rechte gefunden werden könne und wie bei zwei gleich zu meidenden Übeln dennoch eine sittliche Tat möglich sei, wird nämlich gerade im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert in den Wissenschaften, die es behandeln, durchaus widersprüchlich diskutiert. Die Rhetorik lehrt die grundsätzliche Möglichkeit, die Norm herauszufinden, die in dem betreffenden Fall zutrifft, nötigenfalls durch das Prinzip der Normhierarchie. Das Dilemma im strengen Sinn, als logische Struktur, 109 illustriert in der Rede nach Cicero und Quintilian gleichsam die Ausgangslage des Handelnden und der Richtenden. 1,0 Gerade diese zugespitzte Lage, in der jede mögliche Handlung eine unerwünschte Folge hat, ist nun im 12. Jahrhundert (also diesmal nicht nachzeitig, sondern gleichzeitig zu den prominenten Versuchen epischer Gestaltung) nicht allein Thema der Rhetorik und der Logik, sondern besonders der Theologie und des Kirchenrechtes. Sie wird unter dem Namen der perplexio behandelt. Perplex heißt in der Rechtswissenschaft und in der scholastischen Ethik ein Mensch, der durch zwei widerstreitende Verpflichtungen gebunden ist und dadurch handlungsunfähig wird, oder ein Rechtsakt, der von zwei einander widersprechenden Voraussetzungen abhängt und deshalb nicht zustandekommt. Die perplexio ist ein intellektuelles Problem: Sie ist solange unlösbar, wie der Mensch auf der Ebene der formalen Logik handelt, solange er nicht erkennen kann, welche der beiden Folgen seines möglichen Handelns entweder nicht notwendig eintritt oder eher als die andere in Kauf genommen werden kann. Diese Fassung der Sache geht aber auf eine längere Entwick-
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Vgl. KASTEN, Dilemma, S. 29. Das Dilemma ist in der Sprache der Logik ein syllogistisches Schlußmuster mit hypothetischem Obersatz und disjunktivem Schlußsatz. Es folgt dem Muster: Wenn ich bleibe, dann sterbe ich. Wenn ich gehe, dann stirbt sie. Nun bleibe ich oder gehe ich. Also sterbe ich oder stirbt sie. Das Wichtige daran ist die hypothetische Struktur und die Unausweichlichkeit der jeweiligen Folge. Die Entscheidung kommt also erst im Resultat der Schlußfigur, nicht durch sie, zustande. Solche Gedankenfiguren fallen nicht mit den allgemeinen Werthierarchieentscheidungen oder Normenkonflikten zusammen, die im provenzalischen Streitgedicht behandelt werden. Vgl. den Katalog der in Partimens behandelten Fragen bei NEUMEISTER, S. 201-209. LAUSBERG, § 235 weist daraufhin, daß die rhetorische Verwendung des Dilemmas seine logische Struktur betrifft, auch wenn die Notwendigkeit innerhalb der beiden einander gegenübergestellten Folgerelationen nicht logisch exakt, sondern nur moralisch zwingend sein müsse. V g l . LAUSBERG, § 3 9 3 .
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lung zurück. Die römische Jurisprudenz hatte den Grundsatz aufgestellt: "Perplexität impliziert Nichtigkeit", ihn aber auch ständig unterlaufen.' 11 Die Theologie und Kanonistik übernahm, wie Richard Schenk dargelegt hat,112 den Begriff perplexio von Gregor dem Großen, der perplexi sunt (von den Sehnen des Nilpferdes Behemot ausgesagt) in Hiob 40,12 auf die Verflechtungen der Sünden bezogen hat: Der Mensch könne unter Umständen eine Sünde nur meiden, indem er eine andere begeht.113 Dadurch ist die kanonistische perp/exi'o-Diskussion im wesentlichen negativ, also eine Abwägung von Sünden nach dem Grundsatz: Das größere Übel ist zu meiden. Das ist die Position des Decretum Gratiani.114 In der Theologie nahm das Problem durch die Anstöße, die Abälards Ethik gegeben hat, eine Wendung ins Positive, zur Pflichten- und Güterabwägung überhaupt, und es wurde, weil hier ein Problem der praktisch-vernünftigen Entscheidung verhandelt wurde, das Konsequenzen für die Qualifikation einer Handlung hat, seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gemeinsam mit dem Gewissensproblem beschrieben." 5 Hier setzte sich schulübergreifend im Laufe des 13. Jahrhunderts die Auffassung durch, daß es eigentliche perplexio nicht geben könne; eine Lösung im Sinne der Abwägung nach Güter- und Pflichtenhierarchien, gutes Handeln also, sei grundsätzlich möglich.116 Mir scheinen diese kanonistischen und ethischen Diskussionen um die perplexio sehr verwandt mit den widersprüchlichen Wertungen von Selbstberatung in der Dichtung, mit den unterschiedlichen Wegen, die die Dichter zur Lösung der schwierigen Lagen ins Auge fassen. Es ist ja ein Unterschied, ob man annimmt, daß in dilemmatischen Situationen notwendig sündhaftes Verhalten entsteht, oder ob man davon ausgeht, daß es echte perplexio nicht gibt und sittliches Handeln durch Selbstbefragung auch in diesen schwierigen Lagen möglich ist. Die epische Modellierung solcher Entscheidungssituationen arbeitet nun der Lösung, die sich wissenschaftlich durchsetzen wird, direkt in die Hand: Sobald sich der Anschein, daß die beiden Forderungen untereinander unvereinbar und gleichberechtigt sind, als Täuschung erweist, kann der Konflikt wieder gelöst werden. Das wird im 13. Jahrhundert im Kontext der Gewissenslehre so gefaßt werden, daß die praktische Vernunft ihre Urteilsfähigkeit selbst wiederherstellen kann; dann ist der Mensch wieder
111
Vgl. SCHENK, Perplexus, S. 62 und BACKHAUS für den sachlichen Verlauf der Loslösung vom Rechtsgrundsatz zu Einzelfallentscheidungen.
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V g l . SCHENK, P e r p l e x u s , S. 6 8 .
113
Moralia in lob, lib. XXXII, XX,35 (CCSL 143b, S. 1656). Vgl. SCHENK, Perplexus, S. 68 mit Bezug auf CIC c.2 D. 13. Vgl. SCHENK, Perplexus, S. 69-73.
114 115 116
V g l . SCHENK, P e r p l e x u s , S. 7 3 - 9 5 .
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in der Lage zu handeln. Die Phase der kontroversen Diskussion in der Wissenschaft ist gleichzeitig die der künstlerischen Gestaltungen des Problems. Der Notwendigkeit, daß man handeln müsse, gehorchen gerade, und unbedingter als in der theoretischen Reflexion, die epischen Modelle von perplexio. Sie unterstellen nämlich durch das Strukturgesetz der fortgehenden Handlung, daß eine Entscheidung zwingend erforderlich ist und daß selbst eine falsche Entscheidung notfalls hingenommen werden muß, weil ein handelnder Held nicht in der Freiheit ist, sich aus der Handlung herauszunehmen. Aus der theoretischen Verarbeitung dieses Gedankens entsteht im 13. Jahrhundert die Theorie des irrenden Gewissens, die mit der perplexio-Thematik eng verwandt ist. Es ist möglich, daß ein Mensch eine Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen trifft, und dennoch erweist sie sich als falsch. Die konkrete Gestalt dieser Lehren in der Scholastik wird in den Kapiteln über Thomas und Bonaventura erklärt werden. Hierher gehört aber die Bemerkung, daß sich auch diese Konstellation in der Dichtung an prominenter Stelle gestaltet findet. Parzivals erster Aufenthalt auf der Gralsburg setzt in Wolframs Gestaltung in Szene, was Thomas unter dem Namen des irrenden Gewissens beschreibt:117 Ein Held handelt nach bestem Wissen und in den besten Absichten. Das entschuldigt ihn partiell, macht aber die Handlung noch nicht gut. Dennoch hätte er nicht anders handeln können: Ein Normverstoß aus Schwäche, ohne das klare und verstandene Bewußtsein einer höheren Norm, die die niedere außer Kraft setzt, hätte ihn auf die Ebene der völligen Rohheit und Narretei zurückgeworfen. Es ist richtig, den Normen zu folgen, die man erkennt und als richtig erkennt. Allerdings reicht es nicht aus, solange man nicht die Normen kennt, die die Situation tatsächlich adäquat fassen würden. Es ist kein moralisches Problem, sondern ein intellektuelles; wie bei Thomas, der ratio und conscientia synonym verwenden wird. Sucht man nun die Chronologie der epischen Entwürfe und der Theorien über Ratlosigkeit der praktischen Vernunft und über Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit durch Mit-sich-zu-Rate-Gehen zu rekonstruieren, so zeigt sich eine merkwürdige historische Phasenverschiebung. Denn das sind zwar klassische Konstellationen für die hochscholastische Gewissenslehre, aber: Weder Hartmann noch Wolfram hatten den Thomas oder Bonaventura zu
117
Hier weiche ich von KARTSCHOKES Ansicht in DERS., Held, S. 175 ab. KARTSCHOKE hält die Situation für dilemmatisch. Im logisch-terminologischen Sinne kann sie das nicht sein, denn das Dilemma entsteht aus der Wahl zwischen Ursachen, die jeweils unabwendbare, aber gleichermaßen unerwünschte Folgen haben. Parzival auf Munsalvaesche ist nicht in der Lage, Folgen seines möglichen Verhaltens sicher vorauszusagen, und insofern nicht vor der Wahl zwischen zwei gleichermaßen unerwünschten Folgen.
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Zeitgenossen. Als die praktische Vernunft ihren Hauptplatz in der Gewissensdiskussion erobert und das Problem des perplexen und des irrenden Gewissens in der Kanonistik und Ethik breit behandelt wird, um die Mitte des 13. Jahrhunderts, sind die epischen Modelle Chr6tiens, Hartmanns und Wolframs längst vorhanden. Angesichts der Publizität der Auseinandersetzung zwischen Abälard und Bernhard wäre eher wahrscheinlich, bei den Dichtern Reflexe auf deren zentrale Themen zu sehen. Aber die alleinige Rechtfertigung einer Handlung durch das eigene sittliche Gutheißen (wie bei Abälard) kommt zumindest nach meiner Kenntnis - in der höfischen Epik nicht vor. Bei Bernhard dagegen ist conscientia ein religiös-moralisches Apriori. Theologiegeschichtlich ist diese Position eine Art von Durchgangsstadium zur Annahme einer natürlichen Vernunftsinstanz Gewissen; aber interessanterweise kennt die höfische Epik dieses Durchgangsstadium nicht; sie negiert Abälard, sie entschuldigt die gut gemeinte Handlung nicht, aber sie negiert ihn nicht mit Bernhard, sondern mit Thomas, und das heißt: Sie erfindet das vernünftige Gewissen, ehe es philosophisch beschrieben wird.118
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Daß die Streitgedichte der provenzalischen Dichter, die ihre Fragen nur ausnahmsweise in die logische Struktur des Dilemmas kleiden (vgl. den Katalog der in provenzalischen Partimens behandelten Streitfragen bei NEUMEISTER, S. 201209), aber vernünftig und im Sinne der Sic-et-non-Methode argumentieren (ebd. S. 51-69), in die erste Phase dieser literarischen Erfindung gehören, scheint mir mit Ingrid KASTEN, Dilemma, unumstößlich. Der Gattungswechsel beim Übergang in die deutsche Literatur (ebd., S. 16) könnte auch damit zu tun haben, daß die Lösung der perplexen Situation immer erfordert, ihre Rahmenbedingungen zu verlassen, also durchzuspielen, wie sich Entscheidung bewähren kann und wie erst der Fortgang der Dinge die perplexio als logischen Trug erweist. Dieser Fortgang der Dinge muß dem Streitgedicht notwendig fremd bleiben, in der Epik ist er eine Notwendigkeit.
II. Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft des 13. Jahrhunderts 1. Die Notwendigkeit eines Gewissensbegriffs Für die Theologen des Mittelalters ergab sich die Notwendigkeit, über das Gewissen zu handeln, aus der Praxis der Bibelkommentierung. Die Septuaginta redete in Eccl. 10,20, Sir. 42,18 und Sap. 17,10 von συνείδησις; die Vulgata schreibt dafür im ersten Fall cogitatio, im zweiten scientia, im dritten, ebenso wie in der Mehrzahl der weit häufigeren neutestamentlichen aum'ÖTjaig-Stellen, conscientiaDie Grundbedeutung beider Benennungen ist 'Bewußtsein', näher: 'handlungsbegleitendes Bewußtsein'; im Neuen Testament gewinnt dieses Bewußtsein auch eine moralisch wertende Seite, ja conscientia kann die wertende Instanz selbst sein; auch als ein unbestechlicher, unbeteiligter Zeuge wird conscientia mehrfach in Anspruch genommen.2 Dennoch hat die Kommentierung der Stellen, die σννείδησις oder conscientia explizit erwähnen, nicht so nachhaltige Konsequenzen gehabt wie ein prominenter, patristischer Kommentar zum Visionsbericht des Ezechiel 1,6-8. Ezechiel sieht vier Gestalten mit mehreren Gesichtern, Menschenhänden und Flügeln. Hieronymus, der am Ende des 4. Jahrhunderts im Auftrag des Papstes Damasus die Vulgatfassung der lateinischen Bibel herstellte, fand offenbar diesen Visionsbericht schwierig, denn sein Kommentar weist auf Unstimmigkeiten zwischen hebräischer Überlieferung und Septuaginta hin. Seine Anmerkungen waren für die lateinische Kommentartradition begreiflicherweise eine kaum zu überbietende Autoritätsaussage. In seinem Erwägen der vorhandenen Deutungsansätze erwähnt Hieronymus auch: "Die meisten beziehen nach Plato das Verständige, das Zürnende und das Begehrende in der Seele, das jener als Xoyucov, θυμικό ν und έπίθυμητικόν bezeichnet, auf den Menschen, den Löwen und den Stier. [...] Das vierte halten sie für das, was sich über diesen dreien und außerhalb von ihnen befindet und was die
Systematische Erschließung der Stellen bei STELZENBERGER, N T . Vgl. REINER, Gewissen, Sp. 5 7 8 - 5 8 1 , STELZENBERGER, N T und PIERCE.
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Griechen als συνείδησις bezeichnen."3 Eine Erklärung zur συνείδησις, in der diese als scintilla conscientiae, als Funke des Gewissens, bezeichnet wird, ist relativisch angeschlossen, so daß es zwar in einer längeren Passage um συνείδησις geht, aber das Wort nur einmal fallt. Die Auslegung des Hieronymus ist separat überliefert,4 aber auch für einen im 12. Jahrhundert in Laon zusammengestellten Standardkommentar zur Heiligen Schrift (für die Glossa ordinaria) ausgebeutet worden. Diese Glossa ordinaria war über Jahrhunderte sehr verbreitet; sie ist noch im 16. Jahrhundert mit der Bibel zusammen abgeschrieben oder gedruckt worden. Für die Autoritätsberufungen mittelalterlicher Gelehrter garantierte die Verbreitung einer Lesart am ehesten ihre Richtigkeit, die Zugehörigkeit zu einer Vulgatfassung war also ein entscheidendes textkritisches Kriterium für einen philologisch vertrauenswürdigen Text. Gerade bei wichtigen, in den Schulen gemeinsam gelesenen und memorierten Texten garantierte dieses philologische Prinzip tatsächlich eine relativ geschlossene Tradition, denn wenn man auf der Buchseite gerade das wiederfand, was man als den aus einer anderen Vorlage memorierten Wortlaut wiedererkannte, durfte man dieses Buch getrost wiederum kopieren. Es ist nun eine Tatsache, daß in Handschriften des 13. Jahrhunderts im Hieronymuskommentar zu Ezechiel regelmäßig nicht mehr syneidesis stand, sondern synteresis (was griechisch 'Bewahrung' heißt), oft in der (mit lateinischen Buchstaben ausgeführten) Graphie synderesis oder sinderesis. In der Forschung sind widersprüchliche Interpretationen dieses Befundes vorgetragen worden; durchgesetzt hat sich die Auffassung, daß eine vielkopierte Vorlage an einem Knotenpunkt der Überlieferung - möglicherweise in dem Moment, als die Handschriften der Glossa ordinaria im Unterrichtsbetrieb als Textsammlungen die Stelle der verstreuten Kommentare zu vertreten begannen syneidesis zu synteresis verschrieben hatte.5 Weil Griechischkenntnisse nicht zum Standard wissenschaftlicher Ausbildung gehörten und die Worte einander ähneln, kann dieser Irrtum leicht unbemerkt geblieben sein. Da Hieronymus die συνείδησις mit der conscientia erklärt, sie aber von dieser als deren selbst
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Plerique, iuxta Platonem, rationale animae et irascentiuum et concupiscentiuum, quod ille λογικοί» et θυμικόν et ίτιθυμητικόν uocat, ad hominem et leonem ac uitulum referunt [...] quartumque ponunt quae super haec et extra haec tria est, quam Graeci uocant συνείδησιν. Hieronymus, In Hiezechielem I, i, 6/8, CCSL 75, Turnhout 1964, S. 11,209-12,218. Vgl. das Vorwort zur Ausgabe Hieronymus In Ez., CCSL Bd. 75 S. VII-XVII, ebd. S. VIII-X. Die erste Übersicht zu dem Problem lieferte LEIBER 1912; WALDMANN 1938 hat die vorausgehende Auseinandersetzung noch einmal geprüft. Seine Stellungnahme gilt seitdem als konsensfähig, vgl. GLORIE 1964 in CCSL 75 S. 10 und REINER, Gewissen, Sp. 582.
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Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
im schlimmsten Sünder fortbestehenden Funken unterschieden hatte, bildete sich nun in der Auseinandersetzung mit seiner Bestimmung ein Begriffspaar, das die Gewissensdiskussion nachhaltig prägte: Einerseits gab es das Gewissen als conscientia, anderseits eine sittliche Instanz, die zur menschlichen Natur gehörte und das Gewissen erst ermöglichte, einen Gewissensgrund also: die synderesis. Das bindet die scholastische Diskussion um das Gewissen eng an das Naturrechtsproblem und läßt sie bei den meisten Autoren zweisträngig verlaufen. Die zweite Notwendigkeit zu Reflexionen über das Gewissen entstand aus den Überkreuzungen von Traditionsgut, insbesondere vonaugustinischem und aristotelischem, in denen sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine philosophische Ethik herausbildete und als Wissens- und Wissenschaftsgebiet etablierte. Als mittelalterliche Denker darangingen, ethische Systeme herzuleiten, standen ihnen mehrfache Widersprüche zwischen höchsten Autoritäten im Wege. Der erste fand sich bei Augustin, der zwar die Lehre vom freien Willen begründet und damit eine sinnvolle Einbindung des biblischen Begriffs der Sünde ermöglicht, diese Lehre im Spätwerk jedoch wieder zurückgenommen und damit den Spielraum sittlicher Entscheidung des Menschen im Grunde beseitigt hatte.6 Der zweite betraf den grundlegend anderen Ausgangspunkt des Aristoteles, dessen Ethik man aber, da er für Logik und Metaphysik inzwischen zur ersten Autorität avanciert war, kaum stillschweigend übergehen konnte, wenn die Ethik irgend mit Ontologie und Metaphysik zu tun haben sollte.7 Sünde ist kein aristotelischer Begriff, und biblisch - und augustinisch - ist die Sünde immer bipolar gedacht: als Gegensatz zu einem Wohl verhalten im Sinne des göttlichen Willens. Was dagegen in der aristotelischen Auffassung von Tugend allenfalls als Sünde interpretiert werden könnte, tritt immer paarweise auf und ist relational zu einer jeweiligen Mitte gefaßt, deren Bestimmung ganz dem Bereich des Menschlichen angehört. Die dreiwertige geht in der zweiwertig polarisierten Denkweise nicht ohne weiteres auf. Auch die Einübung ins Richtige und die aristotelischen Vorstellungen von praktischer Vernunft waren in die augustinische Denkwelt schwer übertragbar und übersetzbar, selbst wenn man ein Augustinkorpus ohne das Spätwerk hätte zugrundelegen wollen.
6
V g l . F L A S C H , A u g u s t i n , S . 172-226; F L A S C H , S c h r e c k e n , S .
7
Der Rationalitätsschub durch die Einbeziehung von 'De anima' im universitären Unterricht hat sich erst in mehreren Anläufen durchgesetzt, er war aber unvermeidlich, wie FLASCH, Verurteilung, S. 30 zusammenfaßt: "Die expandierende Gesellschaft des 13. Jahrhunderts konnte nicht den Wissensbegriff der monastischen Zeit beibehalten".
19-138.
Die Notwendigkeit eines Gewissensbegriffs
61
Nun konnte man den theologischen Zentralbegriff der Sünde unmöglich fallenlassen. Den rigiden Konsequenzen der augustinischen Gnadenlehre aber einen Entwurf entgegenzustellen, der sittliches Leben nicht tendenziell entwertet - denn so ist es beim späten Augustin8 -, mußte ein Anliegen eines von der Kirche als Organisationsform ausgehenden Denkens sein. So wurden einige der von Augustin vor 397, dem Jahr seiner Hinwendung zur radikalen Gnadenlehre, eingeführten Bestimmungen des Verhältnisses von Mensch und Gott in der mittelalterlichen Ethik allmählich aristotelisch angereichert, untermauert und angefüllt: Man verteidigte Augustin mit Aristoteles gegen Augustin. Das Gewissen war beim Augustin bis 'Ad Simplicianum' ein durchaus positiv besetzter Begriff und eine sinnvolle Annahme: Es repräsentierte das Ich vor Gott, was immer noch unterstellt, daß der Mensch sich in gewissem Maße selbst rechtfertigen kann.9 Dasselbe Gewissen würde bei dem Augustin nach 397 den ebenso fruchtlosen wie anmaßenden Versuch unternehmen, menschliche Handlung nach einem am Göttlichen orientierten Maßstab zu richten.10 In einer systematischen Herleitung ethischer Theorie konnte es aber sinnvoll sein, den Begriff beizubehalten und nach Möglichkeit aristotelisch aufzufassen - als Habitus oder als Akt -, obgleich συνει'δησις bei Aristoteles nicht bestimmt wird. Ein Gewissensbegriff eignete sich nämlich gut zur Vermittlung des Denkmusters von Sünde und Weltgericht mit der Ziel-
8
V g l . FLASCH, S c h r e c k e n , S. 3 2 - 4 2 .
9
V g l . STELZENBERGER, A u g u s t i n u s und REINER, G e w i s s e n , Sp. 5 8 0 .
10
Ad Simplic. 1,2,16: Sunt igitur omnes homines - quando quidetn, ut apostolus ait, in Adam omnes moriuntur. a quo in uniuersum genus humanum origo ducitur offensionis dei - una quaedam massa peccati supplicium debens diuinae summaeque iustitiae, quod siue exigatur siue donetur, nulla est iniquitas. A quibus autem exigendum et quibus donandum sit, süperbe iudicant debitores, quemadmodum conducti ad illam uineam iniuste indignati sunt, cum tantundem aliis donaretur, quantum Ulis redderetur. ltaque huius impudentiam quaestionis ita retundit apostolus: Ο HOMO, TV QVIS ES, QVIRESPONDEAS DEO? FLASCH, Schrecken, S. 200-202, Text identisch mit ed. MUTZENBECHER in CCSL 44, Turnhout 1970, S. 4 1 , 4 6 7 - 4 2 , 4 7 6 . Walter SCHÄFER übersetzt in FLASCH, S c h r e c k e n , S. 2 0 1 - 2 0 3 :
"Da nun, wie der Apostel sagt, in Adam alle sterben - hat sich doch von ihm als dem Ursprung die Beleidigung Gottes über das ganze Menschengeschlecht ausgebreitet, - so sind folglich alle Menschen wie ein einziger Sündenklumpen, der von der höchsten Gerechtigkeit die Todesstrafe verdient hat. Wird sie eingefordert oder erlassen, so ist beides keine Ungerechtigkeit. Urteilen die Schuldner darüber, von wem sie einzufordern und wem sie zu erlassen ist, so geschieht dies in hochfahrendem Stolz, so wie die für den Weinberg gedungenen Arbeiter sich zu Unrecht entrüsteten, als anderen ebensoviel geschenkt wie ihnen bezahlt wurde. Die Unverschämtheit dieser Frage weist der Apostel daher so zurück: Ο MENSCH, WER BIST DU DENN, DASS DU MIT GOTT RECHTEN WILLST?"
62
Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
Stellung sinnvollen, auf Glückseligkeit gerichteten Lebens in der Welt. Er war zu solcher Vermittlung insbesondere dann befähigt, wenn man ihn auf eine naturrechtliche Anlage im Menschen bezog, denn dann konnte die Habituslehre des Aristoteles übernommen und die praktische Vernunft in ihre Rechte eingesetzt werden. Augustin hatte, über seine ausdrücklichen Studien und Auseinandersetzungen hinaus, viel von der Stoa in ihrer lateinischen Spielart profitiert." Das muß seinen mittelalterlichen Rezipienten nicht notwendig klar gewesen sein, aber gerade Cicero und Seneca standen auch bei mittelalterlichen Denkern in hohem Ansehen und wurden häufig zitiert. Hier ist auf jeden Fall neben der Vermittlung Augustins auch mit einer direkten Rezeption zu rechnen. Nun kennen sowohl Cicero als auch Seneca einen Gewissensbegriff, 12 und zwar mit einiger Notwendigkeit: 13 Er benennt die Vorstellung personaler Identität, und zwar einerseits faktisch, so daß der einzelne Mensch stets als Rechtsnachfolger seiner selbst gedacht ist, sich also auch seine vergangenen Taten zurechnet; anderseits wertend, weil die bejahende Übereinstimmung mit sich selbst gewissermaßen die Normallage ist, der gegenüber das Gewissen wie ein empfindliches Instrument alle Abweichungen anzeigt. Die Selbstidentität ist dabei nicht als ein reflexiver Bezug einer einheitlichen Entität auf sich selbst gedacht, sondern als der anzustrebende Zustand der Bündelung eigentlich heterogener Rollen zu etwas Einheitlichem. Forschner umschreibt diese vier Rollen, die bei Cicero personae
heißen,14 als "die
Vernunftfahigkeit, die der Mensch mit allen Menschen teilt"; "die physische, mentale und temperamentale Natur des Individuums"; "die zufälligen Determinanten personaler Identität" und schließlich als die "vom Lebensstil und der Laufbahn, [ . . . ] die man sich selbst wählt", bestimmte Rolle. 15 Weil diese Einheit also kein reiner Naturzustand ist, sondern im Lebenslauf immer
11
12 13
14 15
Namentlich Cicero hat Augustin nach dessen eigenen Aussage beeinflußt, aber man muß auch mit unreflektierter Übernahme rechnen, gerade bei verbreitetem Schulgut und auch für Augustins Adressatenkreis, wie FLASCH, Augustin, S. 2325 ausführt. Vgl. REINER, Gewissen, Sp. 577. Maximilian FORSCHNER handelt die Stoa in DERS., Glück, S. 45-79 unter der Überschrift 'Glück als personale Identität' ab und versteht dabei Identität nicht nur als faktische Übereinstimmung eines Menschen mit sich selbst, wie sie durch andere wahrgenommen werden kann, sondern als eine bejahende Identität der Innensicht: "Der alles beherrschende Gesichtspunkt ihrer TTieorie des Glücks ist offensichtlich personale Identität. Dies belegen die doxographisch tradierten Formeln: Wer tugendhaft lebt, liegt nicht mit sich und der Welt im Streit, lebt nach einem einzigen Logos [...]". Ebd. S. 47. Zum Person-Begriff vgl. auch FUHRMANN, Persona. FORSCHNER, Glück, S. 78.
Die Notwendigkeit eines Gewissensbegriffs
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wieder hergestellt werden muß, ergibt sich die sinnvolle Annahme eines Ichbewußtseins als einer Instanz, die gerade diese ständige Bündelungsleistung reflektiert. Das ist die συνείδησις, das Bewußtsein seiner selbst als eines sittlichen Wesens, bei den lateinischen Autoren conscientia. Die verhaltensregulierende Funktion, die dieser inneren Instanz zugeschrieben wurde, und die Ausbildung von Selbsttechniken, die an die conscientia gebunden waren - wie die regelmäßige Gewissensbefragung -, waren einer Rezeption durch die mittelalterliche Ethik günstig.
2. Gewissen voraristotelisch: Der Stand im 12. Jahrhundert Das 12. Jahrhundert ist philosophisch von der Auseinandersetzung des Abälard und des Bernhard von Clairvaux geprägt. Auch in der Lehre vom Gewissen markieren die beiden Namen völlig unterschiedliche Positionen. Das ist insofern kein Zufall, als sich ein konsistenter Begriff vom Gewissen erst bilden kann, wenn die religiöse Forderung nach vorschriftsgemäßem Leben unter dem philosophischen Blickwinkel des ethisch Guten beleuchtet wird. So waren auch die patristischen Ansätze zur Reflexion über den Begriff entstanden. Die philosophischen Fragen an eine religiöse Ethik waren sowohl für Augustin als auch für Hieronymus noch lebendiges Traditionsgut, erlebte Bildungsvoraussetzung, die nicht ignoriert werden konnte. Sie waren aber, nicht zuletzt im Gefolge der augustinischen Wissenschaftsabwertung, über Jahrhunderte so zurückgedrängt worden, daß die Normativität des Guten nur noch aus dem Anspruch abgeleitet wurde, daß es göttlich vorgeschrieben sei. Reflexe davon finden sich sogar noch bei Thomas von Aquin.16 Diese zeitweilig abgewehrten Fragen drängten sich dem 11. Jahrhundert wieder in den Vordergrund, denn die Spezialisten für Kirchenrecht unter den mittelalterlichen Juristen hatten mit ihren Zusammenstellungen einander widersprechender Vorschriften biblischer und theologischer Autoritäten deutlich vor Augen geführt, daß die Normierung menschlicher Handlungen auf Interpretation beruht, so daß selbst dann, wenn die Grundgesetze als göttlich verfaßt galten, jede Einzelnorm für vernünftige Erwägung und Prüfung freigegeben werden mußte.17 Nachdem die Kanonisten selbst ein Ja-Nein-Verfahren begonnen
16 17
Vgl. dazu unten im Abschnitt 6 dieses Kapitels. GRABMANN, Methode I, S. 234-246 hat dargelegt, wie sehr diese Entwicklung der Herausbildung der scholastischen Methode in der Theologie zuarbeitet. In der Kanonistik findet die Auseinandersetzung um die Methode der Entscheidungsfindung mit Gratian einen vorläufigen Abschluß, in der Theologie verbindet sie sich am Ende des 12. Jahrhunderts mit der Aristotelesrezeption und beginnt deshalb
64
Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
hatten, 1 8 w a r A b ä l a r d in ' S i c et n o n ' z w a r aufsehenerregend,
aber nicht
direkt m e t h o d i s c h anzufeinden, 1 9 wohl aber für die Inhalte, die er der M e thode u n t e r w o r f e n hatte. D i e Tendenz w a r der im 4 . und 5 . Jahrhundert, in d e r Väterzeit, g e n a u entgegengesetzt: Jetzt stritten wieder theologische N o r mativität und philosophische E t h i k u m die B e w e r t u n g der einzelnen Handlung und u m die Ausrichtung des menschlichen L e b e n s , nun g e h ö r t e die philosophische E t h i k nicht m e h r zu einem wohl oder übel m i t g e t r a g e n e n
Erbe,
sondern zu einer wohl nötigen, wenn auch üblen neuen D e n k r i c h t u n g . D i e s e s nach v o r n Offene in Abälards ethischen L e h r e n findet sich a u c h in seinem a m W i s s e n orientierten Gewissensbegriff conscientia
wieder, der sich mit innerer
N o t w e n d i g k e i t an d e m beharrenden, theologisch normativen des Bernhard v o n Clairvaux
rieb.
A b ä l a r d hat im 1 3 . Kapitel seiner E t h i k ( ' S c i t o te i p s u m ' ) e r w o g e n , o b eine Handlung a u c h demjenigen als Schuld anzurechnen sei, der die N o r m , g e g e n die er damit verstößt, nicht kennt. In diesem Z u s a m m e n h a n g spricht e r v o n conscientia.
D e r T e x t des Kapitels ist weniger eindeutig als seine geläu-
fige Z i t a t i o n n a c h der nicht sicher v o n Abälard herrührenden Titelzeile ' N o n est p e c c a t u m nisi c o n t r a c o n s c i e n t i a m ' , 2 0 denn Abälard neigt auch zu der
18
19
20
dort erst zu blühen, als sie in der Kanonistik im wesentlichen als entschieden betrachtet wird. Nach GRABMANN, Methode I, S. 2 3 4 - 2 3 9 ist Bernold von Konstanz, gest. 1100, der erste, der einen solchen Versuch literarisch unternommen und zudem methodisch reflektiert hat. Aber auch die Kanonessammlung des Kardinals Deusdedit von 1087 hat sich bereits mit den Möglichkeiten einer inhaltlichen Konkordanz befaßt, vgl. ebd. S. 2 3 9 . GRABMANN, Methode II, S . 2 0 6 - 2 0 7 argumentiert so: Die Gegner und Feinde Abälards haben dennoch gegen die Methode von 'Sic et non' keinen Protest eingelegt, und trotz zweimaliger Verurteilung Abälards ist sie sogar weiterentwikkelt worden. Folglich war das Inkriminierte nicht die Methode, sondern es waren spezifische Inhalte. Das stimmt sicher nicht, denn wendet man dasselbe Denkmuster auf die Aristotelesverbote an, so ergäbe sich, daß der strenge Aristotelismus nicht als Methode verpönt war, weil Aristoteles weiter gelesen und an seiner Interpretation weiter gearbeitet wurde, und daß David von Dinant und Siger von Brabant allein wegen methodenunanhängiger spezifischer Lehrsätze verurteilt worden seien. Ich merke das nicht an, um gegen einen großen Gelehrten in den Punkten seiner Befangenheit aufzutrumpfen, sondern weil GRABMANN dennoch in gewisserWeise Recht hat, nämlich was das offizielle Auftreten gegen Abälard und das Argumentieren unter philosophisch interessierten Gelehrten anging. Von den fünf von LUSCOMBE zur Edition herangezogenen Handschriften haben zwei keine Kapitelüberschriften, eine der drei anderen, die solche enthalten, variiert gerade darin stark gegenüber den verbleibenden zwei Textzeugen, vgl. Abaelard, Ethica ed. LUSCOMBE, S. X L I - L X . Gerade in den frühen, noch dem 12. Jahrhundert angehörenden Hss. Α und Β (elm 14160 und clm 2 8 3 6 3 ) ist der Befund nicht eindeutig: Α hat Überschriften, vgl. LUSCOMBE ebd. S. X L I , in Β
Gewissen voraristotelisch: Der Stand im 12. Jahrhundert
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Ansicht, daß es ein Unwissen gäbe, das selbst schon eine Verfehlung darstellt und nicht entschuldigt. Die Bedeutung 'Es gibt keine Sünde außer der gegen das Gewissen'21 ist vom Rechtsbegriff peccatum her aufgefaßt, also von der juridisch verfolgbaren Verfehlung, für die kirchliche Rechtsinstanzen zuständig sind, und conscientia ist in erster Linie Bewußtsein von der Tat und den Normen, unter denen sie steht, der Sinn ist: Eine Tat ist nur dann eine Verfehlung im strafrechtlichen Sinn des geistlichen Gerichts, wenn der Täter wider besseres Wissen gehandelt hat. Ohne Kenntnis von den elementaren Überzeugungen eines Christen kann ein Mensch zwar vor Gott nicht gerettet werden, aber Sünde im juristischen Sinn ist seine Unkenntnis nicht. Nun müßte Abälard die Verfolger Christi und der Märtyrer freisprechen. Das wäre eine Ungeheuerlichkeit aus theologischen Gründen. Er bleibt deshalb dabei, sie nicht rundheraus schuldig sprechen zu können, fuhrt aber die Worte am Kreuz nach dem Lukasevangelium als Indiz dafür an, daß es doch etwas zu vergeben gäbe, also Schuld und Strafe vorauszusetzen seien. Das heißt, daß Unwissen nicht entschuldigt, wenn das Unwissen selbst Sünde ist. Das ist bei seinen Gegnern auch so: Wer seit Christi Lebenszeit auf der Erde gelebt hat und kein rechtgläubiger und gutunterrichteter Christ ist, der sündigt durch sein Unwissen von den Normen, nach denen er gerichtet wird.22 Abälard hat sein Sic et Non zu dieser Frage nicht genau spiegelbildlich konstruiert: Die Feststellung, daß eine Tat nach bestem Gewissen nicht als Sünde aufgefaßt werden könne, bezieht sich auf menschliche Urteilsfähigkeit; das Lukasevangelium und die Stephanuslegende, die die Argumente dagegen stellen, stammen aber aus einer ganz anderen Hierarchiestufe des Urteils und der Urteilsbegründbarkeit: Was vor Gottes Sohn und den Heiligen Schuld und Verfehlung ist, darüber können Menschen nicht diskutieren. Dadurch bleibt, solange es auf menschliches Urteil ankommt, die zuerst entwickelte Position daß nämlich ein Handeln nach bestem Wissen und Bewußtsein nicht Sünde ist, zumindest nicht wegen des Sachverhalts, auf den sich das Bewußtsein
21 22
fehlen sie, ebd. S. XLV. Α scheint aber inhaltlich eine anti-abälardische Sammlung zu sein, vgl. ebd. S. XLI-XLIV. Deshalb muß man wohl mit der Möglichkeit rechnen, daß der meistzitierte Satz von Abälard eine tendenziöse Zusammenfassung aus dem Lager seiner Gegner ist, geprägt zum Zwecke der Kritik. So aufgefaßt: FLASCH, Denken, S. 222; REINER, Gewissen, Sp. 581. Wilhelm von St. Thierry hat gegen Abälard disputiert und dabei besonderen Bezug auf das Problem der Unwissenheit und des Gewissens genommen: Disputatio adversus Petrum Abaelardum, PL 180, Sp. 249-282, cap. 13, hier Sp. 282. Er gibt Abälard verkürzt wieder, und zwar in demselben Sinne wie die Kapitelüberschriften einiger Codices: Dicil per ignorantiam nullum fieri peccatum. Dicit quoniam si ideo gentilis Judaeus contemnit fidem Christi, quia contrariam earn credit Deo, non peccat, ebd.
66
Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
gerade bezog - in systematischer Hinsicht unwiderlegt. Nebenbei bedeutet das, den Heiden nicht mehr schlicht Unwissen zur Last zu legen, sondern deren grundsätzlich andere Bewußtseinslage anzuerkennen. Damit hat sich die Bedeutung von conscientia gewandelt, das Bewußtsein ist zum Gewissen geworden, aber es ist, anders als bei Bernhard und Wilhelm, ein vernünftiges Gewissen: Das Gewissen ist für den handelnden Menschen die letztmögliche Instanz zur vernünftigen Beurteilung seiner eignen Angelegenheiten. Selbst wenn er falsch handelte: Er sündigt nicht dadurch, daß er seinen Überzeugungen folgt. Diese Position wird erst nach mehr als hundert Jahren wieder zu Ehren kommen, und zwar durch Thomas von Aquin.23 Gleichzeitig hat Abälard in diesem Kapitel eine Umkehroperation erprobt, die die späteren Autoren von ihm übernehmen sollten: Die gute Handlung setzt Einklang mit dem Gewissen voraus, aber Einklang mit dem Gewissen macht eine Handlung noch nicht gut.24 Das ist der Keim zur Lehre vom irrenden Gewissen, wie sie bei Thomas und Bonaventura entwickelt werden sollte. Bernhard hat keine eigene Konzeption einer Gewissenslehre hervorgebracht; er hat die heterogenen Erwähnungen von conscientia in Schrift und Vätern zitiert und in ebenso heterogener Weise fortgesetzt.25 Er betont conscientia als Mittlerinstanz zu Gott und erklärt das gute und böse Gewissen in seiner geistlichen Funktion, ohne nachdrücklich zu fragen, was das Gewissen wesentlich sei.26 Delhaye merkt als Kuriosum an, daß in den zahlreichen, nicht eben zurückhaltenden Äußerungen Bernhards gegen Abälard Gewissen und Intention, wie überhaupt Moraltheologie und Ethik, keine Rolle gespielt hätten.27 Abälard war möglicherweise der größte Denker des beginnenden 12. Jahrhunderts, Bernhard einer der wichtigsten Politiker - mehr Einfluß als beide hat auf die Entwicklung der Theologie und Philosophie im Mittelalter ein kleinerer Kopf ausgeübt: Petrus Lombardus. Seine Sentenzen, die eine Zusammenstellung theologischer Autoritätszitate nach systematischen Gesichtspunkten darstellen und insofern auf Abälard aufbauen, als sie in den strukturierenden Kommentaren und in den Gliederungen der Autoritäten eine Abwägung des Dafür und Dagegen darbieten, sind im gesamten 13. Jahrhun-
23
Vgl. unten, Abschnitt 6 in diesem Kapitel.
24
V g l . GANDILLAC, I n t e n t i o n , S .
25
V g l . DELHAYE, S .
26
Vgl. DELHAYE, S. 23-31. DELHAYE, S. 89. Für den Kreuzprediger Bernhard mußte zwangsläufig ein Gedanke wie der, daß Heiden nicht einfach nicht wissen, sondern anderes wissen und deshalb auch ein anderes Gewissen haben, selbst in der Form bloßer Erwägung wie ein persönlicher Angriff wirken. Daß er auf diesem Felde nicht argumentiert zu haben scheint, paßt leider gut ins Bild.
27
593-595.
11.
Gewissen voraristotelisch: Der Stand im 12. Jahrhundert
67
dert und fortan bis zur Reformation zum Schulwerk geworden, die Auseinandersetzung mit ihnen ist Pflichtbestandteil des theologischen Studiums.24 Petrus Lombardus behandelt in der 39. Unterscheidung seiner Sentenzen die Frage, inwiefern der Mensch von Natur aus gut sein und der menschliche Wille dabei gleichzeitig als böse bestehen könne. Er zitiert hier die Hieronymus-Stelle von der scintilla conscientiae.25 Durch die Praxis der Sentenzenkommentierung war die künftige universitäre Theologie nicht nur gezwungen, sich mit den Problemkomplexen von natürlicher Sittlichkeit und sittlicher Entscheidung zu befassen, sondern sich bei solchen Erörterungen auch auf das Begriffspaar conscientia - synderesis zu beziehen.
3. 'Sitz im Leben' Die Reflexionen über Gewissen, die die hochscholastische Ethik anstellt, sind keine einfachen Fortschreibungen geistiger Traditionen. Die Zuwendung zu dem Problem kommt nur zu einem Teil aus einer Art von Systemzwang zustande; zu einem anderen Teil reagiert sie auf praktische Erfordernisse. Das 4. Laterankonzil von 1215 hatte jedem Christen die Beichte zu Ohren seines Priesters mindestens einmal im Jahr zur Pflicht gemacht.26 Formal allerdings bestand Beichtpflicht seit der Karolingerzeit.27 Winfried Trusen hält die Konzilsbestimmungen sogar für "die Sanktion einer Minimalforderung aus seelsorglichen Gründen",28 und er beruft sich dabei auf die Äußerung Raymunds von Pennaforte, das Konzil habe gegen jene beschlossen, die die Buße vernachlässigten.29 Allerdings merkt Trusen in demselben Aufsatz auch an, daß die beschränkte Anzahl der Pfarrkirchen in vielen Regionen Deutschlands und ganz Europas eine konsequente Beobachtung des
24
25
26
27 28 29
Vgl. GRABMANN, Methode II, S. 364-407. Die ersten Sentenzenkommentare gehören noch dem Ende des 12. Jahrhunderts an: Petrus Comestor (gest. 1176), Petrus von Poitiers (gest. 1205), vgl. ebd. S. 393. Superior enim scintilla rationis, quae etiam, ut ait Hieronymus, in Cain non potuit extingui, bonum semper vult el malum odit. Lib. II dist. XXXIX cap. 3. PETRUS LOMBARDUS, Sent. Bd. 1.2, S. 556. OHST, Pflichtbeichte, hält neuerdings wieder dafür, daß diese Bestimmung doch - bei aller formalen Anknüpfung an frühere Forderungen - eine neue Qualität kirchlichen Umgangs mit der Buße bedeute, und betrachtet als wichtige Argumente dafür (S. 34), daß nach dem Kanon von 1215 alle Sünden gebeichtet werden müssen (also nicht nur die Todsünden) und daß diese Beichte der Kommunionpflicht zugeordnet wird. Vgl. BROWE, Pflichtbeichte, S. 342-343; TRUSEN, Bedeutung, S. 258. TRUSEN, B e d e u t u n g , S. 2 5 8 . V g l . TRUSEN, e b d . u n d R a y m u n d d e P e n n a f o r t e , S u m m a d e p a e n i t e n t i a , e d . OCHA/DIEZ, S. 826.
68
Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
Bußsakramentes und damit der (alten) Beichtpflicht bis ins 13. Jahrhundert gar nicht zugelassen hätte,30 was ja doch wohl bedeutet, daß der Konzilsbeschluß als eine Art von Absichtserklärung zu bewerten sei, die praktische Möglichkeit zur Durchsetzung einer alten Forderung nun auch für die Bedingungen der Massenkirche bei dichterer Bevölkerung zu schaffen. Als eine solche praktische Möglichkeit versteht Trusen den "Einstieg der Franziskaner und Dominikaner in die Seelsorge um die Mitte des 13. Jahrhunderts":31 Dieser Einstieg verschafft der "Verrechtlichung des Bußsakramentes", 32 die in der ersten Jahrhunderthälfte noch bloße - kanonistisch geprägte Sichtmöglichkeit33 war, lebensweltliche Wirklichkeit, weil die Rechtsbefugnis zum Beichthören und Absolvieren nunmehr nicht mehr an die ständige, ortfeste geistliche Oberaufsicht, die cura animarum der Pfarrkirchgeistlichkeit, gebunden war. Daß dieser Weg - und nicht etwa der des Ausbaus des regionalen Pfarrkirchnetzes - eingeschlagen wurde, um die Kirche wieder zu einem Kontrollsystem mit wirklichem Einfluß auf die Handlungsplanung der Menschen zu machen und sie mit überterritorialen, stabilen Befugnissen auszustatten, hat in der Zeit erbitterter Kämpfe zwischen Päpsten und Königen durchaus seine politische Logik. Dieser Schritt war aber, als die Päpste ihn gingen, nicht bereits durch einen theologischen Theorievorlauf abgesichert. Das betrifft nicht nur die Schlüsselgewalt, die neu bestimmt werden mußte;34 es betraf auch den Inhalt der Beichte. Es gab freilich seit der Karolingerzeit Bußbücher; aber sie enthielten, wie Franz Kerff herausgearbeitet hat, vor allem Vorschriften über die Ahndung eines objektiven Sachverhalts durch Bußzeiten, und diese "Bußzeiten waren [...] Verrechnungssätze für Geldsummen oder materielle Leistungen".35 Zudem hält Kerff "die Geltung lokaler Gewohnheitsrechte, die nicht mit dem allgemeinen, aus den Kanonessammlungen ersichtlichen Kirchenrecht übereinstimmten"36, für geradezu charakteristisch für diese Bußbücher; er sieht sie im Gebrauch der Beichtpriester, des Sendgerichts, der Diözesansynoden und der Visitatoren kirchlicher Einrichtungen.37 Für die Praxis, die mit dem Beicht- und Absolutionsrecht der Bettelorden
30
V g l . TRUSEN, B e d e u t u n g , S . 2 6 1 .
31
TRUSEN, B e d e u t u n g S . 2 5 9 .
32
Ebd. Zum Beispiel in der summa de casibus conscientiae des Raymund vop Pennaforte (vor 1238), vgl. TRUSEN, Bedeutung, S. 259.
33
34
V g l . TRUSEN, B e d e u t u n g , S . 2 5 9 .
35
KERFF, S . 5 2 .
36
KERFF, S . 5 5 .
37
V g l . KERFF, S . 5 4 .
'Sitz im Leben'
69
beginnen sollte, waren diese Bücher also mehrfach untauglich: Sie galten nicht überregional, sie staffelten nicht genau genug, und schließlich: Ihre Rücksicht auf Tatumstände, insbesondere auf die inneren Voraussetzungen der Tat, war äußerst mangelhaft ausgebildet.38 Wenn aber die Beichtpflicht tatsächlich durchgesetzt werden sollte, mußte klar sein, was Sünde sei und, da man Sünde nur korrelativ zu Wohlverhalten bestimmen kann, auch, was als sittliche Handlung anzusprechen sei. Mit diesen Begriffsklärungen allerdings war die Kanonistik überfordert. Immerhin gab sie der Diskussion einen wichtigen Anstoß: Sie verlangte die Einbeziehung der Handlungsumstände in einer operationalisierbaren Form. 39 Dafür stand die rhetorische Umstände-Lehre bereit.40 Die aber war an der Schuld vor den Menschen, nicht an der Schuld vor Gott orientiert. Wie nun Umstände, die nur als Indizien äußerlich wahrgenommen werden können, die innere Bewandtnis einer Schuld verändern, wodurch überhaupt im geistlichen Sinne Schuld entsteht und wie sie gemessen werden kann, war eine Frage an die Theologen. Tatsächlich haben Theologen des 13. Jahrhunderts, und hier vor allem die der Bettelorden, Theorien über die Sittlichkeit der Handlung und über die Sünde entwickeln müssen. Sie hatten diese Aufgabe den Kanonisten gegenüber vor allem in Hinsicht auf die innere Bewandtnis von Sittlichkeit und Schuld zu lösen; diese theoretische Bewegung der Internalisierung führte sie mit einiger Notwendigkeit auf einen so oder so ausgefüllten Gewissensbegriff. Aber die Beichte war keine Angelegenheit der Theorie. Zwar gehörte zum Funktionieren des Beichtinstituts, daß die neu ermächtigten Beichtiger auch geschult würden; hier scheinen im 13. Jahrhundert die Franziskanerstudien in Deutschland auf dem Gebiet der Rechte, die Dominikanerstudien auf dem der Theologie führend gewesen zu sein.41 Zugleich konnte das Beichtinstitut nur funktionieren, wenn die Menschen auch etwas zu beichten wußten. Das ist durchaus nicht selbstverständlich; jedenfalls weist das Vorhandensein der
38
V g l . TRUSEN, B e d e u t u n g , S . 2 6 4 .
39
V g l . TRUSEN, B e d e u t u n g , S . 2 6 4 .
40
Nach TRUSEN, Anfänge, S. 116-117 gibt es in Deutschland seit dem Ende des 12. Jahrhunderts an Dom- und Klosterschulen ein Lehrfach Rhetorica ecclesiastica, das die spezielle Rhetorik der Rechtspflege - einschließlich der Rechtsgrundlagen beinhaltet. Vgl. TRUSEN, Bedeutung, S. 264; über die Ausstattung der Franziskanerbibliotheken im 13. Jahrhundert mit juristischen Handschriften vgl. DERS., Anfange, S. 121. Das Generalkapitel der Franziskaner erlaubt 1292 in den Ordensstudien den Unterricht im Recht getrennt von Theologiestudium, vgl. EHRLE, Konstitutionen, S. 108. Die Einschätzung der theologischen Überlegenheit der gleichzeitigen Dominikanerstudien übernehme ich von STURLESE, Philosophie, S. 316.
41
70
Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
Textsorte Beichtformular - also von Abfragelisten für die Hand des Beichtigers - darauf hin, daß durchaus nicht jeder Christ in der Lage war, aus eigenen Kräften herauszufinden, was er falsch gemacht habe und was davon zwingend gebeichtet werden müsse. Aus ebendiesen Texten ersieht man, wie Geffcken an einem spätmittelalterlichen Beispiel gezeigt hat, daß die Gefahr bestand, der Beichtiger lege dem Beichtenden Sünden in den Mund, die dieser gutwillig zugäbe, aber keineswegs begangen hätte - sei es aus Unverständnis oder aus dem Wunsch, die Prozedur ohne weiteren Aufwand zu beenden.42 Dieser Befund weist auf Veräußerlichung und Sinnentleerung hin. Stellt man ihn in den Kontext der schier unendlichen Ermahnungen mittelalterlicher Autoren zur Sorge um die eigene Seele, so liegt ein neuzeitliches Mißverständnis im Sinne der Langeweile nahe. Die Quellen weisen aber in eine andere Richtung: Die Einübung in ein Selbstverständnis im Sinne personaler Kontinuität und der beständigen Zuweisung begangener Handlungen zum eigenen Ich war offenbar einer der wenigen tatsächlichen mentalen Umschichtungsprozesse, die wir an Texten konkret greifen können.43 Sie gestaltete sich durchaus schwierig und langwierig. Zwar war sie kein geistesgeschichtliches Novum, sondern in monastischer Theologie und Frömmigkeit bereits erprobt. Aber gerade die Selbsttechniken, die in Klöstern und für Klöster zur kontemplativen Erschließung des eigenen sittlichen Ich entwickelt worden waren, griffen nun nicht einmal mehr für die neuen Klöster, denn die städtische und mobile Lebensweise der Bettelorden schuf eine ganz neue Verquickung von Leben in der Welt, Leben mit der Welt und Gehorsam gegenüber einer Ordensregel. Das sittliche Leben in der Welt war für Ordensangehörige neu zu regeln; der Bettelordensstreit an der Pariser Universität des 13. Jahrhunderts ist ein prominentes Indiz für diesen Rollenkonflikt. 44 Was nun Regelwerke für sittliches Leben von Laien angeht, so gab es dazu Ansätze in Fürstenspiegeln; die hinwiederum betrachteten den sittlichen Innenraum des Fürsten notwendig als eine Funktion seiner Herrschaft, so daß Strategien der Handlungszuschreibung und -Verantwortung
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Das Beichtbüchlein des Johann Wolff 1478 schlägt vor zu beichten: Ich habe den Kaiser mit der Axt erschlagen. Geffken kommentiert seinen Hinweis darauf mit der Feststellung, daß Beichtanleitungen nach dem Dekalogschema immer auf einem Grat wandern: Wohl geben sie mechanisch vor, wonach der Beichtende sein Gewissen abfragen solle; dennoch fassen sie nur das Bekenntnis wirklicher, 'authentischer' Sünden als heilend im geistlichen Sinne auf. GEFFCKEN, S. 26. Von einem anderen Ausgangspunkt hat sich CZERWINSKI, Glanz, mit diesem Problem beschäftigt. Vgl. ECKERT, Selbstverständnis, für Thomas von Aquin. Grundlegend nach wie v o r : SEPPELT.
'Sitz im Leben'
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eben nicht an die sittliche, sondern an die soziale Person angebunden werden.45 Die geschichtlichen Erfahrungen der Kreuzzugszeit, des veränderten sozialen Gefüges insbesondere in Hinblick auf die Rolle der Städte und schließlich der anhaltenden politischen Machtkämpfe in Europa drängten jedoch auf eine neue Problematisierung: Wie konnte der mittelalterliche Christ - denn solche Erfahrungen gingen durch alle Stände - in unübersichtlicher Zeit sein Leben im Blick auf künftiges Heil gestalten?46 Die Wendung nach innen, wie der Konzilsbeschluß von 1215 sie vorschlug, konnte demzufolge, ganz unabhängig von dessen unmittelbaren Ursachen, für die Orientierungsbedürfnisse breitester Kreise als ein tragfahiges Modell erscheinen: In einer unüberschaubar gewordenen Zeit versichere man sich des Gewissen, nämlich des eigenen Ich, und zwar nicht mehr von außen nach innen, von der Ordnung zum einzelnen, weil die Ordnung im Umbruch begriffen ist, sondern von innen nach außen, so daß die Welt als Lebensumwelt wieder begreifbar wird. Dafür reichten jedoch die monastischen Muster von Selbstvergewisserung nicht aus. Ziel neuer Modellierung mußte es sein, die innere Selbst- und damit Heilsgewißheit nicht um den Preis des Abschiedes von der Welt zu erreichen, sondern auf dem Handeln in der Welt aufzubauen und es zu werten, auf feste Werte zu beziehen. Die primären Ansprechpartner für solche Problemlösungen waren naturgemäß die Beichtväter. Aber insofern sie jetzt aus Bettelorden stammen konnten, hatte sich auch deren Existenzform verändert, so daß ihre Antworten, wenn sie sie geben wollten, auch auf eigene Lebensfragen Bezug nahmen. Das (von den Textbefunden immer wieder bestätigte) Bild der gestaffelten Scholastikrezeption von Wissenschaft über populäre Vermittlung an Beichtväter bis zu theoretisch trivialen Ergebnissen in der volkssprachlichen Predigt und Unterweisung führt leicht zu verkürzenden, einsinnigen Interpretationen. Die Wurzeln des Theorieschubes im 13. Jahrhundert betreffen das Selbstverständnis der Bettelorden im ureigensten Sinne; es sind Theorien, die über Unterweisung als (eigene) Lebensform handeln. Die Leitfrage 'Was darf, was muß man lehren?' steht ja auch über denjenigen Auseinandersetzungen, die an die universitäre Sphäre - und im Fall des Aristotelesverbotes von 1277 sogar an die Stadt Paris - gebunden blieben.47 Für die Unterweisung der
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46 47
Darum haben die Fürstenspiegel des Thomas von Aquin (unvollendet, Fortsetzung von Tholomäus von Lucca) und des Aegidius Romanus, die zum ersten Mal die Aristotelische Politik im Fürstenspiegel behandelten, die Gattung so stark umgeprägt. Die beste Übersicht über die scholastische Entwicklungsepoche der Gattung ist noch immer BERGES. Dazu GROSSE, Scrupulositas, S. 17-44. Vgl. FLASCHS Problematisierung des Begriffs Aufklärung für das Mittelalter in FLASCH, Verurteilung, S. 13-21.
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Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
Laien durch Orientierung auf ein Ich, das sich seiner selbst und dadurch seines Heiles gewiß ist, war der Weg über Buchgelehrsamkeit vollends unumgänglich; die heidnische Antike kannte nur das Leben in der Welt, und daß auch von den Heiden nach Christi Tod nützlich zu lernen sei, war zur unumstößlichen, weil empirisch bereits durchgesetzten Tatsache geworden. Die Vermittlung jener Lehren mit dem Christentum, dem vergleichbare fehlten, mußte im Kolleg und am Schreibtisch hergestellt werden, ehe sie an die Ordensstudien, auf die Kanzel oder in den Beichtstuhl gelangen konnte. So kommt eine vielfach gestaffelte Vermittlung gelehrter Ethik in Gang. Durch die Macht der Wiederholung und den äußeren Zwang zum Bezug auf das Ich des Beichtenden fanden die epochenprägenden Gedanken allmählich, und sei es auf trivialisierter Stufe, ins Alltagsbewußtsein Eingang. Dazu gehört, unabhängig von der konkreten Ausformung des entsprechenden Gedanken in einem möglichen theoretischen System und weit unterhalb davon, ein Vorstellungskern von personaler Identität dadurch, daß ein Ich sich als Subjekt seiner sukzessiven Handlungen begreift, weil es das Fortleben seiner Seele an die Summe dieser Handlungen und an ihre innere Tendenz knüpft.48
4. Verflechtungen Sieht man das Gewissensproblem vor diesem Hintergrund einer Neustrukturierung geistlicher Verwaltung in gesamteuropäischen Maßstäben, so springt seine Verflechtung mit anderen Problemkreisen ins Auge. Es sind dies die Fragen, was Sünde sei und wie eine Norm rechten Lebens gewonnen, begründet und vermittelt werden könne. An die Antworten stellten sich besondere Anforderungen: So sehr sie nur auf der Ebene schulmäßig betriebener Wissenschaft erwartet werden konnten, so unvermögend würden sie sich jedoch erweisen, wenn nicht noch eine weitgehende Trivialisierung und Loslösung von den Bedingungen ihres Findens ihren zentralen Kern würde bewahren können. Die Anbindung an die Beichte als Sitz im Leben hieß: Gewissensbegriff, Sündenvorstellung und Bild vom rechten Leben mußten durchaus theoretisch stringent gebildet werden, aber gleichzeitig in sich Ansätze zu einer Operationalisierung bieten. Die theoretische Modellierung mußte der lebenspraktischen Aufgabe Vorschub leisten, oder sie würde die Schulsphäre nie verlassen und sich nicht durchsetzen können. In dieser Lage gewannen biblische Argumente besondere Relevanz: Was in der Schrift stand,
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Stellvertretend für die reiche Literatur: FRANK/HAVERKAMP (HGG.), Individualität, und MARQUARD/STIERLE (HGG.), Identität.
Verflechtungen
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konnte für die Praxis der Religionsübung nicht gut abgelehnt werden. Biblisch argumentieren auf der Höhe der philosophischen Diskussion der Zeit, das hieß, zu fragen: Wie lebt man richtig? Woran erkennt man das Böse?, also uralte philosophische Fragen mit dem wiedergewonnenen Bewußtsein dieser Tradition neu zu stellen. Die Bibel hatte darauf Antworten, die es zu problematisieren galt: das Doppelgebot der Liebe und den Dekalog. Die Kreuzzüge hatten das Problem des edlen Heiden aufgeworfen. Das drängte dazu, über Naturrecht nachzudenken, denn die Handlungsnotwendigkeiten waren schon da, die Theorie dazu noch nicht; vielmehr: Die einseitigen Bekehrungsstrategien im Sinne der Kreuzpredigten Bernhards von Clairvaux hatten sich in ihrer Anwendung gerade als unzulänglich erwiesen. Philosophisches Verständnis eines rechten Lebens als Christ durfte die Warum-Fragen nicht aussparen: Wie hat Gott den Menschen gemacht, womit ihn ausgestattet? Warum ist der Mensch böse? Was ist warum gut? Wie soll man im Zweifelsfall das Gute tun? So wurde in der beginnenden Entfaltung scholastischer Ethik nicht nur das Gewissen, sondern sogar der Dekalog zum philosophischen Gegenstand, weil das Verhältnis von Naturrecht und positiver Norm bestimmt werden mußte und weil es zu klären galt, warum, wie und anhand welcher Maßstäbe der Mensch sittliche Urteile fälle. Die Neubestimmung des Gewissensbegriffs vor diesem Problemhorizont ging von der Beschäftigung mit der Aristotelischen Seelenlehre und Ethik aus. Zuvor gab es in der Scholastik keinen konsistenten Gewissensbegriff, und das, obgleich Aristoteles gerade diesen Begriff nicht thematisiert hatte. Eine gewisse begriffliche Konstanz gewann das Gewissen, das bis dahin kontextuell sehr unterschiedlich bestimmt werden konnte, erst, indem es in übergreifende Theorien sittlichen Handelns eingefügt wurde. Dabei griff man auf die durch die glossa ordinaria entstandene Verdopplung des Gewissens in conscientia und synderesis zurück und bestimmte die synderesis als sittliche Naturanlage, die conscientia als Instanz des einzelnen sittlichen Urteils. Nun mußte jeweils geklärt werden, welcher Fähigkeit der Seele diese beiden Gewissensteile angehörten, ob sie als Potenz, Akt oder Habitus zu bestimmen seien und wie sie wirkten.
5. Die franziskanische Gewissenslehre des 13. Jahrhunderts: Alexander von Haies und Bonaventura Die Neuerung, auf das Begriffspaar conscientia und synderesis die aristotelischen Beschreibungen von Potenz, Akt und Habitus anzuwenden, hat Alexander von Haies unternommen, der erste Lehrstuhlinhaber der Franziska-
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Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
ner in Paris.49 Die unter seinem Namen tradierte Lehre vom Gewissen versteht conscientia bereits wesentlich als Instanz der Handlungsplanung, also so, wie sie sich in den Kontext der aristotelischen Ethik gut einfügen läßt (wogegen der patristische Blickwinkel wesentlich retrospektiv war). Dabei räumt seine Gewissenslehre im Sinne der objektiven Moral ein, daß es definitiv Gutes und definitiv Böses gebe (determinate bona und determinate mala).x Das Gewissen bindet nur, wenn die Handlung objektiv gut ist, und dafür liegt das Maß in den Geboten bereit. Ist die Handlung objektiv schlecht, muß das Gewissen sich ändern. Nur bei Handlungen, die nicht unter ein Gebot fallen, bindet das Gewissen unbedingt. Gutes Gewissen gibt es also eigentlich nur, wenn das Gewissen gleichzeitig im Recht ist. Um diese Ansichten zu begründen, hat Alexander beide Gewissensbegriffe gleichsam verdoppelt: Die synderesis als sittliche Naturanlage gibt es im Verstand und im Willen, die conscientia hat einen angeborenen und einen erworbenen Teil. Die Naturrechtsinstanz im Menschen fällt für ihn secundum rem, also der Sache nach, in Verstand und Willen zusammen. Sie ist eine natürliche Haltung der Seele, eine potentia habitualis. Im Willen richtet sie aus, im Verstand ist sie ein natürliches Licht (lumen naturale). Das Gewissen als conscientia kann Habitus oder Akt sein: als Habitus angeboren, als Akt erwor-
49
FELDER, S. 195 hat den terminus post quem für Alexanders summa mit 1226 bestimmt. HAMELIN, S. 4 setzt den Anfang der Arbeit um 1236 an. Alexander ist 1245 gestorben, und 1256 hat Papst Alexander IV. die Franziskaner angewiesen, dessen Summa fertigzustellen, vgl. FELDER, S. 208f. Nach HAMELIN, S. 4 sind die ersten drei Teile der Summa vor Alexanders Tod entstanden, der vierte später. Der erste Teil der Summe ist in seiner überlieferten Gestalt vollständig, vom zweiten Teil an gibt es Blindverweise, die auf nicht ausgeführte Teile schließen lassen, vgl. FELDER, S. 192. Die Echtheits- und Zuschreibungszweifel von Interpreten beginnen bei den Zeitgenossen. Roger Bacon schreibt im Opus minus, ed. BREWER, S. 326: Ex suo ingressu fratres et alii exaltaverunt in coelum, et ei dederunt auctoritatem totius studii, et adscripserunt ei magnam Summam illam, quae est plusquam pondus unius equi, quam ipse non fecit sed alii. Et tarnen propter reverentiam ascripta fliit, et vocatur Summa fratris Alexandri. El si ipse earn fecisset vel magnam partem, tarnen non legit naturalia nec metaphysica nec audivit ea, quia non fuerunt libri principales harum scientiarum nec commentarii translati quando rexit in artibus. Vgl. GILSON, Philosophie, S. 436. Wahrscheinlich sind die Teile I und III von Jean de la Rochelle redigiert worden, Teil II hatte einen unbekannten Redaktor, vgl. HAMELIN, S. 4. Wegen der erweisbaren Übereinstimmung auch dieser Teile mit den Grundpositionen sicher echter Werke, etwa des Sentenzenkommentars (ed. Quaracchi 1951), sagt HAMELIN, S. 4 über die Autorschaftsfrage: "De telle sorte qu'on puisse dire encore qu'Alexandre d'Hales, d'une certaine fa?on, est l'auteur de sa Somme Thiologique mais moyennant des collaborateurs."
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V g l . LOTTIN II, S . 3 5 5 .
Die franziskanische Gewissenslehre des 13. Jahrhunderts
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ben, weil es immer Verstandestätigkeit voraussetzt. Es handelt ständig, auch wenn es nicht ständig etwas bewirkt. Es verpflichtet und kann irren, was die Verpflichtung nicht außer Kraft setzt.51 Hier knüpft Bonaventura (Johann von Fidanza, gest. 1274) an. 52 Er entwickelt seine Lehre über das Gewissen am ausführlichsten im Kommentar zur 39. Unterscheidung im 2. Buch der Sentenzen des Petrus Lombardus (1250-52). Hier bestimmt er sowohl für die conscientia als auch für die synderesis vorab ihre Zugehörigkeit zu den Seelenpotenzen: Für ihn gehört die conscientia im Rahmen der praktischen Vernunft zum intellektiven Seelenteil im engeren Sinne, die synderesis zum affektiven Teil der Vernunftseele, also zum Willensvermögen. Da Bonaventura aber von einem vorgängigen Primat des Willens in der Handlungssteuerung ausgeht, kann die conscientia nicht unmittelbar handlungssteuernd wirken. 53 Die Wirkungsweise des Willens ist nach Bonaventura vielmehr komplizierter vermittelt. Im Willen bzw. dem wollenden Seelenvermögen zugeordnet gibt es zwar eine Art von natürlicher Attraktion zum Guten, die synderesis genannt wird; 54 aber die Handlungssteuerung ist selbst primär eine Aufgabe des Willens; er ist durch die ratio practica (die conscientia) nicht direkt gebunden, sondern wird von ihr eher beraten. Der Zusammenhang von Gewissen und sittlicher Naturanlage liegt hier nicht in einem einheitlichen Seelenvermögen begründet, sondern übergreift zwei, den Willen und die Vernunft, die also in einem stetigen Austauschprozeß gedacht sind, wobei das schlechthin Rechte nicht in der Vernunft, sondern in einer Willensanlage gründet. Aus der systematischen Schwierigkeit, die daraus folgt, daß eine Willensanlage die praktische Ver-
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Auf Alexander von Haies geht unter dem Blickwinkel der franziskanischen Lehrtradition der Abschnitt AIII. 1 näher ein. Darstellungen bei LOTTIN II, S. 174187, 354-57, 364-65, und HAMELIN, S. 9f. LOTTIN hat dargelegt, wie klar alle die Elemente der Gewissenstheorie von Bonaventura, ja die Grundzüge der franziskanischen Doktrin des 13. Jahrhunderts, sich bei Alexander schon abzeichnen. LOTTIN II, S. 354-357. SPEER, S. 158 formuliert den Sachverhalt so: "In der conscientia bezieht die praktische Vernunft das ihr habituell eigene, für die Leitung von Handeln maßgebliche Wissen auf die einzelne Handlung. Die conscientia vervollkommnet somit unseren Intellekt, insofern er praktisch und nicht spekulativ ist, sofern er sich folglich auf ein Tätigsein richtet." SPEER bezieht sich auf In II Sent., d. 39, a. 1, q. 1 co. Deshalb kann die synderesis bei Bonaventura auchpondus voluntatis heißen (In II Sent., d. 39, a. 2, q. 1 co, vgl. SPEER, S. 159.) Unter einem anderen Gesichtspunkt, nämlich als umfassend mentaler habitus, kann, wie SPEER, S. 159, herausstellt, der synderesis auch eine rationale Komponente nicht abgesprochen werden, aber eben nur insoweit, wie die ratio zur mentalen Verfaßtheit des Menschen gehört.
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Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
nunft mit letzten Gründen versehen soll, hilft sich Bonaventura, indem er (wie Alexander von Haies) die conscientia teilt: Sie besteht aus einem angeborenen und einem erworbenen Teil. Der angeborene Teil gehört zu dem natürlichen Licht der Seele, die er mit dem natürlichen Urteilsvermögen gleichsetzt. Er ist deshalb wie die synderesis dem Irrtum nicht unterworfen. Der erworbene Teil der conscientia ist es aber, der die Verstandesbilder (species intelligibilis) enthält. Bonaventura führt in der 2. Frage seines 1. Artikels zur 39. Unterscheidung aus, daß das lumen naturale ausreiche, zu erkennen, daß man die Eltern ehren und die Nächsten nicht schädigen solle; einen angeborenen Begriff (Bonaventura sagt species und meint die species intelligibilis, das Verstandesabbild) von Vater und Nächstem habe der Mensch jedoch nicht.55 Die gesamte menschliche Erkenntnisleistung, die Begriffe bildet und schließt, fallt im Bereich des Sittlichen danach sicher in den Bereich der erworbenen conscientia. Ein Verständnis der eingegossenen conscientia als eines axiomatischen Prämissenschatzes (so versteht Thomas von Aquin die synderesis) ist ausgeschlossen, auch wenn Bonaventura von den Erkenntnishabitus im allgemeinen ausführt, sie seien angeboren in Hinsicht auf die Prinzipien, erworben in Hinsicht auf die Schlüsse.56 Auf die conscientia bezogen heißt das nämlich für Bonaventura, sie sei eingeboren in Hinblick auf das richtungsweisende Licht (respectu luminis directivi), erworben in Hinblick auf Sozialisation und Bildung (respectu eorum quae sunt institutionis superadditae).57 Wenn er diesen Gedanken aber im unmittelbar anschließenden Beispiel von möglicher Elternliebe vor jedem Begriff von 'Vater' repräsentiert sieht, sind Bonaventuras Grundsätze (principia) nicht Axiome für Schlüsse, sondern elementare und vorreflexive Haltungen, die die sittliche Erkenntnis bedingen, die Ausgangslage, aus der jede sittliche Erkenntnis entsteht und sich zum habitus der conscientia verfestigt. Von der übergreifenden Bestimmung der conscientia als Habitus ist es durchaus folgerichtig, daß auch deren Prinzipien Habitus sind. Haltungen können für Bonaventuras Verständnis von sittlichem Wissen prinzipiell sein, sie sind seine Grundlage des sittlichen Ich, das ein Mitwissen von sich selbst hat. Im Denken dieser Grundlage, dieses principium, schwingt ein ähnlich körperlichphysikalischer Unterton mit wie in seiner Bezeichnung der synderesis als naturale pondus,58 als natürliches Lot: Das Göttliche im Menschen wird zwar stets an die beherrschende Lichtmetaphorik59 zurückgebunden (lumen
55 56 57 58 59
In II Sent., d. 39, a. 1, q. 2. In II Sent., d. 39, a. 1, q. 2. In II Sent., d. 39, a. 1, q. 2. In II Sent., d. 39, a. 2, q. 1. Zu diesem Gesichtspunkt vgl. BAUM, der Bonaventura mit Thomas vergleicht.
Die franziskanische Gewissenslehre des 13. Jahrhunderts
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naturale), sobald es aber als Bedingung auftritt, treten Bilder der äußeren, quasikörperlichen Bedingtheit hinzu. Die erworbene conscientia kann Gebote und Verbote aussprechen. In dieser Funktion stehen einander conscientia recta und conscientia erronea gegenüber. Die conscientia recta befindet sich in Übereinstimmung mit den Grundhaltungen des angeborenen Teiles der conscientia und mit der natürlichen Neigung des Willensvermögens, das Gute zu wollen, sie ist deshalb unbedingt bindend. Damit wird sie an einer verdoppelten Naturrechtsinstanz gemessen; Bonaventura erklärt in der Lösung zu den Einwänden im Artikel 1 seiner 2. Frage zur 39. Unterscheidung der Sentenzen, die synderesis bezeichne ein affektives Vermögen, insofern es zum Guten fähig sei und zum Guten neige, die conscientia bezeichne einen Habitus der praktischen Vernunft, und das Naturgesetz meine beider Objekt.60 Gleichzeitig bezieht die conscientia recta aber ihr gebietendes Recht nicht aus der Eigenschaft, menschliche, vernunftgemäße Erkenntnis des Naturrechts zu sein, sondern aus der Konformität mit dem Willen Gottes. Das Gewissen als Diktat der Vernunft ist ein Gesetz, räumt Bonaventura in der Erwiderung auf einen Einwand ein, aber es ist nicht das höchste Gesetz.61 Wie aber soll der potentielle Widerspruch zu einem höheren Gesetz - Bonaventura hält ihn an dieser Stelle sogar für häufig - erkannt werden? Das Problem ist bei Bonaventura auf der Ebene des Denkens nicht lösbar, denn weil er die Prinzipien der conscientia innata als Haltungen bestimmt, geht eine mögliche Fehlersuche ins Leere. Selbstverständlich würde eine falsche Unterstellung oder ein falscher Schluß notwendig eine falsche Einschätzung der Handlungsbedingungen hervorbringen; aber was falsche Unterstellungen und Schlüsse sind, ist in den Grenzen der Person nicht zu greifen, weil die conscientia innata nicht axiomatisch aufgebaut ist. Das führt dazu, daß Bonaventuras Gewissensentscheid ein gewisses Maß an Unsicherheit bleibt; der Mensch weiß von vornherein, daß das, was er für gut und richtig hält, trotz zweier naturrechtlicher Komponenten in seinem Wesen nicht auch gut und richtig sein muß.62 Entsprechend ambivalent ist auch seine Erklärung zur bindenden Kraft des Gewissens: Das Gewissen verpflichtet entweder dazu, zu tun, was es vorschreibt, oder dazu, dieses konkrete Gewissen zu ändern.63 Der erste Fall gilt für die conscientia recta, der zweite für die conscientia erronea. Wenn der irrende Mensch
60 61 62
In II Sent., d. 39, In II Sent., d. 39, Man kann deshalb sich die conscientia V g l . SPEER, S .
63
a. 2, q. 1. a. 1, q. 3. nur dort mit Sicherheit von der conscientia recta ausgehen, wo unter einfachstem Gesichtspunkt auf das Allgemeine bezieht.
160.
In II Sent., d. 39, a. 1, q. 3.
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Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
wüßte, daß er irrt, würde er nicht irren; so steht er stets, wenn er handeln muß, zwischen zwei völlig widersprechenden Pflichten, und seine Wahl einer der Möglichkeiten hat Bedingungen, die er nicht kennt. Um seinen Vorsatz mit gutem Gewissen auszuführen, müßte er sicher sein, daß sein Gewissen recht hat. Strenggenommen weiß das nur Gott, aber dann wäre jeder Gewissensbegriff, der an praktische Vernunft angebunden ist, sinnlos. Um diese Schärfe zu mildern, führt Bonaventura eine Art von Beratungspflicht ein: In seinen Antworten auf vorgebrachte Gegenargumente sagt er, daß das Gewissen nicht gegen die Weisung eines geistlichen Oberen binden könne64 und daß der Mensch in Entscheidungsnöten Weisere befragen oder sich im Gebet an Gott wenden solle, wenn menschlicher Rat ausbleibt.65 Das heißt zum einen, daß eine Gewissensentscheidung nur innerhalb der Normen positiven (allerdings geistlichen) Rechts gefällt werden kann, denn der Befehl hebt die Gewissensfrage auf; zum anderen, daß die unmittelbare Beratung mit Gott die extreme Ausnahme für den Fall bleibt, in dem eine Fremdbestimmung nicht zu erlangen ist. Uneingeschränkt folgen soll der Mensch seiner conscientia nur in einem Bereich der Beliebigkeit, nämlich für in keiner Weise heilsrelevante Handlungen.66 Hält man sich die tiefgestaffelten Norminterpretationen der gleichzeitigen Kanonistik vor Augen, so ist dieses Zugeständnis im Grunde keines. Damit ist die conscientia in ihrem lebenslangen Bemühen zum ständigen Scheitern vorverurteilt. Daß Bonaventura aber der menschlichen Vernunft grundsätzlich mißtraut und die sittliche Handlung, wenn sie überhaupt zustandekommt, weniger der praktischen Vernunft als vielmehr der synderesis zuschreibt, zeigt sich an seiner Behandlung dieses Begriffes. Er bestimmt die synderesis als zusammenfassenden Namen für das habituelle Vermögen und den Habitus des Willens, der sich auf das Gute richtet.67 Die von Hieronymus stammende Bestimmung der synderesis als Funke des Gewissens behandelt er unter den Einwänden und sagt dazu, daß das Gewissen aus sich selbst nicht bewegen und anspornen könne, sondern nur durch die Vermittlung des Gewissensgrundes synderesis,68 So verfährt er auch bei seiner Antwort auf die Frage, ob die synderesis ausgelöscht werden könne. Seine Erwägungen gehen von Beispielen aus, in denen Menschen keinen Gewissensbiß verspüren, die conscientia also der Handlung nicht widerspricht. Die conscientia innata spielt hier überhaupt keine Rolle, Bonaventura schließt unmittelbar vom unterbliebenen Widerspruch auf den
64 63 66 67 68
In In In In In
II II II II II
Sent., Sent., Sent., Sent., Sent.,
d. d. d. d. d.
39, 39, 39, 39, 39,
a. a. a. a. a.
1, 1, 1, 2, 2,
q. q. q. q. q.
3, ad 4. 3, ad 4. 3. 1. 2, ad 3.
Die franziskanische Gewissenslehre des 13. Jahrhunderts
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Zustand der synderesis.69 Er stellt also ein Kontrollsystem menschlicher Handlung dar, das zwei Seelenpotenzen überbrückt: Es geht von einer Willensanlage aus, wird dem Verstand übergeben und mündet in Willensakt. Denkt man das Mittelglied dieser Reihe als Bonaventuras Auffassung von der conscientia innata und conscientia acquisita, so bedeutet die Verdopplung der naturrechtlichen Anlage im Menschen (also die Annahme einer conscientia innata und einer synderesis) nichts anderes als die Unterstellung, daß es einen Bereich in der Seele gibt, in der sie sich selbst versteht, vor jeder Grenze der einzelnen Seelenteile und -vermögen und über sie hinweg. Würde man auf diesen Schluß verzichten, so stellte sich nämlich das Problem, wie die Anregung einer Willensanlage, die als Ausrichtung gedacht ist, von der Vernunft aufgenommen werden kann und wozu sie gebraucht wird, da die Vernunft doch selbst habituell geprägt ist. Denn daß das Aufnehmen des Impulses aus der affektiven synderesis durch die Vernunft nicht heißt, der Impuls werde vernunftgemäß aufgenommen, also reflektiert, sondern daß es sich um die Übernahme einer Ausrichtung handeln muß, in der sich die Reflexion bewegen soll, also um ein Ich-will-dorthin-Denken, ist durch die Schilderung des Leerlaufs der conscientia deutlich.
6. Das dominikanische Leitmodell des 13. Jahrhunderts: Thomas von Aquin Thomas von Aquin hat sich dreimal ausdrücklich mit dem Gewissensproblem beschäftigt: zuerst im Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus (1254-56, also nach Bonaventuras Sentenzenvorlesung), ausfuhrlich in den 'Quaestiones disputatae de veritate', die zu den Frühschriften gehören (125659), und abschließend und dabei relativierend in der 'Summa theologiae' (1267-73).70 In der theologischen Summe sind diese Erörterungen - gattungsgemäß - eingebettet in grundsätzliche Erwägungen zur Möglichkeit sittlicher Handlungen und begleitet von einem eigenen Traktat über die Gesetzestypen, in dem das Naturrecht besonders problematisiert wird. Für Thomas wird im Fortschreiten seines Werkes - vom Sentenzenkommentar über 'De veritate' bis zur theologischen Summe - der Gewissensbegriff mehr und mehr entbehrlich, das Gewissen geht in der praktischen Vernunft auf.
69 70
In II Sent., d. 39, a. 2, q. 2. Vgl. zur Chronologie MANDONNET, Leben, S. 16-22. Für die Quellenlektüre empfiehlt sich die Reihenfolge 'De veritate' qq. 16-17, S.th. I-II q. 90-105; ergänzend: Kommentar zu II Sent. XXXIX.
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Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
Für Thomas besteht kein grundsätzlicher Zweifel daran, daß das objektiv Gute und das subjektiv erkannte Gute zusammengehen. Das macht einen grundlegenden Unterschied seiner Gewissenslehre zu der des Bonaventura aus. Der Mensch ist mit allen Mitteln ausgestattet, das objektiv Gute auch als Gut für sich zu erkennen. Deshalb stellt sich ihm das objektiv Gute nicht als nachzeitiges Korrektiv seiner Entscheidung dar. Er muß es nicht in Normen oder Weisungen aufsuchen, um die eigene Sicht zu überprüfen, und so erlebt er es nicht als Einschränkung seiner Entscheidungsfähigkeit, sondern er handelt umso sittlicher, umso mehr er vernunftgemäß handelt. In groben Zügen ist die Lehre des Thomas über das Gewissen so zusammenzufassen:71 Die synderesis ist die natürliche Instanz, die zu moralischen Einsichten befähigt. Sie enthält immer schon, vor jedem Nachdenken, elementare Urteile (z.B. daß das Böse zu meiden sei). Die elementaren Einsichten liegen allen moralischen Urteilen zugrunde, sie sind für die praktische Vernunft, was für die spekulative die Prinzipien der Identität, Drittengleichheit usw. sind. Thomas bestimmt die synderesis also ähnlich wie Alexander und Bonaventura das angeborene Gewissen. Die praktische Vernunft stellt die zusätzlichen Voraussetzungen auf, sie schließt und fällt das Urteil; das ist der Gewissensentscheid. Deshalb ist die synderesis ein Habitus, die conscientia ein Akt der praktischen Vernunft. Der Gewissensentscheid ist für den einzelnen Menschen die höchsterreichbare sittliche Erkenntnis, weil seine subjektive Vernunft die subjektiven Tatumstände nach menschlichem Maß am ehesten erfassen kann. Deshalb bindet das Gewissen immer, auch wenn es irrt, was nicht bedeutet, daß ein Handeln nach dem irrenden Gewissen auch sittlich gut ist. Diese spezifische Ansicht über das Gewissen wird in 'De veritate' entwickelt und in der theologischen Summe auf die Lehre vom natürlich Rechten bezogen.72 In der Frühschrift hatte Thomas noch gelehrt, daß man die synderesis sowohl als einen natürlichen Habitus auffassen könne als auch als ein Vernunftvermögen, das mit einem Habitus gekoppelt sei.73 Das heißt mit anderen Worten, daß er die synderesis als eine Vorprägung der Vernunft gelten lassen will, aber auch als die natürliche Kraft zu elementarem sittlichem Urteilen. In der 'Summa theologiae' begreift er sie eindeutiger als
71 72
Zur ersten Orientierung: REINER, Gewissen, Sp. 582f. Zum Naturrechtsgedanken bei Thomas vgl. FORSCHNER, Κοινός νόμος, S. 3846; über den Stellenwert der conscientia innerhalb der Vernunft vgl. MCINERNY, S. 2 2 5 - 2 3 4 .
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De ver. q. 16 a. 1 co.: Restat igitur ut hoc nomen synderesis vel nominet absolute habitum naturalem similem habitui principiorum vel nominet ipsam potentiam rationis cum tali habitu, et quodcumque Horum fuerit non multum differt, quia hoc non facit dubitationem nisi circa nominis significationem.
Das dominikanische Leitmodell des 13. Jahrhunderts: Thomas von Aquin
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Habitus, und zwar als einen solchen, der die Prinzipien des natürlich Rechten enthält.74 Hier ist die lex naturalis der wichtigere Begriff, die synderesis der untergeordnete. Dieser erfaßt, auf welche Weise das natürlich Rechte dem Menschen gewiß ist (während es dem inhaltlichen Schwerpunkt nach darum geht, ob es ihm gewiß ist und wie er mit der Gewißheit umgeht).75 Ein Habitus ist eine Haltung, die Handlungen vorformt. Die Handlungen, die vom Habitus synderesis vorgeformt werden, sind die Akte der praktischen Vernunft, die über die Sittlichkeit einer Tat befindet. Die Vorprägung der Akte stellt sich Thomas so vor: Die Vernunft geht in sittlichen Urteilen von bestimmten Axiomen aus, z.B. 'Das Gute ist zu tun' und 'Das Böse ist zu meiden'. Deren Inhalt prägt jeden möglichen Schluß. Gleichzeitig ist die praktische Vernunft aber auch bereit, Sätze für axiomatisch zu halten, die es eigentlich im strengen (formalen) Sinn nicht sind, z.B. Basisurteile vom Typ 'Niemandem darf ein Leid zugefügt werden' und 'der Schuldige muß bestraft werden'.75 Diese Sätze zählt Thomas zum Naturrecht, das habituell jedem einzelnen Vernunftakt vorausliegt,77 also zur synderesis.78 Die Anerkennimg dieser Sätze als richtig vor jeder Prüfung folgt keinem formallogischen Muster. In 'De veritate' hatte sich Thomas auf Dionysius Areopagita (De div. nom. VII) berufen und mit diesem erklärt, daß die niedere Natur in ihrem Höchsten die höhere in ihrem Niedersten berühre (vgl. PL 122, Sp. 1155); da es der Natur der Engel entspreche, die Wahrheit ohne Nachforschung und Prüfung zu erkennen, gebe es auch für den Menschen Bereiche, in denen er die Wahrheit in ebendieser Weise als richtig anerkenne, also ohne diskursive Erforschung - und zwar im spekulativen Denken wie im praktischen. Die syn-
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S.th. I-II, q. 94, a. 1, ad 2: Ad secundum dicendum quod synderesis dicitur lex intellectus nostri, inquantum est habitus continens praecepta legis naturalis, quae sunt prima principia operum humanorum. Vgl. S.th. I-II q. 94, wo die Begriffsbestimmung der synderesis in ad 2. sich aus der Auseinandersetzung mit einem bekannten Basiliusspruch ergibt (die synderesis sei das Gesetz des Verstandes, In Hexaemeron hom. 7), der für die synderesis beansprucht, was für das natürliche Sittengesetz gezeigt werden soll. Im Corpus articuli fällt der Begriff nicht. S.th. I-II q.95, a.2 co.: Derivantur ergo quaedam a principiis communibus legis naturae per modum conclusionum; sicut hoc quod est 'non esse occidendum', ut conclusio quaedam derivari potest ab eo quod est 'nulli esse malum faciendum'. Quaedam vero per modum determinations: sicut lex naturae habet quod ille qui peccat, puniatur; sed quod tali poena puniatur, hoc est quaedam determinatio legis naturae. S. th. I-II q. 92 a. 1 ad 3: Ad tertium dicendum quod ratio illa concludit quod lex naturalis habitualiter tenetur. Et hoc concedimus. In demselben Artikel (I-II q. 94 a. 1 ad 2) steht die Bestimmung der synderesis als habitus continens praecepta legis naturalis.
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deresis sei also für die praktische Vernunft der Berührungspunkt der menschlichen mit der Engelsnatur.79 Für Thomas entstammen also die komplexeren Sätze der synderesis (wie: Der Schuldige muß bestraft werden) dem obersten Teil der vernünftigen Seele; sie sind nicht durch ein irrtumsfahiges Vermögen gebildet. Anderseits spricht Thomas der Vernunft an anderer Stelle, um die Ableitung des menschlichen Gesetzes aus dem natürlichen zu erklären, die Fähigkeit zur Umgrenzung und näheren Bestimmung naturrechtlicher Urteile zu.80 Es müßte demnach möglich sein, daß ein Satz der (formal gesehen) höheren Ordnung von Urteilen der synderesis angehört und daß derselbe Satz von der fehlbaren menschlichen Vernunft aus den Basissätzen der synderesis durch Hinzunahme von Zweit- und Drittprämissen deduziert wird. Nun bleibt die Operation, in der die Vernunft auf einen naturrechtlichen Satz zugreift, auch dann störanfällig, wenn die synderesis selbst nicht irren kann. Die Vernunft kann mit einem Grundsatz der synderesis nur dann weiterarbeiten, wenn sie ihn auffindet. Die synderesis ist zwar unzerstörbar, aber dem Handelnden nicht in jedem Moment in der Breite ihrer Möglichkeiten gegenwärtig. Hat die Vernunft nun einen Satz gefunden und hält sie ihn für naturrechtlich, aber von der Art der komplexeren Naturrechtssätze, dann darf sie ihn der Prüfung aussetzen: Er kann nicht naturrechtlich sein, wenn er im Widerspruch zu den Elementarsätzen der synderesis (Das Gute ist
D e ver. q. 16 a. 1 co.: Sicut enim dicit Dionysius in VII cap. De divinis nominibus 'divina sapientia coniungit fines primorum principiis secundorum': naturae enim ordinatae ad invicem sic se habent sicut corpora contiguata quorum inferius in sui supremo tangit superius in sui infimo, unde et natura inferior attingit in sui supremo ad aliquid quod est proprium superioris naturae, imperfecte illud partieipans. [...] Unde et anima humana quantum ad id quod in ipsa supremum est, aliquid attingit de eo quod proprium est angelicae naturae, scilicet ut aliquorum cognitionem habeat subito et sine inquisitione [...] Sicut igitur humanae animae est quidam habitus naturalis quo prineipia speculativarum scientiarum cognoscit, quem vocamus intellectum prineipiorum, ita etiam in ea est quidam habitus naturalis primorum prineipiorum operabilium, quae sunt universalia prineipia iuris naturalis, qui quidem habitus ad synderesim pertinet. S.th. I-II q. 95 a. 2 co.: Derivantur ergo quaedam α principiis communibus legis naturae per modum conclusionum; sicut hoc quod est 'non esse occidendum', ut conclusio quaedam derivari potest ab eo quod est 'nulli esse malum faciendum'. Quaedam vero per modum determinationis: sicut lex naturae habet quod ille qui peccat, puniatur; sed quod tali poena puniatur, hoc est quaedam determinatio legis naturae. Utraque igitur inveniuntur in lege humana posita.
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zu tun etc.) steht.81 Damit ist die Vernunfttätigkeit selbst ein Korrektiv dazu, welche Voraussetzungen sie im besonderen Fall anerkennen will. Das zweite Korrektiv, das Thomas dem Verstand zubilligt, um sich gegen falsch unterschobene Naturrechtssätze abzusichern, ist grundsätzlich anderer Art. Für Thomas stimmt (hier führt er Augustinische Gedanken fort)82 das Naturrecht inhaltlich mit dem Dekalog (in seinen moralischen Grundsätzen) überein.83 Die Gebote gehören zum göttlichen Gesetz, das erlassen wurde, weil verschiedene Menschen verschiedene Urteile fallen.84 Daraus ergibt sich die Konsequenz, daß einunddieselbe Norm strukturell, als Naturanlage, zur Unterscheidung des Bösen vom Guten vor allem sittlichen Urteil liegt, und inhaltlich in positiver Form für dasselbe Urteil einen Maßstab bereitstellt. Wenn der einzelne Mensch falsch auf die eingegossene allgemeine Norm zugreift und deshalb einem falschen Grundsatz folgt, kann er mit Hilfe des göttlichen Gesetzes den Fehler erkennen. Thomas versteht diese Korrekturmöglichkeit aber nicht so, als liege sie zeitlich nach der sittlichen Erwägung, sei also als eine Art göttlicher oder kirchlicher Zensur für die menschliche Vernunft zu begreifen. Ihm ist es im Gegenteil darum zu tun, daß das göttliche Sittengesetz nur eine andere Ausdrucksform dessen ist, was das natürliche Gesetz im Menschen fordert.85 Deshalb zählt er in 'De veritate' auch
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Vgl. MENSCHING, S. 267: "Die Menschen können sich des Naturrechts nach Thomas durch das ontologisch verstandene Widerspruchsprinzip versichern". MENSCHING entwickelt hier, daß die wechselseitige Bestätigung des Guten und des Rechten inhaltsindifferent sein können; was das Gute und das Böse sei, ist bei Thomas nach seiner Analyse von den Kontrollmechanismen der Vernunft nur unrureichend gegen semantische Verschiebung abgesichert. D e Ordine 2,8; De libero arbitrio 1,5-7; De Vera Religione 30, 31; Contra Faustum 22,27; D e div. quaest. 31,1; Ep. 157, 15. S.th. I-II, q. 98, a. 5, co.: Respondeo dicendum quod lex vetus manifestabat praecepta legis naturae, et superaddebat quaedam propria praecepta. Weiter zur genaueren Bestimmung der moralischen Vorschriften des Dekalogs S.th. I-II, q. 100, a. 1, co.:[...] necesse est quod omnia praecepta moralia pertineant ad legem naturae, sed diversimode. Quaedam enim sunt quae statim per se ratio naturalis cuiuslibet hominis diiudicat esse facienda vel non facienda: sicut, Honora patrem tuum et matrem tuam, et, Non occides, Non furtum facies. Et huiusmodi sunt absolute de lege naturae. - Quaedam vero sunt quae subtiliori consideratione rationis a sapientibus iudicantur esse observanda [...] sicut illud, Coram cano capite consurge, et honora personam senis. S.th. I-II q. 91 a. 4 co. KLUXEN, Ethik, S. 231: "Das Gesetz wird zunächst erfahren als Regel und Maß für das Handeln, und insofern gehört es zur Vernunft, die das leitende Prinzip allen Tuns ist; dabei wird es eingeschränkt auf die allgemeinen Grundsätze des Handelns, die den konkreten Anwendungen gegenüber wieder als maßgeblich aufgefaßt werden können; denn insofern in der Vernunft selbst Prinzip und Folgerung
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'Man darf nichts tun, das durch göttliches Gesetz verboten ist' zu den unmittelbaren Einsichten der synderesis.86 Der habitus der synderesis stellt zwar die Prämissen bereit, nach denen eine Entscheidung über das Gute und Böse grundsätzlich möglich ist. Aber die Prämissen sind nur verfügbar, wenn die Vernunft sie aufsucht und erkennt, und dazu gehört auch, daß diese sich die Gewißheit verschafft, sich in der Verbindlichkeit dieser Grundsätze nicht zu täuschen. Was die synderesis angeht, so sind, allereinfachste Sätze ausgenomen, ihre Inhalte auch für syllogistisches Schließen letztlich nur gewiß, weil die Verstandestätigkeit ihre Gewißheit verbürgen kann: durch eigene Deduktion und durch Vergleich mit dem göttlich gesetzten Rechten. Diese komplexen Operationen sind im Auffinden des einzelnen Naturrechtssatzes schon impliziert, so daß als Naturrecht nur gelten kann, was als vernünftig passiert und im Einklang mit den göttlich gesetzten Moralnormen steht. Nachdem die praktische Vernunft sich ihrer Voraussetzungen versichert hat, wendet sie die sittlichen Grundsätze auf die einzelne Handlung an. In dieser Funktion heißt die Vernunfttätigkeit bei Thomas conscientia,87 Er bestimmt sie als applicatio scientiae ad aliquem specialem actum.™ Das bedeutet, daß die conscientia selbst ein Akt ist, wie Thomas auch eigens entwickelt.89 Sie ist irrtumsfahig, weil die scientia, auf die sie zugreift, auch falsche Sätze enthalten kann, und weil die conscientia zudem ihr eigenes Geschäft - die Anwendung - fehlerhaft betreiben kann.90 Nur in einem irrt sie nie: Urteile, die die synderesis schon in denselben begrifflichen Grenzen
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unterschieden werden, gehört das Gesetz wegen seines leitenden Charakters vorzüglich und am meisten zu dem, was Prinzip ist." De ver. q. 17 a. 2 co.: Ut si ex iudicio synderesis proferatur 'nihil prohibitum lege Dei est faciendum' [...] Offenbar hält Thomas im Spätwerk einen eigenen Namen für die Rationalität der ersten Person nicht mehr für systematisch erforderlich. Die kontextuelle Synonymie von conscientia und ratio in der 'Summa theologiae' wird untersucht bei HONNEFELDER, c o n s c i e n t i a , v g l . b e s . S. 15.
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De ver. q. 17 a. 2 co. De ver. q. 17 a. 1 co.: [...] nomen enim conscientiae significat applicationem scientiae ad aliquid, unde conscire dicitur quasi simul scire. Quaelibet autem scientia ad aliquid applicari potest, unde concientia non potest nominare aliquem habitum specialem vel aliquam potentiam sed nominal ipsum actum qui est applicatio cuiuscumque habitus vel cuiuscumque notitiae ad aliquem actum particular em. De ver. q. 17 a. 2 co.: Dicendum quod sicut dictum est, conscientia nihil aliud est quam applicatio scientiae ad aliquem specialem actum, in qua quidem applicatione contingit esse errorem dupliciter: uno modo quia id quod applicatur in se errorem habet, alio modo ex eo quod non rede applicat [...].
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bereithält, kann die conscientia nicht falsch anwenden, weil ihr dann nur noch eine Subsumtion abverlangt wird, die ohnehin evident ist. Thomas führt als Beispiel an, daß die conscientia unmöglich irrtümlich annehmen kann, irgendetwas Böses, nachdem sie es als solches anerkannt hat, müsse getan werden.91 Er rechnet also auch hier damit, daß die vernünftige Anwendung der sittlichen Grundsätze diese in ihrer universellen Geltung bestätigt: Die synderesis liegt einerseits dem einzelnen Urteilsakt voraus, kann aber anderseits auch erst durch die Gesamtheit der Urteilsakte als Vorausliegendes aufgefunden und als Prinzipienfundus benutzt werden kann. Daß der Satz 'Man darf nichts tun, das durch göttliches Gesetz verboten ist'92 der synderesis zugeschrieben wird, schafft ein kasuistisches Potential in der Ethik des Thomas.93 Was durch göttliches Gesetz verboten ist, wird zum Beispiel im Dekalog - als Verbot für eine Fallklasse faßbar: 'Du sollst nicht töten'. Wenn die synderesis die Prüfung des Urteils an diesem Typ von Sätzen vorschreibt, dann verpflichtet sie die conscientia auf die Zuordnung der in Rede stehenden Entscheidung zu einer Fallklasse, zu deren Subsumtion unter eine allgemeinere und so fort bis zu dem Allgemeinheitsgrad, der vom Gebot erfaßt ist. Der Akt der praktischen Vernunft, die conscientia, ist in sich also immer doppelt, wobei die eine Bewegung gleichsam von unten nach oben, die andere von oben nach unten gerichtet ist: Die praktische Vernunft schließt aus Prämissen auf eine Folge, und sie subsumiert unter vom göttlichen Gebot bewertete Fallklassen und vergleicht mit der dort vorgegebenen Bewertung. Für den Fall, daß die conscientia irrt, liegt ihr Fehler nicht in den Grundsätzen, sondern in ihr selbst, also in der konkreten Vernunfttätigkeit.94 Deshalb ist der Fehler grundsätzlich auch nur durch Vernunfttätigkeit zu beheben, nicht durch Intervention von außen. Jede Zwangsberatung oder Zensur brächte den hermeneutischen Kreislauf der praktischen Vernunft -
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De ver. q. 17 a. 2 co.: Sciendum tarnen quod in quibusdam conscientia numquam errare potest, quanäo scilicet actus ille particularis ad quem conscientia applicator habet de se universale iudicium in synderesi. Sicut enim in speculativis non contingit errare circa particulares conclusiones quae directe sub principiis universalibus assumuntur in eisdem terminis, ut in hoc quod est hoc totum esse maius sua parte nullus decipitur, sicut nec in hoc omne totum est maius sua parte, ita etiam nec in hoc quod est Deum a me non esse diligendum vel aliquod malum esse faciendum, nulla conscientia errare potest [...]. De ver. q. 17 a. 2 co.: Ut si ex iudicio synderesis proferatur 'nihil prohibitum lege Dei est faciendum' [...] Belege zur Einschätzung des kasuistischen Potentials bei Thomas und von Kasuistik im Verhältnis zu prudential ausgerichteten Ethiken bei NISTERS, S. 121-122. Vgl. De ver. q. 17 a. 2 co. mit mehreren Unterscheidungen und Beispielen.
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vom Auffinden der zutreffenden Grundsätze über die Hinzunahme der Handlungsbesonderheiten zum konkreten Spruch und zurück zur Bestätigung der Prinzipien durch das Ergebnis - hoffnungslos durcheinander. Für Thomas darf einer, dem nicht zugestanden wird, seiner Vernunft zu vertrauen, der vernünftigen Menschennatur nicht vertrauen, und wer dieses Vertrauen aufgibt, wird auch an allen unumstößlichen sittlichen Grundsätzen irre und ist deshalb zu sittlichem Handeln nicht mehr fähig. Thomas leitet die Bindungskraft der conscientia vom göttlichen Gebot her, dem zu folgen die synderesis lehre.95 Wenn die synderesis keine Einzelfälle beurteilt, liegt die urteilende praktische Vernunft (conscientia) als notwendige Vermittlung zwischen sittlichen Prinzipien bzw. göttlichem Gebot und einzelnem Urteil.96 Deshalb verpflichtet das Gewissen immer, obgleich es irren kann,97 und da es nicht irren würde, wenn der Irrtum bewußt begangen worden wäre, verpflichtet es auch in dem Fall, daß es irrt. Allerdings verpflichtet nur der richtige Gewissensspruch absolut, der irrende verpflichtet nur bedingt,98 nämlich solange, wie die Einschätzung der Handlung gleich bleibt. Der Einsichtige kann seinen eingesehenen Irrtum nämlich korrigieren, ohne durch die Entfernung von seinem ursprünglichen Vorsatz schuldig zu werden.99 So kann es geschehen, daß ein Mensch durch Irrtum seiner praktischen Vernunft Schuld auf sich lädt, denn nach seinem Gewissen handeln heißt noch nicht: das Rechte tun,100 sondern nur: das Rechte zu tun glauben. Aber der Irrende kann den Irrtum einsehen und sein Handeln daraufhin ändern. Wer gar nicht erst versucht, nach seiner sittlichen Einsicht zu handeln, ist viel weiter von einem rechten Leben entfernt, auch wenn es sich zufallig begeben könnte, daß er
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De ver. q. 17 a. 4 ad 2: [...] quia conscientiae dictamen nihil aliud est quam perventio praecepti Dei ad eum qui conscientiam habet [...]. Zur Verpflichtung der synderesis auf die Gebote vgl. De ver. q. 17 a. 2 co.: Ut si ex iudicio synderesis proferatur 'nihil prohibitum lege Dei est faciendum' [...] Vgl. De ver. q. 17 a. 4 ad 2, wo Thomas das Gewissen mit einem Prokonsul vergleicht, der die Verfügung des Kaisers bekanntmacht. De ver. q. 17 a. 3 co.: Dicendum quod conscientia procul dubio ligat. De ver. q. 17 a. 4 co.: Diversimode tarnen recta conscientia et erronea ligat: recta quidem ligat simpliciter et per se, erronea autem secundum quid et per accidens. De ver. q. 17 a. 4 co.: Sed conscientia erronea non ligat nisi secundum quid quia sub condicione: ille enim cui dictat conscientia quod teneatur ad fornicandum non est obligatus ut fornicationem sine peccato dimittere non possit nisi sub hac condicione, si talis conscientia duret; haec autem condicio removeri potest et absque peccato [...]. De ver. q. 17 a. 4 co.: Secundum hoc enim ligare conscientia dicitur quod aliquis nisi conscientiam impleat peccatum incurrit, non autem hoc modo quod aliquis implens rede facial [...].
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eine an sich gute Tat vollbringt, indem er gegen seine Überzeugung handelt. Aufs Ganze gesehen, wird er in der Regel böse oder sittlich anfechtbare Taten vollbringen, wenn auch zufällig einige gute; dagegen vollbringt der, der seiner conscientia folgt, in der Regel rechtschaffene Taten, wenn auch zufällig einige böse.
7. Bonaventura in mittelalterlicher Erwachsenenbildung Bonaventuras doppelte Selbstbindung der praktischen Vernunft durch ständige Vergewisserung und Ratsuche einerseits und durch die in der Willensprägung vorgegebene Richtung anderseits hat zwei wichtige Auswirkungen. Zum einen ist die praktische Vernunft nicht frei, sich mit jedem denkmöglichen Konflikt zu beschäftigen, weil schon diese Auseinandersetzung von der synderesis abgewehrt würde; zum anderen ist der Mensch, der sich beraten muß, in einer ständigen Aussprachenot: Er muß, ehe er Rat und Weisung erlangt, zunächst sagen, was ihn weshalb bedrückt und worin seine Entscheidungsschwierigkeit besteht. Bonaventuras Beratungskonzept bringt ein Gewissen hervor, das Rede und Antwort stehen kann, das sich aber nicht selbst verantworten darf; insofern entfaltet es zwangsläufig eine gewisse Geschwätzigkeit. Auch die kasuistischen Implikationen der thomanischen Ethik erzeugen einen Zwang zur Umsetzung einer Handlungskonstellation in Sprachstrukturen; aber während dieser Zwang sich weitgehend auf die Einordnung in Fallklassen beschränkt, weil damit das Handwerkszeug zur Beurteilung des Konfliktes bereitgelegt ist, geht die Notwendigkeit zur Umsetzung in Sprache bei Bonaventura wesentlich weiter. Bonaventuras Ratsuchender muß nicht seinen Fall, sondern seine Nöte mit dem Fall schildern, er ist also auf sprachliche Darstellung innerseelischer Vorgänge verwiesen. Das geht über das Maß des consilium (das auch Thomas empfiehlt) weit hinaus, denn für Bonaventura setzt die Unsicherheit gegenüber der Entscheidung der praktischen Vernunft bereits auf einer fundamentalen Stufe ein.101 Der Gewissensentscheid des Thomas ist zu einem Gutteil formalisierbar und läßt sich in diesem Teil sogar potentiell durch künstliche, formale Sprachen ausdrücken. Seine Umsetzung des /ogoj-Gedankens verlangt nicht nach einer natürlichen Einzelsprache, sondern nach der Übersprache des Denkens, der Sprachlichkeit schlechthin jenseits von einzelsprachlichen Differenzierungen. Auch in den Zutaten, die tatsächliche Sprachverwendung erfordern, etwa in Anlehnung an rhetorische Muster
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Das consilium über Heilsrelevantes setzt Thomas im Regelfall, nämlich wenn es irgend im Dekalog geregelt ist, in das Gewissen, vgl. De veritate, q. 17, a. 3, ad 2.
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der Beschreibung juridischer Situationen, ist sein Gewissensspruch zur Gänze durch inneres Sprechen zu bewältigen. Bonaventuras Mensch vor Gewissensentscheidungen muß auch äußerlich sprechen; er ist auf eine natürliche Sprache angewiesen. Nur wenn er seine Schwierigkeit richtig dargestellt hat und verstanden worden ist, kann ihm angemessen geraten werden. Für ihn ist das Sprechen also mittelbar heilsrelevant. In diesem Modell muß die Verwendung der Muttersprache zwingend zugelassen werden, weil sonst gerade diejenigen Ungebildeten, die Beratung am nötigsten haben müssen, unberaten blieben. Das zwingt auch den Beratenden zur Verwendung der Muttersprache des Ratsuchenden; das Gewissen spricht in der Muttersprache, und es empfangt die Antwort in der Muttersprache. Diese Konstellation wird gemeinhin erst bei Luther gesucht;102 ihre theoretische Notwendigkeit ist aber von Bonaventura entwickelt worden.
8. Thomas, jenseits der Theologie gelesen Für Thomas gibt es zwar einen natürlichen Vorrat von sittlicher Einsicht in jedem Menschen, und diese Einsicht unterliegt nicht dem Irrtum. Aber sobald die Vernunft darangeht, kompliziertere Fälle zu analysieren, und dazu Basissätze als naturrechtlich annimmt, kann sie sich in dieser Unterstellung irren. Sie muß sich deshalb immer wieder selbst prüfen: Führt ein anderer Erkenntnisweg zum selben Ergebnis, lassen sich die Prämissen bestätigen? Einer der Prüfalgorithmen geht vom göttlichen Gebot aus, das freilich auch so allgemein ist, daß der Einzelfall ihm erst zugeordnet werden muß. Diese Ethik der wiederholten Anläufe, in der man der Vernunft solange vertrauen kann, wie sie tätig bleibt und sich selbst prüft, entfaltete ein bedeutendes Attraktionspotential für den nichtuniversitären Bereich. Im System des Thomas gibt es vor jedem argumentativen Abwägen und syllogistischen Auffinden, aber auch parallel zu beidem komplexe Verstehensleistungen, die einem anderen Rationalitätstyp angehören als die logisch-deduktive Tätigkeit der Vernunft. Dazu gehört ein grundlegendes, nicht erklärungsbedürftiges Verständnis moralischer Elementarsätze und ein Grundverständnis des positiven göttlichen Gebotes. Diese Verstehensleistungen werden bei Thomas von den syllogistischen Deduktionen aus in der synderesis verankerten Prinzipien nicht geschieden; sie gehören ebenso wie jene zu den Leistungen der praktischen Vernunft und wären ohne das deduzierende Verfahren der Ableitung aus Prinzipien ohne systematischen Ort. Sie liegen der schließenden Vernunft
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Vgl.
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zugrunde, können aber überprüft werden. Schaut man nun vom richtig entwickelten moralischen Urteil aus auf dessen Begründungen zurück, so bestätigen die unterschiedlichen Wege dazu nicht nur das Urteil, sondern auch einander, nämlich was die Dignität des jeweils anderen Rationalitätstypus angeht. Die deduzierende Vernunft sieht sich bestätigt, wenn die textverstehende und kasuistisch subsumtive ihr sagt, daß sie durch Auslegung des göttlichen Gebots zum selben Resultat gekommen sei. Die auslegende Vernunft wiederum muß sich von der deduzierenden Vernunft bestätigen lassen, daß sie vernünftig geblieben ist und ihr Ergebnis nichts von Willkür an sich hat. Wenn nun in einem vermittelnden Kontext wie dem Unterricht der Beichtväter oder der theologisch interessierten Laien der systematische Ort einer Einzellehre weniger im Brennpunkt des Interesses steht als die auf Praxis hingeordnete Verwendung der Inhalte zur Handlungsorientierung, so kann auf Grundlagen der Handlungstheorie leichter verzichtet werden als auf Regulative, nach denen gemessen werden kann, ob eine Handlung als sittlich gut oder böse zu bewerten sei. Damit ist für die Übertragung in nichtuniversitäre lateinische, noch mehr in volkssprachliche Rezeptionshintergründe beinahe zwingend, was in der lateinischen Lehre des Thomas bereits vorbereitet war: die Verschiebung von der prudential geprägten Ethik zur Kasuistik. Wenn die praktische Vernunft ihre Schlüsse zusätzlich an einem festen Regulativ messen soll und muß, so kann dieses Messen vom Standpunkt dessen, den nur das Resultat, die Handlung, interessiert, die vorherige deduzierende Erwägung zurücktreten lassen. Der Wechsel zur Kasuistik als beherrschendem Muster kann umso leichter geschehen, als der praktischen Vernunft bei der Orientierung an positivrechtlichen Sätzen nach wie vor Verstehens-, Typisierungs- und Subsumtionsleistungen abverlangt werden, die den von Thomas vorausgesetzten strukturell gleichen; allerdings ist ihr Gegenstand nicht mehr die Zuordnung eines Gebotes oder Rechtssatzes zu den unveränderlichen Grundsätzen der menschlichen Natur, sondern die Zuordnung eines Falles zu einem Rechtssatz oder Gebot. Ich werde unten in der Analyse der Beratungsbücher des 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts zeigen, daß diese Auffassung des Thomas in der deutschen populärscholastischen Literatur überwog. Daß sie Thomas nicht gerecht wird, ist zwar ohne Zweifel richtig, aber für die Erklärung der volkssprachlichen Nachwirkung seiner Lehre nicht der entscheidende Punkt. Es ist vielmehr so, daß die berufsmäßigen Vermittler zwischen den kulturellen Welten ihren Thomas gut kannten und seine Lehre umzubiegen wußten, und was sie daraus formten, war etwas anderes, aber noch ganz aus seinem Stoff. Es läßt sich rekonstruieren, warum und womit sie sich im Recht fühlten: Bereits die aristotelische Ethik ist wesentlich hermeneutisch in dem Sinne, daß die grundlegenden Güter schon antizipiert sein müssen, um sie suchen zu
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können;103 Thomas bewegt sich trotz seiner Bemühung um Formalisierung durch Ableitung in der Frage des Naturrechts und der synderesis in ähnlichen Bahnen. Es liegt nun auf der Hand, daß jene Gedankenfigur für die Begründung einer Ethik im Sinne einer Buchreligion beinahe unabwendbar wiederkehren muß - und daß sie genau so abgewandelt werden muß, wie es Thomas tut, nämlich indem das hermeneutische Vorverständnis als in irgendeiner Form göttlich gesetzt verstanden wird, und zwar als Text - lex transcribitur, wie Augustin sagt.104 Wenn es aber Texte sind, die als Ausgangspunkt ethischer Normen interpretiert werden, und wenn gleichzeitig menschlicher Weisheit in Rücksicht auf die heilsgeschichtliche Bedeutung ihrer Entscheidung und ihre grundsätzliche Fallibilität nicht die Verantwortung auferlegt werden kann, als je personale Weisheit immer von neuem mit der Deutung des Grundtextes zu beginnen, so kann der Weg zur Kasuistik als nötige Hilfe erscheinen: Die hermeneutische Grundstruktur des Urteils über sittliches Handeln bleibt erhalten, und dem lumen intellectus wird sein Recht und seine Aufgabe in der Induktion und Deduktion, Klassifizierung und Zuordnung zum einzelnen Fall. Der mehrfach vorgebrachte Einwand gegen Kasuistik, sie gehe mit einer Entmündigung einher,105 zielt für die normierende Literatur des Spätmittelalters ins Leere. Zum einen ist die Herrschaft über sich selbst als Selbstbestimmung dort allenfalls ein Horizont des Denkens; zum anderen eröffnet Kasuistik gerade die Möglichkeit, über das Einfügen und Verschieben von Werthierarchien das einzelne Tun als einzelnes zu legitimieren. In solchem Verständnis, das die gebundene Interpretation stärker betonte als die Vernunfttätigkeit in der Herleitung des Guten und Rechten, wurde die synderesis als Prämissenschatz entbehrlich, und so muß es nicht verwundern, daß in deutschen Darstellungen auch kaum eine Umschreibung dieses habitus (respektive der potentia animae) in ihrem thomistischen Sinn auftaucht, sondern daß die synderesis allenfalls als der Name für den gottnächsten Teil der Seele, in einem abstrakten Sinne und jenseits funktionaler Zusammenhänge, in Anspruch genommen wird. Denn die Anbindung an die Vermögen der Vernunft ist nur solange erforderlich, wie abgeleitet werden soll, warum die vorformulierten moralischen Grundsätze mit der menschlichen Natur übereinstimmen; kann man sich darüber einigen, daß sie es tun, weil Gott die
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Vgl. Nik. Ethik 1140b. De ordine, lib. II, cap. VIII, CCSL 29, S. 121,1-5: Haec autem disciplina ipsa dei lex est, quae apud eum flxa et inconcussa semper martens in sapientes animas quasi transcribitur, ut tanto se sciant uiuere melius tantoque sublimius, quanto et perfectius eam contemplantur intelligendo, et uiuendo custodiunt diligentius. V g l . NISTERS, S .
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Welt so eingerichtet hat, so zählt der Bereich der ersten Sätze der Moral zum Erbe der Schöpfung und der Erwählung, und die menschliche Natur beginnt erst auf dieser Basis zu wirken. So hat die Popularisierung die hermeneutische Erkenntnis des Guten konsequent in eine Form gebracht, die durch die religiöse Tradition eindeutig als Verständnis eines Textes bestimmt war. Sie hat der reinen Verstandesleistung in Hinsicht auf die prinzipielle Offenheit deduktiven Schließens ein hermeneutisches Korrektiv des textlichen Verstehens beigegeben, das prinzipiell auf jeden menschlich gefertigten Text übertragbar war: Die normative Moral in ihrer bindenden Strenge ist zugleich eine offene Moral der Auslegung. Mit dem auslegenden Verfahren zur Begründung moralischer Sätze ist die Möglichkeit verbunden, daß jeder Auslegende gemäß seiner eigenen Verstehenssituation interpretiert und sich damit in gewissem Maße seine eigenen Normen schafft; die Bindungskraft des Grundtextes bildet die Grenze zur Beliebigkeit. Diese Bindungskraft ist aber keine quasiphysikalische Eigenschaft des Textes, sondern ein Vermögen, das ihm von denjenigen, die sich auf ihn verpflichten, zugebilligt wird; sie ist also eine dehnbare, aber nicht völlig freie Auslegungskonvention. Da sie Normen begründet und begründen soll, gilt nicht jeder Auslegungsvorschlag gleich viel, sondern es gibt privilegierte Interpretationen, die ihre exponierte Stellung aus der ihres Verursachers ableiten. Diese privilegierte Deutung wird in der Regel durch Sanktionen geschützt, die nicht die andere Deutung, sondern die Übertretung der Leitdeutung in der Handlung betreffen: positives Recht. Die privilegierte Deutung kann sich allerdings so darstellen, als habe sie mit der restriktiven Gewalt, die sie schützt, nichts zu schaffen: dann tritt sie hinter eine aus der Tradition entlehnte Deutung so zurück, daß der Anspruch auf Verbindlichkeit innerliterarisch und moralisch (im speziellen Sinne der Pietät), aber nicht institutionell auftritt. Dieses verkleidete Auftreten des Deutungsdiktats hat den Vorteil, daß die Gewährsleute unterderhand ausgewechselt werden können, ohne daß an der Art ihrer Autorität etwas geändert erschiene. Tradition als Autorität hat ambivalente Macht: Sie verpflichtet auf Gemeinsames und gibt gleichzeitig dem Unterschiedenen seinen Platz. Eine normative Auslegungsethik, die sich auf die Autorität der Tradition stützt, kann deshalb nach Belieben als geschlossen oder offen gehandhabt werden, ohne daß an der Art ihrer Begründung etwas geändert werden müßte. Was heißt es aber dann noch, wenn die conscientia = ratio in der Lage ist, den Willen - auch im Falle eigenen Irrtums - zu binden? Die Verpflichtung des Willens auf das Urteil der Vernunft ist bei Thomas nicht bedingt: Jedes Wollen gegen die ratio ist sündhaft. Nun ist diese ratio im Einzelfall aber irrtumsfähig, d.h., nicht jedes wirkliche Gut kann von ihr als Gut vorgestellt werden. Wird aber ein solches wirkliches Gut vorausgesetzt, heißt das, daß seine Erkenntnis als Gut mit ebender ratio prinzipiell möglich ist und von
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anderen vollbracht wird. Das irrende Gewissen erbringt also eine hermeneutische Fehlleistung, die - mechanische Schlußfehler einmal ausgenommen - wesentlich auf der Aussparung von jener Bindung der ratio beruht, die die feste Güterhierarchie konserviert und die einem unveränderlichen Vorverständnis entspricht. Das heißt umgekehrt für das Gewissen als Kontrollinstanz und Anwendung des Wissens auf die Handlung, daß sich der handelnde Mensch seiner mit anderen gemeinsamen Auslegungsbasis für die ersten moralischen Prinzipien versichern muß. Für denjenigen, der sich in seinem Handeln orientieren will, ist solche Vergewisserung jedoch nicht anders als durch Vergleich mit der bereits ausgelegten Norm möglich. Da er in aller Regel nicht wird entscheiden können, inwieweit eine Auslegung den quasinaturrechtlichen gemeinsamen Konventionen der Auslegungsgemeinschaft entspricht und wo der Spielraum der Varianz beginnt, ist er auf die Hilfe einer anerkannten, in irgendeiner Form autorisierten Auslegung angewiesen. Damit fällt für ihn das Interesse daran, wie gut zu handeln sei, mit dem Interesse daran, wie die Norm (beispielsweise die Zehn Gebote) recht auszulegen sei, bereits zusammen.
9. Bemerkungen zum Recht Die fallrechtliche Erfassung dessen, was Sünde ist, gehört zu den genuinen Aufgaben der Kanonistik, seit sie - spätestens vom 11. Jahrhundert an - als eigene Disziplin betrieben wurde, denn im allgemeinen Sinne fallen für deren Standpunkt Verstöße gegen die Rechtsordnung der Kirche mit Sünden zusammen. Im besonderen gibt es freilich Verschiebungen beider Sachverhalte gegeneinander: Wohl kann eine Tat oder Haltung, die die Rechtsordnung der Kirche gefährdet, von dieser nicht anders als gegen den göttlichen Willen zum Beispiel in der Frage der Schlüsselgewalt - gerichtet interpretiert werden, jeder solche Verstoß ist also gleichzeitig auch Sünde, gehört aber dennoch vor ein allgemeines Forum, weil er einen allgemeinen Wert bedroht. Gleichwohl gibt es Haltungen und Handlungen, die im offenen Gegensatz zu einem biblischen Gebot stehen, aber dennoch die Rechtsordnung nicht bedrohen, solange sie Taten von einzelnen bleiben und diese die Richtergewalt der Kirche grundsätzlich anerkennen; solche Fälle können allein vor dem forum internum verhandelt werden. Diese Anschauung unterscheidet, ausgehend vom Bußsakrament, die zu richtenden Verstöße nach dem Gut, dem sie widerstreiten, und in abgeleiteter Weise nach dem Gerichtsstand. Sie ist eine hochmittelalterliche Neuerung, die ein systematisches Rechtsdenken vom Standpunkt der Kirche voraussetzt. Die ältere Praxis wählte die Publizität der Tat zum Kriterium: Der öffentliche Verstoß mußte öffentlich gebüßt wer-
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den, 106 was dem Richterspruch des bevollmächtigten Bischofs, auch wenn er unter vier Augen stattfand, zumindest dem Resultat nach ebenfalls einen öffentlichen Charakter verlieh. "Bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts", schreibt Kerff, "unterschied man noch nicht begrifflich genau zwischen innerem und äußerem Bereich (forum internum - forum externum), sondern machte lediglich die Publizität der Tat zum Kriterium für das zu beobachtende Strafverfahren."107 Die Gerichtsbarkeit über öffentlich und im geheimen begangene Verstöße gegen ethische und soziale Normen unterschiedlicher Reichweite bestand, verbunden mit der Bußpraxis, seit Jahrhunderten; aber erst mit der wirksamen Einführung der Beichtpflicht 1215 konnte sie mehr erreichen als das, was ihr freiwillig oder zufallig übergeben wurde. Erst wenn eine potentiell unbeschränkte Gerichtsbarkeit der Kirche sinnvoll in Aussicht genommen werden kann, gewinnt die Unterscheidung von forum internum und forum externum systematischen Stellenwert: Im forum internum klagt der Mensch sich selbst an, im forum externum wird er angeklagt. Wenn die Kirche aber eine Ausdehnung ihrer Gerichtshoheit anstreben wollte, mußte es ihr als dringliche Aufgabe erscheinen, die internen Fälle angemessen zu beurteilen, um sich als Instanz mit vorbildlichen Gerechtigkeitsstandards zu präsentieren.108 Das Bewußtsein von einer eigenen Tat oder Tatabsicht, das freiwillig einen Richter sucht, ist ja Teil eines allgemeinen Rechts-
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Dieser Grundsatz entsteht in karolingischer Zeit mit den Synoden von Arles und Reims als Kompromiß aus einer ursprünglichen frühkirchlichen Praxis der öffentlichen kanonischen Buße und aus den Einflüssen der missionierten Kulturen der Angelsachsen und der Franken, die den Büßerstand als Einbuße der charakteristischen Rechte des Freien in seiner weltlichen Dimension ablehnten, vgl. WASSERSCHLEBEN, S. 32, POSCHMANN, S. 95-96. Daß die öffentliche Buße nicht
verschwand, erklärt sich aus der Einbindung des Episkopats, der mit der Bußgerichtsbarkeit reale, auch materielle, Interessen verband, in die fränkische Politik, vgl. KERFF, S. 52. Die mittelalterlichen Sendgerichte, die aus den Visitationen der karolingischen Epoche entstanden und die das wichtigste Instrument dieser bischöflichen Gerichtsbarkeit waren, erhoben von ihren bestellten Denuntianten die notorischen Sünden und mußten sie demzufolge als öffentliche, aber nicht freiwillig gebeichtete ahnden, vgl. ebd., S. 42-46, WASSERSCHLEBEN, S. 32, KOENINGER, S . 3 1 u n d S .
129-131.
107
KERFF, S . 3 9 .
108
Daraus folgt, daß der Typ von Bußbüchern, der vor 1200 am häufigsten war, nämlich eine Zusammenstellung von Bußtarifen für bestimmte Sünden unabhängig von den Umständen, im Gebrauch zurückgedrängt werden mußte, was allerdings voraussetzt, daß es gleichzeitig Alternativen dazu gab. BOYLE, Summae schildert den Verdrängungsprozeß als allmählichen Übergang (S. 229) und charakterisiert die neuen Handbücher für die Beichte und Buße als stärker diskursiv organisierte Literatur, die die Person des Beichtenden berücksichtigt (S. 227).
94
Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
bewußtseins, das denselben Richter auch in äußeren Rechtsstreitigkeiten freiwillig in Anspruch nehmen wird, wenn es sich selbst als das eines Täters adäquat, also mit Einschluß aller Umstände, beurteilt findet.109 Dieser Aufgabe, vorbildliche Gerechtigkeitsstandards zu schaffen, werden die Kanonisten durch Entwicklung systematischer Rechtsbücher für das forum internum gerecht;"0 conscientia wird für sie ein Ordnungsname für den Fall, den ein Gerichtsstand untersucht: Dem forum internum ist der casus conscientiae zugeordnet. Casus conscientiae ist ein Verstoß gegen das Kirchenrecht insofern, als er im Kopf stattfindet und seine Wiederholung durch Einwirkung auf das Bewußtsein des Handelnden verhindert werden kann; dazu zählen durchaus auch Kriminalverbrechen wie Mord oder Raub, die die Kirche, falls die betreffenden Personen nicht ihrem Stand nach unter die Kriminaljustiz der Kirche fallen, nicht in offenem Prozeß als weltliche Verbrechen, sondern im Dialog mit einem bevollmächtigten Priester als Sünde, als Verstoß gegen das positive Gesetz des Dekalogs, ahndet. Durch diesen Auseinanderfall der Gerichtsbarkeit bot das forum internum einem nicht gefaßten Täter, der die Rechtsordnung grundsätzlich anerkannte, obgleich er sie verletzt hatte, die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit seiner Tat, zur Neubestimmung seiner Stellung in der verletzten Ordnung, ohne Gefahr für Leib und Leben. Dieser Regulationsmechanismus wirkte aber bereits auf niederer Ebene: Die kanonischen Rechtsbücher legten Haltungen, die wirklichen Verstößen nach aller Erfahrung oft zugrundegelegen haben, auch dann als Verstöße aus, wenn
109
110
Insofern gehört die freiwillige Rechtssuche für das Bußwesen und die freiwillige Rechtssuche bei geistlichen Gerichten in weltlichen Streitigkeiten durchaus zusammen. Dennoch hat MÖRSDORF, S. 168 recht, wenn er schreibt: "Die Trennung zwischen Büß- und Gerichtswesen setzte voraus, daß der rechtliche Deliktsbegriff von dem sittlichen Sündenbegriff abgehoben wurde"; aber diese Trennung ist nicht nur Resultat, sondern ihrerseits wieder Voraussetzung zu einer Verschmelzung von moralischem und Rechtsbewußtsein auf neuer Stufe. Dem Urteilssuchenden tritt die Kirche als einheitliche Rechtsinstanz entgegen. Er kann sich weitgehend darauf verlassen, daß sie ihre Kompetenzen nicht überschreitet, also zum Beispiel auch das weltliche unentdeckte Delikt allein als Sünde behandelt. Damit ist er einer grundsätzlichen Abwehr aus existentiellen Interessen enthoben und kann das römisch-kanonische Recht als eine Rechtsform für ihn, nicht allein gegen ihn wahrnehmen; so kann es für ihn vorbildlich werden. Verkürzt ausgedrückt: Indem die Kirche als rechtssprechende Instanz Sünde und Delikt, forum internum und forum externum begrifflich zu unterscheiden lernt und lehrt, befördert sie umgekehrt den Zusammenfall von moralischem Bewußtsein und Rechtsbewußtsein bei den Laien. Diese Argumentation geht grundsätzlich parallel mit der bei NÖRR, Recht, S. 6-10 für den Begriff der fides zwischen Recht und Religion entwickelten. Geschichte der Textgattung bei BOYLE, Summae; zur Funktion ergänzend TENTLER.
Bemerkungen zum Recht
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der Mensch die Handlung selbst unterlassen hatte, behandelten also zum Beispiel Haß auf einen Mitmenschen unter dem Totschlagsverbot usw.111 Das forum internum konnte einem Menschen, wenn er selbst daran interessiert war, also die Auseinandersetzung mit seinen Tatabsichten ermöglichen; er mußte diese Arbeit der Bewertung und Orientierung nicht allein vollbringen, sondern konnte dazu einen Gesprächspartner in Anspruch nehmen, der beruflich dazu verpflichtet war, ihn anzuhören, ihm nach Kräften zu raten und über das Gehörte zu schweigen. Als für den casus conscientiae zuständig richtet das forum internum den Fall im Bewußtsein. Als Rechtsinstanz ist es aber auch an streng juristische Argumentation gebunden: Das heißt, daß es die Sünde nach dem Maßstab dessen mißt, was vom Recht erfaßt wird, und hier erhebt sich die Schwierigkeit, wie damit der Sünde im eigentlichen Sinne beizukommen sei, ohne in Indizienkatalogen zu enden, die mit der inneren Bewandtnis der Tat nichts zu tun haben. Die Kanonistik mußte also, um der Spezifik des Falles im Kopf gerechtzuwerden, immer genauere Fallbeschreibungen liefern, immer besser lernen, Umstände der Handlung, Absichten und Realzwänge zu berücksichtigen.112 Winfried Trusen hat wiederholt dargestellt, daß der Theoriezuwachs, den die Rechtswissenschaft sich aus dieser Notwendigkeit heraus erarbeitet, unter den Bedingungen des beginnenden 13. Jahrhunderts sozusagen von Anfang an auf Rezeption hin offen sein muß: Plötzlich muß eine ungeheuere Zahl von Beichtvätern, die nicht sämtlich zu Kanonisten ausgebildet werden können, dennoch darin unterwiesen werden, das Kirchenrecht für das forum internum sachgerecht umzusetzen.113 So wird die Beichte zu einem Ort der Begegnung mit einer fremden Rechtsform, der römischen und kanonischen.114 Dadurch ist diese Rechtsform eingebettet in Kontexte von Moralität und Religiosität. Sie muß aber gleichwohl auch von Nichtjuristen durchaus als Rechtsform, und zwar als eine überlegene, wahrgenommen worden sein, denn Trusen verweist auf zahlreiche Fälle aus dem 14. Jahrhundert, in denen ein geistliches Gericht ratione peccati in zivilrechtlichen Fällen entschied, ohne daß weltliche Gerichte die Entscheidung verweigert hätten; die Rechtssprechung der geistlichen Gerichte wurde in diesen Fällen also bewußt angestrebt.115 Das Auftreten solcher Situationen beweist,
111 112
113
114 115
Vgl. unten Teil 2, Kap. III.5. BOYLE, Summae, S. 227 führt die Berücksichtigung der Handlungsumstände in Beichtbüchern auf den Einfluß der pseudoaugustinischen Schrift De vera et falsa poenitentia aus dem späten 11. Jahrhundert zurück. Vgl. TRUSEN, Forum, S. 96f.; TRUSEN, Bedeutung, S. 263-265; TRUSEN, Anfänge, S. 135-141. Vgl. TRUSEN, Anfänge, S. 137-138 u. ebd., Anm. 12. TRUSEN, A n f ä n g e , S .
34-68.
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Das Gewissensproblem in der scholastischen Wissenschaft
daß ein Umschlagspunkt erreicht war: Mußte die frühe Kanonistik zur Beschreibung dessen, was Sünde sei, auf Kategorien des weltlichen Rechts zurückgreifen, so ist der beschriebene Tatbestand der Sünde jetzt Ausgangspunkt für weltliche Rechtsfindung.' 16 Das vermittelnde Glied zwischen diesen beiden Etappen rechtsgeschichtlicher Entwicklung ist der casus conscientiae, den zu beurteilen eine besondere Literaturgattung entsteht: Die Summen de casibus conscientiae oder summae confessorum. Das Gewissen tritt also nach der Aussage der zeitgenössischen juristisch-kanonischen Fachliteratur im 13. Jahrhundert als eine rechtssuchende Instanz auf, die den Richter nach Maßgabe der wahrgenommenen Gerechtigkeit seines Urteils post festum in weitergehende Urteilsrechte einsetzt.
116
Auch NÖRR, Ordnung untersucht die Funktionsweise der kirchlichen Rechts in Zivilstreitigkeiten; er schreibt S. 146: "Die Parteien verfolgen, wenn sie einen Prozeß führen, ihre Zwecke, aber sie werden mitsamt diesen Zwecken von der kirchlichen Ordnung als Instrumente benutzt, um dem kirchlichen Recht - dem Benefizialrecht, dem Eherecht - zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Parteien sollen dazu beitragen, daß das Recht nicht nur niedergeschrieben, sondern auch praktisch vollzogen wird. Die Parteien sind auf diese Weise Funktionäre der Rechtsordnung, Funktionäre im Dienste der kirchlichen Gesetze."
III. Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300 1. Gewissen zwischen den Tätigkeitsbereichen der deutschen Franziskaner Warum 'franziskanische Literatur' in der deutschen Literaturgeschichte des Mittelalters überhaupt ein sinnvoller Ordnungsname sein kann, hat Kurt Ruh überzeugend dargelegt. 1 Er sah in der Verfolgung "der großen Ordensaufgaben: Bekämpfung der Häresien, Festigung der wahren, gesunden Lehre, Ausbildung der Novizen, Kura und Laienmission" 2 den entscheidenden Anstoß zur Transformation lateinischen theologischen Wissens ins Deutsche,3 in dieser Transformation wiederum den W e g , auf dem sich eine deutsche Prosaliteratur etabliert. Mechthild von Magdeburg, die Augsburger Franziskaner, Eckhart und sein Kreis: "Im Dreiklang dieser Leistungen liegt die Genesis mittelhochdeutscher Kunstprosa beschlossen, in ihm ruht die Schönheit und Würde der deutschen Sprache eines ganzen Zeitalters". 4 Deutsche Franziskanergründungen gab es früh. Die Franziskaner waren nach einem ersten, vergeblichen Vorstoß von 1219 besser gerüstet 1221 über die Alpen gekommen und hatten sich in Augsburg, Regensburg, Salzburg und Würzburg niedergelassen, von wo aus sie rasch weitere Gründungen betrieben, so daß die deutsche Ordensprovinz schon 1230 erstmals geteilt werden mußte.5 Nun gab es eine rheinische und eine sächsische Provinz, zehn Jahre später wurde die rheinische nochmals geteilt, so daß nun die oberdeutsche (Straßburger), die kölnische und die sächsische Provinz nebeneinander bestanden.6 In Magdeburg, das nach der Teilung zur sächsischen Provinz gehörte, wurde seit 1228 ein Studium eingerichtet.7 1230 zog die Schule mit dem
1 2 3 4 5
Vgl. R U H , Bonaventura; RUH, David, S. 52. Vgl."RUH, David, S. 52. RUH, David, S. 48.
DERS.,
Schrifttum
I; DERS.,
V g l . E U B E L , S. 4 f f . , FELDER, S. 242.
6
V g l . E U B E L , S. 5, FELDER, S. 243, GRÜBEL, S. 4-5.
7
V g l . FELDER, S . 245.
Grundlegung.
98
Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
Kloster dort in ein neues Gebäude.8 Bartholomäus Anglicus lehrte dort9 und verfaßte in Magdeburg zumindest Teile der im Mittelalter häufig benutzten Enzyklopädie De proprietatibus rerum.10 Dennoch blieben alle Schulgründungen der Franziskaner der Legitimation gegenüber den Ideen des Stifters bedürftig, solange noch kein Vermittlungskonzept erdacht war, in dem Bücherbesitz auf Konventsebene nicht verdächtigt wurde, Wissen und Wissenschaft nicht einseitig weltlastig erschienen." So konnten sich Studien langsamer etablieren, und der Orden war bis zum Ende der zwanziger Jahre des 13. Jahrhunderts auf wissenschaftlichem Gebiet der dominikanischen Konkurrenz nicht gewachsen.12 Mit diesem schwierigen Verhältnis des Ordens zur Wissenschaft haben auch die Prediger und Lehrer zu tun, die mit der Vermittlung praktischtheologischen Wissens an die Laien und an diejenigen religiösen Frauengemeinschaften befaßt sind, die sich der Leitung des Ordens unterstellt haben. 13 Sie kommen in der Auseinandersetzung mit den Häresien diesem doppelten Zielpublikum gegenüber ohne Gelehrsamkeit nicht weiter, ja sie können sich ihm gegenüber nicht einmal wirksam von den Häresien abgrenzen. 14 Gerade daran war ja die erste Deutschlandexpedition franziskanischer
8
FELDER, S. 246 mit Referat der chronikalischen Nachrichten.
5
FELDER, S .
10
FELDER, S . 2 5 3 , v g l . STURLESE, P h i l o s o p h i e S . 2 9 6 - 3 0 0 .
11
Diese Vermittlungsleistung geht theoretisch auf Alexander von Haies zurück, politisch durchgesetzt worden ist sie von Bonaventura, nicht zuletzt durch die Annullierung und Vernichtung der älteren Lebensberichte des Franziskus zugunsten seiner eigenen beiden Darstellungen. Vgl. FELDER, S. 58-96, GRAU, Biographie S. 65-75. Die Constitutiones Narbonenses (rubr. VI) bezeichnen jedenfalls das Schreiben und Studieren als angemessene Tätigkeiten der Kleriker unter den Mönchen: ordinamus, quod Fratres tarn clerici quam laid compellantur per suos Superiores in scribendo, studendo et aliis laboribus sibi competentibus exerceri. Bonaventura, Opera Bd. VIII, S. 455.
248.
12
FELDER, S .
13
V g l . GRUNDMANN, B e w e g u n g e n , S . 2 5 3 - 2 7 3 , S .
14
Die frühen Franziskaner waren offenbar zur Beschreibung ihre eigenen theologischen Position kaum in der Lage und erfaßten die Leitsätze der konkurrierenden Ketzertheologien nicht. Vgl. Chronica Fratris Iordani a Iano, Analecta Franciscana I, S. 3: Fratres vero, qui in Franciam venerum, interrogati, si essent Ambigenses, responderunt, quod, non intelligentes, quid esset Ambigenses, nescientes, tales esse haereticos, et sie quasi haeretici sunt reputati. Vgl. GRUNDMANN, Bewegungen, S. 154.
110. 303-312.
Gewissen zwischen den Tätigkeitsbereichen der deutschen Franziskaner
99
Brüder gescheitert. 15 Der Bischof und die Magister von Paris haben noch 1219 eine Anfrage an den Papst gerichtet, ob es sich bei den Franziskanerbrüdern in der Stadt um eine rechtgläubige, vom Papst gebilligte Gemeinschaft handele, wie diese selbst behaupten. 15 Da es den Anfragenden kaum an dogmatischer Kenntnis und theologischer Einsicht gefehlt haben wird, denn die Pariser Magister waren die erste Adresse des 13. Jahrhunderts für theologische Anfragen, muß man schließen, daß die Franziskaner selbst nicht in der Lage waren, die Bedenken in ihrem Kern zu verstehen und auszuräumen. Honorius III. hat 1220 in einer Bulle bestätigt, daß man die Gruppe gewähren lassen könne. 17 Zwischen dieser Bulle und der aktenkundigen Gründung einer franziskanischen Theologenschule - wenn man den ersten theologischen Lehrstuhl der Franziskaner so auffassen will - liegen nur sechzehn Jahre. In dieser Zeit hat sich der Orden besonders dadurch verändert, daß ihm Gelehrte beigetreten sind. 18 Damit beginnt eine Entwicklung, die in vielen Darstellungen 'ältere Franziskanerschule' heißt, nämlich die Herausbildung einer theologischen Ordensdoktrin.
15
GRUNDMANN, Bewegungen, S. 153f. führt aus, warum "die Franziskaner in Frankreich sowohl wie im Rheinland zunächst als Ketzer erscheinen mußten": Sie waren nicht theologisch auskunftsfähig und in ihrem Lebensstil den Albigensern zum Verwechseln ähnlich.
16
Vgl. GRUNDMANN, Bewegungen, S. 154.
17
CHARTULARIUM I, S. 95f. (nr. 37). Die Rückdatierung der Anfrage auf die franziskanische Mission von 1219 von dieser 1220 ausgefertigten Bulle übernehme
18
Vgl. FELDER, S. 168-170. Anfangs scheint die Ratlosigkeit gegenüber dieser Entwicklung auf allen Seiten gewesen zu sein. Thomas von Celano berichtet noch in seiner zweiten Vita, Franziskus selbst habe von eintretenden Gelehrten verlangt, in gewisser Weise auf die Wissenschaft zu verzichten: Dixit aliquando magnum clericum etiam scientiae quodammodo resignare debere, cum veniret ad Ordinem. Vita II pars II cap. 146, Analecta Franciscana X S. 241. Matthäus von Paris, gest. 1259, wundert sich in seiner Chronik, wie gebildete Leute in einen so wissenschaftsfeindlichen Orden eintreten können: Matthaei Parisiensis Chronica maiora, MGH Script. 28, Hannover 1888, S. 107-389, hier S. 248,1-6. Erst Bonaventura ändert die Position des Franziskus grundlegend, in seiner Lebensbeschreibung antwortet Franziskus auf die Frage, ob die eintretenden Gelehrten im Orden ihre Studien fortsetzen sollen, mit Ja. Bonaventura, Legenda S. Francisci, Opera Bd. 8, S. 504-564, hier S. 533: Quaerentibus aliquando Fratribus, utrum sibi placeret, quod lilterati iam recepti ad Ordinem intenderent studio Sacrae Scripturae, respondit: "Mihi quidem placet, dum tarnen exemplo Christi, quis magis orasse legitur quam legisse, orationis Studium non omittant nec tantum studeant, ut sciant, qualiter debeant loqui, sed ut audita faciant, et cum fecerint, aliis facienda proponant [...]."
ich von GRUNDMANN, Bewegungen, S. 154, Anm. 156.
100
Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
Alexander von Haies, der erste bedeutendere Theologe unter den eintretenden Universitätsangehörigen, war schon Magister in Paris, als er 1236 Franziskaner wurde." Ihm wurde sogleich das Lektorat des Pariser Franziskanerstudiums übertragen.20 Seine theoretische Aufgabe, nun für den Orden zu sprechen, war nicht einfach, denn die Franziskaner waren von ihrer Regel her auf Ermahnung fixiert,21 während ihr Verhältnis zu theologischen Studien bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts gebrochen blieb. Nachdem sich die franziskanische Bewegimg bereits innerhalb einer Generation vom radikalen Armutsideal abgewandt und gegen den Willen des Franziskus feste Ordenssitze akzeptiert hatte, wäre es der Begründung einer ideellen Kontinuität des Ordens abträglich gewesen, auch im Bildungswesen einen offenen Bruch zu den Intentionen des Gründers zu vollziehen. Anderseits war dieser Bruch notwendig; denn daß die theologische Unbedarftheit den Fortbestand des Ordens gefährde, war ja inzwischen erwiesen. Die frühe Ordenstheologie der Franziskaner, die Alexander nun zu begründen hatte, konnte daher nicht anders angelegt sein denn als eine Theorie der Vermittlung zwischen philosophischer Theologie und vita apostolica: Sie sollte mit den Mitteln der Vernunft darlegen, daß von der Vernunft nicht zuviel zu erwarten sei. Alexander waren die Auseinandersetzungen um den neuen Aristoteles vertraut, und daß man ihnen nicht aus dem Weg gehen konnte, erschien vor seinem Erfahrungshorizont als selbstverständlich. Er unterbreitete vom Stand seines Wissens und seines Problembewußtseins aus gleichsam den Vorschlag, wie man in der paradoxen Situation argumentieren könne: durch vernunftgemäße Begründung des nichtvernünftigen - nämlich affektiven - Weges zu Gott.22
19
FELDER, S. 180 gibt noch 1231 an, mit ihm GILSON, Philosophie, S. 436 und FLASCH, Denken, S. 253f. Ich folge HAMELIN, S. 2-3.
20
FELDER, S . 1 8 1 , HAMELIN, S . 3 .
21
Regula bullata ed. BOEHMER, cap. 9, S. 22. RUH, David, S. 49-54 entwickelt, wie die Überlagerung dieses Grundanliegens mit der Rezeption theologischer Gelehrsamkeit das spezifische Bild der franziskanischen Literatur des 13. Jahrhunderts prägt. Alexander v. Haies, Summa theologica, lib. I, q. I, cap. 1, co.: Primo notandum quod est scientia causae et scientia causati. Scientia vero causae causarum est sui gratia; scientia vero causatorum, sive sint causae sive effectus tantum, non est sui gratia, quia referuntur et dependent α causa causarum. Hinc est quod Theologia, quae est scientia de Deo, qui est causa causarum, sui gratia est. Nomen ergo scientiae appropriatur scientiae causatorum, nomen vero sapentiae scientiae causae causarum. Unde et ipse Philosophus dicit quod Philosophia Prima, quae est sui gratia et de causa causarum, debet did sapientia. Simili ratione doctrina theologica, quae transcendit omnes alias scientias, debet dici sapientia; unde Deut. 4,6: Haec est nostra sapientia et intellectus coram populis. Praeterea, notandum quod est scientia perficiens cognitionem secundum veritatem; est etiam
22
Gewissen zwischen den Tätigkeitsbereichen der deutschen Franziskaner
101
Damit war sowohl die Metaphysik in ihrem Recht, und zwar als Beschreibungs- und Begründungswissenschaft, als auch die Theologie, nämlich als Leitund Letztbegründungsdisziplin.23 Diese theoretische Vermittlung der aktuellen philosophischen Diskussion mit den Lehren des Ordensgründers, die schon in der nächsten Generation, der des Bonaventura, die charakteristische Ordensdoktrin von der Überlegenheit des Willens gegenüber der Vernunft erzeugt, vollzieht sich zu der Zeit, in der David von Augsburg Novizenmeister in Regensburg24 ist und Berthold von Regensburg predigt.25 Die kurze Phase der Herausbildung einer Ordenstheologie mündet unmittelbar in Kontrolle und Zensur. Bonaventura hatte 1250-52 in Paris die Sentenzen des Petrus Lombardus kommentiert; 1257 wurde er Ordensgeneral und stellte seine wissenschaftlichen Absichten zurück.26 Im gleichen Jahr, Bonaventura war schon Ordensgeneral, trat der englische Gelehrte Roger Bacon in den Franziskanerorden ein.27 Drei Jahre später, 1260, setzte Bonaventura bei der Ordensversammlung von Narbonne die Zensur aller theologischen Lehrschriften im Orden durch.28 Er verhängte über Roger Bacon für
scientia movens affectionem ad bonitalem. Prima est ut cognitio secundum visum, et ideo debet did scientia absoluta; secunda, ut cognitio secundum gustum, et ideo debet dici sapientia a sapore affectionis, secundum quod dicitur Eccli. 6,23: Sapientia secundum suum nomen est. Theologia igitur, quae perficit animam secundum affectionem, movendo ad bonum perprincipia timoris et amoris, proprie et principaliter est sapientia. Prima Philosophia, quae est theologia philosophorum, quae est de causa causarum, sed ut perficiens cognitionem secundum viam artis et ratiocinationis, minus proprie dicitur sapientia. 23
V g l . SCHERER, P h i l o s o p h i e , S . 1 1 3 ; GILSON, P h i l o s o p h i e , S .
24
Vgl. STÖCKERL, S. 12. Die Arbeit bleibt nach wie vor unverzichtbar. Die Dissertation von Claudia Rüegg: David von Augsburg. Historische, theologische und philosophische Schwierigkeiten zu Beginn des Franziskanerordens in Deutschland. Bern, Frankfurt a.M., New York, Paris 1989 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 Bd. 4) ist leider so voll von sachlichem Unfug, daß man ihr auch in den historischen Fakten nicht vertrauen mag, die sie aus besseren Quellen übernommen hat. Vgl. BANTA, Berthold; STEER, Berthold, S. 170-172. Dieses Datum überliefert die 'Chronica generalium ministrorum ordinis fratrum minorum': Analecta Franciscana Bd. 3, S. 323. Die Glaßbergersche Chronik spricht von 1256, Analecta Franciscana Bd. 2, S. 74. Vgl. SCHMIDT, Bonaven-
" 26
tura, S . 27 28
436-437.
248-249.
FLASCH, Denken, S. 349. Constitutiones Narbonenses, Bonaventura Opera Bd. 8, S. 449-467, rubrica VI, S. 456: Item inhibemus, ne de cetero aliquod scriptum novum extra Ordinem publicetur, nisi prius examinatum fiierit per generalem Ministrum, vel provincialem et Definitores in Capitulo provinciali. Et quicumque contra fecerit, tribus diebus tantum in pane et aqua ieiunet et careat illo scripto. Nullus Fratrum audeat aliquam opinionem asserere vel approbare scienter, quae a magistris nostris
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Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
den Fall, daß dieser weiter schreibe und seine Schriften anderen zugänglich mache, den Verlust aller Arbeitsbedingungen und leibliche Repressalien.29 Roger Bacon hat den deutschen Prediger Berthold, und das ist wohl Berthold von Regensburg, als positives Gegenbeispiel zu dummen und schlechten Predigern erwähnt (ohne auf die Lehrinhalte einzugehen). Aus seiner Stellungnahme zur Predigtpraxis der Franziskaner geht hervor, daß er es für falsch hält, in der Predigt die intellektuelle Neugier von Laien zu wecken, und statt dessen die affektive Erhöhung und Ausrichtung auf Gott als Grundaufgabe der Predigt begreift; im Sinne solcher Wirksamkeit hebt er Berthold hervor.30 Wirksamkeit war ein Teil des franziskanischen Auftrags; wenn das päpstliche Privileg zum Beichthören und Absolvieren dem Orden nützen sollte, dann mußten die Prediger die Bevölkerung dazu bringen, ihre
29
30
communiter reprobatur; nec opinionem singularem cuiuscumque suspectam vel calumniabilem, maxime contra fidem vel mores audeal defensare. Et qui contra fecerit, nisi admonitus per Ministrum resipuerit, ab omni doctrinae officio sit suspensus. Vgl. FLASCH, Denken, S. 350. Im Opus tertium, cap. II, ed. BREWER, S. 13 berichtet Roger: Nam in alio statu non feci scriptum aliquod philosophiae, nec in hoc, in quo sum modo, fui requisites a praelatis meis; immo facta est constitutio gravis in contrarium, sub praecepto et poena amissionis libri, et jejunio in pane et aque pluribus diebus, si aliquod scriptum factum apud nos aliis communicetur. Vgl. FLASCH, Denken, S. 348-354, Heck, S. 16 unter Berufung auf eine allerdings editorisch nicht abgesicherte Stelle aus dem Opus minus (mitgeteilt in ed. BREWER, Einleitung S. XCIV). Als Bonaventura 1274 starb, war sein Nachfolger im Amt des Ordensgenerals, Hieronymus von Ascoli, dem Roger Bacon übrigens nicht günstiger, sondern ließ ihn 1277 einkerkern: Nachricht in der Chronica Generalium, Analecta Franciscana, Bd. 3, S. 360: Hie Generalis frater Hieronymus de multorum fratrum consilio condemnavit et reprobavit doctrinam fratris Rogerii Bachonis Anglici, sacrae theologiae magistri, continentem aliquas novitates suspectas, propter quas fuit idem Rogerius carceri condemnatus, praeeipiendo omnibus fratribus, ut nullus illam teneret, sed ipsam vitaret ut per Ordinem reprobatum. Vgl. HECK, S. 23 u. S. 198. Roger ist 1292 gestorben, im dritten Jahr nach seiner Freilassung durch den dritten Ordensgeneral, den er erlebte, vgl. HECK, S. 24. Roger Bacon, Opus Tertium, Kap. LXXV, ed. BREWER, S. 309-310: Et quia praelati, ut in pluribus, non sunt multum instrueti in theologia, nec in praedicatione dum sunt in studio, ideo postquam sunt praelati, cum eis ineumbit opus praedicandi, mutuantur et mendicant quaternos puerorum, qui adinvenerunt curiositatem infinitam praedicandi, penes divisiones et consonantias et concordantias vocales, ubi nec est sublimitas sermonis, nec sapientiae magnitudo, sed infinitapuerilis stultitia, et vilificatio sermonum Dei [...] Sed excitantur audientes ad omnem curiositatem intellectus, ut in nullo affectus elevetur in bonum per eos qui talibus modis utuntur in praedicatione. Sed licet vulgus praedicantium sie utatur, tarnen aliqui modum alium habentes, infinitam faciunt utilitatem, ut est Frater Bertholdus Alemannus, qui solus plus facit de Militate magnifica in praedicatione, quam fere omnes alii fratres ordinis utriusque.
Gewissen zwischen den Tätigkeitsbereichen der deutschen Franziskaner
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Gewohnheiten zu ändern, sich nicht mehr in allen Fällen, wenn überhaupt, an den Priester der zuständigen Pfarrkirche zu wenden, sondern den Ordensleuten in ihrem Leben einen Platz einzuräumen. Diesen praktischen Nebensinn haben die Aufrufe zur geistlichen Umkehr immer, und ihr moralischer Rigorismus enthält auch eine Selbstempfehlung. Grundsätzlich war das bei den Dominikanermönchen nicht anders; aber deren Ordenstheologie zeichnete sich - bei allen Unterschieden im einzelnen - durch ein besonderes Zutrauen zur Vernunft aus, der zugestanden wurde, daß sie letztlich in der Lage sei, ein gutes, sittliches Leben zu wählen und gegenüber den anderen Seelenkräften durchzusetzen. In der volkssprachlichen Vermittlung führte dieses Zutrauen zur Vernunft zu einem Bildungskonzept für Laien, ausgehend von der Überzeugung, daß gezielte Überforderung ihres Verstandes den Unterrichteten vielleicht nützen, aber ihr sittliches Leben gewiß nicht beeinträchtigen würde. Demgegenüber legte die franziskanische Ordenstheologie die Vernunft auf eine dienende Funktion fest; was tatsächlich zum Guten strebe, sei der Wille. Der Verstand könne nur helfen, ein Gut auch als gut zu begreifen, aber der Weg zu Gott bleibe wesentlich affektiv. Das franziskanische Laienbildungskonzept31 stellt sich deshalb nicht die Frage: Was und wie muß ein Mensch wissen, damit Gottes Denken von ihm Besitz ergreift?, wie die Dominikaner fragen würden, sondern vielmehr: Was und wie muß der Mensch wissen, damit er mit Gottes Liebe liebt? Damit war die Grundaufgabe der franziskanischen Bildungspolitik in sich wesentlich schwieriger gestellt als die der dominikanischen. Was aber noch schwerer wiegt: Gerade für die Leitfrage ihrer Bildungspolitik in den einzelnen Ländern hatte die offizielle franziskanische Theologie des 13. Jahrhunderts - den angefeindeten Roger Bacon muß man hier ausnehmen, weil er im Orden nicht ausstrahlen konnte - keinen Theorievorlauf. Insofern ist es kein Wunder, daß sich ihre Antworten, gemessen am theoretischen Niveau der deutschen Predigten und Traktate der dominikanischen Konkurrenten, bescheiden ausnehmen. Loris Sturlese kommt zu dem Schluß: "Von einem streng philosophischen Standpunkt aus betrachtet, besitzen Bertholds und Davids Schriften ein weit weniger markantes Profil, als dies von literarischer Seite aus der Fall ist. Sie bleiben deutlich hinter ihren deutschen dominikani-
Damit versuche ich ein nicht direkt historisch bezeugtes, aber in seinem Wirken greifbares Handlungsprogramm des Ordens zu beschreiben, das sowohl der cura monialium als auch der Laienmission zugrundeliegt. Beider prinzipielle Einheit ist zumindest für den Augsburger Franziskanerkreis durch die Textgeschichte des Baumgarten-Korpus verbürgt, vgl. RUH, David, S. 56f. und UNGER, Baumgarten, S.
29-71.
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Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
sehen Zeitgenossen zurück".32 Anderseits hat die theoretische Affekt- und Willenslastigkeit der franziskanischen Doktrin die Ausbildung einer geschmeidigen, bildhaften Sprache befördert.33 Die deutsche Literatur der Franziskaner des 13. Jahrhunderts zerfällt gleichsam in zwei Teile, die ursächlich miteinander zu tun haben, deren Zusammengehörigkeit aber erst im folgenden Jahrhundert durch beider gemeinsame literarische Folgen zutage tritt. Einerseits übersetzen und sammeln die Barfüßer Predigten und Traktate, besonders die ihrer Ordensbrüder. Hierher gehören nicht nur die unter dem Namen Bertholds von Regensburg überlieferten Predigten,34 sondern, wie Hans-Jochen Schiewer gezeigt hat, auch die Schwarzwälder Predigten;35 dazu die Werke Davids von Augsburg36 und die Sammlung 'Geistlicher herzen bavngart', ein anonym und unfest tradiertes Lesebuch zur geistlichen Lebensführung, in das Stücke aus David von Augsburg und Berthold von Regensburg aufgenommen sind.37 Anderseits beteiligen sie sich an der Ausarbeitung weltlicher Rechtsbücher, der Augsburger Sachsenspiegelfassung, des Schwabenspiegels und des Deutschenspiegels.38 Das sind auf den ersten Blick zwei völlig unver-
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33 34
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37
38
Philosophie, S . 316. Vgl. RUH, David, S. 48. Leider ist das Berthold-Korpus noch immer unzureichend ediert, die durch ein Vorwort von Kurt RUH ergänzte Ausgabe von PFEIFFER und STROBL bleibt im Neudruck die einzig verfügbare umfassendere Textbasis. Als Dieter RICHTER 1967 das Vorwort zu seiner (1969 erschienenen) Untersuchung der BertholdÜberlieferung (= RICHTER, Überlieferung) schrieb, glaubte er noch auf die bevorstehende Neuausgabe durch Frank G. BANTA verweisen zu können (ebd., S. V). Die Ausgabe ist indessen nie erschienen. Neben Richters Ausgabe der *ZRedaktion (RICHTER, Berthold Predigten *Z) wurden in RUH, Schrifttum II, S. 940 drei Predigten aus der Y-Gruppe ediert. Die franziskanische Provenienz der Schwarzwälder Predigten hat SCHIEWER aus dem Vergleich der Perikopentexte der franziskanischen und dominikanischen Liturgie mit den Sonntagspredigten gewonnen, vgl. DERS., Entstehung, S. 4 5 - 4 6 . SCHIEWER zeigt ebd., S . 4 6 und ebd., Anm. 5 5 , daß die Sammlung bewußt anonym überliefert ist und auch keine Werk-Identität (wie etwa die ParadisusSammlung) ausgebildet hat. Die Zusammenstellung der edierten Werke Davids bei SCHWAB, S . 2 1 3 - 2 1 4 , ist zu erweitern um: die Edition der Paternosterauslegung ebd., S. 8 8 - 1 2 2 ; eine Übersetzung des 14. Jahrhunderts zur 'Formula de composilione hominis exterioris ad novitios', aus der RUH, Schrifttum I, S. 1 4 0 - 1 4 6 Teile vorstellt; RUHS zweite Ausgabe der 'Sieben Staffeln des Gebetes' ebd., S. 2 2 1 - 2 4 7 ; schließlich RUHS Ausgabe der Ave-Maria-Auslegung in DERS., Schrifttum II, S. 2 8 3 - 2 8 9 . Vgl. UNGER, Baumgarten, S. 1 8 1 - 1 8 3 . Edition ebd., S. 1 8 7 - 4 5 0 . Zum Überblick über die Literatur der Franziskaner vgl. RUH, Schrifttum I u. II. Dazu grundlegend DOELLE, Rechts Studien. Vgl. auch HÜBNER, Vorstudien, S. 1 0 3 . Resümierend RUH, David, S . 5 7 - 5 8 . STURLESE,
Gewissen zwischen den Tätigkeitsbereichen der deutschen Franziskaner
105
bundene Arbeitsgebiete.39 Ihre Gemeinsamkeit liegt im Bemühen um umfassende Normierung. Deren populärtheologische Konsequenz wird erst im 14. Jahrhundert voll hervortreten, bei Marquards von Lindau Hinwendung zu den Geboten nicht im Sinne einer Minimalnorm, sondern im Sinne einer Richtschnur geistlichen Lebens. Die weltliche Ausstrahlung dieser Grundeigenschaft - des Bemühens um Normierung - entspringt der gemeinscholastischen Doktrin, daß ein Gesetz dann gerecht sei, wenn es sich mit dem Gesetz Gottes in Übereinstimmung befände. Das heißt nämlich umgekehrt, daß der moralischen Entscheidung der Menschen ein potentielles Konfliktfeld erspart werden kann, indem weltliches Recht von vornherein im Einklang mit dem göttlich Gebotenen und dem Recht der Kirche steht. Laienermahnung, Übersetzung von Ordensregeln, Elementartheologie für Klosterfrauen und Laien, Mitwirkung an Rechtsbüchern: Der Orden verfolgt in seinem deutschsprachigen Schrifttum deutlich normierende Absichten, und zwar im doppelten Sinne, nämlich hinsichtlich einer buchstäblichen Gesetzlichkeit und hinsichtlich einer freiwilligen Selbstzensur des Guten in Bereichen, die einer effektiven Kontrolle an einem kodifizierten Maßstab nicht unmittelbar zugänglich sind. Die deutschen Franziskaner propagieren eine Legislative, die weiter geht als die engsten Netze jeder vorhandenen Exekutive: Das Gute ist das Rechte, auch dort, wo Menschen es nicht effektiv durchsetzen können. Die Norm des Guten und Rechten beginnt beim geschriebenen positiven Recht und setzt sich als inneres Regulativ der einzelnen fort, als ein Regulativ, das erworben werden kann und muß, aber menschlicher intersubjektiver Kontrolle nur begrenzt zugänglich ist. Der denknotwendige Zusammenhang zwischen Anleitung zum sündlosen Leben und der Mitwirkung an Gesetzen darüber, was als weltlich strafbar und straffrei zu gelten hat, ist die Ausrichtung am Guten.40 Ihr Rahmen kann
39 40
In diesem Sinne auch RUH, David, S. 58. So linear hat allerdings die Geschichte nicht funktioniert. Im 12. Jahrhundert beklagten und verboten Synoden, Konzilien und Dekretalien den offenbar nicht ungewöhnlichen Zustand, daß Mönche, die Profeß abgelegt hatten, sich zum Zwecke des Studiums der Rechte eigenmächtig von ihren Klöstern entfernten und als weltliche Rechtsberater praktizierten; Quellen bei FELDER, S. 386f. Hier ging es wesentlich um weltliches, nämlich römisches Recht. Am Anfang des 13. Jahrhunderts ist diese Rechtsform bereits stärker in das kanonische Recht eingedrungen; die Unterschiede im Geltungsanspruch sind stärker als die in den Wissens- und Wissenschaftsstrukturen. Dennoch lehnen die älteren Orden die Studien beider Rechte ab; die Zisterzienser verbieten sie durch das ganze 13. Jahrhundert, vgl. FELDER, S. 389. Die Bettelorden sind auch nicht gleich schnell darin, an ihren Studien das Recht als Fach einzuführen. Die Dominikaner empfehlen 1259 auf dem Generalkapitel von Valence (CHARTULARIUM I, S. 385, nr. 335) die Kommentierung der summa de casibus poenitenlae des Raymund von
106
Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
weltlich und geistlich verbindlich abgesteckt werden, ihre Konsequenz zum Wunsch nach Vollkommenheit hin liegt aber nur noch in der Vollmacht des einzelnen: Das Bindeglied zwischen den beiden Bereichen literarischer Aktivität der Franziskaner liegt im 13. Jahrhundert bei den explizit entworfenen oder implizit vorausgesetzten Vorstellungen über die Tätigkeit des Gewissens. Alexander von Haies, der erste Franziskaner auf einem Lehrstuhl in Paris, hat die Verbindung von sittlicher Entscheidung und positivem Recht hergestellt, und zwar in seiner Theorie des Gewissens.41 Ob eine Handlung nur nach der subjektiven Einschätzung des Handelnden gut ist oder ob sie als objektiv gut bezeichnet werden kann, hängt nämlich nach Alexander wesentlich davon ab, ob die Handlung unter ein göttliches Gebot fallt. Zu wissen, was determinate bona sind und was determinate mala,42 macht den Menschen erst handlungsfähig, er müßte sonst seiner sittlichen Entscheidung ständig mißtrauen. Eine theologische Richtung, die eine Beratungsethik im Sinne Alexanders und Bonaventuras vertritt, muß sich, da ja offenbar die Anzahl der möglichen menschlichen Handlungen größer ist als die der biblisch bewerteten, entscheiden: Entweder befördert sie Gesetzesstudien aller Art, voran die Bestimmung dessen, was Sünde ist, nach dem Maßstab der göttlichen Gebote, und sichert mit ihrer Autorität ab, daß weltliche positive Gesetze im Einklang mit dem göttlichen Gesetz stehen; oder sie muß dem zustimmen, daß sich der Mensch für jede moralische Entscheidung rückversichern muß. Der Franziskanerorden hat sich für die erste Möglichkeit entschieden, die zweite aber nie gänzlich ausgeschlagen.
2. Berthold und ein Anonymus über das Gewissen im 'Baumgarten geistlicher Herzen' Die geistliche Literatur der deutschen Franziskaner im Raum von Regensburg bis Augsburg ist in sich verflochten und verwoben. Am deutlichsten ist das an der Sammlung Geistlicher herzen bavngart abzulesen, die von Helga Unger untersucht und ediert worden ist. In dieses Lesebuch sind Auszüge aus
41
42
Pennaforte (erste Redaktion 1218-1221, vgl. KUTTNER, Raymund, S. 419). Die Franziskaner erwähnen 1260 in Narbonne das Juristenproblem nicht, vgl. FELDER, S. 390, das heißt zumindest aber, daß Rechtsstudien geduldet werden. Erst 1292 erlaubt ein franziskanisches Generalkapitel, daß eigene Lehrer der Rechte bestellt werden dürfen: EHRLE, Konstitutionen, S. 108. Sie ist grundlegend aufgearbeitet bei LOTTIN II, S. 174-187, 354-357 u. 364-365. Eine gute Überblicksdarstellung bei HAMELIN, S. 9f. Die Begriffe benutzt Alexander für das sicher Gute und sicher Böse: LOTTIN II, S. 355.
Berthold und ein Anonymus über das Gewissen
107
dem Werk Davids von Augsburg und Bertholds von Regensburg übernommen;43 sie führen auf eine Datierung nach 1250, wahrscheinlicher nach 1260/1270.44 Die sprachlichen Charakteristika der Handschriften weisen in den Augsburger Raum.43 Die früheste überlieferte Handschrift enthält bereits typische Traditionsfehler; sie entstand kurz nach 1300.46 Unger hält deshalb Entstehung in Augsburg zwischen 1270 und 1290 für wahrscheinlich.47 Daß die Sammlung ursprünglich zu klösterlichem Gebrauch bestimmt war, hält sie aus dem Textbestand heraus für gesichert;48 dagegen hat sich die Vermutung Kurt Ruhs, sie sei für die Drittordensschwestern in St. Maria Stern geschrieben worden,49 zumindest nicht durch Überlieferungstatsachen bestätigen lassen.50 In diesem Korpus finden sich nun zwei umfangreiche Stellen über das Gewissen. Die Haupthandschriften des bavngart51 überliefern als ein Kapitel, also im Sinne geschlossener Aufnahme,52 sechs Predigten Bertholds von Regensburg; Dieter Richter hat sie 1968, vor dem Erscheinen, aber mit Kenntnis der Baumgarten-Untersuchung,53 nach derselben Leithandschrift ediert, die Helga Unger für ihre Textherstellung benutzt hat.54 Innerhalb der Berthold-Überlieferung gehören sie zur kleinen Gruppe *Z.55 Das Stück über das Gewissen steht in der Klosterpredigt 'Von den zehn Jungfrauen'. 56 Ebenfalls in den beiden Haupthandschriften überliefert ist ein ganzes Kapitel über das Gewissen. Helga Unger hat hierzu keine Textparallelen aus David oder Berthold nachweisen können.
43
Vgl. RUH, David, S. 56. Helga UNGER hat die Textparallelen, soweit sie zu ermitteln waren, in einem zweiten Apparat ihrer Edition (DIES., Baumgarten) nachgewiesen.
44
UNGER, B a u m g a r t e n , S .
45
UNGER, B a u m g a r t e n , S .
182.
46
UNGER, B a u m g a r t e n , S .
181.
182.
47
UNGER, B a u m g a r t e n , S .
182.
48
UNGER, B a u m g a r t e n , S .
182f.
49
Vgl. RUH, David, S. 57.
50
UNGER, B a u m g a r t e n , S .
51
C g m 6 2 4 7 , u m 1 3 0 0 , u n d c g m 2 1 0 , E n d e 14. J a h r h u n d e r t , v g l . UNGER, B a u m -
52 53
183.
garten, S. 139. Vgl. RICHTER, Berthold Predigten *Z, S. 11. Vgl. RICHTER, Berthold Predigten *Z, S. 9.
54
UNGER, B a u m g a r t e n , S . 4 4 1 , A n m . 2 .
5I
RICHTER, B e r t h o l d P r e d i g t e n * Z , S .
56
RICHTER, Berthold Predigten *Z, S. 54-57. Die Predigt bei PFEIFFER/STROBL/RUH II, S . 2 5 8 - 2 6 1 a l s "erste K l o s t e r p r e d i g t " in a n d e r e r T e x t f a s s u n g .
10-15.
108
2.1.
Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
Die Predigt Bertholds von Regensburg *Z über die zehn Jungfrauen
Es handelt sich um eine Klosterpredigt, die die törichten und klugen Jungfrauen von Mt. 25 auf Fehler und Wohlverhalten im Kloster auslegt. Die fünf Torheiten sind: Böses tun; Böses nur aus Furcht vor Strafe meiden; gern an Böses denken; vorgespiegelte Keuschheit; Keuschheit aus Überheblichkeit. Die fünf rechten Verhaltensweisen sind: sich nicht nur vor Todsünden, sondern auch vor läßlichen Sünden hüten; Demut, Geduld und Barmherzigkeit bei der guten Handlung; die Ordensregeln beobachten; Andacht halten; gutiv gewizzen. Dieser letzte Punkt heißt im Text: Daz fvmfi daz ist gutiv gewizzen, gewis des himelriches: Ie bezzer gewizzen hie nidenen ie Ivter said dort obenan, ie Ivter gewizzen hie nidenen ie grozzer scelde, ie grozzer frbde dort obenan. Ez chome der endecrist, ez werde daz chloster arme oder swie ez erge, sich nivr, daz dv ein gut gewizzen habest. 'Bruder, nach der red so bedarf ich niht abtessin noch priorin.' Weiher tievel wendet dich einer guten gewizzen ? Dich mach nihtesniht geirren wan zwai dinch: vnrehtiv vorhte vnd vnrehtiv minne,57
Es ist einigermaßen irritierend an diesem Text aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, daß er, zumal für das nachzeitige Verständnis eines heutigen Interpreten, völlig klar ist und dennoch, sobald man sich die Offenheit des Wortfeldes in der Entstehungszeit vor Augen hält, keineswegs mehr feststeht, worum es hier eigentlich geht: In welchem Sinn wird gewizzen verwendet? Die Grundbedeutung 'Wissen' läßt sich schnell ausschließen, denn die Attribute gut und Ivter, mehr noch die Zusicherung himmlischer Seligkeit für die gutiv gewizzen sprechen aus theologischen Gründen dagegen. Ebenso verhält es sich mit den Bedeutungen 'rechtsrelevantes, bezeugbares Wissen von fremden Handlungen' und 'Zusicherung'. Die Bedeutung 'Gewißheit' dagegen wäre von der Fügung gewizzen, gewis des himelriches gedeckt. Zwei Handschriften haben hier gewishait für gewizzen des edierten Textes;58 aber ihr Zeugnis ist wiederum dadurch in Frage gestellt, daß sie das Wort erklären als gewishait des himelreichsRichter hält die Stelle für "wahrscheinlich hoffnungslos entstellt"60 und gibt neben seiner in den Text aufgenommenen Variante der Besserung im Apparat noch die Möglichkeit daz ist/div gibet gewisheit des himelriches.61 Die Weiterfuh-
57 58 59 60 61
RICHTER, RICHTER, RICHTER, RICHTER, RICHTER,
Berthold Berthold Berthold Berthold Berthold
Predigten Predigten Predigten Predigten Predigten
*Z, *Z, *Z, *Z, *Z,
S. S. S. S. S.
57. 105. 106. 106. 106.
Berthold und ein Anonymus über das Gewissen
109
rung des Gedankens der Gewißheit stößt aber auf Schwierigkeiten: ie Ivter gewizzen hie nidenen ie grozzer saelde, ie grozzer frbde dort obenan würde dann bedeuten, daß eine abstrakte Gewißheit die Seligkeit verbürgt; das ist nur dann dogmatisch unbedenklich, wenn die Glaubensgewißheit gemeint wäre. In diesem Falle wäre der Einwurf der Hörerin nun schlecht motiviert, denn der Prediger kann nicht sinnvoll unterstellen, daß jemand einer Ermahnung zur Glaubensgewißheit wegen, also auf einen theologischen Gemeinplatz von höchster Allgemeinheit hin, annähme, keine Äbtissin oder Priorin mehr zu brauchen. Zudem verläßt gewizzen dann die Bedeutung 'Gewißheit', die durch zeitgenössische Belege abgesichert ist, und man hätte zu erklären, warum die klassischen Gewissensattribute gut und Ivtef1 sich hier auf den Glauben beziehen.63 Einleuchtender und schlüssiger wird der Text, wenn man annimmt, daß gutiv gewizzen hier für das lateinische conscientia bona steht, also für das Gewissen im moralischen Sinn. Diese Annahme kann durch Parallelstellen aus dem Korpus des Baumgartens in ihrem Recht bestätigt werden, wenn auch eingeräumt werden muß, daß die Berthold-Predigten offenbar früher entstanden und als geschlossener Block inseriert worden sind,64 wobei möglicherweise nicht alle Wortverwendungen angeglichen wurden. Anderseits ist anzunehmen, daß die Übersetzerwerkstätten der süddeutschen Franziskaner sich in der tragenden Begrifflichkeit unabhängig vom zugrundeliegenden Autor um eine gewisse Konsequenz bemüht haben. Gewizzen heißt das Wort im bavngart für die traditionell theologisch verstandene conscientia beispielsweise in: wart ettleich werdent so irre, so si irre gewizzen leich vertriben haben [...],65
rüget, daz si die arbait
Vnser leben sol ze allen Zeiten so gestalt sin, daz wir mit miner enphahen den heiligen goles lichnamen66
gewizen
vnnücz-
mügen
62
V g l . DELHAYE, S . 6 5 - 7 1 u . 7 7 .
63
Trotz allem bleibt dieser Variante des Verständnisses ein gewisser Grad von Möglichkeit, denn der nach 1400 überlieferte 'Liber ordinis rerum' gibt zu conscientia in zwei Überlieferungsträgern gwissen gotfarchtsamchait, gotuorchtig vel gwissen an. SCHMITT, P. (Hg.), Liber, Bd. 1, S. 494 (cap. 158). Ich halte es aber mit den unten Teil I Kap. VI angeführten Gründen für unwahrscheinlich, daß ein deutscher Text sich ausgerechnet an diesem Wörterbuchlemma orientiert. Vgl. RICHTER, Berthold Predigten *Z, S. 11. Kap. 89, UNGER, Baumgarten, S. 280. Kap. 148: Swer mit der bechorvnge der vnchvnschen gedanch vngebihtet zt> goles lichnamen get, UNGER, Baumgarten, S. 357-58. Stelle ebd., S. 358.
64 65 66
110
Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
und in Sebent si in sich, da sehent si den angstlichen wurm der verserten gewizen, div si ewichlichen nagen wil,57
Die Einführung der Gewissensthematik in der Berthold-Predigt bis zum vorgestellten Einwand der Schwester, also Daz ftmft daz ist gutiv gewizzen, gewis des himelriches: le bezzer gewizzen hie nidenen ie Ivter saeld dort obenan, ie Ivter gewizzen hie nidenen ie grozzer saelde, ie grozzer frbde dort obenan. Ez chome der endecrist, ez werde daz chloster arme oder swie ez erge, sich nivr, daz dv ein gut gewizzen habest
kommt ganz ohne jede Gewissenstheorie aus, was sie an Gewissensauffassung voraussetzt, ist biblisch, nämlich II Cor 1,12 Nam gloria nostra haec est, testimonium conscientiae nostrae, quod in simplicitate et sinceritate Dei et non in sapientia carnali, sed in gratia Dei conversati sumus in mundo, abundantius autem ad vos und Hbr 13,18 Orate pro nobis; confidimus enim, quia bonam conscientiam habemus in omnibus bene volentes conversari. Der rhetorische Einwand problematisiert dieses Gewissensverständnis jedoch: Wenn der Mensch seine Handlungen vor seinem Gewissen als gut beurteilt und das in allen Wechselfällen des Lebens seine himmlische Seligkeit verbürgt: Sollte er dann überhaupt auf Weisungen hören? Aus der Textaufbaustrategie geht klar hervor, daß Berthold die Frage als begreiflich, aber kurzsichtig hinstellen will; so hatte er bei der Demut und friedvollen Gesinnung schon drei Einwürfe eingebracht: 'Herre, ich lide si alle wol wan di einen. Ich chan nichtesniht getvn daz si gut dvnche; si getar halt wol di abtessin bestan168
ist der erste, der zweite heißt
67
Kap. 169: Wi di verlorn stent an dem ivngesten tag, UNGER, Baumgarten, S. 388. Das Bild vom Wurm bezieht sich auf Is 66,24 und Mc 9,43. Origenes, Horn, in Ez 10,5, CGS 8, S. 423,7 bezieht die Stelle auf die conscientia-, seitdem gehört die Verbindung des Gewissens mit dem Bild des nagenden Wurmes zum festen Bestand der Auslegungstradition. Zusammenhang und Nachweise bei STELZENBERGER, A u g u s t i n u s , S. 1 3 8 , A n m . 5 0 .
68
RICHTER, Berthold Predigten *Z, S. 56.
111
Berthold und ein Anonymus über das Gewissen 'Herre, ez hilft mich niht swie schonenm
vil ich ir geschone,
daz si min niht
wellent
und der dritte 'Si hat mir einen slaein an min herze geworfen
\70
Der Prediger rät zur Geduld und Fassung, zum Erleiden von Unrecht - das als solches durchaus anerkannt wird - um Christi willen: vlizze dich vier oder aht wochen daz dv gedultich sist, dv chvmest ze ivngeste dar zt>, daz dir merer wcer der dir iht tele vnd gebest Ion dar vmb daz man dir etwaz tete.n
Dieses Gesetz der Serie verlangt, daß auch die letzte Frage in gleicher Weise beantwortet wird. Damit ist aber keineswegs klar, was die Stelle heißt: Weiher tievel wendet dich einer guten gewizzen ? Dich mach nihtesniht geirren zyvai dinch: vnrehtiv vorhte vnd vnrehtiv minne.
wan
Richter kommentiert die Stelle so: "Sinn: Wenn alles nur auf das gute Gewissen des Menschen ankommt, wozu brauche ich dann noch die äußere Ordnung des Klosters? Diesem - häretischen? - Einwurf der Hörerin begegnet der Prediger scharf mit dem Hinweis, daß gerade diese Einstellung eine Abkehr vom 'guten Gewissen' sei."72 Leider geht aus seiner Kommentierung nicht hervor, was dann die Bemerkungen zur Unrechten Furcht und Unrechten Liebe bedeuten sollen. Die Schwierigkeit beginnt beim Teufel: Steckt der Teufel schon in der Frage, oder gibt er Unrechte Furcht oder Unrechte Liebe ein? In meiner Übersetzung heißt die Stelle, die Wortgleichung gewizzen mit nhd. Gewissen einmal vorausgesetzt: 'Welcher Teufel hindert dich an einem guten Gewissen? Dich kann nichts beirren außer zwei Dingen: Unrechter Furcht und Unrechter Liebe.' Was die Unrechte Furcht und die Unrechte Liebe
69 70 71 72
RICHTER, RICHTER, RICHTER, RICHTER,
Berthold Berthold Berthold Berthold
Predigten Predigten Predigten Predigten
*Z, *Z, *Z, *Z,
S. S. S. S.
56. 56. 57. 79.
112
Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
betrifft, halte ich mich an Bertholds Predigt Von den drien huoten (bei Pfeiffer/Strobl Nr. XLII), in der beide Begriffe erklärt werden.73 Gesetzt den Fall, Richters Verständnis wäre richtig und der erwähnte Teufel bezöge sich als scharfe Erwiderung auf den Einwand. Dann müßte man den Satz lesen als: Welcher Teufel hindert dich jetzt, gerade in deiner Frage, an einem guten Gewissen? Man kann das Präsens von wendet aber auch als generelles Präsens verstehen, dann bedeutet der Satz: Welcher Teufel hindert dich grundsätzlich, immer an einem guten Gewissen? Ist nun die teuflische Verführung der Frage selbst gemeint, dann antwortet der letzte Satz auf die Frage nach der aktuellen Situation. Dagegen spricht zweierlei: Erstens gibt die Frage keinen Anhaltspunkt dafür, daß sie aus Unrechter Furcht gestellt sei; sie erwächst ja gerade aus einem übergroßen sittlichen Selbstvertrauen, das als vorläufiges Verständnis der bisherigen Ausführungen über die Kraft des Gewissens entstanden ist. Zweitens sind die beiden möglichen Gründe nicht durch oder, sondern durch und verbunden, und zwar in der gesamten handschriftlichen Tradition.74 Der einzelne aktuelle Grund kann, da sich Furcht und Liebe nicht additiv zueinander verhalten, aber nur durch ein oder beschrieben werden. So liegt es nahe, die zweite Verständnismöglichkeit zu erproben, nach der der Prediger nach dem eingestreuten Einwurf die Sprechebene verläßt und das Problem generell zu lösen versucht. Der Satz Weiher tievel wendet dich einer guten gewizzen? wäre dann so zu verstehen, daß die Äbtissin oder Priorin mit dem guten Gewissen nichts zu tun hat; Äbtissin hin oder her, sie tut nichts zum guten Gewissen und nichts dagegen. Verhindern kann das gute Gewissen nur, was die sittliche Entscheidungsfähigkeit trübt, und das sind falsche Affekte. Die Unrechte Furcht muß mit der Äbtissin zu tun haben, gesetzt, daß die Äbtissin etwas verlangt, was zu tun ein schlechtes Gewissen verursacht, also gegen das eigene Gewissen ist. Damit zielt die Stelle auf den Konflikt zweier Verpflichtungen: durch Gehorsamspflicht und durch Gewissensweisung. Die Unrechte Liebe muß sich nicht auf Selbstliebe beziehen, denkbar wäre auch Liebe zu Personen oder Dingen, die als subjektives Gut dem objektiv Guten vorangestellt werden. Der Text sagt nun nicht, daß man unbedingt tun müsse, was das Gewissen spricht, aber er stellt einen Zusammenhang her zwischen geistlichen Oberen und Unrechter Furcht. Das heißt
73
74
V g l . PFEIFFER/STROBL B d . II, S . 5 4 - 6 5 , h i e r S . 5 9 - 6 1 . D i e Predigt u n t e r s c h e i d e t
Unrechte Furcht vor Armut, Spott oder angedrohter Strafe und bringt auch den falschen Gehorsam des Knechtes gegenüber dem Herrn und der Frau gegenüber dem Ehemann als Beispiele dafür an. Die Unrechte Liebe richtet sich auf Verwandte oder Geliebte, auf Ehre oder Gut. Vgl. die Apparate bei RICHTER, Berthold Predigten *Z, S. 103-107.
Berthold und ein Anonymus über das Gewissen
113
zumindest, daß die Möglichkeit in Rechnung gestellt wird, die Äbtissin oder Priorin könne etwas Unrechtes verlangen und die betroffene Schwester werde durch Unrechte Furcht daran gehindert, zu tun, was ihr ein gutes Gewissen verschaffen würde. Aber sie kann daran auch durch Unrechte Liebe gehindert werden; ihre sittliche Entscheidung ist fehlbar. Ob das Gewissen als grundsätzlich richtig gedacht ist wie bei Bernhard von Clairvaux, der den Unterschied von Natursittlichkeit und aktueller Gewissensentscheidung noch nicht mitvollzieht,75 ist aus dem Text nicht schlüssig zu beantworten; es ist aber wahrscheinlich, denn das gute Gewissen wird als Garantie der himmlischen Seligkeit eingeführt: gutiv gewizzen, gewis des himelriches. Die vorgestellte Fragerin erhält in der Predigt nun in gewissem Maße recht. Aber sie hat im gleichen Maße auch unrecht. Denn tatsächlich braucht sie, um ein gutes Gewissen zu haben, keine Äbtissin oder Priorin; aber wenn sie schließt, sie deshalb überhaupt nicht zu brauchen, dann ist das Selbstüberhebung, gegen die Lebensregel im Kloster und insofern einem guten Gewissen feindlich. Wenn diese Stelle so verstanden werden muß, dann darf sie in der Geschichte der Auseinandersetzung um das Gewissen einen Platz beanspruchen, denn sie handelt auf deutsch davon, ob eine Handlung nach dem Gewissen sittlich gut sei und in welchem Grade das Gewissen bindet; sie fragt, ob ein Spruch des Gewissens die Anweisung eines Oberen überflüssig oder nichtig werden lassen kann. Bonaventura und Thomas haben ihre Lehren, in denen auch das Verhältnis von Gewissensurteil und Gehorsamspflicht erörtert wird, um 1250 niedergelegt: Bonaventura im Sentenzenkommentar 1250-52, Thomas in 'De veritate' 1256-59. Die Predigt gehört nach Richters Datierung in die Zeit von 1246/47 bis 1280.76 Sie könnte also nach rein chronologischem Gesichtspunkt sowohl mit Kenntnis von Bonaventuras Sentenzenkommentar als auch ohne solche Kenntnis entstanden sein. Bonaventura lehrt, daß dem Spruch der geistlichen Oberen immer und unter allen Umständen Folge zu leisten sei, auch wenn das Gewissen das Gegenteil vorschreibt. Diese Auffassung hat der Bertholdredaktor mit Sicherheit nicht vertreten; es wäre allenfalls einzuräumen, daß er den Spruch des Oberen nicht - wie Thomas - im Kon-
75
76
Vgl. DELHAYE, S. 38-41 führt an 'De praecepto et dispensatione' aus, daß Bernhard von grundsätzlicher Richtigkeit der conscientia ausgeht, aber conscientia nicht mit der intentio zusammenfallen läßt. Die gute Absicht kann sich mit einer bösen Tat verbinden; aber der Anteil des Menschen am göttlichen Licht verbürgt grundsätzliche Richtigkeit seiner conscientia, so daß Irrtümer Erscheinungen menschlichen Ungenügens sind, die gute Absicht ist, wenn sie zur bösen Tat führt, nicht gut genug. Sie kann im Einzelfall nur von Gott gerichtet werden. RICHTER, Berthold Predigten *Z, S. 14f.
114
Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
fliktfall explizit hintanstellen würde. 1257 hat Bonaventura das Amt des Ordensgenerals übernommen und mit der Politik der Reglementierung und Zensur begonnen. Die Gewissenslehre dieser Predigt geht aber tendenziell von der Ordensdoktrin des Bonaventura (und Alexander von Haies)77 ab, um sich Thomas anzuschließen. Es war zumindest nach 1260, nach der Einfuhrung der Zensur also, im Franziskanerorden nicht zu erwarten, damit Beifall zu erringen. Die merkwürdige Verrätselung der Stelle könnte gerade mit dieser Schwierigkeit zusammenhängen. Wenn die Predigt in der überlieferten Form dagegen vor 1252 entstanden sein sollte, dann spricht aus ihr ein Problembewußtsein, das dem der Gelehrtengeneration des Thomas und Bonaventura völlig entspricht; der Predigtredaktor, vielleicht auch Berthold selbst, dachte dann von Bernhard aus in eine Richtung, die Thomas und Bonaventura tatsächlich eingeschlagen haben.78 Er käme, ohne das Gewissen schon als Vernunftakt zu fassen und die Möglichkeiten seiner Fehlbarkeit gegenüber der unfehlbaren sittlichen Naturanlage zu erklären, dennoch zu einem ähnlichen Ergebnis wie später Thomas: Das einzelne Gewissen ist der höchste innerweltliche Richter über die Taten des einzelnen.
2.2.
Ein Anonymus im bavngart über das Gewissen
Das 188. Kapitel der Baumgarten-Sammlung ist in den beiden Haupthandschriften überliefert. Es hat in der Edition von Helga Unger folgenden Text:79 Daz man sich wert, da div gewizzen ist Ez geschiht aber daz diche, daz der heilige geist ret di warheit in der gewizzen. So chumt aber der valsche ratgebe, daz ist der listige tievel vnd sin helfcer, der ceigen sin, dem der mensch von natvre gern volget, vnd vart vil eben eines dinges, daz dem gelich si, daz im div war minne in der gewizzen geraten hat, ez si vzzer oder inner, vnd wil in betriegen mit valscher glichnusse, daz er des bezzern vergezze ze tün vnd sein geirret werde. Da von verdirbet vil gewizzen. Daz man si mit vngerehter gewizzen in sieht vnd daz man sich wert, daz div gewizzen vmb
77
V g l . LOTTIN II, S. 3 5 4 - 3 7 4 .
78
Für eine enge Verbindung zum Wissenschaftsbetrieb der Schulen, auch zu Paris, spricht eine Stelle der Glaßbergerschen Chronik, die unmittelbar auf die Erwähnung von Bonaventuras Wahl zum Ordensgeneral auf dem Kapitel in Paris steht und sich wohl auch auf Paris bezieht: His temporibus frater Bertholdus de Ratisbona Ordinis nostri, eximius praedicator, exsequens iniunctum sibi praedicationis officium, tantum profecit universitati tarn Cleri quam populi, ut omnium in cordibus et auribus fiierit admirandus. Analecta Franciscana Bd. 2, S. 74. UNGER, Baumgarten, S. 408f.
79
Berthold und ein Anonymus über das Gewissen
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daz vnreht iht straffe, da von chvmt der mensch in grozze vnlutercheit, daz er ze der vinsterin chumt, daz er weder sin gunst noch sin vngunst reht sihl noch orden chan nach gotes willen. Aber etwenne so chumt er in di andaht, daz er gern ein gät mensch wcer, so irret in sin langiv gewonheit; wan div tt>l grozzen schaden. Div getat der svnder ist vbel; noch vil wirser ist div gewonheit; aber aller wirst ist div vntrwe. Vnd da nach so mert er daz vbel vnd lat div schulde vf got vnd giht, er wcer als gät als ein anderre, het im got di gnade geben. Awe, wafen, wie verirret den div gewizzen ist, daz si ir eigen schulde niht erchennt, da mit si sich selben vervnruchelt hat! Si ze dem schaden chomen ist, daz ir der wille ze chranch vnd ze dünne ist worden, da mit si mit chreftigem hazze den Sünden vnd der bechorung widersten solt vnd mit kreftigem, emtzigen ernst der tvgent begern soll. Wan gienge vns niht ab an der bechorvnge, so gienge vns auch got niht ab mit den gnaden. Ich verstehe diesen Abschnitt folgendermaßen: 'Es geschieht aber häufig, daß der heilige Geist im Gewissen die Wahrheit rät. Dann kommt aber der falsche Ratgeber, das ist der listige Teufel und sein Helfer, der Eigensinn, dem der Mensch von Natur aus gern folgt. Und er stellt sich ganz genau wie etwas, das dem gleicht, das die wahre Liebe dem Menschen im Gewissen geraten hat, sei es etwas Äußeres oder Inneres, und will ihn betrügen mit der falschen Ähnlichkeit, damit er vergesse, das Bessere zu tun, und darin beirrt werde. Davon werden viele Gewissen zunichte. Daß man sie dem Unrechten Gewissen zuschlägt und daß man sich dagegen wehrt, daß das Gewissen wegen des Fehlers tadelt, davon kommt der Mensch in große Unklarkeit, so daß er in die Dunkelheit gerät, in der er weder recht sieht, was ihm wohl ansteht, noch, was ihm nicht ansteht, und beides nicht nach Gottes Willen trennen kann. Aber zuweilen verfällt er in den frommen Gedanken, daß er gern ein guter Mensch wäre. Dann hindert ihn seine lange Gewohnheit, denn die tut großen Schaden. Die Tat der Sünder ist schlecht; noch viel schlechter ist die Gewohnheit; aber am allerschlechtesten ist der Abfall vom Guten. Und danach vermehrt er die Schlechtigkeit und lädt die Schuld auf Gott und behauptet, er wäre so gut wie ein anderer, hätte ihm Gott die Gnade gegeben. Oh weh, wie ist denen das Gewissen verirrt, daß es seine eigene Schuld nicht erkennt, nicht weiß, womit es sich selbst in Unruhe versetzt hat! Es ist in die mißliche Lage gekommen, daß ihm der Wille zu schwächlich und gebrechlich geworden ist, mit dem es in kraftvollem Haß der Sünde und der Versuchung widerstehen sollte und mit dem es in kraftvollem, beharrlichem Kampf die Tugend erstreben sollte. Denn fehlte es uns nicht an Versuchung, so fehlte uns auch Gott nicht mit seiner Gnade.' Dem Gewissen werden in diesem Kapitel folgende Eigenschaften und Tätigkeiten zugeschrieben: Es ist der Ort der Beratung durch den heiligen Geist, aber auch der Verführung durch den Teufel. Es kann dadurch korrumpiert werden, daß ihm ein Übel als ein Gut erscheint. Aber es spräche
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sonst naturgemäß das Rechte, denn sein Tadel darf selbst dann erwartet werden, wenn es die böse Tat, weil sie einer guten ähnlich ist, gutgeheißen hat. Das Gewissen kann selbst etwas verschulden. Ob die Formulierung daz ir der wille ze chranch vnd ze dünne ist worden unterstellt, daß das Gewissen einen eignen Willen habe, ist eher zu bezweifeln. Selbst wenn dieser Satz das Gewissen rhetorisch-bildlich zur Person mit einem eigenen Willen macht, ist die Frage, ob sich dies unmittelbar in begriffliche Sprache rückübersetzen läßt. Zudem könnte daz ir der wille [...] auch gelesen werden als: daß der Wille für sie (das Gewissen als Femininum)..., also als Zuordnungsangabe innerhalb der Seelenkräfte. Damit bewegt sich die Gewissensauffassung dieses Abschnittes aus dem Baumgarten noch im Vorfeld der zeitgenössischen Reflexion über synderesis und conscientia: Das von Natur aus unbeirrbare, aber teuflisch korrumpierbare Gewissen ist wie bei Bernhard noch gleichzeitig Naturinstanz und handelnde Urteilskraft; die seit Philipp dem Kanzler gestellte Frage, ob es in aristotelischer Sprache Potenz, Akt oder Habitus sei,80 spielt noch keine Rolle. Aber mit diesem um die Mitte des 13. Jahrhunderts bereits vormodernen Material werden durchaus zeitgemäße Überlegungen angestellt: Das getäuschte und das schlechte Gewissen sind eigentlich nicht gleichartig. Das getäuschte Gewissen glaubt von sich, im Recht zu sein. Der Mensch wird deshalb von den anschließenden Gewissensbissen überrascht und verwehrt sich gegen sie. Infolgedessen mißtraut er seinen Gewissensbissen überhaupt, er vermischt das getäuschte mit dem schlechten Gewissen. Er verläßt sich wegen der erlebten Täuschung nun weder auf das vorausschauende noch auf das rückblickende Gewissen und wird dadurch unfähig zu sittlichem Handeln und zur Unterscheidung von gut und böse. Daß es sich hier tatsächlich um Probleme handelt, die die Ethik des 13. Jahrhunderts strittig diskutiert, wird klar, wenn man versucht, denselben Sachverhalt in der Sprache des Thomas und Bonaventura wiederzugeben. Das getäuschte Gewissen fällt für diesen Diskussionszusammenhang unter den Begriff der conscientia erronea. Die irrige Gewissenseinschätzung kann zwar nach Thomas ohne Sünde geändert werden, aber solange sie bleibt, ist sie unbedingt bindend. Nach Bonaventura besteht, sofern es sich nicht um unwichtige Dinge handelt, objektiv die Pflicht, die Gewissenseinschätzung zu ändern. Subjektiv kann das jedoch nur ein bewußter Akt sein, der wiederum ein Fehlerbewußtsein voraussetzt, das, wie Thomas in seiner Kritik an Bonaventura richtig anmerkt, nicht entstehen kann, solange es überhaupt ein
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V g l . LOTTIN II, S. 1 3 8 - 1 5 7 .
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irrendes Gewissen geben soll.81 Das Baumgarten-Kapitel knüpft, wie mir scheint, an diese Schwierigkeit von Bonaventuras Lehre an und nimmt den Einwand des Thomas ernst. Dem deutschen Wortlaut nach rät der heilige Geist nämlich in der gewizzen. Das wäre von einem thomanischen Standpunkt - Gewissen als Vernunftakt - nicht möglich, es geht aber gut zusammen mit den Auffassungen des Alexander von Haies und Bonaventura, die gerade die Bestimmung als actus ausklammern.82 Der Gedanke der gewohnheitsmäßigen Verfestigung, den Bonaventura favorisiert - nämlich des habitus - wird im deutschen Text sogar eigens ausgeführt und ausgemalt: so irret in sin langiv gewonheit. Aber dort, wo Bonaventuras Lehre von der irrigen conscientia beginnt schwierig zu werden, nämlich bei der geforderten Umkehr zur richtigen Gewissenshaltung, unterschiebt der deutsche Text Bernhardisches Gedankengut: Ohne teuflische Täuschung wäre das Gewissen recht, und es kehrte nach der Täuschung zum Rechten zurück und erzwänge Reue und Buße, wenn der Mensch sich nicht widersetzen würde. Damit erst gerät das irrende Gewissen in die Gesellschaft derjenigen üblen Haltung der Vernunft, die das Gute aus dem Blick verloren hat. Das getäuschte Gewissen beschließt, daß es nach Wegfall der unbewußten Täuschung keinen Widerspruch gegen seine vorige Entscheidung dulden und sich nicht selbst in Frage stellen will, und wird erst durch dieses Vertrauen auf die vermeintlich eigene und ungetrübte Kraft eigentlich böse. Thomas hatte Bonaventura gegenüber mit der Irrtumsfahigkeit der menschlichen Vernunft argumentiert und daran festgehalten, daß dennoch diese Vernunft der einzig kontrollierende und kontrollierbare Handlungsmaßstab des einzelnen sein könne. Der deutsche Text fuhrt nun vor, daß das menschliche Denken die Bedingungen seiner selbst nicht einmal im konkreten Einzelfall, für eine moralische Entscheidung, zureichend reflektieren kann: Es hält die Teufelei für vernünftig und die Stimme der natürlichen Moral - bei Bonaventura ist das der natürliche, angeborene Teil der conscientia - für unvernünftig und wählt dann in der Absicht, das Vernünftige zu tun, das Böse. Daß die Täuschung als Fehlleistung der Vernunft mit vernünftigen Mitteln korrigiert
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Thomas, D e veritate, q. 17, a. 4, co.: llle aulem qui conscientiam erroneam habet credens earn esse rectam (alias non erraret) [...]. Die Artikel 3 und 4 dieser Quaestio referieren ohne Namensnennung Alexander von Haies und Bonaventura und setzen sich mit ihnen auseinander. In der S.th. I-II, q. 19, a. 5, co. bezeichnet es Thomas sogar als unsinnig (irrationabililer), einen Willen, der etwas anderes erstrebt, als das Gewissen für gut hält, gut zu nennen. Vgl. LOTTIN II, S. 181, S. 209-210. Die dreifache Bestimmung der conscientia als Erkenntnisinhalt, Erkenntnishaltung und Erkenntnisvermögen aus Alexanders v. Haies, Summa, no. 421, a. 1 kehrt bei Bonaventura, In II Sent., d. 39, a. 1, q. 1, wieder, vgl. LOTTIN II, S. 181.
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werden könnte, daß also die conscientia innata als internes Korrekturprogramm der praktischen Vernunft aufgefaßt werden könnte - was ein gutes Argument vom Standpunkt des Thomas gegen Bonaventura wäre wird durch die Erwägung ausgeschlossen, daß gerade das Vertrauen auf die eigene Vernunft ausschließe zu erkennen, wo die Täuschung liege und wo das Richtige. Wer glaubt, in seinem Gewissen den höchsten Maßstab für sein Tun zu besitzen - das ist die Aussage des Textes -, der bringt dem ersten, irrigen Spruch seiner praktischen Vernunft dasselbe Vertrauen entgegen wie einer zweiten, dem entgegenstehenden Revision des Urteils im Nachhinein, und er wird durch die kontradiktorischen Urteile moralisch verunsichert, weil er sie nicht vernunftgemäß hierarchisieren kann. Das ist ein Anti-Thomas, dem man eine innere Folgerichtigkeit nicht absprechen kann und der, wie mir scheint, mindestens auf dem Argumentationsniveau des Bonaventura agiert, wenn nicht darüber; und zwar, indem er mit Traditionellem arbeitet.
3. Was dachten die deutschen Franziskaner über das Gewissen? Es ist schwer vorzustellen, daß in einem systematischen Lehrgebäude der theologisch-philosophischen Ethik sowohl die Position der analysierten Berthold *Z-Predigt als auch die des zuletzt behandelten Baumgarten-Kapitels über das Gewissen Platz finden können. Daraus kann man, da beide Texte in demselben Korpus überliefert worden sind, nur schließen, daß es innerhalb der deutschen Franziskanerschule ein solches Lehrgebäude nicht gab. Allerdings drängt sich auch der Eindruck auf, daß die neuen Lehren über das Gewissen, besonders über seine verpflichtende Kraft und über das irrende Gewissen, für diesen Kreis ein erregendes und faszinierendes Thema waren, daß verschiedene Autoren versuchten, Position zu ihnen zu beziehen. Ihr gemeinsamer Nenner war der Rückgriff auf Bernhard von Clairvaux. Im Schutz seiner Autorität ließ sich sowohl Bonaventura argumentativ gegenüber Thomas stärken als auch Thomas vorsichtig in den Blick nehmen. Die Gelehrten des Ordens haben hier, weit entfernt von Paris, offenbar gelehrt, was sie angesichts der dortigen Auseinandersetzungen für richtig hielten, auch und sofort oder mit der Verspätung weniger Jahre - falls uns lateinische Vorstufen verloren sind - auf deutsch; ihr innerer Zusammenhalt aus diesem Bemühen scheint, das lehrt die Korpusüberlieferung, stärker gewesen zu sein als alle systematischen Meinungsverschiedenheiten.
gewizzen als Übersetzungswort
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4. Franziskanisch oder zisterziensisch? gewizzen als Übersetzungswort nach dem Zeugnis der deutschen 'Epistola ad Fratres de Monte Dei' Als Volker Honemann 1978 die mittelalterlichen Übersetzungen der 'Epistola ad Fratres De Monte Dei' des Wilhelm von St. Thierry ediert hat, gehörte conscientia nicht zu den Lemmata, hinter denen Überraschungen zu vermuten waren.83 In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle84 wird conscientia in der mittelhochdeutschen Übersetzung mit gewizzen wiedergegeben, das deutsche Nomen ist meist feminin, ausnahmsweise neutral.85 Aber der Umgang mit der conscientia ist ein wichtiges Thema der Epistola, und zwar nicht theoretisch, sondern im Sinne einer monastischen Selbsttechnik, präziser: mehrerer Selbsttechniken, denn conscientia ist bei Wilhelm überaus polysem. Der lateinische Text ist im deutschen Sprachgebiet bereits im 13. Jahrhundert gut überliefert,86 allerdings gibt es nur eine einzige, und zwar frühe mhd. Übersetzung, die wiederum nur in einer einzigen Handschrift überliefert ist.87 Diese Handschrift, die um 1300 entstand und im 15. Jahrhundert im Nürnberger Katharinenkloster aufbewahrt und dort katalogisiert wurde,88 stammt nach Honemanns Untersuchung des Sprachstandes aus dem Augsburger Raum, aber nicht aus Augsburg.89 Der Editor hat zwei Haupthandschriften des Augsburger Franziskanerkreises (cgm 176 und cgm
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HONEMANN, Epistola. Das Wort gewizzen kommt im Glossar nicht vor. Es wäre auf S. 437 im Gesamtglossar (S. 435-440) zu erwarten. Dagegen aber: Nolo ergo ut nusquam arbitreris [...] nusquam operari gratiam Dei nisi in conscientia tua als Ich wil niht daz dv ez da ß>r habest, daz got sin gnad nieman mit taeil denne dir Nr. 20 (HONEMANN, Epistola Nr. 2 0 , I f . , S. 298); Hanc [=pietatem] quicumque vestrum non habet in conscientia als Vnd dar vmb swer der vnder iv ist, der niht andaht in dem herzen hat Nr. 29 (ebd. Nr. 29,2f., S . 302). Stellen in HONEMANN, Epistola: von ivrre Ivterre gewizzen = a conscientiae vestrae puritate ebd. Nr. 17,If., S. 296; sin lUer gewizzen = pura conscientia ebd. Nr. 30,8, S. 302; din selbez gewizen = conscientiae ebd. Nr. 101,8, S. 326; diner gewizzen = conscientiae tuae ebd. Nr. 106,4f., S. 328; din schuldigiv gewizzen = semetipsam accusans conscientia ebd. Nr. 107,10,, S. 329; in der gewizzen = in conscientia sua ebd. Nr. 138,2f., S. 342; in siner gewizzen = in conscientia sua ebd. Nr. 139,2f., S. 343; die arbeit vnser gewizzen = conscientiae nostrae [...] paupertatem ebd. Nr. 168,7f., S. 357; ein gVtiv gewizzen = bonam conscientiam ebd. Nr. 216.4, S. 378.
86
HONEMANN, Epistola, S. 2 0 5 - 2 1 1 .
87
HONEMANN, Epistola, S. 119-120. HONEMANN, Epistola, S. 120-123. HONEMANN, Epistola, S. 127-139, Zusammenfassung S. 138-139.
88 89
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Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
6247) verglichen, darunter auch die Ungersche Leithandschrift des 'Baumgarten' . Er stellt große Übereinstimmung fest und sähe die Texte gern in ein und demselben Skriptorium entstanden.90 Durch seine Erwägung, als Entstehungsort der Epistola-Handschrift komme das Zisterzienserkloster Kaisheim nördlich von Augsburg in Frage,91 stellt sich nicht nur die Frage, "ob der mhd. Text in zisterziensischem Milieu übersetzt wurde", 92 was nicht notwendig der Fall sein muß, da es sich um eine Abschrift handelt,93 sondern auch die, ob nicht andere Orden an der Tradition der Augsburger Franziskanerliteratur maßgeblich beteiligt gewesen seien. So weist die Geschichte dieses Textes, indem sie eine schlüssige Antwort auf die Frage nach dem Entstehungsort der deutschen 'Epistola' verweigert, deutlich auf die Berührungsbeziehung zur Literatur der deutschen Franziskaner hin, die sich zumindest dem nachzeitigen Interpreten herstellt, obgleich man nicht klar beweisen kann, daß sie faktisch bestanden habe. Dieses Feld der Möglichkeit, das sich dem Interpreten eröffnet, hat gerade auch mit den Inhalten der Texte zu tun; das läßt sich auch am Problem des Gewissens gut verfolgen. Was in der deutschen epistola über das Gewissen gesagt wird, zeigt eine große Bedeutungsvielfalt des Wortes gewizzen, das als Übersetzungswort für conscientia eingesetzt wird. Das ist nicht nur ein lexikalisches Problem; vielmehr führt der Übersetzer seinem volkssprachlichen Publikum, indem er seiner Vorlage folgt, Aspekte der lateinischen Begriffsgeschichte von conscientia in ihrer lebensweltlichen Konsequenz für klösterliches Leben vor, und er nennt den Sachverhalt, über den er dann spricht, immer gewizzen. So sagt er beispielsweise an einer Stelle: Wart also sol sih der wis mt>t, der mit got bekvmbert ist, halten in der gewizzen als ein hvswirt in sinem hvs. Er sol in sinem hvs kein kriegent frawen haben, daz ist
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HONEMANN, Epistola S. 124, Anm. 96. Mir bleiben, obgleich mir die Hypothese auch aus inhaltlichen Gründen sehr ansprechend scheint, dennoch einige sprachliche Bedenken. Trotz aller Gemeinsamkeiten bestehen Unterschiede im Schreibusus zwischen Epistola und Baumgartenhandschrift cgm 6247: Konsequent i Epist. für mhd. i gegen einige /e-Belege im Baumgarten vgl. ebd., S. 133; Baumgarten häufig i für mhd. ie laut UNGER, Baumgarten, S. 76, Epist. i sehr selten laut HONEMANN, Epistola, S. 133; stets ο Epist. gegen ο mit Diakritika im Baumgarten für mhd. δ ebd., S. 133; häufig apokopierte Formen gegen seltene Apokope im Baumgarten ebd., S. 135, mhd. k im Anlaut als k Epist. gegen die Regelschreibung ch- im Baumgarten HONEMANN, Epistola, S. 135 und UNGER, Baumgarten, S. 77.
91
HONEMANN, Epistola, S. 139.
92
HONEMANN, Epistola, S. 139, A n m . 122.
93
HONEMANN, Epistola, S . 140.
gewizzen als Übersetzungswort
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sineη lip. [...] Sin vzzer sinne sol er niht als sin herren haben, svnder als sin dienaer. Sin inner sinne sol er also gerihl haben, daz si allezit mvnder vnd bereit sin ze geistlichen dingen. Allez daz hvsgesind siner gedank sol er also zvhtigen vnd orden [...].94
Hier hat gewizzen die Bedeutung 'Gesamtheit der Seelenkräfte', denn es ist von einem Habitus des mfa (Wilhelm schreibt se habere und den augustinischen Begriff animus) die Rede, für den die gewizzen (Wilhelms conscientia) den gleichsam räumlichen Rahmen abgibt.95 Diese gewizzen ist der weitere Begriff, sie umfaßt auch die niederen Seelenpotenzen, denn sonst dürfte der Up (caro) keine Rolle spielen. Das Verhältnis von mi>t und gewizzen ist also demjenigen, das der moderne Interpret spontan zu unterstellen geneigt ist, genau entgegengesetzt, aber Wilhelms augustinischem Gebrauch von animus und conscientia genau angemessen: Die conscientia des Menschen ist seine Seele, das Leibbewußtsein und die Instinkte gehören zur conscientia hinzu; die sittliche Regentschaft wird dagegen vom animus ausgeübt. Nur wenige Zeilen weiter, nachdem das Bild ausgeführt wurde, nimmt der Übersetzer mit Wilhem gewizzen wieder auf: Swelcher mensch sih selben also riht vnd orden in siner gewizzen, der mak sicherlichen wonen in siner zelle. Aber daz gehört alein die volchomen an oder die der volchomenheit nahen sint. Daz haben wir dar vmb den anvahenden ßrgeleit, daz si erkennen, wes in gebrest vnd daz si wizzen, wie si die meinvng irs gVten flizes rihten svln.96
Der Text setzt hier die oben wiedergegebene Stelle linear fort, und deshalb läßt sein immanenter Rückverweis auf gleichen begrifflichen Inhalt schließen. Dennoch klingt hier ein anderer Begriffsinhalt an. Wenn man sich einen
94
95
HONEMANN, Epistola, S. 342. Vorlage ebd. (NR. 138): Sic enim prudens et Deo deditus animus, habere se debet in conscientia sua, sicut prudens paterfamilias in domo sua. Non habeat, sicut Salomon dicit, in domo sua mulierem litigosam, carnemsuam; [...] Habeat sensus exteriores, non duces sed servientes; interior es sobrios et efficaces. Habeat omnem omnino domum vel familiam cogitationum suarum, sie ordinatam et diseiplinatam, ut [...]. Für Wilhelm von St. Thierry ist das scito te ipsum ein wichtiges Thema, vgl. CHENU, S. 42. Das grundsätzliche Problem, vom christlichen Standpunkt ohne Hybris die Frage sinnvoll zu stellen, wird erörtert bei HAAS, Selbsterkenntnis, S. 1-14.
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HONEMANN, Epistola, S. 343. Vorlage ebd. (Nr. 139): Qui sie semetipsum regit et ordinal in conscientia sua, optime sibi credendus et commitiendus est in cella sua. Sed hoc est peifectorum, velperfecle jam proficientium. Quod ideo proponimus ineipientibus et novitiis, ut sciant quid desit sibi, et quo extendere habeant intentionem studii sui.
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Leser oder Hörer denkt, der die Berthold-Predigt kennt, in der gefragt wird: Brauche ich dann noch eine Äbtissin oder Priorin?, ist diese gewizzen spezieller, gleichsam moderner geworden als im vorhergehenden Absatz, denn es wird gleichzeitig das Problem der Reichweite von gewizzen im besonderen Sinne der moralischen Entscheidungsinstanz erörtert. Indem die Selbstreflexion des Geistes im Gewissen den Vollkommenen vorbehalten bleibt, wird ein Irrtum des Gewissens zum Normalfall erklärt; dann erledigt sich das Problem auf eine Weise, die der bei Thomas genau entgegengesetzt ist. Die 'Epistola' kennt darüber hinaus Stellen, in denen gewizzen ganz im Sinne patristischer conscientia-Topoi verwendet wird: Lieben prMer, von ivrre Ivterre gewizzen vnd von ivrre diemVt sol verre sin elliv hohvartf oder Daz dv avh niht vngern ein sist vnd dest sicherlicher wonest in diner zelle, so solt dv wizzen daz dir dri Mtaer geben sint svnderlichen ze diner phleg, daz ist got vnd din selbez gewizen vnd din geistlicher vater. Got solt dv geben andaht vnd sogtan andaht, mit der din herze ganzlih bekvmbert si. Diner gewizen solt dv er erbieten also, daz dv dih allezit vor ir schämest ze svnden,98 Schließlich auch: Div gerehticheit sol ze geriht sitzen. Vor der sol din schvldigiv gewizzen sten vnd sol sich selben ri>gen vmb daz si getan hat. Wize ß>r war, daz dih nieman als ser mint als dv selb, noh nieman als getrivlichen vber dih riht, als dv selb."
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HONEMANN, Epistola Nr. 17,Iff., S. 296. Vorlage ebd. (Nr. 17,Iff.): Absit tarnen fratres a conscientiae vestrae puritate et humilitate vestra et ab ore vestro omnis altitudo. Daß die deutsche Übersetzung et ab ore vestro ausläßt, halte ich für eine Flüchtigkeit und nicht interpretationsbedürftig. HONEMANN, Epistola Nr. 101,3ff., S. 325f. Die Vorlage ebd. (Nr. 101,2ff.): Ne enim horrori tibi sit tua solitudo, et ut tutius in cella habites, tres tibi deputati sunt custodes, Deus, conscientia, spiritualis [S. 326] pater. Deo debes pietatem, cui totum te impendas; conscientiae tuae honorem, coram qua peccare erubescas [...]. HONEMANN, Epistola Nr. 107,8ff., S. 329. Vorlage ebd. (Nr. 107,9ff.): Sedeat judicans justitia; stet rea et semetipsam accusans conscientia. Nemo te plus diligit; nemo te fldelius judicabit.
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Interessant scheint mir folgende Stelle, an der der Übersetzer aus freien Stücken ein gewizzen eingefügt hat, für das er bei Wilhelm keine Vorlage fand. Das lateinische Werk hat hier Cum quo enim Deus est, numquam minus est solus quam cum solus est. Tunc enim libere fruitur gaudio suo; tunc ipse suus sibi est ad fruendum [*Deo] in se, et se in Deo. Tunc in luce veritatis, in sereno mundi cordis, ultro patet sibi pura conscientia, et libere se inflindit affecta de Deo memoria, et vel illuminatur intellectus et bono suo fruitur affectus; vel libere seipsum deflet humanae fragilitatis defectus.100
Daraus hat der Übersetzer gemacht: Wan der mensch, mit dem got ist, der ist nimmer minner ein, denne swenne er ein ist. Wan so ist er sin selbez vnd nivzet got, der sin fravde ist, frilichen an alle irresal. Vnd in dem lieht der warheit vnd in der Ivtercheit des reinen herzen siht er an sin Itter gewizzen vnd sin gehvgde, div lang mit gbtlicher betrahtvng bekvmbert ist gewesen. Div givzet sih frilichen in got vnd div verstantnvsse wirt erlbht von got vnd wirt denne div begervng mit fravden niezzent ir gQt, daz got ist, oder div sei wirt chlagent ir gebresten, die si in irre gewizzen gesehen hat.'01
Den letzten Relativsatz, also auch das letzte Gewissen, hat der Übersetzer ergänzt. Er fand dafür keine unmittelbare Vorlage vor, verwendete gewizzen also hier nach seinem eigenen Verständnis der damit gemeinten Sache, wenn er sich auch an seiner eigenen bisherigen Übersetzung orientiert haben wird. Was sein Zusatz bedeutet, ist allerdings nicht leicht zu entscheiden. Ich prüfe zuerst die Möglichkeit, daß der Übersetzer das Wort gewizzen in seinem Zusatz in ebendemselben Sinn verwendet hat wie in siht er an sin Itter gewizzen. Wenn das Bewußtsein, daß die gewizzen lUer sei, eine Bedingung für die beiden möglichen Folgen (den Genuß am Guten oder die Klage über die Fehlerhaftigkeit) darstellt, dann ist das Gewissen in dieser Wendung eine Art innerer moralischer Registratur. Sollte die Instanz gewizzen, in der die Seele ihre gebresten erkennt,102 nun dieselbe sein, dann müßte man die
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HONEMANN, Epistola Nr. 30, S. 302. Die Lesart fruendum Deo teilt HONEMANN ebd. im Apparat mit; sie gehört allen Gruppen an, die der Leithandschrift ausgenommen, vgl. ebd., S. 288. Der Übersetzer muß sie jedoch vorgefunden haben, sonst hätte er einen ganz anderen Sinn unterstellen müssen. HONEMANN, Epistola Nr. 30, S. 302. Es scheint mir unbefriedigend, die Differenz der Aussage zwischen deutschem Text und Vorlage nur als sprachliches Mißverständnis (Subjektwechsel vom defectus zur sei) zu erklären und es dabei bewenden zu lassen, denn der Übersetzer bietet ja einen in sich sinnvollen Text. Für die deutsche Literaturentwicklung
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Gewissen als Thema franziskanischer Literatur bis 1300
logische Struktur seiner Aussage auffassen als: Wenn das Gewissen rein ist und weitere Bedingungen erfüllt sind, tritt entweder ein Glückszustand der Erleuchtung und Freude ein, oder die Seele beweint diejenigen Fehler, die sie in ihrem Gewissen gesehen hat. Die gibt es aber nach der Voraussetzung gerade nicht, vorausgesetzt, gewizzen ist gleich gewizzen. Diese paradoxe logische Struktur ist Werk des Übersetzers, denn bei Wilhelm sind die alternativen Folgen aus denselben Voraussetzungen: Entweder wird der Intellekt erleuchtet, und der Affekt freut sich, weil er sich auf das Gute richtet, oder aber der Mangel an Vollkommenheit, der in der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur besteht, beweint sich selbst. Darin liegt kein logischer Widerspruch, denn ein Mensch kann sich subjektiv unschuldig wissen und die Fehlerhaftigkeit der menschlichen Gattung betrauern; wenn gar wie in Wilhelms Formulierung schon ein potentieller Fehler sich selbst beweint, ist das nur der negative Ausdruck des Vollkommenheitsbildes der pura conscientia. Paradox wird die Aussage erst beim Übersetzer, nämlich dadurch, daß der Mensch die Fehler der Gattung in seinem Gewissen sieht, sich also als individuelle Schuld anrechnet. Sie bleibt aber nur so lange paradox, wie die gewizzen als individuelle moralische Instanz begriffen wird. Das für den Zusatz die si in ir gewizzen gesehen hat vorauszusetzen nötigt jedoch nur die biblisch-patristische pura conscientia unmittelbar zuvor, die der Übersetzer als Itter gewizzen wiedergegeben hatte. Die Ortsangabe in ir gewizzen schließt aus, daß ein vernünftiges Vermögen gemeint sein kann, und trotz der parallelen Formulierung zu der oben interpretierten Stelle Wan also sol sih der wis mit, der mit got bekvmbert ist, halten in der gewizzen als ein hvswirt in sinem hvs kann auch nicht die dort gemeinte Gesamtheit der Seelenkräfte gemeint sein, denn es heißt div sei wirt chlagent ir gebresten, die si in irre gewizzen gesehen hat, die Seele wird der gewizzen also gegenübergestellt. Das Wissen im Sinne der vorhandenen Kenntnisse und Einsichten könnte aber bezeichnet sein; hätte der Übersetzer dies unterstellt, dann wäre ihm keinerlei logischer Unsinn nachzusagen. Für das Verständnis der Stelle im überlieferten deutschen Text ist man also entweder genötigt anzunehmen, der Übersetzer habe vom Kontext nicht den Zwang zu leidlich logischem Argumentieren abgeleitet, oder man muß unterstellen, daß er in seinen Übersetzungen zwar gewizzen für die ganze Bedeutungsvielfalt des lateinischen Begriffs conscientia einsetzt und damit die Verschwisterung des allgemeinen Wissensbegriffs mit einer sehr allgemeinen Bedeutung 'Seele, alles Beseelende und Leitende' und gleichzeitig mit der engeren Bedeutung 'subjektives moralisches Bewußtsein' unterstützt, daß er
ist es wichtiger, was die Autoren und Leser verstanden haben, als, ob sie die übersetzten Autoren gemäß deren Absicht verstanden haben.
gewizzen als Übersetzungswort
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aber gleichzeitig in seinem eigenen aktiven Gebrauch von gewizzen der frühen volkssprachlichen Bedeutung 'Wissen' den Vorzug gibt. Hält man alle die Einzelbedeutungen von gewizzen im deutschen Text zusammen, so wird eines klar: Dem Übersetzer schien es richtig und nötig, alle Bedeutungen von conscientia bei Wilhelm von St. Thierry mit ein und demselben Wort, nämlich gewizzen, wiederzugeben; sein eigenes, übersetzungsunanhängiges Verständnis von gewizzen band sich möglicherweise an den Bedeutungskern 'Wissen'. Wenn er das Wort dennoch in dem weiteren Bedeutungsfeld konsequent einsetzte, dann nahm er lat. conscientia als sinntragendes Wort für den Text wahr. Wilhelms Wortverwendung ist aber sehr disparat; um die jeweilige Lehre richtig wiederzugeben, wäre es durchaus angemessen gewesen, kontextuell zu entscheiden und für einzelne Sememe zum Beispiel für die Bedeutung 'Seele' in der Hausvaterstelle - besondere Wiedergabemöglichkeiten einzuführen. So verfahrt der Übersetzer ansonsten häufig, wie Honemanns Glossar belegt.103 Da Wortspiele, Verweisreihen oder thematische Vor- und Rückverweise zur conscientia fehlen und als Begründung nicht in Frage kommen, muß der Übersetzer seine Überzeugung, conscientia sei eine zentrale Vokabel und müsse einheitlich wiedergegeben werden, bereits zuvor gewonnen und an den Text herangetragen haben. Ob er auch wußte, daß das Gewissen in der Ethik des 13. Jahrhunderts zu den Gegenständen gehörte, an denen sich Schulunterschiede besonders kristallisierten, ist kaum zu entscheiden.
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HONEMANN hat insbesondere variierende Übersetzung in die Glossare aufgenommen, vgl. DERS., Epistola, S. 435, S. 435-443. Man sieht dadurch klar, daß unter den höherfrequenten Wörtern einige 1:1 zugeordnet werden (wie cogitatio zu gedank, S. 436), andere kontextuell variieren: herze heißt cor, animus und mens S. 437, aber nur cor immer herze S. 441, dagegen animus vorwiegend mVt S. 441 und mens entweder herze oder mW S. 442.
IV. Seelenfunke oder Gewissensgrund? Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert 1. Problemhorizont Die Gewissensdiskussion des 13. Jahrhunderts ist in der lateinischen Scholastik auf streitbare, in der deutschen geistlichen Prosa, die wesentlich von den Franziskanern hervorgebracht wird, auf zurückhaltende und unentschiedene Weise widerspruchsvoll. Dabei taucht ein Thema der lateinischen Ethik zunächst in der deutschen Literatur noch gar nicht auf: die naturrechtliche Dimension des Gewissens, seine Verdopplung in synderesis und conscientia. Vom Ende des 13. Jahrhunderts an, mit dem Eintreten der Kölner Dominikaner in die deutsche Prosaliteratur, ändert sich das. Die Reflexionen über die synderesis beginnen bei Eckhart und werden bald von anderen Autoren und anderen Orden - aufgegriffen. Auch die Mechanismen der sittlichen Entscheidung werden nun in der Volkssprache behandelt. Schaut man die Gewissensvorstellungen, die in deutschen Texten entwickelt werden, aber genauer an, so zeigt sich bald, daß es sich nicht um eine einfache Verlängerung in das neue Medium Volkssprache handelt. Zwar kann man einige charakteristische Lehrunterschiede der großen Bettelorden, die um 1300 schon seit drei Generationen bestehen, nun auch in den volkssprachlichen Werken greifen; jedoch bemerkt man Überkreuzungen, die darauf schließen lassen, daß in der zweisprachigen oder volkssprachigen Unterweisungstheologie die Zuordnung zu festen Schultraditionen bewußt umgangen wird. Die Anregungen kommen aus der Praxis der Seelsorge und der cura monialium\ die neuen Ideen des 14. Jahrhunderts im Felde der Gewissenstheorie sind in Versuche eingebettet, eine Ethik zu entwerfen, die auch die neuen Lebensformen Frauenkonvente und städtische Wirtschaft - umfaßt, aber ohne für jeden Bereich einen eigenen Kanon der Verhaltensregeln zu entwerfen. Die Bettelorden, die sich selbst in der Stadt niedergelassen haben, sind durch ihren Auftrag gehalten, Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebenswegen anzuleiten; wenn sie diese objektive Aufgabe subjektiv glaubwürdig ausfüllen wollen, müssen sie nach integrativen Konzepten suchen. In der spezifischen universitätslosen Landschaft Deutschlands entsteht dadurch ein ständiger Dialog der Lehrentwürfe aus den Ordensschulen mit den Erfahrungen der
Problemhorizont
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Prediger; praktische Theologie und praktische Philosophie sind ausgezeichnete Gegenstände des wissenschaftlichen Nachdenkens, und der Weg zur Erprobung der Lehren ist kürzer als je, zumal schon die Sicht auf ein Problem von der Erfahrung des Lehrers als Prediger geprägt ist. Die wichtigste Überraschung beim Durchmustern von deutschen Texten ist, daß im 14. Jahrhundert gerade der schwierige synderesis-Begüff mehrfach bemüht und traktiert wird, aber die vernunftgeprägte Gewissenstheorie der Generation des Thomas und Bonaventura zunächst zurücktritt. Deshalb wird der conscientia-Begriff wenig problematisiert; an seine Stelle treten andere Modelle, zum Beispiel die discretio. Innerhalb dieses Rahmens entstehen verschiedene Gewissensauffassungen: Bei Eckhart wird die synderesis zum Schlüsselbegriff, aber nicht für Gewissenstätigkeit, sondern für die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die conscientia spielt keine Rolle, und die alltägliche sittliche Entscheidung gerät nicht zum Problem. Das 'Buch von der geistlichen Armut' will den vernunftgeprägten Gewissensbegriff gern umgehen, aber nach dem Vorbild des Heinrich von Friemar wiederum eine Instanz einfuhren, die die sittliche Entscheidung zu kontrollieren vermag. Eine dritte Auffassung setzt bei Eckharts synderesis-Begriff an, versucht aber, seinen theologischen Anspruch vorsichtig zurückzunehmen. Ich habe Marquards von Lindau Aussagen über die synderesis in zwei lateinischen Traktaten und in zwei deutschen Predigten ausgewählt,1 um zu zeigen, daß dieser Versuch in eine Rehabilitierung der conscientia mündet. Alle drei Gewissensvorstellungen haben gemeinsam, daß die synderesis aus dem aristotelischen Hintergrund des 13. Jahrhunderts in einen umfassenden Kontext menschlicher Fähigkeiten und menschlichen Strebens gerückt wird, der die Einheit mit dem absolut Transzendenten - auch mit der reinen Vernunft - mitumgreift. Der als möglich gedachte Einbruch des Transzendenten in das Leben des einzelnen, die visio beatifica, läßt die Bestätigung von Gewissensentscheidungen zumindest in ihrer Gesamtheit grundsätzlich schon in der Lebenszeit erwarten. Damit wird der Ethik ein zwar außerirdisches, aber lebensweltliches Ziel gesetzt; im Idealfall kann sich der Mensch
Als ich die überarbeitete Druckfassung gerade aus der Hand gegeben hatte, erschien der Aufsatz von Freimut LÖSER: Rezeption als Revision. Marquard von Lindau und Meister Eckhart. In: PBB 119 (1997), S. 425-458, auf den ich nur noch hinweisen kann.
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Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
als sittliches Wesen selbst erfahren. 2 Das wäre dann immer eine Icherfahrung und Gotterfahrung zugleich, also höchst ambivalent, weil beider Einheit zugrundeliegt, daß das Subjekt seiner Taten sich dessen bewußt wird, daß es ihnen zugrundeliegt, aber auch, daß ihnen etwas zugrundeliegt, das es nicht begrenzt und nicht meistert, nämlich das Gute selbst, Gott. Das ist ein Vorgang des Ich-Sagen-Lernens, in dem es so aussieht, als würde alles Ich verleugnet: Wenn der gute Mensch beim objektiv und aus seiner Natur Guten angekommen ist, gehört ihm das Erlebnis der Selbstbegrenzung eines handelnden Subjektes schon nicht mehr wesentlich zu. 3 Wäre er nicht das Subjekt seiner Handlungen und verhielte er sich nicht im Sinne eines absolut und objektiv Guten verantwortlich zu ihnen, würde er jedoch nie dorthin gelangen. Der Naturrechtsgedanke des 13. Jahrhunderts erhält dadurch eine ganz andere Wendung, er wird wohl bewahrt, aber auch ins Supranaturale umgebogen: Sittlichkeit wird exklusiv, wenn man die Menschennatur als Gottnatur auffaßt. Marquard von Lindau ist unter den in diesem Abschnitt behandelten Autoren derjenige, der dieser Tendenz am deutlichsten gegensteuert. Er ist eine Gestalt des Übergangs, denn er will beides: eine Vollkommenheitsethik und eine Gebotsethik. Um das klar herauszuarbeiten, behandle ich ihn - mit unterschiedlichen Werken - zweimal: hier in der mystischen synderesisTradition, aus der er kommt, und im nächsten Abschnitt für die kasuistischen Gebotstraktate, die mit ihm beginnen.
2. Eckhart: Die Predigt Q 20a Q 20a ist eine Predigt über Lc 14,16 'Homo quidam fecit cenam magnam'. Eckhart spricht über das Altarsakrament. Das ist ein konventionelles Thema und gleichzeitig eines, das seine besonderen Lehren betrifft: Wie kann die menschliche Seele vom Göttlichen erfüllt sein? Was das Göttliche als Gegenüber betrifft, so legt Eckhart das homo quidam auf die Namenlosigkeit Gottes aus, die ein Zeichen seiner Unerfaßbarkeit sei. Von der causa prima, der ersten Ursache, sagt er mit dem Uber de causis, sie sei oben wort, über jeder
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3
Diese Erfahrung kann, etwa bei Eckhart, auch negativ gewendet sein: Der Mensch erfährt sich als sittliches Wesen erst dann, wenn er sich selbst nicht mehr wahrnimmt, sondern das Höhere in ihm. Vgl. zu diesem Problemkreis HAAS, Selbsterkenntnis, zu Eckhart S. 15-75. Vgl. HASEBRINK, Rede, S. 198-199.
Eckhart: D i e Predigt Q 20a
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Beschreibung.4 Die causa prima heißt bei Eckhart die erste sachet Nun wendet er sich den Dingen zu, über die man reden kann. Das Reden unterteilt er in drei Modi: da von, daz oben den dingen ist, von gliche der dinge und von dem werke der dinge.6 Eckhart zeigt nun an Beispielen, daß Gott sowohl durch Antizipation eines Darüber als auch ebenbildlich oder als Ursache zu vorhandenen Wirkungen gedacht werden kann, daß aber alle diese Denk- und Benennungsversuche Gott in seinem Wesen nicht erreichen. Am ehesten kommt nach Eckhart die Erfassung auf der Ebene des Wirkens an Gott heran:7 Und ein kraft ist in der sele, diu spaltet abe daz gröbeste und wirt vereinet in got: daz ist daz vünkelin der sele. Noch einer wirt min sele mit gote dan diu spise in minem Iibe."
Der Seelenfunke steht bei Eckhart an anderen Textstellen für den ungeschaffenen Seelengrund,9 der gleich ewig ist mit Gott.10 In der bürgelin-Predigt sagt er ausdrücklich, er verwende "Licht" des Geistes, "Fünklein" oder huote der Seele synonym, denn diese Bilder bezeichnen ein Etwas, das weder dies noch das ist, es verbürge die Teilhabe des Menschen an dem Einen, das Gott
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Liber de causis, prop. 6, ed. Bardenhewer § 5, S. 168: Causa prima superior est omni narratione. Nachweis bei Quint, Eckhart DW I, S. 329. Nü sprichet ein meisler von der ersten sache, daz si si oben wort. DW I, S. 329,1. DW I, S. 329,4f. Die Erörterung zum dritten Modus des Sprechens, von dem werke der dinge, beginnt DW I, S. 330,3 mit Alle creatären enmugen got niht üzgewürken, wan sie sin niht enpfenclich sint, daz er ist. DW I, S. 331,9-11. Z u m S t a n d d e r D i s k u s s i o n v g l . REITER, S e e l e , S . 2 4 8 - 2 8 2 , S . 3 2 0 - 3 2 6 ; LARGIER,
intellectus, besonders S. 442. Es handelt sich beim Seelenfunken um ein Zentralproblem der Eckhartforschung, so daß ich auf LARGIER, Bibliographie, S. 57-59, S . 6 8 - 7 2 , S . 1 1 7 - 1 2 3 u n d a u f d i e B i b l i o g r a p h i e in LARGIER, P e r s p e k t i v e n , S . 7 2 10
98 verweisen muß. Vgl. Predigt Q 13, DW I, S. 207-222, hier S. 220,4f.: Ein kraft ist in der sele, von der ich mer gesprochen häm - und wcere diu sele alliu also, so ware si ungeschaffen und ungeschepflich. In Q 9 (über 'Quasi Stella matutina') wird aus dem Gedanken got ist ein vernünfticheit, diu da lebet in sin aleines bekantnisse (DW I, S. 150,5) entwickelt: Nü nemen wirz in der sele, diu ein tröpfelin hat vernünfticheit, ein vünkelin, ein zwic. ebd., S. 151,1 f.
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Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
ist." In dieser Predigt über Lc 14 wird der Funke exegetisch auf den ausgesandten Knecht bezogen: Dirre mensche sante uz sinen kneht. Nü sprichel sant Gregorius: dirre kneht daz sint prediger. In einem andern sinne so ist dirre kneht die engel. Ze dem dritten male so ist, als mich bedünket, dirre kneht daz vünkelin der sele, daz da ist geschaffen von gote und ist ein lieht, oben ingedrücket, und ist ein bilde götlicher nature, daz da ist kriegende alwege wider allem dem, daz götlich niht enist, und enist niht ein kraft der sele, als etliche meister wollen, und ist alwege geneiget ze guote; nochdenne in der helle da ist ez geneiget ze guote.12 Hier ist der Seelenfunke als geschaffen attribuiert, er findet sich in der Rolle des Knechtes wieder. Das heißt nicht, daß es keinen ungeschaffenen Funken gäbe, solche Doppelreihen sind für Eckhart im Felde der Seelenlehre kennzeichnend.13 Die zwei Begriffsreihen über Seelenfunken/Seelengrund, die geschaffene und die ungeschaffene Reihe, sind gleichzeitig analog und univok aufeinander bezogen, das heißt: Der Seelenfunke ist analog zu Gott, insofern dem Geschaffenen Prädikate des Schaffenden sekundär zugesprochen werden können;14 univok mit Gott ist er nicht als Teil der Seele, sondern als das Sein, das nicht Dies oder Das ist.15 Mit der Predigt über Homo quidam fecit cenam magnam befinden wir uns also in der Reihe des Analogen, des Seelenfunkens in der Funktion des Abbildes. Das ist vom Standpunkt der theologischen Tradition die konven-
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Predigt Q 2 über 'Intravit Iesus in quoddam castellum', DW I, S. 21-45, hier S. 39,1-40,1: Ich hän underwilen gesprochen, ez si ein kraft in dem geiste, diu st aleine vri. Underwilen hän ich gesprochen, ez si ein huote des geistes; underwilen hän ich gesprochen, ez si ein lieht des geistes; underwilen hän ich gesprochen, ez si ein vünkelin. Ich spriche aber nü: ez enist weder diz noch daz; nochdenne ist ez ein waz, daz ist haeher boben diz und daz dan der himel ob der erde. Dar umbe nenne ich ez nü in einer edelerr wise dan ich ez ie genante, und ez lougent der edelkeit und der wise und ist dar enboben. Ez ist von allen namen vrt und von allen formen blöz, ledic und vri zemäle, als got ledic und vri ist in im selber. DW I, S. 331,13-333,4. Diesen Zusammenhang hat Burkhard MOJSISCH besonders intensiv herausgearbeitet. Von anderer Grundlage argumentiert HAAS, Eckhart, S. 4 1 - 5 2 . Vgl. auch LANGER, Erfahrung, S. 2 7 3 - 2 7 8 . Zu den Aristotelischen Grundlagen des Analogiebegriffs und der scholastischen analogia attributionis vgl. DE VRIES, S. 25-37 zum Lemma 'Analogie'. Hier wird auch erklärt, was Univozität und Äquivozität sind. In dieser Darstellung orientiere ich mich an MOJSISCH, Eckhart, S. 43-59, und an RUH, Eckhart, S. 81-86, befinde mich aber im Widerspruch zu LANGER, Erfahrung, S. 278, der die Analogie anders auffaßt: "Der Seelengrund ist als Analogon Gottes, als ständig in die Seele hineinwirkende Kraft Gottes ungeschaffen".
Eckhart: Die Predigt Q 20a
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tionelle Reihe.16 Sie beruft sich auf dieselben Autoritäten und Stellen wie diejenigen Autoren, die in den zwei Generationen vor Eckhart im Kontext der Gewissensdiskussion über die synderesis gehandelt hatten: Origenes hatte die Funkenmetapher benutzt; aber zum Gemeingut war sie durch Hieronymus geworden, der in seinem Ezechiel-Kommentar die viergestaltigen Wesen aus Ez 1 gedeutet hatte und darin auch Interpretationsmöglichkeiten für die Adlergesichter erwogen hatte.17 Hieronymus entscheidet sich für folgendes Verständnis: Die Eigenschaften der vier Gestalten symbolisieren die Fähigkeiten der Seele: Mensch, Löwe und Stier das Streben nach Erkenntnis, das nach Selbsterhaltung und Arterhaltung; der Adler schwebt über diesen Vermögen, ohne sich mit ihnen zu vermischen; er bezeichne dasselbe Vermögen, das die Griechen syneidesis nennten und das, als ein Funke des sittlichen Bewußtseins, nicht einmal in Kain ausgelöscht sei. Hieronymus ist ja von Petrus Lombardus im Sentenzenkommentar (39. Unterscheidung) zitiert worden, und so gelangt diese Stelle - an der es seit der Mitte des 12. Jahrhunderts regelmäßig synderesis statt syneidesis heißt - in das Gemeingut scholastischen Wissens über die sittliche Ausstattung des Menschen. Eckhart schließt explizit an diese Tradition an: Die meister sprechent: daz lieht ist so natiurlich, daz ez iemerme ein kriegen hat, und heizet sinderesis und lütet als vil als ein zuobinden und ein abekeren. Ez hat zwei werk. Einez ist ein widerbiz wider dem, daz niht lüter enist. Daz ander werk ist, daz ez iemerme locket dem guoten - und daz ist äne mittel ingedrücket der sele - nochdenne den, die in der helle sint.18
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An der Gewichtung der Reihen des Geschaffenen und des Ungeschaffenen polarisiert sich die Forschung immer wieder; vgl. dazu die sicher überblickende Einschätzung von RUH, Eckhart, S. 85. Obgleich die Darstellung der Seelenfunken-Tradition in REITER, Seele, S. 219-253 durchaus informativ und als Einführung gut geeignet ist, geht sie in der Sache über REINER, Gewissen, nicht hinaus, ja eher noch einen Schritt zurück. Auf diesen Seiten und im Literaturverzeichnis gibt es auch keinen Hinweis auf den Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Ich merke das nicht an, um eine Vollständigkeit der Literaturauswertung und -dokumentation einzufordern, die kaum zu leisten ist, sondern weil REINER im Unterschied zu REITER wenigstens den Fundort der Primärtexte angibt, wogegen REITER selbst Bonaventura nach EßELING u n d FLASCH zitiert ( S . 2 4 2 , S . 2 4 4 ) , w a s a u s d e m B e m ü h e n u m A b -
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sicherung von Übersetzungen nur dann erklärt werden könnte, wenn der Leser erführe, wo er nachzuschlagen hat. Die einschlägigen Origenes-Stellen sind Com. in Cant II, CGS 8, S. 164,17 und Horn, in Ez 10,5, CGS 8, S. 423,8. Hieronymus: In Hiezechielem I, i, 5-6/8, CCSL 75 S. 10-12. DW I, S. 333,4-334,4.
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Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
Ich verstehe so: 'Die Meister sagen: Das Licht steht in der Weise für die Natur, daß ihm stets ein Streben eigen ist. Es heißt sinderesis, das bezeichnet soviel wie: ein Anhaften und ein Abkehren. Es hat zwei Aufgaben. Gewissensbisse gegenüber dem, was nicht rein ist, sind die eine Aufgabe. Die andere besteht darin, daß es immer das Gute anstrebt, und das ist der Seele unmittelbar eingeprägt, auch denen noch, die in der Hölle sind.' Die Stelle mutet an wie eine freie Wiedergabe der Lehre des Hieronymus in dem Wissen, daß man keinen Codex mit Hieronymus-Schriften suchen müsse, um darüber nachzulesen, weil nämlich beinahe jeder ihn hierin zitiert. Aber sie enthält implizit auch den Ertrag der scholastischen Diskussion um den verdoppelten Gewissensbegriff: Die synderesis repräsentiert die naturrechtliche Komponente der Sittlichkeit. Die Etymologie zeigt das übliche Bemühen um Anbindung des Kunstwortes an bekannte Begriffe. Eckhart bemüht sich im deutschen Text, seine Übersetzung des Wortes ohne dessen Segmentierung auskommen zu lassen, indem er nämlich die beiden Funktionen der synderesis unmittelbar folgen läßt, so daß sie als Erklärungen der Übersetzungswörter erscheinen: Das zuobinden ist die Fixierung auf das Gute, das abekiren die entschiedene Abwendung vom Bösen.19 Dennoch will sich Eckhart nicht lückenlos in diese Tradition stellen; er referiert eine Position, zwar freiwillig und in einer Textsorte, die Referat der möglichen Meinungen nicht zur Pflicht macht, zudem ohne distanzierende Bemerkungen, aber er sagt ausdrücklich, daß er referiert. Denn seine Auffassung vom vünkelin, das die synderesis ist, geht mit der theologischen Tradition nicht lückenlos zusammen. Deutlich setzt er sich von ihr ab mit der Bemerkung und enist niht ein kraft der sele, als etliche meister wolten.20 Wie wichtig dieser Satz ist und was er bedeutet, hat sich erst herausgestellt, als die Forschung begann, Meister Eckhart von Dietrich von Freiberg und Berthold von Moosburg aus zu lesen.21 Es geht nämlich um die Frage, wo und wie das Abbild Gottes, die imago dei, in der Seele anzusetzen sei. Thomas von Aquin
19
20 21
QUINT hat die Parallelstelle aus dem lateinischen Genesiskommentar nachgewiesen: Hinc enim synderesis fortassis dicta est, quasi sine haeresi, id est divisione a bono. Vel 'synderesis' a 'syn-', 'con-' et 'haereo', quasi 'semper cohaerens bono. (In Gen II n. 164). Vgl. DW I. S. 334, Anm. 1. D W I, S. 333,2. Vgl. FLASCH, Procedere. Rüdiger BLUMRICH hat an der Stellungnahme Marquards von Lindau (der die gesamte synderesis-Passage aus Eckharts Predigt zitiert, diesen Satz aber ausläßt) gezeigt, daß die unmittelbaren Nachfolger die Tragweite von Eckharts Bemerkung sehr wohl als Positionsbestimmung im Streit um die visio beatifica verstanden haben; BLUMRICH, Marquard, S. 73* -77* referiert die Kontroverse und Marquards Standpunkt. Literatur und Gang der Diskussion bei LARGIER, Perspektiven, S. 54-58.
Eckhart: Die Predigt Q 20a
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hatte sich bemüht, die augustinische Unterscheidung der Seelenkräfte Wille, Vernunft und Gedächtnis aristotelisch zu denken, und er war dabei zu einer Darstellung gelangt, die die Seele substantiell auffaßt, ihre augustinischen Kräfte als Vermögen, deren Akt erst die Gottebenbildlichkeit herstellt, und zwar nicht wesentlich, sondern akzidentiell.22 Dietrich von Freiberg war dagegen der Auffassung, daß die imago dei weder geschaffen werde noch in akzidenteller Weise entstehe, sondern tätiger Intellekt sei, der aus dem Wesen Gottes unmittelbar hervorgeht, weil dieser selbst wesentlich tätiger Intellekt ist.23 Nun sagt aber Eckhart von der synderesis, sie sei ein bilde götlicher natüre. Das ist nicht mehr reiner Hieronymus, zumal es inzwischen sowohl eine ausgebildete Theorie der synderesis!conscientia gab als auch eine solche der imago deilvisio beatifica. Wenn ein Autor die synderesis mit der imago dei identifizierte, wie es Eckhart, und zwar mit patristischen Autoritätsgründen, die noch keine scholastische synderesis kannten, getan hat, dann fielen für ihn das Göttliche im Menschen und die Leitinstanz der Seele, die sittliches Leben ermöglicht, zusammen. Das heißt, daß seine synderesis immer ambivalent bleibt: Sie ist für das Irdische zuständig, gehört aber wesentlich dem Göttlichen an. So ist ja auch der Eckhartsche Funke beschaffen. Es ist nur folgerichtig, daß Eckhart in dieser Verschmelzung zweier Traditionslinien die /wago-Konzeption des Thomas nicht übernehmen kann. Täte er es denn, dann läge das Gottesbild schon in der Tat der Seelenkräfte, die aber doch ihrerseits von der synderesis angeleitet werden, also nicht das Höchste in der menschlichen Seele sein können. Selbst wenn er die synderesis als eine handlungsbedingende Haltung der Seele vorauszusetzen bereit gewesen wäre, wie es Thomas war, bliebe die dort ungelöste Schwierigkeit, wieso eine Bedingung der Möglichkeit von Handlung (das ist die synderesis bei Thomas) Gottesbild sein könne, wenn doch der bedingte, ermöglichte Akt selbst Gottesbild ist. Eckhart ist hier genau: Ist die synderesis gleichzeitig imago dei, dann muß sie von den Haltungen und Vermögen der Seele wesent-
22
S.th. I, q. 93, a. 7, co.: Si ergo imago Trinitatis divinae debet accipi in anima, oportet quod secundum illud principaliter attendatur, quod maxime accedit, prout possibile est, ad repraesentandum speciem divinarum Personarum [...] primo et principaliter attenditur imago Trinitatis in mente secundum actus, prout scilicet ex notitia quam habemus, cogitando interius verbum formamus, et ex hoc in amore prorumpimus. - Sed quia principia actuum sunt habitus etpotentiae; unumquodque autem virtualiter est in suo principio: secundario, et quasi ex consequent, imago Trinitatis potest attendi in anima secundum potentias, et praecipue secundum habitus, prout in eis scilicet actus virtualiter existunt. Vgl. dazu WYSER, S. 295; STURLESE, T a u l e r , S . 4 0 2 .
23
Dietrich von Freiberg, De visione beatifica, Opera omnia I, Hamburg 1977, I. 1 . 2 . 4 . S . 2 5 , 1 . 1 . 1 0 S . 3 5 . V g l . d a z u BLUMRICH, M a r q u a r d , S . 7 4 * , FLASCH, P r o c e d e r e ; LARGIER, i n t e l l e c t u s , S . 4 2 8 - 4 2 9 .
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Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
lieh verschieden, nämlich höher als jene sein: und enist ruht ein kraft der sele. Ein Wort für den Habitus ist kraft wohl nicht, aber dieselben systematischen Gründe, die zur Ablehnung von kraft für synderesis führen, machen auch die Unterstellung eines habitus unmöglich. Eckhart gerät dadurch in die Nähe Dietrichs von Freiberg, in ein, wie Largier es beschreibt, "unterschwelliges Gespräch [...] mit Dietrichs Antworten".24 Mir ist an dieser Stelle wichtig, daß Eckhart eben nicht nur zur visio beatifica-Debatte Stellung nimmt, sondern auch die Gewissensdiskussion weiterführt, indem er sie auf eine andere Ebene verschiebt. Es ist deshalb wichtig, weil die räi'o-Erörterungen und ihr Umfeld gerade in der Eckhartschen Gestalt oder durch seine Vermittlung in die volkssprachliche Literatur gekommen sind25 und man sich allerdings fragen muß, warum. Mir scheint nun, daß ein wichtiger Antrieb für die weitgehende Bildungskonzeption der deutschen Dominikaner - die von anderen Orden aufgegriffen und weitergeführt worden ist - gerade in jeder Verquickung liegt: Wie ein sittliches Leben möglich und wie es zu führen sei, ist gewissermaßen von Natur aus ein Thema für volkssprachliche Erörterungen, ja ein Grundthema von Literatur überhaupt. Eine anleitende und vorbildhafte Wirkung einer neuen Konzeption von Sittlichkeit ist aber zunächst einmal schlicht daran gebunden, daß man sie verstehen kann. Eckhart hat nun durch seinen synderesis-Rsgnii den Eigenbereich der praktischen Vernunft, der bei Thomas eingeräumt worden war, gleichzeitig erweitert und verkürt. Verkürzt nämlich, insofern man von Thomas aus eine weitgehend weltliche praktische Vernunft denken kann, die sittliche Entscheidungen auf menschlich-verständige Weise fallt. Erweitert aber auch, indem nun der sittlich Lebende erst der sein kann, der nach Vollkommenheit im Sinne der Einheit mit dem Göttlichen strebt, was auch bedeutet, daß das Streben nach sittlichem Leben gleichzeitig ein Bemühen um die Einheit mit Gott ist.26 Daß man die beiden Definitionen der synderesis - als Gewissensgrund nach dem Stand der scholastischen Diskussion Ende des 13. Jahrhunderts, als Gottesbild nach patristischem Vorbild bei Eckhart - untereinander gleichsetzen und diese Gleichung dann in beide Richtungen lesen kann, nämlich als Gewissensgrund = Gottesbild und als Gottesbild = Gewissensgrund, macht einen besonderen Vorzug der Ethik
24
LARGIER, Perspektiven, S. 55, Anm. 170.
25
Vgl.
26
LARGIER, i n t e l l e c t u s ; BLUMRICH, M a r q u a r d , S . 7 3 * - 7 7 * u n d STURLESE,
Tauler. Vgl. HAAS, Selbsterkenntnis, S. 16, Anm. 4: "Unabdingbare Voraussetzung jeder möglichen Vereinigung mit Gott ist die abegescheidenheit, die identisch ist mit radikalster Selbstentwerdung. Weil die ethische Forderung bei Eckhart eine totale ist, braucht der Aspekt der auf das sündige Selbst gerichteten Gewissenserforschung nicht mehr eigens artikuliert zu werden".
Eckhart: D i e Predigt Q 20a
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des Eckhart aus: In dieser Gleichsetzung stehen monastisches Leben und Leben in der Welt einander nicht mehr inkommensurabel gegenüber, sondern beide folgen demselben Maß; geistliches und weltliches Leben lesen dieselbe Gleichung, nur fängt das eine da, das andere dort an, was für den Aussagewert der Gleichung jedoch keinen Unterschied macht. Eckharts berühmte Deutung der Martha-Figur in der bürgelin-Predigt steht für diese Auffassung.27 Daß Eckhart sich mit der Spiritualität der Nonnenklöster auseinandersetzt und dabei einer einseitigen Auffassung der vita contemplativa begegnet, ist in dem Sinn, wie Otto Langer es herausgearbeitet hat,28 sicher richtig, aber eben nur die Hälfte, denn Eckhart steuert mit seinem synderesisBegriff auf ein Gesamtkonzept von Sittlichkeit und Religiosität zu, in dem der Status der Religiösen keine Ausnahmeerscheinung mehr begründet. 29 Ein solches Gesamtkonzept muß aber zwingend in der Volkssprache entwickelt werden, weil es sonst seinen Sinn verlöre: Die theologische Entmündigung des Laien durch ein Sprach- und Interpretationsmonopol der Kleriker würde ihm inhaltlich widersprechen.30 Schlägt man von hier aus den Bogen zurück zum Inhalt von Eckharts synderesis-lxhie, so ergibt sich, daß sein radikales Gewissensmodell, sein Ineinssetzen von irdischer Sittlichkeit und Vollkommenheit, nicht in abgeleiteter Hinsicht, sondern notwendig volkssprachlich gestaltet werden mußte. 31 Die Zweisprachigkeit im Nebeneinander von lateinischem und deutschem Werk erscheint in diesem Punkt nicht als ein Übersetzungs- und Rezeptionsvorgang, in dem die deutsche Literatur die nehmende ist. Sie gehört wesentlich zu dieser Entwicklungsstufe ethischen Denkens: Das Problem der Bündelung und einheitlichen Orientierung divergierender Lebensmodelle mit je eigener Tradition stammt aus der Welt, in der deutsch - zufällig deutsch, notwendig aber eine Volkssprache - gesprochen wird, und es muß in ihr und für sie gelöst werden; die Materialien zur Problemlösung liegen aber in einer Wissenschaftsgeschichte bereit, die lateinisch schreibt und denkt. Durchdenkt man diesen bekannten Sachverhalt für das Gewissensproblem wiederum
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28
29
Vgl. RUH, Eckhart, S. 142-149; HAAS, Eckhart, S.80-81; MIETH, S. 182-188; LANGER, Erfahrung, S. 225-230. Den Reaktionen Eckharts auf die religiöse Praxis in den Nonnenklöstern ist der gesamte 2. Teil von Langers Studie, LANGER, Erfahrung, ab S. 156, gewidmet. Dazu relativierend LARGIER, Perspektiven, S. 46f. In diesem Sinne verstehe ich auch die Analyse der Predigt Q 30 bei HASEBRINK, Rede, S. 137-195.
30
Vgl. HASEBRINK, Grenzverschiebung, S. 3 9 8 ; KÖBELE, Bilder, S. 4 0 - 4 4 .
31
Ich schließe hier an Überlegungen von Susanne KÖBELE in DIES., Bilder, besonders S. 32-51, an. Die Anregungen stammen dort wie bei mir von RUH, Vorbemerkungen und von HAAS, Sermo.
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Die synderesis
und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
inhaltlich, dann läßt sich nicht leugnen, daß das einheitliche Modell von Sittlichkeit auch einen systematischen Preis hat: Die Macht der praktischen Vernunft, das alltägliche Leben einzurichten, wird gegenüber Thomas stark eingeschränkt. Der Spruch des eigenen Gewissens ist als unhintergehbare Grenze aufgehoben, das syllogistische Schließen als Hilfsmittel und Weg zum sittlichen Leben weitgehend entwertet. Das macht das Eckhartsche Modell für den alltäglichen Konfliktfall nicht eben leichter anwendbar. Es hat aber auch mit Sprach- und Denktraditionen zu tun, denn freilich bestünde die Gefahr, Thomas so aufzufassen, daß grundsätzlich der Geschulte und im logischen Denken Geübte weniger Fehler begeht als der Ungelehrte, daß der mangelnde Zugang zu einer sprachgebundenen Denktradition den Weg zum sittlichen Leben erschwert oder gar verstellt. Tendenziell kann das thomanische Modell von Gewissen auf soziale Weise ausschließend wirken, das des Eckhart umgeht diese Gefahr, aber nicht ohne sich in eine andere zu begeben, indem es nämlich von Gott her ausschließt, weil nur der Vollkommene, der aus sich Heraustretende und in Gott Hineintretende, tatsächlich sittlich handeln kann. Hier wird deshalb Heinrich von Friemar anknüpfen und - theologisch folgerichtig - den Begriff der Gnade in das Gewissensproblem inserieren.
3. Das 'Buch von der geistlichen Armut' Das 'Buch von der geistlichen Armut' (BvdgA) ist eine literarisch und theologisch-philosophisch erstaunliche deutsche Schrift, von der noch nicht sicher zu sagen ist, ob sie tatsächlich deutsch konzipiert wurde.32 Man hält mit dem Büchlein den Versuch einer überinstitutionellen Bettelordensethik - vom Begriff der Armut ausgehend - in der Hand. Die Quellen des Werkes sind
Nikiaus Largier hat sich nach seiner neuhochdeutschen Ausgabe (BvdgA, ed. LARGIER) 1989 in DERS., intellectus, besonders S. 450-454 noch einmal mit dem BvdgA befaßt (1995). Auch Blumrich geht in seiner Ausgabe der MarquardPredigten inhaltlich auf das BvdgA ein: BLUMRICH, Marquard, S. 77*-80*. Eine Neuausgabe mit Quellenstudien wäre dringend zu wünschen; Largiers Nachwort zu seiner Ausgabe bleibt vorläufig die einzige zusammenhängende Darstellung der Lehre des BvdgA, die die neuere Forschung berücksichtigt. Dem Verdienst von Ritschis Studie (RITSCHL) und Kelleys Einleitung (BvdgA, ed. KELLEY, S. 1-50) tut diese Feststellung keinen Abbruch. Den Einschätzungen von HEFFNER, God vermag ich nicht immer zu folgen. DEMS., Catechism geht es weniger um Quellenfragen als um Berührungen zu Autoren des 14. Jahrhunderts, besonders zu Eckhart. Das Anliegen, das Buch in seiner überlieferten Gestalt nach seiner theologischen Gesamtaussage unabhängig davon zu beurteilen, ob sich einzelne Teile als Übernahmen aus lateinischen Quellen erweisen, finde ich sehr berechtigt. Die Auffassung der Schrift als Katechismus hat mich jedoch nicht überzeugt.
Das 'Buch von der geistlichen Armut'
137
noch nicht konsequent untersucht worden. Die wissenschaftlichen Bearbeiter haben immer wieder versucht, es einer theologischen Tradition zuzuordnen; sie orientierten sich dabei vorrangig an den Ordensdoktrinen der Franziskaner und der Dominikaner. 33 Nikiaus Largier plädiert außerdem dafür, nach Kartäusischem zu suchen.34 Er hat dabei möglicherweise den Hinweis Sudbracks im Auge, daß der dem Antonius Volmar zugeschriebene Traktat 'De spirituali perfectione' in Teilen deutlich parallel geht mit dem BvdgA. 35 Jener Antonius Volmar wird von Pez, dem Editor aus dem 18. Jahrhundert, als Kartäuserprior aus der Zeit um 1500 bezeichnet.36 Sollte die Zuschreibung zutreffen, so gehört die Schrift zur Nachwirkung des BvdgA; man könnte aber dabei auch eine fehlzugeschriebene, frühere Vorlage in der Hand haben oder eine spätere Bearbeitung einer solchen, wie Sudbrack nahelegt.37 Das 'Buch von der geistlichen Armut' umfaßt zwei deutsche Prosatraktate, einen über das Wesen evangelischer Armut und einen über den Weg zur Vollkommenheit. Ob die Aufteilung in zwei Bücher ursprünglich und beabsichtigt ist oder einer rein mechanischen Notwendigkeit folgt, ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden;38 ich denke, daß ein abschließendes Urteil darüber erst möglich sein wird, wenn die Quellen des Buches erschlossen sind und es zumindest überzeugende Hypothesen über seine Herkunft gibt. Auch die Darstellungsweise hat sehr unterschiedliche Einschätzungen hervorgerufen. Denifle fand den Text wirr und stilistisch unterdurchschnittlich für seine Gattung und seine Zeit,39 ein Urteil, das weder die Zeitgenossen noch die unmittelbar folgenden Jahrhunderte geteilt haben können, wie die Überlieferung ausweist. Ampe hat dagegen die logische Einheit und Geschlos-
33
34 35
Vgl. BvdgA, ed. DENIFLE, S. XLVII und S. LI; BvdgA, ed. LARGIER, S. 253. Die These von Ritsehl (siehe dort, so läßt sich der hauptsächliche Inhalt des gesamten Aufsatzes zusammenfassen), es handele sich um die dominikanische Uberformung einer franziskanischen Grundschrift, hat durchaus anregend gewirkt; sowohl Kelley (BvdgA, ed. KELLEY, S. 1-50) als auch AMPE, beschouwingen, bes. S. 19-20, haben sich mit ihm auseinandergesetzt. Daß sich kundige Forscher in solchem Maße uneins sein konnten, zu welcher theologischen Ordenstradition das BvdgA gehört, zeigt vor allem eines: Es handelt sich um einen Text, der die vordergründige Zuordnung bewußt vermeiden will. Vgl. BvdgA, ed. LARGIER, S. 259-260. SUDBRACK, Kastl II, S . 3.
36
PEZ, Bibliotheca V fol. )( 1 verso.
37
SUDBRACK, K a s t l II, S . 3 .
38
Gegen eine inhaltliche Begründung BvdgA, ed. DENIFLE, S. XLVIII-XLIX, dafür AMPE, beschouwingen, S. 20-27. Vgl. AUER, VL. Vgl. BvdgA, ed. DENIFLE, S. XLIV, S. XLVIIIf.
39
138
Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
senheit herausgearbeitet.40 Es hat, den Pezschen Traktat des Antonius Volmar bereits ausgenommen, noch mindestens eine Übersetzung ins Lateinische stattgefunden, und zwar 1548 durch den Kartäuser Surius, der die Absicht hatte, ein lateinisches Taulerkorpus herzustellen.41 Das Buch ist anonym überliefert und galt dem hervorragenden Büchersammler Daniel Sudermann um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert als Werk Johannes Taulers.42 Heinrich Denifle, der die Schrift 1877 ediert hat, bemerkte gravierende Unterschiede zwischen den Lehren des BvdgA und Taulers Predigten, so daß er - nicht ohne Polemik und Stellungnahme für die theologische Vorgeschichte des eigenen Ordens - zu dem Schluß kam, man dürfe im Autor des BvdgA wohl einen Zeitgenossen Taulers sehen, aber keinesfalls einen Dominikaner, sondern eher einen Franziskaner mit Neigungen zur spiritualistischen Richtung.43 Sudermanns spontane Datierung der Schrift auf das 14. Jahrhundert hat sich dagegen bestätigt. Das Werk zitiert mehrere Male Meister Eckhart, der 1328 gestorben ist und dem Autor bekannt gewesen sein muß.44 Daneben gibt es Textparallelen zwischen dem BvdgA und dem Dekalogtraktat des Franziskaners Marquard von Lindau, der 1392 gestorben ist.45 Darauf war Denifle gestoßen, der einen MarquardDruck von 1483 zum Vergleich angezogen hatte,46 und er war zu dem
40
AMPE, beschouwingen, S. 23-26. AMPE ist aufgefallen, daß das BvdgA zwar eine systematische Unterscheidung zwischen ingeburt und uzgeburt unternimmt, aber nur über die ingeburt tatsächlich handelt, ebd., S. 26 und Anm. 24. Im zweiten Buch taucht eine solche Inkonsequenz noch einmal auf, nämlich in einem Teilkapitel, das zum dritten Weg zu einem armen Leben gehört (der darin besteht, nicht zu fliehen, was geistlich töten könnte). Hier wird angekündigt: Wie der mensche behütet werde vor tegelicher und vor dbtlicher sttnde in sehsser leige wise, BvdgA, ed. DENIFLE, S. 169. Das Kapitel fängt mit nochmaliger doppelter Ankündigung an: Und da von so ist es mügelich, daz der mensche behütet wurt vor tegelichen und vor dbtlichen sunden, ebd. Auch das Register hat die doppelte Ankündigung, BvdgA, ed. DENIFLE, S. LXIV. Im Kapitel ebd., S. 169-176 ist aber nur von tegelichen sunden die Rede. Solche Blindverweise kenne ich nur aus kürzend übersetzten Texten: Der vollständige Gedankengang soll logisch rekonstruierbar bleiben, ausgefüllt wird aber nur das, was dem Bearbeiter für das vorgestellte Publikum wichtig erscheint. Ob das Register vor oder nach dem Text entstand, wird erst eine textgeschichtliche Untersuchung klären können.
41
V g l . B v d g A , e d . LARGIER, S . 2 3 7 .
42
Vgl. BvdgA, ed. DENIFLE, S. V.
43
V g l . B v d g A , e d . DENIFLE, S . LI.
44
Wenn man die Zitations regeln aus der lateinischen Scholastik zugrundelegen darf und der Textaufbau spricht dafür -, dann galt Eckhart dem Autor als Zeitgenosse, denn er zitiert ihn anonym. Quellen bei BLUMRICH, Feuer, S. 44-45.
45 46
V g l . B v d g A , e d . DENIFLE, S . L H .
Das 'Buch v o n der geistlichen Armut'
139
Schluß gekommen, daß Marquard von Lindau die Schlüsse der Auslegungen der Gebote 4-10 aus dem 'Buch von der geistlichen Armut' übernommen habe. Als Anton Mayr später die Überlieferung von Marquards Dekalogerklärung studierte und deren drei Redaktionen unterschied, stellte er fest, daß die Plusstellen aus dem 'Buch von der geistlichen Armut' auf die C-Redaktion beschränkt sind.47 Das ist die umfangreichste der MarquardRedaktionen, und auch wenn Mayr der Ansicht war, daß alle drei Redaktionen Autorfassungen seien,48 so gibt es dafür bis heute keinen Beweis. Für die Datierung des BvdgA ist das wichtig, denn wenn die CRedaktion nicht mehr von Marquard selbst stammen muß, fallt der terminus ante quem 1392 für das Buch von der geistlichen Armut; es könnte nach Marquards Tod entstanden und von einem Marquard-Redaktor herangezogen worden sein. Auch andere Möglichkeiten sind erwogen worden: ob es sich nicht umgekehrt verhalten könne, so nämlich, daß das BvdgA, das nicht vor dem 15. Jahrhundert handschriftlich bezeugt ist, seinerseits die C-Redaktion von Marquards Dekalogerklärung benutzt;49 Hartinger neigt nach Prüfung dieser Möglichkeiten zu der Ansicht, daß Marquard C (von wem auch immer hergestellt) und BvdgA eine gemeinsame Quelle haben könnten. 30 Daß Marquard C nicht die Vorlage des BvdgA sei, legt der Vergleich des Status der übereinstimmenden Stellen in beiden Texten nahe. Die C-Redaktion zeichnet sich gegenüber der wohl ältesten und ursprünglichen A-Redaktion31 durch Erweiterungen im 4. Gebot aus (eine Sterbelehre und Erörterungen über die Seelen im Fegefeuer), die auch separat überliefert sind;32 dazu kommen die Gemeinsamkeiten mit dem BvdgA, die in dessen Kontext systematisch erforderlich sind, die Auslegungen der Gebote 4-10 bei Marquard aber nur ergänzen.33 Eine nicht über Marquard vermittelte34 Nachwirkung des BvdgA haben Lievens und van Maren in einer mittelniederländischen Predigt gefunden, deren Schreibdatum (1470-80) jedoch so weit nach dem der Leipziger Per-
47
V g l . MAYR, Ü b e r l i e f e r u n g , S. 7 7 .
48
Vgl. MAYR, Überlieferung, S. 77. Nigel Palmer bemerkt in: DERS., Latein, S. 76: "Es besteht kein Grund, an der Vermutung Anton Mayrs zu zweifeln, daß die drei Hauptfassungen der 'Dekalogerklärung' Autorfassungen sind."
49
HARTINGER, S .
161-166.
50
HARTINGER, S .
166.
51
V g l . MAYR, Ü b e r l i e f e r u n g , S. 7 5 .
52
Überlieferung bei PALMER, Marquard. Im BvdgA, ed. DENIFLE: S. 102,4-103,20; S. 130,17-133,7; S. 135,22-136,34; S. 152,36-153,1; S. 155,14f.; S. 159,32-37; S. 166,37-39; S. 169,36-174,2. Die mittelbare Wirkung über Marquards Dekalogtraktat in Übersicht bei AMPE, beschouwingen, S. 27-37.
53
54
140
Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
gamenthandschrift 560 liegt (1429),55 daß sie zur Datierung nichts beitragen kann.56 Da die Leipziger Handschrift aber nach Denifles Aussage eine Schwesterhandschrift hat und selbst bereits eine Abschrift ist,37 wäre die bereits von Denifle für zwingend gehaltene inhaltliche Anbindung an Diskussionen des 14. Jahrhunderts (nämlich Armutsproblem, Auffassung von der Einheit mit Gott und Auseinandersetzung mit der freigeistigen Häresie)58 mit den weiteren Datierungsmöglichkeiten zu vereinbaren, etwa indem man einräumte, daß das Buch auch gegen Ende des Jahrhunderts und möglicherweise erst um 1400 entstanden sein könnte. Eine Aufzeichnung auf Pergament beinhaltet am Anfang des 15. Jahrhunderts für ein Stück geistlicher Prosa in jedem Fall ein positives Werturteil, sie weist also eher auf einen bereits bewährten als auf einen brandneuen Text hin. Den entscheidenden Hinweis, daß Marquard von Lindau auch unabhängig vom Redaktionenproblem der Dekalogerklärung das BvdgA gekannt haben muß, hat Rüdiger Blumrich gegeben.59 Er hat in der sechsten Predigt der von Strauch entdeckten Sammlung von Marquard-Predigten60 wörtliche Übereinstimmungen mit dem BvdgA gefunden;61 da die Predigtsammlung in den Handschriften auf 1389 datiert wird,62 ist damit ein sicherer terminus ante quem für das BvdgA gegeben.63 In diesem Buch, das Marquard von Lindau als - deutschsprachige - Quelle benutzt und das also belegt, wie im 14. Jahrhundert ein neuer Autoritätstyp "volkssprachliche Theologie" entsteht, wird an mehreren Stellen die synderesis behandelt. Im zweiten Buch heißt es unter der Überschrift An sechs stücken sol der
mensche bekennen, ob sin wille von got überwunden sy Ouch wurt die oberste kraft des geistes, die do heisset synderesis, vollebraht uf iren ersten adel in dem liden cristi, wan die kraft ist geschaffen got sunder mittel
55
Vgl. BvdgA, ed. DENIFLE, S. III.
56
V g l . LIEVENS/VAN MAREN, S . 2 8 9 .
57
Vgl. BvdgA, ed. DENIFLE, S. IV. Vgl. BvdgA, ed. DENIFLE, S. LII; BvdgA, ed. LARGIER, S. 238 u. S. 251-257;
58
RITSCHL, S . 3 4 4 . 59 60 61 62 63
64
Vgl. BLUMRICH, Feuer, S. 46-47. Vgl. STRAUCH, Marquart. Vgl. BLUMRICH, Feuer, S. 46-47. Vgl. BLUMRICH, Feuer, S. 46. Dadurch wird, da nunmehr das BvdgA für Marquard als nachweislich benutzte Quelle feststeht, auch die eigenhändige Redaktion der Dekalogerklärung C wieder wahrscheinlicher. BvdgA, ed. DENIFLE, S. 130,17f.
Das 'Buch von der geistlichen Armut'
141
zä gebrucheti, und von adams val wart sie vermittelt, und daz mittel mäs in cristo gedilget werden, also daz der geist zü male entblösset werde von allem mittel; und daz geschiht in der wise, so alle die krefle des menschen, sie sient usserlich oder innerlich, durchlbffent die werck und die lere und daz liden cristi, und ein iegliches tüt waz es vermag. Und die übunge in cristo machet die krefte z& male luter, und die luterkeit wurt an gestossen mit minnen, also daz ein iegliche kraft sich neiget dar zü. sie geordent ist, daz ist zü der obersten kraft die gottes sunder mittel gebruchet, und danne so offenbaret sich got in dem wesen der seien, und zühet alle krefte zü ime, und einiget sie zü ime.65
In dieser Vorstellung von der synderesis sind folgende Thesen enthalten: 1. Die synderesis ist die oberste Kraft des Geistes. Sie ist im Naturzustand des Menschen, vor der Erbsünde, geschaffen zu unmittelbarem Umgang mit Gott, immer aber geschaffen. 2. Es ist durch imitatio Christi im Leben möglich, die Vermittlung im Umgang mit Gott wieder aufzuheben. Dazu gehören folgende Schritte: Die Liebe reinigt die Seelenkräfte. Rein orientiert sich jede an der Nächsthöheren und tut das Ihrige. Die synderesis ist der unbewegte Gipfelpunkt dieser Pyramide des Strebens. 3. Derselbe Vorgang wird auch beschrieben als Befreiung des Geistes von allem Vermittelnden. Die synderesis kann dann wieder unmittelbar zu Gott sein. Die Funktion der synderesis im Geist wird also nicht unter die Vermittlungsverhältnisse gerechnet, und das Verhältnis der nachgeordneten Seelenkräfte zur synderesis, die ja zwangsläufig vermittelt sein müssen, bleiben auch außerhalb der Betrachtung. Das heißt: Die in einem Stufenmodell der Seelenkräfte notwendige Mittelbarkeit der menschlichen Selbstreflexion bleibt zugelassen, sie stört die reine Unmittelbarkeit zu Gott offenbar nicht. 4. Von einem Zusammenwirken der synderesis mit der conscientia ist nicht die Rede. Die synderesis bezieht ihre sittliche Funktion, wenn diese überhaupt mitgedacht ist (das ist aus Gründen der theologischen Tradition allerdings wahrscheinlich), vom Umgang mit Gott. Sie könnte dann zwangsläufig nur für normativ gut halten, was Gott will; ob sie aber überhaupt positive Inhalte hat - wie bei Thomas, wo es die ersten Prämissen sind -, kann nicht sicher vorausgesetzt werden. Der auffallige Verzicht auf die Korrelierung von synderesis und conscientia - ähnlich wie bei Eckhart in der Predigt Q 20a - fordert dazu auf, die Einbindung des synderesis-Begnffs zu rekonstruieren. Er war ja erst über die conscientia in die lateinische Diskussion gekommen; nun conscientia fallenzulassen, aber synderesis zu halten erzeugt eine systematische Lücke: Wel-
6i
BvdgA, ed. DENIFLE, S. 132,37-133,10.
142
Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
ches sind nun die Kräfte, denen die alltägliche sittliche Entscheidung anvertraut ist? Kann synderesis in diesem Denkmodell nur noch im Kontext der unio oder der visio beatifica sinnvoll verwendet werden? Die synderesis wird nun in der Schrift noch mehrmals erwähnt, aber dann immer mit den konventionellen Umschreibungen, nicht mit dem Kunstwort. Die folgende Stelle steht unter der Überschrift Wie der gbtlich geist in den menschen sprichet:66 Sie legt nahe anzunehmen, daß für den Autor die synderesis keine positiven Inhalte haben dürfe, sondern eher eine wesentliche Negativität, Entäußerung und Leere des Geistes sei. [...] als sanctus Paulus sprichet: 'wer got an hanget, der wurt ein geist mit got'. Daz anhangen ist nit anders danne daz der geist uz gat sin selbs nach geschaffenheit, und sich wurffet in ein luter niht. Und daz nicht, daz ist daz gbtlich bilde daz in den geist getrucket ist, und blibet da, und mag nit zä niht werden; und daz nimt got und einiget es mit ime.61
Ein eingeprägtes Bild Gottes, unzerstörbar: eine klassische synderesis-Beschreibung. Es soll hier aber ein luter niht sein, und das gehört nicht zum traditionellen Gut. Es ist die Eckhartsche Konzeption: Seelenfünklein als synderesis wie in Q 20a, verbunden mit negativer Theologie auch im Bezug auf das Göttliche in der Seele.68 Eckhart hat in der Predigt auf Quasi Stella matutina (Q 10) entwickelt, warum er dem Intellekt eine engere Vertrautheit mit Gott zubilligt als dem Willen: Der Wille braucht noch einen Begriff vom Guten und die Überzeugung, daß es zutage treten könne; der Intellekt kann jedoch selbstreflexiv hinter seine ersten positiven Setzungen zurückgehen, indem er ihre Geltung nicht mehr voraussetzt. Nikiaus Largier hat angemerkt, daß das BvdgA offenbar mit diesem Problem ringt und eine vermittelnde Lösung sucht.69 Denn einerseits schöpft das BvdgA, wie schon Denifle bemerkt hatte, reichlich aus Eckhart,70 anderseits heißt es im BvdgA: also hat der wille die aller edelste stat in got under allen andern kreften. Und wan er danne hat die oberste stat, so hat er ouch der obersten fruht und die edelste. Urtde also der fenix sunder mittel wurt geborn von der sunnen ane helf anderer creaturen, also wurt die rehte fruht des willen sunder mittel von got geborn; und dar nach der wille erhaben ist über alle ding in got, dar nach gebirt er ouch
66
B v d g A , ed. DENIFLE, S. 4 4 , 2 5 .
67
B v d g A , ed. DENIFLE, S. 4 4 , 3 3 - 4 5 , 1 .
68
Eckhart DW I, S. 332,2ff. undS. 417,8-419,5. Vgl. LARGIER, intellectus, S. 462. Vgl. BvdgA, ed. LARGIER, S. 255. Vgl. BvdgA, ed. DENIFLE, S. XLV-XLVII; BvdgA, ed. LARGIER, S. 261-274, besonders Anm. 4, 6, 41, 55.
69 70
Das 'Buch von der geistlichen Armut'
143
fruht; und dar nach er ouch gelediget ist von allen dingen die got nit sint, dar nach gelestet daz gbtlich lieht in in und machet in fruhtber.11
Das BvdgA geht also wie die Franziskanerschule von der Überzeugung aus, daß die höchste Seelenkraft des Menschen sein Wille sei.72 Das hatte auch Bonaventura angenommen, und bei ihm war die synderesis eine natürliche Willensausrichtung. Sie muß dann aber einen positiven Inhalt haben, und gerade das lehnt das BvdgA - wie Eckhart - im Sinne einer negativen Theologie ab. Allerdings ist es darin nicht ganz konsequent. In der oben zitierten Textstelle ouch wurt die oberste kraft des geistes, die do heisset synderesis ... heißt es einmal, die synderesis sei geschaffen; daneben heißt es, daß sie die anderen, also auch die höheren, Seelenkräfte anleiten kann, ohne daß der Geist (als ganzer)73 damit in eine Vermittlung gegenüber Gott einträte, bei der die synderesis der Vermittler wäre. Um hier keinen Widerspruch aufbrechen zu lassen, müßte die synderesis wesentlich göttlich sein, also, wie Eckhart in Q 20a sagt, ein bilde gütlicher natüre,1A oder zumindest, wie Marquard von Lindau in seinem Verständnis der Eckhart-Stelle hinzusetzt, got näch sipp.15 Es ist deshalb noch nicht klar, wie die synderesis im BvdgA genau gedacht ist. Das Verständnis hängt von der Anleitung der anderen Seelenkräfte ab, also von der Anbindung an den traditionellen Kontext des scholastischen Begriffes - die sittliche Entscheidung, das Bewußtsein davon und deren interne Leitinstanz.
71 72
73
74 75
BvdgA, ed. DENIFLE, S. 78,35-79,4. Diese Grundposition muß man zur offenbaren Wertschätzung Eckharts in einem spannungsreichen Verhältnis sehen, sobald man annimmt, daß die Hauptlehren der ordensgeprägten Schulen auch in volkssprachlicher Theologie erhalten bleiben. So ist Ritsehl zu der Annahme gekommen, daß eine franziskanisch-scotistisch geprägte Grundschrift mit dominikanischen Zusätzen versehen worden sei, vgl. RITSCHL, S. 347 u. S. 350. Für den hier dargelegten Zusammenhang ist es unerheblich (allerdings unabhängig davon durchaus eine eigene Betrachtung wert, die hier allerdings nicht angestellt werden kann), ob geist an dieser Stelle die Gesamtheit der höheren Seelenkräfte meint oder die Gesamtheit aller - einschließlich der niederen - Seelenkräfte. Auch im scholastischen Sprachgebrauch sind mens und animus terminologisch nicht so verbindlich festgelegt wie intellectus, voluntas und memoria, also die Vokabeln der nächstniedrigen Ebene. Diese Beobachtung entspringt allerdings nur meiner begrenzten Lektüreerfahrung. Eckhart Predigt Q 20a, DW I, S. 333,1. Marquard von Lindau, Predigt am Pfingstmontag, BLUMRICH, Marquard, S. 212220, Zitat S. 217. Die Übereinstimmung mit Eckhart Predigt Q 20a, DW I, S. 332,3-333,5 ist erstmals von MAY, S. 101 nachgewiesen worden, der auch einen Teilabdruck nach Berlin SBPK Ms. germ. 79, fol. 18a beigegeben hat.
144
Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
Nun ist zwar im BvdgA immer wieder von der sittlichen Entscheidung die Rede, aber nicht im Kontext von synderesis und conscientia. Das lateinische conscientia bleibt einmal als Lehnwort stehen: Und da von sprichet sanctus Paulus: 'fröwent itch allewegent in dem herren, und anderwerbe sprich ich, frbwent itch'. Daz er sprichet 'fröwent iich allewegent in dem herren', daz ist daz der mensche sol haben ein stete inneblibende ewige frbude in got, und die kummet von einer lutern conciencie; und wer die frbude het, daz ist ein zeichen daz got sin hertze besessen het, und sich mit minnen und mit fröuden ime offenbaret,76
Daß hier weder von einem Habitus noch von einem Akt der praktischen Vernunft namens conscientia geredet wird, scheint mir klar; ich lese die Stelle mit einem biblisch weiten conscientia-Begrifi. Ob man soviel terminologische Kohärenz und Verflechtungsabsicht unterstellen darf, die lutere conciencien, obgleich die pura conscientia ja zum ältesten Erbgut gehört, auf die Reinheit der Seelenkräfte in Und die übunge in cristo machet die krtfte zü male luter77 im synderesis-Absatz zu beziehen, erscheint mir zumindest sehr fraglich. Das heißt: Die Suche nach einer Verknüpfung von conscientia und synderesis im Text bleibt ohne Ergebnis. Dafür findet man überraschenderweise eine andere, neue Verknüpfung. Sie ist mir aufgefallen, als ich nach Belegen für die Verwendung von synderesis suchte. Dabei habe ich folgendes Textstück gefunden: Sie wenent ettewenne eine tugent Üben, und übent ein untugent. Und daz geschieht von blintheit ir selbes, und der bbse geist mag sie dicke betriegen. Und dar umb der unbetrogen welle bliben, daz er ane hindernisse zü dem zile kome daz cristus ist, der sol sich in keren in daz lieht daz got in in gepßantzet hat, und sol da mit an sehen ein ieglich ding, es sy gät oder bbse. Und daz gäte sol er wellen und daz böse lassen, und also komet er zä dem zil-n
Geht man vom traditionellen Inventar der syrcrfererä-Beschreibung aus, so könnte daz lieht daz got in in gepßantzet hat auf die synderesis bezogen werden, zumal auch die topische Erklärung - Anleitung zum Guten und Widerstreben gegen das Böse - regelmäßig zur Erwähnung der synderesis gehört. Aber das ist nicht ganz zweifelsfrei, weil das Wort nicht fallt. Dennoch trägt die Stelle zur Erhellung der Schwierigkeiten um den synderesis-
76 77 78
BvdgA, ed. DENIFLE, S. 151,7-14. BvdgA, ed. DENIFLE, S. 133,5. BvdgA, ed. DENIFLE, S. 59,20-27.
Das 'Buch von der geistlichen Armut'
145
Begriff bei, denn sie führt vor, in welcher Richtung die Regulative sittlicher Entscheidung im Text zu suchen sind: Von der Lehre vom eingeborenen Licht zur Unterscheidung des Guten und Bösen sagt Bonaventura im Sentenzenkommentar bei der Erörterung der synderesis, daß sich in ihrer Billigung alle Autoren einig seien.79 Hier referiert das BvdgA also einen theologischen Gemeinplatz; allerdings einen solchen, der eher die Fähigkeit zu sittlicher Entscheidung begründen hilft, als im Einzelfall zu vermitteln, wie eine solche Entscheidung zu fallen sei.80 Ob das BvdgA dieses lumen innatum mit der synderesis identifiziert wissen will, ist mir nicht völlig gewiß;81 aber in jedem Fall geht es um das Problem der angeborenen sittlichen Ausrichtung. Nun diskutiert das BvdgA diese Vorstellung vom mitgegebenen sittlichen Vermögen aber nicht etwa im Kontext der praktischen Vernunft oder des Willens oder der Tugenden, obgleich alle diese Möglichkeiten in erprobten Lehrsystemen zur Verfügung gestanden hätten. Es bringt sie vielmehr in den Zusammenhang möglicher Anfechtungen und der Unterscheidung der Eingebungen, die in der Theologie meist als discretio bezeichnet wird. Diese Eingebungen als das Sprechen in Graden göttlicher oder teuflischer Geister zu betrachten haben zwar schon Richard von St. Victor und Johannes
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81
Omnes enim in hoc concordant, quodpotentiae cognitivae sit lumen inditum, quod vocatur naturale iudicatorium. Bonaventura, In II Sent., d. 39, q. 2, co. Berthold von Regensburg wettert im Gegensatz dazu, daß mit dem Grundsatz des natürlich Rechten - das Gute tun und das Böse meiden - als solchem für Laien nichts anzufangen sei, daß sie vielmehr auf Interpretation angewiesen blieben: Pfeiffers Predigt Nr. 1 Daz eteliche jehent: Tuo daz guote und lä daz übele. Ed. PFEIFFER/STROBL/RUH 1, S. 1-10. Hier heißt es S. 2,35-3,4: 'Ich weizwol allez daz er predigen wil: ez ist anders niht wan: läz daz übel und tuo daz guote'. Daz ist wol war: ez ist der rehte wec zem himelriche. Kanst du aber dich niht baz dar uz gerihten, so maht du dannoch wol irre werden. Im ist reht als du sprachest: 'weihen wec gen ich rehte gegen Regenspurc?' So sprich ich: 'da ganc alle die wege die rehte gegen Regenspurc gent und laz alle die unrehte dar gent': dannoch möhte ein man wol irre werden, der in niht anders an wisete üfdie rehten sträzen. SCHÖNBACH, Studien, 6. Stück, S. 65 weist Parallelen zu drei lateinischen Berthold-Predigten auf. Das BvdgA verwendet theologisches Wissen nicht als Ornament für praktische Unterweisung, sondern baut die Unterweisung vom theologischen Fundament her auf. Auch bei Bonaventura gibt es durch die Unterscheidung von angeborenem und erworbenem Gewissen neben der synderesis ja noch eine zweite angeborene sittliche Instanz, wobei die eine, die synderesis, den Willen, die andere, die conscientia innata, die praktische Vernunft leitet. Eine solche Möglichkeit der Aufspaltung muß also grundsätzlich in Rechnung gestellt werden.
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Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
Cassianus unternommen, als sie von discretio schrieben. 82 Aber erst im 14. Jahrhundert wird systematisch darüber gehandelt. Das erfolgreichste Buch, gemessen sowohl an der Zahl der überlieferten lateinischen Handschriften als auch an der Zahl selbständiger Übersetzungen, hat Heinrich von Friemar aus dem Augustinereremitenorden geschrieben. 83 Seine lateinische Schrift De quattuor instinctibus ist die erste systematische Auseinandersetzung mit dem Thema der Unterscheidung der Eingebungen. 84 Heinrich ist 1340 gestorben. 85 Das BvdgA kann seine Werke also kennen. 86 Es nimmt das Thema nicht nur an der zitierten Stelle auf, sondern noch zweimal in größerer Ausführlichkeit. 87
82
83
Vgl. Andre CABASSUT: Discretion. In: Diet, de Spiritualite Bd. 3 S. 1311-1330; Francois VANDENBROUCKE: Discernement des esprits. III. Au moyen äge. In: Ebd., Sp. 1254-1266. Edition des lateinischen Textes und einer deutschen Übersetzung (mit Übersicht über den Gesamtbestand an Übersetzungen): WARNOCK/ZUMKELLER. Adolar ZUMKELLER findet zur lateinischen Überlieferung 149 vollständige Handschriften und drei Drucke, dazu zwölf Handschriften von Abbreviationen; Robert WARNOCK verzeichnet 37 deutsche Handschriften, die 18 verschiedene Übersetzungen wiedergeben, und einen niederdeutschen Druck, vgl. WARNOCK/ZUMKELLER, S. 3-13, S. 20-21 u. S. 34-43. Zur Bedeutung der Schrift als erster systematischer Auseinandersetzung mit der Unterscheidung der Geister ZUMKELLER ebd., S. 3435.
84
Vgl. Zumkeller in WARNOCK/ZUMKELLER, S. 34.
8i
V g l . STROICK, S . 11 f.
86
Robert WARNOCK urteilt in WARNOCK/ZUMKELLER, S. 131 so: "Eine längere Auslegung aus dem 'Buch von der geistlichen Armut' trägt die Überschrift Von vier hande geiste die in den menschen sprechenf, die vier 'Geister' heißen der böse, der naturlich, der engelsche und der gbtlich geist. Der Verfasser wird 'De quattuor instinctibus' zweifellos gekannt haben; außer in dieser Einteilung zeigt die Schrift jedoch keine Übereinstimmung mit Heinrichs Text." Gern nehme ich die Gelegenheit, um einen Fehler zu berichtigen, den ich in einem Aufsatz für den von Ulman WEISS herausgegebenen Sammelband: Erfurt 742-1992, S. 119 und ebd., Anm. 46 begangen habe. Die angegebene Stelle BvdgA, ed. DENIFLE, S. 13-16 Wie man sol verstan, ob daz triben uf usserlich minnewerck sige von dem bösen geist, oder von natur, oder von got ist tatsächlich nur ein kleines Kapitel über das Thema der Unterscheidung der Eingebungen, aber das BvdgA enthält daneben noch die von WARNOCK in WARNOCK/ZUMKELLER, S. 131 angegebene zweite, in sich geschlossene systematische Abhandlung, die im Aufbau an Heinrich von Friemar erinnert, aber die Geister in anderer Reihenfolge bespricht, nämlich böser Geist - natürlicher Geist - englischer Geist göttlicher Geist: BvdgA, ed. DENIFLE, S. 34,30-38,9. Der von WARNOCK a.a.O. konstatierte inhaltliche Unterschied zu Heinrich von Friemar betrifft vor allem den instinetus naturalis, den das BvdgA wesentlich höher bewertet als Heinrich. Die Wiederaufnahme des Themas der Unterscheidung der Geister in drei verschiedenen Kontexten - nämlich am kürzesten an der oben zitierten Stelle BvdgA, ed.
87
Das 'Buch von der geistlichen Armut'
147
Synderesis und discretio entstammen unterschiedlichen Denkkreisen; die synderesis war zu einem Leitbegriff der philosophisch bemühten Universitätstheologie des 13. Jahrhunderts geworden, während discretio von den Großen der monastischen Theologie des 11. und 12. Jahrhunderts - von den Victorinern, Wilhelm v. St. Thierry und Bernhard von Clairvaux - verwendet worden war. Die discretio ist ein Begriff, der die Geltung einer objektiven Moral nicht bestreiten, sie aber subjektiv vermitteln will. Die verschiedenen Geister oder Eingebungen - bei Bernhard sind es sieben,88 bei Heinrich von Friemar später nur vier - sind objektive Mächte, ihr moralischer Wert liegt fest und ist vom einzelnen Menschen unabhängig. Gleichwohl trifft der Mensch auch in schwierigen Fällen sittliche Entscheidungen. Er weiß dabei nicht, welcher Geist gerade in ihm spricht, wenn er etwas für gut und richtig hält. Er kann aber in Grenzen lernen, es zu unterscheiden. Das heißt für die Bewertung der einzelnen Handlung: Nur die guten Geister können auch eine gute Handlung bewirken. Wenn der Mensch glaubt, ein guter Geist rate ihm, aber die Tat gehört einem bösen Geist zu und ist böse, dann bleibt die Tat schlecht, und getäuscht worden zu sein entschuldigt den Menschen nicht, es ist eher eine weitere Verfehlung zu derjenigen, die er durch die Fehleinschätzung begeht. Die Absicht zur guten Tat ist eine conditio sine qua non, aber sie muß sich mit der objektiven Güte und Richtigkeit der Handlung treffen, damit die Tat gut sei. Heinrich von Friemar geht im Prolog seiner Schrift über die Unterscheidung der Geister davon aus, daß dem Menschen ein lumen naturale und ein lumen gratuitum entscheiden helfe, die beide die Ausrichtung auf Gott vorschreiben. So kann der Mensch sie schwer unterscheiden; nur das gnadenhafte Licht hilft ihm aber die Entscheidungen zu treffen, die nach dem Kriterium der künftigen Seligkeit die richtigen sind.89 Darin spricht sich eine Gering-
88
89
DENIFLE, S. 59,20-27 zur Unterscheidung seelischer Haltungen, ausführlicher davor ebd., S. 13,19-16,11 als Unterscheidung der Handlungsantriebe und am gründlichsten ebd., S. 34,30-38,9 und 44,25-48,12 zur Unterscheidung der Erkenntnisse und der Affekte - spricht, was ich leider nicht verstanden hatte, dafür, daß dieses Thema für das BvdgA von zentraler Bedeutung ist und unter verschiedenen Gesichtspunkten immer wieder beleuchtet wird. Vgl. Sancti Bernhardt Opera (ed. eist.) Bd. 6.1., Sermones, Rom 1970, Sermones De diversis Nr. 23, S. 178-183. Causa vero et ratio, quare sit difficile praedictos instinetus discernere, est similitudo et conformitas naturalis luminis et luminis gratuiti. Nam utrumque lumen dictat homini Deum super omnia diligendum. Ideo non est parum homini, an istum dilectionis actum eliciat a lumine naturali vel a lumine gratuito. [...] Propter quod rede scribitur Ecclesiastis Ψ: "Nemo seit, an amore vel odio dignus sithoc est: an actus, quem elicit, procedat α lumine gratuito vel α lumine naturali. WARNOCK/ZUMKELLER, S .
152,20-154,28.
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Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
Schätzung des lumen naturale aus, die sich in den zahlreichen Vorbehalten bestätigt, die Heinrich im entsprechenden Kapitel90 gegen den instinctus naturalis vorbringt. 91 Das BvdgA bezeichnet das lieht als in gepflantzet. Es meint also ein lumen innatum, denn von einer gnadenhaften Erleuchtung kann der Mensch nicht als von einem Naturzustand ausgehen. Es sagt weiter, daß dieses eingepflanzte Licht zur Unterscheidung der Geister befragt werden solle. Es traut ihm also mehr zu als Heinrich, und das spricht wieder für die Identität mit der an anderer Stelle erwähnten synderesis, die ja unmittelbar zu Gott geschaffen sein sollte. Von dieser Verbindung von synderesis und discretio im BvdgA aus kehre ich noch einmal zu Sätzen aus dem BvdgA zurück, die ich oben bereits als Umschreibung der synderesis zitiert habe: ...als sanctus Paulus sprichet: 'wer got an hanget, der wurt ein geist mit got'. Daz anhangen ist nit anders dann daz der geist uz gat sin selbs nach geschaffenheit, und sich wurffet in ein tuter niht. Und daz nicht, daz ist daz götlich bilde daz in den geist getrucket ist, und blibet da, und mag nit zü niht werden; und daz nimt got und einiget es mit ime.92
Nun interessiert mich, wie die Stelle eingebunden ist. Sie steht im ersten Kapitel der kleinen Abhandlung über die Unterscheidung der Geister und beschreibt das Sprechen des göttlichen Geistes im Menschen. Wenn der göttliche Geist im Menschen sprechen soll, muß der Menschengeist alle positiven Inhalte aufgeben und sich auf die synderesis zurückziehen. Dann wird sie von Gott ergriffen. Wenn man diese Beschreibung gleichsam rückwärts, nämlich vom möglichen Resultat aus, liest, ergibt sich: Ist der Mensch in seinem Geist von etwas ergriffen, wodurch er glaubt, den raptus und die unio zu erleben, dann muß er reine synderesis, ohne positive Inhalte, sein, also reine Voraussetzung ohne jede Folge. Im anderen Fall handelt es sich nicht wirklich um den göttlichen Geist. Das schließt die thomistische Position mit Sicherheit aus, aber auch die des Bonaventura. So haben schon die terminologischen Anklänge (götlich bilde, Ergriffen- und Vereintwerden) vermuten lassen, die an die Diskussion über die visio beatifica erinnern.93 Die synderesis befindet sich im BvdgA offenbar gleichzeitig in zwei Bezugs-
90
WARNOCK/ZUMKELLER, S .
91
V g l . Z u m k e l l e r i n WARNOCK/ZUMKELLER, S .
92
BvdgA, ed. DENIFLE, S. 44,33-45,1. Vgl. BLUMRICH, Marquard, S. 73*-75*, LARGIER, intellectus, S. 428-429, S. 450-454 u. S. 462.
93
194,1-234,510. 31.
Das 'Buch von der geistlichen Armut'
149
systemen. Das erste besteht aus den patristischen, vorscholastischen Bestimmungen: Göttliches im Menschen, unzerstörbar, über allen Seelenkräften. Sie können alle dem neuen Kontext der visio beatiftca zugeordnet werden. Das zweite ist das der discretio, der gnadenhaften Unterscheidung der Geister. Und hier hat die synderesis nur eine Indikatorfunktion. Sie ist zwar die notwendige Bedingung dafür, daß der göttliche Geist überhaupt im Menschen sprechen kann; die discretio spielt sich aber auf einer Bewußtseinsebene darüber ab, nämlich in der richtigen Wahrnehmung dieses Zustandes. Wenn der Geist sich nur noch als synderesis wahrnimmt, dann ist ihm die discretio gnadenhaft verliehen, und sie sagt ihm, daß es sich um den göttlichen Geist handele, der in ihm spricht (was zwangsläufig bedeuten muß, daß die synderesis dann selbst göttlicher Geist ist, denn sonst würde dieser Geist als fremd, als positiver Bewußtseinsinhalt, wahrgenommen). Das heißt aber, daß der Geist dann zu menschlich-sittlichen Entscheidungen nicht in der Lage ist, denn sie verlangen positive Bewußtseinsinhalte. Folglich ist für den ersten Fall von discretio die naturrechtlich-sittliche Dimension der synderesis völlig neutralisiert. Anderseits baut das BvdgA seine gesamte Lehre von der sittlichen Handlung über die discretio-Lehre auf. Dreimal fragt es einen systematisch erörterten Gegenstand daraufhin ab. Es untersucht, ob der Antrieb zu einer gottgefälligen Handlung vom bösen Geist, aus der Natur oder von Gott komme;94 ob eine Erkenntnis natürlich, gnadenhaft oder göttlich sei;95 hierin ist die Unterscheidung der Geister unter der gnadenhaften Erkenntnis abgehandelt, und wiederum hierhinein verschachtelt ist unter dem Engelsgeist die Unterscheidung zwischen natürlichen, engelhaften und teuflischen Vorstellungen.96 In den drei Kapiteln über Einflüsterungen - des Teufels, der Engel, der Natur - sucht man vergebens nach operationalisierbaren Bedingungen, die den Menschen darin sicherstellen, daß es sich um diesen und genau diesen Einfluß handele. Die Rede ist nur von möglichen Inhalten, die einander aber gleichen (beispielsweise rät auch der Teufel zur Tugend und zur Vollkommenheit), nicht von Entscheidungskriterien für die Herkunft der inneren Stimme. Sie sind sämtlich aufgehoben in der summarischen Einführung in den kleinen discretio-Traktat:
94 95 96
Vgl. BvdgA, ed. DENIFLE, S. 13,19-16,11, vgl. Gliederung ebd., S. LVI. Vgl. BvdgA, ed. DENIFLE, S. 22,27-48,12. Vgl. Gliederung ebd., S. LVI-LVII. Das ist einer der ganz wenigen Fälle, in denen ich mit Nikiaus Largiers kluger und lesbarer Übersetzung nicht einverstanden bin. Es ist gewiß richtig, daß der mystische Sprachgebrauch von mhd. bilde schwer in einem Übersetzungswort einzufangen ist und daß man folglich Fehler macht, indem man sich festlegt; aber nhd. Bilder scheint mir doch nur noch optisch gedacht, und das ist im BvdgA nicht gemeint, so daß das Gegenteil eines Fehlers in den anderen Fehler mündet. Die Stelle: BvdgA, ed. DENIFLE, S. 41,20-44,24; BvdgA, ed. LARGIER, S. 54-58.
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Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
Ouch ist daz von gnaden, daz der mensche bekennet underscheit der geiste. Es sint vier hande geiste die in den menschen sprechent, und er müs gar vil liehtes han, der sie erkennen sol.9'
Dazu steht die bereits zitierte Passage Sie wenent ettewenne eine tugent Üben, und übent ein untugent. Und daz geschiht von blintheit ir selbes, und der böse geist mag sie dicke betriegen. Und dar umb der unbetrogen welle bliben, daz er ane hindernisse zä dem zile kome daz cristus ist, der sol sich in keren in daz lieht daz got in in gepflantzet hat, und sol da mit an sehen ein ieglich ding, es sy gät oder böse. Und daz gäte sol er wellen und daz bösen lassen, und also komet er zä dem zil98
in offenkundigem Widerspruch, denn hier ist die synderesis in der Lage, die Unterscheidung selbst zu treffen. Ich erkläre mir diesen Widerspruch mit dem Versuch des BvdgA - oder seiner noch nicht ermittelten Vorlage -, die inzwischen fest etablierte scholastische Lehre von der synderesis wieder von ihren Anbindungen an den Zusammenhang von praktischer Vernunft und Willenstätigkeit abzulösen und ihren naturrechtlichen Anspruch, zumindest in seiner aristotelischen Gestalt, vorsichtig zunickzunehmen, also die Linie Eckharts einzuschlagen und weiterzudenken, ohne aber - wie Heinrich von Friemar - den natürlichen Impulsen über Gebühr zu mißtrauen. Dieser Versuch zeigt sich, wie ich denke, daran, daß das Anfang des 13. Jahrhunderts nur gemeinsam behandelte Begriffspaar conscientia - synderesis aufgebrochen wird; conscientia sinkt zum völlig nebensächlichen Begriff herab und hat mit Vernunft nichts mehr zu tun, während die synderesis zu den patristischen Wurzeln der syneidesis zurückgebogen wird. Damit durch Tilgung der conscientia keine systematische Leerstelle entsteht, bindet das BvdgA - oder seine Quelle - die synderesis und die sittliche Entscheidung, die sonst der conscientia übergeben worden wäre, an den Begriff der discretio, der eine gnadenhafte Unterscheidungsfähigkeit bezeichnet. Das ist hinwiederum eine bedeutende Verschiebung gegenüber Eckhart, der in der Radikalität seiner Sittlichkeitsauffassung die Frage nach dem Alltäglichen gar nicht gestellt hatte. Die traditionell scholastische synderesis geht auf ein Fundament von sittlichen Grundsätzen aus, die entweder als Willensdispositionen oder als Prämissen der praktischen Vernunft gefaßt werden. In diesem Modell, das vom BvdgA verworfen wird, handelte der Mensch in jedem Fall nach seinem
97 98
BvdgA, ed. DENIFLE, S. 34,32-34. BvdgA, ed. DENIFLE, S. 59,20-27.
Das 'Buch von der geistlichen Armut'
151
eigenen Geist, und wenn er falsch oder böse handelte, dann aus einer Schwäche oder aus einem Irrtum, die als mögliche Fehlerquellen jedes Handeln bedingen. Im BvdgA befindet er sich, selbst undeterminiert, in ständigem Ringen mit einer unbekannten Macht, die ein verehrungswürdiger Engel oder ein bedrohlicher Teufel sein könnte, während er in den hochscholastischen Theorien aus sich heraus auf das Gute programmiert ist, auch wenn er nicht fehlerfrei funktioniert. Nun hatte bereits Thomas von Aquin ein Modell vorgeschlagen, in dem sich beide Vorstellungskreise vermitteln lassen: Die praktische Vernunft basiert auf der synderesis und regelt das Menschlich-Alltägliche, und die discretio ist als spezielle Gnadengabe nur für den Bereich des Außerordentlichen, für die erlebte Konfrontation mit dem Supranaturalen zuständig." So geht das BvdgA jedoch offenkundig nicht vor; seine Unterscheidung der Geister ist wie bei Heinrich von Friemar weit gefachert und reicht auch in den Bereich alltäglicher sittlicher Entscheidung hinein,100 und seine synderesis ist weder axiomatische Basisvernunft noch natürliche Ausrichtung des Willens, sondern vor allem gottebenbildlich. Sie ist zuerst für die visio beatifica und erst in zweiter Linie für die alltägliche Sittlichkeit zuständig, und diese zweite Zuständigkeit erscheint eher als eine Konzession an die begriffliche Tradition denn als systematische Notwendigkeit. Grundsätzlich ist sittliches Handeln der gnadenhaften Erleuchtung bedürftig, auch wenn der natürliche Antrieb des Menschen auf das Rechte weist, denn der Mensch ist ohne Gnade nicht in der Lage, die Höhe seiner Natur zu halten. Die Gewissensvorstellung des BvdgA, zumindest das, was man modern so nennen würde, denn es ist kein conscientia-Modell, basiert also nicht auf Selbstbefragung, sondern auf Fremdbefragimg, wobei das Selbst nur das Medium abgibt. Die Verbindung der Themenkreise conscientia-synderesis und discretio spirituum kann, wenn sie - wie im BvdgA - die von der Thomas-Generation gebahnten Wege verläßt und von Eckhart aus nach der Instanz der sittlichen Selbstgewißheit fragt, eines leisten: Sie kann in der Lehre vom irrenden Gewissen die Reste objektiver Moral einbinden - jene Reste, die bei Bonaventura unverbunden in den Kontext vernünftiger und intentionaler Gewis-
99 100
Vgl. S.th. I-II, q. I l l , a. 4 CO. Der naturlich geist ist nach dem BvdgA der forschende und begriffsbildende: sin sprechen ist in bilden und in formen, und do mit süchet er underscheit geschaffener dinge. BvdgA, ed. DENIFLE, S. 36,39-37,1. Er führt zu moralisch wertfreien Abbildern der Wirklichkeit; es gibt aber auch solche, die in sich böse sind, und solche, die in sich gut sind: Und so die bilde böse sint, so sint sie von dem bösen geiste; so sie weder böse noch gät sint, so sint sie von naturen; so sie aber gät sint, so sint sie von dem gäten engel. Ebd., S. 37,31-34.
152
Die
synderesis
und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
sensentscheidung übernommen wurden, die seine Lehre vom irrenden Gewissen so sperrig machen und die es einer Handhabung verschließen. Die Voraussetzung dafür ist, daß der discretio ein Spielraum zugebilligt wird, der die singulare Konfrontation mit dem Supranaturalen unterläuft und weit in den Bereich alltäglicher Sittlichkeit hineinreicht. In allen ethischen Streitfragen im einzelnen, dort, wo die conscientia Bonaventuras immer an sich selbst zweifeln mußte, weil ihr im Stande des Irrtums die Selbstaufgabe auferlegt war, greift nun das discretio-Konzept: Irrtumsfreie Sittlichkeit ist gnadenhafte Einsicht in das Böse oder Gute, das den Menschen bewegt. Sie wird also nicht durch richtige, verständige Analyse des objektiv Guten und Bösen erreicht, sondern durch das Verständnis der eigenen Intention, die sich der einzelne, damit sie ihm fraglich wird, als ein Hineinregieren des Guten und Bösen ins Ich erklärt und die ohne Eingreifen des sich selbst interpretierenden Ich das Gute oder Böse notwendig bewirkt. Das Gute und Böse ist damit nicht mehr innerweltlich, sondern als jeweils transzendente Macht aufgefaßt, die nicht in sich, sondern nur in ihren Auswirkungen erkannt werden kann. Der gute oder böse Entschluß ist nicht alleiniges Resultat menschlicher Tätigkeit, sondern das notwendige Ergebnis der Herrschaft jener transzendenten Mächte. Den bösen Entschluß zu ändern ist nun die willentliche Folge eines Aktes gnadenhafter Erkenntnis. Dessen Subjekt ist das Ich, sein Objekt das Ich als Objekt eines fremden Einflusses. Diese Gewissensbeschreibung führt nicht zu einem Bewußtsein seiner selbst als des Subjektes seiner Entschlüsse, sondern zu dem seiner selbst als eines Objektes fremder Einflüsse. Tut der Mensch nun das Falsche, obgleich ihn seine Natur das Gute wollen läßt, dann hat er seine eigenen Beweggründe mißverstanden, aber deshalb, weil es wesentlich nicht seine eigenen sind; noch bei Thomas und selbst bei Bonaventura hat er im Falle irriger conscientia nicht sich, sondern eine mögliche Tat und ihre Umstände, von denen er allenfalls einer ist, falsch analysiert. Der sittlich urteilende Mensch ist sich selbst in den hochscholastischen Modellen kein Problem, nicht einmal bei Bonaventura, wo die Ratsuche den Zweifelnden als letztlich selbst handelnd bestätigt. So birgt dieser scheinbar anachronistische Rückgriff auf Versatzstücke objektiver Moral auch die Möglichkeit, eine neue Frage aufzuwerfen, nämlich die, inwieweit der Handelnde in seinem selbstgefallten Entschluß zum Handeln zwar seiner eigenen Überzeugung nach nur aus sich selbst heraus geurteilt hat, objektiv aber zum Vehikel von Absichten wird, von denen er kein Bewußtsein hat. Wenn der Irrtum im synderesis-discretio-Modell aber an einem momentanen falschen Selbstverständnis hängt, das Fremdes als Eigenes ansieht, dann gibt es keinen Grund, die irrige Einschätzung für bindend zu halten. Gleichwohl kann der Geist nur als reine synderesis sicher sein, ganz bei sich und
Das 'Buch von der geistlichen Armut'
153
frei von Fremdem zu sein, und gerade dann ist er, wie oben gezeigt wurde, zur sittlichen Alltagsentscheidung nicht in der Lage, denn er muß ihrer zuvor enthoben sein. Wenn eine solche gefallt werden soll, so muß also immer und grundsätzlich in Rechnung gestellt werden, daß das urteilende Subjekt im Urteil fremdbestimmt ist, ohne davon zu ahnen. Seine Ohnmacht gegenüber dieser Konstellation adelt wiederum seine Entscheidung, denn wenn er die Fehlerquelle nur nach einem unzulänglichen Suchprogramm ermitteln kann, muß er sich nach dieser Prozedur (falls er keinen Fehler gefunden hat) zwangsläufig ignorant zu ihr verhalten und tun, was er für richtig hält. Die sittliche Entscheidung wird dadurch objektiv zum Wahrscheinlichkeitsurteil. Jedoch besteht kein Grund, ihr so zu mißtrauen, daß jede Weisung eines Oberen ihr übergeordnet wird, denn Gnade ist nicht standesabhängig, der Obere folglich nicht grundsätzlich im Stande der besseren Einsicht. Für Eckharts Gewissenskonzeption hatte ich versucht zu entwickeln, daß sie mit Notwendigkeit und aus inhaltlichen Gründen in der Volkssprache entfaltet werden mußte. Im 'Buch von der geistlichen Armut' wird ein Gegenmodell zu Eckhart entwickelt, aber eines, das sich gleichsam aus seinem Stoff speist. Immer noch ist sittliches Leben im strengen Sinn nur dem Vollkommenen möglich, aber der Weg dorthin rückt wieder in den Blick. Er wird als discretio beschrieben. Hier tut sich ein eigenartiges Spannungsfeld auf: Einerseits liegt dem BvdgA sehr daran, die discretio handhabbar zu machen, anderseits betont es immer wieder ihre Gnadenhaftigkeit. In gewisser Weise ist das eine Rückkehr zu Thomas, denn der mögliche Irrtum der discretio spielt eine ähnliche Rolle wie der von dessen conscientia: Er ist für den einzelnen unhintergehbar. Aber es ist Thomas, nach Eckhart gelesen, denn die discretio gehört zum Vollkommenen, Begnadeten, sie ist nicht vom Menschlichen aus auf das absolut Gute, sondern vom absolut Guten aus auf die menschlichen Belange gerichtet. Es ist ein übermenschliches Erkenntnisvermögen, das sittliches Leben an sein Ziel bringt. Für die Theologie, vom Standpunkt der systematischen Erwägungen, war das sicher eine kluge Vermittlung. Aber der große Wurf einer synthetisierenden Ethik, wie ihn Eckhart versucht hat, kann von hier aus nicht gelingen. Zwar stellt auch das BvdgA dem Anspruch nach eine Lehre sittlichen Lebens auf, die alle Stände umgreifen kann. Auch hier ist - wie bei Eckhart - der einzelne vor der sittlichen Entscheidung allein mit Gott. Aber er weiß nicht, ob es Gott ist, und das ist der entscheidende Unterschied. Die Erkenntnis des Guten als gut ist ihm abstrakt angeboren, aber konkret in solchem Maße ungewiß, daß nicht einmal der Einfluß des Guten selbst, eine Eingebung Gottes, als vertrauenswürdig gelten darf, weil er schwer als solcher verifiziert werden kann. Die bei Eckhart bereits angelegte Tendenz, daß eine ethische Vollkommenheitslehre vom nicht Einsehbaren, von Gott her, begrenzt wird, verstärkt sich durch eine Begründung von der menschlichen Natur her.
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Die synderesis
und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
Ich würde deshalb zögern, auch dem BvdgA jenen immanenten Zwang zur volkssprachlichen Abhandlung zu bescheinigen, den ich bei Eckhart glaubte bemerkt zu haben. Die Gewissenslehre des BvdgA zielt nicht auf die Gewißheit, sondern auf den Zweifel. Er ist die Normallage des Selbstbewußtseins. Ihm kann, außer durch Gnade, nicht abgeholfen werden. Im ersten Moment war ich geneigt zu schließen: Das ist eine Ethik der Herrschaft und Knechtschaft, in der die Beherrschten ihrer universellen Verunsicherung gewiß bleiben sollen; literarisch gedacht: Es kann nur ein übersetzter oder aus dem Lateinischen kompilierter Text sein, der den Unterschied beider Kulturen inhaltlich braucht und deshalb sprachlich bewahrt. Aber das ist zu kurz gedacht, denn das BvdgA besteht ausdrücklich darauf, daß der Vollkommene nur von seinesgleichen erkannt werden kann,101 und das schließt ein Modell für die Beherrschung von Seelen aus. Nicht aber ein elitäres Bild von Sittlichkeit: Die Gerechten können allerlei Standes sein, sie erkennen einander und wirken miteinander das Rechte. Mit diesem Verständnis wäre man bei einer Art von Geheimbundethik,102 literarisch gesprochen bei einem dennoch, aber auf andere Weise als bei Eckhart monokulturellen, aber notwendig bilingualen Werk, dergestalt nämlich, daß sich eine neue Hochkultur zwar an der alten orientiert, sich aber nicht auf sie beschränkt. Daran ist vielleicht etwas Wahres, aber gegenüber einer gänzlichen Vereinnahmung in diesem Sinne legt der Text sein Veto ein,
101
Vgl. das Kapitel 'Die fründe gottes werdent von andern menschen die in nit glich sint unbekant durch siben Sachen willen' BvdgA, ed. DENIFLE, S. 136,1-138,27. Hier heißt es nach der Explikation der Eingangsthese, die dem Schulgrundsatz folgt, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt werden kann: Und da von ist daz die höhste wisheil die ein mensche mag haben: gäte menschen bekennen; und die wisheit studieret man nit zä Paris, mer: in dem liden unsers Herren. Ebd., S. 136,27-29. Den Gedanken, daß nur der die Wahrheit versteht, der in ihr lebt, gibt es bei Eckhart auch: Nü bite ich iuch, daz ir also stt, daz ir verstät dise rede; wan ich sage iu in der ewigen wärheit: ir ensit denne glich dirre wärheit, von der wir nü sprechen wellen, so enmuget ir mich niht verstän. DW II, S. 487,5-8. Vgl. zu der Stelle KÖBELE, Bilder, S. 42. Der Gedanke gibt aber dort lediglich die Grundposition mittelalterlicher Erkenntnistheorie wieder und wird ausdrücklich hortativ gewendet, so daß er seinen ausschließenden Charakter verliert.
102
Für den Vergleich bitte ich um Nachsicht; er ist in der Sache jedoch gestützt durch BvdgA, ed. DENIFLE, S. 11,18-23: Zä dem Vierden ist ouch nit ein ledig arm mensche gebunden zä allen den gesetzden der heiigen cristenheit nach usserlicher wise zä nemende, als ein ander mensche, der sin selbs nit ledig ist worden, wan waz die heiige cristenheit wiircket nach usserlicher wise, daz würcket der arme mensche innerlichen in wesen; und wise ist manigvaltig, aber wesen ist einvaltig.
Das 'Buch von der geistlichen Armut'
155
denn er betont den kontemplativen Lebensstil der Vollkommenen103 und ihre buchstäbliche Armut.104 Soll man jetzt folgern, es gäbe nach dem BvdgA eine Gruppe von Menschen, die alles besser wissen und und alles besser machen würden, denen ihr innerer Adel aber verbietet, es auch zu tun? Mir scheint das nicht ganz abwegig, wenn auch natürlich diskussionsbedürftig. Wenn an dieser Vermutung irgend etwas Wahres wäre, dann ließe auch sie sich wiederum geistesgeschichtlich und literarisch fortfuhren. Man könnte dann an die Selbstbescheidung einer Aufbruchsbewegung denken, deren erste Anfange mit einer breiteren Basis gerechnet und die weitergehende Ziele verfochten hatte, mit ihrem allerlösenden Impetus aber gescheitert oder zumindest an Grenzen gestoßen war. Sie mit einer der tatsächlich vorhandenen spirituellen Richtungen des 14. Jahrhunderts zu identifizieren scheint mir jedoch selbst im Reich der Vermutung verfrüht. Sprachlich und literarisch würde das bedeuten - und das stimmt zumindest mit meinem subjektiven Eindruck von dem Aufbau und Stil des Textes überein -, daß die sprachliche Öffnung jener Anfänge beibehalten, aber die Denkformen und Ausdrucksmöglichkeiten wieder stärker an der lateinischen Schriftlichkeit ausgerichtet werden.105 Damit wird eine Nobilitierung der Volkssprache nur für nobiles, für eine berufene geistige und geistliche Elite nämlich, angestrebt.106
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Das BvdgA gibt in vier Kapiteln eine Anweisung Vier hande wege leitent den menschen in ein arm voilekommen schöwende leben, da inne er got schöwet, BvdgA, ed. DENIFLE, S. LXI; vgl. ebd., S. 119,19-181,9. Einen Abschnitt mitten in einem der Kapitel, nämlich S. 128,33-129,22, fand der Autor des Registers so wichtig, daß er ihn wie ein selbständiges Kapitel referierte: Wer do rehte bekante waz edeler fruht wfthsse uf dem acker des Uderts unsers Herren, er mähte einen zun umb den acker und buwete einen turn und sesse dar inne, und mähte eine trotte dar inne; und waz der zun sy, und der turn und die trotte; und uf dem acker stat win und korn summer und winter, und der hagel mag es nit geslahen noch der riffe erfrören. BvdgA, ed. DENIFLE, S. LXIf. Diese Lehre gehört zu den Kriterien, nach denen Denifle die Autorschaft Taulers ausschloß, BvdgA, ed. DENIFLE, S. XXIII. Die wichtigste Stelle ebd., S. 73,1418: Und dar umb wer das götlich lieht wil enpfahen, der sol cristo zä male nach volgen usserlich und innerlich; usserlich in einem armen leben und mit allen gäten wercken die ime zä gehbrent, innerlich mit einem volkomenen glouben, und in innerlicher betrahtunge siner werke und sins lidens. Dabei beziehe ich mich auf die nach meinem Verständnis überzeugenden Nachweise Ampes in DERS., beschouwingen. Der Status dieses Schreibens wäre also anders zu verstehen, als KÖBELE, Bilder, S. 32-44 es für Mechthild, Marguerite Porete und Eckhart herausarbeitet. Ich beziehe mich auf ihre Überschrift 'Selbstreflexion der Volkssprache: Nobilitierungsversuche' S. 32.
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Die synderesis
und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
4. Marquards von Lindau synderesis-Lehre: Eckhart ohne Eckhart107 Marquard von Lindau (gest. 1392), der Franziskanerprediger, war vermutlich Lektor in Straßburg, sicher Provinzial der oberdeutschen Provinz seines Ordens.108 Seine theologischen Werke stehen, wie Rüdiger Blumrich dargelegt hat,109 in mehrfachen Bezügen zur deutschen Dominikanerschule nach Eckhart: Zum einen ist er selbst mit ähnlichen Vermittlungsproblemen zwischen Theologie, städtischem Umfeld und Seelsorge (auch für Frauen) befaßt wie jene Autoren; zum anderen sucht er in seinen Schriften nach Antworten auf Eckhartsche Fragen, und zum dritten haben mittelalterliche Schreiber diesen inneren Dialog wohl verstanden, denn sie haben Marquardsche Schriften in denselben Handschriften überliefert wie die dominikanischer Zeitgenossen.110 Daß Marquard an Eckhart gerade in dessen synderesis-Lehre anknüpft, zeigt, in welchem Maße dieser Begriff im 14. Jahrhundert die spezifische Position eines Autors in philosophischer Ethik und Theologie anzuzeigen in der Lage ist. Es gibt drei Stellen im Werk von Marquard, die sich mit Eckharts Predigt Q 20a über Homo quidam fecit cenam magnam - und zwar nur mit der oben analysierten Passage daraus - auseinandersetzen. Josef May hat sie erstmals zusammengestellt;"1 es handelt sich um den lateinischen Traktat De nobilitate creaturarum,m den deutsch und lateinisch überlieferten Traktat De reparatione hominis, für den May nach eingehender Analyse die lateinische Version für ursprünglich hält," 3 und eine deutsche Predigt am Pfingstmontag, die erstmals von Strauch vorgestellt worden war114 und nun
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109
Ich möchte hier noch einmal auf den in diesem Kapitel Anm. 1 genannten weiterführenden Aufsatz des hervorragenden Eckhart-Kenners Freimut LÖSER hinweisen (Rezeption als Revision, PBB 119 [1997], S. 425-458), den ich erst nach Abschluß meiner Arbeit lesen konnte. BONMANN, Marquard bleibt die bis heute quellenkundlich gründlichste Aufarbeitung der Vita. Zum Lektorat und Provinzialamt ebd., S. 319 u. S. 323-325. Neuere Darstellungen von Leben und Werk: PALMER, Marquard und BLUMRICH, Marquard, S. 1*-13*. BLUMRICH, Marquard, S. 1*-13* und S. 57*-80*.
110
V g l . BLUMRICH, M a r q u a r d , S . 1 * . S . 7 3 * - 7 7 * , S. 8 * - l l * .
111
MAY, S. 100-101. Textausschnitt bei MAY, S. 100. Beide Versionen synoptisch bei MAY, S. 101. Über das Verhältnis der lateinischen zur deutschen Fassung ebd., S. 95-104. May folgert S. 104, daß die lateinische Version sicher Marquards Werk sei, die deutsche möglicherweise.
112 113
114
STRAUCH, Marquart, S . 1 7 1 .
Marquards von Lindau synderesis-hehte
157
von Blumrich vollständig ediert ist.115 In De nobilitate creaturarum heißt die Stelle: Inde ergo invenitur synderesis in homine, qui est quidem igniculus in medio animae impressus, in se habens similitudinem dei in tantum, quod semper ad deum inclinat, libenter de eo loqui audit, cum etiam non intelligit, et semper Uli contrarium est quidquid deo adversatur."6
Hier erscheint die synderesis recht eingeschränkt: Es ist nicht von der imago, sondern nur von einer similitude dei die Rede. Auch die intellektuellen Kompetenzen der synderesis werden nicht allzu hoch veranschlagt, wenn Marquard voraussetzt, daß die synderesis nicht einmal Gott selbst, sondern sogar die Rede von Gott nicht verstünde. Das ist eine Rückkehr vom hochscholastischen synderesis-B&gnff zu den patristischen Traditionen, auf die sich auch Eckhart beruft, aber eine Rückkehr ohne Eckhart. Die Bindung an den conscientia-Begüff will Marquard aber, auch hierin anders als Eckhart, aufrechterhalten, denn er fahrt fort: Et hic igniculus adhuc in inferno remanet, sed tantum vocatur vermis vel conscientiae remorsus. Et credo, quod homo plus de isto remorsu patiatur in inferno quam de quacumque poena sensu."7
Auch dieser conscientia-Begriff bleibt vorscholastisch und vermeidet jede Stellungnahme zu jüngerer Theologie. Der lateinische Traktat De reparatione hominis legt sich auf imago dei oder similitudo dei nicht fest; hier schreibt Marquard nur insufflavit in faciem eiusflatum vitae, idest synderesim, scintillam sive lumen semper inclinans in
115 116
117
Predigt 31 in BLUMRICH, Marquard, S. 212-220. Den Text übernehme ich von MAY, S. 100. Ich übersetze ihn so: 'Daher findet sich im Menschen die synderesis, die gewiß ein Fünklein ist, das der Seelenmitte eingeprägt ist. Sie hat Ähnlichkeit mit Gott insofern, daß sie immer zu Gott geneigt macht, gern von ihm sprechen hört, selbst wenn sie es nicht versteht, und immer gegen all das auftritt, was sich Gott widersetzt.' Text nach MAY, S. 100. Meine Übersetzung: 'Und jenes Fünklein bleibt noch in der Hölle bestehen, wird dann allerdings bloß Wurm des Gewissens oder Gewissensbiß genannt. Und ich glaube, daß der Mensch in der Hölle mehr von diesem Gewissensbiß erleidet als von irgendeiner sinnlichen Pein.' Der letzte Gedanke stammt von Origenes, D e principiis II, cap. 10,4, Werke Bd. 5, S. 177-178.
158
Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
suum primum principiurn,m und stellt nur die Unaustilgbarkeit anschließend etwas breiter dar. Wenn es im Werk Marquards etwas wie eine Entwicklung der synderesisLehre gegeben hat, dann muß man als seine letztgültige Stellungnahme wohl das Predigtwerk verstehen, denn es ist 1389, als ein Alterswerk, entstanden und setzt De reparatione hominis voraus.119 Die Predigt 31 nach Blumrichs Zählung ist hier besonders interessant, denn sie erweist sich bis in die Formulierungen hinein als interpretierende Übernahme aus Eckharts Predigt Q 20a. Bei Marquard heißt es: Die fräg: Waz ist in der sei aller gelichest dem haiigen gaist? Die antwürt: Es ist ain lieht von obnen in ins gedruket, vnd haissend es die lerer synderesim. Daz selb edel lieht krieget alle zit in dem menschen wider alles daz, daz wider got ist. Es ist ain bild göttlicher natur, es ist got nüch sipp. Es ist ain lieht, daz sunder mittel alle zit enzändet wirt von dem haiigen gaist. Es zöget vnd wiset alle zit zä sinem ersten vrsprung. Es hät nichtes nit gemain mit andren creaturen vnd erlöschet nümmer noch denn in dem grund der hell. Vnd diss edel lieht ist aller gelichest dem hailigen gaist gottes.120
Die Stelle versteht sich nicht ganz von selbst; ich gebe sie wieder als: 'Die Frage: Was in der Seele ist dem heiligen Geist am ähnlichsten? Die Antwort: Es ist ein Licht von oben in uns eingeprägt, das nennen die Lehrer synderesis. Dieses edle Licht streitet im Menschen allzeit gegen alles, das gegen Gott ist. Es ist ein Abbild der göttlichen Natur, es ist Gott verwandt. Es ist ein Licht, das vom heiligen Geist immer ohne Vermittlung entzündet wird. Es zeigt und weist immer zu seinem ersten Ursprung. Es hat nichts mit anderem Geschaffenem gemein und erlischt nie, nicht einmal am Grund der Hölle. Und dieses edle Licht ist dem heiligen Geist am ähnlichsten.' Auch Eckhart hatte in Q 20a die synderesis als geschaffen bezeichnet. Marquard geht hier mit Eckhart, soweit er mit ihm gehen kann. Selbst das bild göttlicher natur übernimmt er von ihm, obgleich es doch durchaus nicht zwingend similitude dei bedeuten muß, wofür sich Marquard in De nobilitate creaturarum entschieden hatte. Offenbar hat Marquard durchaus im Sinn, sich der Kontroverse um die imago dei zu stellen; seine Zitation bedeutet: Eckhart hat recht, wenn man das bilde auffaßt als Verwandtschaft mit Gott, got näch
118
Text nach MAY, S. 101. Ich übersetze: Er blies ihm den Hauch des Lebens ins Gesicht, das ist die synderesis, ein Fünklein oder ein Licht, das immer auf seinen ersten Grund ausrichtet.
119
BLUMRICH, Marquard, S. 42*.
120
Text nach BLUMRICH, Marquard, S. 217.
Marquards von Lindau synderesis-Lehre
159
sipp. Auch das ist beinahe eine Eckhartsche Fonnel.121 Aber sie ist gegenüber der Eckhartschen Fundstelle völlig uminterpretiert; in der Predigt Q 22 hieß es nämlich: diz vünkelin ist gote also sippe, daz ez ist ein einic ein ungescheiden und daz in sich treget aller creatüren, bilde sunder bilde und bilde über bilde.122
bilde
Gerade das will Marquard nicht sagen; einic ein sein zu wollen, also das Eine schlechthin, das in der neuplatonischen Tradition Gott ist - das will er seiner synderesis ja ausreden. Die bildliche Verwandtschaft von Funken und Gott war bei Eckhart in Q 22 bis zur Einheit gesteigert worden; Marquard schneidet diese Fortsetzung ab und übernimmt nur das weniger kühne Bild der sipp. So verfahrt er im kleinen mit einer einzelnen Formulierung aus Eckhart Q 22; so verfahrt er auch mit dem ganzen synderesis-Abschnitt von Q 20a. Die Lehre, daß die synderesis keine Kraft der Seele sei, wie Eckhart ausdrücklich angemerkt hatte - und enist niht ein kraft der sele -, streicht er ersatzlos. Gerade dieser Zusatz bei Eckhart war jedoch sein Verweis darauf, daß der Funke eben nicht nur geschaffen sei, sondern auch ungeschaffen, nämlich über den Kräften der Seele und wesensgleich mit Gott. Blumrich, der die Tragweite der Stelle zuerst verstanden hat,123 findet in einer anderen Predigt, nach seiner Zählung in der Predigt 32, einen Abschnitt, der darauf noch einmal zurückkommt.124 Hier heißt es: Die fräg: Weder ist daz bilde gottes in den kreften der sei oder in dem wesen der sei? Die antwürt: Sant Augustinus sprichet, daz es nit si in dem wesen, mer in den dryen inren kreften der sei, und wer anders leret, der seit wider sant Augustinus mainung.m
Das ist eine eindeutige Wendung gegen Eckhart und gegen Dietrich von Freiberg.126 Aber Marquard hat Eckhart geschätzt. Bei Rüdiger Blumrich läßt sich nachlesen, wie Marquard sein "Nein" zur Bildlehre Eckharts immer als ein "Ja, aber..." gestaltet.127 Das hätte Marquard nicht tun müssen, zumal im Franziskanerorden gegenüber einem Dominikaner. Es liegt also nahe, diese Denkfigur für spezifisch marquardisch zu halten, sobald es um
121
Vgl. BLUMRICH, Marquard, S. 7 2 * u. Anm. 63.
122
D W I, S .
123
BLUMRICH, Marquard, S. 7 3 * . BLUMRICH, Marquard, S. 74*.
124
12i 126 127
380,8-381,2.
Text: BLUMRICH, Marquard, S. 230. Vgl. BLUMRICH, Marquard, S. 74*-75*. BLUMRICH, M a r q u a r d , S .
68*-77*.
160
Die synderesis und die sittliche Entscheidung im 14. Jahrhundert
Eckhart und die synderesis geht, denn bei beiden Autoren ist synderesis der traditionelle Name für das Gottesbild.128 Natürlich heißt es nicht nichts, wenn Marquard auf dem Stand der deutschen und lateinischen theologischen Diskussion gegen Ende des 14. Jahrhunderts zwar den einheitstheologischen (wenn man will: mystischen) Horizont des synderesis-Begüifes erhalten will, aber die Konsequenz ablehnt, daß das Gottesbild im Wesen der Seele liege (und nicht nur akzidentiell in deren Kräften entstehe): Es verkürzt Eckhart um seine eigentlich philosophische Dimension, um die Intellekttheorie, die ja an den ungeschaffenen, Gott wesensgleichen Funken gebunden ist. Wenn die synderesis gottebenbildlich bleibt, aber das Gottesbild wie in Marquards Predigt 32 in den höheren Seelenkräften liegt, dann befindet man sich weitgehend wieder auf thomistischem Boden,129 und die Seele hat etwas von ihrem Adel eingebüßt. Dafür rückt nun die Verschwisterung der synderesis mit der conscientia wieder ins Blickfeld.
128
129
BLUMRICH, Marquard hat S. 73* ausgeführt, wie Marquard in der Predigt 32 zunächst Stück für Stück Eckharts Bildlehre aus dem Johanneskommentar (In loh 23, LW III, S. 19,5-16) übernimmt, um dann zu der bereits oben zitierten augustinischen Abgrenzung von Eckhart (Weder ist daz bild gottes in den kreflen der sei oder in dem wesen der sei?) zu kommen. Vgl. BLUMRICH, Marquard, S. 74*-75*.
V. Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens in die deutsche Prosa 1. Ein Gewissen für Kloster und Stadt Um die Mitte des 14. Jahrhunderts hat sich in der deutschen geistlichen Prosa eine neue Weise etabliert, über das Gewissen zu denken und zu sprechen. Es ist das vünkeltn, der Eckhartsche Funke, die synderesis in einem umfassenden Sinn: Sittlichkeit als Vollkommenheit mit und gegenüber Gott. Diese beeindruckende Leistung einer integrativen Ethik, grundsätzlich tauglich für weltliches wie für geistliches Leben, enthielt aber auch eine Schwierigkeit, die es verhinderte, daß sich jene Konzeption allein durchsetzte: Ihre Applikation auf das konkrete Geschehen, auf die Beurteilung einer einzelnen Handlung, erwies sich als äußerst schwierig. Eckhart hatte an eine ältere Tradition vom Seelenfunken angeknüpft, dessen unmittelbare theologische Vorgeschichte ganz anders war als sein Verständnis der Sache. Er hatte die synderesis aus der begrifflichen Verschwisterung mit der conscientia herausgelöst und sie so radikalisiert, daß sie zum Verhältnisbegriff geworden war, nämlich zu einem Namen für die Einheit von Gott und Mensch; sie war zwar immer noch für menschliche Sittlichkeit zuständig, aber nur noch nebenbei für diejenige in der Welt, denn in der Welt konnte die synderesis nicht bei ihrer Bestimmung ankommen. Bereits am 'Buch von der geistlichen Armut' hatte ich versucht zu zeigen, daß durch diese Auffassung eine systematische Leerstelle entsteht, weil nämlich die alltägliche sittliche Entscheidung keine Rolle mehr spielt. Im 'Buch von der geistlichen Armut' war ein Modell des Heinrich von Friemar, der discretio-Gedanke, benutzt worden, um diese systematische Leerstelle auszufüllen. Eine volkssprachliche Ethik, die zwar das letzte Ziel des menschlichen Lebens gültig und sozial verbindlich anvisieren kann, aber für den Weg dorthin bewußt keine Anleitung liefern will, hat nur eines der dringenden Ziele einer neuen Ethik erfüllt, nämlich für Stadt und Land, Religiose und Weltleute, Männer und Frauen gleichermaßen verbindlich sein zu können. Das zweite dringende Ziel, nämlich die Integration der immer wichtiger werdenden städtischen Lebensformen ins christliche Wertegefüge nicht nur abstrakt, sondern auch konkret zu erklären, muß dabei notwendig uneingelöst
162
Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens
bleiben. Wer darf warum am Feiertag arbeiten? Ist der Kaufmann per se ein sündiger Mensch? Ist Betteln unsittlich, wenn man arbeiten könnte? Wer muß sich um die kümmern, die nicht mehr arbeiten können? Sind Geistliche überhaupt noch Geistliche, wenn sie, zum Beispiel als Rechtsgelehrte, ein weltliches Leben führen? Das sind Fragen, die mit dem Verweis auf ein abstraktes Vollkommenheitsideal mehr umgangen als gelöst werden können. Es sind aber Grundfragen einer ganzen Entwicklungsetappe der deutschen Literatur.
Exkurs: Die frühe Reflexion des Problems bei Rudolf von Ems Diese Grundfragen entstehen freilich nicht erst im 14. Jahrhundert und werden auch nicht erst im 14. Jahrhundert literaturfähig. Wieder war, wie schon im zeitlichen Verhältnis von höfischem Roman und scholastischer Gewissenstheorie, die fiktionale Literatur schneller darin, ein neues Problem aufzugreifen, nicht als bevorzugtes Thema zwar, aber immerhin als Nebenthema schon im 13. Jahrhundert. Die Rede ist damit vom Guoten Gerhart des Rudolf von Ems. Franzjosef Pensei hat in einer Handschrift des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar eine Handschrift gefunden, die eine Prosaversion des Guoten Gerhart vom Anfang des 16. Jahrhunderts überliefert. 1 Das hat schon an sich einen gewissen Zeugniswert, denn es bedeutet, daß die Versversion Rudolfs wohl am Ende des 15. Jahrhunderts, wenn so die Entstehungszeit richtig beschrieben sein sollte,2 noch genügend Interesse gefunden hat3 und als gute Geschichte galt, die nun im neuen Prosamedium erzählt werden sollte, und zwar trotz der zeitlichen Distanz zur Entstehungszeit. Pensei, der diese Prosaversion ediert, hat festgestellt, daß die neue Fassung auf die Stadt Magdeburg hinschreibt und Köln als zweites Handlungszentrum erhält. Außerdem ist Gerhart nun der unbestrittene
1
2
3
Es handelt sich um eine Handschrift aus dem Besitz Spalatins, in der mehrere Stücke von dessen Hand geschrieben sind, nicht aber dieser Text: die Foliohandschrift Reg. Ο 157. Dazu Franzjosef PENSEL, Prosaversion. PENSEL datiert die Handschrift nach den Wasserzeichen auf 1507-1527. Es sind aber Ochsenköpfe, deshalb ist Vorsicht geboten. Die Prosaversion des Guoten Gerhart geht seiner Auffassung nach auf eine schwäbisch-alemannische Vorlage zurück: PENSEL, Prosaversion, S. 88. Ob dafür die späte Handschrift Β der Versfassung in Frage kommt, die ASHER in seiner Edition des 'Gerhart' als schwäbisch bezeichnet (Rudolf von Ems ed. ASHER, S. VII), wird erst eine Textgrammatik erweisen können. Wahrscheinlich bedeutet es auch, daß sie breiter überliefert war, als die erhaltenen zwei Handschriften es erkennen lassen, vgl. Rudolf von Ems ed. ASHER, S. VI-VII. Die Handschrift Β stammt nach ASHER ebd. aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, während Α noch dem 13. Jahrhundert angehört.
Ein Gewissen für Kloster und Stadt
163
Mittelpunkt der Handlung. 4 Wenn ich nicht irre, ist dieser Text, was wohl der Guote Gerhart Rudolfs noch nicht ist: nämlich städtische Literatur. Aber die Möglichkeit, dessen Text so zu lesen, haben nicht Germanisten des 20. Jahrhunderts entdeckt, sondern Leser des späten Mittelalters. Das heißt aber, daß die Interpretationen des Werkes, die besonders seine neue Rücksicht auf die städtische Lebensweise und ihre Probleme betonen, zumindest ein spätmittelalterlich mögliches Verständnis getroffen haben. Bei allen Kontroversen über die Deutung des Textes im einzelnen ist sich die germanistische Forschung doch seit Friedrich Sengle5 darüber einig, daß der Guote Gerhart des Rudolf von Ems ein Spannungsfeld zwischen ethischer Erwartung und tatsächlichem Handeln erzeugt, und zwar nicht nur für den König, sondern auch für den Kaufmann, wodurch dessen ethische Voraussetzungen allererst in den Blick genommen werden. 6 Ein Kaufmann, der nicht so berechnend ist, wie er sein dürfte - selbst wenn man die Figur nur als Folie für die Läuterung des anderen, edelgeborenen Protagonisten verstünde, 7 so muß man doch zugestehen, daß Rudolf von Ems der Ausnahme von der (auch von ihm vorausgesetzten) Regel literarisches Leben verleiht, daß die Ausnahme damit literarisch - zur Möglichkeit geworden ist. Dieter Kartschoke hat erst vor kurzem einen Aufsatz publiziert, der den Guoten Gerhart des Rudolf von Ems so analysiert, daß einander bisher ausschließende Verständnisweisen miteinander vereinbar werden. 8 Er greift den Ruhschen Gedanken vom Exempelhelden® auf, weist aber, trotz seines Zweifels an der Deutung von Sonja Zöller,10 auch die zeitgeschichtlichen Abbildelemente nicht von sich, die seit Sengle als Konstituenten eines neuen sozialen Typus bejaht oder abgelehnt worden waren." Seine zentrale Frage an den Text ist, warum Gerhart sein Kaufmannsgewerbe nicht verläßt, wie man von einer ordentlichen Exempelerzählung verlangen könnte. 12 Seine Antwort: Sobald die Protagonisten ein Gewissen haben, eine internalisierte Urteilsin-
4
PENSEL, P r o s a v e r s i o n , S. 9 0 und 9 2 f .
5
V g l . SENGLE.
6
Es fragt sich freilich, ob damit ein sozialgeschichtlich verfolgbarer Punkt des Verständnisses städtischer Existenz angesprochen wird. Die gravierendsten Zweifel daran hat Wolfgang WALLICZEK vorgebracht, vgl. DERS., S. 147-161. Ursula PETERS, Stadt referiert in ihrem Kapitel über den 'Guten Gerhard', ebd. S. 36-48, ausführlich die methodischen Ansätze zum Verständnis des städtischen Kaufmanns als eines geschichtlichen Typus oder literarischen Topos. Nach der Studie von Sonja ZÖLLER ist ein 'Entweder - Oder' kaum noch möglich, so wie die Autorin selbst positiv an WALLICZEK anknüpft, vgl. ebd. S. 15. Vgl. RUH, Versuch, S. 324-325.
7 8
D a s ist KARTSCHOKE, K a u f m a n n .
9
RUH, Versuch, S. 324-325. So lese ich zumindest KARTSCHOKE, Kaufmann, S. 674-675 und ebd., Anm. 32, 34 und 41.
10
11
V g l . KARTSCHOKE, K a u f m a n n , S . 6 7 4 .
12
KARTSCHOKE, Kaufmann, S. 676-678.
164
Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens
stanz, die per Vernunft, Normenverständnis und Abwägen gutes Handeln ermöglicht, müssen sie ihren Stand nicht mehr verlassen, um ihr Seelenheil zu sichern. 13 Nachtragen möchte ich gegenüber Kartschoke noch, daß dieser Stand des Problembewußtseins in der theologischen Ethik - also wie immer nachzeitig bei Eckhart erreicht wird: Das Leben in der Welt und das Leben im Kloster sind vor Gott gleichwertig, es gibt dann erst recht innerhalb der Welt keinen per se gottnäheren oder gottferneren Stand.
Als Kurt Ruh in seinem "Versuch einer Begriffsbestimmung von 'städtischer Literatur' im deutschen Spätmittelalter" ein Bild der Schwerpunktverschiebung deutscher Literatur im 14. Jahrhundert entwarf, sah er als sicher an, daß die Texte und Texttypen, die bewußt auf Probleme und Lebenssituation 'bürgerlicher' Gruppen in der Stadt reagieren, häufiger werden und zu eigenen Traditionen finden.14 Hierher schienen ihm ganz besonders die Bücher zu gehören, die Normen darstellen und offensichtlich auch, in verschiedenen Zusammenhängen, urteilsleitend gewirkt haben, aber weder recht in die juristische noch in die moraltheologische Wissenschaftstradition passen: Der fugenden büch15 und die 'Rechtssummme' Bruder Bertholds.16 Ruh schreibt hier: "Und sehe ich falsch, daß gerade die Menschengruppe, die in der Stadt eng zusammenlebte, diese Ehe von Moral und Recht bewirkte bzw. nötig machte?'"7 Für das büch der fugenden hatte Berg schon 1964 herausgearbeitet, wie diese Schrift, die mit kasuistischem Interesse aus der Ethik des Thomas exzerpiert und dazu kanonistisches Sondergut aufnimmt,18 dem Gebrauch "als Sittenbuch in den Händen von Ordensleuten und bürgerlichen Laien"19 entwächst und sich zur städtischen Rechtssprechung empfiehlt.20 Das war vorerst eine gut begründete Hypothese. Nachdem Helgard Ulmschneider aber Übernahmen aus dem büch der fugenden im 'Wimpfener Rechtsbuch' nachgewiesen hatte,21 konnte Klaus Berg in der 1984 erschienenen Ausgabe resümieren: "Die Tendenz zur Nutzung des Werkes als Ratgeber in Rechtsfragen hat sich durchgesetzt".22 Ruhs Bemerkung "Natürlich haben weder Kaufleute noch Handwerker noch die Geistlichen, die ihnen
13
V g l . KARTSCHOKE, K a u f m a n n , S . 6 8 0 - 6 9 1 .
14
RUH, Versuch, S. 311.
15
E d i t i o n : BERG/KASPER. U n t e r s u c h u n g : BERG.
16
RUH, Versuch, S. 319-320.
17
RUH, Versuch, S. 320.
18
BERG, S.
89-116.
19
BERG, S.
145.
20
BERG, S.
129-145.
21
ULMSCHNEIDER, R e z e p t i o n , S .
22
BERG/KASPER, S.
CVII.
145-184.
Ein Gewissen für Kloster und Stadt
165
Moral predigten, Thomas studiert"23 wird fraglich, wenn man in Bergs Ausgabe nachblättert. Simonie, Almosenwesen, Kaufen, Verkaufen, Wucher: Das sind für Berg die Themen, durch deren Behandlung sich das 'Buch der Tugenden' mit der Lebenssituation der Bettelorden in den Städten und mit den Problemen von Seelsorge dort auseinandersetzt.24 Es wäre albern, Kurt Ruh gegen seinen Schüler Klaus Berg ins Unrecht setzen zu wollen; Ruh weist ja selbst auf Abschnitte aus der Summa theologiae des Thomas von Aquin hin, die zu den kasuistischen Konsequenzen seiner Theorie der praktischen Vernunft gehören und die sich mit der sittlichen Bewandtnis von Kauf und Verkauf befassen. 25 Ruh betont vielmehr den Grad der Vermittlung gegenüber den scholastischen Quellentexten.26 Und was die Kaufleute und Handwerker angeht, so wird man kaum anders denken können; die Geistlichen aber, sofern sie aus Bettelorden stammten, haben wohl, so wie es Klaus Berg darstellt,27 ihren Thomas doch original lesen müssen, und zwar durchaus in eigenem Interesse. Eberhard Isenmann konstatiert "zwischen der Stadtbevölkerung und den zu Anfang des 13. Jahrhunderts entstandenen Bettelorden ein enges, gewissermaßen symbiotisches Verhältnis".28 Die Assimilation an städtische Wirtschaftsformen schuf für die Bettelordensniederlassungen einen moralischen und juristischen Legitimationsbedarf, der wesentlich dieselben Fragen betraf, die auch in der weltlichen Stadtbevölkerung und in den betreuten Frauenköstern unklar waren. Ihre beständige Funktion in den Städten - für Krankenpflege, Beratung, Verteidigung, Seelsorge und Begräbnis29 - erforderte und sicherte regelmäßige Einnahmen, die als eleemosinae perpetuae, also beständige Almosen, aufgefaßt werden mußten, um den Ordensregeln nicht direkt zu widersprechen.30 Das betraf nicht nur die Franziskaner, deren Armutsstreit bekannt ist; Dieter Berg referiert den Brief des deutschen Provinzials der Dominikaner an Bologneser Brüder um 1270, in dem es darum geht, daß von den Novizen nicht nur Kenntnisse der artes, sondern auch solche des Rechts verlangt werden müssen.31 Daß das keine Forderung eines
23
RUH, Versuch, S. 319.
24
BERG/KASPER, S . C I I - C V I .
25
RUH, Versuch, S. 318. Es geht um S.th. II,II, qu. 77. RUH, Versuch, S. 319.
26 27
BERG/KASPER, S .
28
ISENMANN, S . 2 1 9 . E i n z e l b e i s p i e l e b e i RASMUSSEN, ULPTS, KINTZINGER. B i b l i o -
29
XCVII-XCVIII.
graphie für die Franziskaner: BERG (Hg.), Bettelorden, S. 15-34. Warum Kurt RUH darin fehlt, weiß ich nicht. Vgl. ISENMANN, S. 219-221, ULPTS, S. 149-151.
30
ISENMANN, S . 2 2 1 ; F ü r B a s e l : NEIDINGER.
31
BERG, D . , Armut, S. 136.
166
Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens
abstrakten Bildungsideals ist,32 wird klarer, wenn man sich vor Augen hält, daß auch die cura monialium mittelbar einen wirtschaftlichen Aspekt hat: Den Frauenklöstern war es, anders als den Männerklöstern, von vornherein gestattet, Besitz zu haben, und so fiel den Frauenklöstern die Aufgabe zu, deren Vermögen mitzuverwalten und ihnen - moralisch und juristisch - den Gebrauch an den Vermögenswerten einzuräumen, die die Männerklöster faktisch selbst besaßen." Die Frauen geistlich anzuleiten und intellektuell zu schulen hieß auch, dafür zu sorgen, daß der eigene Besitz klug verwaltet wurde. Solche Konstruktionen mußten gefunden und vertreten werden. Sie hätten sich gegen eine ablehnende Stadtbevölkerung und die Gegnerschaft des Rates jedoch nicht durchsetzen lassen.34 Ich schließe daraus, daß zu den Leistungen, die eine Stadt von ihren Bettelordensbrüdern erwarten konnte, auch gehörte, alles übliche Geschäftsgebaren ins kanonische Recht und in die moralischen Normengefüge zu integrieren. Sie mußte diese Leistung nicht eigens in Auftrag geben, denn in dieser Hinsicht hatten Bettelordensklöster und städtische Stände gleiche Interessen: Wie Winfried Trusen herausgearbeitet35 und Peter Müller an einem Hildesheimer Beispiel bestätigt hat,36 mündete die Seelgerätstiftung, also die Haupteinnahme der Bettelorden, direkt in Geldhandel. Das heißt, daß sich diejenigen Klöster, die für sich eine vorbildliche, evangelische Lebensweise reklamierten, in den Strukturen wirtschaftlichen Lebens und Überlebens wiederfanden, die der traditionellen christlichen Ethik, zum Beispiel dem Wucherverbot, entweder direkt wider-
32
Zum Lesepensum der Dominikaner nach Humbertus de Romanis vgl. WALZ, S. 122-123. Welche summa de casibus auch gemeint ist - auf jeden Fall gehört Kanonistik zum Überblickswissen der Brüder. Das verschiebt auch die Sicht auf die deutschen Werke, vgl. Klaus BERG in BERG/KASPER, S. LXXXVII und S. XCVII. BERG hatte 1964 (BERG, S. 89, S. 111) noch eine lateinische Kompilation aus Thomas und überwiegend kanonistischem Sondergut als Vorlage für das 'Buch der Tugenden' angenommen. Davon rückt er selbst in der Textausgabe von 1984 ab, BERG/KASPER, S. XCVII. Seine Begründung ebd., S. XCVIII: "Auch wenn man die häufigen Klagen über Verstöße gegen Studienvorschriften und vielfache Mängel in der Durchführung der Studien in Rechnung stellt, kann man davon ausgehen, daß dort das Zitieren der Quellen von der Hl. Schrift über die Kirchenväter und Sentenzenkommentare bis hin zu den Kasus des 'Decretum Gratiani' gelernt wurde, daß vor allem die zu weiterführenden Studien berufenen Predigermönche geschult waren durch die scholastische Methode, daß sie an das Exzerpieren und Kompilieren großer Lehrwerke gewöhnt waren."
33
ISENMANN, S . 2 2 0 .
34
Das hat ULPTS für Bremen, Hamburg und Lübeck herausgearbeitet, vgl. die Zusammenfassung ebd., S. 150. TRUSEN, Rentenkauf, S. 155-158.
35 36
MÜLLER, H i l d e s h e i m , S . 7 0 .
Ein Gewissen fUr Kloster und Stadt
167
sprachen oder zumindest von ihr übergangen wurden. Mehr noch: Die Bettelordensklöster liefen Gefahr, daß kirchenrechtliche Bestimmungen gegen sie angewandt werden konnten oder daß Kenner des kanonischen Rechtes aus politisch gegnerischen Gruppierungen - zum Beispiel Weltgeistliche, denen die Bettelorden ihrerseits Simonie vorwarfen - ihnen öffentlich nachwiesen, gegen die eigene Rechtsform der Kirche zu verstoßen, und daß sie damit ihre Existenz in den Städten gefährdeten. Sie lebten ja von ihrer Glaubwürdigkeit; erst dadurch konnten sie sich im Wettbewerb um die Seelsorge durchsetzen und andere Funktionen an sich ziehen, also schließlich den Städten nützlich werden. Müller kommt zu dem Schluß, die Bettelorden seien auf die Wirtschaftsformen der Städte angewiesen gewesen, für deren Wirtschaftsstruktur umgekehrt jedoch notfalls entbehrlich.37 Wenn das stimmt, dann erscheinen Laienseelsorge und cura monialium in einem ganz anderen Licht: Die Bettelordensgeistlichen reden auch über sich, wenn sie predigen; ihre Beratung, ihr Suchen nach neuen ethischen - und juristischen Entwürfen ist eine Dienstleistung im eigenen Interesse, sie interpretieren nicht eine fremde, sondern ihre eigene Welt, allerdings weiter, als es sie selbst unmittelbar betrifft. Wenn Thomas von Aquin in seiner Summa über den Kaufmannsprofit handelt, dann darf man ihn dabei nicht nur als einen großen Universitätsgelehrten lesen, sondern eben auch als einen Theoretiker der Bettelordensethik. Er hat dabei sehr weit gedacht; die Verhältnisse in den oberitalienischen Kommunen gehörten zu seinem Erfahrungshintergrund. 38 Noch in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfuhr der Predigerorden jedoch durch die Schwierigkeiten, in strukturschwachen Regionen Studien einzurichten, wie sehr sein Wissenschaftskonzept, also die Verwirklichung eines der Ordensziele, von der wirtschaftlichen Integration in prosperierende Städte abhing.39 Die Historiker verzeichnen im 14. Jahrhundert in deutschen Städten eine sprunghafte Zunahme der Seelgerätstiftungen;40 damit umzugehen war eine gemeinsame Aufgabe des Wirtschaftsverbundes Stadt - Bettelordenskloster, ein Bewußtsein davon zu entwickeln eine einfache Notwendigkeit. Dieses Bewußtsein mußte eine moralische und eine juristische Dimension haben,
37 38
39
40
MÜLLER, Hildesheim, S. 87. Darauf hat auch RUH, Versuch, S. 318 hingewiesen, offenbar zur Erklärung der zeitlichen Verspätung einer parallelen Entwicklung in Deutschland. In Südfrankreich waren die Konvente in den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts so arm, daß keine Schule eingerichtet werden konnte. Selbst der Konvent im reichen Köln hatte 1251 noch solche finanziellen Schwierigkeiten, daß das Generalstudium auf dem Spiel stand. Quellen bei FRANK, Spannung, S. 173. ISENMANN, S. 222-223.
168
Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens
denn erstens war zu beweisen, daß das, was die Erhaltung der Klöster sicherte, rechtens war, zweitens war zu beweisen, daß es gut war.41 Damit fiel den Klöstern der Bettelorden eine Legitimationsfunktion für die neue Wirtschaftsform zu, die sie mit den städtischen besitzenden Schichten teilte. Die Interessengemeinschaft von Stadt und Bettelordenskloster dehnte sich, einmal wahrgenommen, bald auf andere Bereiche aus. Das kann auch nicht verwundern, denn die Männer und die Frauen in den Klöstern der Bettelorden stammten zum großen Teil aus den einflußreichen Familien der jeweiligen Stadt. Wenn Williams-Krapp die Reformklöster der Dominikanerinnen als "städtische Prestigeobjekte" bezeichnet,42 bezieht er sich auf einen Zusammenhang, der durch überlieferungsgeschichtliche Studien inzwischen reich dokumentiert ist: Ein städtischer Rat unterstützt ein Kloster, zum Beispiel mit Schenkungen, er drängt womöglich sogar auf die Hinwendung zur strengen Observanz, und die Laien können das literarische Gut, das zwischen den lesenden klösterlichen Gemeinschaften ausgetauscht und dabei durch Abschreiben vermehrt wird, anschließend auch für ihre private Lektüre nutzen.43 Mit anderen Worten: Die Städte waren um 1400 besonders interessiert an Frömmigkeitsformen, die nicht nur praktische, gottgefällige Dienstleistungen für die Stadt umfaßten - die gab es seit jeher -, sondern die die Dienstleistungen einer Bibliothek, eines Schreibbüros, eines Lektorates für die Stadt einschlossen. Die Bücher der Laienbrüder und der Frauenkonvente eigneten sich dazu besonders, denn sie waren zu einem großen Teil deutsch
41
Die Diskussion über die Zulässigkeit des Rentenkaufs (nach strenger Beurteilung, zum Beispiel bei Heinrich von Gent, Wucher) blüht in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, als seine Einmündung in Geldhandel zutage tritt. Nach TRUSEN, Jurisprudenz, S. 111-137, besonders S. 118, stützten sich seine Verteidiger, darunter die berühmten Kanonisten Raymund von Pennaforte und der Hostiensis (d.i. Kardinal Heinrich von Segusia, Bischof von Ostia), auf seinen ursprünglichen Charakter als Kauf einer Reallast. Warum sie so argumentieren, erklärt TRUSEN ebd. S. 114: "Die Rente ist also zunächst grundsätzlich eine Reallast, ein dingliches Recht an einem Grundstück, Haus o. a., das dem Berechtigten einen Teil von dessen Früchten sichert. Im Gegensatz zu den älteren Reallasten, die auf Hofrecht oder öffentlichrechtlich begründet waren, ist hier aber kein persönliches Abhängigkeitsverhältnis vorhanden. Die Rente ist privatrechtlicher Natur. Es liegt hier keine Haftung des Schuldners vor, nur eine solche der Sache, auf die die Radizierung vorgenommen worden ist. Daher hört, wenn vertraglich nichts anderes vereinbart, die Zahlungspflicht beim Untergang der Sache auf. Allmählich vollzieht sich jedoch ein Übergang vom Realkredit zum Personalkredit, und die Rente gewinnt immer mehr einen obligatorischen Charakter, der ursprünglich nicht vorhanden war. Der Unterschied zum Darlehen war daher in späterer Zeit nur noch formaler Natur."
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WILLIAMS-KRAPP, O b s e r v a n z b e w e g u n g e n , S. 5.
43
V g l . WILLIAMS-KRAPP, O b s e r v a n z b e w e g u n g e n , S. 5 - 6 .
Ein Gewissen für Kloster und Stadt
169
geschrieben. Wenn sie das Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen behandelten, wendeten sie sich großen theologischen Themen zu, die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, besonders nach Pest und Kirchenspaltung, plötzlich eine ganz neue Dimension lebenspraktischer Verbindlichkeit gewannen: Die sichere Norm, die zu befolgen göttliche Strafe im Diesseits und im Jenseits abwendet, mußte ihren Grund jenseits aller Streitereien und Machtkämpfe haben, und sie mußte zugleich das Elementare des Alltags regeln. Das galt im Kloster wie in der Welt. "Ein Gewissen fur Kloster und Stadt" ist gleichsam das Programm einer Literaturentwicklung, die in Deutschland im 14. Jahrhundert beginnt und bis zur Reformation andauert. Die Reformklöster des beginnenden 15. Jahrhunderts haben sie nicht ausgelöst, aber ihre Breitenwirkung begründet. 44 Ich meine die Entwicklung der großen Abhandlungen über das Gute und Rechte, die Ruh "deutsche 'Summen'" nennt.45 Daß sie tatsächlich die Gattungstradition lateinischer Summen fortsetzen, darauf werde ich noch zurückkommen. "Gewissen" ist ein Programmwort deshalb, weil eine Ethik gefunden werden muß, die auch unter völlig gewandelten Umständen, den wachsenden Abstand zwischen positiver Norm und Realität vor Augen, die sittlichen Entscheidungen aus unwandelbaren Prinzipien begründet und die gleichzeitig gesellschaftlich normierend wirken kann. Das zweite wäre von Eckharts Funkenmodell aus schon schwer abzuleiten, aber noch schwerer umzusetzen und hat, jedenfalls nach meiner Kenntnis, von hier aus nicht stattgefunden, wogegen ein dafür praktikabler Ansatz in der Gewissenstheorie des Thomas bereits einmal ontologisch und theologisch fundiert vorgedacht war. "Für die Stadt" gehört zu diesem literarischen Programm deshalb, weil gerade in diesem gesellschaftlichen Bereich ein theoretischer Handlungsbedarf entsteht, was selbstverständlich nicht heißt, daß die Normenbücher des 14. und 15. Jahrhunderts nichtstädtische Lebensweisen aussparten. Und daß die literarische Suche auf Buchformen ausging, die sowohl für das Kloster als auch für die Stadt zur Orientierung genutzt werden konnten, hängt mit dem Kulturraum Stadt zusammen, in dem das Kloster - im 15. Jahrhundert besonders das Reformkloster - die Verbindung zur Buchkultur herstellte.46 Die Literatur, die so entsteht, ist normierend im umfassendsten Sinn. Daß sie kein plattes Legitimationsschrifttum im Sinne einer Ethik und eines Rechtes für städtische Reiche werden konnte, ergibt sich daraus, daß der morali-
44
4I 46
V g l . WILLIAMS-KRAPP, O b s e r v a n z b e w e g u n g e n , b e s . S. 1 - 4 . D i e A n m e r k u n g e n
des Aufsatzes bieten die beste neue Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zur geistlichen Prosa im Umkreis der Ordensreform. RUH, Versuch, S. 320. V g l . WILLIAMS-KRAPP, O b s e r v a n z b e w e g u n g e n , S. 1 u n d e b d . A n m . 2 .
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Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens
sehe Kredit der Bettelordensklöster bei ihrer Ansiedlung in den Städten gerade ihrer Nähe zur apostolischen Armut geschuldet war. Daran anzuknüpfen und dennoch auch die städtischen Lebensformen als Möglichkeit gottgefälligen Lebens zu integrieren, also zum Beispiel auch Geldwirtschaft in einer positiven Ausprägung vorzuführen, war eine moralische und intellektuelle Aufgabe, die auf die Ausbildung einer überständisch gemeinsamen Moral zielte, die Grundgedanken von Eckharts überständischer Ethik47 aufnahm, aber deren spirituelle Vollkommenheitsforderung zugunsten umfassender Regelung für die Unvollkommenen verließ. Der Mittelbegriff für den neuen Normierungsversuch, der das Erlaubte und das Verbotene gültig darstellen und zum Guten hinführen wollte, war das forum conscientiae. Der Begriff forum conscientiae ist nach Bruno Fries von Thomas von Aquin eingeführt worden. Fries bezieht sich dabei auf die Verwendung von forum conscientiae in der Summa theologiae (I-II q. 96 a.4), wo der Begriff synonym mit iudicium conscientiae und mit conscientia im Gegensatz zur lex humana erscheine,48 und auf zwei Unterscheidungen im Sentenzenkommentar (IV, dist. 17, dist. 18),49 die er für synonymen Gebrauch von forum conscientiae und forum poenitentiale in Anspruch nimmt.50 Das Gewissen als praktische Vernunft - also im hochscholastischen Verständnis - sucht handlungsleitend das Rechte. Dabei darf es sich, weil es praktische Vernunft ist, vor dem weltlichen Recht nicht verschließen. Es unterliegt aber der Gerichtsbarkeit der Kirche im forum poenitentiale. Weil es das weiß, orientiert es sich zweckmäßigerweise an dem kanonistisch als sündlos Erlaubten
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Mit LANGER bin ich der Überzeugung, daß die Integration der religiösen Laienbewegung in ein übergreifendes Konzept, in der sie ihre Ausnahmestellung verliert, ein zentrales Anliegen Eckharts war. Er dachte diese Integration von innen nach außen, durch die Einbettung der Erfahrungswelt einer religiösen Gemeinschaft in weitere, von der Situierung in jeglicher Gemeinschaft unabhängige Zusammenhänge von Menschen und Gott. Das späte 14. und das 15. Jahrhundert scheint nach dem Spektrum der überlieferten Spiegelliteratur - Sündenspiegel, Laienspiegel, Nonnenspiegel, Fürstenspiegel, Novizenspiegel - ein kaum zu stillendes Bedürfnis nach Information über das Verhältnis von Standesnorm und Gesamtnorm, von Eigenrecht der einzelnen Lebensform und unwandelbar Gemeinsamem zu haben. Der Artikel heißt Utrum lex humana imponat homini necessitatem in foro conscientiae. Vgl. dazu FRIES, Forum, S. 186. Sent. Parma Bd. 2., T. 2, S. 771-882. FRIES, Forum, S. 191. Ich habe die - sehr weit angegebenen - Stellen nachgelesen und einen Rest von Zweifel an der behaupteten Synonymie nicht ablegen können, zumal die Argumentation in den Termini des Gerichtes gehäuft in den Argumenten, nicht im Corpus und den Einzelentgegnungen auftritt. Daß die Dinge jeweils sehr eng beieinanderliegen, daran zweifle ich nicht.
Ein Gewissen für Kloster und Stadt
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und meidet das dort als sündhaft Verbotene. Gerade bei den neuen, 'städtischen' ethischen Problemen war das aber schwierig, denn die praktische Vernunft riet zu weltlich erlaubten und zweckmäßigen, lebenserhaltenden Handlungen, die aber dieselbe praktische Vernunft verbieten mußte, sobald sie sich mit dem traditionellen geistlichen Normativ konfrontiert sah. Das Gewissen als rechtssuchende Instanz mußte sich in der Beichte und Buße dem Kirchenrecht in der Gestalt, wie der Beichtiger es vertrat, unterwerfen. Der Handelnde hatte aber zugleich mit weltlichen Gesetzen und Verboten zu tun. Sie ließen sich offenbar auf einen menschlichen Urheber zurückführen, konnten also auch falsch, in einem höheren Sinne, nämlich vom Standpunkt des göttlichen und natürlichen Gesetzes, widerrechtlich sein.31 Vom mittelalterlichen Kirchenrecht schreibt Winfried Trusen, daß es "mehr war als nur die Zusammenfassung der Normen des später sog. Corpus juris canonici oder der regionalen Kirchengesetzgebung. Kirchenrecht, und damit direkt als Urteilsnorm anwendbar, war auch göttliches und Naturrecht". 52 Die zumindest moralische, angesichts der vorbildlich werdenden weltlichen Gerichtsbarkeit der Kirche aber auch die juristische Verunsicherung bestand nun im wesentlichen darin, daß kirchenrechtlich in der einen Interpretation als Sünde verboten, 53 in der anderen aber erlaubt und straffrei war,54 was sich weltlich längst als Usus herausgebildet hatte. Das führte zu einer Entwertung der unangemessenen Norm und zu besonders rüdem Geschäftsgebaren; es bildeten sich allenfalls regionale Durchschnitte als ungefähre Normative heraus. 55 Umgekehrt erzeugten diese Einbrüche von Anarchie in eine verregelte Welt das Bedürfnis nach neuer, angemessener Regulierung.56 Sie zu schaffen wurde gerade denjenigen Berufsgruppen angetragen, die für das Ungenügen der positiven Rechte am ehesten hätten verantwortlich gemacht werden können: den Theologen und, in wachsendem Maße, den Kanonisten.57
51
Vgl. TRUSEN, Jurisprudenz, S. 22-23. Bei Thomas von Aquin findet sich dieser Gedanke in der S. th. I II, q. 95 a. 2.
32
TRUSEN, J u r i s p r u d e n z , S . 2 4 - 2 5 .
53
Vgl. ZÖLLER, S. 102-105, LE GOFF, Wucherzins, S. 24-25. Die kirchenrechtlichen Bestimmungen des Mittelalters zum Zins: Decret. Gregor. IX lib. V tit. X I X D e u s u r i s , C I C e d . FRIEDBERG B d . II S p . 8 1 1 - 8 1 6 .
54 55 56
57
Zur Entwicklung der kanonistischen Interpretation vgl. LE GOFF, Wucherzins. Vgl. dazu ZÖLLER, S. 66-68. Die Gutachten von Wiener Theologen, die TRUSEN, Jurisprudenz analysiert hat, sind als Orientierungshilfen und zur Absicherung der landesherrlichen Gesetzlichkeit in Auftrag gegeben worden; nicht zweckfrei, aber freiwillig. In dieser Situation, in der es nötig wird, die Legitimität von Herrschaft und von Normen nachzuweisen, finden sich Berufsjuristen und Theologen als Akteure für sehr verschiedene Interessen wieder. Ockham ist dafür der Musterfall, und zwar
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Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens
Nicht ohne Grund: Denn ihnen kamen die Anleihen des kanonischen Rechts beim römischen Recht mit seinen ausgefeilten Bestimmungen über Eigentum und über Verträge zugute. 58 Die gelehrte Kanonistik war seit dem 2. Drittel des 13. Jahrhunderts zu einem nicht unwesentlichen Teil damit beschäftigt, römisches Recht aufzunehmen 59 und patristische oder päpstliche Sätze, die sie nicht nachträglich ändern konnte, mit dessen Hilfe oder vom Naturrechtsgedanken aus so zu interpretieren, daß das Kirchenrecht zwar als konservativ gelten konnte, aber nicht als unzeitgemäß gelten mußte. 60 In der Frage des Kaufens, Besitzens und Zinsnehmens bestand die Aufgabe des Kirchenrechts darin, diejenigen seiner Sätze zu verteidigen, deren buchstäbliche Befolgung das wirtschaftliche Leben auch kirchlicher Institutionen lahmgelegt hätte, gleichzeitig aber eine Interpretationshoheit zu installieren, die die wörtliche Befolgung zu einem Fehler erklärte. Nach dem Armutsstreit der Franziskaner61 waren die Kanonisten des 14. Jahrhunderts bestens für diese Aufgabe gerüstet.
sowohl hinsichtlich seines Lebensweges als auch seiner Lehre, vgl. FLASCH, Denken, S. 441-459. Soweit ich weiß, ist noch keine mittelalterliche deutsche Ockham-Bearbeitung bekannt geworden, und das, obgleich sein Werk teilweise auf deutschem Boden entstanden ist und obgleich er als Person für die Interessenund Problemverschiebungen im 14. Jahrhundert steht. Mit der Kompliziertheit der Lehre kann man kaum argumentieren, denn schließlich gibt es ja die von Gabriele SCHIEB e r s t m a l s 1 9 4 3 u n d v o n MORGAN u n d STROTHMAN n o c h m a l s 1 9 5 0 e d i e r t e
Thomas-Übersetzung aus der 'Summa theologiae', die eine hochkomplizierte Materie behandelt und keinerlei praktische Anwendungszwecke für die Instruktion erahnen läßt. Sogar das 'Rationale divinorum officiorum' des Wilhelm Durandus (ed.: BUJSSEN) ist im Umkreis der Wiener Übersetzerschule übertragen worden, obgleich die lateinische Schrift Wissen vermittelt, das für Nichtkleriker allenfalls von sehr peripherer Bedeutung sein konnte, und die deutsche Fassung ohne sachkundige Rückübersetzung zu jeder Vermittlung von Wissen untauglich ist. Vgl. HOHMANN, maister, S. 352. Auch daß Ockham selbst nicht in der Volkssprache geschrieben hat, ist keine gute Erklärung; Heinrich von Friemar hat das auch nicht getan, und er ist viel übersetzt worden, vgl. WARNOCK VL. Hat es keine Interessenten gegeben? Das ist eher unwahrscheinlich, aus biographischen Gründen. 58
V g l . TRUSEN, A n f ä n g e , u n d DERS., B e d e u t u n g , S . 2 7 4 .
59
Auch das Inquisitionsverfahren einschließlich der Folter zur Beweiserhebung ist aus solcher Anverwandlung hervorgegangen, vgl. TRUSEN, Bedeutung, S. 280281. Hier waren wiederum die Mendikanten die treibenden Kräfte, denn sie sahen sich vor der Notwendigkeit, in der Seelsorge die Schuld zu beurteilen. Vgl. TRUSEN, Bedeutung, S. 264. Zins, Zehnt und erlaubtes Geschäftsgebaren gehörten zu den thematischen Schwerpunkten, nach denen für Beichtzwecke kirchenrechtliche
60
B e s t i m m u n g e n z u s a m m e n g e s t e l l t w u r d e n , v g l . TRUSEN, F o r u m , S . 9 2 - 9 5 . 61
Zu Grundlagen und Verlauf des Armutsstreites jetzt: HORST, Armut.
Ein Gewissen für Kloster und Stadt
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Das Richtige und das Recht können im Mittelalter nicht getrennt voneinander gedacht werden.62 Derselbe Handlungsbedarf, vor dem sich die Kanonistik seit dem Ausgang des 13. Jahrhunderts sieht, betrifft auch die theologische Ethik. Im ethischen Modell des Thomas waren Züge zur Kasuistik, in dem des Bonaventura Züge zur Beratungsethik enthalten. Sie verbanden sich jeweils besonders mit den Vorstellungen der Autoren vom irrenden Gewissen. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts war nach gemeinsamer Auffassung aller, die Ethik betrieben, die wichtigste Ursache dafür, eine Fehlhandlung noch rechtzeitig zu unterlassen, die praktische Vernunft. Sie hatte - in beiden Denksystemen - zu analysieren und zu prüfen, wie sie es gelernt hatte, um den Fall gegebenenfalls - bei Bonaventura - an eine höhere Instanz weiterzugeben. Bei Thomas gab es zwar den Gedanken nicht, daß der geistliche Obere in aller Regel auch weiser sei und sein Spruch deshalb auch gegen die eigene Überzeugung binde, aber aus seiner Denkweise hätte man leicht folgern können, daß der Gelehrte, der Syllogismen der praktischen Vernunft fehlerfrei bauen kann und der eine feinere Schachtelung von Normen kennt, weniger irrt als der Ungeschulte. Nun gehörte es zu den zentralen Anliegen der radikalen Vollkommenheitsethik Eckharts, die Sittlichkeit an den einzelnen zu binden, und zwar so konsequent, daß jede Fremdbestimmung von vornherein als sachfremd abgelehnt werden mußte (die Einheit mit Gott kann nicht befohlen werden) und daß zudem menschliche Kasuistik die wahrhaft richtige Entscheidung immer verfehlt. Seit der Wende zum 14. Jahrhundert stellte sich in der Lebenspraxis der Bettelmönche in den Städten immer mehr heraus, daß mit dieser Lehre wichtige Fragen nicht beantwortet werden konnten. In der Stadtorganisation und im Wirtschaftsleben fanden jene auch von der Kanonistik als Problem empfundenen Handlungen statt, die sich ohne jemandes Plan als zweckmäßig eingebürgert hatten und die dem sonstigen sittlichen Habitus der Beteiligten keineswegs schadeten. Wer sich in solchen völlig alltäglichen Handlungen orientieren wollte, dem war mit dem abstrakten Vollkommenheitsideal wenig gedient. Eckharts Ethik war nicht in Lebensregeln auflösbar. Anderes kann von philosophischer Ethik eigentlich auch nicht erwartet werden. Aber es gab ja ein ethisches System, dem man seine philosophische Qualität nicht absprechen konnte und das sich erprobtermaßen gut mit den Denkfiguren von Gesetzeswerken vertrug, das des Thomas. 63 Auf der Basis von Thomas ließ sich
62
63
TRUSEN, Jurisprudenz weist ausdrücklich darauf hin, daß auch Theologen um Rechtsgutachten gebeten werden, ebd. S. 24. Der Quellenkommentar zur 'Rechtssumme' Bruder Bertholds, erarbeitet von M a r l i e s HAMM u n d H e l g a r d ULMSCHNEIDER ( = R e c h t s s u m m e , Edition, B d e . 6 u .
7), weist dankenswerterweise alle Zitate der Quelle nach, so daß man die Zita-
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Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens
allemal besser über ein Geschäft gutachten als auf der Basis von Eckhart.64 Für einen Theologen in einer Ratgeber- und Gutachterfunktion lag das Argumentieren mit Vorhandenem näher als die Suche nach eigenen philosophischen Modellen, die Zustimmung der Kanonisten konnte er weniger entbehren als die Achtung der Philosophen.65 Wollte er vollends die Ratgeber für den Alltag, für das forum internum, erst anleiten, dann konnte er die von Berg so bezeichnete "Popularisierung der Scholastik" in einem Zweistufenmodell (über lateinische halbwissenschaftliche Theologie)66 auch bei bestem Willen und eigenem Vermögen kaum mehr umgehen. Eine mögliche Antwort auf die extrem offene Ethik Eckharts führt deshalb aus dem eigensten Felde der Ethik heraus; aus ethischem Impetus entsteht eine Lehre des Guten und Rechten, Morallehre mit Kanonistik. Prononciert philosophischen Anspruch haben diese Lehrwerke nicht, aber sie vereinen in der Begründung ihrer Vorschriften ausdrücklich den Standpunkt der Theologie mit dem der Juristerei. Damit betonen sie die Einheit des diesseitigen mit dem jenseitigen Leben. Wenn das Gute und das Rechte wesentlich identisch sind, kann von Menschen auch verlangt werden, daß sie in der Welt das Gute, also das Rechte, tun, und dazu gehört, daß es als positiv gilt, wenn sie überhaupt etwas tun. Insofern, nämlich in der Höherbewertung der vita activa, stimmen die ordinäreren Normenbücher doch wieder mit Eckhart überein.
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tionspraxis des Johannes von Freiburg verfolgen kann. Thomas wird hier fast so häufig zitiert wie Raymund oder der Hostiensis. Soweit ich sehe, ist auch keiner der konkurrierenden ethischen Entwürfe am Anfang des 14. Jahrhunderts so glatt in juristisches Denken inkorporierbar wie Thomas von Aquin. Das hat zur Folge, daß diejenige deutsche Literatur, die aus dem Bedürfnis nach Unterweisung und Regelung entsteht, viel stärker von Thomas geprägt ist als die gleichzeitige Theologie, Philosophie und Staatslehre in ihren jeweiligen ethischen Anschauungen. Sicher scheint mir das für die von TRUSEN analysierten Wiener wirtschaftsethischen Gutachten Heinrichs von Langenstein und Heinrich Tottings von Oyta, die zwischen 1383/1384 und beider Tod 1397 entstanden sind, vgl. TRUSEN, Jurisprudenz, bes. S. 12, S. 33, S. 40, S. 47. Theologische Gutachten über theologische Gegenstände könnten ein grundsätzlich anderer Fall sein, sie sind es wohl aber nicht. Zumindest im Hinblick auf den Prozeß gegen Marguerite Porete, in dem Heinrich von Friemar nach STROICK, S. 14 Gutachter war, erscheinen die Gutachter als die Wahrer der Tradition, vgl. auch TRUSEN, Prozeß, S. 34-38. Trusen stellt S. 67-68 die These von ZUMKELLER, Fehlentwicklungen, in Frage, nach der sich Heinrich auch auf Eckhart explizit bezogen habe. Die Gutachten gegen Eckhart sind kein repräsentativer Fall, weil sie erst in der zweiten Instanz auf der Basis lückenhafter Textkenntnis entstehen, vgl. TRUSEN, Prozeß, S. 118-120. BERG, S . 4 - 5 , s . 4 1 .
Gewissensberatung bei Beichtvater und Buch
175
2. Gewissensberatung bei Beichtvater und Buch Den geistlichen Oberen befragen, sich selbst befragen und Normen interpretieren lernen - das war ein Konzept für sittliche Souveränität im Sinne der praktischen Vernunft des Thomas, eines für die Erhaltung moralischer und juristischer Weisungsberechtigung der Kirche und - dies als notwendiges Mittel - auch ein Bildungskonzept. Alles das konnte in ein und derselben Situation stattfinden, nämlich in der Beichte als Beratung. Sie war zunächst auch der einzige Ort, an dem die lernende Selbstbefragung und Selbstunterweisung traditionell stattfand. Das Gewissen war, indem der Beichte diese Beratungsfunktion zuwuchs, wirklich zum Forum geworden, vor dem die Geltungsansprüche von Normen miteinander stritten und vor dem sie sich durchzusetzen hatten. Der Geistliche war aber immer einer, ein einzelner, im Idealfall weise, aber von begrenztem Wissen und Können. So war es, solange es Beichtväter gab, immer gewesen; jahrhundertelang hatte aber das von der Kirche verliehene Amt und die Teilhabe an der von ihr verwalteten Welt lateinischer Bildung ausgereicht, um für diejenigen, die sich außerhalb dieses Kreises befanden, den glaubwürdigen Anschein innerer Übereinstimmung aller Einzelentscheidungen zu wahren. Seit es im 14. Jahrhundert nach den Übersetzungsbemühungen der verschiedenen Orden möglich geworden war, auch in der Volkssprache ein Bewußtsein von den inneren Unterschieden theoretischer Lehrsysteme in der Theologie und Ethik zu erlangen, konnte den Laien immer weniger abverlangt werden, naiv von der inneren Übereinstimmung aller Entscheidungen kirchlicher Amtsträger in Gewissensfragen auszugehen, um so weniger, als die innerkirchliche Auseinandersetzung um das Armutsideal ja vor aller Augen und im Ausmaß einer sozialen Bewegung geführt worden war, selbst wenn nicht alle Beobachter die Argumente der Streitparteien verstanden haben mögen. Das stellte die Funktion der Beichte als eines Gerichts- und Beratungsortes ernsthaft wieder in Frage. Die Bettelorden hatten die Notwendigkeit einer gemeinsamen, übergeordneten Norm für alle Einzelsituationen frühzeitig erkannt und bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts kanonistische Summen in Auftrag gegeben, die das Buchwissen für die mündlichen Entscheidungen bereitstellten. Im 14. Jahrhundert nun werden solche Bücher erstmals auch in die Volkssprache gebracht. Auch wenn die deutschen Bücher ihre lateinischen Quellen nur exzerpieren und sie vereinfachen - der objektive Maßstab, der die Verbindlichkeit der Beratung durch den Beichtvater verbürgt, ist damit zum ersten Mal auch für nicht lateinkundige Leser erreichbar und prüfbar. Sobald es solche Bücher einmal gibt, können sich in ihnen nicht nur Kleriker belesen, die den verschlungenen Wegen der Originalquellen nicht zu folgen imstande sind; sie liegen dann
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Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens
auch für die Ratsuchenden selbst bereit. Die entstehenden Ratgeberbücher erhöhen die Glaubwürdigkeit des Beichtvaters, denn sie erlauben es, seine Entscheidung nachzuvollziehen. Wem es aber allererst gelang, eine fremde Entscheidung über seine eigenen Angelegenheiten nachzuvollziehen, der kann beim nächsten Male auch gut selbst zum Buch greifen. Ich weiß, daß ich hier eine lange, weit in die Neuzeit reichende Entwicklung im Zeitraffer skizziere, weil natürlich weder die Lesefahigkeit noch die Verfügbarkeit von Büchern im deutschen 14. Jahrhundert ausgereicht hätten, um mit der Verbreitung der ersten deutschen Normenbücher die Beratung beim Beichtvater zugunsten der Beratung beim Buch abzuschaffen. Von einer Ersetzung kann für das gesamte Mittelalter auch gar keine Rede sein.67 Es handelt sich um nichts mehr, aber auch um nichts weniger als den historischen Schritt zum Buch als Beratungsmöglichkeit, zur Akzeptanz einer Gewissensentscheidung, bei der der einzelne mit Buchwissen allein und auf seine hermeneutische Leistung angewiesen ist. Die Normen- und Orientierungsliteratur des 14. Jahrhunderts sucht, das ist gleichsam das Mal ihrer Herkunft, selbst nach festen Bezugspunkten. Das betrifft die wissenschaftliche Systematik, die nicht frei gewählt werden kann, ohne gleichzeitig einen bestimmten Platz im Gefüge der etablierten Wissenschaften anzusteuern. Es betrifft auch, in abgeleiteter Hinsicht und als Folge der systematischen Anbindung, die Darstellungsmuster und Texttypen. Das erste der erfolgreichen68 Normenbücher benutzt noch ein sehr traditionelles Gliederungsschema, nämlich die Tugenden. Deshalb heißt es büch der fugenden, obgleich es eine mit einigem vorwiegend kanonistischem Sondergut angereicherte deutsche Kurzfassung der Summa theologiae II-II des Thomas von Aquin ist, die Berg auf ca. 1360 datiert.69 Andere Autoren nutzen Gliederungsschemata, die im 14. Jahrhundert selbst im Lateinischen für Nachschlagewerke über Norm wissen noch relativ jung sind: das Alphabet
61
Marlies HAMM und Helgard ULMSCHNEIDER, Übersetzungsintention, haben vier deutsche Normenbücher des 14. Jahrhunderts mit kanonistischem Inhalt verglichen, darunter auch das 'Buch der Tugenden' und die 'Rechtssumme'. Sie kommen zu dem Ergebnis, daß der Weg in die weltliche Rechtssprechung ebenso bezeugt ist wie der Gebrauch für das forum internum, vgl. auch WECK, S. 2442 5 6 , S . 2 8 2 , S . 2 8 4 , BERG in BERG/ KASPER, S . CII-CVII.
Nicht u m diese
unumstößlichen Ergebnisse im mindesten anzuzweifeln, sondern nur um ihren argumentativen Stellenwert abzugrenzen, merke ich an, daß der private Gebrauch eines Normenbuches mit der überlieferungsgeschichtlichen Methode praktisch nicht nachweisbar ist. 68
D e r G e b r a u c h s r a u m d e r H a n d s c h r i f t e n ist b e s c h r i e b e n bei BERG, S .
Stemma S. 120. 69
BERG, S . 1 2 0 .
117-146.
Gewissensberatung bei Beichtvater und Buch
177
oder die zehn Gebote. Sie wollen systematisch bleiben, aber kein lineares Studium des Textes von Anfang bis Ende voraussetzen, und nutzen den Spielraum von jungen, noch wenig verfestigten Mustern aus alten Gattungstraditionen. Der Grundgedanke dieser Erfolgsmodelle besteht darin, daß die mündliche Beratungssituation der Beichte oder des Ratsuchens der Möglichkeit nach in einen Dialog mit dem (deutschen) Buch umgewandelt wird. Dadurch verändert sich der Status des Wissens über Theologie und Religionsausübung, und das Maß dessen, was dem Nichtordinierten zugemutet werden darf und muß, steigt sprunghaft an. Während einem solchen Laien bisher nur heilsnotwendiges Wissen abverlangt worden war, das in katechetischen Reihen gelernt werden konnte, steht der Dialog mit dem Normenbuch unter dem Vorzeichen: Wie vermeide ich einen Irrtum meines Gewissens? Mit dieser Frage wird der reflektierende Mensch zwar an die Grenzen seiner Einsicht geführt, aber ihm wird auch gezeigt, wie er diese Grenzen aus eigener Kraft weiter hinausschieben kann. Insofern ist die Eckhartsche Souveränität der Seele theoretisch nicht wieder völlig verschwunden, sondern eher in einen anderen gedanklichen Zusammenhang überfuhrt worden.70 Ich hatte oben bei der Erörterung der Gewissenskonzeption des Bonaventura versucht zu entwikkeln, daß die Forderung nach Beratung bei Weiseren bedeutet, daß die Not allererst zur Sprache finden muß, und zwar in der dort gesetzten mündlichen Situation zur Muttersprache. In der traditionellen Beratungssituation erlernen, sobald im 13. Jahrhundert das irrende Gewissen mit der Beichte zusammengedacht wird, beide Gesprächspartner etwas Neues: der Ratsuchende, wie er das, was er als Problem empfindet, auch als Problem artikulieren kann, und zwar in seiner Muttersprache; der Beratende, wie er sein lateinisch erworbenes Wissen über Moral und Sündenbewandtnis in ebender Muttersprache anwenden kann. Der Beratene muß den Rat verstehen, nicht um richtig zu handeln - das könnte er auch auf Befehl -, sondern um sein Gewissen zu unterrichten und zu korrigieren. Insofern geht diese Beratungssituation, die aus Bonaventuras Ethik notwendig folgt, noch einen Schritt weiter als die volkssprachliche Predigt bei Eckhart, wie Christa Ortmann sie beschrieben hat,71 denn vom Hörer der Predigt wird nicht verlangt, sein Problem mit
70 71
Die Dimensionen des Problems bei ORTMANN, Lehre. ORTMANN, Lehre, S. 350: "Bis ins 18. Jahrhundert hinein läßt sich der Prozeß verfolgen, in dem ein Lebensbereich nach dem anderen sich in der ständigen Spannung von mündlicher deutscher Laienkultur und schriftlicher lateinischer Klerikerkultur verwandelt in volkssprachliche Schriftlichkeit." Angemessen scheint ihr deshalb "die Frage nach dem Textstatus der deutschen Predigt im deutschlateinischen und schriftlich-mündlichen Kulturgefälle", ebd. Wenn das Gefalle historisch irgend nivelliert werden konnte, und das scheint zumindest in so großen
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Die Rückkehr der praktischen Vernunft und der Einzug kasuistischen Denkens
dem darin Entwickelten selbst zu artikulieren. Wenn nun im 14. Jahrhundert Autoren versuchen, deutsche Ratgeberbücher zu schreiben, dann nehmen sie dem Lesenden damit nichts ab, denn er muß das Gesuchte ja erst auffinden und kann nicht mehr gezielt danach fragen. Die Anforderung an den Grad des Problembewußtseins ist gegenüber der mündlichen Ratsuche eher gestiegen. Gleichzeitig enthält das Buch immer auch Dinge, die der Nachschlagende gerade nicht sucht, aber möglicherweise dennoch in Erinnerung behält. Damit bietet sich die Möglichkeit, daß der Nachlesende aus Anlaß eines umgrenzten Problems mit sich selbst mehr lernt, sein Gewissen besser schult, als er es in einer mündlichen Beratung vermocht hätte. Gleichzeitig besteht die Gefahr, daß er nicht findet, was er sucht. Es ist also nötig, ihm nicht nur einen systematischen Minimalkontext für einen vermittelten Sachverhalt mitzuteilen, sondern ihn zudem einige Suchalgorithmen zu lehren, wie Theologen und Kanonisten sie in ihrer Ausbildung erlernt haben. Das Sachwissen ist an Ordnungswissen gebunden. Das bereitet den Autoren Schwierigkeiten, denn etwa im Decretum Gratiani oder in einem Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus thematisch zu suchen, selbst gesetzt den Fall, beides läge deutsch vor, verlangt besondere Schulung. Die Ordnung für den Stoff zu schaffen gerät den Autoren deshalb zur schwierigen Aufgabe. Auf eine sowohl lateinische als auch volkssprachliche Tradition zurückgreifen konnten die Ordnungsversuche nach den katechetischen Reihen, die auswendiggelernt vorausgesetzt werden durften. 72 Den Dekalog als Ordnungsprinzip werde ich gesondert behandeln. Die grundlegende Verknüpfung von Sachwissen und Ordnungswissen zum Zwecke der Beratung beim Buch haben aber alle Autoren solcher Schriften, unabhängig von ihrer Wahl der Buchgliederung, vergleichbar gedacht, nämlich von der individuellen und selbstverantwortlichen Handlungskontrolle und Handlungssteuerung aus, das heißt: vom Gewissen her. Ich will darauf am Beispiel der 'Rechtssumme' eingehen, weil sie besonders reich überliefert ist und jede Aussage über Ratgeberbücher verdächtig wäre, die sich nicht an ihr bestätigen ließe.
72
Zeiträumen unbestreitbar, so ist dafür, wie ich glaube, die Beratung des irrenden Gewissens die entscheidende Konstellation. Vgl. WEIDENHILLER, S. 16-24, ADAM, S. 13-24. Die beste bibliographische Erschließung der lateinischen Schriften ist nach wie vor: BLOOMFIELD/ GUYOT/ HOWARD/ KABEALO. Normbücher über die zehn Gebote sind mitaufgenommen.
Das Beratungsmodell 'Rechtssumme'
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3. Das Beratungsmodell 'Rechtssumme' Bruder Berthold hat seine 'Rechtssumme' alphabetisch geordnet. Er hat damit die traditionellen Textorganisationsmuster verlassen und dafür eines gewählt, das nicht voraussetzt zu wissen, wo das Nachzuschlagende seinen systematischen Ort in einem inhaltlich bestimmten Gliederungssystem hat. Die Übernahme von Auffindungshilfen in die Texte selbst, zunächst als sekundäres Organisationsprinzip, ist in ihren Anfängen im 13. Jahrhundert von Rouse/Rouse dargestellt worden. 73 Daß solche Findemittel in Rechtsbüchern einer praktischen Notwendigkeit gehorchen, leuchtet ein; Bartholomäus von Pisa hat um 1338 eine 'Summa confessorum' verfaßt, die alphabetisch sortiert ist.74 Ob Berthold aber diese neue kanonistische Schrift schon als Vorbild benutzen konnte, ist ungewiß; nur daß Berthold nach der Kanonisierung des Thomas von Aquin 1323 geschrieben habe, ist einigermaßen verläßlich anzunehmen.75 Für einen deutschen Text, dem es nicht nur um das Recht, sondern auch um das Richtige im moralischen Sinn geht, bedeutet ein solches Organisationsprinzip mehr als pragmatische Hilfeleistung: Die Ordnung finden Benutzer gilt gleichviel wie die Ordnung im Gesamtsystem eines theologisch oder juristisch begründeten Lehrentwurfs. 76 Sicher ist: Berthold hat mit seinem Werk großen Erfolg gehabt. Ruh nennt es einen "Bestseller des Spätmittelalters",77 Marlies Hamm und Helgard Ulmschneider bezeichnen Bertholds Werk als "das erfolgreichste moraltheologisch-kanonistische Handbuch seiner Zeit in deutscher Sprache".78 Bertholds spezifische Sicht, nämlich das Recht und das Rechte in eins zu denken und gemeinsam darzustellen, knüpft an der Stelle theologischer Ethik und beichtrelevanter Kanonistik an, die beide verbindet, die sowohl die positive Norm begründet als auch die Abweichung richtet: bei der Lehre vom Gewissen. Das ist keine ganz neue Erfindung Bertholds; schon Johannes von Freiburg, aus dem er maßgeblich schöpft, hatte in beträchtlichem Maße
73
V g l . ROUSE/ROUSE, S . 2 0 6 - 2 0 7 , S . 2 1 9 - 2 2 5 .
74
Vgl. JOHANEK, Literaturgattung, S. 360. Vgl. die Erörterungen zur Datierung in: Rechtssumme, Edition, Bd. 1. Einleitung, S. 12*-13* und ebd. Anm. 46. Dieses Problemfeld wird in den Auseinandersetzungen um die Werkbezeichnung der 'Rechtssumme' immer wieder berührt. Vgl. JOHANEK, Literaturgattung; STEER, Werkbezeichnung; Rechtssumme, Edition, Bd. 1, Einleitung, S. 14*-15*;
75
76
TRUSEN, B e d e u t u n g , S . 77 78
268-274.
RUH, Versuch, S. 320. HAMM/ULMSCHNEIDER, Übersetzungsintention, S. 54. Überlieferung (über 80 Hss. und 12 frühe Drucke sind erhalten) bei WECK, S. 21-27.
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theologische Ethik in seine juristische Lehre für die Beichtpraxis aufgenommen.79 Berthold bindet die theologische und kanonistische, aber volkssprachliche Wissensvermittlung an das Problem des irrenden Gewissens und reflektiert selbst darüber, und zwar unter dem Stichwort "Irrtum". Ich zitiere vorab die ganze Passage zum Überblick: Wa von irretam den lauten chomm. Irretam, den etwann der mensch hat, der chomt von manger sach wegen. Zu dem ersten mal von ainvältichait wegen vnd vnwissen. Also wann der mensch etwann wänt, das ain ding gut sey und ist bös, oder wönt, das ain ding sey pöz vnd ist gut vnd gerecht. Vnd die ainvältichait des vnwissens entschuldigt den menschen nit an den dingen, die der mensch wissen sol mit recht, also von dem gelauben vnd von den zehen gepoten gotz vnd von den gemainen geseczen der christenhait. Vnd von den ainvältigen menschen spricht sant Pauls: 'Ain yegleich mensch der nit waiz, den wil got auch nit wissen noch erchennen.' Zu dem andern mal chumt irretam van ainvaltigem verstantnuzz der heyligen geschrift. Also wann der mensch list oder hört ains an ainer stat vnd ain anders an ainer andern stat, die wider ain ander lauten, vnd doch kain widerw&rtichait do ist nach der pedawtung der lerär. Vnd der irretam der warhait entschuldigt den menschen nil von sunden an den dingen die er wizzen sol von not wegen zu seiner seylichait. Da von spricht sant Augustein: Wer da zweifelt, der sol rat nemen von den weisen, die der geschrift wol etfaren sint, in der man chain widerwärtichait vnd falsch vindet, von des wegen daz der heylig gaist die selben gesprochen hat durch den mund der heyligen lerär. Zu dem dritten mal chumt irretam von vnordenleicher gunst wegen vnd pewegung. Also wann der mensch von der geschrift wegen oder von anders dings wegen wirt in im selbs getailt, vnd Oven weg vor im sieht des lebens, vnd von sunderleicher gunst wegen lat ainen weg des lebens, vnd velt auff den andern, der seinem sinn gevelt, der nit also gancz hat die warhait als der ander, dem er nit volgt, der mensch wirt nit entschuldiget. Von dem irretam spricht sant Augustein, daz in den dingen, die zweifei vnd wan habent, sol man nit leichtleich auf ainen sin vollen, sunder der mensch sol rat nemen von der heiligen geschrift vnd von den prelaten, den die heylig chirch enpfolchen ist von got. Vnd wer die heyligen geschrift anders verstund, dann sy die lerär pedäten, der hiet irretan,80
79
80
Leonard E. BOYLE sieht in dieser Verbindung von Falldarstellung und ethischem Fundament die Charakteristika der neuen Gattung Summa confessorum, die er von den einfachen Summae de casibus conscientiae - Kirchenrecht für die Beichte ohne theologische Ethik - abgehoben wissen will. Johannes von Freiburg hat für ihn 1298 einen gattungsprägenden Text geschaffen. BOYLE, Genre, S. 126-127, und DERS., Summae, S. 235-237. Rechtssumme, Edition, Redakt. Β, I 9, Bd. 4, S. 322-326 Sp.l.
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Sehr aufschlußreich sind die Veränderungen gegenüber der Vorlage, Johannes von Freiburg, Summa Confessorum, III, 32, qu.16: El primo quero utrum ignorantia sit peccatum. Resp. secundum Thomam in summa, in prima parte secunde q. Ixxvj art. ij. Dicendum quod ignorantia differt a nescientia, quia nescientia dicit simplicem scientie negationem [...] Ignorantia vero importat scientie privationem, dum scilicet alicui deest scientia eorum que aptus est scire. Horum autem quedam aliquis tenetur scire, scilicet ilia sine quorum scientia non potest debitum actum recte exercere. Unde omnes tenentur scire communiter ea que suntfidei et universalis iurisprecepta [...]. Non autem imputatur homini ad neglegentiam, si nescit ea que scire non potest. Unde horum ignorantia invincibilis dicitur, quia scilicet studio superari non potest. [...] Utrum auditores diversorum magistrorum lenentium diversas opiniones excusentur a peccato erroris, si opiniones magistrorum suorum tenent. Resp. secundum Thomam in quadam questione de quolibet, Dicendum quod diverse opiniones doctorum sacre scripture, si quidem non pertineant adfidem et bonos mores, absquepericulo auditores utramque opinionem sequipossunt [...]. In his vero que pertinent ad fidem et bonos mores, nullus excusatur, si sequatur erroneam opinionem alicuius magistri. In talibus enim ignorantia non excusat
Wendet man sich Bertholds Text im einzelnen zu und vergleicht ihn mit der Summa Johannis, so kann man klar erkennen, worauf sich Berthold dort bezieht; kaum mehr. Seine Veränderungen beginnen schon mit dem Oberbegriff. Johannes hatte - im Anschluß an Thomas von Aquin - gefragt, ob Unwissen eine Sünde sei, und in einem gesonderten Abschnitt speziell nachgefragt, ob diejenigen entschuldigt werden könnten, die der Irrlehre eines Magisters der Theologie folgen. Für Berthold ist 'Irrtum' der gemeinsame Oberbegriff. Damit knüpft er aber an einem ganz anderen Punkt der ethischen Diskussion an, nämlich bei der conscientia erronea.*1 Das ist eine bewußte Verschiebung, keine Übersetzungsvariante, denn Berthold aber handelt über Irrtum, nicht über ignorantia. Er erläutert auch, wie er es meint; dazu fehlt, was nicht verwundern kann, in der Vorlage eine Entsprechung:
81 82
Rechtssumme, Edition, Bd. 6, S. 414-415. Bedeutung, S. 268 setzt sich mit der Eichstätter Rechtssummen-Edition auseinander: "Recht ist äußere Ordnung, die der Welt und die der Kirche. Darum geht es Berthold nicht primär. Aber Verstoß gegen das Recht kann auch Sünde sein, insofern die Seligkeit beeinträchtigen. [...] so bedeutet das keineswegs, daß er das forum externum der Kirche oder gar der Welt, also die gerichtliche Praxis im Auge gehabt hat, sondern den Gewissensbereich des Laien."
TRUSEN,
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Also wann der mensch
etwann wänt, das ain ding gut sey und ist bös, oder
das ain ding sey pöz vnd ist gut vnd
wönt,
gerecht.
Das ist die klassische Situation des hochscholastischen irrenden Gewissens. Berthold hat sie so eingebunden, daß sie als erste Möglichkeit des Irrtums erscheint, und ihr eine Ursache zugeordnet: Zu dem ersten mal von ainvältichait wegen vnd vnwissen. Er betont aber sogleich, daß Unwissen hinsichtlich des Glaubens, der Gebote und der gemainen gesecz der christenhait nicht entschuldigt. Die ignorantia invincibilis läßt er weg. Ich resümiere Bertholds Irrtumsartikel, wie ich ihn verstehe, bis an diese Stelle: Die erste Art zu irren ist der Irrtum des Gewissens, sie entspringt dem Unwissen und entschuldigt nicht, zumindest solange sie den Glauben, die Gebote und positive Gesetze angeht. Als zweiten möglichen Irrtum bezeichnet Berthold anschließend falsches Schriftverständnis. Hier hat er kühn vereinfacht. Die Widersprüche in den Lehrmeinungen hält er nur dem naiven Verständnis des Ungebildeten zugute, während Johannes doch immerhin mit Thomas eingeräumt hatte, daß Gegensätze in der Schriftdeutung vorhanden seien und daß es, solange der Glaube und die guten Sitten nicht angetastet würden, unbedenklich sei, einem Lehrer seiner Wahl zu folgen. Aber Berthold harmonisiert noch weiter: In der Sinngebung der Lehrenden {nach der pedawtung der lerär) gibt es seiner Meinung nach keine gegensätzlichen Interpretationen, und wer zweifelt, soll sich beraten lassen. Als dritten Irrtum schließt Berthold etwas an, was er entweder einer Drittquelle entnommen83 oder selbst ergänzt hat: die Fehlinterpretation der Schrift durch ein Vorurteil, das einem unbewußten, der Sinnlichkeit entspringenden Eigeninteresse entspricht. Auch hier stellt er die Beratung bei Gelehrten als verläßlichen Ausweg dar. Überblickt man nun diese drei Irrtumsmöglichkeiten nach Berthold, so zeigt sich, daß die 'Rechtssumme' die imprudentia- oder ignorantia-Problcm-
83
Es käme in Frage: Thomas v o n Aquin, Summa theologiae, I I - I I q. 4 6 a. 2-6. T h o m a s handelt hier über stultitia und unterscheidet einen angeborenen intellektuellen Defekt v o m der Dummheit, die durch Befangenheit in der Sinnenwelt entsteht. D i e Quaestio ist auch in der fügenden bäch ausgewertet worden. D i e Stelle heißt dort: Ob torheit sünde si. Der mensche ist vnderwilen torecht von gebresten der nature, als tobige Itie sint, solich torheit ist nüt sunde, wan enkein sünde kumet von nature, wan mit natürlichen werken engedienet noch verlüret der mensche kein Ion. Ein ander torheit ist, so der mensche von rechter torheit, nüt von gebresten der nature sinen sin senket in zergengliche ding gentzlich. Wan von solichem besöphenne des sinnes in zergengliche ding so wirt des menschen sin als vnbereit zu emphahenne gbtliche ding [...] vnd solich torheit ist sünde... BERG/K A S P E R , Bd. 1 , S. 9 4 , nach Thomas S.th. I I - I I q. 4 6 , a. 2 c , a. 3c, a. 6c.
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felder deutlich überschreitet. Unter beiden Bezeichnungen war, das zeigen die Parallelstellen aus Johannes von Freiburg und aus Thomas von Aquin, in der Hochscholastik erörtert worden, daß es Dinge gebe, die zu wissen einem Menschen zugemutet werden kann und die nicht zu wissen selbst schon eine Verfehlung darstellt, weshalb solche Unkenntnis die Fehlhandlung, die möglicherweise aus ihr entspringt, nicht entschuldigt. Dieser Gedanke steht in enger Verbindung zu Naturrechtsvorstellungen und zum synderesis-Begnff, wie ich oben an Thomas versucht habe zu entwickeln. Die 'Rechtssumme' setzt das zwar voraus, verschiebt aber deutlich die Akzente: Sie handelt darüber, wie es kommt, daß ein Mensch etwas für gut und richtig hält, was objektiv falsch ist. Ob man voraussetzen darf, daß die Leser hierzu 'irrendes Gewissen' assoziierten, ist mir ungewiß; ich halte es eher für unwahrscheinlich, glaube aber, daß die Problembeschreibung auch ohne das Signalwort aus sich selbst verständlich war. Interessanterweise werden nun zu der ersten Klasse von Irrtümern, die Berthold so beschreibt wie das scholastische irrende Gewissen, eine zweite und dritte Klasse gestellt, die wesentlich an Schriftverständnis gebunden sind. Berthold interessieren vor allem die Handlungen, die aus dem falschen Verständnis resultieren; es geht also, auch wenn die spekulative Vernunft den Verständnishorizont für einen Text allererst konstruiert, um die Folgerungen der praktischen Vernunft. Damit ist wieder der Bogen zum Problem des irrenden Gewissens geschlagen. Die 'Rechtssumme' beschreibt also das, was nach Thomas von Aquin ein Fehler der praktischen Vernunft ist, nämlich ein Irrtum des Gewissens, wesentlich als einen Fehler der Normeninterpretation. Es geht darum, Fehler in der Einschätzung von Handlungen zu vermeiden; und die Wege dazu sind Lernen und Beratung. Es ist nach Berthold grundsätzlich möglich und nicht einmal allzu schwer, solche Fehler der Gewissenseinschätzung zu umgehen. Man muß, das ist sein Vorschlag, dazu lernen, mit der Normativität der heiligen Schrift und den schriftlich niedergelegten Normen, die sich aus ihr ergeben, umzugehen, und das wird man am ehesten bei berufsmäßigen Exegeten. Ich weiß nicht, ob ich damit zu weit gehe, daß ich diesen umfangreichen Passus bei Berthold als eine Selbstempfehlung seines Buches lese. Daß er grundsätzlich davon ausgeht, richtige Normeninterpretation sei erlernbar, scheint mir außer Frage; ebenso, daß das Schriftverständnis, das zu erwerben er auch Laien nahelegt, auf praktisches Handeln zielt. Er bejaht das Bemühen um Schriftverständnis dann, wenn es um die Begründung positiver Normen geht. Umgekehrt: Positive Normen gründen in Auslegungswissen, und ungewollte Normverstöße zeigen ein Wissensdefizit an. Für den Ungelehrten beginnt deshalb Schriftverständnis nicht beim Buch der Bücher, sondern beim Normenbuch, in das das Auslegungswissen der Gelehrten eingegangen ist. Wie nun Berthold die Norm begreift, die auslegen zu lernen er alle, auch die Laien, ermutigen will, zeigt sich an seinem Stichwort 'Recht'. Es handelt
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sich um die Bearbeitung zweier Passagen aus der Summa Johannis, die dort das Verhältnis des forum poenitentiale/forum conscientiae zum weltlichen Recht beschreiben. Die Summa Johannis trennt beide Rechte konsequent und wägt ihre Geltungsansprüche ab. Berthold dagegen hat eine Gesamtnorm im Blick, die sich am Kirchenrecht orientiert. So heißt es in der Summa Johannis II 5 q 204: Utrum leges humanae important homini necessitatem quantum ad forum conscientiae, sive sint iuste sive iniuste. Resp. secundum Thomam in summa, in prima parte secunde q xvj art iiij. Dicuntur autem leges iuste et ex fine, quando scilicet lex lata non excedit potestatem ferentis; et ex forma, quando scilicet secundum equalitatem proportionis imponuntur subditis onera ad bonum commune [...]. Et secundum hoc leges huiusmodi onera proportionabiliter ferenda imponentes iuste sunt et obligant in foro conscientie et sunt leges legales. Iniuste autem sunt leges legales dupliciter. Uno modo per contrarietatem ad bonum humanum econtrario predictis, scilicet vel ex fine [...] vel etiam ex auctoritate [...] vel etiam ex forma [...]. Unde tales leges non obligant in foro conscientie,84 Nach Johannes, der hier in Übereinstimmung mit Thomas von Aquin argumentiert, sündigt der Mensch nicht, der ein ungerechtes Gesetz bewußt übertritt. Die Formel forum conscientiae gebraucht Johannes im terminologischen Sinne: Ein Priester, der die Beichte abnähme, würde von der Sünde freisprechen, und der Mensch, der seine Taten selbst richtet, darf im Hinblick auf die kommende Bewertung seiner Taten so entscheiden. Daß er das darf, erfahrt er im forum conscientiae, also in der Selbstbefragung, der Zwiesprache mit Gott und ersatzweise mit dem Priester; diese drei Instanzen, die im forum conscientiae gehört werden, müssen also das vorgängige Urteil über das Gesetz entweder selbst fällen oder zumindest billigen; daß überhaupt in den Blick kommt, wer das Urteil über das Gesetz spricht, liegt am Begriff des forum conscientiae, an der gerichtlichen Auffassung des Gewissensurteils. Der Text der 'Rechtssumme' Β lautet zu dieser Stelle der Vorlage: Waz ain gut recht oder ain gut gepot sey. Ain recht geseczt vnd ain recht gepot sol man erchennen. Zu dem ersten, wann daz gesaczt ist zenucz ainer gemain. Zu dem andern mal, wan daz geseczt ist von dem oder von den dy daz möchten getün von gewalt. Zu dem dritten mal ist ain gesecz vnd ain recht gut, wan daz geleich geformet ist nach müg vnd chrafi der laut, die sy halten shllen, also daz si in nit zeswär vnd zeschedleich sint. Vnd welhes gesecz vnd gepot anders war, dann also in disen drein stücken gesprochen ist, daz war vnrecht, vnd wären nit zehalten.K
84 85
Rechtssumme, Edition, Bd. 7, S. 599. Rechtssumme, Edition, Bd. 4, S. 1805-1807.
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Auf den ersten Blick mutet das ganz anders an als der lateinische Text, denn vom Forum des Gewissens ist nicht explizit die Rede. Zwar billigt auch Berthold dem Menschen eine Entscheidung darüber zu, ob er ein Gesetz befolgen müsse oder nicht. Jedoch sagt er schlicht, ein ungerechtes Gesetz sei nit zehalten, während Johannes zugesetzt hatte, es binde nicht inforo conscientiae, das heißt, es zu verletzen sei keine Sünde. Das räumt immerhin ein, daß es im Sinne des ungerechten Gesetzgebers ein Verbrechen sein kann, entbindet aber von der generellen Verpflichtung des Christen, ein Verbrechen immer auch für Sünde zu halten. Für Berthold ist die Lage klar: Wenn nach den Kriterien, die er aufzählt, ein Gesetz ungerecht ist, dann soll man ihm nicht folgen. Daß auch die Beurteilung des Gesetzes selbst ein Urteilsakt ist, blendet er aus; Johannes hatte (mit Thomas) dieses Urteil zumindest implizit mit in das forum conscientiae gelegt. Weil Berthold dieses Forum nicht übernimmt, weil er es nicht als eine gerichtliche Instanz einführt, kann man seinen Text offener lesen: einmal so, daß es der einzelne ist, der das Urteil nach bestem Wissen und Gewissen fallt und der die Konsequenzen für sein Seelenheil im Falle des Irrtums auf sich nimmt; zum anderen so, daß das Kirchenrecht die überlegene Rechtsinstanz ist, daß ihre Bewertungen vom einzelnen eher zu übernehmen sind als die Anordnungen eines weltlichen Gerichtsherren. Beide Lesarten schließen einander für Berthold kaum aus, wenn man sich zum Verständnis auf seinen Artikel zum Gewissen beruft, der noch zu analysieren sein wird. Denn das Gewissen des einzelnen, das wie bei Thomas seine letzte Urteilsinstanz über eigenes Handeln bleibt, ist danach durchaus nicht frei, sondern es wird selbst wiederum gerichtet, und zwar nach geistlichem Recht, das immer schon weiß, was Sünde ist, ehe der Weltenrichter in oberster Instanz entscheidet. Winfried Trusen hat geschrieben, Berthold sei es nicht um Recht im Sinne äußerer Ordnung gegangen, sondern um die Vermeidung von Sünde.86 Aber ich kann nicht umhin zu gestehen, daß dieser Dispens von den Verpflichtungen weltlichen Rechts - im strengen, von Trusen reklamierten Sinne - in einem deutschen Regelbuch87 auf mich doch wie die Ausdehnung einer Rechtsform wirkt, nämlich der kanonischen, und zwar so, daß der Anschein der Souveränität einer Gewissensentscheidung erzeugt werden muß, um die Überlegenheit kanonistischer Normativität (gerade in den schwierigen Fragen,
86 57
TRUSEN, Bedeutung, S. 268. Wenn Thomas von Aquin im Gesetzestraktat seiner theologischen Summe solche Normenhierarchien aufstellt, dann befindet man sich auf der Ebene der theoretischen Erörterung; wenn dieselben Ideen in einem deutschen Regelbuch vertreten werden, sind diese Erwägungen selbst Norm geworden, nämlich eine Norm für den Umgang mit Normen.
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zum Beispiel für den Kaufmannsprofit) wirksam zu behaupten.88 Natürlich, auch der Verstoß gegen weltliche Gesetze ist für Berthold Sünde: Awer die rechten gesecz vnd gepot ist ain ieglich mensch schuldig zehalten, des wegen daz si chommen von got vnd von den ewigen geseczen.89
von
Aber die Frage nach der Gerechtigkeit des Gesetzes wird nach den Gesichtspunkten Naturgesetz und Gesetz Gottes im Gewissen entschieden, und ihre Lösung muß das Gewissen vor dem geistlichen Gericht verantworten. Bertholds bereits erwähntes Stichwort 'Gewissen' hat zwei Teile. Sie sind in allen Redaktionen im wesentlichen gleich. Im ersten heißt es nach der Fassung B: Waz ain gut gewissen sey vnd ain pozz. Gewissen vnd consciencie ist ain mit wissen der ding die des menschen redlichait vrtailt gut oder pöz nach dem gölleichen gesecze. Vnd nach der consciencie vnd gewissen sol der mensch alzeit tun daz gut vnd lazzen daz pöz• Vnd dar vmb ist daz ain gut consciencie, wann der mensch etwaz tät nach dem geticht der rechten redlichait vnd nach den götleichen gepoten vnd der heyligen chirchen gesecz-90
Wer den Quellenband der Edition aufschlägt, steht vor einer Überraschung: Dieses Stichwort hat Berthold nämlich eingefügt. Marlies Hamm und Helgard Ulmschneider weisen eine Quaestio der Summa Johannis nach, die sich auf das oben behandelte Problem der Rechtsgeltung bezieht: Utrum leges humanae important homini necessitatem quantum ad forum conscienäeDarin finden sich die allgemeinen Bestimmungen zum Gewissensbegriff nicht, sondern nur das, was Berthold unter dem Stichwort 'Recht' erklärt hat: daß ein Verstoß gegen ein gerechtes Gesetz auch Sünde ist. Berthold hält also, um die Verbindung von Ungesetzlichkeit und Sünde zu erklären, eine ausdrück-
88
89
90 91
Es heißt unter demselben Stichwort in der 'Rechtssumme': Auch sullen die geschriben weltlichen recht uolgen den gaistlichen rechten, vnd pesunder an den dingen, die da treffen die e vnd den wächer. Rechtssumme, Edition, Β R9, Bd. 4, S. 1808. In der Vorlage steht: Quid de legibus que permittunt usuras exigi, nunquid tenent, und die Ehe wird in dieser Quaestio als ein zweiter Spezialfall erörtert; von einer generellen Orientierung am geistlichen Recht ist aber nicht die Rede. Vgl. Rechtssumme, Edition, R9, Bd. 7, S. 600, entspricht Summa Johannis II 7 q 43. Rechtssumme B, Edition, Bd. 4, S. 1806. In der Summa Johannis heißt es: Si quidem iuste sint, habent vim obligandi in foro conscientie a lege eterna a qua derivantur. Rechtssumme, Edition, Bd. 7, S. 600. Rechtssumme B, Edition, Bd. 2, S. 1150. Rechtssumme, Edition, Bd. 6, S. 349.
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liehe Erklärung des Sachverhaltes 'Gewissen' für nötig. Seine Begriffsbestimmung hat folgende Teile: 1. Gewissen ist ein durch Verstandesurteil entstehendes, handlungsbegleitendes Wissen über Gut und Böse, wobei der Maßstab von Gott kommt (ain mit wissen der ding die des menschen redlichait vrtailt gut oder pöz nach dem götleichen geseeze). 2. Dem Gewissen, zwei Redaktionen schreiben auch hier noch einmal ausdrücklich consciencia als Synonym, zu folgen bedeutet, das Gute zu tun und das Böse zu lassen (nach der consciencie vnd gewissen sol der mensch alzeit tun daz gut vnd lazzen daz pöz)', das sind aber die klassischen Bestimmungen der synderesis, die Berthold ins gewissen mitaufgenommen hat. 3. Ein gutes Gewissen haben heißt, nach dem Dikat der Vernunft, den Geboten Gottes und dem Gesetz der Kirche zu entscheiden (wann der mensch etwaz tüt nach dem geticht der rechten redlichait vnd nach den götleichen gepoten vnd der heyligen chirchen geseez). An dieser Bestimmung ist zweierlei auffällig: daß Berthold die synderesis in die conscientia hineinnimmt und beides zusammen gewissen nennt und daß er sich beim guten Gewissen nicht etwa auf die Gesetze der Christenheit, sondern ausdrücklich auf die Gesetze der Kirche bezieht. Ich sehe keinen Grund, dieses geseez anders denn als das positive Gesetz der Institution Kirche, also das kanonische Recht im engeren Sinne, zu verstehen. Der Leser mußte daraus wohl den Schluß ziehen, es werde seine Urteilsfähigkeit verbessern, wenn er in bestimmtem Maße kanonistische Kenntnisse erwürbe. Auch hier gibt Berthold eine implizite Selbstempfehlung seines Buches, denn gerade das, Kanonistik über Sünde für Nichtjuristen, versucht er ja darzubieten. Der zweite Abschnitt über das Gewissen ist nicht minder interessant. Er widmet sich der conscientia erronea und lautet in der Fassung B: Ain irresam gewissen ist ain mit wissen irresamer vrtail der redlichait. Also wann der mensch irret vnd vrtailt ροζ fur gut vnd gut fur pöz. Vnd der irresam der gewissen sol der mensch straffen vnd von im werffen, oder dar vmb rat nemen, daz er da von gelöst werd. Anders wären all sein werch vnredleich. Vnd daz maint vnser herr in dem ewangely, do er sprach: 'Ist dein aug ain schalck, so ist dein ganezer leichnam vinster.' Vnd wann der mensch der die irresam consciencie hat, ist daz er tut daz werch, daz er gut vrtailt vnd ist pöz, so tüt er sund, von des wegen daz er tut daz ροζ ist. Vnd ist daz er daz werch nit tut, so tüt er wider sein gewissen die im vrtailt daz gut werck. Vnd also lat er daz gät nach seinem vrtail vnd tut awer sund. Hec Thomas.92
92
Rechtssumme B, Edition, Bd. 2, S. 1152 u. 1154.
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Auch in dieser langen Erklärung zum irrenden Gewissen verhält sich Berthold recht frei zu seiner Vorlage. Der Quellenband weist auf zwei Quaestionen des Johannes über perplexio hin. Die erste erklärt den Begriff der perplexio und empfiehlt die Abwägung der Übel, die als notwendige Folgen der künftigen Entscheidung entstehen. Die zweite geht mit Thomas von Aquin davon aus, daß das irrende Gewissen verpflichtet, und folgert daraus, daß der irrende Mensch perplex ist, denn er sündigt entweder, indem er das Falsche tut, oder, indem er gegen sein Gewissen handelt. Jedoch sei ein solcher Mensch nicht schlechthin perplex, denn er sei darin frei, seine Meinung zu ändern.93 Berthold schildert den Sachverhalt perplexio, jedoch ohne ein Wort dafür einzuführen und die juristischen Schwierigkeiten mit der perplexio94 zu erläutern. Ihm kommt es vor allem darauf an, die Tragweite der Lehre vom irrenden Gewissen zu zeigen. Seine Vorlage setzt ein Bewußtsein davon voraus, Berthold versucht es zu schaffen. Deshalb argumentiert er nicht vom juristischen Begriff aus, sondern vom ethischen. Er übernimmt wie Johannes die Auffassung des Thomas, daß das irrende Gewissen binde, und lehrt mit beiden, daß auch ein Handeln gegen das irrende Gewissen Sünde sei. Der Irrtum entschuldigt die objektiv schlechte Handlung nicht; auch dies ist eine Lehre des Thomas, die bereits berühmte Kanonisten vor Johannes übernommen hatten.93 Die möglichen Auswege sind deshalb für Berthold ein Sollen: Der irrende Mensch soll seinen eigenen Irrtum als solchen erkennen und ablegen oder sich beraten, damit er sich von ihm befreien könne. Die von Bonaventura ausgehende Tradition der Beratungspflicht wird also in einer moderaten, mit der thomistischen Lehre verträglichen Variante mitaufgenommen. Die beiden Gewissensartikel stehen in der 'Rechtssumme' unmittelbar hintereinander. Das Bild vom Gewissen, das sie erzeugen, ist aber ambivalent. Das Gewissen ist für den einzelnen die letztmögliche Entscheidungsinstanz, ihm ist stets zu folgen, selbst wenn es irren sollte. Das Gewissen legt fest, ob der Mensch einem Gesetz folgen solle oder nicht. Aber sollte es doch irren, dann sündigt der Mensch mit Notwendigkeit. Er muß selbstherrlich im Wortsinn sein, sonst kann er das Seinige nicht tun. Aber weil er subjektiv fehlbar ist, fallt das als gut Erkannte nicht auch notwendig mit dem Guten
93
Rechtssumme, Edition, Bd. 6 S. 350-351, entspricht Summa Johannis III, 30, q. 9 und III, 32, q. 19.
94
V g l . SCHENK, P e r p l e x u s .
95
Petrus de Tarantasia und Raymund de Pennaforte, Nachweise vgl. HAMM/ULMSCHNEIDER in: Rechtssumme, Edition, Bd. 6, S. 350-351. Petrus de Tarantasia ist der nachmalige Papst Innozenz IV.
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zusammen. Die Wertordnung bleibt objektiv, die Entscheidung über den Gebrauch und die Aneignung der Werte wird konsequent ins Subjekt gelegt. Das ist im wesentlichen Thomas. Aber in der Lehre vom guten Gewissen gibt es drei Kriterien: Vernunft, göttliches Gebot und das Gesetz der Kirche. Damit wird die Ermächtigimg des Subjektes partiell wieder zurückgenommen. Wer sich für gutes Gewissen am Gesetz der Kirche orientieren soll, im Stande des irrenden Gewissens jedoch gewiß sündigt, ist gehalten, das Gesetz der Kirche zu befolgen, eben damit er nicht irrt. Damit unterstellt Berthold, daß das objektiv Gute und Böse in den Normen des Kirchenrechts adäquat abgebildet sei, wie er auch bei der Erklärung des guten Gewissens die Übereinstimmung mit der heyligen chirchen gesecz als Kriterium angegeben hatte. Es ist aber von hier aus, wohlgemerkt in einem volkssprachlichen Kontext, nur noch ein Schritt, auch diese Voraussetzung aufzuheben und das Kirchenrecht als menschliches Recht zu verstehen, es also der Befragung des Gewissens auf Rechtmäßigkeit zu unterwerfen. Daß Berthold diesen Schritt zwar nicht geht, ihn aber in den Bereich des Erwägenswerten rücken läßt, macht seine historische Einzigartigkeit aus. Die Normenbücher, die sich als Typ noch im späteren 14. Jahrhundert durchsetzen und die das 15. beherrschen werden, nämlich solche nach dem Dekalog als Gliederungsschema, nehmen diese Kühnheit wieder zurück.
VI. Der Gewissensbegriff des 14. Jahrhunderts im Spiegel lateinisch-deutscher Wörterbücher Der Eckhartsche Funke und das vernünftige, aber irrende Gewissen des Thomas - das sind die beiden großen, divergierenden Vorstellungen vom Gewissen, die das 14. Jahrhundert in der deutschen Prosa beherrschen. Um zu sehen, ob sich diese Entwicklung auf der Ebene des Lexikonwissens auswirkt, habe ich in Vokabularen nachgeschlagen, die sich frühestens im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts nachweisen lassen und deren Überlieferung bis ins 15. Jahrhundert reicht, so daß also theoretisch die Möglichkeit bestünde, daß sie die Erträge der Arbeit des 14. Jahrhunderts am Begriff und seiner deutschen Fassung in gewissem, dem Beharrungsvermögen eines Wörterbuches gemäßem Anteil widerspiegeln. Zuerst soll als eine frühe Sammlung die von Gusinde - allerdings gegen die mittelalterliche Tradition deutsch-lateinisch lemmatisiert - publizierte Glossarzusammenstellung des Zisterziensers Konrad vonHeinrichau aus einer Handschrift von 13401 geprüft werden. Sie enthält das 'Abstractum-Glossar', das sich auf theologisch-abstrakten Wortschatz konzentriert und das im 14. und 15. Jahrhundert viel abgeschrieben worden ist.2 Seine Glossen sind nach Grubmüller in Handschriften des beginnenden 14. Jahrhunderts eingegangen, die das lateinische Bibelvokabular des Guilelmus Brito aus dem 13. Jahrhundert überliefern; Grubmüller rechnet deshalb mit der Möglichkeit, daß es das 'Abstractum-Glossar' bereits 1309 gab.3 Ich benutze die Sammlung als Gesamtbestand von Übertragungsmöglichkeiten in der Mitte des 14. Jahrhunderts, also so, wie Konrad von Heinrichau sie angelegt hat, ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu den einzelnen, jeweils auch separat und in anderen Verbünden überlieferten Wörterverzeichnissen.4 Die Entstehungszeit des 'Vocabularius optimus', eines thematisch geordneten Wörterbuchs, legt Bremer auf ca. 1328 fest.5 Jakob Twinger von Königshofen hat sein alphabetisches Wörterbuch, zunächst eine Bearbeitung
1
GUSINDE, Edition: S. 380-400, Datierung: S. 379.
2
V g l . GRUBMÜLLER, V o c a b u l a r i u s , S . 4 9 . V g l . ILLING, V L .
3
GRUBMÜLLER, S . 4 9 - 5 0 .
4
Die Sammlung ist aber auch als ganze überliefert, vgl. GUSINDE, S. 379-380.
5
BREMER, I, S . 7 0 .
Der Gewissensbegriff in lateinisch-deutschen Wörterbüchern
191
von Fritsche Closeners Glossar, mehrmals überarbeitet;6 die zweite Fassung entstand nach Ausweis einiger Handschriften 1390.7 Beim 'Liber ordinis rerum' ('Esse-essencia-Glossar'), dessen Aufbau Schmitt als eine Überlagerung von "sach-systematischen und sprach-systematischen Prinzipien"8 beschreibt, trägt die erste datierte Handschrift die Jahreszahl 1401.9 Vom 'Vocabularius Ex quo', das unter allen konsultierten Vokabularen die höchste Überlieferungsdichte aufweist, stammt die früheste datierte Handschrift von 1410.10 In allen diesen Wörterbüchern habe ich nach conscientia und synderesis gesucht und dabei grundlegende Übereinstimmung bei schlichter Glossierung vermutet. In dieser Annahme fühlte ich mich bestärkt durch Klaus Grubmüllers Aussage "Für die Erforschung der theologischen Fachsprache und ihrer Eindeutschung [...] ist der Vocabularius Ex quo unergiebig. Er vertritt den sprachlichen Durchschnitt im lateinischen wie im deutschen Wortschatz. [...] Deutsche Entsprechungen für diejenigen lateinischen Wörter, die in den Vocabularius Ex quo aufgenommen sind, haben sich in den meisten Fällen schon herausgebildet. [...] Es werden nur die Ergebnisse früherer Bemühungen bereitgestellt."" Der Befund zu den Gewissensvokabeln war erstaunlich. In Gusindes Vokabularsammlung habe ich kein Lemma conscientia entdecken können.12 Nicht erwartet hatte ich nach diesem negativen Ergebnis, den Eintrag synderesis vorzufinden. Es gibt ihn aber, und die deutsche Entsprechung heißt vnvorterplich adilP Daraus schließe ich, daß diese Auswahl auf den Wortschatz der glossa ordinaria Bezug nimmt, die die synderesis schon kennt, aber nicht explizit auf Gewissen und eine möglicherweise dazu bestehende Theorie; das Vulgatawort conscientia, jenseits von theoretischen Entwürfen, ist ebenfalls nicht aufgenommen. Der 'Vocabularius optimus' enthält ebenfalls kein Lemma conscientia, aber glossiert sinderesis.14 Als Interpretamente tauchen auf: himelschiselkraft (auchindenGraphien: himelschiuselkraft, himellischiuselkraffi, himelschesel-
6
Vgl. KIRCHERT/KLEIN Bd. I, S. 69*-79*.
7
KIRCHERT/KLEIN I, S . 4 7 * .
8
SCHMITT, P. (Hg.), Liber, Bd. I, S. VIII. SCHMITT, P. (Hg ), Liber, Bd. I, S. IX. GRUBMÜLLER, Vocabularius, S. 95. GRUBMÜLLER, Vocabularius, S. 73. Das Feld wird am ehesten erreicht mit inlelleclus practicus, das mit zcugrifende vornunß und mit behendekeyt der vornunft glossiert worden ist, GUSINDE, S. 399, und mit discretio, das als besheidenkeit wiedergegeben wird, ebd., S. 381.
9 10 11 12
13
GUSINDE, S . 3 9 7 .
14
BREMER, B d . II, S . 6 3 .
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Der Gewissensbegriff in lateinisch-deutschen Wörterbüchern
kr ä f f t , himmlischeselchrafft); außerdem: himelserkantniß-, himelisch\himelschkraft (auch in der Graphie hymelschukrafi) und himelischestrost.15 Zwei Redaktionen überliefern folgende Definition: [Hec] sinderisis [/-is] est potencia racionalis anime, secundum quam immediate mouetur a deo et appetit res diuinas.16 Das ist schon viel präziser als vnvorterplich adil, auch wenn weder die Definition noch die Interpretamente einen Hinweis auf die Gewissensfunktion der synderesis geben. Immerhin ist sie eine himmlische Seelenkraft, das ist durchaus eine gute Beschreibung der gemeinscholastischen Übereinstimmung über die synderesis; und diese Seelenkraft wird im lateinischen Zusatztext als potentia gefaßt; damit stellt sich der Glossator den Auseinandersetzungen um die Zuordnung der synderesis zu den aristotelischen Beschreibungskategorien Akt, Potez oder Habitus. Der gedankliche Kontext, aus dem die Glosse genommen wurde, kann dann nicht älter sein als aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Die synderesis kann unmittelbar von Gott bewegt werden und das Göttliche unmittelbar erlangen. Das ist nicht sehr genau, aber wohl eine Stellungnahme, die die synderesis eher affektiv denkt (wie Bonaventura, für den die synderesis übrigens auch, wie in den betreffenden Wörterbuchredaktionen, eine potentia ist). Vielleicht soll eine Zuordnung zu diesem Schulstreit auch vermieden werden, und die Redaktoren bemühen sich um eine konsensfahige vorausliegende Definition.17 Jakob Twinger von Königshofen hat in allen drei Überarbeitungsstufen seines Glossars ein Lemma conscientia. Es stammt nicht aus seiner Hauptquelle Fritsche Closener.18 Interessanterweise steht als Interpretament hier consciencie oder mit wissen, parallel zur Glossierung von conscius durch Mit wissen in den Bearbeitungsstufen 1 und 2, durch Mit wisser in der dritten." Nur eine Handschrift glossiert mit gewissen.™ Nun ist, zumindest soweit meine Lektüreerfahrung zum Urteil hinreicht, mitwizzen als Übersetzungswort ganz und gar ungebräuchlich; dagegen begegnet conscientie bei manchen Autoren regelmäßig, z.B. bei Marquard von Lindau.21 Aber es gibt einen
15
BREMER, II, S. 6 3 .
16
Ebd. Ζ. B. könnte man sich einen solchen Versuch vorstellen auf der Grundlage von Dionysius Areopagita De div.nom. VII (über die einander berührenden Naturen in der hierarchischen Weltordnung) und Petrus Lombardus Sent. II 39,3 (über die natürliche Ausrichtung des Menschen zum Guten). KIRCHERT/KLEIN I, S. 345, Erklärung der editorischen Dokumentation des Überlieferungsstatus ebd. S. *131. Ebd.
17
18
19 20
KIRCHERT/KLEIN B d . I. S .
21
Vgl. unten Teil 2, Kap. III 2.
345.
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weit verbreiteten spätmittelalterlichen Text, der tatsächlich von mit wizzen spricht. Die Stelle ist oben schon zitiert worden. Sie heißt Gewissen vnd consciencie ist ain mit wissen der ding die des menschen vrtailt gut oder pöz nach dem götleichen gesecze
redlichait
nnd steht in der 'Rechtssumme' Bruder Bertholds.22 Diese Definition verbindet grammatische Erläuterung, nämlich Aufschluß über die Semantik des lateinischen Wortbildungsmusters, mit Sacherläuterung. Inder 'Rechtssumme' ist ganz eindeutig gewissen das Übersetzungwort, mit wissen die Erläuterung. Twinger scheint nun das Erläuterungswort als Übersetzung vorzuschlagen, möglicherweise um die Polysemie von gewizzenlgewissen zu umgehen und das fnhd. blasse Präfix ge- durch ein nachvollziehbar paralleles zu ersetzen.23 Durchgesetzt hat er sich damit nicht; aber es sieht jedenfalls ganz so aus, als hätte er die 'Rechtssumme' als Autorität über gewissen konsultiert. Wenn das richtig sein sollte, dann ist es kein Zufall, daß Twinger kein Lemma synderesis für nötig hielt; Berthold spricht ja, wie oben gezeigt wurde, auch nicht von der synderesis, sondern verlegt ihre Funktionen kurzerhand zurück in die conscientia. Der 'Liber ordinis rerum' hat kein Lemma synderesis (oder eines in anderer Graphie), und zu consciencia verzeichnet er gotvorfchjtikeyt mit den jeweils in einer Handschrift bezeugten Varianten gotfruchtig, gwissen gotfarchtsamchait, gotforchait, gewissen und gotuorchtig vel gwissen,24 Er blendet eine rational begründete Gewissenskonzeption also weitgehend aus, ja enthält gwissen nur als Nebeninterpretament. Als Hauptbedeutung wird 'Gottesfurcht' angegeben; wenn ich diese Bestimmung inhaltlich ernstnehme, weiß ich noch immer nicht, wohin ich sie stellen soll, jedenfalls kann ich sie mit keinem der scholastischen oder vorscholastischen Autoren in Verbindung bringen, die ich gelesen habe.25 Peter Schmitt wählt gerade dieses Lemma
22
RECHTSSUMME B, Edition, Bd. 2, S. 1150.
23
Vgl. BRENDEL/FRISCH/MOSER/WOLF, S. 4 6 , w o der Z u s a m m e n h a n g (für d e n
24 25
Rechtssummen-Beleg) anders aufgefaßt, nämlich mitwissen auf gewissen bezogen wird: "Der Schreiber verwendet die Konversion des Infinitivs im Verbund mit der Präposition mit um die deutsche Übersetzung zu erläutern und liefert damit auch die morphologische Basis der Präfigierung." SCHMITT, P. (Hg.), Liber, Bd. 1, S. 494. Es gibt zwar eine biblische conturbata conscientia in Sap 17,10 und eine timorata conscientia bei Johannes Nider, vgl. dazu AUER, Α., Trostbücher, S. 282-300. Aber Johannes Nider, der nur einen Spezialfall der conscientia erronea beschreibt, kommt wegen seiner Lebensdaten (um 1382-1438) als Quelle nicht in Frage.
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aus, um zu verdeutlichen, daß Ableitungen von Adjektiven oder Partizipien in dem Wörterbuch bevorzugt so wiedergegeben werden, daß die etymologische Zusammengehörigkeit im Deutschen erhalten bleibt: conscientia got vorchtikeyt, weil es unmittelbar zuvor hieß conscienciosus gothfurchtig,26 Das wäre zwar eine Erklärung, würde aber dennoch bedeuten, daß die Vokabel conscientia im Kontext der Tugendlehre27 nicht als sinntragend begriffen wird.28 Auch die Eckhartsche - oder jede andere - synderesis erscheint dem Glossar als unerheblich, also auch die aus der glossa ordinaria zu Ezechiel. Der 'Vocabularius Ex quo' bietet ein geradezu entgegengesetztes Bild, er übersetzt gerade den rationalen conscientia-Begüff, wie er bei Thomas zugrundeliegt und der im 'Liber ordinis rerum' überhaupt nicht vorkommt. Es heißt unter dem Lemma consciencia·. sanwiczekeit uel vernunfft mit den Gruppenlesarten vernuft; die wißenheit vel vernonfft; gewissn und gewisshait uel Vernunft.29 Das sind, ganz im Gegensatz zum 'Liber ordinis rerum', ausschließlich Wissens- und Verstandesvokabeln. Die Formel conscientia sive ratio gehört Thomas eigentümlich zu; es ist Thomas, für den der conscientiaBegriff endlich entbehrlich wurde, der das Gewissen je später je mehr mit der praktischen Vernunft identifiziert hatte.30 Hier gibt es auch ein Lemma synderesis. Das Hauptinterpretament eyn funcke der sele, et est vis anime hat einen mehrfach überlieferten Zusatz que semper nata est in superioribus naturaliter und weist folgende Gruppenvarianten auf: est superior pars anime, ein funckh der sei uel est maior racio ad faciendum bonum et dimittendum malum·, est vis anime, ein funk der sei (auch mit dem Zusatz: oder vnuerdorbenlich adet)·, dicitur superior pars racionis, scilicet vis anime·, id est vis anime·, est vis anime, que semper nata est in superioribus naturaliter, est
26 27
28
29 30
P. (Hg.), Liber, Bd. 1, S. XCVII. Das Lemma steht im Kapitel 158: De qualitatibus virtutum. SCHMITT, P. (Hg.), Liber, Bd. I, S. 494. Dafür spricht noch eine verstreute Nebenerwähnung. Im Kapitel 222 De actibus vitiosis heißt es zum Lemma sugillare: twingen alz dy conscientia dem sunder thut. Dem liegt der conscie/ifta-Begriff des Origenes zugrunde, das peinigende Gewissen, das in wechselnden Bildern immer wieder übernommen worden ist. Hier bietet eine Handschrift die Variante twingen als dey sunden dey samwissenheit. SCHMITT, P. (Hg.), Liber, Bd. I, S. 684. Samwissenheit ist die lautverschobene Entsprechung für das mnd. häufigste Übersetzungswort samwitticheit für conscientia, Belege bei SCHILLER-LÜBBEN, Bd. 4, S. 22. Nebenbei bemerkt zeigt sich hier eine Inkonsequenz bei der Übertragung für den obendeutschen Gebrauchsraum: Während das Hauptlemma conscientia sprachlich bearbeitet wurde, wurde dieses niederdeutsche Wort vergessen, weil es in der Nebenerklärung steht, und nur lautlich angepaßt. SCHMITT,
Ex QUO, Bd. 2, S. 618. Vgl. HONNEFELDER, conscientia.
Der Gewissensbegriff in lateinisch-deutschen Wörterbüchern
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superior pars rationis, scilicet vis anime mortui. Natürlich befindet man sich hier in der geläufigen Metaphorik von Hieronymus' Ezechielkommentierung {scintilla animae bzw. scintilla conscientiae), also gleichsam am Entstehungsort des Wortes. Aber es ist doch auffallig, daß die deutschen und lateinischen Interpretamente sich inhaltlich ergänzend zueinander verhalten; nicht etwa scintilla anime scilicet vis anime, sondern: einfunkck der sei et est vis anime. Ich gewinne daraus den Eindruck, daß der Seelenfunke schon deutsch geläufig ist, also als Standardinhalt deutscher Texte zum Stichwort synderesis aufgenommen werden kann, während die vis anime in den lateinischen wissenschaftlichen Kontext zurückführt. Die Erläuterung vis animae ist Partei, eigenes Gut des 14. Jahrhunderts, wie ich oben in der Abgrenzung Marquards von Eckhart versucht habe zu erklären: die augustinische Formulierung der Stellungnahme in der visio-beatifica-Debatte, wahrscheinlich in bewußtem Absetzen von Eckhart, der die synderesis gerade nicht als Kraft der Seele (sondern als das Göttliche in der Seele, ihr wesentlich) begriffen wissen wollte. Vor dieser Debatte, noch um die Mitte des 13. Jahrhunderts, war die Bestimmung der synderesis als vis animae in etwa das Unwichtigste, was man von ihr hätte sagen können; davon ging man aus, um in aristotelischen Bahnen genauer zu definieren. 32 Inhaltlich ist ja sogar das alte, offenbar als überkommenes Wörterbuchwissen mittransportierte vnuerdorbenlich adel genauer, wenn es nur darum ging, die glossa ordinaria zur Bibel zur verstehen. Es ergibt erst nach Eckharts und enist niht ein kraft der sele,33 also in einem ganz anderen Kontext, wieder einen Sinn, die synderesis als vis anime zu definieren. Die Einengung auf die ratio in zwei Handschriftengruppen (superior pars rationis) weist auf dominikanische Lehrtradition. 34
31 32
33 34
EX QUO, Bd. 5, S. 691. So heißt es bei Bonaventura In XXXIX Sent. art. 2 q. 1 co.: Respondeo: Dicendum, quod circa distinctionem synderesis ab aliis viribus multiplex est opinio, sicut et circa distinctiones aliarum virium animae. Predigt Q 20a, DW I, S. 333 Z. 2. Für die Franziskanerschule war die synderesis ja an den Willen gebunden. Marquard von Lindau hatte sich, wie oben gezeigt, bei allem Beifall für Eckhart sorgfältig davor gehütet, dessen Bindung der synderesis an den Intellekt zu übernehmen. Thomas zur iwuzgo-Problematik: S.th. I, q. 93, a.7. Zu den theoretischen Polarisierungen STURLESE, Berthold, S. 147-148. STURLESE hat in einem anderen Aufsatz, DERS., Tauler, S. 399-402, nachgewiesen, daß auch Tauler sich kritisch mit Thomas auseinandersetzt und als Ebenbild Gottes nicht die akzidentelle Tätigkeit der Seelenvermögen, sondern (wie Eckhart) den Seelengrund ansetzt. Wie weit die Formulierung superior pars rationis interpretiert werden kann, vermag ich nicht zu entscheiden. Zu den möglichen Horizonten vgl. LARGIER, intellectus. Die scintilla rationis bei Petrus Lombardus II dist. 39 cap. 3 heißt nicht explizit synderesis, sondern ist nur durch die nachfolgende Tradition auf sie
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Das bleiben freilich lateinische Begriffserläuterungen; das deutsche Interpretament ist fiincke der sele35. Es heißt nicht etwa: Funke in der Seele, wie Eckhart glossiert hätte. Weil der fiincke der sele für die synderesis neben vis anime steht, halte ich dafür, daß funcke der sele keinen Näherungswert angeben will, sondern als der in die deutsche Äußerungsform hineinreichende Teil einer theologisch-philosophischen Positionsbestimmung aufzufassen ist, natürlich nicht des Wörterbuches, sondern der für die Belege exzerpierten Autoren. Die Gewissensbegriffe der fünf Vokabularien treten deutlich auseinander. Von einem Gewissensiegn/f im engeren Sinn kann man nur im ' Vocabularius Ex quo' sprechen. Immerhin versucht Twinger eine sachgerechte, wenn auch kurze Bestimmung von conscientia, vielleicht unter dem Einfluß der 'Rechtssumme'. Der 'Vocabularius optimus' wiederum, der conscientia nicht auffuhrt, unternimmt einen ähnlichen Versuch mit dem Lemma synderesis·, seine Glossierung kann als faßliche Kurzbestimmung des hochscholastischen Gemeinguts über den Begriff gelten. Zwei Redaktionen versuchen genauer zu sein, ihre Darlegungen spiegeln wohl am ehesten franziskanische Lehrtradition seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Das 'Abstractum-Glossar' sieht offenbar keinerlei Handlungsbedarf für die Übersetzung von GewissensVokabeln, auch wenn in der Gusindeschen Sammlung die zur Bibelerklärung benötigte synderesis vorkommt. Auch der 'Liber ordinis rerum' ordnet die Welt ohne Gewissen. Es gibt das Wort conscientia, und man übersetzt es irgendwie, aber es spielt keine Rolle.36 Hier fehlt sogar die synderesis in dem einfachen Sinn der Bibelglossierung. Dagegen ist die Gewissenstheorie in Έ χ quo' in ihrer scholastischen Doppelgestalt von synderesis und conscientia präsent, mit Interpretamenten, die eher Auffassungen wiedergeben als nach Übersetzungsmöglichkeiten suchen. Es sind aber Auffassungen, die wie die visio beatifica-Debatte, mit der sie eng verwandt sind - aus einem genuin zweisprachigen Diskurs stammen. Noch am Ende des 14. Jahrhunderts kann man offenbar über die conscientia sehr verschieden denken, auch gar nicht nachdenken, sich zumindest
35 36
bezogen worden, weil er Hieronymus zitiert; das er der Gewährsmann dieser Glossierung ist, halte ich deshalb für unwahrscheinlich. Ex QUO, Bd. 5, S. 691. Es verwundert nun nicht mehr, daß auch discretio für dieses Wörterbuch kein festumschriebener Begriff ist, daß es jedenfalls auf einen solchen für das Deutsche nicht hinsteuert, discrecio und gnauia werden durch gemeinsame Interpretamente erklärt: vorsinnicheyt, versinikeit. Eine Handschrift bietet beschaidenhait für discretio, für gnauia dagegen besinnigkait chunst. Varianten des Interpretaments für beide Lemmata zusammen: wißhait oder fiirsichtikait. SCHMITT, P. (Hg.), Liber, Bd. 1, S. 501.
Der Gewissensbegriff in lateinisch-deutschen Wörterbüchern
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nicht genötigt fühlen, lateinisch längst erörterte Fragen deutsch wiedergeben zu wollen. Ein Wörterbuch muß keinen deutschen Begriff für conscientia vorschlagen oder referieren, der der tatsächlichen Übersetzungsgewohnheit entspricht, oder gar die geläufigen Auffassungen der Lehrer mitliefern. Was einmal glossiert worden ist, bleibt bewahrt, was auch in der Buchkultur sonst mit dem Begriff geschehen mag. Wörterbücher sind extrem konservativ, und so ist nicht das Verschweigen das Auffallige, auch nicht das Festhalten an längst veralteten Sichten auf die Sache zum Lemma. Merkwürdig bleibt vielmehr, daß man dennoch die Diffusion von Gewissenstheorie ins Wörterbuchwissen erkennen kann: bruchstückhaft im 'Vocabularius optimus', klar im 'Vocabularius Ex quo'. Hier kommen die Lemmata conscientia und synderesis gleichermaßen vor, ist die Glossierung in unerwartetem Maße theoriehaltig. Sie spiegelt sogar eine Schicht der Gewissenslehre, die nicht dem Raum von Schule und Universität entstammt. Auf einen deutschen Gewissensbegriff führt erst das deutsch-lateinische Gespräch über die synderesis, das die Resultate der scholastischen conscientia-Erörterungen des 13. Jahrhunderts zusammenbringt mit dem neuen Thema der visio beatifica, weil die imago Dei der traditionellen Begrifflichkeit nun mit der synderesis zusammenfallt. Offenbar wird das Gewissen in diesem Sinne diskutiert. Das heißt, wenn ich den Befund recht deute: Aufnahme in lateinisch-deutsche Wörterbücher findet das Problem des Gewissens nicht schon durch die ständigen Übersetzungsbemühungen der Schulen, nicht einmal durch die Nachbildung scholastischer Gedanken in deutscher Sprache - ich denke etwa an das Baumgarten-Korpus. Den Weg ins Wörterbuch, zu einer gültigen Standardübersetzung und treffenden Sachbestimmung, findet das Gewissen erst, nachdem in deutscher Sprache über den Problemkreis auch inhaltlich mitgesprochen worden ist, zwar nicht zuallererst und nicht allein, aber mit theoretischem Anspruch, nachdem das Gewissen ein in zwei Literaturen, in beider Dialog, verhandeltes Thema geworden war.
Zweiter Teil Deutsche Summen über die zehn Gebote als Ratgeber für das Gewissen
I. Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa 1. Neue Interessen an einem alten Gegenstand Das Bedürfiiis nach Ratgeberbüchern mit dem doppelten Zweck, sowohl fremdes als auch eigenes Handeln als gut oder schlecht, recht oder unrecht beurteilen zu können, entsteht in der Interferenzzone der Kulturen: Es richtet sich auf eine spezifische Buchkultur, aber nicht auf die Buchformen der entsprechenden lateinischen Wissenschaft. Wie die 'Rechtssumme' zeigt, haben solche Bücher dann Erfolg, wenn sie zwar inhaltlich wesentlichen Standards der Quellwissenschaft genügen, aber deren Kenntnis nicht voraussetzen. Sie müssen nichtfachmännische Fragen fachmännisch beantworten können und dürfen dazu nicht voraussetzen, daß der Ratsuchende sich in der fachspezifischen Systematik auskennt, daß ihm die Buchformen des Schulfaches vertraut sind und er die dazugehörigen Findemittel beherrscht. In der Sache fiel das Interesse an diesem neuen Buchtyp mit dem Bedürfnis zusammen, die Kluft zwischen alten Vorschriften und veränderter Lebensweise und Wirtschaftsform zu schließen und vorzuführen, daß auch in den unzähligen Einzelfällen des Alltags, zumal des wirtschaftlichen, so angemessene wie feste juridische und moralische Normen gelten. Nun gehörten die zehn Gebote zum katechetischen Wissen der Laien, so daß sie sich als Textstrukturmuster bestens empfahlen. Sie hatten durch ihre gesamte Tradition sowohl eine juridische als auch eine moralische Dimension, und der sachliche Geltungsbereich der Einzelvorschriften ließ sich sehr weit fassen. Sünden gegen die zehn Gebote galten als Todsünden; insofern hatte der Dekalog bei der Beichtvorbereitung immer eine Rolle gespielt, besaß also bereits einen eigenen Stellenwert im Gefüge der Beratungsinstanzen. In dieser Lage war es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Autoren den Dekalog als Ordnungsschema für Normenbücher erprobten und sich daraus eine eigene Tradition entwickeln konnte. Es gab bereits Schriften über die Gebote, auch im Deutschen. Sie waren in Inhalt und Anlage recht unterschiedlich, denn sie bewegten sich zwischen den Traditionen der volkssprachlichen Elementarkatechese und der lateinischen wissenschaftlichen Exegese. Bei den Möglichkeiten, den Dekalog auszulegen, muß ich noch verweilen, um die eine davon, die mich interessiert - das Normenlexikon für Gewissensfragen - angemessen erklären zu können.
Neue Interessen an einem alten Gegenstand
201
Die Texte haben außer dem ständigen Bezug auf die Gebote in der Abfolge einer der Schriftstellen (Ex 20, Ex 34, Dtn 5)' kaum korpusbildende Gemeinsamkeiten. Nach dem Umfang lassen sich die Erklärungen in drei empirisch relativ gut abgrenzbare Gruppen einteilen: Kurztexte mit minimalen Verständnishilfen, die nur wenig über eine Paraphrase hinausgehen, Texte mittlerer Länge mit mehrere Sätze umfassender Erläuterung zu jedem Gebot und umfängliche Texte, die ihre Erklärungen zu den Geboten unter mehreren verschiedenen Gesichtspunkten darbieten. Inkorporierung in größere Verbände ist grundsätzlich immer möglich und sogar beim umfänglichsten der Texte, der Auslegung des Ulrich von Pottenstein, bezeugt. Selbständigkeit der Auslegungen fällt also als Kriterium aus.2 Der folgende Typisierungsvorschlag versucht deshalb, von Umfang und inneren Textaufbaumustern auszugehen: 1. Die Kurztexte. Sie geben knapp gehaltene Ausführungen zum Gebotsumfang. Diese Ausführungen sind einsträngig gehalten; wenn es Aufzählungen des Zugehörigen gibt, werden diese weder abgeleitet noch in sich untergliedert. Das heißt, es geht um die Grundbedeutung des Gebotes, die affirmativ oder prohibitiv gefaßt sein kann. Der Kern der sittlichen Norm macht den Explikationswert aus, so daß diese Texte mit Recht als katechetische Erklärungen aufgefaßt werden können. Sie sind mitunter so kurz, daß eine Funktion als Hilfe zum verstehenden Memorieren bzw. zum Verstehen des Memorierten naheliegt.3
1
Die Anordnung nach Ex 20 ist die häufigste, wird aber mitunter durch die Formulierungen der anderen Stellen ergänzt. Zur Geschichte des Dekalogs vgl. HOSSFELD.
2
3
Deshalb kann ich mich der von BAUMANN, Bd. 1, S. 128 vorgeschlagenen Untergliederung des Gesamtkorpus der Erklärungen in: "1. Eigenständige Dekalogtexte: Predigt und Traktate, 2. Dekalogauslegungen innerhalb größerer katechetischer Werke, 3. Beichtlehren, 4. Sammlung katechetischer Lehr- und Gebrauchs stücke: Gedichte und Lieder" nicht anschließen. Mir scheint übrigens, daß die Autorin selbst damit in ihrem zweiten und dritten Bereich Mühe hat, vgl. die Einteilung S. 141-190. Auch WEIDENHILLER hat Selbständigkeit als Kriterium benutzt, allerdings von einem anderen Standpunkt: Ihm war Inkorporierung der Nonnalfall, Einzelüberlieferung die Ausnahme, vgl. DERS., S. 213. Ich versuche, die Gruppe zu umgrenzen. Ein Text aus cgm 121 im Verbund mehrerer katechetischer Stücke ist abgedruckt bei WEIDENHILLER, S. 46-48. Ein anderes typisches Beispiel in WERLIN, S. 142-146. Parallelüberlieferung: Nürnberg StB Cent VII 42 fol. 4 v - l l v (Abbruch im 10. Gebot), Nürnberg StB Cent VI 55 fol. 291v-197r (Abbruch im 10. Gebot, aber nicht an gleicher Stelle wie Cent VII42). In diese Gruppe würde ich aus WEIDENHILLERS Zusammenstellung ferner setzen: den Dekalogteil aus seiner Nr. 2, Text S. 67f.; das 5. Kapitel des 'Confessionale' (deutscher Teil), vgl. WEIDENHILLER, S. 112f.; cgm 5241 fol. 2v-4v,
202
D e r W e g v o n der D e k a l o g a u s l e g u n g z u r S u m m a
2. Die Texte mittlerer Länge. Sie unterscheiden sich von den Kurztexten durch explikative Bemühung, die über Paraphrase der Hauptbedeutung des Gebotes hinausgeht. Diese Bemühung wird gekennzeichnet durch den weiteren Umfang der Additionen von subsumierbaren Normen und durch Bezüge und Verweisstrukturen in deren Darbietung. Im Gegensatz zu den Kurzauslegungen nehmen die Texte explizit Bezug auf theologische und kanonistische Autoritäten und Vorbilder, allerdings kaum in einem speziellen Sinn, sondern eher in einem Schritt vom gänzlich herrenlosen Gemeingut zum Gemeingut mit vage umgrenztem Gedächtnisort. In der Unterscheidung von den Kurztexten fallen also der quantitative und mehrere qualitative Aspekte zusammen. Zur Abgrenzung gegen die Großtraktate ist der Umfang nur ein Hilfskriterium, das jedoch mit dem Kern der Sache zu tun hat: Die Texte der mittleren Ebene behandeln den Dekalog als eine Norm christlichen Lebens neben anderen, ihre Zuordnungen bleiben also relativ direkt (unter der unausgesprochenen Voraussetzung, daß nichterfaßte Normative mit anderen Texten belegt und möglicherweise in einem anderen Teil desselben Textverbundes abgehandelt werden können). Innerhalb dieser Gruppe kann man verschiedene Arten der Textorganisation bemerken. Die erste arbeitet bevorzugt mit numerierten Reihungen auf gleicher Ebene, die zweite mit dem Rudiment einer scholastischen Disposition und Durchführung. Deshalb findet sich die erste4 bevorzugt in größeren Korpora, 5 aber nicht nur dort6 und nicht so, daß
S. 33, vgl. BERG, S. 231. Zur Ergänzung ohne den Anspruch auf Vollständigkeit: Zürich ZB Cod. C 95 (1409), fol. lr-5v, Inc.: Dis sint die X gebott mit der glos. Ihesus cristus ist ein widerbringer...; ferner Heidelberg UB Pal. germ. 567, fol. 21rb-22ra, vgl. SCHWAB, S. 35; Dekalogerklärung des Johannes von Iglau, Leipzig UB Cod. 758 fol. 154r-158r, Wien NB Cod. 1646 fol. 2vb-5v, Wien NB Cod. 2956 fol. 118v-123v (mit abweichendem Schluß), Inc: Di czehen gebot di got selber gab moysi geschriben mit gotes vinger, Dekalogerklärung in Versen (dazu am Rand lateinische Exempla und vorangestellt lateinische Auslegung des deutschen Textes) Leipzig UB Cod. 158, fol. 135r-136r, Inc.: hoff vnd ere sy dy almechtigen gode. Hier bin ich mit BAUMANN, Bd. 1, S. 128 einer Auffassung. Ich versuche wiederum, den Textbereich zu umschreiben. Hierher gehören für mich: die Dekalogteile aus dem 'Gewissensspiegel' Martins von Amberg (ed. WERBOW); aus der 'Himmelsstraße' des Stephan von Landskron (ed. JASPERS), aus dem 'Christenspiegel' des Dietrich Coelde (Druck: GEFFCKEN, Sp. 150-56; Ausgabe: Kolde ed. DREES 1954) und dem 'Spiegel des Sünders' (ed. v.d. BROEK 1976); ferner das Beichtbüchlein (nach dem Dekalog) aus der 'Christenlehre' des WEIDENHILLER,
4 5
T h o m a s P e u n t n e r , v g l . SCHNELL, L i e b h a b u n g , S . 1 4 , u. BAUMANN, B d . 1, S .
169.
Neue Interessen an einem alten Gegenstand
203
die Einbettung über die Zuordnung in diese Gruppe entscheiden würde. Die zweite Art der Textorganisation geht dagegen auf lateinische Vorlagen so zurück, daß man den Einfluß auf die Textanlage noch wahrnimmt, aber nicht als dominierend empfindet. 7 3. Umfängliche Normdarstellungen, die jedes Gebot unter mehreren Gesichtspunkten darstellen. Hier gibt es deutliche Präferenzen nach Erbauungs- oder Belehrungsfunktion, die sich im Textaufbau widerspiegeln. Die Gruppendominante bleibt, aufs Ganze gesehen, Belehrung. Bei solchen Texten ist Einzelüberlieferung häufig, Inkorporierung in größere Verbände kommt vor, wirkt aber in der Regel nicht monosemierend hinsichtlich des funktionalen Bezugs der Inhalte. Scholastische Gliederungsund Darstellungsgewohnheiten sind hier deutlich zu fassen. Die Abgrenzung gegenüber dem zweiten Untertyp der zweiten Gruppe (mit resthaften scholastischen Strukturen) ist bei umfänglicheren Texten nur durch eingehendes Studium des Textaufbaus und der Inhalte möglich; der unterscheidende Punkt ist, daß der Dekalog in solchen Großdarstellungen als Muster und Auffangform für Normen schlechthin betrachtet wird, so daß die Autoren sich bemühen, möglichst viele Inhalte mit normativer Relevanz in die Auslegung einzuarbeiten, und zwar nicht nur solche, die zum Bestand katechetischen und religionspraktischen Wissens gehören. 8
6
7
8
So würde ich cgm 432 fol. 280v-301r (WEIDENHILLER, Nr. 8, S. 234, BERG, S. 209, BAUMANN, Bd. 1, S. 132) hierher stellen, eine Auslegung, die keine Tugendlehre ist (so WEIDENHILLER ebd.), sondern eine solche nur in die ersten drei Gebote zur Verstärkung der präskriptiven Normelemente einbaut. Auch der von DANIELS, S. 48-67, abgedruckte Text gehört hierher, ebenso wie Gotha Forschungsbibl. Chart. Β 237, fol. 103r-105v; Inc.: Von den czehen geholten cristi. Das Erste gebot ist dü ensalt nit hain dan einen got du soll nil sonnen nach manen noch engele... Nüw ist zcu wüßen, das an beden eine ere ist.... Hierher würde ich stellen: Die Dekalogerklärung (im Unterschied zum Beichtbüchlein) aus der 'Christenlehre' des Thomas Peuntner, vgl. SCHNELL, Liebhabung, S. 14 und BAUMANN, Bd. 1, S. 145f.; die nd. Bearbeitung der Auslegung Heinrichs von Friemar, vgl. WARNOCK VL, Sp. 736; die Credo- und Dekalogauslegung in Göttingen, UB, Cod. theol. 201, fol. 6r- 57r (Anfang Dekalogteil fol. 12r). Hierher rechne ich: Ulrichs von Pottenstein Dekalogerklärung; die des Marquard von Lindau; die obd. Bearbeitung Heinrichs von Friemar, beide von Karin BAUMANN edierte Texte, also nicht nur die Nikolausbearbeitung BAUMANN, Bd. 2, S. 495-600, sondern auch die deutsche 'Summa de decern praeceptis decalogi' des Hieronymus Posser in Bd. 2, S. 681-831, die sie nicht als diesen Text erkannt hat. Zuschreibung, Vorlage, Parallelüberlieferung: HAYER, Posser, S. 210. Die überwiegend lateinische Großauslegung Possers, die in Wien NB zwei Codices füllt (3632 und 4967 bis 189r, fortlaufend von gleicher Hand), enthält ebenfalls deutsche Anteile und wäre mitzuuntersuchen. In diese Gruppe sind auch die
204
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
Wegen dieser unterschiedlichen Gestalten und Funktionen, die mit ihrer vielfachen literarischen Herkunft zusammenhängen, sind die Dekalogauslegungen in den beschreibenden Wissenschaften auch sehr unterschiedlich aufgefaßt worden. Dekalogauslegungen handeln selbstverständlich über die Gebote und gehören insofern in die Tradition der katechetischen Literatur seit ältester Zeit. Dieser Forschungsaspekt, Dekalogerklärungen im Rahmen katechetischer Literatur zu erhellen, hat bereits eine längere Geschichte.® Doch wenn Darstellungen wie die von Geffcken oder Weidenhiller, die die Dekalogtexte als katechetische Stücke begreifen, das plötzliche Auftreten und rasche Blühen der Textgruppe im 14. und 15. Jahrhundert konstatieren müssen, ohne es eigentlich erklären zu können, 10 so sollte man überdenken, ob Texte, die den Dekalog in der Volkssprache auslegen, auch in dieser Zeit zwangsläufig katechetische Traktate sein müssen. Ulrich von Pottenstein (geb. um 1360, gest. 1416 oder 1417)" hat im Rahmen eines "Riesenkatechismus" 12 auch
deutschen Dekalogpredigten des Johannes Nider (die original deutsch konzipiert sind und nicht im Sinne einer eigenen Übersetzung von der lateinischen Dekalogerklärung abhängen) zu stellen, vgl. dazu BRAND, S. 206-208, S. 233-239 über die Nider-Sammlungen Berlin SBPK mgq 1593 und München Bayer. Staatsb. cgm 3891. Überlieferung der lateinischen Dekalogauslegung Niders: STEGMÜLLER RB 7832, BLOOMFIELD u.a. 1488. Die deutsche Überlieferung des Hendrik Herp, der wie Nider ein umfängliches Buch über den Dekalog geschrieben hat, ist noch nicht ausreichend erforscht; ich rechne hier mit Erweiterungen. Zum Forschungss t a n d z u H e r p v g l . FREIENHAGEN-BAUMGARDT. 9
Die ersten Arbeiten über katechetische Schriften des Spätmittelalters in deutscher Sprache betonten die theologischen Aspekte; die Untersuchungen von FALK, HASAK, GEFFCKEN u n d BAHLMANN e r ö f f n e t e n , i n d e m s i e H a n d s c h r i f t e n f u n d e
10
11 12
oder frühe Drucke vorstellten, den Blick auf die bis dahin unbeachtete Gruppe von Texten in deutscher Schriftlichkeit. WEIDENHILLER setzt mit seinem Überblick und dem Bemühen, neue Texte allererst vorzustellen, hier an. GEFFCKENS Arbeit war von vornherein auf die spätmittelalterlichen Formen der Auslegungen gerichtet; der publizierte erste Band über die Dekalogauslegungen sollte, wie der Titel ausweist, ursprünglich eine größere Studie über katechetische Formen des Spätmittelalters einleiten, die allerdings nicht mehr zustandegekommen ist. Die Frage, warum die Dekalogtraktate dieser Zeit kaum etwas mit früheren gemein haben, lag nicht in GEFFCKENS Sichtfeld. - WEIDENHILLER stellt S. 19 fest: "Die zehn Gebote als sittliche Normen traten erst im Verlauf des Mittelalters stärker in den Vordergrund, vor allem als Grundlage des Beichtspiegels. Aber erst einmal aufgenommen, wurde der Dekalog sehr schnell das eigentliche Formular für die christliche Sittenlehre, das alle anderen Gebote in sich vereinigte." Lebenszeugnisse: Ulrich von Pottenstein ed. BAPTIST-HLAWATSCH, S. 1*-12*. Das ist eine Bezeichnung von Georg STEER, Laie als Anreger, S. 357.
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Neue Interessen an einem alten Gegenstand
eine sehr umfängliche Dekalogerklärung13 geschrieben. Christoph Burger fand dort Beispiele dafür, daß unter dem Ordnungsschema 'Dekalog' Wissen angeboten werden kann, das mit Religionspraxis nur sehr vermittelt zu tun hat: längere, dogmatisch relevante Erörterungen über Schwierigkeiten der Schöpfungslehre (Folgerungen aus der creatio ex nihilo, Überzeitlichkeit des fiat) und eine Erklärung der Trinität (als Ausdruck von übergeschöpflicher Vollkommenheit von essentia und natura).14 Auch Heinrich von Friemar hat in seine lateinische Dekalogerklärung verschiedenste Inhalte aufgenommen: Unter welchen Umständen ein Hehler welchen Anteil der Beute zu erstatten habe15 und wie mit der Eifersucht gegenüber der Ehefrau umzugehen sei16, ist ebenfalls allenfalls mittelbar an Glaubenswissen anzuknüpfen. Gerade diese inhaltliche Dehnbarkeit, die Dekalogerklärungen seit dem 14. Jahrhundert annehmen können, ist jedoch allein aus der Tradition von Katechese nicht zu erklären. Die vorausgehende Tradition der Auslegung läßt sich allerdings nicht klar von Katechese trennen, zumindest ist in der Volkssprache der Übergang fließend. Das liegt daran, daß die Gebote - anders als das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser - für die Mission im frühen Mittelalter fast keine Rolle gespielt haben.17 Die Gebote gewinnen in der Scholastik gleichzeitig mit dem Naturrechtsgedanken (mit der Frage, wie sich die Typen von Gesetzen zueinander verhalten) an Interesse18 und werden im Zuge der Installierung der Beichtpflicht zum wichtigen literarischen Gegenstand.19 Texte, die Bezug
13
14 15 16
Untersucht: BAPTIST-HLAWATSCH, Werk. Inzwischen ist (1995) der erste Band der Edition (das erste Gebot umfassend) erschienen: Ulrich von Pottenstein ed. BAPTIST-HLAWATSCH. Georg STEER gibt in seinem Vorwort ebd., S. V-VII, hier S. VI den voraussichtlichen Umfang der Gesamtausgabe mit 3 Bänden an. Der vorliegende erste hat schon mehr als 700 Seiten. BURGER, Theologie, S. 408. Clm 8151, fol. 44r/44v. Clm 8151, fol. 38r.
17
V g l . BÜRKLI, S . 6 0 - 6 1 , W E N Z , S . 4 0 6 - 4 0 7 , WEIDENHILLER, S .
18
Vgl. SPECHT, Naturrecht, S. 89-94. Gerade als eigenständiges Thema werden die Gebote, soweit ich es bis jetzt übersehe, auch im Lateinischen erst im 13. Jahrhundert interessant. Am Anfang meiner Beschäftigung mit Auslegungen habe ich auch die lateinische Überlieferung von Dekalogtrakaten mitgesammelt. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, weil ich zeitig einsehen mußte, daß ich einer so breit angelegten Studie nicht gewachsen sein würde; von dem aber, was ich zusammengetragen hatte, stammt der überwiegende Teil der Texte erst aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Zum gleichen Ergebnis kommt man viel weniger aufwendig durch die Prüfung der Indices von Migne PL. Die frühe einläßliche Behandlung der Gebote durch Hugo von St. Victor steht in seiner Sakramentenschrift (De sacr. lib. I pars III cap. 6-8)
19
19.
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Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
auf die Gebote nehmen, entstehen aus beiden Konstellationen, zuerst lateinisch. Die frühe, franziskanisch geprägte geistliche Prosa im Deutschen im 13. Jahrhundert befaßt sich überwiegend mit dem Lebensbild des Menschen in religiösen Gemeinschaften. Von diesem Standpunkt erscheinen die Gebote als Minimalnorm, die für die angestrebte Lebensform zu schwach ist und deshalb zwar vorausgesetzt, aber nicht eigens problematisiert wird. Im 'Baumgarten'-Korpus heißt es dazu: Div erfulunge div ist zwivalt. Div ein ist der noturfl, div ander ist der vollechomenheit. Div erfulunge der noturft, daz ist div, die ein iegelich mensch muz haben, der et behalten wil werden; daz ist div behaltnusse der gebot. Aber div erfullunge der volchomenheit daz sint die raet [...] Aber den selben raeten ist niemen gebunden, wan di si willechlichen geheizent, als geistlich lüt.2a
Die Predigt Bertholds von Regensburg über die Gebote21 ist für diese Zeit in der deutschen Literatur nicht die Regel, sondern die Ausnahme. In breiterem Maße kommen Gebotsauslegungen erst im 14. Jahrhundert ins Deutsche, 22 gleichzeitig in verschiedenen Formen und mit verschiedenen Zwecken. Dehalb vermerkt Weidenhiller: "Der Umfang der deutschen Erklärungen reicht von einzelnen Merkversen bis zu ausführlichen Traktaten". 23 Diese Feststellung sagt indirekt etwas über den Grad der Anreicherung mit Wissensinhalten aus exegetischer Tradition aus, denn selbstverständlich kann eine kurze, paraphrasierende Wiedergabe, die nur dem Verständnis des Gebotes dient, kaum theologisches und kanonistisches Wissen darbieten; dafür bietet erst eine größere Ausführlichkeit überhaupt Raum. Es entsteht also zum einen elementare Katechese, wie sie seit dem frühen Mittelalter geübt worden ist: einfache Gebotsparaphrasen, die häufig gereimt werden, um das Memorieren
und in der Schrift De substantia dilectionis, ist aber in dieser Zusammensetzung auch separat überliefert, vgl. BLOOMFIELD u.a. Nr. 0 5 1 4 (Druck: P L 176, Sp. 913, 176, 3 5 2 - 3 6 1 ) . STEGMÜLLER RB 3 8 0 0 . Viel benutzt worden ist auch die Pseudoaugustinschrift über die Gebote mit dem Incipit Sapiens est qui seit dampnum suum praeeavere, sie ist auch auf Pergament geschrieben worden, was bei katechetischer Literatur die Ausnahme ist: clm 2 7 4 9 4 fol. lra-9vb. Übrige Überlieferung: BLOOMFIELD u.a. Nr. 5276 und KURZ, Überlieferung S. 80. Bonaventura und Thomas haben selbständige Schriften über die Gebote verfaßt: Bonaventura Opera Quaracchi Bd. 5, S. 507-532: Collationes de decern praeceptis\ Thomas ed. Parma Bd. 16 S. 9 - 1 2 2 : In duo praeeepta caritatis et in decern legis praeeepta expositio. 20
UNGER, S. 3 1 2 .
21
Berthold v o n R e g e n s b u r g ed. PFEIFFER/STROBL/RUH, Bd. 1, S. 2 6 4 - 2 8 8 .
22
V g l . WERLIN, S. 1 3 2 , STAMMLER, P r o s a , Sp. 8 4 8 .
23
WEIDENHILLER, S. 2 2 9 .
Neue Interessen an einem alten Gegenstand
207
zu erleichtern.24 Für jede Art von Auslegung der Gebote ist in der Volkssprache der Bezug zur Beichte das zentrale Übernahmekriterium. Deshalb stellt Weidenhiller Überschneidungen mit Beichtspiegeln fest (die aber ihrerseits auch nach den Sünden organisiert sein konnten): "Verschiedentlich sind Beichttraktate von Erklärungen des Dekalogs nur schwer zu trennen, weil ja letztere eben zum Zwecke der Beichte verfaßt wurden. "25 Diese Überschneidung kann nur dann Zustandekommen, wenn die Gebote auch ausgelegt werden. Für das Ineinander von Auslegung und reiner Katechese gilt auch beim Dekalog, was Bernd Adam in seiner Arbeit über Vaterunsererklärungen festgestellt hat: Das ausgehende 13. Jahrhundert markiere "den Abschluß einer Entwicklung der Vaterunserauslegung, die als katechetischer Typus ihre Möglichkeit inhaltlich und methodisch abgeschritten"26 habe. Die spezifische Bindung deutscher Dekalogerklärungen an die Beichte als ihren 'Sitz im Leben' bringt es aber mit sich, daß die Auslegungen zum Text nicht in der Sphäre der Theologie bleiben, obgleich sie auch hier - etwa bei Thomas von Aquin - Vorbilder finden, obgleich sie, wie ich unten an drei Beispielen zeigen werde, diese Vorbilder auch benutzen. Natürlich entsteht, wenn Gebotsauslegungen vornehmlich theologisches Gut aufnehmen, auch der Zug zum Erbaulichen, den Adam für die Vaterunsererklärungen als das Charakteristikum der neuen, nicht mehr katechetischen Auslegungen des 14. und 15. Jahrhunderts ansieht.27 Deshalb hat Margarete Schmitt den nach den Geboten gegliederten 'Großen Seelentrost' als Erbauungsbuch behandelt,28
24
Reine Paraphrasen in metrischer Bindung, häufig mit Reim, die sogenannten Dekaloggedichte, gibt es in großer Zahl. Sie sind nicht eigentlich zu den Erklärungen zu rechnen, werden hier aber wegen ihrer Verwandtschaft mit den Kurztexten erwähnt. Z u d e n bei WEIDENHILLER, S . 1 9 0 - 1 9 3 , v o r g e s t e l l t e n Stük-
ken ist unter den Münchner Beständen das aus dem sogenannten Reimkatechismus aus cgm 771 zu setzen: Georg SCHREINER, Ein mittelalterlicher Reimkatechismus, in: Katechetische Blätter Bd. 4 2 ( N . F . Bd. 17), 1 9 1 6 , S. 9 - 1 3 , S. 4 4 - 4 7 , S . 6 8 -
74. Dekaloggedichte habe ich nicht systematisch gesammelt. Ich gebe die Druckorte einiger Beispiele: Ph. WACKERNAGEL, Das deutsche Kirchenlied, Bd. 2, Leipzig 1867, S. 50, Nr. 58; Willem de VREESE, Dil sijn de X gheboden ons Heeren, in: Tijdschrift voor Taal- en Letterkunde 14 (1895), S. 181; Gustav SCHMIDT, Niederdeutsches in Handschriften der Gymnasialbibliothek zu Halberstadt, in: N d . Jb. Bd. 2 ( 1 8 7 6 ) , S. 2 7 - 3 3 , hier S. 3 0 - 3 1 ; PRIEBSCH, British M u s . ,
S. 1 2 0 , S. 1 2 7 . 25
WEIDENHILLER, S . 2 2 9 .
26
ADAM, S . 2 2 .
27
ADAM, S . 2 2 .
28
SCHMITT, M., Seelentrost. Im 'Großen Seelentrost' werden vorrangig Exempla gereiht und den Geboten zugeordnet. Das ist schon nicht mehr Auslegung, aber es setzt Auslegung voraus: Ohne eine "Exegese im Kopf", das heißt ohne ein Bewußtsein darüber, welche menschlichen Eigenschaften und Konstellationen unter
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Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
Jacobus Willem van Maren reiht seine Edition der Dekalogerklärung Marquards in die 'Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit' ein. 29 Aber der Dekalog selbst ist ein Gesetzestext für ein Leben ohne Todsünde, und so bot es sich an, zusätzlich auf diejenige Tradition zurückzugreifen, die in der lateinischen Wissenschaft Gesetze unter dem Aspekt der Sünde darstellte: auf die kanonistischen Summen. Diese Anknüpfung ist gerade von philologischen Bearbeitern, die auch nach den Quellen fragen, gesehen worden; nachdem schon Ruh in einem allgemeineren Sinn von 'Summen' gesprochen hat, wofür ihm 'Rechtssumme' und das 'Buch der Tugenden' als reihenbildende Beispiele dienen, 30 nennt
29
30
einem Gebot verhandelt werden sollen, ist eine solche Zuordnung nicht möglich. Gleichzeitig wird dieser Zwischenschritt der "Exegese im Kopf" durch den endlich präsentierten Text aber wieder unfest in seinen Konturen, denn es liegt im Wesen erzählter Handlungsmuster, daß sie sich nicht nur einem Stichwort zuordnen lassen, daß der Rezipient in der Zusammenstellung der Exempla zwar mehr hat als die Auslegung, nämlich einen Raum menschlicher Grunderfahrungen, aber auch weniger als die Auslegung, indem sich nämlich dieser Raum der Rückprojektion auf Linearität, auf feste Begrifflichkeit und die festen, fortschreitenden Einheiten eines Grundtextes, entzieht. Der 'Große Seelentrost' stellt sich unter diesem Gesichtspunkt als die Exempelauflösung einer Auslegung dar, die selbst nicht mehr faßbar ist. Das heißt für die Organisation des Textes nach der Abfolge der Gebote, daß die Ordnung vorab vorgenommen wurde, nach Prinzipien, die der Rezipient nicht vollständig umkehren kann, um gezielt zu suchen, ja daß diese Prinzipien selbst nicht völlig durchschaubar sind. Die einsträngige und unfeste Zuordnung kann so einen Verstehenshorizont eröffnen, aber nur gleichsam tentativ; der Rezipient ist zwar zum Nach-Denken und Meditieren eingeladen, aber keine Auslegungstradition, die einer etablierten Wissenschaft angehört, stützt den Versuch in einem Maße, daß die Auslegung die Verbindlichkeit einer Norm zweiter Ordnung im Gefolge einer normierenden Texttradition beanspruchen könnte. Für den belehrenden Aspekt von Dekalogexegese bedeutet das, daß die Vermittlung von Glaubenswissen im Text gegenüber einem durch Tradition, aber nicht durch Institutionen gefestigten Verwendungswissen zurücktritt: So gilt der 'Seelentrost' ganz zu recht nicht als ein katechetisches, sondern ein Erbauungsbuch, und das bedeutet nichts anderes, als daß sich jene Norm zweiter Ordnung, die Auslegungen von kanonischen Texten kennzeichnet, nicht in der institutionell geregelten Beziehung zu schriftlichen Vorläufern, sondern in der einzelnen Beziehung des Lesenden zum Auslegungsvorschlag herstellt. Van MAREN folgt aber in den Untersuchungen allein dem von Oskar REICHMANN angeregten Profil der Reihe, vorrangig nach sprachgeschichtlichen Kriterien zu analysieren. Van MAREN hat mit seinem zweiten Versuch zur Edition der Dekalogauslegung (van MAREN, Marquard Druck 1483) auf Kritiken an dem ersten Buch (van MAREN, Marquard Druck 1516) reagiert. Zur weitgespannten Marquard-Forschung vgl. die Abschnitte Teil 1, Kap. IV 4 und Teil 2, Kap. III in meiner Untersuchung. RUH, Versuch, S. 320.
Neue Interessen an einem alten Gegenstand
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auch Georg Steer Ulrichs von Pottenstein Auslegungssammlung "das größte Summenwerk des deutschen Mittelalters".31 Ulrichs Text ist nach dem Muster der Summe des Hostiensis und des Raymund von Pennaforte mit einem umfänglichen alphabetischen Register ausgestattet,32 er taugt also zum Nachschlagewerk.33 Seine Quellen sind die 'Summa de vitiis et virtutibus' des Guilelmus Peraldus, das Decretum Gratiani und eine Textsammlung nach Thomas von Aquin.34 Ulrichs Werk ist eine Überbietung des Typs. Es vereinigt mehrere Inhalte und in sich geschlossene Textmuster, die auch einzeln in Beratungsliteratur anzutreffen sind.35 Seine spezifische Auslegungsweise entsteht aus einer Verschwisterung von Theologie und Kanonistik, wie sie auch aus der 'Rechtssumme' bekannt ist. Darin ist es sehr konsequent, aber nicht singulär: Christoph Burger hat Ulrichs Dekalogerklärung, die Auslegung des Marquard von Lindau und die des Johannes Gerson mit herangezogen, als er die Verwandlung der Wissensform beim Übergang theologischer Unterweisung in die Volkssprache untersucht hat.36 Die Gemeinsamkeit, die er dabei feststellt, nämlich die Zuordnung sehr disparater Inhalte zu heilsrelevantem Wissen, erklärt er im Anschluß an Hamm aus dem Bedürfiiis nach Heilsgewißheit.37 Das ist sicher richtig, aber die Anleihen bei der Kanonistik zielen auch auf Rechtsgewißheit, zuerst im geistlichen Sinne desforum internum, in abgeleiteter Hinsicht auch im weltlichen Sinn, weil eine Orientierung an der strengeren Norm des Kirchenrechts weltliche Unsträflichkeit auch bei wechselnder positiver Gesetzlichkeit erwarten lassen kann. Die Auffassung, daß Heilsgewißheit und Rechtsgewißheit einen gemeinsamen Kern haben, scheint mir für die Textgruppe charakteristisch; das ist wegen ihrer Anbindung an das forum internum zwar nicht anders zu erwarten, hat aber Konsequenzen für ihre Art, Normativität zu interpretieren und Normen zu vermitteln. In einem übergreifend geschichtlichen Sinn gehören alle spätmittelalterlichen Gebotsauslegungen in den Kontext einer Untersuchung über den Gewissensbegriff und seine literarische Gestaltung, weil ihre Art der Normie-
31 32 33
34
35
Vorwort zu: Ulrich von Pottenstein ed. BAPTIST-HLAWATSCH, S. V. Vgl. Ulrich von Pottenstein ed. BAPTIST-HLAWATSCH, S. 18. Deshalb schreibt die Herausgeberin: "Ulrichs Auslegung ist nicht wie ein inhaltlich geschlossener Text zu lesen, sondern eher als eine Art Nachschlagewerk zu benutzen, das dem Leser weite Gebiete des christlichen Glaubens und religiösen Lebens aufschlüsselt." Ulrich von Pottenstein ed. BAPTIST-HLAWATSCH, S. 18*. So die Ergebnisse von G. BAPTIST-HLAWATSCH in ihrer Pottenstein-Edition (Ulrich von Pottenstein ed. BAPTIST-HLAWATSCH, S. 29*). Ulrich von Pottenstein ed. BAPTIST-HLAWATSCH S. 28*-32.*
36
BURGER, T h e o l o g i e .
37
BURGER, Theologie, S. 405 unter Berufung auf Β. HAMM, Frömmigkeit.
210
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
rung an die Abfragesituation der Beichte anknüpft. Insofern stellt jeder, der die Gebote auslegt, sie als eine Norm für das Gewissen dar. Diese Feststellung arbeitet aber, so richtig sie im übrigen ist, mit einem resultativen Gewissensbegriff: Sie unterstellt eine synchrone Dominanz derjenigen Auffassung von sittlichem Selbstbewußtsein, die sich historisch durchgesetzt hat, also ein Anfangs-Modell von Gewissen. Zur zeitgenössischen Diskussion über das Gewissen, über die sittlichen Fähigkeiten und das sittliche Urteil des Menschen gehören jedoch, gemessen an faßbaren Indizien, nur die Großtraktate und einige scholastisch disponierte Auslegungen mittlerer Länge. Das hat mit dem Textumfang nur beiläufig zu tun; wesentlich liegt es daran, daß nur diese Texte versuchen, die Denkstrukturen nachzubilden beziehungsweise zur Benutzung bereitzulegen, die in der scholastischen Ethik der Tätigkeit des Gewissens zugeschrieben werden. Deshalb kann man nur von diesen Büchern mit Sicherheit behaupten, daß sie nicht nur im Sinne einer nachzeitigen Begriffsbildung zur Geschichte des Gewissens gehören, sondern auch im Verständnis der Zeitgenossen über die Tätigkeit des Gewissens handelten. Wenn man denselben Sachverhalt unter dem Blickwinkel der literarischen Vorbilder ansieht, kommt man zu dem Ergebnis: Diejenigen Dekalogerklärungen knüpfen explizit an die Lehre vom Gewissen an und versuchen Gewissensakte zu lehren, die ihre Formvorbilder unter den lateinischen Summen, besonders unter den summae confessorum und summae de casibus conscientiae suchen. Das ist jedoch kein rein äußerlicher Akt; damit ist ein Anspruch verbunden. Daß der Dekalog - und nicht nur Sentenzen und Kanones - zu den theologisch anspruchsvollen Auslegungsgegenständen zählen kann, ist durch sekundäre Zeugnisse belegbar. Volker Honemann hat einen kurz vor 1400 entstandenen, dem Gerard Zerbold van Zutphen zugeschriebenen Traktat ausgewertet, der diese Sicht paradigmatisch vorführt: 'De libris teutonicalibus'.38 Er bemerkt in diesem Zusammenhang, bei der Zusammenfassung dessen, was Laien (im Sinne von nichtprofessionellen Interpreten von Schrift und Lehrern) lesen, sei es im Traktat "gleichgültig, ob übersetzt oder original so abgefaßt".39 Der Traktat geht in den erwähnten Textgruppen offenkundig davon aus, daß selbst schwierige Inhalte lateinischer Theologie bereits deutsch verhandelt wurden und werden. In 'De libris teutonicalibus' wird der Dekalog unter die materie difficillime gezählt, er gilt dort als komplizierter Gegenstand
38
39
HONEMANN, Laie als Leser; Gesamtinterpretation in DERS., De libris. Datierung DERS., Laie als Leser, S. 241. Edition: HYMA. HONEMANN, Laie als Leser, S. 245; zum Laienbegriff S. 244f.
Neue Interessen an einem alten Gegenstand
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wie die Menschheit und Gottheit Christi.40 Klaus Schreiner weist darauf hin, daß in den zahlreichen Warnungen spätmittelalterlicher Autoren vor Übertragung von Bibeltext und theologischem Schrifttum in die Volkssprache einerseits der Dekalog regelmäßig ausgenommen wird, weil er heilsnotwendiges Wissen enthält,41 und daß gleichzeitig anderseits nach der Aussage ebendieser warnenden Quellen das Bedürfnis von Laien nach theologischem Wissen,42 das elementare Katechese übersteigt, offensichtlich einen Handlungsbedarf schafft: Wie kann man diesem Bedürfnis nachkommen, ohne die Beschränkungen zum Schutz des übergeordneten Wissens- und Auslegungsmonopols für den Klerikerstand gleichzeitig nachhaltig zu unterlaufen? Für 'De libris teutonicalibus' also gilt der Dekalog als schwierig und anspruchsvoll; Johannes Nider (um 1382-1438) dagegen, der die deutsche Wiedergabe schwieriger theologischer Inhalte ablehnt, hält die Gebote für einen angemessen einfachen Gegenstand: Sy sind nit ze verwerffen, die von den zechen gebotten sagend oder des gelich, aber die spitzigen subtilen bächer die von söllicher abgeschaidenhait sagent, das niemant also leben mag, vnd von söllichem hochem ding, so es vm vnd vm hin kompt, so wissent sie nit was es ist. Man sol sich vor dienen bficher hüten. Aber wa man hett schlecht gäte bäch die sol man lesen. Es sind ouch ettlich spitzig gaist, die mainent man sbl fast hochun ding sagen. Ich glaub ich kinds ouch, ich waisz ouch, ich kinds ouch spitzigun ding sagen. Aber sbllich genäsch vnd söllich schleck ist nit not.*3
Der Seitenhieb gegen die abgeschaidenhait, also einen zentralen Begriff der Ethik Eckharts, wird bezeichnenderweise mit dem Argument begründet, daß niemand so leben könne; Unterricht über die Gebote hält Nider dagegen für gut und hat er selbst literarisch unternommen, und zwar ganz im Sinne eines Normenbuches, nicht in dem von Elementarkatechese.
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41 42
43
HONEMANN, D e libris, S. 115: "Es sei nun aber so, daß die Laien zu ihrem Seelenheil über viele materie difficillime unterrichtet sein müßten (wie etwa Menschheit und Gottheit Christi, den Dekalog [!] und anderes mehr) und man ihnen deshalb nicht verwehren dürfe, volkssprachliche Bücher zu lesen." Die Markierung steht im Original. Vgl. SCHREINER, Herausforderung, S. 292-294. Klaus SCHREINER schlägt angesichts der spärlichen Quellen für Lesefahigkeit und Bildungsbedürfnisse außerhalb von Klöstern vor, aus den Zeugnissen über die Laienbrüder in den Konventen der verschiedenen Orden das Maß für den Grad von Laienbildung zu gewinnen, vgl. DERS., Herausforderung, S. 326, S. 336. Predigt Nr. 18 aus der "Großen Predigtsammlung". Text nach Berlin SBPK mgq 1593, fol 1 1 7 r - U 7 v bei BRAND, S. 278.
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Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
2. Die scholastischen Summen als Vorbild für Anspruch und Form Wenn sich die Beratung für das Gewissen von der Fixierung auf die mündliche Situation der Beichte und Beichtvorbereitung ablöst und das Buch, zuerst mittelbar, als Instrument der überindividuellen Standardisierung der Beurteilungen des Beichtvaters, dann für Lesekundige auch unmittelbar, als Instanz der Vergewisserung und Anleitung, in den Blick rückt, dann ist damit eine volkssprachliche literarische Aneignung schriftlicher, gattungshafter Muster verbunden. Mit Kurt Ruh nenne ich die entstehenden Normenbücher deutsche Summen.44 Damit behaupte ich die Übernahme einer methodengebundenen literarischen Form scholastischen Denkens in die Volkssprache und habe zu erklären, was eine summa in der lateinischen Literatur war und was sie für die deutsche Literatur werden kann. Nur wenige Gattungsbezeichnungen, die heute zur Beschreibung mittelalterlicher Literaturformen gebraucht werden, sind auch als mittelalterliche Namen für ebendiese Formen belegt. Summa wird indes von den Zeitgenossen selbst gebraucht, was insofern ein glücklicher Fall ist, weil solche Zeugnisse die Möglichkeit bieten, die neuzeitliche Beschreibungsklasse mit einem eventuell vorhandenen Zuschreibungsusus und Gattungsbewußtsein des Mittelalters zu vergleichen. Die knappen Abrisse zur Werkbezeichnung summa bei Grabmann45 und Lehmann46 ergeben folgendes Bild: Die Vorgeschichte wird markiert durch einen einzelnen spätantiken Werktitel bei Jordanes47 und die Überschriftsverse zum Dialog des AdalberoAscelinus von Laon (gest. 1030) über die Trinität in der einzigen erhaltenen Hs. aus dem 11. Jahrhundert. 48 In der ersten Phase der mittelalterlichen Verwendung bedeutet summa eine Schrift, die eine Vielzahl von Schriften vertreten kann. Honorius Augustodunensis schreibt seine 'Summa totius' ausdrücklich für Leser, die Büchermangel leiden und in Gefahr sind, ihr Unwissen zur frommen Tugend zu erheben.49 Er verwendet summa und
44
RUH, Versuch, S. 320.
45
GRABMANN, M e t h o d e , Bd. 2 , S. 2 3 - 2 4 .
46
LEHMANN, Büchertitel, S. 2 5 - 2 7 .
47
De summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum, MG Auctt. antt. V p. X V , v g l . LEHMANN, Büchertitel, S. 2 6 .
48
LEHMANN, Büchertitel, S . 2 6 .
49
Sunt namque plurimi qui velut iustas suae ignorantiae causas obtendunt, dum sibi congeriem librorum abesse ostendunt. His pie consulens de Iota scriptum hoc collegi compendium in quo ad patriam vitae properantibus sufficiens iudicavi
Die scholastischen Summen als Vorbild für Anspruch und Form
213
compendium synonym: Der hier möglicherweise vom Autor herrührende, jedenfalls mit seinen Äußerungen im Prolog konforme Werktitel50 verwendet summa, der Prolog compendium.5I Hugo von St. Victor bezeichnet 'De sacramentis christianae fidei' als brevem quamdam summam omnium.52 Das Wort summa meint in beiden Fällen nur 'Gesamtdarstellung'. Dazu paßt Abälards Äußerung über seine 'Theologia Scholarium': Aliquam sacrae eruditionis Summam, quasi divinae Scripturae Introductionem conscripsimus.53 Das Verfahren der stellvertretenden Gesamtdarstellung geriet offenbar nach Inhalt und Gebrauch leicht zur bequemen Handreichung für Halbgebildete, denn Robert von Melun (gest. 1167) bestimmt den Begriff nur, um gegen das Verfahren, das er mit ihm verbindet, sogleich heftig zu polemisieren: Quid enim summa est? Nonnisi singulorum brevis comprehensio. Ubi ergo singula inexplicata relinquuntur, ibi eorum summa nullo modo docetur; singulis namque ignoratis summam sciri impossibile est [...] incommoditas brevitatis mentem aggravat, quia et amorem cognitionis excludit et viam exercitationis intercludit, odium quoque veritatis animo ingerit,54
Wichtig an diesem Beleg ist, daß sich summa im 12. Jahrhundert offenkundig bereits mit einem (wenn auch von dem späteren scholastischen wesentlich verschiedenen) methodischen Verfahren verbindet. Neben diesem traditionellen allgemeinen etablieren sich zwei besondere Geltungsbereiche des Terminus summa. Der eine betrifft Bearbeitungen des
50
Stipendium. PL 172, Sp. 189 A. Dagmar GOTTSCHALL, Elucidarium, S. 14-15 hat im Anschluß an Y. LEFEVRE, Elucidarium, S. 52 nochmals ausdrücklich daraufhingewiesen, daß demgegenüber der Untertitel des Elucidarium, nach der Edition von Migne sive dialogus de summa totius christianae theologiae (PL 172 Sp. 1109), handschriftlich kaum bezeugt ist, also mit großer Wahrscheinlichkeit nicht als Gattungszuweisung des Autors aufzufassen ist.
51
Vgl. Anm. 47 in diesem Kapitel.
52
PL 176, Sp. 173. Vgl. GRABMANN, Methode, Bd. 2, S. 23.
53
54
O p e r a e d . COUSIN B d . II, S .
1 - 1 4 9 , Zitat a u s d e m P r o l o g S . 2 .
GRABMANN,
Methode, Bd. 2, S. 23, und LEHMANN, Büchertitel, S. 25-26 führen dieses Werk als summa, jedoch unter COUSINS (und MIGNES in PL 178) Editionstitel 'Introductio ad theologiam'. Die neuere Bezeichnungsgewohnheit richtet sich, um Verwechslungen zu vermeiden, nach dem Incipit Scholarium, vgl. Theologia summi boni ed. NLGGLL, Einl. S. XVI. GRABMANN, Methode, Bd. 2, S. 341, nach Brügge Bibl. publ. Cod. 191 fol. lr.
214
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
Decretum Gratiani und selbständige Darstellungen des kanonischen Rechts;55 der andere die "monumentalen systematischen Gesamtdarstellungen der spekulativen Theologie" des 13. Jahrhunderts.56 In diesen speziellen Verwendungen ist summa mit spezifisch scholastischen Darstellungstechniken verbunden, so daß die kanonistische Summa ebenso wie die theologische jeweils einen eigenen Gattungscharakter ausprägt. Meiner Überzeugung nach haben die Autoren der ersten gattungsprägenden Summen (Alexander von Haies und Raymund von Pennaforte) den Begriff in dem zwiespältigen Sinn benutzt, in dem sie ihn vorgefunden haben, ihre Selbstbezeichnung einer eigenen Schrift als summa ist also am Anfang eine Art von Bescheidenheitstopos. Nach spätestens zwei Generationen hießen die Standardwerke mehrerer Wissenschaften jeweils summa, und das veränderte - auch für die Zeitgenossen - den Inhalt des Gattungsbegriffes.57 Er enthielt jetzt inhaltliche und methodische Vorgaben. Von diesen Textmustern soll im folgenden die Rede sein, wenn der Sammelname scholastische Summe verwendet wird. Eine Gliederungseinheit - zum Beispiel ein Artikel - einer scholastischen (theologischen) Summa wird wiederkehrend so aufgebaut: Das Thema wird als Frage formuliert: Kann man von dem Gegenstand unseres Denkens Α den Satz ABC... wahr aussagen? Darauf lautet die erste Antwort: nein, erhärtet durch Autoritäten und Vernunftgründe. Dann folgt die zweite, gleichberechtigte Antwort: ja, erhärtet wiederum durch Autoritäten und Vernunftgründe. Die dritte Antwort ist den beiden vorangegangenen hierarchisch überlegen und entscheidet durch ein ja/nein, aber. Das ist die Binnenstruktur der quae-
55
56
57
GRABMANN, Methode, Bd. 1, S. 24. Daß die summae confessorum hierher und nicht in die Tradition der Bußbücher gehören, hängt mit ihrer Einbindung ins Lehrsystem der Kanonistik (einschließlich ihrer Grundlagen) zusammen; deshalb grenzt Cyrille VOGEL sie auch aus ihrer literaturtypologischen Untersuchung der libri paenitentiales aus. Vgl. VOGEL, S. 30. GRABMANN, Methode, Bd. 2, S. 24. Die Vermittlung zu dieser Verwendungsweise stellen die Sentenzenkommentare dar, die sich um die Mitte des 13. Jahrhunderts von der bloßen Kommentierung mehr und mehr ablösen und die Sentenzen des Petrus Lombardus nur noch als Gliederungssystem für eigene theologische Entwürfe benutzen; hier hat die Bezeichnung als summa aber noch keine hervorragende Geltung, sondern ist nur eine unter mehreren Möglichkeiten, vgl. GRABMANN, ebd., S. 396f. Wenn Roger Bacon sich darüber erregt, daß die Summa Alexandri nicht von Alexander von Haies verfaßt sei, spielt die Wandlung der Buchform summa innerhalb des 13. Jahrhunderts wahrscheinlich eine Rolle. Roger versteht in der Rückschau eine Summa schon als ein Werk mit wissenschaftsorganisierendem Anspruch. Dazu ist die Summa des Alexander aber wohl erst durch seine Mitarbeiter und den päpstlichen Autrag zur Vollendung geworden. Vgl. dazu oben Teil 1, Kap. III 1.
Die scholastischen Summen als Vorbild fiir Anspruch und Form
215
stio, die Thomas Rentsch als literarische Form beschrieben hat.58 Die abwägende Struktur war vor Abälard bereits in der Kanonistik (durch die notwendige Gegenüberstellung der widerstreitenden Kanones) entwickelt worden und ist als Denkfigur den kanonistischen und den theologischen Summen gemeinsam.59 Zur Summa werden die quaestiones aber erst durch spezifische Verknüpfung, die ein Gesamtbild der verhandelten Sache und der ihr zugrundeliegenden inneren Logik erzeugen soll. Dieser Anspruch der Gesamtdarstellung ist für die Aufnahme der Schriften in volkssprachliche Zusammenhänge wichtig, denn er kann gegenüber der kunstgerechten Binnengliederung als dominant aufgefaßt werden. Über die innere Verbindung der Fragen, die in der Artikelfolge textgliedernd auftreten, muß der Autor von lateinischen Summen keine Rechenschaft ablegen; die Notwendigkeit dessen, was folgen wird, erschließt sich zwar partiell aus dem gerade Behandelten, im übrigen aber ist es der Autor, der die nächste Frage stellt, und dieses nächste Fragen unterliegt nicht dem dialektischen Abwägen, sie wird also nicht erst zugelassen, nachdem auch hierfür das Dagegen und Dafür erwogen wurde. So nehmen die Fragen der Summe nicht eine einheitliche, sondern eine doppelte textgliedernde Funktion ein. Als Form der Erfassung aller Gegenstände des Fragens sind sie gleichsam auktoriale Fragen, Setzungen in Frageform, die thematisch in Quaestionen60 gebündelt werden. Für die Binnengliederung des unter der artikeleinleitenden Frage behandelten Gegenstandes stellen sie sich als diskursive Fragen dar, also als Aufforderung zur dialektischen Erörterung. Das heißt: Es wird nur diskursiv erörtert, was zunächst - in Frageform - als Problem aufgeworfen wurde. Wenn die theologische Summe Anspruch darauf erhebt, alles Fragenswerte zu erfassen und zu behandeln, erwächst deshalb die Vollständigkeit der Argumente und Lösungswege erst aus der Vollständigkeit der auktorialen Setzungen.
38
RENTSCH, b e s . S. 8 7 - 8 9 .
59
GRABMANN hat gezeigt, daß Bernold von Konstanz (gest. 1100) in dem Traktat 'De sacramentis excommunicatorum iuxta assertionem sanctorum Patrum', PL 148, 1061-1272, in der Abwägung der Väterautoritäten genau diesem Muster folgt und die Einheit der einander widersprechenden Autoritäten in einer höheren Ebene findet, die einer semantischen Stufung zum (göttlich inspirierten) Gemeinten zuzuordnen sei. Vgl. GRABMANN, Methode, Bd. 1, S. 234-239. Diese obere Gliederungseinheit hat mit der scholastischen Form quaestio nur mittelbar zu tun. Sie stellt rhetorische Fragen. Deren Wahlfreiheit ist durch literarische Tradition stärker eingeschränkt als die der Artikel. Der sachliche und methodische Schwerpunkt einer theologischen Summe als einer Einzelleistung, eines literarischen und theoretischen Entwurfs liegt auf der Artikel-, nicht auf der Quaestionenfolge.
60
216
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
In der kanonistischen Summe dagegen erwächst die Vollständigkeit aus der möglichst lückenlosen Erfassung aller denkbaren Fälle. Sie ist die Form der systematischen Erschließung des Decretum Gratiani und der Dekretalen. Insofern sie aus den Glossen zum Decretum entsteht, erbt sie die Grobgliederung der Normbereiche aus diesem. Dennoch enthält sie weitgehende Parallelen zur Struktur der theologischen Summe. Ihre Setzungen sind die Normenhierarchien, ihre kontroversen Standpunkte die verbürgten widersprüchlichen Entscheidungen gleichermaßen anerkannter Lehrer, ihre Corpora articulorum die Vermittlungsleistungen zwischen den Standpunkten und die Entscheidungen über Schuld und Strafe in den vorgestellten Fällen. Im Unterschied zur theologischen Summe ist aber die Textstruktur gleichsam zweidimensional: Die Setzung der Fall- und Normenhierarchie bringt es mit sich, daß Kontroverse und Entscheidung über eine Handlungsklasse jeweils auf verschiedenen, einander logisch nicht vor- und nach-, sondern über- und untergeordneten Ebenen stattfinden. Dabei sind die Summen de casibus conscientiae und die summae confessorum Untergattungen der kanonistischen Summen,61 nämlich kanonistische Summe minus Prozeßrecht.62 Die Begriffe summa de casibus conscientiae und summa confessorum werden in neuzeitlicher wissenschaftlicher Beschreibungssprache zum Teil synonym verwandt, was in Hinblick auf die gemeinsame Zwecksetzung auch berechtigt ist.63 Leonard E. Boyle hat dagegen vorgeschlagen, die Bezeichnung summa de casibus conscientiae tatsächlich nur für Darstellungen mit rein oder überwiegend kasuistischer Methode zu verwenden, für diejenigen Bücher aber, die - wie die gattungsprägende Summe des Johannes von Freiburg - in weitem Maße Teile aus theologischen Summen in deren Darstellungstechnik inserieren, den zuerst dort (also spät, erst 1298) belegten Textnamen summa confessorum als Gattungsbegriff aufzufassen und nötigenfalls in diesem Sinne historisch zurückzuprojizieren.64 Die summa confessorum wird durch eine Zwischenstellung zwischen kasuistischem Nachschlagewerk und systematisch-theologischer Darstellung charakterisiert. Norbert Brieskorn hat am Beispiel der Summa confessorum des Johannes von Erfurt (vor 1281) gezeigt, daß diese Überschneidung auch für
61
Vgl. TENTLER, S. 101-126, und antwortend dazu BOYLE, Genre. Vgl. auch
62
V g l . TRUSEN, Bedeutung.
63
Die gemeinsame Behandlung geht auf Johannes DIETTERLE zurück: DIETTERLE, T . 1-10. Sie hat sich auch in dem Überblick von Pierre MICHAUD-QUANTIN weitgehend erhalten.
64
BOYLE, Genre, S . 1 2 6 - 1 2 7 , und DERS., S u m m a e , S. 2 3 5 - 2 3 7 .
PARKES.
Die scholastischen Summen als Vorbild für Anspruch und Form
217
die Darstellungsweise gilt.63 Wie die kanonistische Summe weist auch die summa confessorum eine gleichsam zweidimensionale Struktur auf, die durch die Reihung der Normbereiche nach einer horizontalen Achse, durch die Schachtelung der Subsumtionen nach einer vertikalen Achse entsteht. So können die zu beurteilenden Fälle in einer Art Koordinatensystem der Textgestaltung aufgefunden werden. Im Unterschied zu umfassenden summae iuris canonici wird dem Autor einer summa confessorum allerdings größere Wahlfreiheit in der Disposition seiner Gegenstände auf der horizontalen (inhaltlich ethisch-theologischen) Achse eingeräumt. Johannes von Erfurt kann deshalb zwei bereits vorscholastisch geläufige Schemata für Normdarstellungen, die Einteilung nach Lastern und die nach dem Dekalog, nacheinander verwenden, um Vollständigkeit zu erreichen und Gewaltsamkeiten bei der Subsumtion von Normen, deren Darbietung er für notwendig hält (z.B. ethische Normen des Kriegsrechts), zu vermeiden.66 Das Beispiel zeigt gleichzeitig das Beharrungsvermögen kanonistischer Tradition: Obgleich ihn der Gegenstand seiner Abhandlung in den Stand setzt, eine eigene Systematik zu entwickeln, die auf den obersten Gliederungsebenen sogleich sichtbar wird (also zu verfahren wie der Autor einer theologischen Summe), greift Johannes von Erfurt auf traditionelle Reihungen von Normbereichen zurück. Eine andere Gruppe, die in Handschriften auch regelmäßig als summa bezeichnet wird, die Summen de vitiis und de virtutibus, steht in scholastischer Zeit gleichfalls im Schnittpunkt von theologischer Summe (in der systematischen Herleitung der Tugendlehre) und kanonistischer Summe (insofern die Laster nach ihrer Sündenbewandtnis beurteilt werden). Sie akzentuieren ihre Darstellung aber stärker ethisch-moralisch als summae confessorum. Ihr wichtigstes Ziel ist die Erklärung des Normumfangs, nicht seine Erfassung in Fallstrukturen.67
65
BRIESKORN, T. 1, S. 36-42.
66
V g l . BRIESKORN, T . 1, S .
61
Siegfried WENZEL skizziert in seiner Ausgabe der 'Summa virtutum de remediis anime' (einer Vorlage für Chaucer) die Entwicklung der Summen de vitiis und de virtutibus (WENZEL, S. 7-11). Dabei stellt er S. 7 fest: "...the literary genre of the summa on the virtues came into being only as a companion and sequel to the summa of the vices....For throughout the Middle Ages, systematic theology as well as popular catechetical instruction recognized two different series of chief virtues, depending on whether 'virtue' was considered as a principle of morally right action, or as a counterpart to or replacement for a specific vice." Die spezifische Leistung der scholastischen Behandlung des Gegenstandes bestehe im "establishment of a rational system in which these various series and their members found their logical, interrelated place" (S. 8). Für die Hoch- und Spätscholastik ist die Vermischung der Paradigmen, aber auch die Vorbildlichkeit rational durchbildeter Systeme in der Behandlung der Tugenden und Laster offensichtlich
37-38.
218
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
Was eine Summa im allen Untergattungen gemeinsamen Verständnis ausmacht, könnte man etwa so beschreiben: Sie will den Inhalt eines ganzen, etablierten Wissensgebietes darstellen, und zwar nach systematischen Gesichtspunkten. Eine scholastische Summa gliedert das Wissensgebiet,68 und von diesem Ansatz her stellt sich ihre Art, vollständig zu sein, als eine Vollständigkeit des Fragens dar,69 die notwendig die explizite Präsentation der Lösungswege hervorbringt, einschließlich der Auseinandersetzung mit Prämissen, die nicht die eigenen sind, und mit Folgerungen, die der Autor verwirft, also als eine besondere Ausprägung dessen, was man mit Grabmann als scholastische Methode zu bezeichnen gewohnt ist. Jene Besonderheit liegt darin begründet, daß die systematische Gliederung eines Wissensgebietes offenkundig in den gattungsprägenden Summen nicht zwingend mit der Präsentation allen verfügbaren Wissensstoffes zusammenfällt: Vollständigkeit des Fragens bedeutet nicht von vornherein die Vollständigkeit der möglichen Antworten, also alles schriftlich verfugbaren Wissens zu den behandelten Gegenständen. Wenn einzelne Teile - etwa die Ethik in einer theologischen
68
69
bereits völlig geläufig. Amplonius Ratinck nennt in der eigenhändigen Zusammenstellung seiner Bücher 1410-1412 (LEHMANN, MBK II, S. 5-95) in der Gruppe Theologie: Item summa egregia Wilhelmi Parisiensis de virtutibus et viciis (S. 76 Z. 31); Item summa Petri Damiani de virtutibus et viciis, valde bona (S. 91 Z. 35f.). Winfried TRUSEN will deshalb summa nicht nur als Gattungsnamen, sondern als wissenschaftstheoretischen Begriff aufgefaßt wissen: "Man muß sich, um Klarheit in der Terminologie zu verschaffen, zunächst den Begriff der scholastischen Summa verdeutlichen. Die Bezeichnung ist ein wissenschaftstheoretischer, methodischer Begriff. Er bedeutet die anzustrebende Ganzheit des pluralen, ungeordneten Wissensstoffes im Hinblick auf eine vorgegebene Eingrenzung. Eine theologische Summa beabsichtigt, soweit es überhaupt dem Autor möglich ist, das Ganze der theologischen Offenbarungswahrheit darzustellen. Eine Summa poenitentiae, eine Summa confessorum oder eine Summa de casibus poenitentiae ist auf das Ganze der Beicht- und Seelsorgepraxis gerichtet. Eine Summa iuris canonici will das ganze des kanonischen Rechts behandeln." TRUSEN, Bedeutung, S. 267. Das heißt: Die summa bezieht ihre Ordnung aus einer unterstellten immanenten gedanklichen Ordnung der dargestellten Disziplin. Dazu der Prolog zur Summa Theologiae des Thomas: Consideravimus namque huius doctrinae novitios, in his quae a diversis conscripta sunt, plurimum impediri: partim quidem, propter multiplicationem inutilium quaestionum, articulorum et argumentorum; partim etiam, quia ea quae sunt necessaria talibus ad sciendum, non traduntur secundum ordinem disciplinae, sed secundum quod requirebat librorum expositio, vel secundum quod se praebebat occasio disputandi; partim quidem quia eorundem frequens repetitio et fastidium et confotsionem generabat in animis auditorum. Haec igitur et alia huiusmodi e vitare studentes, tentabimus, cum confidentia divini auxilii, ea quae ad sacram doctrinam pertinent, breviter et dilucide prosequi, secundum quod materia patietur. S.th. I, Leonina: Bd. IV, S. 5.
Die scholastischen Summen als Vorbild für Anspruch und Form
219
Summe - mit hortativem oder präskriptivem Anspruch auftreten, als das verbindliche und in diesem Sinne normierende Wissen zu einem Gegenstand, so stellt sich diese Normativität in der Passage selbst als eine der Antworten dar; sie gewinnt ihren Anspruch auf Gültigkeit aber aus der Vollständigkeit des Fragens, der gliedernden Erfassung des Möglichen als der möglichen Fragen an die Welt: Ihr können sich potentiell die nicht beigezogenen Autoritätensätze und die nicht explizit ausgeführten Anwendungen anlagern, so daß das Aufgeschriebene gleichzeitig den Horizont des Wissens und die Fluchtpunkte bietet, an denen sich der orientieren mag, der ein kleineres Areal in genauerer Betrachtung mit anderwärts Tradiertem füllen will. Wolfgang Kluxen hat darauf hingewiesen, daß die Einbettung selbständiger Fragekomplexe in eine Summe zunächst bedeute, diesem Fragekomplex einen Ort in der Gliederung des Wissensgebietes anzuweisen, darüber hinaus aber die Vernünftigkeit und Geschlossenheit der Lehre darzutun, auch wenn einzelne Bestandteile reine Glaubenswahrheiten seien. 70 Nach seiner Auffassung besteht nach solcher Dienstleistung der Philosophie für die Theologie auf dem Felde der Moral besonderer Bedarf. 71
70
71
KLUXEN, Ethik, S. 20: "Die Tatsache, daß ein relativ geschlossener Traktat 'De anima' (oder auch, mit gleichem Recht - 'De deo', 'De veritate' usw.) in einer theologischen Summe erscheint, bedeutet danach: ein 'revelabile' wird seinem Orte nach im System fixiert; die theologisch feststehende Tatsächlichkeit wird philosophisch unterbaut, die Wesenseinheit philosophisch angestrebt." KLUXEN, Ethik, S. 19: "So muß das 'quomodo sit' aus natürlichem Wissen kommen, folglich - bei dem notwendigen Zusammenhang beider Fragen - auch das ihm vorhergehende 'an sit'. Die 'Revelabilitas' bedeutet in solchem Falle nur Einordnung, In-Beziehung-Setzen, Sicherung eines Ergebnisses. Am deutlichsten ist dies, wo ein neues Ergebnis natürlicher Wissenschaft auf seine Einordbarkeit befragt wird. Dies ist für die Theologie hauptsächlich auf dem Gebiete der Moral der Fall, sofern Verhältnisse neuer Art historisch entstehen, [S. 20] Umstände wechseln, inbesondere Institutionen neu gegründet werden." Tatsächlich läßt sich die Affinität von Moraltraktaten zur tatsächlichen oder behaupteten Einbettung in größere theologische Kontexte auch an den zeitgenössischen Beschreibungskategorien nachvollziehen. Die Probe verdanke ich meinem Göttinger Kollegen Falk Eisermann, der auf meine Bitte die zu hunderten zählenden 'Stimulus-amoris'Handschriften auf Mitüberlieferung mit der Buch- oder Gattungsbezeichnung summa durchsucht hat. Mit seiner Erlaubnis darf ich das folgende Nebenergebnis seiner inzwischen abgeschlossenen, aber noch ungedruckten Arbeit vorwegnehmen: Von den 26 hsl. Bezeichnungen als summa entfällt der größte Anteil wie erwartet auf kanonistische (Voll-)Summen und summae confessorum (insges. 12 Belege). Es gibt aber daneben immerhin 6 so benannte moralischethische Handbücher (davon 4 Summen de vitiis et de virtutibus), während die klassischen theologischen Summen in diesen Verbünden nur zweimal erscheinen, so häufig wie Darstellungen der Sakramente unter diesem Titel. Die übrigen Summenbelege kommen einzeln vor und behandeln ausdrücklich einzelne Sach-
220
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
Zu solcher Dienstleistung gehört bereits das Verfahren der Auswahl und Neuanordnung, wie es zwei Gruppen von Summen mit kleiner umgrenzten Gegenständen, die Summae de vitiis et de virtutibus (deren einflußreichste von Guilelmus Peraldus stammt) und die Poenitentialsummen, gegenüber den theologischen Summen einerseits und den kanonistischen Summen72 anderseits verwenden. Die organisierende Mitte dieser beiden "kleineren" Summenformen sind Beichte und Buße als Sakramente. So reihen die Poenitentialsummen an diejenigen Kenntnisse, die unmittelbar zur Buße als Sakrament und zur Sünden- und Schuldbewandtnis einzelner Handlungen gehören, Wissensgut aus Theologie, Kanonistik und - in geringerem Maße - weltlichem Recht, das sich in irgendeiner wie auch immer vermittelten Weise dem thematischen Feld von Sünde und Rechtfertigung zuordnen läßt. Daß es den Bezug gibt und daß er gleichzeitig ständig außer Kraft gesetzt wird, hat in der Forschung zu Irritationen über den Gattungstyp geführt; so sieht J. Ziegler in der Summa Iohannis, die auch rein theologisches Gut enthält, einen neuen Typus, G. Steer einen Gattungszwitter.73 Den beunruhigenden Befund, daß man kaum Texte finden kann, die wirklich Poenitential-Summen sind, versucht Steer über neue Zwecksetzung zu erfassen: " Die 'Poenitentialsummen' sind die Nachfolger der früheren 'Bußbücher'. Sie tendieren in ihrer Zweckausrichtung bereits über die Verwendung für das Bußsakrament hinaus".74 Mir scheint, daß das Auftreten von Summen, die mehr sind als Bußbücher, sich am ehesten durch Gattungsnachfolge mit neuer thematischer Mitte erklären läßt, denn Steer stellt selbst fest: " ...der neue Literaturtyp entsteht, nach inhaltlichen und quellenkundlichen Kriterien, nur additiv".75 Das hieße,
verhalte: S. de anima, s. de malrimonio usw. Besonders dankbar bin ich Falk Eisermann für den Hinweis auf den folgenden Beleg: William von Pagula hat um 1320 ein 'Speculum praelatorum' geschrieben. Der Text ist nur in einer Hs., Oxford, Merton College, Ms. 217, überliefert und geht auf zwei eigene Werke des William zurück, den Oculus sacerdotis' und die 'Summa summarum'. Die Handschrift vermerkt aber interessanterweise (und richtig): Hec sumuntur ex summa que vocatur Stimulus amoris, verwendet also die Gattungsbezeichnung getrennt vom Buchtitel. Zu William von Pagula vgl. BOYLE, Oculus. 72
Die Poenitentialsummen und Summen De casibus conscientiae enthalten zwar wesentliche Teile kirchenrechtlicher Bestimmungen, aber nicht das Prozeßrecht, sie sind also keine Summen des kanonischen Rechts. Allerdings können sie für ein Publikum, das an der Prozeßordnung kein Interesse hat, die Vollform des Rechts vertreten. Vgl. zu den handschriftlichen Bezeugungen solcher vertretenden Geltung bei der 'Rechtssumme' JOHANEK, Literaturgattung, S. 364, zum grundsätzlichen Unterschied TRUSEN, Bedeutung.
73
ZIEGLER, S . 2 6 ; STEER, W e r k b e z e i c h n u n g , S . 2 4 .
74
STEER, Werkbezeichnung, S. 25. STEER, Werkbezeichnung, S. 24.
73
Die scholastischen Summen als Vorbild flir Anspruch und Form
221
daß sich der neue Zweck überbietend als ein Mehr-Als beschreiben ließe; aber für dieses Mehr-Ais lassen sich Regeln angeben. Die Steerschen Poenitentialsummen wären nämlich keinesfalls als quantitative Überbietung der libri poenitentiales in dem Sinne zu verstehen, wie Cyrille Vogel sie beschrieben hat,76 also nicht als vollständige Zusammenstellungen der Bußtarife, sondern als der gemeinsame Oberbegriff zu den bei Boyle unterschiedenen summae de casibus conscientiae und summae confessorum. Der Sachkomplex von Beichte und Buße wird behandelt wie ein Wissensgebiet, dessen Grenzen man abstecken muß. Er ist durch seinen Sitz im Leben und die dogmatische Verfestigung des Beicht- und Bußsakramentes selbst in sich fest, so daß es weder nötig noch möglich erscheint, ihn wie eine ars fragend zu gliedern; die Fragen richten sich vielmehr darauf, welche Probleme und Antworten der angrenzenden universitären Wissenschaften man zum hinreichenden Verständnis dessen, was sündhaft ist, braucht und welche Modifikationen gegebenenfalls nötig sind. Das ist nicht (theologisches) Summenprinzip, insofern der Autor nicht bereits mit seinen Fragen die Struktur des Gegenstandes bestimmt; aber es ist (gleichzeitig theologisches und kanonistisches) Summenprinzip unter der Voraussetzung, daß das zu bearbeitende thematische Feld nicht mehr hinreichend leer ist, daß sich Grundansichten und Gliederungsprinzipien in einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit bereits so weit verfestigt haben, daß eine Neugliederung entweder müßig oder skandalös wirken müßte. In einer solchen Lage nämlich können regulierte Wissenschaft und regulierte Religionspraxis ähnliche Verbindlichkeit beanspruchen. Das Summenprinzip kann dann nicht anders als in additiver Anreicherung bereits vorliegender, aber disparater systematisch-hierarchischer Strukturenauftreten; nunmehr erscheint es in erster Linie erstrebenswert, die Summe des Vorgedachten bereitzustellen. Dekalogerklärungen sind aber auslegende Texte, und man könnte dem Versuch, eine ihrer Traditionen bei den scholastischen Summen zu suchen, mit Skepsis begegnen und ihm entgegenhalten, daß sie nur dadurch in die Nähe scholastischer Summen rücken, weil sie sie benutzen. Selbstverständlich gibt es in den etablierten Fächern selbst traditionelle (und damit für das Mittelalter traditionell lateinische) Formen, in denen die Verwendungsregeln zu gefestigten Sätzen tradiert werden können: die Kommentarliteratur.
76
VOGEL, S. 29f. rechnet folgende Typen zu den Bußbüchern: "1. Des listes de peches...: 2. Des series de canons penitentiels edictes par les conciles... 3. Des reglements en matiere de crimes et de delits\ die summae confessorum werden aber S. 30 ausdrücklich ausgegrenzt.
222
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
Kommentare bilden ein altes, eigenes Genus; 77 eine Untergattung mit reicher Überlieferung, der Sentenzenkommentar, fand im scholastischen Schulbetrieb nach Petrus Lombardus seinen festen Platz. 78 Gerade Sentenzenkommentare werden handschriftlich häufig als Summen bezeichnet. 79 Das hat inhaltliche und methodisch-formale Gründe. Sentenzen waren die vorscholastische literarische Ausdrucksform für dogmatische Abhandlungen; ein Sentenzenkommentar reichert also ein anerkanntes dogmatisches Lehrbuch mit seither errungenem Wissen an und ist damit eine Summe im vorscholastischen Verständnis. 80 Für Sentenzenkommentare setzte sich noch im 13.
77
Dabei vermischt und überkreuzt sich die mittelalterliche Terminologie mehrfach, wenn es um verschiedene Kommentartypen geht: commentarius, glosa, accessus. Almut SUERBAUM geht in ihrer Differenzierung dieser Typen von Wilhelm von Conches, Glosae super Platonem aus: Non hodie vocamus commentum nisiallerius libri expositorium. Quod differt α glosa. Commentum enim, solam sententiam exequens, de continuatione vel de expositione litterae nichil agit: Glossa vero omnia ilia exequitur. Unde dicitur glossa i.e. lingua. Zitat: Edouard JEANEAU (Hg.), Guillaume de Conches, Glosae super Platonem, in: Textes philosophiques du moyen äge 13 (1965), S. 67. Almut SUERBAUM faßt Kommentar und Accessus in eines und differenziert so: "Zusammenfassung der Intention im commentarius, d.h. in unserer Terminologie im Accessus, Stellenkommentar in der glossa." Die Stelle verdanke ich der freundlichen Bereitschaft, mit der sie mir ihren Beitrag "Litterae et mores. Zur Textgeschichte der mittelalterlichen Avian-Kommentare" für den demnächst erscheinenden Sammelband: Klaus GRUBMÜLLER (Hg.), Studien zur Überlieferungstypologie spätmittelalterlicher Schulliteratur. Gebrauchsräume, Träger, Inhaltskonstellationen, Aufbereitungsund Vermittlungsformen, München, Fink, zur Verfügung gestellt hat. Ich zitiere aus dem Typoskript S. 25. In diesem Aufsatz unterscheidet sie auf der Sachebene vier Funktionstypen von Texten, die unter gattungsgeschichtlichem Aspekt unter "Kommentar" subsumiert werden, und zwar als Bestandteile des Kommentars oder als Textdominante: Accessus, Interlinearglossierung, Prosaparaphrase, Moralisation und allegorische Auslegung, ebd., S. 1. Zur Entwicklung des scholastischen Kommentars grundlegend: SANDKÜHLER; zur Situation um 1500: SCHOLZ.
78
Petrus Lombardus wurde bis ins 17. Jahrhundert kommentiert und ist als theologisches Schulbuch und Kommentargegenstand für katholische Theologen seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts nur partiell durch die Summe des Thomas verdrängt worden. Zur Geschichte der Sentenzenkommentare vgl. den Abschnitt 'Entstehung, Entwicklung und Technik der Kommentare zu den Sentenzen des Petrus Lombardus' in GRABMANN, Methode II, S. 392-398. Texte und Überlieferung zu erschließen über: STEGMÜLLER RS.
79
GRABMANN, M e t h o d e , B d . 2 , S . 3 9 6 .
80
Deshalb gibt es auch kumulative Bearbeitungen berühmter Sentenzenkommentare, etwa dessen des Thomas; vgl. GRABMANN, Methode, Bd. 2, S. 397. Das ist übrigens kein Einzelfall; geschlossene Darstellungen der Metaphysik (also Summen der Metaphysik, wenn man Summe für diesmal als durch Analogie gewonnene neuzeitliche Beschreibungskategorie zulassen will) bleiben seit der Mitte des
Die scholastischen Summen als Vorbild für Anspruch und Form
223
Jahrhundert die Artikel- und Quaestionengliederung durch, die auch in scholastischen Summen verwendet wurde; innerhalb der Quaestionen folgt die Argumentation im wesentlichen der dort geübten, wenn auch die Darstellung der widerstreitenden Auffassungen im Vergleich zu theologischen Summen geringeren Raum einnimmt als die Entwicklung der eigenen Position.81 So konnten aus Anlaß des kommentierten Textes ergänzende Fragen erörtert werden - in der Weise scholastischer theologischer Summen und mit ihrem Ziel der Vollständigkeit des Fragens. Mutatis mutandis gilt das auch für die kanonistischen Kommentarformen; hier war die scholastische Abwägung schon früh zu Hause, weil für die Rechtsverbindlichkeit von Normen ein Entscheid in den Gegenständen der widerstreitenden Kanones - Grund und Absicht für das folgenreiche Sammelwerk Gratians - unbedingt erforderlich war. Wo sich Kommentare mit normierenden Sätzen - ζ. B. mit Gesetzen, Geboten, Urteilen - beschäftigen, erzeugen sie eine Norm zweiter Ordnung, eine Norm mit festem Sitz im Leben, die dem ursprünglich verhandelten Normativ als Verwendungsnorm zur Seite tritt und mit ihm verschmelzen kann. Dieser Prozeß kann sich mehrmals nacheinander vollziehen, wie die Entwicklung zwischen der glosa zum Decretum Gratiani82 und den Summen des Raymund von Pennaforte und nach ihm des Johann von Freiburg erkennen läßt.83 Nun münden, wie Grabmann gezeigt hat, gerade Auslegungen, und zwar in erster Linie die zum Decretum und zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, in selbständige Systemdarstellungen, und sie werden dann als Summen bezeichnet und organisieren sich selbständig in gliedernden Fragen und hierarchischen Buchstrukturen,84 zu denen der ausgelegte Text nur noch die
81
82
83 84
13. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 16. im wesentlichen Aristoteleskommentare. Die Disputationes metaphysicae des Francisco Suärez, gedruckt 1597, verlassen zum ersten Mal diesen Rahmen. Vgl. Reiner SPECHT, Einleitung zu: Suärez, Individualität ed. Specht, S. XV-XL, bes. S. XXVI-XXVIII. Dieser Prozeß der Herauslösung eigener scholastischer Abhandlungen aus Anlaß eines ausgelegten Textes (durch Exegese per modum quaestionis) hat seinen Ort an den Studia und Universitäten, er betrifft jedoch nicht nur die Sentenzen, sondern auch und sogar in besonderem Maße die Aristoteleskommentare. Vgl. Martin GRABMANN, Die Disputationes metaphysicae des Franz Suärez in ihrer methodischen Eigenart und Fortwirkung, In: DERS., Geistesleben, Bd. 1, S. 525560, hier S. 529; vgl. DERS., Methode, Bd. 2, S. 369, S. 392-398. LEHMANN, Büchertitel, S. 31 merkt an: "Der Terminus 'glosa ordinaria' ist nach meinen bisherigen Beobachtungen zuerst für die Apparatus ad decretum, decretales etc. gebraucht worden." Hinweise auf das Problem bei STEER, Werkbezeichnung, S. 2, S. 19, S. 23-24. Zur Entwicklung der Findemittel vom buchtechnischen zum Textbauprinzip vgl. ROUSE/ROUSE.
224
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
Folie, gleichsam den Anlaß zu eigener Darstellung, bietet.85 Wenn aber der Auslegungskosmos einem interpretierten Text abgewinnt, was auch in einer möglichen Summe stehen könnte, so bleibt er doch an den Text und die lineare Abfolge der Wörter und Sätze in ihm gebunden; der Kommentar verharrt, indem er kommentiert, in der linear-assoziativen Anreihung gleichwertiger, in sich nicht hierarchisch zu gliedernder Deutungsansätze, auch wenn sich diese in einer zugefügten Systematik wiederfinden und von ihr überlagert werden können.
Exkurs: Nachbarschaftliche Berührungen zu verwandten Literaturtypen Vom systematischen Standpunkt aus wäre an diesem Ort eine Diskussion der Berührungsbeziehungen der lateinischen summa und der als summa aufgefaßten volkssprachlichen Texte zu anderen Gattungen wissensvermittelnder Literatur in Latein und Volkssprache erforderlich. Sie würde aber den Rahmen meiner Untersuchung sprengen. Um dennoch das Problem in seinen Umrissen zumindest zu benennen, versuche ich - ohne den Anspruch auf wissenschaftliche Durchdringung - eine Abgrenzung von der Enzyklopädie, einige vorläufige Bemerkungen über das compendium und einen Seitenblick zum Florileg. Christel Meier hat bei ihrer Beschreibung des Gattungscharakters mittelalterlicher Enzyklopädien betont, daß es sich um eine Klassenbildung im Nachhinein handle.86 Ich zitiere zentrale Sätze der Gattungsbeschreibung: "Nach ihrem Selbstverständnis ist die Enzyklopädie ein Buch besonderer Art. Insofern Bücher die Welt oder Teile von ihr abbilden, sei es im kosmographisch-naturkundlichen, geschichtlichen, moralischen oder intellektuell-wissenschaftlichen Bereich, ist die Enzyklopädie das Buch par excellence: Sie vereinigt diese Gebiete in sich und ist daher - in Umkehrung der vom Mittelalter vielfach verwandten Metapher von der Welt als Buch - ein 'Weltbuch' ,..".87 "Der inhaltliche Grundbestand der Enzyklopädien wird von vier Hauptteilen gebildet, die zusammen die Beschreibung aller Phänomene der Welt leisten sollen: der Darstellung des Kosmos, der Geschichte, der Wissenschaften und der Ethik. Von ihnen sind in der Regel mindestens drei vertreten, es sei denn, es handele sich um die elementare Form der Enzyklopädie, die nur den Kosmos, die natürliche Welt darstellt."88 Durch diese Beschreibung der Textgruppe wird klar, daß die erfaßten Texte nicht mit denen zusammenfallen, die man von einem ebenso nachzeitigen Stand-
Methode, Grundzüge, S. Grundzüge, S. Grundzüge, S.
85
GRABMANN,
86
MEIER,
87
MEIER,
88
MEIER,
Bd. 2, S. 392-407. 469. 472. 479.
Die scholastischen Summen als Vorbild fur Anspruch und Form
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punkt als Summen bezeichnen könnte: Enzyklopädien sammeln das Wissen über die Welt, Summen sammeln die Inhalte einer Wissenschaft. Einen Überschneidungsbereich halte ich jedoch für möglich, und zwar am ehesten bei denjenigen Texten, die die Ethik als inhaltliches Zuordnungsgerüst benutzen. 89 Kompendium verwende ich als neuzeitlichen Beschreibungsbegriff im Sinne von 'Überblicksdarstellung über ein Wissensgebiet'. Für den historischen Texttyp compendium90 gilt mir das Compendium theologicae veritatis des Hugo Ripelin von Straßburg als klassisches Beispiel und zugleich als formales Muster, ich folge also dem Vorgehen von Boyle für die summae confessorumSolche Texte haben einen den Summen vergleichbaren Anspruch, den Stoff eines Wissensgebietes vollständig darzustellen und ihm ihren Ort in der Einteilung allen Wissens zuzuweisen. Was beide Formen trennt, betrifft vor allem die strukturbildende Kraft des Fragens und Einwendens. Kompendien verzichten auf diejenigen logisch verknüpfenden und fortführenden Fragen, die die dargestellte Lehre explizit als Resultat einer Erwägung gegensätzlicher Standpunkte ausweisen. Damit fehlen die Signalwörter für logische Einheiten des Beweisganges (Videlicet quodnon; Respondeo; Adprimum usw.). Dennoch bleibt ein logisches Grundgerüst, das auf deduktive und subsumtive Verknüpfung in vollständiger Darbietung alles thematisch Relevanten zielt, weitgehend erhalten. Es umfaßt das, was in einer Summe auf den oberen Gliederungsebenen das Fortschreiten von quaestio zu quaestio und von Artikel zu Artikel, auf der nächstniederen das Corpus articuli wäre. Das Verfahren des erprobenden Vorstellens möglicher Sätze, die anschließend auf ihre Wahrheit hin geprüft werden sollen, wird damit vorausgesetzt; die Gliederungseinheiten entsprechen denen einer theologischen Summe, die von der jeweiligen leitenden Frage sofort zum Corpus articuli fortschreitet. Insofern das Corpus articuli aber auf die (in der Summe explizierten) Einwände antwortet, beraubt ein solches Verfahren ihre Quellentexte nicht ihres Wesentlichen, sondern verzichtet in einem funktionierenden Wissenschaftsbetrieb eher auf Geläufiges, bereits Gesagtes und Bekanntes, das jeder mit der Materie Vertraute ohnehin assoziiert. Daß dieses Vorgehen eine Popularisierung, eine Reduzierung der Problemfülle begünstigt, schmälert nicht seine Brauchbarkeit für die Expertenkultur, sondern erweitert den Rezeptionshorizont zusätzlich; das sind zwei getrennte Sachverhalte. Die zeitgenössische Beschreibung des 'Compendium' des Hugo
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Vgl. MEIER, Grundzüge, S. 486 und DIES., Cosmos. LEHMANN, Büchertitel, S. 18-21 bietet einige Belege für diese Benennung, womit aber noch nichts über die innere Struktur der Texte ausgesagt ist. Daß solche Arbeitsdefinitionen problematisch sind, ist mir bewußt. Ohne sie wird die Gefahr, Textsorten mit unterschiedlichen Ansprüchen und Aufbauprinzipien zu vermengen, aber noch größer; ich verweise auf die widersprüchlichen Zuschreibungen derselben Texte bei BAPTIST-HLAWATSCH, Werk, S. 70 (ohne Arbeitsdefinition) gegen MEIER, Grundzüge, S. 484-485.
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Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
Ripelin als summa,92 die Zahl der lateinischen Überlieferungszeugen dieses Textes und seine deutsche Erschließung93 weisen, wie mir scheint, gerade diesen Doppelaspekt aus. Wenn die Brauchbarkeit für eine Expertenkultur in der Fähigkeit zur leichten Anknüpfung an (zum Beispiel in Summen) geordnetes Fachwissen begründet liegen sollte, wenn kompendienartige Texte also die Ordnung des Faches in der Erinnerung aufzurufen vermögen, so wie sie sie in ihrer Vermittlungsfunktion auf einer niederen Ebene erst schaffen, wenn sie weiterhin vermögen, die Fachdiskussion durch die Zitation der Antwort dem Kundigen wie dem Unkundigen auf den Punkt eines erreichten Standes zu bringen, so fragt sich, ob die implizite Bezugnahme auf scholastische Fragestruktur die Bedingung für solche Brauchbarkeit liefert. Nun ist aber nicht zu leugnen, daß es verhältnismäßig unstrukturierte Gebilde gibt - etwa Florilegien -, die sich dennoch in jener Expertenkultur bewährt haben. Ihr Vorteil lag für Lehrende und Lernende in der freien Verfügbarkeit ihrer Einheiten, in der freien Formbarkeit des Stoffes nach dem Willen beinahe jeden neuen Kontextes und im naht- und spurlosen Anschmiegen an den neuen Zusammenhang. So bilden sie einen Gegenpol zu den umsichtigen, aber sperrigen Summen. Dazwischen stellen die eindimensional gegliederten, die Gegenstände in einer additiven, nicht diskursiv begründeten Vollständigkeit darbietenden Kompendien eine eigentümliche Mitte dar. Kompilatoren waren alle drei Formen gleich wert; sie konnten also aus jeder Spezifisches gewinnen.9* Florilegische Aufhäufung verpflichtet nicht auf ein System und verkürzt die Dicta der Autoritäten so weit, daß selbst Sätze, deren Kontexte in den Originalschriften deutlich unterschiedene Standpunkte anzeigen, miteinander als in der einen Tradition
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Die Bezeichnung als summa ist gegenüber compendium in der Überlieferung weniger häufig, aber auch nicht völlig unüblich: STEER, Compendium, S. 4 erwähnt eine chronikalische Nachricht mit dieser Werkbezeichnung. 16 Schreiber in der von STEER S. 47-146 zusammengetragenen lateinischen Überlieferung nennen das geschriebene Werk summa·, zwei weitere verwenden die Bezeichnung summula. STEER, Compendium, S. 47-146 zählt 469 lat. Hss.; bei der Gruppierung der deutschen Überlieferung gelangt er S. 551 zu dem Ergebnis, daß am Anfang der vielfach verflochtenen deutschen Überlieferung des Volltextes zwei etwa gleichzeitige "rivalisierende" Übersetzungen gestanden haben, die später von einer kontaminierenden Fassung ergänzt wurden. Vgl. dazu MINNIS. Der Autor betont m.E. sehr zu Recht den Grundsatz des Thomas aus In Metaph. 1,2,41 sapientis est ordinäre als Textstrategie bei der Darbietung (mindestens) eines Wissensgebietes, auch wenn seine Beispiele eher der Enzyklopädik entnommen sind. Der Grundsatz hat in jedem Falle eine ontologisch-theologische Dimension: Wenn die ordinatio der Schrift entnommen werden kann wie in Enzyklopädien und Auslegungen biblischer Texte ("the ordo found in Scipture is a priori the best possible", ebd. S. 392), dann wirkt er als Zuordnungsmechanismus; wenn es um die Ordnung eines Gedankengebäudes geht wie in theologischen Summen, wirkt er als Abbildungsvorschrift (die Geschlossenheit der Lehre als Manifestation der imago Gottes).
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vereinbar erscheinen. 95 Summarische Durchdringung legt sich auf ihrer zweiten, diskursiven Frageebene fest, sie muß deshalb richten und zuweisen, denn die Auseinandersetzung mit Argumenten verlangt die Zuordnung tradierter Sätze zu den Teilen der logischen Schlußfigur. Hier konnte der Benutzer gerade das lernen, was das Florileg ausspart: die Parteiungen und Gegensätzlichkeiten unter den Autoritäten. Kompendien gehen einen Mittelweg: Sie applizieren ihre Anhäufung von Wissen auf ein Grundgerüst, das einer vorhandenen Systematisierung (etwa einer vorbildlichen Summe) entnommen ist, und reproduzieren damit die Struktur des setzenden Fragens, auch wenn die Fragen sprachlich in den Gliederungseinheiten nicht mehr als solche ausgewiesen sind; sie erleichtern aber durch die verkürzte und nicht voll explizierte Anknüpfung an Kontroversen auch die Nivellierung der Tradition, wie es Florilegien tun. Da die Fragen, die ehemals das Wissensgebiet neu gliederten, in ihnen ihren Setzungscharakter hervorkehren, lassen sich Kompendien selbst ohne mitüberliefertes Register eher als Nachschlagewerke benutzen, als das für Summen möglich ist: In den "klassischen" Summen wird alles klar, weil zuvor alles fraglich war; in den Kompendien wird erst etwas fraglich, dessen systematischer Ort bereits genau festliegt; und da die syllogistische Argumentation der zugrundeliegenden Summen von ihrem Ende her dargestellt wird, leisten auch sie der Nivellierung der theologischen Tradition Vorschub. Die Summen erwähnen exemplarische widerstreitende Autoritäten, weil sie widerstreitende Argumente abwägen, die Kompendien erwähnen die widerstreitenden Argumente, weil es einander widersprechende Autoritäten gibt. Daß der Kundige in seiner Rezeption diese Darstellungsweise für sich wieder umkehren kann, ist eine Möglichkeit der Aufnahme, aber nicht die einzige; die Übersetzungen basieren auf der anderen, die den Text als geschlossenes Lehrbuch aufnimmt. Für die Frage der Gattungsanknüpfung und Gattungsnachfolge darf nicht unterschlagen werden, daß die "klassischen" scholastischen Summen im späten 14. und im 15. Jahrhundert praktisch keine Nachfolger mehr gefunden haben; Eckharts Opus tripartitum, das wohl als unvollendet gelten kann, ist ein prominentes Indiz des Übergangs. Die Form der scholastischen Summa stirbt ab; es gibt, auch wenn Texte als Summen tradiert werden, von der Textstruktur her nur mehr Kompendien. Hamm hat hier von Scholastikmüdigkeit gesprochen. 96 Von hier aus wäre zu fragen: War die diskursive, syllogistische Binnengliederung der Texte nicht mehr notwendig, oder reichte sie nicht mehr aus? Die Antwort hierauf scheint sich im Vergleich von Florileg, Summa und Kompendium anzudeuten. Eine Summa nimmt dem Rezipienten die Mühe des Fragens gänzlich ab; das Florileg legt sie ihm gänzlich auf, aber nicht mit bindender Kraft, denn er muß nicht systematisch suchen, sondern darf sich im Garten
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Freilich ist es auch im Falle von Florileg so, daß die neuzeitliche Texttypologie stärker systematisiert als die zeitgenössischen Textbezeichnungen. Ein Flores benannter Text kann gut anderwärts als summa tradiert werden; dazu ein Beispiel bei KLAES, S. 2 0 2 . B. HAMM, F r ö m m i g k e i t , S. 31.
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des Wissens auch erholen und erbauen. Wer eine klassische Summe zur Hand nimmt, wird eingeladen mitzudenken: Ist alles erwogen? Ist richtig geschlossen? Wird jeder Zweifel ausgeräumt? Wer ein Florileg oder eine andere additive Sammlung benutzt, ist gehalten auszuwählen: Findest du etwas für dich? So kann man auch die Mittel- und Vermittlerstellung der Kompendien besser begreifen, wenn man von den Rezeptionsvorgaben ausgeht, die der Text bereitstellt. Der Leser ist der Aufgabe zu prüfen nicht enthoben, aber sie hat sich geteilt und verdoppelt: Sie setzt mehr voraus als zuvor, weil der Prüfende alles Anzitierte zuvor erinnern muß; und sie setzt weniger voraus, weil sie in größerem Maße mit überpersönlich autorisierten Setzungen zu tun hat, sie verlangt in diesem Sinne also nicht mehr die kongeniale Allkompetenz, die zum Prüfen einer Summe erfordert wird. Nach der ersten Weise kann ein Kompendium wie eine Summe gelesen werden; das denkende Mitvollziehen hat dabei allerdings kaum noch auf exakte Abwägung und korrekte Schlußfigur zu achten, sondern richtet sich auf neue, zusätzliche Fragen: Worauf wird Bezug genommen? Wer und was wird durch die affirmative Aussage verneint? Nach der zweiten Weise wird ein Kompendium als Unterweisungs- und Nachschlagewerk gelesen, ohne eine Aufforderung an das Buch, die über das allgemeinste "Lehre mich!" hinausgeht, aber möglicherweise mit hochspezialisierten Zwecken. Das, was in dem Buch aufgeschrieben ist, bildet dann nicht mehr die Unter-, sondern die Obergrenze des Verstandenen, wenn man dies an Theorien und innerliterarischen Bezügen mißt; mißt man es aber am Maßstab der einzelnen lebensweltlichen Anforderung (etwa der Orientierung in einem Widerstreit zweier Pflichten), so kann das zu der Sache Geschriebene durchaus nur den Kern liefern, um den sich das sach- und situationsbezogene Mitwissen und Mitverstehen anlagert. Während also die Summen durch ihre Zuweisung von zitierten Texten zu den Teilen des Schlusses neben dem Umgang mit dem verhandelten Gegenstand den Umgang mit den ihn behandelnden Texten einer Buchtradition explizit regeln, enthalten die Kompendien, da sie auf die zweite, diskursive Frageebene verzichten, nicht bereits durch ihre Struktur solche expliziten, wertenden Anweisungen zum Umgang mit anderen Büchern. In der naiven Rezeptionsweise des einfach Lernenden mag das kein Manko sein; gelehrte Rezeption muß Buchverwendungswissen in irgendeiner Form addieren. Das ist prinzipiell auch durch das ergänzend lesende Subjekt möglich; Schwierigkeiten stellen sich dort her, wo eine spezifische Weise von Buchverwendung der eigentliche Gegenstand des Textes ist - den Musterfall hierfür bildet der Umgang mit geschriebenem Recht. Auch wenn ein Text nach seiner Oberflächenstruktur rein thematisch organisiert ist - wie im Falle der 'Rechtssumme' -, muß er sein auslegendes Verhältnis zum Gesetzestext ausweisen. Daß Quellenberufung auch in anderen Gattungen Wahrheit verbürgen soll, sobald und wo Buchverwendungswissen historisch als Wert etabliert wurde, ist bekannt. Sowohl in Erzählkontexten als auch in erbaulichen oder belehrenden Sammlungen werden Quellen ornamental und stützend in Anspruch genommen. Wo aber Wissen über eine kodifizierte Norm vermittelt werden soll, ist die Quellenberufung die äußerste Reduktionsform des dazu nötigen Buchverwendungswissens, das wesentlich auf Auslegung beruht.
Summen in der volkssprachlichen Wissensliteratur
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3. Der Anspruch, das Ganze zu lehren: Summen in der volkssprachlichen Wissensliteratur Schon in der lateinischen Wissenschaft fallen die nachweislichen expliziten Reflexionen über die Summa als Gattungsbegriff nicht mit der ebenso nachweislichen Zuweisungsgewohnheit des Gattungsnamens an spezifisch strukturierte Texte zusammen, und die neuzeitliche Beschreibung muß deshalb die Implikationen der Zuweisungsgewohnheit erst rekonstruieren. Diese Schwierigkeit besteht grundsätzlich auch für die deutsche Wissensliteratur nach lateinischen Vorbildern. Dort muß man jedoch zusätzlich davon ausgehen, daß eine Bearbeitung nach ihrer Vorlage benannt werden kann. Deshalb ist der Anspruch, der sich möglichweise für den Autor mit der Benennung eines Textes verbindet, noch schwerer zu rekonstruieren. Die folgenden Betrachtungen stelle ich in der Absicht an, einen Vergleichsmaßstab für die Art zu gewinnen, wie die großen Normenbücher nach den zehn Geboten an die doppelte literarische Tradition der lateinischen Wissenschaft und der deutschen Wissensliteratur anknüpfen. Dabei geht es mir darum, zu zeigen, daß mit der Übernahme von Formvorbildern scholastischer Summen grundsätzlich ein inhaltlicher und methodischer Anspruch verbunden ist, daß er jedoch von Text zu Text in unterschiedlichem Maße unterlaufen wird, weil die Autoren die Spannweite dessen, was sie ihrem volkssprachigen Publikum glauben zumuten zu können, sehr unterschiedlich bestimmen. Der Gebrauchsraum Schule/Universität wird verlassen, und die methodischen Forderungen, die dort gestellt wurden, gelten für das deutsche Beratungsbuch nicht mehr. Das ist die gemeinsame Voraussetzung aller deutschen Texte nach scholastischen Vorbildern. Dennoch bemüht sich die Gruppe von Texten, um die es mir hier geht und aus der ich in den nächsten Kapiteln drei Beispiele einläßlicher vorstellen möchte, gerade darum, möglichst viele der Textstrategien, die zur scholastischen Methode gehören, zu bewahren und im fremden Medium zu reproduzieren. Die literarischen Formen, die sich für ein Feld von Wissensvermittlung in der Volkssprache etablieren, hängen offenbar wesentlich davon ab, inwieweit die Denkform, die die lateinische Wissenschaft dem Problem gegeben hatte, zu reproduzieren nicht nur möglich, sondern auch in neuen sprachlichen Zusammenhängen inhaltlich notwendig ist. Es gibt in der volkssprachlichen Literatur bis ins 15. Jahrhundert Textbezeichnungen, die den Verdacht nahelegen, das Wort summa sei für die Autoren nicht mit dem hochscholastischen Gattungsnamen identisch und bezeichne vielmehr nach frühscholastischer Gewohnheit (wie noch im 12. Jahrhundert bei Robert von Melun) die bündig zusammenfassende Darstellung einer
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Lehre, eine Form, der die Fachleute eher skeptisch gegenüberstehen, also Einführungsbücher für Fachfremde. Noch im 15. Jahrhundert kann Hieronymus Posser, nachdem er eine äußerst umfängliche Dekalogerklärung verfaßt hat, die einen Codex ganz und einen zweiten zu zwei Dritteln füllt, seine eigene Zusammenfassung der dort entfalteten Lehren Summa decern preceptorum dei nennen.97 Das zielt, auch wenn in dieser Auslegung die scholastischen Dispositions- und Argumentationsstrukturen noch deutlich sichtbar sind, eindeutig auf den Gegensatz zur vorhergehenden Langfassung, meint also eben nicht summa als einen scholastisch disponierten, sondern summa als einen zusammenfassenden Text. Noch mehr an der Grenze zur Beliebigkeit liegt der mittelalterliche Buchtitel für den von Tinbergen edierten Text Des coninx summe.9* Des coninx summe (nach dem Prolog 1408)" stellt nur eine von 5 bekannten Übersetzungen der französischen Somme le roi dar.100 Sie ist eine katechetische Sammlung, die aus sechs relativ selbständigen Traktaten (einer Dekalog-, einer Credo- und einer Vaterunsererklärung, einer Ars moriendi und je einer Abhandlung über Hauptsünden und Gaben des Heiligen Geistes) besteht;101 die Bezeichnung als Summe hat die mittelniederländische mit der französischen Fassung gemein.102 Sie ist durch den Prolog gesichert, entspringt also
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Dargestellt bei Gerold HAYER, Posser, S. 199-200. Es handelt sich um die Hss. Wien NB Cod. 3632 und Wien NB Cod. 4967. In Cod. 4967 fol 189r der Bezug: Suma decern preceptorum dei. Ego jam bene longo tempore dixi de preceptis dei qui nobis deus dedit ex sua ineffabile dileccione. Text nach HAYER, Posser, S. 200. HAYER hat die Übereinstimmung mit der Langfassung geprüft und hegt keinen Zweifel an der einheitlichen Autorschaft. Edition der Kurzfassung (summa) ohne Zuschreibung bei BAUMANN Bd. 2, S. 681-831. Zuschreibung, Vorlage, Parallelüberlieferung: HAYER, Posser, S. 210. Edition: TINBERGEN, S. 219-400. Ich wähle hier bewußt ein Beispiel, das für Volkssprachigkeit, aber nicht für Übersetzung vom Lateinischen ins Deutsche steht. Im französischen Sprachraum war Somme le Roy offensichtlich an das Genus, aber nicht an einen einzelnen Text gebunden. Unter diesem Namen kursierten auch moraltheologische Werke des Laurent du Bois O.P. und des Guilelmus Peraldus O.P., vgl. KRAUME, S. 22 Anm. 25. Eine solche Summe wird von Gerson empfohlen; den Text zuzuordnen ist jedoch nach KRAUME ebd. schwierig. Gersons volkssprachige Schriften selbst sind ein Beispiel für mittelbare Verbreitung moraltheologischen Wissens mit lateinischem Ursprung in mehreren Idiomen.
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TINBERGEN, S . 9 2 , P r o l o g s t e l l e S . 2 1 9 .
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TINBERGEN, S . 7 3 - 7 5 .
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TINBERGEN, S . 2 0 - 2 1 .
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Dagegen bevorzugt die übrige volksprachige Tradition livre, libro, book im Titel, v g l . TINBERGEN, S . 7 4 - 7 6 .
Summen in der volkssprachlichen Wissensliteratur
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einer Gattungsbeschreibung der Autoren (im weiten Sinne: Erstautor, Bearbeiter, Übersetzer), nicht der Tradenten. Es heißt dort: een boec dat een groel clerc van der predicaer oerden den conc Philips van Vrancrijk makede in den iaer ons Heren .MCC. ende LXXIX:, ende heet in francsoyse "Summe le Roye", dat is in duytsche "Des Coninx Summe". Ende heet een summe, want veel goeder materien te samene vergadert sijn tot eenre summen eens reckeliken levens.m
So kann die Zusammenstellung in einem Korpus, wenn sie sich für den besonderen Fall auch im Mittelniederländischen als relativ fest erweist, nur in sehr eingeschränktem Sinne, in Darstellungseinzelheiten auf der Ebene der gereihten Texte und in der Festlegung von Bestandteilen notwendigen Wissens, als eine gliedernde Durchdringung des katechetischen Wissensstoffes im Sinne scholastischer theologischer Summen betrachtet werden.104 Gerade diese "Königssummeconix" setzt eher das Formvorbild fort, das Johannes Trapman allen von ihm aufgezählten spätscholastischen und reformatorischen Summen (die nur zum Teil diesen Namen führen) zugrundelegt: "een 'Summa', d.w.z. een samenvatting, een handboek, een kort begrip, een compendium".105 Auch wenn man der Unbeschwertheit dieser synonymischen Auffassung von Gattungsbegriffen nicht leicht folgen möchte und den Gesichtspunkt der Darstellungsmethode darin zu sehr vernachlässigt findet, hat Trapman für das Beispiel recht: Dieses Korpus, das sich Summe nennt, ist tatsächlich eher eine Zusammenstellung im vorscholastischen Sinne als die vereinfachte Nachbildung einer scholastischen summa; gleichwohl enthält es Ansätze der Orientierung an den Summen de vitiis et de virtutibus.106
Viel mehr mit der scholastischen Gattung gemeinsam hat dagegen die 'Rechtssumme', die die Summa Iohannis nach deutschen Stichworten aufbereitet. Der Editionstitel 'Rechtssumme"07 enthält gleichzeitig eine Gat-
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TINBERGEN, S . 2 1 9 .
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TINBERGEN weist darauf hin, daß die französische somme auch unter der Bezeichnung miroir überliefert ist, und verweist für das Verständnis als Summe auf das Vorbild der lateinischen Summen über Tugenden und Laster vom Typ der Summa de vitiis et de virtutibus des Guilelmus Peraldus, TINBERGEN, S. 16-17. Eine zusätzliche Erhärtung der These, daß nicht scholastisches Summieren, sondern eher die Analogie zum Rechenbegriff angesprochen wird, findet sich im Prolog: want he leert ons hoe wi onse rekeninghe maken sullen teghen den groten rekendach daermen summam summarum vor den groten Conine brenghen moet (S. 219).
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TRAPMAN, S. 29, weitere Summen aus dem 16. Jahrhundert S. 30f.
106
V g l . TINBERGEN, S .
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Text: RECHTSSUMME, Edition.
16-17.
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Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
tungszuweisung, und zwar angesichts überlieferungskritischer Grundsätze konsequenterweise die, die in den Handschriften überwiegt; dabei setzt sich die handschriftliche Tradition in einer Durchdringung von Gattungsbewußtsein und Vorlagenbezug (der Text wird nicht nur als summa, sondern zum Teil auch als Summa Iohannis überliefert) über den Willen des Autors, der das neutrale püch verwendet, hinweg.108 Der Befund ist eindeutig: Für die Zeitgenossen war dieses deutsche Buch eine Summa. Tatsächlich hat die 'Rechtssumme' den wesentlichen Inhalt mit der Summa confessorum des Johannes von Freiberg gemeinsam, aber der Schwerpunkt der Darstellung wird verschoben: Es geht nicht mehr um Präsentation allen verfügbaren Wissens über die Beichte mit sämtlichen moraltheologischen und kanonistischen Implikationen, sondern um die vollständige Erfassung allen für eine Zielgruppe verbindlichen Wissens.109 Das setzt voraus, daß das Wissensgebiet bereits als gegliedert gelten und diese Gliederung als verbindlich auftreten kann, so daß das theologisch-ethische Ordnungsprinzip für die Fallstrukturen einer kanonistischen Summe keine Rolle mehr spielt. In einer theologischen Summe entspräche dieselbe Voraussetzung, nämlich daß das Wissensgebiet bereits als gegliedert anzusehen sei, einem Stand der Gattungsentwicklung, wie er um die Mitte des 13. Jahrhunderts erreicht war: daß der Bereich der zum Fachgebiet gehörigen Fragen abgesteckt ist und die Richtung des Fragens inzwischen keinen wichtigen Inhalt mehr ausmacht. Erst wenn die leitenden Fragen und die ordnenden Ideen festliegen, kann sich eine Mitteilungsform für Grundwissen herausbilden, die zugleich den systematischen Ort jenes Wissens (Welche Probleme sind zu behandeln?) und dessen Pflichtinhalte (Welche Lösungen müssen geläufig sein?) festschreibt. Die alphabetische Stichwortfolge der 'Rechtssumme' löst ja die Koordinatenachse der theologischen und ethischen Gruppierung möglicher Konstellationen ganz auf, und dennoch ist sie keine Erfindung der Übersetzer und Vermittler,
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Vgl. dazu STEER, Werkbezeichnung. Über das Abwägen der Möglichkeiten für den Editionstitel (zwischen der auf den Autor zurückgehenden Bezeichnung als püch, der Ansicht der Handschriften, es sei eine summa, und neuzeitlichen Beschreibungskategorien) auch: JOHANEK, Literaturgattung. Helmut WECK hat diesen Kreis für die 'Rechtssumme' beschrieben (WECK, S. 244-256). Er beginnt mit der "Feststellung..., daß Bertholds Werk primär ein Buch für Laien war" (S. 244). Weiter führt er aus: "Vor allem Adel und Bürgertum haben als Leserkreis der 'Rechtssumme' zu gelten" (S. 245), wobei "der Adel als Rezipient der 'Rechtssumme' fast ausschließlich nur in seiner 'Unter- und Mittelschicht' ... faßbar wird" (S. 245). Als die kennzeichnende Besonderheit der Rechtssummen-Überlieferung erscheint ihm die "unmittelbare Verbindung zum Gerichtswesen" (S. 247), die für 8 von 22 konkret faßbaren Besitzern nachweisbar ist.
Summen in der volkssprachlichen Wissensliteratur
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sondern auch innerhalb der lateinischen Gattungsentwicklung erfolgreich. 110 Das heißt, daß die Applikation der Fallstrukturen auf Ordnungsschemata theologischer Ethik inzwischen als entbehrlich gilt; nicht aber in inhaltlicher Hinsicht entbehrlich, denn die ethischen Probleme sind nunmehr in den Text hineingenomen, 111 sondern nur im Hinblick auf die Textgliederung. Der Weg der ethischen Bezüge von der Buchgliederung" 2 in den Text ermöglicht erst die mechanische Gliederung nach dem Alphabet, und diese wiederum befördert die selektive Benutzung. 113 Daß solche Übersichten über
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V g l . RECHTSSUMME, E d i t i o n , B d . 1, S . 1 3 * ; ULMSCHNEIDER, L o s e , S. 1 7 3 .
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Das habe ich im ersten Teil am Beispiel der 'Rechtssumme' zu zeigen versucht. Die Versuche der Autoren, die oberste Gliederungsebene mit theologischen Reihen zu besetzen (Johannes von Erfurt wählt zum Beispiel Laster und Dekalog, vgl. die Edition von BRIESKORN), stellt den ständigen Bezug zu theologischen Summen her und behauptet gleichsam nebenbei auch eine Doppelkompetenz der Kanonisten in Theologie und Rechtswissenschaft. Daß diese Gliederungen im 14. Jahrhundert zunehmend aufgegeben werden, liegt auch an der gesellschaftlichen Aufwertung der Rechtswissenschaft, die zur Rechtfertigung ihres Anspruchs und Standesbewußtseins die betonte Allianz mit der Theologie nicht mehr nötig hatte. Daß das Fehlen einer theologisch bezogenen inhaltlichen Gliederung nicht als Mangel empfunden wurde, zeigt sich nicht an der bereits erwähnten alphabetischen Summa Pisana am klarsten, sondern an ihrer deutschen Übersetzung, die die lateinische Ordnung beibehält und Pfaffe unter C wie clericus, Scheidung unter
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D w i e divortium
b e h a n d e l t , v g l . ULMSCHNEIDER, L o s e , S . 1 7 9 .
HAMM/ULM-
SCHNEIDER, Übersetzungsintention, S. 61-68 u. S. 85, waren noch davon ausgegangen, daß wegen dieser Schwierigkeit und der Wort-für-Wort-Übertragung die deutsche Summa Pisana "ohne weitere Wirkung" geblieben sei, ebd. S. 85. Helgard ULMSCHNEIDER hat dieses Urteil in DIES., Lose S. 173 revidiert, weil Johannes Lose in seiner Bearbeitung der '9 Bücher Magdeburger Rechts' eben diese Übersetzung verwendet hat. Das heißt wohl, daß der Text verwendbar gewesen sein muß, zu den konkreten Möglichkeiten vgl. ULMSCHNEIDER, LoseS. 177. Ich entnehme nun den beiden Aufsätzen, daß der mittelalterliche Übersetzer anders mit den Schwierigkeiten der Benutzbarkeit eines deutschen, aber nach lateinischen Stichworten geordneten Textes umgegangen ist als die späteren Abschreiber. Er selbst hat sich noch nach inhaltlicher Geschlossenheit von Blökken orientiert und inhaltlich Zusammengehöriges mitunter gegen die Vorlage z u s a m m e n g e f a ß t , v g l . HAMM/ULMSCHNEIDER, Ü b e r s e t z u n g s i n t e n t i o n S . 6 7 . D i e
Abschreiber haben jedoch lateinisch-deutsche und deutsch-lateinische Register ergänzt, und zwar offenbar nicht auf einmal, sondern vervollkommnend, vgl. e b d . , S. 6 3 - 6 6 u n d ULMSCHNEIDER, L o s e , S . 177. W e n n i c h d i e s e n V o r g a n g d e r
Bearbeitung richtig verstehe, dann orientiert er sich nicht mehr am alten Textvorbild der summa confessorum mit inhaltlicher Großgliederung (wie bei Johannes von Freiburg, dessen summa Bartholomäus von Pisa als Vorlage gedient hatte). Nur der Übersetzer selbst hat es noch vor Augen, er stellt es gegen das unzulängliche Resultat der Übertragung des neuen Gliederungsprinzips, will also die Kinderkrankheiten des neuen Nachschlagebuches mit den Tugenden des alten Lehrbuches heilen. Die Abschreiber dagegen favorisieren das Nachschlageprinzip
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Grundwissen nun von den Tradenten und Benutzern Summen genannt werden können, zeigt eine Verschiebung im Prinzip des Summierens an, die als Tendenz zum Kanon auftritt. Hierin trifft sich die 'Rechtssumme' allerdings wieder mit der 'Königssumme'. Man kann an diesen beiden Texten die Spannweite ermessen, innerhalb derer die volkssprachige Literatur die lateinische Summenentwicklung nachvollzieht: Die literarische Nachfolge großer Summen, wie der des Thomas und Raymund, deren Methode ihre literarische Vorbildwirkung wesentlich bedingt, überlagert sich mit dem frühscholastischen, rein additiven Summenbegriff." 4 In der 'Königssumme' bleibt in dieser Überlagerung die vorscholastische, in der 'Rechtssumme' die scholastische Auffassung vom Summieren und der summa dominant. Schon in der lateinischen Summenentwicklung war in dem Moment, in dem Texte scholastischer Ausprägung häufig bemüht und damit nicht nur als Lehr-, sondern auch als Formvorbilder anerkannt wurden, das Wiedereindringen vorscholastischer Elemente vorherbestimmt, denn insofern die gliedernden Setzungen eine Tendenz zur Verfestigung der Grundstruktur in Lehre und literarischer Form mit sich brachten, mußte das reihende Addieren innerhalb der Binnenräume der scholastischen Großform wieder Rechte zurückgewinnen. Für denjenigen, der neue Summen schrieb, hieß das (schon in der lateinischen Tradition seit der Mitte des 13. Jahrhunderts), daß nicht ein je neuer Grundriß eines Gedankengebäudes entworfen werden konnte, sondern daß der Grundriß im wesentlichen
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und wollen es handhabbar machen; es könnte sein, daß sie durch eigene Benutzung des lateinischen Werkes (der Summa Pisana) bereits von den Vorteilen dieser Buchorganisation überzeugt sind. Für die Summen de casibus conscientiae ist der Prozeß der Festschreibung der Grundinhalte und Gliederungsprinzipien bei gleichzeitiger Anreicherung mit Neuem von TENTLER beschrieben worden. Er ist dort wesentlich daran gebunden, daß die überwiegende Mehrheit kanonistischer Bestimmungen durch mehrere Jahrhunderte in Kraft blieb und - eine Eigenheit juristischer Texte - unter gleichem Namen und in weitgehend wörtlicher Übereinstimmung verhandelt werden mußte. Für die theologischen Summen war der Verfestigungsprozeß wesentlich an den Usus der Gliederungsgewohnheiten gebunden; es war eine Notwendigkeit des Auffindens, Lesens und Memorierens, Vergleichbares an vergleichbarer Stelle zu finden, so daß sich die Gliederungsblöcke theologischer Summen (und damit die Grundinhalte) auf den oberen Untergliederungsebenen entsprechen müssen. Dazu: CARRUTHERS, S. 1 5 6 - 1 8 8 ( M e m o r y and the Ethics of R e a d i n g ) , hier b e s . S. 1 7 4 .
Vgl. auch: PALMER, Kapitel und Buch, S. 59. Die Feststellung ebd. "Bei anderen scholastischen Autoren wird die 'innere' Struktur des Werkes jedoch explizit auf die 'äußere' Gliederung übertragen" gilt nicht nur für die vorgestellten Autoren, sondern ist geradezu charakteristisch für scholastische Textsorten oberhalb der Quaestionenebene. Zu deren Abgrenzung von umfassenderen Korpora vgl. LAWN, bes. S. 3 - 1 3 .
Summen in der volkssprachlichen Wissensliteratur
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feststand und daß der neue Text seinen Anspruch, nunmehr als eine und als die Summe aufzutreten, weniger aus dem Verfolgen abweichender Linien als vielmehr aus dem variierenden Zufügen bezog: Die Summe wird aus dem Entwurf möglichen Wissens zum Archiv des verfügbaren. Die Inhalte von 'Rechtssumme' wie Des coninx summe verhalten sich zu der Tradition der lateinischen Summen nicht gleich; während die 'Rechtssumme' deutlich einen scholastischen Summentyp aufnimmt und umformt, fehlt ein solcher eindeutiger Bezug für die 'Königssumme'. Dennoch haben beide Texte Ähnlichkeiten. Sie decken zwar ein empirisch gut abgrenzbares Wissensgebiet ab, aber fallen mit keinem der an Studia oder Universitäten etablierten Fächer zusammen. In beiden Fällen geht es um Normwissen, und das nicht im strengen Sinne eines Rechtsbuches, sondern in dem Grenzbereich zwischen Moral, Recht und Normen religiöser Praxis. Die Moral ergibt sich dabei als Folgerung einer Ethik, die selbst allerdings ihren festen systematischen Platz behaupten kann, das Recht ist ein mit römischem Recht angereichertes Kirchenrecht, welches sich zur Bestimmung der Fälle von Sündhaftigkeit weltlich-rechtlicher Unterscheidungen bedient.115 Die Normen religiöser Praxis werden ihrerseits ursprünglich im Lateinischen in theologischen Abhandlungen begründet, in kanonistischen gesetzlich gefaßt. Jedes dieser Zentren in den Grenzen des übergeordneten akademischen Faches zu behandeln wäre möglich, ohne den präskriptiven Impetus zu stören; aber die Art der Normativität des Vermittelten wäre eine andere, als sie nun vorliegt. So behandelt die Secunda Secundae des Thomas Tugenden und Laster, ebenso wie es die 'Königssumme' tut; aber wenn bei Thomas eine Handlung als sündhaft verurteilt wird, so bezieht dies Urteil seine Verbindlichkeit im Text aus der Einbettung in den Kontext des Lehrsystems: Das Schlechte ist schlecht, weil dies unabänderlich aus den ontologisch-theologischen Grundpositionen folgt, die in anderen Teilen desselben Buches explizit dargelegt werden; das mittelniederländische (wie das französische) Buch koppelt die Ethik und Morallehre von der ontologischen Fundierung ab; sie wird im Buch selbst nicht mehr verhandelt. Ähnlich differiert die Herleitung der Schuldund Bußbewandtnis im Rahmen der gelehrten Kanonistik"6 von der Darstellung von Schuldhaftigkeit in der 'Rechtssumme': Die ethischen, legistischen, kanonistischen und theologischen Begründungsmuster sind stark verkürzt.
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116
Vgl. zur Entwicklung des Verfahrens, legistische Instrumentarien (die differenzierter waren als volkssprachliche Rechte) zur Festlegung innerer Schuldbewandtnis (also für eine kanonistische Fragestellung) zu verwenden: TRUSEN, Bedeutung, S. 267. Zum Überblick vgl. DERS., Anfänge. Vgl. dazu KUTTNER, Schuldlehre; GRABMANN, Naturrecht; PREE, Rechtsnorm.
236
Der Weg von der Dekalogauslegung zur Summa
Nun stellen zwar die gelehrten Abhandlungen universitärer Theologen und Juristen die Quellen und Autoritäten bereit, auf die sich die volkssprachlichen Summen berufen; aber diese ersetzen den vormaligen systematischen durch einen lebensweltlich-praktischen Kontext: Wenn Gutes, Rechtes und bewährte Übung als grundsätzlich erkannt und bekannt gelten können, ist es die Situation, die diktiert, was zu tun sei; und die Kenntnis der möglichen Situationen wird, verknüpft mit der jeweiligen Verwendungsregel für das im systematischen Kontext bereits Erkannte, zum abgelösten Gegenstand eigener Betrachtung. Gegenüber den klassischen scholastischen Summen hat sich damit die Art zu fragen grundlegend verschoben: Es ist nicht der menschliche Geist, der im Maße seiner göttlichen Erleuchtung das Wissen über die Welt so gliedert, wie Gott die Welt gegliedert hat; vielmehr fragt die Welt den Studierenden daraufhin ab, welche Inhalte seines Wissens ihm in diesem oder jenem Fall geeignet scheinen, ihr zu begegnen. Damit ist nicht das Denkmögliche, sondern das Lebbare gefragt; nicht die Linien adäquaten Denkens, sondern die adäquaten Linien des - freilich durchdachten - Tuns. Das situativ-lebensweltliche, gleichsam exzerpierende Interesse an lateinischen Summen spiegelt sich im Organisationsprinzip der Texte wider: Die Buch-, Quaestionen- und Artikelteilung der Summen, das konsequent hierarchische Prinzip, das systematisch Gleichwertiges auf gleicher Untergliederungsstufe verhandelt, wird durch eine reihende Form ergänzt und partiell durchbrochen. Während die gliedernden Fragen der Summen vom Allgemeineren zum Speziellen vordringen, wägen die Betrachtungen möglicher Grundkonstellationen richtigen Handelns diese, unabhängig von ihrem systematischen Stellenwert im Quellentext, untereinander als gleichwertig. Der Aspekt der ordnenden Durchdringung allen Wissens, weltlichen wie Glaubenswissens, im Dienste der Theologie"7 tritt zurück: Die Wissensgebiete tragen ihren Anspruch selbst vor, und die Durchdringung besteht nicht mehr in hierarchisch-systematischer, sondern mechanisch-archivalischer Ordnung. Das alphabetische Prinzip der 'Rechtssumme' läßtjene andere Art zu gliedern deutlich erkennen. Es löst jedoch das subsumtiv-kasuistische Strukturprinzip des kanonistischen Vorbildes nicht ab, sondern tritt als gleichberechtigtes Muster der Textorganisation neben dieses. Des coninx summe verläßt die Argumentationsmuster scholastischer Vorbilder (etwa des Guilelmus Peraldus) konsequenter; die Reihung gleichberechtigter, nicht zwingend in dieser Abfolge zu behandelnder Texte in Des coninx summe setzt gleiches Gewicht an die Stelle von Über- und Unterordnung, und die Binnengliederung der Stücke setzt Orientierung an theologischen Summen nicht zwingend voraus.
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Vgl. KLUXEN, Ethik, S. 19f.
Summen in der volkssprachlichen Wissensliteratur
237
Wenn ich diesen Versuch einer Orientierung im Feld volkssprachlicher 'Summen' auswerte, ergibt sich folgendes Bild: Wie im Lateinischen haben die Autoren der Texte nur ein Vorschlagsrecht darauf, daß ihr Text als Summe gelesen werden möge, oder, wie bei der 'Rechtssumme', darauf, daß er nicht so gelesen werden möge. Was eine Summa ist, entscheiden aber wesentlich die Tradenten. Sie akzeptieren offenbar den additiven Summenbegriff, besonders dann, wenn er ihnen vorgegeben wird. Daß sie zu eigener Bezeichnung eines Buches ihrerseits den methodischen benutzen, glaube ich nicht. Es gibt dafür nur das Beispiel der 'Rechtssumme', und sie hieße wohl nicht so, wenn ihre Vorlage keine berühmte Summa gewesen wäre. Der Name 'Summe' allein kann den Schreibern nicht übermäßig wichtig gewesen sein, er war in der Volkssprache noch offener als in der lateinischen Literatur. Für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung von Normenbüchern aus dem späten Mittelalter bedeutet das: 'Deutsche Summen' sind nicht dort zu suchen, wo ein Autor oder Abschreiber seinen Text summe genannt hat. Es gibt solche Fälle, aber sie weisen keine gattungsprägenden Gemeinsamkeiten auf. Man muß sich also dazu verstehen, 'deutsche Summen' allein als neuzeitlichen Klassifikationsbegriff zu verwenden. Das hat nur Sinn, wenn man ihn an das knüpft, was die gattungsprägenden lateinischen Summen der scholastischen Epoche auszeichnet: an eine methodengebundene Gedankenführung und an einen Textaufbau, der diese Gedankenführung klar abbildet. In diesem Sinne können deutsche Dekalogerklärungen tatsächlich Summen sein, aber sie sind es nicht zwangsläufig: Die Idee des vernünftigen Gewissens zieht dort, wo sie zur Anleitung ausgenutzt werden soll, die scholastischvernünftigen Bauformen von Texten notwendig in den Rezeptionsprozeß hinein. Sobald und solange das Gewissen auch in der Volkssprache denken, einordnen und schlußfolgern darf und soll, muß ein Anleitungsbuch explizit vordenken und in die Figuren des Einordnens und Schlußfolgerns einüben. Wenn das Wissen über religiöse Praxis nur erbauen und das Gewissen nur schlagen oder sich beruhigen soll, dann haben die methodisch begründeten Textmuster scholastischer Summen ihr Recht verloren. Damit behaupte ich einen Zusammenhang zwischen Gewissensbegriff und Textstruktur von Normenbüchern. Die drei Einzelanalysen von Auslegungen sollen erweisen, daß es ihn gibt.
II. Zwischen Vollkommenheit und Kasus: Heinrich von Friemar deutsch 1. Bemerkungen zum Text Heinrich von Friemar der Ältere (ca. 1245-1340) hat ein ausgedehntes, noch nicht restlos erforschtes Werk hinterlassen. Erste Einordnungen seiner Positionen und eine Zusammenstellung seiner Werke hat Clemens Stroick unternommen, 1 dem auch die komplizierte Unterscheidung der vier mittelalterlichen Autoren gleichen Namens zu verdanken ist.2 Die editorische Erschließung der lateinischen Werke ist von dem bedeutenden Ordenshistoriker der Augustiner Adolar Zumkeller begonnen worden. 3 Er hatte allein für die Dekalogerklärung in seiner Zusammenstellung der handschriftlichen Überlieferung von Werken aus dem Augustinerorden bereits 293 lateinische Textzeugen gefunden. 4 Die Zahl hat sich durch die Sammelarbeit von Bloomfield, Guyot, Howard und Kabealo5 um zwei Fehlzuschreibungen korrigiert, aber gleichzeitig um weitere 89 (ohne Fragmente, Auszüge und Dubia) erhöht. 6 Bertrand-George Guyot O.P. ist im Begriff, eine kritische Ausgabe der Dekalogerklärung abzuschließen.7 Zu dieser Erklärung, die zu den ver-
1
V g l . STROICK.
2
STROICK, S. l l f . STROICK konnte sich dabei auf die Vorarbeit von Winfried
3
ZUMKELLER, H v F asc. I, DERS., HVF asc. II. Die Arbeit an der Edition des
HÜMPFNER O E S A s t ü t z e n , v g l . DERS.
4
Traktates über die Unterscheidung der Geister hat ZUMKELLER allein begonnen, ebenso wie Robert G. WARNOCK die Edition der deutschen Fassungen allein begonnen hatte; durch beider Kenntnis vom Vorhaben des anderen ist die lat.mhd. Ausgabe entstanden: WARNOCK/ZUMKELLER S. VII. ZUMKELLER, Manuskripte, Nr. 325 u. 325n.
5
BLOOMFIELD u . a .
6
BLOOMFIELD u.a. Nr. 0 5 2 6 , S. 59f.
7
Pater GUYOT O.P. hat mir in großzügigem Entgegenkommen nicht nur den Text seiner noch ungedruckten Ausgabe zur Verfügung gestellt, sondern auch seine Quellennachweise, und mich darüber hinaus brieflich beraten. Ich hatte Heinrich von Friemar in einem Frühdruck gelesen. Nach der Empfehlung und mit der Erlaubnis von Pater GUYOT zitiere ich die lateinischen Parallelstellen zum deutschen Text nun nach dem von ihm hergestellten Text mit den Blattangaben seiner Leithandschrift, clm 8151, fol. 1-63.
Bemerkungen zum Text
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breitetsten des Mittelalters gehörte, gibt es drei deutsche Versionen: eine freie niederdeutsche Bearbeitung, die den Text der Vorlage stark kürzt, aber an einigen Stellen ausgiebig mit Sondergut anreichert, eine gleichmäßig leicht kürzende Vollbearbeitung ungeklärter, jedenfalls mittel- oder oberdeutscher Herkunft und eine niederdeutsche Teilübersetzung des zweiten Deutungssinnes zum vierten Gebot.8 Damit ist die Dekalogerklärung nicht die am häufigsten übersetzte Schrift des Heinrich von Friemar - der von Zumkeller und Warnock edierte Traktat über die Unterscheidung der Geister ist in 18 verschiedenen Übersetzungen erhalten9 -, aber doch eine mit überregionaler Bedeutung für die deutsche Übersetzungsliteratur. Daß sie bei Marquard verwendet wird, wie Nigel Palmer herausgefunden hat,10 ist weder zufällig noch verwunderlich. Heinrich ist nach den Urkundenfunden von Stroick Gutachter im Prozeß gegen Margeruite Porete gewesen," und er hat sich, das ist Adolar Zumkeller aufgefallen, in seiner Schrift 'De adventu Verbi in mentem' mit Eckhart, besonders mit der Predigt über lusti vivent in aeternum, auseinandergesetzt.12 Sein Werk lebt vom Dialog mit Eckhart;13 auch die Dekalogerklärung versucht, Lehren volks-
8
9
Vgl. WARNOCK VL. Ich hoffe, die beiden vollständigen Übersetzungen demnächst in einer Edition vorstellen zu können. In WARNOCK/ZUMKELLER, S. 41-43, S. 43 werden zusätzlich zwei bezeugte, aber verschollene Textzeugen erwähnt.
10
V g l . PALMER, M a r q u a r d , S p . 9 0 .
11
STROICK folgert weiter, daß Heinrich während der Verurteilungen von Michael de Cesena, Petrus de Corbaria, Bonagratia und Wilhelm von Ockham zugegen gewesen sei: Urkundenregesten ebd. S. 14, 17 u. 18. Adolar ZUMKELLER, der Heinrich später ediert hat, bestätigt diese Angaben in DERS., Fehlentwicklungen,
12
ZUMKELLER, Fehlentwicklungen, und DERS. (ed.), HvF asc. I S. XX-XXI. Inhaltlich erscheint mir ZUMKELLERS Argumentation nach wie vor überzeugend. TRUSEN, Prozeß, S. 67-68 zweifelt sie an, vor allem, weil Heinrichs Traktat 'De adventu Verbi in mentem' schon um 1300 entstanden ist und weil Eckhart im Prozeß die Lehre von der Realeinheit des Menschen mit Gott (unio secundum identitatem realis existentiae) als falsch und absurd abgelehnt hat. Von dieser Lehre hatte sich Heinrich bei seiner Bestimmung der unio explizit abgegrenzt, und ZUMKELLER, Fehlentwicklungen, S. 237-238 hatte diese Abgrenzung deshalb auf Eckhart bezogen, weil die Verurteilungsbulle einen ähnlichen Satz enthält. Alle Quellen bei TRUSEN ebd. Widerlegt scheint mir ZUMKELLER nicht, weil Eckhart eine solche Lehre, wie Heinrich sie kritisiert hat, ja tatsächlich vorgeworfen worden ist. So unzutreffend der Anklagepunkt auch immer gewesen sein mag, er beweist doch die Wirksamkeit der Fama unabhängig von den Erklärungen des Autors Eckhart. Ich verstehe TRUSENS Schwierigkeit mit der Chronologie der Ereignisse, aber sie löst sich völlig auf, wenn man auch mit der Möglichkeit rechnet, daß Heinrich noch gar nichts vom Prozeß gewußt haben muß, ja nie eine Eckhartschrift gelesen oder eine Eckhartpredigt gehört haben, um sich allein aus
S. 2 3 4 . 13
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Heinrich von Friemar deutsch
sprachlicher Theologie aus der Gefahr des Heterodoxen zu retten, in die lateinische Begrifflichkeit zurückzuführen und sie handhabbar zu machen; sie ist zumindest nach meiner Kenntnis die erste Dekalogerklärung der Literaturgeschichte, die versucht, wirksame Ideen der zweisprachigen Theologie des 14. Jahrhunderts - nämlich die Gottesgeburt in der Seele und die Vorstellung der mentalen Einheit mit Gott jenseits eines sinnlichen Erlebnisses - mit einer handhabbaren Anleitung zum guten Leben zu verbinden, die ihrerseits kanonistische Vorbilder in den Summen se casibus poenitentiae hat.14 Der Versuch darf nicht unterschätzt werden, denn diese kanonistischen Summen sind, was ihnen durchaus nicht vorzuwerfen ist, funktionsgemäß weit entfernt von jedem Versuch, über das Unsträfliche hinaus auch das schlechthin Gute und die Vollkommenheit anzuvisieren. Im Vordergrund der folgenden Untersuchung soll die hochdeutsche 15 Fassung stehen. Ich zitiere den Text nach der Handschrift cgm 445, fol. 87v176r. Es ist die bessere, aber auch die spätere Handschrift, sie stammt aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts,16 während die Hamburger Handschrift
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dem Vorurteil, daß Eckhart solcherlei nachgesagt werde, vorausschauend gegen ihn abzugrenzen. Im übrigen bleibt auch für TRUSEN ZU erklären, wen Heinrich meint. Ich kann diese Frage nicht gültig entscheiden, möchte aber anmerken, daß die Lösung "Sicher hörte er von jenen Ketzern des Nördlinger Ries, über deren Lehren Albert d. Gr. ein Gutachten abgab" (TRUSEN ebd., S. 68) die ebd. als "äußerst bedenklich" inkriminierte Aussage ZUMKELLERS "Man wird jedenfalls nicht ausschließen können, daß sich Eckhart bereits als Prior in Erfurt in diesem Sinne geäußert hat" (ZUMKELLER, Fehlentwicklungen, S. 238) im Status der Gewißheit nicht übertrifft. Am Anfang meiner Beschäftigung mit geistlicher Prosa habe ich schon einmal versucht, den Prolog von Heinrichs Dekalogerklärung in diesem Sinne zu interpretieren (Jahrb. der Oswald-von Wolkenstein-Ges. Bd. 6). Daß das richtig ist, glaube ich nach wie vor; von den komplexen Diskussionen um die visio beatifica verstand ich damals noch nicht genug. Diese diffuse Formulierung rührt daher, daß die beiden erhaltenen Handschriften schreibsprachlich weit voneinander entfernt sind, aber jedenfalls nicht niederdeutsch wie die beiden Zeugen der zweiten Übersetzung. Die Hamburger Handschrift zeigt ostmitteldeutsche Formen überregionaler Geltung, die Münchener Handschrift ist schwäbisch geprägt. Beide Handschriften gehen zwar wegen gemeinsamer Fehler auf einen Archetyp zurück, vertreten aber ihm gegenüber gleichberechtigte und verschiedene Traditionszweige. Da Heinrich von Friemar sein Leben weitgehend in Thüringen verbracht hat, läge eine ostmitteldeutsche Erstübertragung nahe, sie ist aber philologisch nicht beweisbar. Handschriftenbeschreibung: Karin SCHNEIDER, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm351-500. Wiesbaden 1973 (Catalogue codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis torn. V, ed. altera, pars III), S. 282-283. Daß in der Auslegung das 10. Gebot fehlt, ist ein Irrtum; die Übertragung zieht das neunte und zehnte Gebot zusammen.
Bemerkungen zum Text
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Cod. theol. 1555 das Datum 1452 trägt.17 Die stemmatische Gleichwertigkeit der Zeugen läßt eine Entstehung des Textes in einigem zeitlichem Abstand vor der ersten überlieferten Handschrift vermuten; genauere Festlegung bliebe jedoch spekulativ. Wie in der künftigen Ausgabe richten sich Besserungen gegenüber der Münchner Handschrift nach der Hamburger Handschrift, fol. lr-42v, die nach dem achten Gebot abbricht. Sie werden ausgewiesen. Den deutschen Text nehme ich so, wie er uns überliefert ist, inhaltlich ernst, ich versuche, seine theoretischen Implikationen deutlich zu machen. Dazu ist der Rückgriff auf die Vorlage nötig, er entwertet den deutschen Text jedoch nicht: Auch er ist theoriehaltig und so, nämlich auf deutsch, gelesen worden.
2. Gesetz und Seele Die Dekalogerklärung Heinrichs von Friemar will mystisches Gedankengut und positive Normativität vereinen. Das hat sie für andere Autoren, die sich ebenfalls - wie Marquard von Lindau - der mystischen Tradition in der geistlichen Literatur verpflichtet gefühlt haben, interessant werden lassen. In der lateinischen Schrift findet sich der Gedanke des Fortschreitens vom Gebotenen zur Vollkommenheit im Prolog am klarsten ausgedrückt. Er war dem vorsichtig kürzenden Übersetzer der hochdeutschen Fassung wichtig. Seine Version zu Heinrichs Begründung für die Beschäftigung mit den Geboten heißt: Vmm dry sach süllen wir sy gern vnd frölich hörn. Die erst, das in den gebotlen der uall menschlicher natur wirt wider braucht [...] das ander, das wir darumb
17
Vgl. Nilüfer KRÜGER, Die theologischen Handschriften der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. 2. Quarthandschriften (Cod. theol. 1252-1750). Stuttgart 1985 (Katalog der Handschriften der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Bd. II) S. 93. Aus dieser Handschrift, die sich in seinem Besitz befand, hatte GEFFCKEN, Bilderkatechismus, Beilagen S. 20-29 eine Probe unter dem Namen des Nikolaus von Lyra ediert. Die Zuschreibung kommt daher, daß die lateinische Auslegung des Heinrich von Friemar mehrmals unter dem Namen des Nikolaus von Lyra abgeschrieben und gedruckt worden ist, vgl. STROICK S. 374 2 , BLOOMFIELD/GUYOT/HOWARD/KABEALO Nr. 0 5 2 6 S. 5 9 - 6 0 . D i e H a n d s c h r i f t
ist 1990 aus Moskau zurückgekehrt.
242
Heinrich von Friemar deutsch
gesichert werden ewiges lebens [...] das drit, das vnnser gemüt zä der obrösten volkomenhait wirt erhöhet, als verre das müglichen ist hie in dieser zit.18 Zu den ersten beiden Punkten faßt sich der Übersetzer kurz, obgleich Heinrich sie näher ausführt. Nur zum dritten Gesichtspunkt, dem Gedanken der peifectio, überträgt er auch die Untergliederung: Zä disem erhöhen des gemüts gehörent drw ding: das erst ain ablegen aller irdischer ding vnd sorgueltikait, das ander ist ain volkommen emblössung aller geschaffner creatur, das drit, das das gemüt jn jm selber gentzlich gesamnet sy, dar nach das der mensch gentzlich sterb jn sinem willen, als sant Bernhart leret.19 Heinrich sieht die Befolgung der Gebote im Zusammenhang mit dem stufenweisen Aufstieg zu Gott, wie Bernhard von Clairvaux ihn gelehrt hat, und der Bearbeiter will diese Grundausrichtung auch in seiner Fassung bewahren. Ich halte mich noch ein wenig beim Prolog auf, denn hier weist die Übersetzung einen interessanten Zug auf. Die vorn leicht gekürzt zitierte Aufzählung von Gründen für die Beschäftigung mit den Geboten heißt in ihrem ersten Punkt vollständig: Vmm drij sach süllen wir sij gern vnd frölich hörn. Die erst, das in den geholten der uall menschlicher natur wirt wider braucht, also das vnser drij kreft der sei: Vernunft, gedechtnuß vnd der will, die von dem vall adams werdent gekrencket, also zä bekennen got volkomenlich werdent gehailt.20 Die entsprechende Stelle in der Vorlage gibt zum ersten Punkt ihrer Aufzählung primo quia naturam lapsam releuant et omne uulnus peccati curanf1
18
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20 21
Cgm 445, fol. 84v-85r. Ich habe eine Interpunktion nach neuhochdeutscher Gewohnheit eingeführt, um das Verständnis zu erleichtern, und außerdem die dadurch entstehenden Satzanfänge mit Majuskeln versehen. Vorlagentext: Propter primum est sciendum quod precepta diuina sunt libenter et hilariter audienda triplici ratione: primo quia naturam lapsam releuant [...] secundo quia hominem de uita beata certificant; tertio quia mentem rationalem ad summam perfectionem eleuant. Text: GUYOT, entsprechend elm 8151 fol. lr, lv. Cgm 445, fol. 85r-85v. Vorlage: Primus est omnis terrene sollicitudinis depositio et mentis ab omni specie creata perfecta denudatio ac in sui intimo omnimoda recollectio. Text: GUYOT, entsprechend elm 8151 fol. 2v. Cgm 445, fol. 84v-85r. Ausgabe GUYOT entspr. elm 8151, fol. lr, lv.
Gesetz und Seele
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folgenden Kommentar: natura namque humarta ex preuaricatione primi parentis fuit tripliciler peccati uulnere sauciata. Et primo quidem in rationali que fuit obfuscata in cognitione primi ueri [...] Secundo in concupiscibili, que fuit uitiata in dilectione summi boni [...] Tertio in irascibili, quia fuit debilitata in detestatione mali [...] Hoc autem uulnus per diuina precepta perfectissime sanatur. Nam primo, rationalem illuminant in perfecta cognitione primi ueri [...] Secundo, concupiscibilem inflammant in perfecta dilectione summi boni [...] Tercio, irascibilem roborant in perfecta detestatione mali f...]. 2 2
Es fallt auf, daß der deutsche Text nicht wie die Vorlage von den Strebevermögen der Seele ausgeht, sondern von den Seelenpotenzen her argumentiert. Die Strebevermögen gehören zum alten philosophischen Erbe der theologischen Seelenlehre. Hieronymus hat in seinem Ezechiel-Kommentar an derselben Stelle, an der er auch die syneidesis einfuhrt (die spätere synderesis), referiert: Plerique, iuxta Platonem, rationale animae et irascentiuum et concupiscentiuum, quod ille λογικό ν et θυμικό ν et e-πιθυμητικόν uocat, ad hominem et leonem ac uitulum referunt.21 Durch die Autorität des Hieronymus und der glossa ordinaria, die hier auf Hieronymus fußt, ist ebenso wie der Begriff der synderesis auch diese Unterscheidung in den festen Bestand der Seelenlehre des Mittelalters gelangt.24 Sie konkurrierte aber mit dem Augustinischen Ternar voluntas, memoria, intellectus,2> Die Ausbildung einer einheitlichen Terminologie hatte zudem Rücksicht zu nehmen auf Aristoteles in De anima 111,9, wo der Wille als Strebevermögen dem überlegenden Seelenteil zugeteilt wird, Begierde und Erzürnbarkeit aber dem unvernünftigen; eine schwierige Stelle, an der Aristoteles selbst um die Harmonisierung der tradierten platonischen Unterscheidung mit seiner eigenen Lehre von der Ernährungsseele und Vernunftseele und der Annahme weiterer Seelenteile (wahrnehmender und vorstellender Teil) ringt.26 Seit Albertus Magnus war es üblich, die augustinischen Seelenkräfte als Potenzen der Vernunftseele zu verstehen, die Zornfähigkeit und die Begierde dem sinn-
22 23
24
25 26
Ebd. Hieronymus In Ez. 1,1,6, CCSL Bd. 75, Turahout 1975, S. 11. Hieronymus bezieht sich auf Timaios 70 a-d. Auch die pseudoaugustinische Schrift 'De spiritu et anima', die Thomas und Bonaventura für echt galt, verwendet die Unterscheidung. Zum Problem und den Quellen bei Thomas: ZIMMERMANN, Strebevermögen. Bonaventura zitiert In II Sent. dist. 39 art. 2 q. 1 am Schluß der Liste von Gegenargumenten 'De spiritu et anima'. Vgl. REYPENS, ame, Sp. 436-440. De anima III.9 432a 23 - 432b 8.
Heinrich von Friemar deutsch
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liehen Seelenteil zuzuordnen.27 So war der Vernunftseele mit ihren drei Seelenkräften ein Strebevermögen zugeteilt - das logikon -, der Sinnenseele gehörten zwei Strebevermögen zu: das thymikon und das epithymetikon. Der Wille war damit doppelt und in zwei verschiedenen Bezugssystemen beschrieben: als das spezifische Strebevermögen der Vernunftseele nach Aristoteles, De anima III.9; als eine von drei Kräften (oder in aristotelischer Sprache: Potenzen) der Vernunftseele nach Augustin. Der Übersetzer kennt offenbar die Schwierigkeiten dieses terminologischen Feldes und weicht auf Gesichertes und auf Gemeingut aus.28 Daß Vernunft, Wille und Erinnerung zur Vernunftseele gehören, darüber besteht auch in aristotelisch geprägten Lehrzusammenhängen Einigkeit. Heinrich von Friemar hatte von rationalis, irascibilis und concupiscibilis gesprochen und sich dabei nicht auf einen substantivischen Terminus festgelegt, aber appetitus das wäre eine Bezeichnung, die den Anschluß an Aristoteles ausdrücklich signalisieren würde - grammatisch ausgeschlossen {que fuit). Der Übersetzer hätte, weil das Spiel mit Festlegung und Offenheit dieser Begriffe einem lateinischen Traditionszusammenhang entsprang, den das Deutsche nicht teilte, die Nomina ergänzen müssen, sich also festlegen, ob er Verstand, Begierde und Widerstandskraft für Vermögen, Kräfte oder Teile (die grammatisch und inhaltlich passenden Bestimmungen sind potentia, vis, pars) der Seele hält. Ob er es nicht konnte oder für sein Publikum nicht wollte, ist nicht mehr zu entscheiden; auf jeden Fall begibt er sich in die Sicherheit der augustinischen Zusammenstellung, für ihn sind die beeinträchtigten Natureigenschaften Vernunft, gedechtnuß vnd der will, und nochmals ausweichend, aber gut augustinisch benutzt er den allgemeinen Oberbegriff der sei. Daraus schließe ich, daß es ihm wichtig war, in der Seelenlehre keinen Fehler zu machen und seine Hörer oder Leser nicht auf eine falsche oder auch nur mißverständliche, weil zu schwierige Fährte zu führen. 29 Daß er die Lehre des Heinrich dabei verkürzt hat, weil im Originaltext auch die sinnliche Seele durch die göttlichen Gebote wieder geadelt wird - im Begeh-
27
Vgl.
ANZULEWICZ,
Individuum, bes. S.
1 4 6 ; ZIMMERMANN,
Strebevermögen, S.
45. 28
29
Ich habe keine Anhaltspunkte dafür finden können, daß der Übersetzer eine Vorlage mit dieser Lesart hatte, halte diese Hypothese auch für unwahrscheinlich, weil der Austausch bei einfachem Abschreiben weder durch Verlesung noch durch Verwendung geläufiger Synonyme Zustandekommen konnte. Dieses hier negativ ausgedrückte Interesse an Beschreibung, aber nicht an Problematisierung von Wirkmechanismen der Seele nährt sich, wie mir scheint, von demselben Lebensstoff wie das noch scholastisch gebundene, aber nicht mehr wissenschaftliche Interesse am Gewissen. Ebenso GROSSE, Scrupulositas, S. 56 für Gers on.
Gesetz und Seele
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ren des Göttlichen und im Widerstand gegen das Böse30 - scheint ihn nicht gestört zu haben; dem Adel der Sinnenseele traut er offenbar nicht.
3. Das Gewissen als forum internum In der Verwendung von gewissen im deutschen Text läßt sich eine allgemeine und eine besondere Verwendungsweise unterscheiden. Die allgemeine entspricht dem traditionellen Gebrauch als conscientia recta und steht an folgender Stelle: Das man ön sünd schwer vnd aid nem, da gehörent drüw ding ztt. Das erst ist warheit der gewissen.11 Die lateinische Entsprechung dafür lautet: Ad hoc ergo quod aliquis possit sine omni peccato iurare et iuramentum recipere, tria requiruntur: primo, Veritas ex parte conscientie 32 Die übrigen direkten Belege für gewissen im deutschen Text stehen im Kontext der lateinischen Begriffe forum internum, forum conscientie und forum poenitentiale. Relativ eindeutig tritt dies an folgender Stelle zutage: Gelüpt ist zwaijerlaij, haimlich vnd offenlich. Die haisset haimlich oder ainfeltig, das haimlich beschicht; die haisset offenlich, die bewiset wirt mit offembarer gebüdtnuß oder mit empfauchung der hailigen wühin oder mit gehorsam in ainer regeln oder ordens. Hostiensis spricht, das dise gelüpt baide, es sij haimlich oder offennlich, vor gott bindent die gewissin. Darumb von dem dritten stuck ist ain frag, ob nach der haimlich gelüpt müglich sij, z& der ee zü griffen. Dar über wirt kurzlich geantwürt: nain; dar vmb, wann der sündet töttlich mit dem, das er tü wider das gebot gottes, da er spricht: Habent ir ichtz gelopt, das süllent ir hallten. Darumb, wer sich uergeß, wie wol es haimlichen wer, der sündet gröslichen
30
31
32
Das ist ein Gedanke, den Johannes Damascenus, De fide orthodoxa, cap. 26 u. 36 in die Tradition der Lehre von den Seelenteilen und -bestrebungen eingebracht hat, vgl. ZIMMERMANN, Strebevermögen, S. 45. Cgm 445, fol. 104r. der gewissen fehlt hier und ist nach Hamburg Cod. theol. 1555 ergänzt. Ausgabe GUYOT, entsprechend clm 8151, fol 13v.
246
Heinrich von Friemar deutsch
wider die gelüpt der lutterkait vnd wirt nach den lerern gescheczt als ain mainaider nach der gewijssen,33
Im Lateinischen heißt die entsprechende Stelle der Vorlage: Propter tertium, utrum scilicet post uotum simplex possit quis conlrahere matrimonium, tria uidenda sunt. Nam primo est ostendendum quod mortaliter peccat qui post uotum simplex continentie contrahit matrimonium. tum quia facit contra preceptum diuinum quo dicitur 'uouete et reddite', tum quia in foro conscientie et apud Deum, secundum doctores, tantum obligat uotum simplex quantum solempne.M
Der deutsche Text ist hier ausführlicher, was die genaue terminologische Zuordnung erschwert. Die als dritter Unterpunkt bezifferte Frage, ob nach einem Keuschheitsgelübde eine Ehe eingegangen werden dürfe, setzt zwar im deutschen Text erst nach einer generellen Erklärung ein, aber gleichzeitig wird die Formulierung des Heinrich von Friemar quia in foro conscientie et apud Deum, secundum doctores, tantum obligat uotum simplex quantum solempne durch die Stelle über den mainaider nach der gewijssen in ihrer grundsätzlichen Aussage nicht abgedeckt. Es scheint also geraten, beide deutschen gevvme/i-Formulierungen auf die eine lateinische Stelle zu beziehen. Daß ein Gelübde vor Gott die gewissin bindet, wäre also gleichzusetzen mit der Aussage, daß ein uotum obligat in foro conscientie et apud Deum, und derjenige, der sich an diese Bindung nicht hält, würde als mainaider nach der gewyssen bezeichnet. An dieser Wiedergabe ist interessant, daß das deutsche gewissin als Objekt der Bindung auftaucht, während im Lateinischen das forum conscientie der Ort der Bindung ist. In der Stelle oben aus Heinrich von Friemar ist offensichtlich eine Gegenüberstellung von lex humana und forum conscientie intendiert. Da sowohl conscientia als auch forum poenitentiale als Vorstellungsinhalt zu forum conscientie in diesen Zusammenhang passen würden, ist es wahrscheinlich geraten, die Stelle so zu verstehen, daß beide Bedeutungen umgriffen werden können: forum conscientie als die zugleich innere und äußere Richterinstanz, die sich aus der Gewissensbefragung gegenüber einem wirklichen oder angenommenen Beichtvater herstellt und die mit juristischen Normen der Sündenbeurteilung (Schuld) rechnet, aber in ihrem Bezug auf Gott untrüglicher sittlicher Vorgaben wegen (synderesis) gleichzeitig unmittelbar urteilen kann. Demgegenüber kann das deutsche
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Cgm 445, fol. 108r/108v. Auf die Lesart gelüpt habe ich nach der Hs. Hamburg 1555 verkürzt, denn die Münchner Hs. hat offensichtlich hier einen verbesserten Fehler durch Abschweifung: ιUse bild oder gelüpt. Ausgabe GUYOT, entsprechend clm 8151, fol. 15v.
Das Gewissen als forum internum
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gewissin in bindent die gewissin insofern, als es das Objekt der Bindung ist, nicht die äußere, sondern allein die innere Maß- und Kontrollinstanz repräsentieren, also nur conscientia heißen. Das deutsche Gewissen in der Fügung mainaider nach der gewyssen könnte demgegenüber sowohl als forum penitentiale als auch als innere Prüfinstanz, conscientia, erklärt werden. Angesichts dieses ambivalenten Befundes ziehe ich zur summierenden Auswertung des Verhältnisses vow forum conscientie und deutschem gewissin einen dritten Beleg zu Rate. Er steht an folgender Stelle: Ob auch das wer, das der kouffer die sach ön gericht wider geb, noch denn wer der uerkouffer nach siner gewissen im schuldig wider zä geben, doch also, wenn die sach vnfertig ist, als ob sy geraupt wer in ainem krieg, der vnfertig wer}5
Die lateinische Entsprechung dazu lautet: Si autem extra iudicium restituat, tunc uenditor nichilominus tenetur sibi restituere pretium in foro penitentiali, licet per iudicium fori ad hoc cogi non possit. Set hoc uerum est quando raptor rem abstulit iniuste, puta in bello quod sciebat esse iniuste,36
Heinrich stützt sich im vorausgehenden Satz37 auf die Decretalis 'Si venditori'.38 Die kirchenrechtliche Vorschrift betrifft offenbar den geistlichen Richterspruch über die Tat, sie bietet Recht dar als, wie Trusen formuliert, "Entscheidungsnorm dessen, was Sünde ist".39 Die eigene Position des Heinrich von Friemar ist nicht ganz einfach zu interpretieren, denn die Termini forum iudicii bzw. forum iudiciale sind nicht enheitlich verwendet worden: unter Kanonisten bezeichnete seit Wilhelm von Auvergne forum iudiciale im Gegensatz zu forum poenitentiae das forum externum (nach heutiger Begriff-
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Cgm 445, fol. 164v. Ausgabe GUYOT, entsprechend clm 8151, fol. 46r. Vnde cautum est in talibus quod emptor dicat domino rei quod ipsum trahat ad iudicium; et postquam emptor citatus fuerit, denuniet uenditori quod ueniat et defendat rem uenditam, et si tunc res ab eo invincitur, uenditor tenetur de euictione, nisi emptor fuisset absens per contumaciam tempore sententie date uel nisi per iniuriam iudicis sentantia lata fixisset, Extra De emptione c. "Vtimur". Ausgabe GUYOT, entsprechend clm 8151, fol. 45v-46r. Decretal. Gregorii IX, lib. III, tit. VII, cap. VII. (CIC ed. FRIEDBERG II 520). Der vollständige Wortlaut der Stelle heißt: Si venditori post institutum contra se iudicium qus omiserit, ut rem venditam sibi defenderet, nunciare, vel contumaciter abfuit tempore sententiae promulgatae, seu per iniuriam sententia lata fuit: de evictione iuxta legitimas sanctiones agere non valebit. TRUSEN, Bedeutung, S. 265.
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lichkeit) des geistlichen Rechts, also diejenige Instanz, in der Kirchenstrafen (Exkommunikation, Bann etc.) verhängt wurden; 40 aber Thomas von Aquin benutzte41 forum iudicii als Sammelbegriff für alles positive Recht im Gegensatz zur Instanz der Entscheidungsfindung und Beurteilung im Dialog mit dem Beichtiger, die forum poenitentiale, forum poenitentiae oder forum confessionis heißt. 42 In diesem letzten Sinne scheint mir iudiciumfori und forum penitentiale bei Heinrich von Friemar gebraucht; das iudiciumfori wäre also eine Zusammenfassung aller positiven Rechtsprechung in der Öffentlichkeit eines Forum im rechtlichen Sinne; 43 das forum poenitentiale dagegen ein spezifischer Aspekt des forum internum, und zwar sowohl das wirkliche Urteil als auch die verinnerlichte Vorwegnähme des möglichen Spruches durch einen Beichtiger; also nicht allein dessen tatsächliches Urteil, aber auch nicht ganz das, was nhd. meist als Gewissenspflicht wiedergegeben
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In der frühen Kirche war alle Buße öffentliche Kirchbuße gewesen. Vgl. zu dem Wandel und der Herausbildung des forum internum TRUSEN, Bedeutung; zu den Inhalten des Begriffes forum dort S. 262: "Hat man den römisch-rechtlichen Begriff des forum auch in der Kirche bereits früher als einen Ausdruck der Kompetenz benutzt, etwa beim Privilegium fori, so erhielt forum während des Hochmittelalters in Oberitalien eine inhaltliche Ausweitung auf die zuständige [S. 263] Rechtsordnung. Man sprach von der lex fori. Die Kanonistik benutzte diesen Begriff zunächst als Mittel der Abgrenzung des kirchlichen und weltlichen Verfahrensrechts. Daneben ist nun auch eine Übernahme in die Bußtheologie zu bemerken, erstmals wohl bei Petrus Cantor (gest. 1197). Sein Schüler Robert de Courcon (gest. 1219) ist es dann wohl gewesen, der ausdrücklich vom forum poenitentiale spricht. Der Einfluß der Kanonistik auf die Theologie ist nicht zu übersehen. Die Unterscheidung zwischen diesem und dem forum iudiciale ist bereits in dem Glossenapparat 'Animal est substantia' belegt, wie P. Landau nachwies. Von Wilhelm von Auvergne wird sie übernommen. Hier 'hebt sich der strafrechtliche Bereich nicht nur durch eine andere Zielsetzung, sondern offensichtlich durch einen anderen Vollmachtsträger vom Bußwesen ab.' [Zitat aus FRIES, Forum, S. 181.] Wir finden nun die dreifache Unterscheidung in das archanum propitiationis Dei, das forum poenitentiale und das forum iudiciale." In IV Sent dist. 17, dist. 18; Sent. Parma Bd. 2, T. 2, S. 771-822. In IV Sent. dist. 18, q. 2, a. 3a ad 3: Ad tertium dicendum quod absolutio et ligatio in foro confessionis est quo ad Deum tantum, apud quem aliquis alio inferior redditur pro peccalo. sed excommunicatio est in judicio exteriori, in quo aliquis non amittit superioritatem ex hoc ipso quod peccat. unde non est similis ratio de utroque foro. et tarnen in foro confessionis aliquis non potest seipsum absoluere, nec superiorem nec aequalem, de mortali, nisi ex commissione sibi facta; de venialibus autem potest, quia venialia ex quibuslibet sacramentis gratiam conferentibus remittuntur; unde remissio venialium sequitur potestatem ordinis. Vgl. W. SCHULZ, Forum, Sp. 667-668; FRIES, Forum, S. 171-192. Das ist ein in der Kanonistik ausgebildeter Begriff von ius fori, dessen erste klare Formulierung KUTTNER und FRIES dem Kanonisten Alanus zuschreiben: KUTT-
NER, Schuldlehre, S. 324 und ebd. Anm. 1, FRIES, Forum, S. 188.
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wird, denn die Selbstkontrolle der Handlung kann verzweigte Handlungsumstände ohne Schulung nicht erfassen. Heinrich behandelt an beiden Stellen einen Bestandteil der Handlungskontrolle, durch den in Wahrheit nicht im engeren Sinne heilsnotwendiges Wissen, sondern eine Rechtsform favorisiert wird: Wenn einander das Urteil einer breiten, möglicherweise auf Gewohnheitsrecht zurückgreifenden Gemeinschaft über einen Fall und dasjenige, das der Beichtiger in seiner römischrechtlich geschulten Kasuistik dem Fall abgewinnt, widersprechen, dann soll der Mensch, um keine Sünde zu begehen, nicht nur die Vorschriften des geltenden Rechts, sondern die Empfehlungen des Beichtigers erfüllen.44 Damit wird mehr verlangt als die Erfüllung der Rechtsnormen des Kirchenrechts, denn als richtende Instanz folgt die Kirche dem Grundsatz ecclesia de occultis non iudicata Die innere Norm im Sinne einer Verpflichtung richtet sich aber auch auf Verborgenes wie Willen und Begierde.46 Deren nur Gott unmittelbar einsichtige Gegenstände sind zwar dem Urteilenden selbst vertraut, weshalb er zum Richter seiner selbst berufen ist; ihre Bemessungsgrundsätze, die komplizierten Zusammenhänge von Zuschreibung und Schuldfahigkeit, folgen aber einer Rechtsform, die der einzelne im Regelfall nicht kennen kann, für die er also nach wie vor auf Beratung (und Urteil) angewiesen ist; das forum poenitentiale bleibt also ein Forum der Rechtsfindung, auch wenn Recht und moralisch Rechtes hier vollständig verschmelzen. Bei Heinrich von Friemar ist im lateinischen Text die Beratungssituation mitgedacht: Die Pflicht geht aus dem forum hervor. Hier muß ich noch verweilen, obgleich der deutsche Text ja keine originäre Leistung ist. Aber gerade die juridischen Aspekte der lateinischen conscientia, die Nörr als so wichtig für das Rechtsdenken des Mittelalters bezeichnet hat,47 kommen als Übersetzungsgut ins Deutsche. Sie finden hier im 14. Jahrhundert schon einen Gewissensbegriff vor, der durch die Inhalte der bis dahin rezipierten theologischen Ethik geprägt ist. Es handelt sich um einen Prozeß der Anreicherung, der den Begriff vom Gewissen noch einmal ebenso nachhaltig verändert, wie die erste Rezeption der ethischen conscientia-Lehre die volkssprachliche Vorstellung von der Instanz der Entscheidungsfindung verändert hat. Noch einmal den Fall in der Schilderung des deutschen Textes. Eine in einem ungerechten Krieg geraubte, danach verkaufte und gekaufte Sache wird
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Zur Füllung der "Leerstellen" der Gebote durch Normen des weltlichen Rechts vgl. TRUSEN, Bedeutung, S. 264.
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V g l . KUTTNER, S. 2 0 .
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V g l . KUTTNER, S . 19.
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NÖRR, Recht, S. 10.
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durch den Käufer ohne Gerichtsweg dem Eigentümer zurückerstattet; was verpflichtet nun den Verkäufer, seinerseits den Schaden auf sich zu nehmen oder sich an ihm zu beteiligen? Dem Eigentümer ist damit sein Recht bereits geworden, es besteht eigentlich kein Handlungszwang mehr. Aber der Käufer hat, nachdem er die Nachricht vom Unrechten Charakter des Gutes empfangen hat, seinerseits die Handlung rückgängig gemacht; und die moralische Forderung hierzu ergeht gleichermaßen an den Verkäufer. Da es aber nur ein Gut ist, das zurückgegeben werden muß, und es sich im Gewahrsam des Käufers befand, besteht für den Verkäufer eine widerstreitende Pflichtenlage: Das Gut kann und muß er nicht zurückerstatten; seine Verkaufshandlung müßte er rückgängig machen. Tut er das aber dem Käufer gegenüber, dann hat er den Schaden voll übernommen - denn wenn er erst im nachhinein von der Unrechten Herkunft des Gutes erfuhr, kann er selbst nicht der Räuber im Krieg gewesen sein. Ist das seine moralische Pflicht? Der deutsche Text legt ihm nahe, er sei dem Käufer gegenüber nach siner gewissen im schuldig wider zü geben. Die alte, in deutschen Rechtstexten verbürgte Bedeutung 'Sicherheit' kann gewissen hier nicht haben, sie paßt nicht zum Kontext. Auch 'Wissen' ist unmöglich, denn die Ausgangslage ist ja eben, daß der erste Käufer und spätere Verkäufer das geraubte Gut unwissend erworben hat. Im lateinischen Text steht inforo penitentiali, und zur Wiedergabe dieses Sachverhalts durch gewissen muß der Übersetzer also schon mit der im 14. Jahrhundert modernen Bedeutung des deutschen Wortes, nämlich 'vernünftiges sittliches Urteil über vergangenes Handeln im wirklichen oder vorgestellten Dialog mit einem Beichtiger', gerechnet haben. Der Spruch der gewissen greift aber, wenn man ihn für diesen Fall versucht zu beschreiben, kaum auf einen Auszug aus gespeicherten kasuistischen Regeln über den Umgang mit geraubtem Gut zurück, sondern allenfalls auf den Grundsatz, daß von Diebstahl nicht absolviert werden kann, wer nicht zuvor das Unrechte Gut zurückgegeben hat. Aber ob dieser Grundsatz hier zutrifft, dürfte der conscientia eines kanonistisch nicht Ausgebildeten durchaus fraglich bleiben. Das ist im forum poenitentiale anders, denn der Beichtiger kann und sollte sehr wohl kasuistisch bewandert sein. Eine innere moralische Instanz gewissen kann ohne vorherige Beratung allenfalls davon ausgehen, daß es nicht rechtens sei, den Nächsten einen Schaden, den beide nicht verursacht haben, allein tragen zu lassen; und selbst im Falle erfolgter Beratung müßte man den günstigsten Fall eines umfassend kanonistisch gebildeten Beraters ansetzen. Mit einfachen Forderungen der synderesis vom Typ Was- du nicht willst, daß man dir tu... kommt man nicht weiter, denn sie würden münden in: Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg eher dir als dem anderen zu; und wie vertrüge sich das wiederum mit der Forderung der synderesis, den anderen so zu lieben wie sich selbst, das heißt: genau so, auch nicht mehr? Dem gewissen wird hier die
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Entscheidung in einem diffizilen Fall zugemutet. Mir scheinen dafür nur zwei Erklärungen möglich. Zum einen könnte eine ideale Beratungssituation vorausgesetzt worden sein; wir hätten es also mit einem Spruch der belehrten und geänderten conscientia im Sinne Bonaventuras zu tun; und diese Änderung würde allein auf der Überzeugung von der höheren Richtigkeit kanonistischer Normen gegenüber dem menschlichen Normenverständnis basieren. Zum anderen, und das finde ich wahrscheinlicher, könnte die Passage so gelesen werden, daß die Beratung nicht schon vorausgesetzt wird, sondern daß sie erst im Lesen oder Hören des Textes stattfindet. Der Appell zur Rückgabe würde dann als Rat an die unberatene gewissen ergehen, die aber, indem sie sich ihm fügte, die Hoffnung hegen könnte, durch das eigene vorbildliche Verhalten einen regressus nicht ad infinitum, sondern bis zum Urheber des Unrechts in Szene zu setzen; würden sich alle so verhalten wie derjenige, der aus Gewissenspflicht den Kaufpreis für ein von ihm in gutem Glauben erworbenes und verkauftes Gut zurückerstattet, weil es sich im Nachhinein als unrecht erwiesen hat, so trüge zuletzt derjenige die Last, der die Schuld auf sich geladen hat, das heißt derjenige, der das Gut genommen hat. Aber was bedeutet das für die Vorstellung davon, was gewissen sei? Man hätte darunter auf jeden Fall mehr als eine innere Kontrollinstanz, mehr als eine Instanz zur Rechtsfindung im forum zu verstehen. Sowohl die Auffassung von gewissin als Objekt der obligatio als auch die spezifische Schlußweise im Fall der Rückgabepflicht legen nahe zu glauben, daß es eine Instanz zur Errichtung eigenen vorbildlichen Lebens mit empfehlender Kraft für das Leben des Nächsten sein könnte. Wenn etwas, was man auch nach einfachen naturrechtlichen Vorstellungen für gerecht halten könnte (nämlich daß der haftet, der den Schaden angestellt hat), sich nur dann ergibt, wenn alle sich so verhalten, wie ich mich verhalte (und sich mein Nächster schon vor mir verhalten hat), dann bedeutet gewissen nicht nur eine selbstbindende, sondern mittelbar auch eine fremdbindende Norm: Mich bindet nicht das Gewissen, sondern die Tat (und also mittelbar doch das Gewissen) dessen, der vor mir vorbildlich gehandelt hat, dazu, die Kette des Vorbildlichen nicht abreißen und Gerechtigkeit so an ihr Ende gelangen zu lassen; mein Gewissen ist dann der Ort, an dem ich mich vor den anderen verpflichte, nach ihrem Bilde (das göttlich oder institutionell, jedenfalls mit der Überzeugung eines höheren Telos, reguliert sein kann) zu handeln. Bei diesem Ende kommt man übrigens auch an, wenn man für das Verständnis der Grundsituation von gewissen oder conscientia eine mündliche Beratungssituation voraussetzt; die Hoffnung, daß jeder so handeln möge, wie ich handle und einer vor mir gehandelt hat, ist dann allerdings durch den Beichtiger vermittelt: Wenn jeder auf den Rat eines klugen und kanonistisch bewanderten Beichtigers gehört und sein gewissen nötigenfalls angepaßt hat,
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haben alle Sünde vermieden, der letzte (der Täter) hat Schuld gesühnt; die individuelle Verantwortung für den Lauf der Gerechtigkeit ist dann nur zusätzlich durch eine positivrechtliche Bestimmung des Kirchenrechtes auf Heilsgeschichte hin ausgedeutet. Der gemeinschaftliche Aspekt an dem Richtigen, das durch eine solche Gewissensauffassung abgedeckt wird, ist an sich nicht zu bestaunen und durch die naturrechtliche Bestrebung zum Leben mit Menschen bereits abgedeckt; dennoch scheint mir bemerkenswert, daß das Augenmerk nicht mehr auf die zugleich äußere Richterinstanz, das forum internum, gelegt wird, die die konkrete Pflicht systematisch begründen könnte, sondern eher auf den inneren Aspekt der conscientia, ihr Recht und ihre Aufgabe, im einzelnen sittlichen Urteil das persönlich (heilsnotwendig) und überindividuell (gemeinschaftserhaltend) Rechte zu treffen und zu verfolgen: Jedes Ich entscheidet für sich, ob es tun will, was niemand von ihm verlangen kann; es entscheidet darüber, ob es ihm sinnvoll erscheint, eine Gemeinschaft der Gerechten zu unterstellen und selbst durch das eigene Beispiel ideell zu fördern. Niemand kann die in Frage stehende Handlung verlangen - außer Gott; diese Sinnstiftung wird dem urteilenden Subjekt aber bei einem vernunftgebundenen Gewissensbegriff nicht mehr abgenommen (im Sinne eines forum als vorgängiger Gerichtsinstanz, die im lateinischen Text noch steht), sondern es hat sie zumindest so weit selbst zu leisten, daß es das forum als Beratungsinstanz in Anspruch nimmt. Wenn es in seinem Problembewußtsein jedoch so weit gekommen ist, wird diese Beratungsinstanz im Grunde entbehrlich: Das Gewissen wird in sich ein eigenes forum internum.
4. Die Struktur des sittlichen Urteils als Textmuster Der Prolog hat, die Stelle wurde oben behandelt, die Gebote als Wege zur Vollkommenheit dargestellt. Vollkommenheit anstreben kann jeder nur für sich selbst. Das ist ein klarer inhaltlicher Hinweis auf die Gebrauchsfunktion des Buches. Es geht ihm nicht darum, Normen bereitzulegen, mit deren Hilfe die Taten Dritter beurteilt werden können, sondern um das Urteil über sich selbst, das in der mittelalterlichen Ethik üblicherweise als Tätigkeit der conscientia beschrieben wurde. Auch wenn nach dem Zeugnis des Prologs also vorausgesetzt werden darf, daß beide Autoren, Heinrich von Friemar und sein Bearbeiter, Themen behandeln, die in den zeitgenössischen Problembereich 'Gewissen' fallen, heißt das jedoch nicht, daß sie tatsächlich 'Gewissen' und 'Gewissensurteil' meinen und beschreiben. Aus der Analyse der Gewissensvorstellung Marquards von Lindau und des 'Buchs von der geistlichen Armut' war bereits hervorgegangen, daß in der Generation nach Eckhart dessen (an die synderesis gebundene) Vollkommenheitsethik wieder zugunsten
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der Beschreibung von Mechanismen praktischer Urteilsleitung zurückgenommen wurde. Dabei hat ein anderer Vorschlag des Heinrich von Friemar, nämlich die discretio einzubeziehen, eine Rolle gespielt. Insofern wäre herauszufinden, wie sich der Bearbeiter im Anschluß an Heinrich von Friemar oder abweichend von ihm den Schritt von der Vermeidung von Sünde zum positiv Guten vorstellt und wie sich seine Vorstellung in der Gliederung des Stoffes niederschlägt. Vor diesem Hintergrund interessiert mich, wie der Text gebaut ist, wie ein Leser sein Problem auffinden kann, in welcher Form ihm eine Entscheidung nahegelegt wird. Ich möchte der Frage deshalb nachgehen, weil die scholastische Ethik die Gewissenstätigkeit wesentlich als menschlich-vernünftiges Schließen beschreibt und weil darin die Neuerung gegenüber der Tradition besteht, Heinrichs discretio aber gnadenhaft vermittelt ist. Man könnte deshalb für die Dekalogerklärung mit zwei verschiedenen, einander weitgehend ausschließenden Konstellationen rechnen. Erstens wäre es möglich, daß Heinrich die richtige Einsicht in den Charakter einer Handlung so stark von der Gnade abhängig macht, daß der selbständige Schluß der Vernunft marginal wird. Aus der Lektüreerfahrung mit Heinrichs Traktat über die Unterscheidung der Geister würde ich für diesen Fall vermuten, daß ein zum Nachvollziehen angebotenes Schlußmuster sittlichen Urteilens nicht bei der Einordnung der einzelnen Handlung, sondern bei der Einordnung des Urteils über die Handlung endet. So hatte jedenfalls das 'Buch von der geistlichen Armut' Heinrichs discretio-Lehren verstanden. Es wäre zweitens denkbar, daß Heinrich von Friemar für solches menschliches Handeln, das nicht auf Supranaturales zielt, doch auf dem scholastischen vernunftgebundenen conscientia-Modell aufbaut. Die oben diskutierten Verwendungsweisen von conscientia und gewissin sprechen durchaus dafür, daß der Begriff im deutschen wie im lateinischen Text bereits mit Selbstverständlichkeit gehandhabt wird. In diesem Fall, den ich nach der Analyse der expliziten Erwähnungen von conscientia!gewissin noch nicht als sicher gegeben ansehe, wäre zu erwarten, daß die vernünftigen Urteile, die nachzuvollziehen der Text nahelegt, bei der Einordnung der einzelnen Handlung ankommen. Jedoch müßte man dann zusätzlich mit der Möglichkeit rechnen, daß der Bearbeiter beim Übergang in die Volkssprache das vernunftgebundene Gewissenskonzept verläßt, weil er es für ein Eigengut der lateinischen Rationalität hält, und sich statt dessen eher affektiver Vorstellungen bedient, die sich gut in Ermahnung umsetzen lassen. Vor der Notwendigkeit, den Text in Grenzen umzuorganisieren, steht eine kürzende Bearbeitung ohnehin. Die deutsche Dekalogerklärung nach Heinrich von Friemar ist in ihren Einzelauslegungen klar strukturiert. Diese Strukturierung ist über größere Passagen die der Vorlage; sie wird aber nicht blind übernommen, sondern
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den Erfordernissen des deutschen Textes angepaßt, so daß sich dort, wo der Bearbeiter kürzt, ändert, umstellt oder addiert, in sich wiederum eine geschlossene und klar markierte Gliederung ergibt. Zur Vorführung des Verfahrens wähle ich das zweite Gebot. Zur besseren Übersicht stelle ich eine Tabelle der behandelten Inhalte voran. Ich habe, um den Grad der Untergliederung sinnfällig zu machen, eine dezimale fortlaufende Numerierung eingeführt. Die Unterpunkte sind fast durchgängig beziffert, und zwar nach scholastischer Gewohnheit, das heißt auf jeder hierarchischen Gliederungsebene wieder mit 1 beginnend, mit vorangestellter Grobgliederung und Zuordnungshinweisen. Sämtliche Zuordnungen bleiben eindeutig. Bei meiner dezimalen Numerierung habe ich diejenigen Unterpunkte, die weder eine Ziffer tragen noch ein Signalwort aus einer vorangestellten expliziten Gliederung wörtlich wiederholen, mit * gekennzeichnet. Der Typ von dem schwern gilt also als beziffert. Gliederung des zweiten Gebotes in der Auslegung 0. Exposition. Über den Sinnumfang des Gebotes: 1. Schwören 2. Übertreten von Gelübden 3. Gotteslästerei 1. Schwören. Vorangestellte Gliederung in: 1.1. Übertretungen 1.2. Zulässige Eide und Meineide 1.3. Folgeübel des Meineids Zu 1.1: 1.1.1. schlechte Schwüre 1.1.1.1. überflüssige Schwüre 1.1.1.2. Täuschung mit Schwur 1.1.1.3. unziemliche Schwurformeln 1.1.2. Meineid 1.1.2.1. wissentlich 1.1.2.2. Schwur über Ungewisses 1.1.2.3. Eidbruch 1.1.2.3.1. Bruch eines bösen Vorsatzes 1.1.2.3.2. Bruch eines guten Vorsatzes 1.1.2.3.3. Erfüllungsverhinderung 1.1.2.4. Anstiftung zum Meineid Zu 1.2. (Inhalt jetzt: Voraussetzungen für sündloses Schwören) 1.2.1. Wahrhaftigkeit 1.2.2. rechtes Vernunfturteil 1.2.3. Gegenstand des Schwures zulässig Zu 1.3.: 1.3.1. Schwere der Buße 1.3.2. Größe der Sünde 1.3.3. irreparable Schädigung von Ruf und Rechtsfähigkeit
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* 1.4.: Auseinandersetzung mit Einwand: Muß man Schwören nicht ablehnen? Zu 2: (Inhalt jetzt: Gelübde halten) Vorangestellte Gliederung: 2.1. Was gehört zum Gelübde? 2.2. Gelübde immer bindend? 2.3. Nach Gelübde der Keuschheit Ehe? 2.4. Ist es sittlich besser, Gutes mit Gelübde oder ohne Gelübde zu tun? Zu 2.1.: 2.1.1. freier Wille 2.1.2. Vorsatz 2.1.3. Inhalt sittlich gut Zu 2.2.: Gelübde nach 2.1. immer zu halten. Ausnahmen: 2.2.1. Gelübde mit Bedingung 2.2.2. Umwandlungsrecht des Oberen 2.2.3. Verlust der Möglichkeit 2.2.4. Eingriff in fremde Rechte an der Person Zu 2.3. Ehe nach Keuschheitsgelübde *2.3.1. grundsätzliche Unzulässigkeit *2.3.2. Verhalten bei bereits geschlossener Ehe Zu 2.4. Gutes mit Gelübde tun: •2.4.1. grundsätzliche Entscheidung *2.4.2. Antwort auf widersprechenden Einwand Zu 3. Gott lästern und fluchen betrifft: 3.1. Spieler 3.2. Fluch über Maria und Heilige 3.3. Spott über Gotteswort und Predigt 3.4. Fluch über göttlichen Willen *3.5. nicht den gerechten Fluch (z.B. der Heiligen, zulässig) *4. Zusammenfassung vornehmlicher Sünden gegen das Gebot: *4.1. in Gedanken *4.2. in Worten *4.3. in Werken Dieses Aufbauschema unterscheidet sich nur geringfügig von dem des lateinischen Textes. Der Meineid ist in der Vorlage gleichberechtigt mit zwei Arten von unziemlichen Schwüren einem gemeinsamen Verstoßtyp (temerarie et pertinaciter schwören) zugeordnet, der seinerseits mit den überflüssigen und den Täuschungsschwüren auf einer hierarchischen Ebene angesiedelt wirtl; bei den Untergruppen des Meineids ergäbe sich so, wenn man ebenfalls ein dezimales Schema der Unterordnung entwerfen wollte, nicht nur eine vier-, sondern eine fünfstellige Bezifferung. 48 Die mit * gekennzeichneten
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Zum Vergleich die lateinische Gliederung bis zum Meineid nach GUYOT, Ausgabe, entsprechend clm 8151, fol. 12r-12v: .. .hoc preceptum tripliciler exponitur
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Sinneinheiten sind nicht, wie man annehmen könnte, vom Bearbeiter zugefügt worden, sondern stehen in der Vorlage. Sie sind auch dort der Gesamtgliederung durch Anschlüsse vom Typ Insuper est sciendum (das ist die Einführung von *4. im Schema oben) nur locker inkorporiert. Vereinfacht hat der Bearbeiter bei den Punkten 2.3. und 2.4., die das Keuschheitsgelübde in seinem Verhältnis zu einem späteren Eheschwur betreffen. Beide Punkte sind im lateinischen Text noch dreifach untergliedert. Inhaltlich ist jedoch nur bei 2.3. ein wesentliches Moment (nämlich das Referat gegensätzlicher kanonistischer Autoritäten zur Gewichtung der beiden Verpflichtungen zueinander) ausgefallen; die Wiedergabe setzt bei der begründeten Entscheidung zugunsten des Gelübdes ein. Ähnlich verfuhr der Bearbeiter, allerdings ohne dabei einen Gliederungspunkt opfern zu müssen, schon unter 2.2.2. (der Berechtigung der geistlichen Oberen, den Gegenstand eines Gelübdes in ein höheres Gut zu wandeln), wo hinsichtlich des Keuschheitsgelübdes lateinisch Lehrmeinungen gegenübergestellt werden: Johannes (von Erfurt), Hugo (a Sancto Caro), der Hostiensis und Innocenz49 halten dafür, daß am Grundsatz festgehalten werden müsse, der Papst könne jedes Gelübde wandeln; Albert dagegen ist der Meinung, es gebe kein höheres Gut als die Keuschheit, und ein solches Gelübde könne also seines Gegenstandes wegen nicht umgewandelt werden. 50 Der Bearbeiter übersetzt nur diese letzte Position und fügt das bei
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[...] primo modo de transgressione iuramenti. [...] Circa quod tria sunt per ordinem declaranda: primum est qualiter et quibus modis illud preceptum male uioletur; secundum est que sint attendenda in hoc quod aliquis Heile et sine peccato possit iurare uel iuramentum reeipere; tertio uidendum est que sint illa per que quis a reatu periurii merito retrahatur. Propter primum est sciendum quod nomen Dei in uanum assumitur male iurando tripliciter. Primo quidem iurando uane et inutiliter.[...] Secundo iurando dolose et fraudulenter.[...] Tertio iurando temerarie et pertinaciter, quod iterum tribus modis fit. Primo, execrabiliter iurando [...] Secundo, irreuerenter iurando [...] Tertio, scienterperiurando [...] et hoc [...] contingit quattuor modis. Ich habe zur Vervollständigung der Namen dankbar den Quellenapparat der vorbereiteten Ausgabe von P. B.-G. GUYOT benutzt. Die Nachweise sind 3ort vollständig enthalten. Es erscheint mir trotz der Erlaubnis von Pater Guyot, Text und Apparate zu benutzen, als ein Gebot der Korrektheit, das nur dort zu tun, wo es für den Gang meiner Argumentation unerläßlich ist, und gerade für immens arbeitsaufwendige Leistungen wie Quellennachweise auf sein im Druck befindliches Buch zu verweisen. ... queri potest utrum papa in uoto continentie sollempnizato possit dispensare. Ad quod communiter respondet lohannes, Hugo, Hostensis et Innocentius quod sie, quia in omni uoto sicut in omni iuramento intellegitur excepta potestas pape: et
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Heinrich zur Bekräftigung addierte Exempel von Effigenia (im deutschen Text Eufemia) an. Aus dem im Lateinischen einzeln gegen die übrigen Autoritäten stehenden Diktum Alberts werden im Deutschen groß lerer im Plural; die gegenteiligen Auffassungen sind ausgefallen.51 Faßt man zunächst den Aufbau der ganzen Gebotsauslegung ins Auge, so fallt auf, daß der Normumfang als eine Schachtelung von Verboten dargeboten wird, die vom allgemeinen zum möglichst speziellen Fall geführt werden. Das legt die Frage nahe, ob die Auslegung eine positive Handlungsnorm oder positive Normteile überhaupt enthalten könne. Der Versuch einer Antwort darauf muß sowohl die Verknüpfung der einzelnen behandelten Gegenstände behandeln als auch die Vorgaben des ausgelegten Textstückes berücksichtigen.52 Hinsichtlich der Verknüpfungsmuster können positive Teilnormen sofort überall dort reklamiert werden, wo von Voraussetzungen für eine tadelsfreie Tat die Rede ist: Die größte solche Einheit ist der Gliederungspunkt 1.2., das man ön sünd schwer vnd aid nemaber auch die Ausführungen zum Gerichtseid unter 1.1.2.4. (Anstiftung zum Meineid) gehören hierher. Daß allerdings schon auf der ersten Gliederungsebene (die drei Sinne des Gebots, im Schema oben 1., 2. und 3.) nur Übertretungen verhandelt werden, ergibt sich aus der prohibitiven Struktur des ausgelegten Satzes. Das hat Konsequenzen für die Darstellung des Normumfangs insgesamt. Denn die Übertragimg des negativen Vorzeichens auf alle Einzelteile, die in sich eine Summe bilden, ist logisch völlig korrekt und entspräche in mathematischer Umsetzung der Auflösung eines Terms der Gestalt -(a+b + c+... +n). Diese Auflösung ist im logischen Sinne umkehrbar. Wenn also im Text dieselbe
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ideo hoc dicitur posse de plenitudine potestatis et maxime si communis utilitas regni uel prouincie exposcat. Sed Albertus, in Quarto Sententiarum, dicit quod uotum continentie sollempnizatum nullo modo recipit dispensationem, quia per hoc nichil melius, dignius uel utilius poterit compensari, cum non sit digna ponderatio anime continents, ut scribitur Prou. Ausgabe GUYOT, entsprechend clm 8151, fol. 14v. von dem wirdigen schacz der lutterkail oder kunschait ob die gelopt wird sprechen! groß lerer das noch der bapst die gelüpt in dehain ander güt müg verwanndlen so uerre das Salomon schribt das kain ander güt zti schäczen sy gegen der lutterkait. Cgm 445, fol. 106r. Ich greife hier JAUSS, Dekalog, auf, vgl. ebd., S. 443: "Die [...] Symmetrie von Affirmation und Negation geht nicht aus einem Gegenwortpaar hervor, sondern aus dem Bedürfnis, einen Imperativ ethisch zu begründen (zum Beispiel das Verbot: Du sollst nicht morden! in dem Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!) oder Implikationen seiner Anwendung zu zeigen (zum Beispiel zum Gebot Du sollst Vater und Mutter ehren! das konkrete Verbot: Wer seinen Vater und seine Mutter verflucht, soll getötet werden)." Cgm 445, fol. 104r.
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Größe, der Gebotsumfang, als -a-b-c-...-n dargestellt wird, ist die Rückführung auf -(a+b + c + . . . + « ) und damit die positive Bestimmung von (a+b + c+...+n) jederzeit möglich. Die Zeichen in diesem mathematischen Modell würden Handlungsoperatoren entsprechen, von denen das Minuszeichen bedeuten würde Tu das nicht und das Pluszeichen Das darfst du tun,54 Das Modell soll zunächst nur die Grobgliederung veranschaulichen. Es ist aber prinzipiell durch mehrfache Schachtelung von Klammerausdrücken auf die gesamte Gliederung anwendbar, wobei in der Regel die a, b, c usw. ihrerseits durch -(*+)>+z) mit jeweils neuen Variablen ersetzt werden müßten; die wenigen positiven Aussagen würden mit dem Operator Plus angereiht. Jeder der negativen Ausdrücke ist folglich letzten Endes auf einen positiven zurückzufuhren, 55 doch weiß man von dieser positiven Normaussage zunächst nur, daß sie einräumt Das darfst du tun. Die Frage, ob sich aus einer solchen Schachtelung negativer Vorschriften Aufschlüsse über das Gute gewinnen lassen - und die Suche danach legt der Prolog über den Weg zur Vollkommenheit nahe -, hängt von dem Verhältnis der beiden Operatoren zueinander ab. Was nicht böse ist, kann gut sein (Almosen geben) oder weder gut noch böse (einen Stein aufheben). Es ist also zu prüfen, wie die beiden Operatoren im Text semantisch besetzt werden: Sind die Handlungsoperatoren Plus und Minus semantisch äquivalent mit den Aussagen Das ist gut und Das ist böse? Für den Operator Minus steht die Äquivalenz mit dem Bösen offensichtlich fest. Dagegen ist für den Operator Plus zu bestimmen, ob nur gemeint ist, was man tun darf, also das Erlaubte, oder das, was man tun soll, also das Gute.56 Wie dieses Problem gefaßt wird, möchte ich am Beispiel der Erörterungen über die schlechten Vorsätze erläutern.
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Dieses Verfahren ist alt, es wurde schon in der rabbinischen Exegese verwendet, vgl. dazu JAUSS, Dekalog, S. 442. Zur Voraussetzung spiegelbildlicher negativer und positiver Begriffsinhalte vgl. unten. Hier wird zunächst nur auf satzlogischer Ebene verhandelt, und dort gibt es in der Tat zu einem verneinten einen entsprechenden bejahenden Satz, sobald die Operatoren definiert sind. In formalisierten Sprachen wäre eine solche Definition nicht notwendig, sie kämen mit einem abstrakten Operator "Negation" aus. Vgl. zum Problem STICKEL, S. 28-30. Dieses Vorgehen nach zweiwertiger Logik verbindet sich nicht mit der Hoffnung, so die Struktur des gesamten Textes adäquat abbilden zu können. Es wird unternommen, um die Grenzen der Operationalisierbarkeit genau abzustecken, das heißt, die Reichweite des streng logisch-deduktiven Verfahrens innerhalb der aufs Ganze gesehen rhetorisch-topischen Argumentation aufzuzeigen. Die Frage ist wichtig für die Entscheidung, ob und inwieweit die Texte, die solche Urteile vorführen, sich auf die Vorbilder kanonistischer und theologischer Summen zurückführen lassen.
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Die schlechten Vorsätze haben im Text ihren Ort unter dem Punkt 1.1.2.3. (Eidbruch). Sie fallen also in die Ableitungskette: Schwören - Übertretungen - Meineid und werden unter dem Aspekt behandelt, daß das Brechen eines Eides, der einen bösen Vorsatz beinhaltet, keine Sünde ist (während der Eid selbst allerdings sündhaft bleibt). Ich gebe den Text mit dem Anschluß zur nächsten Verfehlung wieder: Zit dem dritten mit ayde brechen. Das geschieht in menge lay wyse. Aintweder der aid ist vnzimlich, als ob er schwur, er wölt nit almäsen geben oder andre gäte werck nit thön; so sündet er mit dem schwern, er sündet aber nit, ob er den aid bricht, wann als geschriben staut: in bösem gelupt vnd in schentlichem gehaiß wanndel den willen. Jst es aber nit vnzimlich, als ob er schwur, er wolt nil spiln, bricht er das, so ist er main aid, als dick vnd als offt er darnach spilt?1
Hier wird offensichtlich ein Fall verhandelt, der unter zuvor eingeführte Oberbegriffe oder Tatklassen fallt. Diese heißen im Text in aufsteigender
Reihenfolge: ayde brechen, main aid sweren und wie das gebott mit schweren werd übergangen. Für alle diese Tatklassen fehlen systematische Definitionen, die den Oberbegriff bzw. die übergeordnete Klasse in ihren allgemeinen Regularitäten erfassen; das heißt, die anschließende Auffächerung von Möglichkeiten, die unter den jeweiligen Oberbegriff oder die Klasse fallen, ersetzen die Definition des Allgemeineren, sie gelten als Erklärung. Diese Erklärungsfunktion der Untergliederung kann aber immer nur die Übertretung betreffen, nicht den Gegenstand der Übertretung, also hier nicht die Begriffe Schwur und Eid. Sie werden offenkundig als bekannt vorausgesetzt. 58 Die Erklärung einer Tatklasse wie main aid durch Taten oder Tatklassen, die unter diesen Oberbegriff fallen, wäre topisch59 oder systematisch-vollständig
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Cgm 445, fol. 102v-103r. Der Text der Vorlage lautet an dieser Stelle: Tertio modo, diciturperiurium iuramenti transgressio. Aut ergo iuramentum est illicitum, ut cum quis iurat non dare elemosinam, et sic fit periurus ipso facto, et peccat iurando; sed non peccat contraueniendo, quia secundum Ysidorum: "In malis promissis rescinde fidem, et in turpi uoto muta decretumAut est licitum, ut cum quis iurat quod nolit ludere etiam pro poculo et esculento; et sic semper mortaliter peccat quotienscumque ludit. Ausgabe GUYOT, entsprechend clm 8151, fol. 13r. Der Meineid gehört zu denjenigen Gegenständen kanonistischen Rechts, an welchen die genaue Untergliederung der Schuldbewandtnis nach Umständen und Intentionen im Mittelalter am sorgfaltigsten durchgeführt wurde, vgl. KUTTNER, S. 76-82. Insofern ist weniger verwunderlich, daß Heinrich von Friemar ihn nicht definiert, als daß der Bearbeiter sich nicht veranlaßt gesehen hat, eine abgrenzende Sacherklärung beizugeben. Im Sinne der Topoi 114b-118b der Aristotelischen Topik, vgl. REHBOCK, S. 5060.
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möglich. Wie aus der Gesamtgliederung ersichtlich ist, verfahren die erklärenden Auffacherungen mit dem Anspruch oder zumindest dem Anschein von Vollständigkeit. Erst auf der jeweils niedrigsten Ebene, dort, wo eine Ableitungsreihe vom Allgemeinsten zum immer Konkreteren endet, werden topische Handlungen erklärend angefügt, um die Möglichkeiten des Verhandelten nur noch zu umreißen.60 Diese Endpunkte sind aber schon Fälle, in denen handelnde Subjekte, genaue Eidgegenstände oder kennzeichnende Umstände benannt werden, also die letztmögliche Verallgemeinerungsstufe vor einem wirklichen, einzelnen Gerichtskasus. Der unziemliche Eid über einen bösen Vorsatz wird erklärt mit als ob er schwur, er wolt nit almüsen geben-, parallel heißt es beispielsweise unter dem Gliederungspunkt 1.1.1.2. (Täuschung durch Schwur) in dem willen z(i betriegen die nechsten, als die uerkouffer thond. Wenn die Schachtelung von Fallklassen überhaupt etwas zum sittlichen Urteil auf dieser hierarchisch niedersten Ebene beitragen kann, dann beschränkt sich diese Hilfe auf abstrakte Angaben über Sündhaftigkeit und Verstoßcharakter, also ein abstraktes Nicht-Sollen: ayde brechen und main aid sweren signalisieren durch die Benennung Verstoßcharakter,61 und wie das gebott mit schweren werd übergangen expliziert ihn. Die Gegenstände der Eide werden bis hierher überhaupt nicht erwähnt, sie sind für die Klassifizierung irrelevant. Wenn nun auf der Ebene des Eidbruchs unterschieden wird, ob sich der Eid auf einen sittlich guten oder einen sittlich bösen Gegenstand richtet, und gleichzeitig unterstellt wird, daß es um einen Eid über Zukünftiges geht, so fragt sich, wieviel von diesen Bestimmungen in der Tatklasse "Eidbruch" schon enthalten sein muß, ohne daß die Definition expliziert worden wäre. Auch hier ist zur Klärung des Begriffsumfangs nur die Menge der Unterklassen anzuziehen. Das sind: guter Vorsatz, böser Vorsatz und guter Vorsatz mit unverschuldeter Tathinderung. Als gemeinsames Bedeutungselement läßt sich "Gegenstand des Eides: Selbstbindung bezüglich künftiger Handlungen" isolieren; dieses gemeinsame Element wird durch die vollständige Aufzählung Definitionsmerkmal von "Eidbruch". Vergleicht man nun mit den Gliederungseinheiten, die mit "Eidbruch" auf derselben hierarchischen Stufe unter "Meineid" stehen, so zeigt sich, daß hier der Gegen-
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Hier werden also nur bestimmte Spielarten topischer Bestimmung genutzt, die Berücksichtigung abgeleiteter Begriffe und ähnlicher Gesichtspunkte, Aristoteles T o p i k 1 1 4 b u. 1 1 5 a . V g l . REHBOCK, S . 5 0 f .
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Dabei enthält in diesen zweigliedrigen Syntagmen ein Bestandteil eine eindeutig moralische Wertung, der andere ist neutral oder gegenteilig wertend: aide brechen besteht aus dem Objekt aid, das in sich wertneutral aufgefaßt wird, und brechen, das eindeutig eine Übertretungshandlung signalisiert, main aid swern dagegen enthält im Verb keine Übertretungshandlung, aber im Objekt.
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stand des Schwures keineswegs Definitionsmerkmal ist: Sowohl ein wissentlicher Meineid als auch ein Schwur über Ungewisses sind nicht gegenstandsabhängig (beim Ungewissen kommt es ja nicht darauf an, daß es per se, sondern daß es für den Schwörenden ungewiß ist, hier wird also nicht über die Veränderlichkeit eines Sachverhalts, sondern über die subjektive Wahrhaftigkeit einer Aussage gehandelt). Auch hier kann das sittliche Urteil, das den Kasus richten will, weder selbst vergleichen noch selbst ableiten, sondern nur einordnen. Es muß dabei den Gegenstand des Eides ansehen und richtig klassifizieren. Selbst die niederste Klassenbezeichnung ist aber noch so vage, daß man fast nichts damit anfangen kann: der aid ist vnzimlich. Was damit gemeint ist, wird erst klar durch die Konkretisierung als ob er schwur, er wölt nit almüsen geben. Das ist noch kein Präzedenzfall, sondern eine topische Bestimmung, denn diejenige Einzelheit, auf die es in der Tatklasse ankommt, wird nicht mehr allgemein benannt, nicht mehr definiert oder umfangsmäßig beschrieben, sondern konkret, einzeln, benannt. Alle übrigen Tatumstände bleiben aber variabel.62 Das, was die Einordnung bestimmt, kann nur durch Analogie erschlossen werden.63 Diese Regel gilt für den gesamten Text: Die Einordnung in die letzte Handlungsklasse, in die Ebene, auf der das sittliche Urteil gefallt wird, muß wesentlich durch Analogie ge-
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Es handelt sich also um das von Cicero, Topica 6,29 favorisierte Verfahren der Bildung von Definitionen durch Analyse: Das proprium, die differentia specifica wird klar herausgearbeitet, die übrigen Umstände können auch vernachlässigt werden. Die Übereinstimmung mit Cicero führt sich hier nicht fort: Topica 10, 41-42 setzt das induktive Einordnen nach Ähnlichkeiten gegenüber der deduktiven Entwicklung herab. PREE, Rechtsnorm, S. 82 hat darauf hingewiesen, daß der Prestigeverlust des Analogieschlusses in der Rechtspraxis im Römischen Recht historisch mit der Einführung von Interpretationsverboten (Justinian), also der Einführung des Interpretationsmonopols (über die intentio legislatoris) zusammenhängt. Das Einordnungsproblem hat auch einen sprachlogischen Aspekt: Wie soll eine Allaussage formuliert werden, und in welcher Weise umgreift sie den Einzelfall? Diese sprachlogischen Implikationen juristischer Regelverwendung sind ebenfalls bereits im Römischen Recht explizit diskutiert worden. Vgl. dazu die Darstellung von PREE, Rechtsnorm, S. 74-80. Für die Rechtsverwendung werden die Grundsätze, die das Verhältnis von Allaussage und Ausnahme thematisieren, unter den Regulae Iuris verhandelt. Die Stellungnahmen der Legisten des hohen Mittelalters dazu sind nach PREE ebd. S. 84-85 unterschiedlich, sie reichen von regula, cum in aliquo vitiata est, perdil officium suum bis zum grundsätzlichen Festhalten an semper specialia generalibus insunt mit Dig. 50,1,147.
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troffen werden.54 Die Einordnungsleistung ist zwar eine Voraussetzung für das sittliche Urteil, und sie bestimmt in gewisser Weise auch dessen Ergebnis, aber sie ist selbst noch kein Urteil der conscientia. Es wird im Fall des schlechten Vorsatzes tatsächlich erst auf der untersten Ebene vorgeführt, erst hier wird er zum schlechten Vorsatz, und es scheint, als könne die gesamte formalkasuistische Mechanik zuvor durchlaufen, ohne daß überhaupt Begriffsinhalte für Gut und Böse festgelegt sein müßten - oder daß sie sich in der analogen Subsumtion nach der klassenbildenden topischen Einzelheit erschöpften. Das heißt: Bis zu diesem Punkt kommt die Ableitung der Norm dem Anschein nach ganz ohne positive Bestimmungen von Gut und Böse aus, und das Böse wird für den abgegrenzten Geltungsbereich, der mit der ersten Untergliederung des Gebotsumfanges festgelegt ist, rein additiv bestimmt. Der einzige Weg, hieraus auf das Erlaubte (und eventuell weiter auf das Gute) im Umgang mit diesem Normteil zu schließen, wäre die Umkehrung der Handlungsoperatoren im oben dargelegten Sinne, also der Rückweg von der Übertretung beim Schwören zum Schwören, vom übertretenen Gelübde zum Gelübde. Es wäre also alles als erlaubt zu verstehen, was unter die positiv gefaßten Handlungsbestimmungen fällt, aber unter keines der Verbote. Nun zeigt sich aber bei dem Versuch, die Handlungsbestimmungen ohne Übertretungscharakter zu isolieren, daß das in einigen Fällen für die höheren Gliederungseinheiten möglich ist - etwa für Schwur und Eid. Bei anderen Handlungen müßte man dagegen einen Oberbegriff konstruieren, der im Text nirgends vorkommt, etwa zu von den got scheltern65: Anrufung, denn ein möglicher Gegenbegriff (etwa: Gott ehren und loben) wäre nicht in dem Sinne grundsätzliche und übergeordnete Handlungsbestimmung wie Eid im Verhältnis zu Meineid. Das führt auf das Problem, daß manche Handlungsbestimmungen im Text so gefaßt sind, daß sie bereits moralische und juridische Wertungen enthalten. Es ist aber nicht immer möglich, diese Wertungen zu entfernen und dann noch eine sinnvolle Handlungsbestimmung übrigzubehalten.66 Mit anderen Worten: Handlungsbestimmungen wie Schwur sind in
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Beispiele nach cgm 445: als ob er schwür er wolt nit spiln fol. 103r zur Einordnung in die guten Vorsätze; als ain schulthaiß oder ain richter 103ν für Ausnahmen von der Anstiftung zum Meineid; als ob ain mensch gelopl ain kirchen zä buwenn 106v für Gelübde vor Gott, an deren Erfüllung man gehindert werden kann. Cgm 445, fol. lOlv. Das ist ein grundsätzliches Problem negativer Ausdrücke in natürlichen Sprachen. Daß im vorliegenden Fall die Bedeutungselemente, die sich einer Übersetzung ins spiegelbildlich Positive sperren, moralisch-juridische Bewertungen enthalten, ist eine Besonderheit dieser Textsorte; das Gesamt der Präsuppositionen des Textes wird als Folie unterlegt. Vgl. WEINRICH, S. 439-440.
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sich neutral, die direkte Negation der verbietenden Attribuierung führt dann wieder auf das Erlaubte (zum Beispiel ist ein Schwur, der nicht überflüssig, das heißt dem Anlaß nach berechtigt ist, erlaubt). Was ist dagegen mit der Negation von Fluchen erlaubt? Hier gibt es offensichtlich keinen sinnvollen Oberbegriff, und ob der Gegenbegriff (segnen) anzuziehen sei, ist für den Kontext fraglich; zumindest würde er mit Sicherheit keine allgemeingültige Erlaubnis ausdrücken. Es ist also festzuhalten, daß es allgemeine Verbote gibt, die gleichzeitig allgemein etwas erlauben, nämlich ihr direktes Gegenteil unter dem unmittelbaren positiven Oberbegriff (und zwar deshalb, weil dies immer noch eine hinreichend beschreibbare Handlung ist), und solche, die sich nicht sinnvoll in positive Bestimmungen übersetzen lassen, weil es den Handlungstyp nicht wertfrei gibt und infolgedessen die Negation des innerhalb der Handlungsbestimmung Verbotenen keine beschreibbare Handlung mehr ist. Von hier aus stellen sich zwei Fragen. Wird mit den Gegensätzen vom Typ fluchen-segnen, zu denen ein Oberbegriff fehlt, möglicherweise nicht nur das Erlaubte, sondern direkt das Gute anvisiert? Und gibt es diese Schwierigkeiten der Normumformung auch bei Handlungsbestimmungen, die in sich einen positiven Wertungskern enthalten, der ohne Verlust der Bestimmbarkeit der Handlung so wenig abgelöst werden kann wie der negative im Typ Fluch? Die erste Frage läßt sich relativ schnell beantworten. Offensichtlich gibt es nämlich zu Handlungsbestimmungen, für die eine Wertung in dem Sinne konstitutiv ist, daß nach ihrer gedanklichen Ablösung nicht noch eine positiv bestimmbare Handlung übrigbleibt (und zu denen es folglich keinen systematischen Oberbegriff gibt, der das Erlaubte an der Handlung faßt), nicht immer einen direkten spiegelbildlichen Gegenbegriff. Ihn zu bilden war schon im Fall fluchen problematisch; im Fall spielen oder spotten wird es gänzlich unmöglich. Die Erwartung, durch die Umkehr der Handlungsbestimmungen auf das Gute schließen zu dürfen, so wie man aus der Umkehr der Handlungsoperatoren in den dargestellten Fällen auf das Erlaubte schließen konnte, ist also verfehlt. Ich wende mich nun der zweiten Frage zu: Gestaltet sich das Bild für die Handlungsbestimmungen, deren konstitutive Wertungen nicht negativ, sondern positiv sind, möglicherweise anders? Ergeben sich dort Rückschlüsse auf positive Normvorstellungen? Immer noch suche ich diese positiven Normvorstellungen, weil Heinrich von Friemar im Prolog erklärt und der Übersetzer mitübertragen hatte, daß die Gebote ein Weg zur Vollkommenheit seien. Unter diesem Gesichtspunkt prüfe ich noch einmal die Stelle, die das sittliche Urteil über die beeideten bösen Vorsätze enthält, weil sie einen Hinweis darauf enthält, daß der Fall unter Umständen auch unter dem Stichwort Gelübde hätte verhandelt werden können, das nicht ebenso neutral ist
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wie Schwur. Zur Verdeutlichung des partiellen Ineinander von Schwur und Gelübde muß ich noch einmal vom spezifischen Schwurbegriff an dieser Stelle ausgehen. Sie heißt: als ob er schwur, er wölt nil almäsen geben oder andre güte werck nit thön, so sündet er mit dem schwern, er sündet aber nit, ob er den aid bricht, wann als geschähen staut: in bösem gelupt vnd in schentlichem gehaiß wanndel den willen.®
Die Aufforderung an die sittliche Urteilskraft, analogisch vom exemplarischen Eidgegenstand auf Gegenstände gleichen Typs zu schließen, verbindet sich mit einer moralischen Qualifizierung: oder andre güte werck. Was güte werck sind, scheint also festzustehen. Die zusammenfassende Wertung stammt vom Bearbeiter, das Lateinische bleibt bei der Aufzählung exemplarisch guter Handlungen: dare eleemosinam et ieiunare uel peregrinari,68 Auch daß die Sündhaftigkeit mit dem moralischen Urteil böse belegt werden muß, ist offensichtlich, aber die beiden moralischen Wertungen befinden sich auf verschiedenen systematischen Stufen: im Gegenstandsbereich des Schwures (güte werck) und des Urteils {sündet). Das heißt, daß die Negation eines Guten im Schwur böse ist; der Schwur selbst kann also seinerseits nicht als negativer Operator begriffen werden. Der Schwur ist nicht böse. In dieser Allgemeinheit beinhaltet Schwur überhaupt keine moralische Bewertungen und implizite Operatoren. Die Begründung der Entscheidung über den Bruch eines bösen Vorsatzes verlegt in der lateinischen Parallele69 das Urteil in eine höher autorisierte Instanz. Die deutsche Wiedergabe verändert diese Verlagerungsbewegung; zwar wird der Inhalt übernommen, aber nicht die Berufung auf Isidor; die Formel wann als geschriben staut rekurriert auf geläufiges und verbindliches Buchwissen überhaupt.70 Dort wird mit in malis promissis und in turpi uoto ein Fall verhandelt, der sich schon sprachlich die negative Variante zu einem aus
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Cgm 445, fol. 102v-103r. Ausgabe GUYOT, entsprechend clm 8151, fol. 13r. Aut ergo iuramentum est illicitum, ut cum quis iurat non dare eleemosinam; et sie fit periurus ipso facto, et peccat iurando; sed non peccat contraveniendo, quia secundum Ysidorum: "In malis promissis rescinde fidem, et in turpi uoto muta decretum". GUYOT Ausgabe, entsprechend clm 8151, fol. 13r. Und als solches ist eine Stelle tatsächlich zu werten, die sich sowohl in einem theologischen wie auch einem kanonistischen Grundlagenwerk übernommen findet: GUYOT weist in seinem Quellenapparat die Stelle Isidor Synonyma II n. 58 (PL 83, Sp. 858) parallel im Decretum Gratiani C. 22 q. 4 c. 5 und bei Petrus Lombardus, III Sent dist. 39 c. 9 n. 2 (Sent. Bd. 2, S. 225) nach.
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sich nicht negativen Begriffpromissio und einem ebensolchen uotum darstellt. Deutsch wird dieses verbindliche Buchwissen über den Fall wiedergegeben mit in bösem gelupt vnd in schentlichem gehaiß wanndel den willen.71 Was meint hier böses gelupf! Warum wird der Begriff des Gelübdes im Kapitel über Eidbruch verwendet, obwohl er im Text doch an anderer Stelle - und abweichend vom Eid - systematisch behandelt wird? Unmittelbar deutlich ist nur, daß eine klare begriffliche Scheidung von Eid und Gelübde im Falle der bösen Vorsätze schwerfallt. Woran liegt das? Hat es mit einer unterschiedlichen Art von Begriffsbildung und impliziten moralischen Wertung (aid für etwas Inhaltsneutrales, gelupt für etwas inhaltlich sittlich Gutes, analog zur Tendez der juristischen Verwendung von iuramentum und uotum im Lateinischen)72 zu tun? Das Gelübde wird im deutschen Text eingangs nach Hugo von St. Victor73 definiert: Gelüpt ist ain ziugknuß ains willenklichen uerhaissens got allain vnd das daz zü got gehört,14 Im lateinischen Text steht testificatio quedam promissionis spontanee.15 Nachgetragen werden aber noch drei Punkte, die zü ainem gelüpt gehörent, also notwendige Umstände, die eigentlich ebenfalls Begriffsbestimmungen sind, nämlich das erst fryer will vnbezwungen, das ander mit vorbedauchtem willen, daz drit, das die sach güt sy, die man gelopt.16 Die ersten beiden dieser notwendigen Umstände präzisieren, was in der Definition aus Hugo von St. Victor angelegt ist: Willenklich bedeutet aus freiem Willen und mit Vorsatz. Der dritte bringt die Einschränkung: Als Gelübde soll nur gelten, was zu einer guten Handlung verpflichtet. Für den Eid fehlt eine explizite Definition; zur Bestimmung über die Umstände gibt es jedoch ein genaues Gegenstück. Es heißt hier: Das man ön sünd schwer vnd aid nem, da gehörent drüw ding zü- Das erst ist warhait der gewissen, das ander ist ain redlich vnd ain wol bedauchts vrtail der
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Cgm 445, fol. 103r. Iuramentum kann allerdings ausnahmsweise (bei Augustin) die Bedeutung maledictio annehmen, vgl. Thes. Ling. Lat. VII, Sp. 663. Votum ist im Gegensatz zu iuramentum auch in der Dichtung gebraucht (vgl. ebd. und A. WALDE, Lat. etym. Wörterb., 4. Aufl. Heidelberg 1965, Bd. II S. 837) und gewinnt seine rechtsterminologische Geltung erst durch die Verwendung im Codex Iustinianus, vgl. ebd. De sacramentis II p. 12 c. 13, PL 176, Sp. 521 B. Der Nachweis stammt von P. B . - G . GUYOT.
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Cgm 445, fol. 105r. Ausgabe GUYOT, entsprechend clm 8151, fol. 14r. Cgm 445, fol. 105v.
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verniinffl, das drit ist gerechtikait sy.77
der sach, dar vmb man swert, das sie
zimliche
Im Unterschied zur Bestimmung der Umstände für das Gelübde ist hier aber vom sündlosen Schwören die Rede, und das heißt, daß für den Eid die Tadelsfreiheit seines Gegenstandes eben nicht in die Begriffsbestimmung eingeht. Diese Dopplung der Begriffsbestimmungen wird bei der Beurteilung des Falles wichtig, wie sich der zu verhalten habe, der etwas Verwerfliches gelobt hat. Selbst wenn es sich um eine Verpflichtung allein vor Gott handelt: Darf man die Definition von Gelübde dann anwenden? Anderseits handelt es sich bei einem persönlichen Vorsatz der möglicherweise abweichenden äußeren Form wegen (ohne Öffentlichkeitscharakter und ohne Eidesformel) aber nicht notwendig um einen Eid. Dessen sonst im Text verwendete Begriffsbestimmung (denn einen Eid nimmt man: aid nemen, er ist ein Rechtsakt) ist also auch nicht lückenlos anwendbar. So dürfte der Fall des heimlich gefaßten bösen Vorsatzes eigentlich gar nicht vorkommen. Da er aber zumindest theoretisch ja vorkommen kann, muß entschieden werden, was eher vernachlässigt werden kann: die formalen Bedingungen oder die Inhaltsbindung. Nun wird er tatsächlich unter dem Eidbruch verhandelt, dort aber als synonym mit dem schlechten Gelübde begriffen. Das gilt für das Lateinische wie für das Deutsche. Das heißt: Ein böses Gelübde ist kein Gelübde, sondern ein Eid. Die impliziten Wertungselemente der Handlungsbestimmung dominieren also in der Einordnung über die Handlungsumstände. Zuerst muß entschieden werden, ob der Inhalt des Spruches sich auf Gutes oder Böses richtet, dann wird klassifiziert. Hier ist also der moralische Leerlauf des subsumierenden Einordnens durchbrochen. Die Richtlinien der sittlichen Grundsatzentscheidung werden wieder durch Analogie zu einer topischen Einzelheit gefallt: 'Almosen geben' gibt den Typ der guten, 'keine Almosen geben' den Typ der bösen Handlung vor. Die Ausgangsfragen für diesen Exkurs zum Gelübde waren: Fällt es nur bei solchen Handlungsbestimmungen, die in sich eine negative Wertung beinhalten, schwer, die negative Norm {Du sollst nicht) in eine positive mit Erlaubnischarakter {Du darfst) zu übersetzen, weil man keinen wertfreien systematischen Oberbegriff finden könnte (wie im Typ spielen)? Läßt sich für solche Handlungen, deren Begriff ihre sittliche Vorzüglichkeit einschließt (vom Typ gelupt), aus einem Verbot eine Erlaubnis oder eine Empfehlung ableiten?
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Cgm 445, fol. 104r.
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Daß gelupt durch die positive Wertung als Bestimmungselement für die Handlung in sich Erlaubnis und Empfehlung trägt, ist kaum zu bestreiten. Um so mehr verwundert es, daß auch hier die Norm auf der höchsten hierarchischen Ebene, auf der das Problem verhandelt wird, negativ formuliert bleibt: das ist die gelüpt die du got haust getan nit uerbergen,78 Beide Handschriften überliefern uerbergen, obgleich die Vorlage transgrediendo hat. Ich halte die Wortform uerbergen für eine Verschreibung aus Übergen durch das Mißverständnis eines diakritischen Zeichens über u oder ν als er-Kürzel auf der vorigen Traditionsebene.79 Der normierende Satz wird also gebildet aus einer in sich moralisch positiv bewerteten Handlungsbestimmung (Gelübde) als Objekt einer reinen Verstoßhandlung (äbergen). Wenn dieser Satz mit dem Handlungsoperator Du sollst nicht versehen wird, bezieht sich die Negation eindeutig auf die Verstoßhandlung, und zu dieser gibt es, wenn sie denn eine reine Verstoßhandlung ist, immer eine positive spiegelbildliche Handlung,80 die man im Fall des Gelübdes mit halten erfassen würde; bei diesen in sich positiven Handlungsbestimmungen tritt also die oben vorgeschlagene Umformung -(-a) = +a in Kraft. Die übrigbleibende positive Bestimmung Gelübde halten ist aber im Unterschied zur Negation von ayde brechen ein Gut, weil das Gelübde in sich im Gegensatz zum Eid ein Gut ist.
5. Zusammenhänge: Personaler Gewissensbegriff, subsumtives Urteil, Textstruktur Nun versuche ich zu resümieren, welche Schlüsse auf den Zusammenhang von Textstruktur und Struktur des sittlichen Urteils sich ergeben. Alle vorgeführten Strukturen vernünftigen Urteilens richten sich letztlich auf die menschliche Handlung, nicht auf die Reflexion über die Handlung. Das Auf-
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Cgm 445, fol. 105r. Wenn man uerbergen als ursprünglich annähme, wäre es allerdings Anlaß zu relativ weitreichenden Interpretationen. Es würde bedeuten, daß die unmittelbare Kontrollinstanz für die Erfüllung des Gelübdes nicht in Gott, sondern in der menschlichen Umgebung dessen liegt, der etwas gelobt hat, daß das Gelübde in ihr, wenn sie irgend davon Kenntnis bekäme, unter die Regularitäten des Eides fallen würde. Das macht den Unterschied zu Handlungstypen aus, die den Verstoßcharakter mit negativer Wertung als Bestimmungselement in sich tragen, also zum Typ spielen und spotten. Das sind keine reinen Verstoßhandlungen gegenüber einem positiven Handlungstyp, und deshalb findet sich nur ausnahmsweise eine positive Handlungsbestimmung mit gleichen oder sehr ähnlichen Handlungscharakteristika wie im Beispiel fluchen - segnen.
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finden des Urteils stellt sich als eine Mischform aus deduktiver Subsumtion und topischer Analogie dar, wobei die Analogie erst auf der hierarchisch niedersten Stufe, beim artbildenden Unterschied, einsetzt. Sie ist nicht obligatorisch zur Fallbeschreibung (der Besitz unrecht erworbenen Gutes z.B. wird rein subsumtiv erfaßt). Das Urteil ist dort, wo es einen neutralen Handlungsoberbegriff (wie Schwören) gibt, indifferent gegenüber vorherigen sittlichen Wertungen und den moralischen Wertbestimmungen selbst. Dann wird das Urteil erst auf der niedersten hierarchischen Ebene (der der analogischen Einordnung) getroffen; es wird in seinem sittlichen Charakter nicht begründet, sondern auf vorhergehende, aber nicht explizierte Wertbestimmungen bezogen (wie: güte werck). Dieses Grundmuster wird durchbrochen, wenn es um Handlungen geht, die in sich ein nichtisolierbares Wertungselement enthalten und zu denen deshalb ein neutraler Handlungsklassenbegriff fehlt. Dort ererbt das sittliche Urteil die grundsätzliche Ausrichtung bereits aus der Subsumtion unter die als sittlich böse (fluchen) oder gut (Gelübde) bestimmte Klasse. Im Konfliktfall, wenn die Handlungsumstände eine Einordnung unter eine solche a priori bewertete Klasse erlauben würden, der Gegenstand die Wertung der Klasse aber nicht abdeckt oder sogar zu ihr in direktem Widerspruch steht (wie beim bösen gelupt), wird die vorgängige Wertung der Handlungsklasse als das wichtigere Kriterium angesehen; Widerspruch zur Wertung der Handlungsklasse verhindert also die Subsumtion unter sie. Eine positive Bestimmung des Norminhalts durch Umkehrung der Verbotsoperatoren führt in aller Regel nur auf das Erlaubte; allein dort, wo die Handlungsklasse per definitionem als gut gilt, die Norm aber doppelt negativ formuliert ist (nicht übertreten), kann auf das Gute geschlossen werden. Das heißt: Die spezifischen Begriffe von Gut und Böse sind im Einordnungsschema immer schon enthalten - über die Analogie zur topischen, bewerteten Einzelhandlung oder über den Handlungsbegriff selbst. Diese Vorwegnahmen setzen aber erst dort ein, wo deduktives Subsumieren versagen würde (wie zum Beispiel, wenn Oberklassen fehlen: Typ spotten). Sie wären also subsumtiv nicht ersetzbar. Wohl allerdings wären sie es, zumindest theoretisch, in einer synthetischen Urteilsform für den Einzelfall, also in einer Kette von Schlüssen aus ersten Prämissen mit jeweils neu zugezogenen weiteren Prämissen. Solche Versuche werden aber nicht unternommen. Vielmehr zeigt die Textstruktur an, daß das sittliche Urteil der Schachtelung der Tatklassen folgen solle.81 Es kann unter Umständen mit der subsumtiven Auffindung
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Die Schachtelung der Tatklassen wird am häufigsten mit Konditionalsätzen ausgedrückt; dafür gibt es in der Gebotsauslegung 29 Belege, die in ihrer Mehrzahl Konditionalsätze oder Ablative des Gerundiums in der Vorlage wiedergeben, zum Teil aber zusätzlich eingeführt sind. Der artbildende Unterschied wird dabei wie
Personaler Gewissensbegriff, subsumtives Urteil, Textstruktur
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des Ortes der Handlung des weiteren Schließens enthoben sein, oder aber es fällt unter diesem aufgefundenen Ort seinen Spruch nach einem dort abgelegten, eindeutig bewerteten Muster. Das läßt darauf schließen, daß die zugrundeliegende Wertehierarchie als fest und als bekannt vorausgesetzt wird. Die Überzeugung, daß diese Wertehierarchie mit dem ausgelegten Gesetz inhaltlich äquivalent ist, entspricht der kanonistischen Begründung des Naturrechts-
im Lateinischen von den übrigen Fallklassen abgehoben; Sätze, die in der Vorlage mit vt cum oder mit puta si eingeleitet sind, werden deutsch mit als ob eingeleitet. Die Belege nach cgm 445: so man die gottlich warheit an sach nennet fol. 102r für iurando vane et invtiliter, clm 8151, fol. 12v; so man vngetrulichen swert fol. 102r für iurando dolose et fraudulenter clm 8151, fol. 12v; ob es wol were sy darumb erschwert fol. 102r für quantumcumque sint vera (iuramenta) clm 8151, fol. 12v; geschieht es mit gedauchtem mät fol. 102r für si talia iuramenta ex deliberatione fiant clm 8151, fol. 12v; ob er joch des aydes vberhaben wirt fol. 102v ohne direkte Entsprechung zu qui... disponitperiurare clm 8151, fol. 12v; vnd beschickt eß mit bedachtem müt fol. 102v für Et si hoc fit ex deliberatione et proposito clm 8151, fol. 12v; als ob er schwur er wölt nil almäsen geben fol. 103r für ut cum quis iurat non dare eleemosinam clm 8151, fol. 13r; ob er den aid bricht fol. 103r für contraveniendo clm, 8151 fol. 13r; Ist es aber nit vnzimlich als ob er schwiir er wölt nit spiln fol. 103r für Aut est licitum, ut cum quis iurat quod nolit ludere etiam pro poculo et esculento clm 8151, fol. 13r; bricht er das fol. 103r ohne Entsprechung; swert er aber das er almäsen geben oder andre gäte werck thon wöll fol. 103r für Si autem quis iuravit dare eleemosinam et ieiunare uel peregrinari clm 8151, fol. 13r; bricht er das von not fol. 103v für si transgreditur ex necessitate uel impotentia clm 8151, fol. 13r; ob aber ain schlecht person vmb bekantnuß ainer schuld ainen aid nympt fol. 103ν für aut est persona priuata. Et tunc aut exigit ad obligationis confirmationem clm 8151, fol. 13r; auch ist es ain missetruwen oder so ain zwifel ist in ainer sach fol. 103v für aut ad dubitationis remotionem, ut quando pro re litigiosa iuratur clm 8151, fol. 13r; so uerre der da gelopt haut ist sin selbs fol. 105v für si vovens sit sui iuris clm 8151, fol. 14r; als ob ains gelopt zä uasten vnnser frowen das eß gesund werd fol. 105v für puta si aliquis uouit ieiunare beate Virgini ut sanetur clm 8151, fol. 14r; wirt es nit gesunt in der zit fol. 105v-106r für si non sanatur infra tempus clm 8151, fol. 14r; kunschait ob die gelopt wird fol. 106r für in uoto continentie clm 8151, fol. 14v; als ob ain mensch gelopt ain kirchen zä buwen fol. 106v für puta si aliquis diues uouit edificare ecclesiam clm 8151, fol. 14v; wirt er dar nach gehindert von armät fol. 106r für et postea, paupertate superueniente, petficere non possit clm 8151, fol. 14v; ob die frow ichtz geloupt ön vrlub des mans fol. 107v für uxor non possit uouere aliquid sine consensu uiri, si tarnen facial clm 8151, fol. 15r; wie das sy das der man sünd fol. 107v für licet uir peccet clm 8151, fol. 15v; ob er das offenlich verhengt fol. 107v ohne Entsprechung; Wie das sy das die gelüpt der ee stett belipt 108v ohne Entsprechung; wann es regnet oder sy siech sind oder ichtz verliesent fol. 110r-v für qui maledicunt aure pluviali uel eorum infirmitati seu etiam rerum perditioni clm 8151, fol. 17r; wenn das flächen beschicht mil verdauchtem willen sich zä rechen oder von haß fol. 1 lOv für quod maledictio quandoqueprocedit ex uoto ultionis et odio persequentis clm 8151, fol. 17r.
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Heinrich von Friemar deutsch
gedankens. Sie geht ebenfalls - wie die philosophisch-theologische - von der (nach Prees Formulierung) "Ineinssetzung des geoffenbarten göttlichen Rechts mit dem natürlichen, d.h. aus der Natur mit Hilfe der ratio erkennbaren Recht"82 aus, aber während für die Theologen nur der Grund des Naturrechts (und damit die Struktur, nach der es in positive Regeln übersetzt werden kann) feststeht, betrachten die Kanonisten es in seinem normativen Inhalt als fest und durch die biblischen Gebote und Verbote umgrenzt.83 Angesichts der beschränkten Anzahl biblischer Sätze mit direkten Präskriptionen oder Prohibitionen (248 positive und 365 negative)84, die unendlich vielen möglichen menschlichen Handlungen gegenüberstehen, muß eine solche Voraussetzung sowohl zur Ausbildung von Fallklassen als auch zur Favorisierung analogischen Schließens (in der Absicht, das Urteil aus einem biblisch bewerteten Fall übernehmen zu können) führen. Der Bearbeiter Heinrichs von Friemar hat sich, obwohl er Subsumtion und analogisches Schließen auch aus anderen literarischen Quellen, in anderen Gestalten, kennen konnte, streng an die Vorgaben seiner Vorlage gehalten, die die Grenzen logischen Schließens im vorgegebenen Bezugssystem ausschöpft. Damit hat er ein deutsches Normenbuch geschaffen, das charakteristische Züge kanonistischer Summen übernimmt, ein Normenbuch, das den vernunftgebundenen Gewissensbegriff aus der Ethik des 13. Jahrhunderts als gesichert voraussetzt. Discretio und Gnade spielen keine Rolle, es geht um die Handlungsbewertung mit den Mitteln menschlicher Vernunft. Daß er ohne Not so verfuhr, weil auf der Grundlage ebendieser Textbasis, der Auslegung des Heinrich von Friemar, auch andere Verfahren möglich sind, wird die Auslegung des Marquard von Lindau zeigen. Wenn subsumtive Schlußmuster zu gültigen sittlichen Urteilen fuhren sollen, dann erlangt der Analogieschluß von sicher bewerteten Handlungen auf den Einzelfall besondere Bedeutung. Diesen Analogieschluß muß der einzelne zur Bewertung und Steuerung seiner Handlungen allein ausführen. Es ist dann nur folgerichtig, wenn der strengstmögliche Vergleichsmaßstab in sein Inneres, in sein Gewissen, hineinverlagert wird. Als vergleichendes Vermögen bleibt sein Gewissen immer eine halböffentliche Instanz, denn die sicheren Wertungen erlangt es der Grundrichtung nach durch die sittliche Anlage {synderesis), dem topischen Fall nach aber durch lernende Übereinkunft. Der Zwang zum Vergleich wird jedoch nicht von außen ausgeübt. Es gibt nichts, was den einzelnen zwingen kann, für Lücken des moralischen
82 83 84
PREE, Rechtsnorm, S. 19. Vgl. PREE, Rechtsnorm, S. 34. Die Zahl übernehme ich dankbar aus JAUSS, Dekalog, S. 442.
Personaler Gewissensbegriff, subsumtives Urteil, Textstruktur
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Gesetzes nach einer Ausfüllung im Sinne einer moralischen Utopie der Gemeinschaft von Gerechten zu suchen. Beratung kann helfen, doch sie muß gesucht werden. Das setzt, anders als im Falle des Normenkonfliktes, bereits ein Streben nach jener Lösung im Sinne der moralischen Utopie voraus. Die Verantwortung für die Wahl der strengstmöglichen Norm liegt dann allein beim einzelnen, ihm würde aus abweichendem Verhalten kein Vorwurf in der Öffentlichkeit von Welt und Kirche erwachsen. Sein Gewissen wird damit zur letzten Instanz der Entscheidungsfindung. Wenn es als das Ich vor Gott auftritt, dann nicht mehr, um sich in einem aufrechnenden Sinne für das deutlich Gute und das deutlich Böse zu verantworten, sondern als das Ich, das sich mit Gott berät in Dingen, in denen nur Gott raten kann. Der Text empfangt aus der Anleitung zur subsumtiven Auffindung sittlicher Urteile seine Gliederung. Ihr wesentliches Merkmal ist eine hierarchische Staffelung von Bezügen, die durch Numerierungen oder Wiederholungen des Signalwortes aus einer vorangestellten Disposition (Typ von dem schwern) entsteht. Auf den Unterebenen wird auf verschiedene Weise definiert. Explizite Definitionen haben die Form: X ist Υ, implizite Definitionen die Form: X ist vielfältig. Erstens ... usw. Auf der niedersten Ebene, auf der das Urteil zugeordnet wird, stehen die topischen Vergleichshandlungen, bevorzugt mit als angereiht: als ob er schwur er wölt nit alm&sen geben. Vorgängige Handlungsbewertung (fluchen, spielen) gilt durch die Konnotationen der Wortbedeutung als gegeben. In diesen Fällen gibt es keine expliziten Definitionen der Handlungsklasse. Der spezifische Gewissensbegriff der Bearbeitung, seine Aufwertung als verantwortliche und richtende Instanz, als individuierendes sittliches Prinzip vom Menschen aus, nicht von Gott, zeigt sich an den Zusätzen nach der gewijssen und nach siner gewissen. Sie wären, wenn sie nicht Besonderes an den so vorgeführten sittlichen Urteilen anzeigen würden, eigentlich überflüssig, denn nach gemeinscholastischer Auffassung vollzieht sich jedes sittliche Urteil in der conscientia, also auch die rein logisch-deduktiven Subsumtionen. Wenn ein Handeln nach der gewissen aber dennoch erwähnenswert ist, so wird dadurch angezeigt, daß gewissen bereits als eigener Maßstab auftritt. Der Text unterscheidet durch diese Zusätze gleichsam Urteile im Gewissen von Urteilen nach dem Gewissen. Für die Urteile im Gewissen reicht der scholastische conscientia-Begriff aus. Die Urteile nach der gewijssen verstehen unter Gewissen zum mindesten die Verschmelzung der scholastischen conscientia und synderesis, aber auch schon eine innere Ausrichtung auf die sittliche Utopie sich fortzeugenden vorbildlichen Lebens. Die Verschiebung des Gewissensbegriffes führt also auf die strukturelle Paradoxie, daß für ein Urteil im Gewissen (im hochscholastischen Sinn, als Vermögen der praktischen Vernunft) das Gewissen (im Sinne der Pflicht zur moralischen Utopie, also seinen Inhalten nach) als Maßstab angegeben wird.
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Heinrich von Friemar deutsch
Diese Strukturanomalien erschließen sich wegen der minimalen Markierung allerdings erst komplexer Analyse des Textes; in ihren übrigen Merkmalen sind die beiden so verhandelten Urteile (Ehe nach Keuschheitsvorsatz, Verkauf eines ohne Wissen des Verkäufers in ungerechtem Krieg geraubten Gutes) von den üblichen Fallbeschreibungen und Lösungen nicht zu unterscheiden. Der auffalligste Zug dieser deutschen Auslegung bleibt die Spannung von Prolog und Einzelauslegungen, von mystischer Vollkommenheitsidee und Kasuistik. Ich neige zu der Ansicht, daß sowohl Heinrich von Friemar als auch sein Berabeiter hier keinen Gegensatz empfunden haben, daß sie den Anfang der Vollkommenheit gerade in jener Selbständigkeit des Gewissensurteils sahen, das den Menschen in der Hoffnung auf die Wirkung von Vorbildern auf das verpflichtet, was niemand rechtens von ihm verlangen kann. Für diesen Überbietungsmechanismus des Gewissens ist die Kenntnis der verpflichtenden Norm zwingend erforderlich; mit dem Ziel, ihn anzuregen, wird die Kenntnis vermittelt.
III. Quertextein in neue Themen: Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau 1. Über das Werk Wenn ich nun in diesem Abschnitt den Dekalogtraktat des Marquard von Lindau untersuchen will, dann deshalb, weil Marquard hier eine Lehre sittlichen Lebens entwickelt, die die Auseinandersetzung sowohl mit Eckhart als auch mit dem 'Buch von der geistlichen Armut' sucht. In der Reihe Eckhart BvdgA - Marquard kündigt sich mit dem Traktat eine neue Linie der Entfaltung von Moral- und Gewissensproblemen an, denn Marquard strukturiert sein Werk nach den zehn Geboten. Weil der Dekalog zu den katechetischen Stücken gehört, die jeder Christ zu kennen hatte, enthält dieses Strukturschema bereits eine Eigenaussage: das Bemühen um Operationalisierbarkeit. Das ist in einer von Eckhart ausgehenden Tradition durchaus ein neuer Ton, aber nach dem BvdgA gleichzeitig auch ein logisches Glied der Entwicklung: Eckhart nimmt keinen bestimmten Weg des rechten Lebens und der Gotteinigung an, das BvdgA geht davon im wesentlichen noch aus, führt aber nach dem Vorbild Heinrichs von Friemar die discretio-Lehre ein, und Marquard verbindet nun, wie zu zeigen sein wird, Eckhartsches Erbe mit positiver, abfragbarer Anweisung. Auch hier hat Heinrich von Friemar als Vorbild gewirkt.1 Marquard von Lindau hat den Versuch, die Einheit mit Gott von der Vollkommenheit einer streng geregelten Pflichterfüllung abhängig zu machen, von Heinrich übernommen. Da er gleichzeitig auch aus dem BvdgA schöpft, steht er in dem internen Diskurs der Texte näher an Eckhart und dem BvdgA als die Übersetzung von Heinrichs Dekalogerklärung, obwohl er sich auf Heinrich als Quelle bezieht. Die Erschließung der handschriftlichen Verbreitung von Marquards Traktat ist von Nigel Palmer gegenüber der frühen, aber bis heute grundle-
Vgl. PALMER, Marquard, Sp. 90.
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Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
genden Arbeit von Mayr 2 weitergetrieben worden. 3 Der Text beruft sich auf die exegetische Tradition und organisiert sich nach den Geboten, aber so, daß sie eher inhaltliche Orientierungspunkte bieten denn die Grundlage für eine strenge Auslegung. 4 Er liegt in drei Redaktionen vor, die nach der bis heute nicht widerlegten Ansicht Mayrs sämtlich als Autorfassungen anzusehen sind. 3 Zudem ist er, unterschiedlich konsequent in den Redaktionen und innerhalb ihrer im Textverlauf, als Lehrgespräch angelegt, das zu jedem Gebot in sich eine Dreigliederung aufweist: Fragen und Ausführungen aus der Hauptvorlage Heinrich von Friemar, 6 nach der Lebensweise Mariae und der Gottesfreunde. Marquard von Lindau ist ein zweisprachiger Autor. 7 Für den Dekalogtraktat gilt das Deutsche als vorgängig, er ist im nachhinein ins Lateinische übersetzt worden; daneben gibt es auch eine mischsprachige Fassung. 8 Der Text hat denn auch bereits früh editorisches Interesse gefunden; in den letzten beiden Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts wurden eine Kurzfassung, ein Bruchstück und eine nhd. Übersetzung ediert. 9 Nachdem
2
MAYR, Überlieferung. Die Langfassung dieser Arbeit ist ungedruckt und befindet sich als Typoskript in der Forschungsstelle für deutsche Prosa des Mittelalters am Institut für Deutsche Philologie der Universität Würzburg: DERS., Die Handschriften und Drucke der "Dekalogerklärung" des Marquard von Lindau. Meine Nachweise beziehen sich auf die Druckfassung.
3
PALMER, L a t e i n , m i t H a n d s c h r i f t e n l i s t e S . 1 0 5 - 1 1 0 .
4
Diese Art von Dekalogexegese durch Zuordnung entsteht erst im 14. Jahrhundert, vgl. WACHINGER, Dekalog, S. 240-241. Es ist bezeichnend und wichtig festzuhalten, daß in der deutschen Volkssprache die Etablierung des Dekalogs als Buchstruktur mit der lockeren Zuordnung zum Dekalog und nicht mit streng kasuistischen Pflichtenbüchern nach dem Vorbild kanonistischer Summen beginnt. Das zeigt, daß das Bedürfnis nach stärkerer Verregelung aus einem geistigen Kontext herrührt, in dem man vor dem Abgleiten der Ethik in völlige Beliebigkeit glaubt warnen zu müssen, also aus der Auseinandersetzung mit der Eckhartschen weiselosen Weise, zu Gott zu gelangen.
5
MAYR, Ü b e r l i e f e r u n g ; PALMER, M a r q u a r d ; DERS., L a t e i n , S . 7 6 .
6
PALMER, M a r q u a r d , S p . 9 0 .
7
BLUMRICH, Marquard, S. 3*: "Kennzeichen der literarischen Produktion Marquards sind eine weitgehend vereinheitlichte literarische Formgebung, eine enge inhaltliche Verflechtung der einzelnen Werke sowie die Zweisprachigkeit."
8
V g l . PALMER, L a t e i n , S. 7 6 . D a s P h ä n o m e n ist, w i e PALMER in d i e s e m B e i t r a g
(mit Diskussion der Literatur zu dem Gegenstand) betont, für Marquard durchaus keine Ausnahme. 9
D a s n d . B r u c h s t ü c k : A . LÜBBEN/R. SPRENGER, B r u c h s t ü c k e i n e r U n t e r w e i s u n g ü b e r d i e z e h n G e b o t e , in: N d . J b . B d . 7 ( 1 8 8 1 ) , S . 6 2 - 7 0 ; d i e n d l . K u r z f a s s u n g :
G. H. van BORSSUM WAALKES, De tien geboden, in: De Vrije Fries, 3. reeks, 5. deel, Leeuwarden 1890, S. 238-324; die nhd. Vollübersetzung der C-Fassung: V. HASAK, Ein Epheukranz, oder Erklärung der zehn Gebote nach den Originalausgaben v. Jahre 1483 und 1516, 1889.
Über das Werk
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Mayrs Untersuchungen aber klargestellt hatten, daß es sich bei der weitverzweigten, in Redaktionen und Unterredaktionen10 geteilten Überlieferung von selbst ausschlösse, eine kritische Ausgabe gleichsam nebenbei zu veranstalten, sind Unternehmungen, die auf eine kritische Edition zielen, erst ein volles Jahrhundert nach den ersten Bruchstückveröffentlichungen in Angriff genommen worden. Jakobus Willem van Maren hat in der Reihe 'Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit' zwei frühe Drucke der C-Redaktion abgedruckt, die verschiedenen Untergruppen dieser Redaktion angehören." Er versteht die Ausgaben als Vorstudien zu einer kritischen Ausgabe,12 die nach wie vor fehlt. Es ist zu erwarten, daß erst im Rahmen einer solchen Unternehmung, die durch van Maren allenfalls in Bezug auf die C-Redaktion gefördert werden konnte, die Redaktionenfrage endgültig geklärt werden wird. 13 Einzelinterpretationen von Stellen aus dem Dekalogtraktat Marquards von Lindau stellen angesichts der schwierigen Überlieferungslage ein gewisses Wagnis dar. Ich gehe von der C-Redaktion aus. Ihr Textumfang bietet für die Analyse des Gewissensbegriffes das reichhaltigste Material. Der Vorteil wird allerdings durch den Nachteil erkauft, daß die Zuschreibungsfrage für die Plusstellen gegenüber der Al-Redaktion (die Palmer mit Mayr als die älteste Textstufe annimmt)14 miterwogen werden muß. Dennoch habe ich mich für die in 48 identifizierten Textzeugen15 erhaltene C-Redaktion entschieden, weil sie am klarsten zeigt, wie sich der ursprünglich scholastisch wohldefinierte und gut abgegrenzte Gewissensbegriff mit anderen, neuen Problemfeldern überlagert, die ihn mitbestimmen und verändern. Das Ineinander der
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PALMER, Latein, S. 76 Anm. 17 zählt insgesamt "sieben Fassungen"; für ihn ist die redaktionelle Unterscheidung, obgleich er keinen Grund für Zweifel an MAYR sieht (ebd. S. 76), doch eher eine vorläufige Unterteilung. Van MAREN, Marquard Druck 1516 und van MAREN, Marquard Druck 1483. Die erste Ausgabe gibt die Cl-Redaktion mit dem Al-Prolog, die zweite die C3Fassung wieder. Vgl. PALMER, Marquard, Sp. 89. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 1*. Den gegenwärtig akzeptierten Stand der Unterscheidung legt PALMER, Latein, S. 76 dar: "Es besteht kein Grund, an der Vermutung Mayrs zu zweifeln, daß die drei Hauptfassungen der 'Dekalogerklärung' Autorfassungen sind. Bei den sekundären Textstufen A2, B2 und C2 bzw. C3, die breit und im Falle von A2 recht früh überliefert sind, ist das weniger wahrscheinlich, aber erst eine kritische Ausgabe des Textes wird ein sicheres Urteil ermöglichen." Vgl. PALMER, Latein, S. 76 Anm. 17; MAYR, Überlieferung, S. 75. Ich habe zum Vergleich des Textbestandes von C (Drucke 1483 und 1516) mit der A l Redaktion die Hs. Göttingen UB Cod. theol. 285, fol. 4v-57r herangezogen; zu deren Zuordnung vgl. PALMER ebd., S. 107. So PALMER, Latein, S. 105-110.
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Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
Sprachen in der Überlieferung, also das Bearbeiten deutscher Texte mit Hilfe lateinischer Übersetzungen, 16 berechtigt dazu, den ständigen Bezug zur lateinischen Theologie zu suchen. Die C-Redaktion erweitert, wie bereits erwähnt, den Text von Α im 4. Gebot um eine Sterbelehre und Erörterungen über die Seelen im Fegefeuer, die auch separat überliefert sind. 17 Diese Fassung stellt sich im Prolog explizit als eine Erweiterung dar: Du voderst von mir äine werck das iber mein sinne vnd kraft ist vnd begerst von äinem blinden gefiirt werden: doch seint mich göttliche liebe dar zü zwinget das ich dir nichts versagen kan: her Vmb wil ich dir die geböte gots beklem vnd baß vnd lenger dann ich vormals getän han.w Die erweiterte C-Fassung ist, während die B2-Redaktion für die handschriftliche Verbreitung eine Art von Vulgatfassung des Textes bildete, 19 noch dreimal gedruckt worden: Venedig 1483, Straßburg 1516 und 1520. 20
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Vgl. PALMER, Latein, S. 76-105. Überlieferung bei PALMER, Marquard. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 10. Ich zitiere den Prolog nach dem Druck der C3-Fassung, weil er von deren spezifischen Erweiterungen nicht betroffen ist (vgl. van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 5*) und weil die bei PALMER im "Verfasserlexikon" als zuverlässigste Zeugen der C1-Fassung angegebenen Texte (Hs. Göttingen UB Cod. theol. 147, lr-144r, und der Straßburger Druck, faksimiliert bei van MAREN, Marquard Druck 1516), jeweils Prologe der anderen Fassungstexte aufweisen: die Göttinger Hs. den Prolog zu B1 und der Straßburger Druck den zu A l . Zu diesem Verfahren vgl. PALMER, Marquard, Sp. 86 und Sp. 90. Vgl. PALMER, Marquard, Sp. 86. B2 ist aber gegenüber Al eine stark verkürzte Fassung, in der ganze Passagen nur durch verbindende Sätze substituiert worden sind, vgl. MAYR, S. 76-77. Die Besonderheit der B-Redaktion, die Verbindung mit dem "Auszug aus Ägypten", ist mit einiger Sicherheit eine spätere Verschmelzung (vgl. MAYR, S. 76). Unter dem Gesichtspunkt, daß es mir hier um Dekalogtraktate und darin um den Stellenwert der Gewissensproblematik und der Darstellung der sittlichen Fähigkeiten geht, blende ich deshalb auch B1 aus und beschränke mich auf Α und C. Die Editionen der Drucke von Venedig 1483 (Fassung C3) und Straßburg 1516 (Fassung C1 mit dem Prolog von Al): van MAREN, Marquard Druck 1483 und DERS., Marquard Druck 1516. Vgl. PALMER, Marquard, Sp. 89. Die C3-Fassung zeichnet sich vor allem durch Erweiterungen zum 5. und zum 8. Gebot aus, vgl. PALMER, Marquard, Sp. 90, und van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 5*.
Der conscientia-Begriff und die conscientia erronea
2. Der conscientia-Begriff
und die conscientia
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erronea
In diesem Abschnitt erörtere ich Stellungnahmen zur conscientia, die zum gemeinsamen Bestand der C-Redaktion gehören. Ich verwende dazu, auch wenn ich nach der besser benutzbaren Ausgabe eines Druckes der C3-Gruppe zitiere, nur (sofern nicht ausdrücklich auf die C3-Redaktion Bezug genommen werden soll) Stellen, die sich auch in der C1-Redaktion wiederfinden; die C2-Redaktion ziehe ich zum Vergleich nicht heran, weil sie sich ja gerade durch Lücken auszeichnet. Sie ist übrigens nur in 2 Hss. faßbar: cgm 365, fol. 2r-152v; cgm 621, fol. lr-49r.21 Zum Vergleich mit der Cl-Gruppe verwende ich den Straßburger Druck 1516.22 Das irrende Gewissen wird in der Dekalogerklärung einmal explizit, einmal implizit behandelt. Die erste Stelle steht in der eingeschobenen Beichtlehre unter dem 4. Gebot und ist nicht nur in der C-Redaktion, sondern auch in der ältesten Al-Redaktion enthalten.23 Der Jünger fragt: Jch weste gern was es machet so ich vnd ander lewte vnter weiln gepeichtet habent das vns dannoch die sünd mer straffen vnd vns alles düncket das wir haben die sünde nicht recht gepeichtet.2*
In der Antwort des Meisters dazu heißt es: Wiß das semleiche straffe kümend von den pößen gäisten vnd das auch des menschen hertze der pbß gäiste do mit entpfrieden will So geschieht es auch dick von dem heiligen gäiste wan villeichte der mensche nicht durchleuchtiglichen gepeichtet hatt als er solle. Und vordert domit das man das aber beichte. Und so geschieht es auch dick von äiner irrigen conscientien.25
Es geht hier um die conscientia erronea. Es wird ein friedloser Zustand nach der Beichte (und Absolution) angesprochen; der Mensch ist also seiner conscientia gefolgt und hat dasjenige, was ihm sündhaft schien, aufrichtig gebeichtet, folglich nicht gebeichtet, was ihm gut und richtig schien. Als die dritte mögliche Ursache für innere Qual nach dieser Beichte spricht Marquard das irrende Gewissen an. Gewissensqualen gehören topisch zur conscientia-
21 22 23 24 25
Vgl. PALMER, Latein, S. 108. Faksimile: van MAREN, Marquard Druck 1516. Vgl. PALMER, Latein, S. 76 Anm. 17; MAYR, Überlieferung, S. 75. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 52. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 52 (C3), van MAREN, Marquard Druck 1516 ( C l ) , S. 46-47. Für die Al-Fassung: Göttingen UB Cod. theol 285, fol. 23vb-24ra.
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Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
Vorstellung, aber Marquard versucht etwas Neues: Er fuhrt nämlich die Wahrnehmbarkeit des Gewissensirrtums ein. Wie der Mensch sich aus seinem falschen Urteil lösen könne, war eine offene Frage im Gewissensmodell des Bonaventura gewesen, die dort nur mit Hilfskonstruktionen überbrückt worden war, die allerdings sämtlich aus dem Kreis der Gewissenstätigkeit herausfielen: nämlich mit Gehorsam und mit Beratungspflicht. Für Thomas lag der Fall anders, hier konnte nur ein neues Durchdenken zu abweichenden Schlüssen führen, die Korrektur des Irrtums hatte Thomas denselben Kräften zugetraut, die ihn hervorgebracht hatten. Wenn Marquard nun einen Zustand der Unruhe nach dem Empfang des Sakramentes einführt, dann braucht der einzelne zwar mehr als sich selbst und seine Vernunft - nämlich eben das Sakrament -, um den Irrtum zu bemerken, aber er ist nicht auf die Urteilsfähigkeit anderer angewiesen, er empfängt den Anstoß zur Selbstkorrektur aus seiner eigenen religiösen Übung, die ihm gleichsam eine Fehlermeldung präsentiert. Diese Aufforderung zur Fehlersuche kann dann mittelbar wieder das vernünftige Gewissensurteil in Gang setzen, mit der veränderten Aufgabe, die Prämissen und die Schlüsse zu überprüfen. Das ist eine Lehre der Vermittlung, eine Nachbesserung Bonaventuras durch die Stärken der thomistischen Gewissenslehre. Marquard will nicht so weit gehen zu behaupten, daß das Diktat der praktischen Vernunft für den einzelnen in seinen eigenen Angelegenheiten das letztmögliche Urteil ist, aber den Gewissensschluß auch nicht entkräften, indem er ihn äußerer Kontrolle unterstellt. Er wählt eine theologische Antwort auf eine philosophische Frage: Die übersinnliche Erfahrung des Umgangs mit dem Sakrament setzt den rationalen Prozeß der Urteilsüberprüfung in Gang, der einzelne kann so mit seinem Gewissensschluß allein bleiben und ihm wieder vertrauen, solange er sich auf die Kraft der Sakramente verlassen kann; er ist also unter göttlicher Kontrolle allein mit seinem Gewissen. Die menschliche Kontrolle wird aber immerhin entbehrlich. In einem zweiten Kontext geht es um die Gewissenstätigkeit der abgetrennten Seele; hier wird ein Gewissensirrtum faktisch vorausgesetzt. Die Stelle steht ebenfalls unter dem 4. Gebot und gehört zum Sondergut der C-Fassung. Marquard (C) erwägt, was das Gewissen der Seelen im Fegefeuer bewirke:26 War an der sele pein gelegen sey. Zäm ersten ligt ir pein dar an das sie berawbt sein des lüstlichen angesicht gotes. Und wen sie wissen das sie sich so gar cläine ding haben lassen gehindert vnd geirret. Dartmb so haben sie vnmeßiges leyden
26
Zum Schicksal der Seelen im Fegefeuer weist die C3-Redaktion weiteres Sondergut auf, vgl. van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 5*.
Der conscientia-Begriff und die conscientia erronea
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vnd läid dovon. Zäm andern mal ligt ir pein daran das sie do gefangen vnd gebunden sein so vil das sy keinen Ion verdinen mügen mer: vnd in alles verdinen vnterz> ist. ZJU dem dritten mal so ligt ir pein darann das sie all zeit ynniges hertzen laid habent Unb die verlorn edeln zeit in der sie so wünniglichen frewde möchten verdinet haben das sie das leychtiglichen vnd vnnützlich vertriben haben. Zäm virden mal ligt ir pein dar an das das fewr in dem sie sein so gar grymme ist vnd so gar bitter das aller martrer leiden so es ye geliden ist: vnd aller druck vnd versmechde so es alle gotes frewnd ye geliden haben mynner ist dan das leiden des fegfewrs. [...] Zäm finften ligt ir pein dar an das sie an vnterlaß äin peißnn vnd äin straffen haben in ir conscientz t>mb ir missetat: vnd dar tzä alle die bild der ding mit den sie gesündet haben werdent in Stetigleichen für gehalten das sie die mäßen ansehen: vnd wen sie dan bekennen wie gät got ist vnd wie gar bbß die mynst sünde ist. Dartmb so habent sie vnmeßigs straffen in inn selber. Zäm sechsten so haben sie groß pein von der lewt vndanckperkeit die in wol helffen möchten vnd es doch nicht tünt.21
Daß die lateinische Wortform mitten im deutschen Satz beibehalten wird, ist bei Marquard gerade für 'Gewissen' mehrmals bezeugt.28 Die Verbindung von Gewissen und Fegefeuer ist ein bei Origenes vorgebildeter Gedanke.29
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 40f. Im Eucharistie-Traktat heißt es über die Zeichen dafür, ob ein Mensch oft zum Altarsakrament gehen solle: Das ander zeichen ist, wenn er von dem dik zä gan dester me in frid sines hertzen wirt gesetzt, oder ioch in vnfrid, in dem er me ßirbasser gestraffet wirt in siner consciencie vmb sine gebresten. (HOFMANN, Eucharistie, S. 298). In demselben Text heißt es über die Wirkung des Sakraments: Vnd darvmb spricht sanctus Bernhardus: "Qui comedit me." Der mich isset, der wirt geessen. Dz ist nit anders denn ein bissen der conciencie vnd ein jnriges straffen, so dem menschen werdent vff getan sin ougen, dz er ansieht sin grossen gebresten (ebd., S. 312). Für die terminologisch präzise und konstante Verwendung von conscience bei Marquard scheint mir auch der folgende Beleg aus dem Hiob-Traktat zu sprechen: 'Nec reprehendit me cor meum in omni vita mea etc.' Job. Diß spricht zü tütsche also: 'Min hertze hat mich nye gestraffet in allem myme lebetagen'. We gar selig der mönsche wer, der sin leben also vertriben hette, das er in allem sime lebetagen nye nit getan hette, darumb in sin conscience mohte gestraffen (GREIFENSTEIN, S. 188). De prineipiis II cap. 10.4, Werke Bd. 5 S. 177-179. Origenes legt ebd. S. 177 Is 50,11 aus. Er versteht die Stelle so, daß jeder Sünder sein eigenes Feuer entzündet und es gerade dieses Feuer ist, in dem er untergeht: Per quos sermones hoc videtur indicari, quod unusquisque peccatorum 'flammam' sibi ipse proprii 'ignis' 'accendat', et non in aliquem ignem, qui antea iam fiierit accensus ab alio vel ante ipsum substiterit, demergatur. Ebd. S. 177. Der Gedanke wird anschließend S. 178 Z. 8-9 u. Z. 13-14 auf die Seele und die conscientia bezogen: tunc et ipsa conscientia propriis stimulis agitatur atque conpungitur et sui ipsa efficitur accusatrix et testis [...] Ex quo intellegitur quod circa ipsam animae substantiam tormenta quaedam ex ipsis peccatorum noxiis affectibus generantur.
Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
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Von dieser Überlegung aus könnte man einen vorscholastischen conscientiaBegriff unterstellen und das Wort mit 'Inneres' oder mit 'Bewußtsein' übersetzen. Vergleicht man die Stelle in Marquard C jedoch mit Marquards lateinischem Traktat De nobilitate creaturarum, so zeigt sich, daß gerade die Lehre vom Gewissensbiß im Fegefeuer dort eine augenfällige Parallele findet. Die conscientia, die nach dem Tode noch wirken kann, wird hier als das Fortwirken der synderesis erklärt. Ich habe die Stelle oben bei der Erörterung von Marquards synderesis-Lehre schon einmal zitiert; sie heißt in der Wiedergabe von May: Inde ergo invenitur synderesis in homine, qui est quidem igniculus in medio animae impressus, in se habens similitudinem dei in tantum, quod semper ad deum inclinat [...] Et hic igniculus ctdhuc in inferno remanet, sed tantum vocatur vermis vel conscientiae remorsus. Et credo, quod homo plus de isto remorsu patiatur in inferno quam de quacumque poena sensu.30
Ich sehe keinen Grund, warum diese Auffassung von der Sache - nämlich peinigende conscientia als die Erscheinungsform der synderesis nach dem Tod - nicht auch Marquards Dekalogerklärung zu unterstellen sein sollte, selbst für den Fall, daß die Redaktion nicht Marquards eigene Leistung war. Der Aspekt des Sich-selbst-Tadelns unter ausdrücklichem Bezug auf das Fegefeuer findet sich auch bei Tauler. In der Predigt 76 gibt es folgende Passage: Als nu der mensche Got wil minnen, so siht er in sich selber das er minnelos und gnodelos ist; so solle er Got von gründe minnen und meinen, und envindet es nüt in ime: so stet dicke in ime uf ein gruwelich urteil und geschrei über sich selber, und versencket sich danne der mensche in die helle oder in gruwelich vegefur, und stet alles das Unglücke in ime uf das ie wart: entruwent, dem ist vil rehte also: der mensche sol sich selber verurteilen
Für Tauler sind die Selbstverurteilung und die anschließende Bitte um gnädige Verschonung vom Fegefeuer32 zwar richtige Handlungen, aber dennoch nur Durchgangsstadien:
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MAY, S.
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VETTER, S . 4 0 9 , Z .
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So wir dis bevindent, so sprechent wir: 'erbarmhertziger Got, erbarme dich über mich, erlöse und hilf mir und tü mir alsus und also, und hilf mir daz ich sunder alles vegefür zü himelrich kumme', das wenig heiigen ist geschehen. Predigt 76,
110.
VETTER, S . 4 0 9 .
19-25.
Der conscientia-Begnff
und die conscientia
erronea
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Diz ist wol g&t, des enwiderspriche ich nut; aber der wore mirtne hette, der viele mit sime urteile und mit allen sinen gebresten in ein minnencliche insinckende in Got in sinen wolgevellichen g&ten willen, in eime woren usgange alles eigens willen."
Damit gibt es für Tauler sozusagen zwei Fegefeuer: ein selbstverordnetes inneres und ein äußeres, von dem gnadenhaft verschont zu werden man erbitten kann; aber beides, Selbsturteil wie Bitte, schließen noch eine Sorge um sich ein, von der die wahre Gottesliebe sich freimachen muß, um sich dem göttlichen Willen rein zu unterwerfen: es si in dem vegefiir oder wie es ime wol behaget,34 Diese Darstellung ist der von Marquard C verwandt, aber auch in einigem von ihr verschieden. Einen vordergründigen Unterschied macht der Ausgangspunkt der Betrachtung aus: Bei Marquard C geht es um das Schicksal der Seelen, über die das göttliche Urteil bereits ergangen ist; ihr Gewissen richtet das diesseitige Leben post festum nach einem jenseitigen Maßstab. Auch die Selbstverurteilung, von der Tauler in der Predigt 76 spricht, fällt mit einiger Sicherheit, denn darin besteht Einigkeit bis in die Ethik des 15. und 16. Jahrhunderts, in die conscientia, obgleich das Wort nicht erwähnt wird. Taulers Gewissen richtet den lebendigen Menschen nach der menschlichen Antizipation des göttlichen Maßstabes und kommt dabei zu vernichtenden Schlüssen. Es hat aber nicht das letzte Wort, es ist sich seiner Vorläufigkeit bewußt. Marquards Bildlichkeit ist drastisch, und seine conscientia löst denkbar unattraktive Aufgaben. Ihr wird in einem Feuer, das so gar grymme ist vnd so gar bitter das aller martrer leiden so es ye geliden [...] mynner ist dan das leiden des fegfewrs,35 unter gelegentlicher kaum strafmildernder Beobachtung von Engeln (mer alläin die heiligen engel seint bey in vnd trösten sie in
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VETTER, S . 4 0 9 , Z. 2 9 - 3 2 .
34 VETTER, S. 409, Z. 38. Wegen dieser Fortsetzung des Gedankens scheint es mir nicht unbedingt zwingend, daß Tauler die innere Strafe als die eigentliche Fegefeuerpein ansehe, wie es E. KOCH im Artikel "Fegfeuer" der TRE (Bd. 9, 1983, Sp. 69-78) unter Berufung auf diese Taulerstelle darstellt (Sp. 73). Die Selbstverurteilung zu Lebzeiten zielt nach Tauler nicht auf eine Vorwegnähme des göttlichen Urteils, sondern sie ist ein Akt der vollkommenen Demut. Zur resignatio ad infernum bei Tauler vgl. GNÄDINGER, Abgrund, bes. S. 192; HAAS, Sermo, S. 8 9 , S. 1 1 3 , S . 1 1 7 u n d DERS., S e l b s t e r k e n n t n i s , S . 1 1 0 . 35
van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 41.
282
Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
irem leiden)36 zugemutet einzusehen (im Text steht bekennen), wie güt got ist vnd wie gar böß die mynst sünde istFreilich liegt hier eine Anhäufung von Fegefeuertopoi vor;38 aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit dem bekennen eine Verstandesleistung erfordert wird, und zwar eine solche, die aus der Strafe auf die Sündhaftigkeit schließt. Gerade aus dieser Erkenntnis soll sich aber nach der Logik des Textes die zweite Strafe der conscientia, vnmeßigs straffen in inn selber, also der Selbsttadel - der Seele im weiteren, des Gewissens im engeren Sinn - ergeben. Bei Tauler war der Ausweg aus dem inneren Fegefeuer die Liebe und das Ablegen selbst des (Eigen-) Willens; bei Marquard C wird der conscientia zunächst rückblickend ihr Ungenügen vorgehalten (daspeißnn der conscientia), gleichzeitig wird ihr aber eine neue Aufgabe übertragen, nämlich die Selbstbeurteilung nach dem Maß der ergehenden Strafe. Das ist nicht eine Leistung einer handlungsregulierenden praktischen Vernunft, sondern eine Leistung unter den Bedingungen völligen Verlustes jeder Handlungsmöglichkeit: die pragmatisch-vernünftige Herstellung von Einverständnis mit der unabänderlichen Lage. Diese zweite Strafe der conscientia besteht also gleichzeitig in ihrer völligen Bindung wie in ihrer völligen Überforderung: Bindung insofern, als jedes Urteil nur noch als Verurteilung und Selbstverurteilung auftreten kann, und Überfor-
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 41. Das Motiv könnte aus dem Elucidarium des Honorius Augustodunensis (3. Buch, 9) stammen, vgl. LEFEVRE, Elucidarium, S. 446: Dum ibi [im Fegefeuer, d. Vf.] sunt positi, interdum apparent eis angeli vel alii sancti in quorum honore aliquid in hac vita egerunt et aut auram aut suavem odorem aut aliquod solamen eis impendunt. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 41. Solche Denkwege sind allerdings bei der Behandlung der Schicksale von nach dem Tode, aber vor dem Jüngsten Gericht gepeinigten Seelen keine theologische Seltenheit. Das klassische Beispiel dafür sind die Kommentare zu IV Sent dist. 50 c. 7 (Sent. Bd. 2 S. 559-560), einer Stelle, an der Petrus Lombardus auf Gregor, Horn, in Ev., lib. II, hom. 40, PI 76, 1308-1309 zurückgreift und erklärt, daß das Anschauen der Höllenstrafen für die Seligen keine Verminderung ihrer Seligkeit bedeutet, was die Frage nach dem Mitleid aufwirft. Petrus Lombardus und mit ihm Bonaventura (in IV Sent. d. 50 p.2 a.l q.3, Quaracchi IV, S. 1049-1050) erklären, daß das natürliche Mitleid der Seligen durch die völlige Konformität ihres Willens mit dem Gottes neutralisiert werde. Albert hebt an der entsprechenden Stelle seines Kommentars das Problem auf eine andere Ebene: Seiner Ansicht nach kommt Mitleid nur den Unvollkommenen zu, weshalb die Seligen mangels Leidensfähigkeit auch nicht mitleiden können (In IV Sent d. 50 a. 10, Sent. Jammy Bd. 16, S. 919). Zum Problem - allerdings in der Polarisierung von Seligen und Verdammten - vgl. WICKI, S. 144-145. Schmerz im Fegefeuer: Petrus Lombardus IV Sent d. 20 cap. 2 (Sent. Bd. 2, S. 374); Tröstung durch Engel: Honorius Augustodunensis, Elucidarium III, 8 (LEFEVRE, Elucidarium, S. 446). Vgl. DENEKE, Fegfeuer. Zur Entwicklung der Fegefeuervorstellung vgl. auch J. LE GOFF.
Der conscientia-Begriff und die conscienlia erronea
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derung dadurch, daß der nach wie vor menschlich-begrenzten Seele 39 die Applikation des göttlich Gerechten und Richtigen auf ihre eigene Handlungsweise zugemutet wird, und nun nicht mehr - wie im Leben - tentativ, sondern ultimativ und endgültig. 4 0 Damit geht dieses innere Fegefeuer der conscientia bei Marquard C über das bei Tauler hinaus. Und dies nicht nur, weil es das äußere zur Bedingung hat und damit bereits selbst zu den letzten Dingen gehört, 41 sondern auch, weil es die mit Verstandesmitteln zu leistende Kapitulation und Selbstauflösung des Verstandes bedeutet, wenn auch mit dem Ziel der Vorbereitung auf die unmittelbare Schau des Nichtbegreiflichen. Taulers Gewissen macht seine Grenzerfahrung dagegen noch in der Welt, und sie gründet sich in einer Antizipation des absoluten Maßes für Sittlichkeit. Wenn Marquards conscientialsynderesis im Fegefeuer einsieht, daß Gott gut und die geringste Sünde böse sei, ist das, gemessen an der theologischen Tradition, keine besondere Zumutung, denn diese Grundeinsichten gehören
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Da die Seele erst im Stande der Seligkeit in der Lage ist, Gott - wie im Stand der ursprünglichen Gerechtigkeit - zu schauen, muß die Seele im Fegefeuer nicht nur relativ zum göttlichen Sein, sondern auch zu dem der menschlichen Natur vor dem Fall als begrenzt begriffen werden. Vgl. dazu WICKI, S. 79-82 für Albert, S. 83 für Alexander von Haies und Bonaventura. WICKI, S. 142 weist darauf hin, daß Alexander von Haies (De statu anime electe; Wicki benutzt die Hs. Assisi 138, fol. 83rb) selbst die Seelen in der Glorie vor der Auferstehung nur soviel Wissen von Vergangenem und Künftigem haben, wie "für sie notwendig und ihrer Seligkeit förderlich" (ebd.) ist. Das ist zwar eine weitergehende Erkenntnis, als in Marquards Text von den Seelen gefordert wird, zeigt aber eine gegensätzliche Gedankenbewegung an, nämlich die Distanz zwischen selbst vergöttlicht Menschlichem und Göttlichem im Erkennen der menschlichen Welt möglichst aufrechtzuerhalten und nirgends zu verwischen. Die Kontrastfolie für diese Bildlichkeit ist die Exegese von Dan 7,9 nach Petrus Lombardus, IV Sent dist. 43 cap. 4, Sent. Bd. 2 S. 512-513; an dieser Stelle wird das Buch des Gewissens als Hilfsmittel für das jüngste Gericht - also ohne die Selbstvorverurteilung im Fegefeuer - dargestellt; Bonaventura verlegt den Schwerpunkt in seinem Kommentar (In IV Sent dist. 43 a. 3, Quaracchi IV, S. 899-904) auf den Aspekt, ob allen zu richtenden Seelen die Verdienste und Verfehlungen aller sichtbar sind, also über die Grenzen der Individualverantwortung für das Handeln in Richtung auf eine göttlich kanalisierte Kollektivkontrolle. Diese Gewissensauffassung, das Gewissen als Anklägerinstanz im Jüngsten Gericht, ist über das 'Cordiale' des Gerard von Vliederhoven auch in die volkssprachliche Literatur eingegangen: Nv lat vns seyn, vu dit ordel sunderliken to vrochtende is vmme manigherhande beschuldinghe, dar de sundere van beschuldiget schollen werden. Dat ene is sin eghene consciencie, de ene besculdigen seal, nicht hemelikenalsenu, mer openbar vor allen creaturen. DUSCH, S. 29-30. Der Unterschied zu Marquard und Tauler liegt in der Verantwortung primär in den Grenzen des eigenen Gewissens, also als Bloß legung zwischen gerichtetem Selbst und Gott, ohne die prüfende Zuschauerinstanz.
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Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
schon im Leben zu dem naturrechtlichen Bestand moralischer Normen, die von Thomas und den ihm Folgenden synderesis, von Bonaventura conscientia innata genannt wird. Aber da nach Marquard C mit Origenes, der den scholastischen synderesis-Begtiff noch nicht kennen konnte, diese aktuelle Einsicht zugleich eine Pein bedeutet und eine Selbstzensur der potentiellen oder habituellen Einsicht nach sich zieht, muß der Maßstab ein anderer sein als der zuvor im Leben naturrechtlich angelegte; es gibt für die gute Einzelhandlung nunmehr ein absolutes Maß, nämlich das Urteil Gottes; was zuvor als normindifferent oder fraglich galt, ist nun entschieden, und dem Sünder werden seine Sünden vorgehalten - das heißt, sein irdischer, auch sein unvergänglichnatürlicher, Maßstab des moralisch Guten wird mit dem göttlichen konfrontiert. Da es sich bei den Seelen im Fegefeuer ja um grundsätzlich Gerettete handelt (wann sie sind in den genaden gotes vnd sind kinder des ewigen lebensY2, muß die conscientia hier andere Funktionen erfüllen als die der praktischen Vernunft von Lebenden. Im Leben enthält die conscientia innata (im Bonaventura folgenden Modell) bzw. die synderesis (in der Thomas folgenden Tradition) den Grundsatz: Das Gute ist zu tun und das Böse zu meiden; die Anwendung auf konkrete Fälle war der conscientia acquisita (als habitus, der den Akt bedingt) bzw. der conscientia (als Akt) überhaupt übertragen. Marquards (C) conscientia im Fegefeuer schließt: Diese Handlung ist bestraft worden, also war sie böse. Das bedeutet, daß eine conscientia acquisita, wenn Marquard eine solche für die Lebenszeit angenommen hätte, in diesem Moment entbehrlich würde, weil ihr Gültigkeitsbereich überschritten ist. Aber der neue Schluß von der Strafe auf die Sündhaftigkeit einer vergangenen Handlung ist ja wieder eine Verstandesleistung. Ich betone das, weil es, wie ich oben an Marquards synderesisBegriff versucht habe zu zeigen, gute Gründe gegen die Annahme gibt, Marquard habe Origenes so verstanden, als habe es die vernunftgeprägte Gewissensdiskussion des 13. Jahrhunderts und Eckharts synderesisVorstellung nie gegeben. Die Möglichkeit, daß ein Redaktor den Text anders bearbeitet hat, als Marquard selbst ihn wahrscheinlich geschrieben hätte, ist allerdings nicht auszuschließen. Wenn die Seelen in der C-Redaktion an vnterlaß äin peißnn vnd hin straffn haben in ir conscientz ümb ir missetat, verurteilt ein intaktes Urteilsvermögen dasjenige, das unter früheren Bedingungen erworbenen Regeln folgte und damit zu einer Handlungsregulierung im Einklang mit der göttlichen Gerechtigkeit nicht ausreichte - und damit auch sich selbst unter
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 41.
Der conscientia-Begnff und die conscientia erronea
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früheren Voraussetzungen.43 Die neue Schlußweise von der Strafe auf die vergangene Sünde zeigt dabei den Funktionswandel von conscientia im Fegefeuer an: Da es nichts mehr gibt, was noch zu tun wäre, richtet sich das Urteilsvermögen auf das Urteilen selbst, weil dies zu tun noch möglich bleibt.44 Wenn aber dieses Selbstgericht so ausfallt, daß die früheren Urteile der conscientia mitverurteilt werden, dann scheint Marquard C davon auszugehen, daß es eine conscientia innata gibt, die sich in unmittelbarer Übereinstimmung mit der göttlichen Gerechtigkeit befindet, auch wenn sie im Leben den Einzelfall nicht erfassen konnte; dieses Vermögen ist es, das das Selbsturteil ermöglicht, während im Leben erworbene Verfahrensweisen und Schlußgewohnheiten - und das ist eine conscientia acquisita im Bonaventurischen Sinne - für das vormalige Versagen verantwortlich gemacht werden. Die bei Marquard C geschilderte Lage der conscientz ist überhaupt nur denkbar unter der Voraussetzung, daß die handlungssteuernde conscientia im Leben Fehler begangen hat; die Erörterung über die Strafe in der conscientz erweist sich also als eine Projektion des Problems des irrenden Gewissens ins Jenseitige. Damit befindet man sich unversehens auf einer anderen Ebene scholastischer Erörterungen über die conscientia-, denn für den Lebenden ist nicht zu entscheiden, welcher Anteil an einem Spruch seiner conscientia dem angeborenen und welcher dem erworbenen Vermögen zuzuschreiben sei; das irrende Gewissen ist zwar sowohl nach Thomas als auch nach Bonaventura ein spezifischer Irrtum der genuin menschlichen Erkenntnis, aber den Umgang mit ihm erleichtert diese Herleitung nicht, weil für jeden Handelnden seine conscientia je eine und unteilbar ist. Wenn unter diesem Aspekt im
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Das Motiv, daß das Gewissen im Gericht "sein eigener Ankläger und Zeuge" (STELZENBERGER, Origenes, S. 49) wird und dadurch leidet, findet sich bei Origenes Deprinc. 2,10,4, Werke GCS 5, 178,8f. vorgeprägt, vgl. STELZENBERGER ebd. Meine Interpretation unterstellt, daß die Quelle im späten Mittelalter nicht gelesen werden kann, ohne die scholastischen Bestimmungen der Gewissensbegriffe gleichzeitig mitzudenken. Die Selbstreflexion des Verstandes gilt im Leben im übrigen als superbia-, sie wird erst in diesem Grenzbereich des Fegefeuers zugelassen, weil in ihm der Gegensatz von Selbstbetrachtung und Gottesbetrachtung aufgehoben ist. Die luziferische Gefahr der reflexiven Verstandestätigkeit wird, über die üblichen Warnungen vor dem instinctus naturalis (wie bei Heinrich von Friemar vorgeprägt) hinaus, auch in volksspachlicher Literatur thematisiert. Im 'Buch von der geistlichen Armut' heißt es: wan lucifer hette er sin natürlich bekentnisse gekert uf got, als er es kerte uf sich selber, er were nit gevallen vnd got hei sin natürlich bekantnisse gewandelt in gbtlich bekantnisse, vnd hette in do inne bestetiget, daz er nit mbhte sin gevallen. Aber do er es kerte uf sich selber, do mäste er vallen, wan er von blosser natur nit mohte bestan. BvdgA ed. DENIFLE S. 24,26-24,31, vgl. BvdgA e d . LARGIER, S . 3 4 .
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Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
Fegefeuer der Seele die Umstände ihrer Sünde vorgehalten werden müssen, heißt das, daß sie sie zuvor nicht als solche erkannt hat (ich klammere den Sonderfall unvollständiger Buße hier aus, denn eine zu leicht auferlegte Buße wird vom Beichtvater verantwortet und kann im Fegefeuer zwar zu Ende geführt werden, aber keine andere Gewissensqual erzeugen als die über die ursprüngliche, erkannte und bereute Sünde). Es gab also im Leben des Menschen eine conscientia erronea, die im Fegefeuer - durch die nachträgliche Erhellung der Tatumstände im göttlichen Urteil - durch Selbstbestrafung der conscientia geahndet wird. Wichtig scheint mir an diesem Abschnitt, daß Marquard die (patristische) Einheit von conscientia und synderesis für die abgelöste Seele in den Kategorien der scholastischen conscientia denkt, also: erkennend, vergleichend, urteilend.
3. Gewissen und Zeit in den Redaktionen Α und C Die Fegefeuerstelle führt die synderesis als eine besondere, vernünftige conscientia ein. Damit hat Marquard den Gedanken der Eckhartschen synderesis aber nicht völlig verlassen. Die synderesis ist bei allen mittelalterlichen Autoren überzeitlich, nach Eckhart sogar gleichewig mit Gott. Dieses Thema der Zeitrelationen zwischen Mensch und Gott muß Marquard offenbar beschäftigt haben. Es gehört zum Problemfeld synderesis und findet sich auch hier, allerdings ohne das Signalwort. Um einen Ausgangspunkt für Marquards sicher eigene Auffassungen von Zeitlichkeit im Verhältnis zur menschlichen Seele und zur synderesis zu gewinnen, gehe ich von einer Stelle aus, die in Α und C gemeinsam ist.45 Der Abschnitt beschäftigt sich mit der Einteilung von Zeit; er steht unter dem siebten Gebot, setzt also die Vorstellung voraus, daß man Zeit stehlen kann (nämlich Gott), und behandelt dort die vorbildliche Haltung der Gottesfreunde. Er wird, in Al, C1 und C3 gemeinsam, so eingeleitet: DarVmb so fliehent die außerweiten fründ sein ledig mägen sten vnd haben allen vertriben nach seinem liebsten willen vnd get der nicht in gotes ere vertieret wirdet
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gots alles außer besitzen: als verre sie fleiß wie sie alles ir tün in gotes ere ist in läyt das in ymmer augenplick entvnd wen sie die zeit also kbstperlichen
C l : van MAREN, Marquard Druck 1516, S. 88, C3: van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 106; A l : Göttingen UB Cod. 285 fol. 43vb.
Gewissen und Zeit in den Redaktionen Α und C
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schatzenl so fleißen sie sich sünderlichen sechs ding vnd die süllen dir auch ein weiß vnd ein lere sein das du auch dein zeit där nach ordenst,46 In der folgenden Aufzählung betrifft nur der vierte Punkt im engeren Sinne die Gewissensvorstellung; ich zitiere die Aufzählung dennoch in jedem Punkt zumindest an, weil der Kontext erweist, wie sehr hier Gewissensbegriff und Zeitvorstellung verknüpft sind: Das erste ist das sie früe so sie erst auf stünden fleißiglichen betrachten wie sie den tag in allen dingen vertreiben wbllen vnd schätzen ob äin iglichs das sie willen haben zä tän mit got besten müge. Das ander so sie das alles betrachten vnd so heben sie ir hende vnd hertze auf vnd opfern es dem himelischen vatter vnd drücken es in das verdinen seines lieben süns vnd begerent das es in dem verdienen enpfangen vnd dem ewigen vatter geopfert werde. [...] Das dritt ist das sie auß aller notdürft äin tugend machent vnd sich willigleich dar ein gebent Dartmb so sie eßen oder trincken oder slaffen vnd was notdürfft des leibs sie tünt das fürorden sie in got vnd geben sich auch williglich darein vnd begerent das got douon gelobt werd vnd sie in gotes lobe gesterckt werden. Zä dem Vierden mal so richten sie alle ir ynnewendigkeit vnd auch alle ir gewißen als ob sie zä diser stund sterben Sölten vnd richten doch do bey alle äußere werck als sy ymmer leben solten: ditz ist wol äin edel ding vnd ist das erste mer zä nemen dan das ander [...] Zürn fünften mal wen es nacht wirt so betrachten sie sich fleißigleichen wie sie den tag vertzeret haben vnd darvmb so loben sie got fleißigleichen vnd tragen es auf fir sein antlütze mit gantzen begirden [...] Zürn sechsten mal wo sie sich vinden in der betrachtung das sie des tages swerlichen vnd auch leichtigleich gefallenn sint darVmb haben sie rewe vnd äin ware bekantnüße [...] Nü beger ich mein lieber iünger das du dise sechs stück an sehest vnd sie in dein hertze drückest vnd dein zeit nicht vnrechtvertigleichen vertreibest, gedenck das die zeit hinlawffet vnd nymmermer mag widerbracht werden vnd das ez nü ein zeit der genaden ist vnd hie nach kümpt ein zeit der gerechtikeit vnd dise zeit der genaden so edel ist das jegelichem awgenplick antwürt ewige Seligkeit.*1 Die Ermahnungen, mit der irdischen Zeit sorgsam umzugehen, kehren in moralisch belehrenden Zusammenhängen topisch wieder; sie berufen sich sowohl auf stoische Tradition48 als auch auf die Memento-mori-Versatz-
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 105, Göttingen UB Cod 285 fol. 43vb, van MAREN, Marquard Druck 1516, S. 87. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 105f., van MAREN, Marquard Druck 1516, S. 87-88, Göttingen UB Cod. 285 fol. 43vb-44va. Ihr entstammt auch das Motiv der abendlichen Gewissensprüfung. Vgl. Cicero Tusc. 11,64, Seneca De ira III 36, 2.
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Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
stücke der Artes moriendi. 49 Der Zusammenhang von vertaner Zeit und Gewissen findet sich bei Innozenz III. vorgeprägt. 50 Die conscientia im terminologischen Sinn hieß bei Marquard in Α und C bisher conscientz\ insofern stellt sich zunächst die Frage, ob die gewißen im C3-Wortlaut alle ir ynnewendigkeit vnd auch alle ir gewißen wirklich mit 'Gewissen' zu übersetzen sei. Ich denke, daß man das kann, weil es inhaltlich tatsächlich um die sittliche Seite des Selbstbewußtseins geht; zudem schreibt der Straßburger C l Druck von 1516 conscientz.i] Für die Tradenten des Fassungstextes C galten beide Lexeme offenbar gleich viel. Das Innen und Außen läßt sich, wie im zitierten Text vorgegeben, sinnvoll auf Gewissen und Werke projizieren, wenn zugleich die Zeit geteilt wird in eine innere und eine äußere Zeit. Die äußere Zeit, in der man sich stellen soll, als lebte man ewig, ist die stetig fortschreitende Zeit der physikalischen Meßbarkeiten, sie ist die mora rerum mutabilium, wie Innozenz III. formuliert hat,32 über die Faßbarkeit des einzelnen hinaus, eine Zeitform, deren Stetigkeit über den möglichen Tod des Individuums hinaus vorausgesetzt werden muß und die als mora nur unter dem Blickwinkel der Schöpfung, Erlösung und Auferstehung fungieren kann.53 Die Aufforderung, sich zu
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Von Moos, Consolatio, Bd. 3, Testimonienband, S. 344 nr. 1628 zur Umdeutung des carpe diem und memento vivere in christlichem Sinne: "In formaler Hinsicht haben antike Motive wie carpe diem und memento vivere ... eine eigne christliche Tradition. Ihre sinngemäße Verwendung war autoritativ durch I Cor 15,22 ausgeschlossen. Die häufigste Mahnung zum Ausnützen der kurzen Lebenszeit entspricht darum dem memento mori (T 1633ff.) und sucht das Bewußtsein der nur in diesem Leben zu ändernden Heilsbestimmungen zu wecken, gemäß Io 9,4: venit nox, quando nemo potest operari". Die im Zitat aufgerufenen Nummern 1633-1642 in demselben Band bieten zahlreiche Belegstellen, vgl. dort. Innocenz III. papa, De contemptu mundi sive de miseria conditionis humanae, PL 217, Sp. 701-746, lib. I cap. XXII, Sp. 713: Quis unquam vel unicum diem totum duxit in sua delectatione jucundum, quem in aliqua parte diei reatus conscientiae, vel impetus irae, vel motus concupiscentiae non turbaverit? Van MAREN, Marquard Druck 1516, S. 88. De contemptu mundi sive de miseria conditionis humanae, PL 217, Sp.701-746. Die Formulierung steht in lib. I, cap. XII. Der Satz heißt im Kontext ebd, Sp. 707: Non est quisquam sine labore sub sole, non est sine defectu sub luna, non est sine vanitate sub tempore. Tempus est mora rerum mutabilium. LARGIER, Zeit, S. 28ff. weist darauf hin, daß die Zeitauffassungen der scholastischen Denker die Aristotelische und die Augustinische Position zu vermitteln hatten und also stets vor dem Problem standen, zunächst das Verhältnis von anima und tempus zu erklären. Die Lösung des Dietrich von Freiberg, quod tempus non est aliquid reale extra animam, sed per actum animae constituitur et determinatur circa res (De natura et proprietate continuorum ed. REHN, Opera omnia III, S. 265, zu den Konsequenzen vgl. LARGIER ebd., S. 35-40) kann deshalb nur dann greifen, wenn die Seele ohne zeitliches Ende ist.
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stellen, als lebte man ewig, betont aber gerade nicht diesen eschatologischen zweiten, sondern den menschlich-natürlichen und zugleich physikalischen ersten Charakter der fortschreitenden Zeit, unterstellt ein Reich von Zeitlichkeit, in dem Vorsorge - für andere und für sich - einen Sinn ergibt. Dieser Zeitcharakter wird an die Werke gebunden; der innere, eschatologische, die Lebenszeit als Einheit und Hinführung zur Heilszeit, dagegen an die gewißen. Daß die gewißen als Funktion einer inneren eschatologischen Zeitdeutung dem äußeren Handeln gegenübergestellt wird, spaltet den Menschen nicht nur in inneren und äußeren, sondern spaltet auch die urteilende und kontrollierende Instanz, die scholastischen Lehrern als conscientia galt. Die Spaltung hat freilich wieder einen zeitlichen Aspekt: Das Urteil über das Künftige, also die Beratung vor der Handlung, wird dem äußeren Menschen, das Urteil über das Gewesene, also die Billigung oder Verurteilung der begangenen Taten, dem inneren Menschen zugeschlagen. Wenn diese inwendige Instanz gewißen sich aber stellen muß, als könnte dieser Augenblick ihr letzter irdischer sein, so fallen in ihre Urteilskompetenz nicht nur die vergangenen Handlungen, sondern auch die gegenwärtigen Tatabsichten, also das, was der äußere Mensch sich morgen zu tun fest vorgesetzt hat. Dann kann der äußere Mensch freilich tun, als lebte er ewig, denn diejenigen seiner morgigen Taten, an die er heute noch nicht denkt, betreffen ihn noch nicht, und die heutigen Absichten für morgen sind in der Abrechnung des inneren Menschen schon enthalten; die Ewigkeit stellt sich also heraus als schlichte Fortzeugung der bereits kontrollierten und verantworteten Absichten in der Tat, und sie muß sich als Ewigkeit (freilich im Sinne dessen, was modern abzählbar unendlich heißt) darstellen, weil die Absicht zu sterben Todsünde wäre; der Mensch, der sich in seinen Werken stellt, als lebte er ewig, stellt sich damit nicht auf Ewigkeit, sondern nur auf unbestimmte Dauer ein. Seine gewißen urteilt, so steht es im Text, aber immer synchron, immer für den Augenblick; ihre künftigen Absichten können ihr noch nicht zugesprochen werden - sonst wäre die Entgegensetzung von vorgestellter Ewigkeit in den Werken und Memento mori in der conscientia nicht möglich. Wenn aber eine Fähigkeit, eine Eigenschaft oder ein habitus der Seele namens gewißen oder conscientz zwar die Beurteilung eines gegenwärtigen Zustandes (in Tat und Absicht) umfaßt, nicht aber künftige Absichten antizipieren kann, so bedeutet das entweder, daß nur die Anwendungen auf konkrete Fälle, einzelne Vorhaben, nicht möglich ist, die grundlegenden Urteilskriterien aber auch in die Zukunft hineinreichen, oder daß die conscientz selbst diese Urteilskriterien nicht umfaßt. Hier zu unterscheiden, fehlt die Vergleichsbasis in einem systematischen Kontext; sicher ist, daß für den verhandelten Gewissensbegriff die antizipierten synthetischen Urteile keine Rolle spielen, das Gewissen urteilt sozusagen ja, ja - nein, nein, es ist die bona oder mala conscientia in einem einfachen
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Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
Sinne, deren rationale Aufgabe sich in einfachsten Leistungen des Vergleichens mit (als fest begriffenen) Normen und des Urteilens über den Grad der Übereinstimmung oder Abweichung erschöpft; Konflikte sind hier nicht vorgesehen. Nicht nur das Künftige geht das Gewissen nichts an, sondern auch das Vernünftige; wir befinden uns sozusagen bei demjenigen vorscholastischen und eher patristischen Gewissensverständnis, das durch die scholastische Literatur als Sonderfall mittransportiert worden war. Unter den Zusätzen der C3-Redaktion findet sich eine Stelle in der Sterbelehre, 54 die der aus dem gemeinsamen Bestand von A l , C1 und C3 genau entspricht, aber diesen Akzent nicht enthält und insofern dahinter wieder zurückgeht: Das sechst ist das er sein conscientz in allen dingenn soll also richten als er des tages solt begraben werden oder fir das iüngste gericht gefirt werdend Auch der kurze Zusatz von C3 in der Beichtlehre Jst das dä dich in keiner todsiinde vorchtest lU sein oder wan dir dein gewißen das künt tüt oder sagt oder wen du hin sach auf dir habst die do fir einen bapste oder fir äinen bischof gehöret wan du dan sogetanes gewalts bekämen macht zu wellicher zeit oder stund das ist: so soltä beichten vnd dich deiner sünd erklagen* bleibt völlig im Konventionellen. Dagegen wird der Gedanke der Zeitlichkeit in einem anderen Abschnitt über verlorene Zeit weitergeführt, der wiederum A l , C1 und C3 gemeinsam ist. Hier geht es allerdings nur mittelbar um Gewissen, nämlich insofern, als man Zeit - im Sinne der oben zitierten Innozenz-Stelle - nur dann als verloren begreifen kann, wenn das Gewissen seinen Spruch abgegeben und die gefüllte Zeit als zum göttlichen Dienst vertane beurteilt hat. Es heißt auf die Frage des Jüngers Jch west gern von dir ob verlorn zeit icht möcht wieder bracht werden: Du solt wissen das sanctus ambrosius spricht das man alle verlorn zeit mag mit zweien dingen wiederbringen Das erst ist groß begerung. das ander hitzige lieb Doch
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Auch die Sterbelehre aus der C-Redaktion ist separat überliefert, vgl. PALMER, Marquard, Sp. 87.
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 50.
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 51-52.
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soltu wissen das ich gelawbe das ez Sanctus ambrosius nicht mäine als es hillef1 Mer er mäint das man die verloren zeit müg wieder bringen das es gott wbl vergeben durch zweyer ding willen vnd mäint nicht das man sie müg wider bringen Seint der mensch alle sein zeit vnd stund in gotes dinste an vnderlaß vertzeret sblt haben dorPmb ist dartzü nicht zä tän dan das der mensch lawf zü dem reichen schätz des verdinens ihesü christi vnd dar mit vergelte alle seine versawmpte zeit vnd alle sein schuld.58
Die Frage nach dem Wiederbringen der verlorenen Zeit folgt dem Grundsatz, daß man, um für Diebstahl Absolution zu erlangen, zuvor alles unrecht erworbene Gut zurückzuerstatten habe; aber die vergangene Zeit ist ja nicht mehr in der Gewalt des Menschen, der sie vertan hat, er kann sie Gott, von dem sie ihm verliehen wurde, also nicht zurückgeben. Hier liegt also gerade das vor, das die oben zitierten Zusätze der C3-Fassung ausblenden: Ein im Grunde mit menschlichen Mitteln unlösbarer Gewissens- und Normenkonflikt, in dem die Anzeige des Gewissens nicht nur von dem weltlich-rechtlichen, sondern auch von dem kirchenrechtlichen Grundsatz der Rückgabepflicht nicht so beantwortet werden kann, daß die formalen Bedingungen für die Wiedererlangung der Ruhe des Gewissens, für die Bitte um Lösung von der Sünde im gegebenen Fall, gegeben wären; der Verweis auf den Gnadenschatz ist der einzige Ausweg, und das heißt, daß menschliche Normativität und Regelung hier an ein Ende gerät - nicht an ein beliebiges Ende, sondern an die Grenze des Menschenmöglichen, der Verfügbarkeit über Zeit. Dem gemeinsamen Gut der Redaktionen Α und C einerseits und dem spezifischen Sondergut der C3-Version anderseits steht eine Stelle über Zeit und Zeitlichkeit gegenüber, die parallel im 'Buch von der geistlichen Armut' überliefert und nur in der C-Redaktion enthalten ist.39 Sie ist im Dekalogtraktat an die Frage angeschlossen, was der Mensch dazu tun könne, daß ihm Gnade verliehen werde, und antwortet auf die Frage des Jüngers Seint ntt das grbst oppfer daran ligt das der mensch sich selber oppfer wartzä ist es dan nütz oder güt das man zeitlich güt enweg gibt. Es heißt darauf: Du solt wißen das drey nütz die ligend daran. Zü dem ersten der mensch ist gemacht von zeit und von ewikeit vnd zeit vnd ewigkeit sind wiederwertig Dartmb der ewigkeit wil haben der müß zeit laßen vnd das in der zeit ist vnd do von ist es notdürftig
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Wie es tönt, mhd. hellen. V a n MAREN, Marquard D r u c k 1 4 8 3 , S . 107; v a n MAREN, Marquard D r u c k 1 5 1 6 ,
S. 89; Göttingen UB Cod. 285, fol. 44vb. 59
B v d g A ed. DENIFLE, S. 4 8 , 2 5 - 5 0 , 3 , v g l . B v d g A ed. LARGIER, S. 6 3 - 6 5 , v a n
MAREN, Marquard Druck 1483, S. 140-141, van MAREN, Marquard Druck 1516, S. 107-108.
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Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
daz der mensch der vil zeitlicher ding hat das er sie durch got gebe vnd das er nit darauf bleibe, wan bleibt er auf der zeit vnd zeitlichen dingen So verret er sich von seiner ewigen seligkeil vnd darimb ist hin ausganck aller zeitlicher ding ein eingangck ewiger ding Und auch darimb so sol man zeitlicher ding ledig sein wan vil vnmeßlicher gepresten daran hangen vnd do von wer alles geprestenliches anhangs wil ledig sein der hüte sich vor dem anhange zeitlichs guts Wan der mensch kan auch nymmer zfi warem fried kumen der zä vil mit zeitlichen dingen beladen ist wan die zeit ist an ir selber vnstet vnd dartmb mag der mensch nicht fried gehaben der seinen einfluß nimet von der zeit vnd von zeitlichen dingen Auch sol man zeitlicher ding ledig sein wan sie hindern den menschen an bekantnüß der warhäit vnd sie verleschen das fewr gbtlicher liebe ...Es ist auch ein gebot das der mensch dem andern ztt hilf kume in seinen nbten vnd darVmb sprach vnser herre als ir wbllet das man euch tü Also sült ir andern menschen auch tän vnd also erfüllet ir die alten ee vnd auch die newen eem Es war diese Übernahme aus dem 'Buch von der geistlichen Armut', die Denifle zu einer heftigen Ablehnung der Autorschaft Taulers (und der Zuweisung zu dominikanischer Tradition überhaupt) für das BvdgA geführt hat. 61 Für den Kontext meiner Erörterungen ist sie deshalb interessant, weil sie das Problem von Zeit und Zeitlichkeit in Verbindung mit der Matthäusstelle (Mt 7 , 1 2 ) bringt, die (gemeinsam mit T b 4 , 1 6 und Lc 6 , 3 1 ) als die biblische Begründung des Naturrechtsgedankens gilt. Offensichtlich überkreuzen sich hier mehrere Argumentationsstränge. Zunächst geht es j a um das Weggeben und Lassen zeitlicher Dinge, und hier ist der Zeitbegriff durchaus noch in die traditionelle Gegensätzlichkeit der Begriffspaare Zeitlichkeit Ewigkeit eingebunden. In der Begründung wird aber ein Zeit- und Ewigkeitsbegriff angesprochen, der, wie Denifle angemerkt hat, von der Formulierung bei Thomas und auch bei Tauler abweicht: 62 Der Mensch sei von, das heißt aus, Zeit und Ewigkeit gemacht; die traditionelle Auffassung, um de-
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 140f. BvdgA ed. DENIFLE, S. XXXIX- XL: "Eine absurde Lehre des Verfassers vom Bvga in Betreff des Menschen dürfen wir hier nicht übergehen, da sie gegen jene Taulers zu sehr absticht. 48,29 und 83,6 heisst es, der Mensch sei gemacht von Zeit und von Ewigkeit. 51,32: der Mensch ist geschaffen von Zeit und von Ewigkeit (vgl. 152,1: der Mensch ist zusammengelegt von Leib und Seele). Tauler gebraucht die allein statthaften Ausdrücke. Ivb: die Seele ist geschaffen zwischen Zeit und Ewigkeit. 18ra: die sele ist ein rechte mittel thusen zit und ewicheit (a). 142ra: der mensch ist gemacht und steht zwischen zwei enden, das ist Zeit und Ewigkeit. Taulers Ausdrucksweise, welche die des hl. Thomas ist, ist die einzig richtige: anima intellectiva est creata [S. XL] in confinio aeternitatis et temporis (3. cont. gent. c.61). Anima est quasi in horizonte existens aeternitatis et temporis (2. cont. gent. c. 81)." BvdgA ed. DENIFLE, S. XXXIX-XL.
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rentwillen Denifle ein zwischen erwartet, geht jedoch vom Liber de causis aus: Esse autem quod est post aeternitatem et supra tempus est anima, quoniam est in orizonte aeternitatis inferius et supra tempus,6i
Largier hat an den Beispielen Dietrichs von Freiberg und Eckharts entwickelt, daß die konkrete Situierung der menschlichen Seele (und der Seelenpotenzen) zwischen Zeit und Ewigkeit dennoch selbst in der Generation des Thomas keineswegs so festlag, wie es im Nachhinein und von Thomas ausgehend erscheinen mochte. 64 Sicher scheint in der vorliegenden Stelle, daß nicht vordringlich die eschatologische Ewigkeit nach dem Tode anvisiert wird, sondern eine Form der Ewigkeit, die in der Schöpfung (der menschlichen Natur) vorbereitet ist und zu der der Mensch noch während seines Lebens gelangen kann. Legt man das offenkundig Marquardische, weil in Α und C gemeinsame, Ewigkeitsverständnis der oben interpretierten Stelle (der Mensch solle sich stellen, als lebe er ewig: Ewigkeit als abzählbare Unendlichkeit) zugrunde, so muß erwogen werden, ob auch hier ewigkeit schlicht Dauer bedeuten kann. Leider ist damit, daß diese Möglichkeit eingeräumt wird, noch keinesfalls klar, was der Satz dann eigentlich heißt. Denn auch bei Eckhart, von dem man relativ sicher sein darf, daß sich sein Ewigkeitsbegriff nicht auf Dauer reduziert, kann die Grundfigur des Uber de causis trotz seiner weitergehenden Gedanken durchaus angenommen werden, wie das Beispiel der Predigt Q 24 lehrt: Die meister sprechent, daz menschlich nature mit der zit niht habe ze tuonne und daz si zemale unberüerlich st und dem menschen vil inniger und naeher si dan er im selber. Und dar umbe nam got menschliche nature an sich und einigte sie siner persdnen. Da wart menschlich nature got, wan er menschliche nature bloz und keinen menschen an sich nam. Dar umbe, wilt du selbe Krist sin und got sin, so ganc alles des abe, daz daz ewige wort an sich niht ennam.65
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Liber de causis, § 2, ed. BARDENHEWER, S. 165. Den Hinweis auf den Liber de causis bringt DENIFLE (BvdgA, S. XL), der anmerkt, daß nicht erst Thomas, sondern zuvor schon Alanus ab Insulis Contra Haereticos cap. 30 die Seele zwischen Zeit und Ewigkeit ansiedle und daß dieser sich auf die Autorität des Liber de causis (unter dem Titel Aphorismus de essentia) stütze. LARGIER, Zeit. Zur Polemik des Thomas gegen die Zeitenhierarchie des Dietrich von Freiberg (superaeternitas, aeternitas, aevum, tempus), inbesondere gegen die Bindung des aevum an ein individuelles Sein, ein hoc ens, vgl. ebd., S. 50-53 u. Anm. 112. DW I, S. 420-421.
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Wenn Eckhart ein ungeschaffenes Element in der Seele (den Seelenfunken) annimmt und das innerste Wesen der Seele jenseits aller Bestimmungen, den Seelengrund, ebenfalls als ungeschaffen ansetzt, könnte auch das die Position sein, die aus der Stelle des 'Buchs von der geistlichen Armut' spricht: dann wird der Mensch zwar im Sinne der oben zitierten Stelle, in seiner geschaffenen Natur, zwischen Zeit und Ewigkeit begriffen, 66 ist aber gleichzeitig auch aus Zeit und Ewigkeit gemacht im Sinne von zusammengesetzt (weil die Ewigkeit nur die Seele betrifft), ohne daß seine Art der Ewigkeit mit der Gottes völlig zusammenfiele.67 Wenn die im BvdgA und in Marquard C angesprochene Ewigkeit tatsächlich auf den Seelengrund als Bild Gottes zielt, so könnte auch Tauler zugrundeliegen, der seine Lehre vom Seelengrund in bewußtem Anschluß an Berthold von Moosburg und gegen die imago-Ldaxe. des Thomas entfaltet hat.68 Thomas bringt den Gedanken der Zusammensetzung von Zeit und Überzeitlichkeit im übrigen auch, aber die Überzeitlichkeit ist bei ihm nicht aeternitas, sondern aevum, die eigentümliche unbegrenzte Dauer der Engel, also eine geschaffene Ewigkeit;69 das BvdgA und mit ihm Marquard C haben aber nicht ewe, was die direkte Entsprechung zu aevum wäre, sondern ewikeit, was als Gegensatzbegriff zu Zeit (tempus) zum minde-
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Eckhart verläßt den Bezugsrahmen des Liber de causis nie völlig, auch wenn er ihn anders als Tauler versteht, denn der Grundgedanke der Situierung des Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit bleibt bewahrt. Vgl. LARGIER, Zeit, S. 171. LARGIER, Zeit, S. 133 merkt an, daß Eckhart im Exoduskommentar LW II, S. 8290 in seiner Argumentation hinsichtlich der Ewigkeit als Dauer und der Ewigkeit als Grund jeder Dauer Thomas S.th. I q. 10 a. 2 folgt. Diese Unterscheidung ist wichtig für die Aussagen über die Ewigkeit der Seele. Sie haben bei Eckhart mehrere Aspekte: hinsichtlich des Seelengrundes wird die Ewigkeit als Mitewigkeit mit Gott (wegen der Gottesgeburt in der Seele) gefaßt, in Analogie zur innertrinitarischen Ewigkeitsform (vgl. Q 10, DW I, 166,8-167,2) und als Voraussetzung für das Empfangen Gottes (vgl. Q 26, DW II, 30,1-30,4: Die meister sprechent, diu sele habe zwei antlütze, und daz ober antlütze schouwet alle zit got, und daz nider antlütze sihet etwaz herab und berihtet die sinne; und daz oberste antlütze daz ist daz oberste der sele daz stät in ewicheit und enhät niht ze schaffene mit der zit und enweiz niht von der zit noch von dem übe). Hinsichtlich der Seelenkräfte tritt die Ewigkeit als Überzeitlichkeit auf (vgl. Q 16b, DW I, 275,5275,6: Die obersten krefie sint über zit und über stat und ursprungent äne mittel in dem wesene der sele). Hinsichtlich des Seelenfunkens ist sie bei Eckhart - mit Ausnahme der unten behandelten Stellen aus Q 20 und Q 20a, in denen die synderesis als geschaffener Seelenfunke aufgefaßt wird - ursächliche Ewigkeit, die die Teilhabe Gottes herbeizwingt (vgl. Q 48, DW II, 418-419). Vgl. STURLESE, Tauler, S. 399-402, S. 419. In Uber de divinis nominibus, ed. C. PERA, S. 327: media autem existentium et factorum, quaecumque secundum aliquid quidem aevo, secundum aliquid vero tempore participant.
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sten aevum bedeutet, aber aeternitas eben nicht von vornherein ausschließt. Anderseits heißt es dort, der mensch ist gemacht von zeit vnd von ewikeit, was im strengen Sinne von aeternitas nicht geht, denn insofern er überhaupt gemacht ist, ist er eben nicht ewig, sondern hat allenfalls an der Dauer teil, am aevum. Aber ist Geschaffenheit gemeint? Zwar steht dieser Annahme eine Parallelstelle aus dem BvdgA zur Seite: Daz merckent. Der mensche ist geschaffen nach dem übe, und von ewikeit nach dem
von zit und von ewikeit. geistej"
Von der zit
aber anderseits heißt es dort - und das würde gemacht im Sinne von Zusammenfügung bedeuten, was die Seele selbst nicht berührt -: Zä dem andern male so ist der mensche zusamen geleit von zit und von ewikeit. Wan danne der mensche erhaben wurt mit den obersten kreften usser zit in ewikeit, so wurt er unbewegenlich nach den obersten kreften, wan ewikeit ist unbewegelich; waz danne in ewekeit ist, daz ist ouch vnbewegelich. Wan danne der mensche nach sinem obersten teil ist in ewikeit, so ist er vnbewegelich vnd beweget doch die nidersten krefte nach der zit.11
Wenn von einer Unbeweglichkeit der Ewigkeit die Rede ist, so kann allerdings nicht (oder nicht nur) aevum anvisiert werden, denn das Sein der Engel ist als geschaffenes noch nicht unbeweglich; unbeweglich ist nur Gott, und das würde auf seine Ewigkeitsform, aeternitas, hinweisen. Haben wir angesichts dieser beiden Parallelstellen aus dem BvdgA im von Marquard C übernommenen Satz über den Menschen, der aus Zeit und Ewigkeit gemacht ist, die konventionelle Anschauung nach dem Liber de causis und Thomas vor Augen,72 ist also nur geschaffene Ewigkeit, aevum, gemeint, oder geht die Formulierung mit den Parallelstellen aus dem BvdgA und mit Eckhart auf die Ewigkeit des ungeschaffenen Seelengrundes? Angesichts der Tatsache, daß das Gemachtsein vom Menschen und nicht von der Seele ausgesagt ist und
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B v d g A ed. DENIFLE, S. 5 1 , 3 2 - 3 4 .
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BvdgA ed. DENIFLE, S. 22,12-28. Daß die geschaffene Geistseele eine spezifische Form der Überzeitlichkeit hat, ist für Eckhart von Aristoteles, De anima 429a, aus - mit der Mehrzahl der Interpreten - durchaus annehmbar, aber eben nur eine Voraussetzung für seine Weiterentwicklung im Sinne der Bild-Urbild-Lehre. In loh. n. 318, LW III, 265,12266,1: homo ab intellectu et ratione homo est. Intellectus autem abstrahlt ab hic et nunc et secundum genus suum nulli nihil habet commune, impermixtus est, separatus est, ex III De anima. Zur Vermittlung mit der Lehre vom Seelengrund durch den Bild-Urbild-Gedanken vgl. MOJSISCH, Eckhart, S. 110-146, bes. S. 129.
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Der Dekalogtraktat Marquards v o n Lindau
der Mensch als ganzer in jedem Bezugssystem als geschaffen gelten muß, kann die Eckhartsche Intention vom esse increatum in der Seele zumindest nicht eindeutig ausgeschlossen werden; die Stelle in Marquard C, ohne die Parallelstellen im BvdgA, widersetzt sich aber auch nicht einer Deutung in Richtung auf die geschaffene Ewigkeit der oberen Seelenkräfte.73 Dieses In-der-Schwebe-Halten der systematischen Assoziationsfelder scheint mir angesichts der folgenden Weiterführung des Zeitlichkeitsgedankens im BvdgA und in Marquard C kein Zufall zu sein. Denn die Konsequenzen aus dem Satz, der Mensch sei aus Zeit und Ewigkeit gemacht, gehen im 'Buch von der geistlichen Armut' zum Teil von Eckhart ab, genauer: Sie holen Eckhart an einer für ihn eigentlich uncharakteristischen Stelle ein. Es ist vor allem das Element der äußeren Operationalisierbarkeit, die Favorisierung der äußeren Armut als Weg zur inneren, das das Stück aus dem 'Buch von der geistlichen Armut' von Eckharts Lehre von der abegescheidenheit und von der geistigen Armut unterscheidet.74 Freilich ist auch nach Eckhart die Loslösung von aller eigenschaft und Zeitlichkeit eine subjektive Bedingung dafür, daß der Seelengrund seiner Bestimmung nach als Ort der Gottesgeburt wirken kann. Aber das BvdgA und Marquard C stellen diesen Weg nicht nur als notwendige, sondern auch als hinreichende Bedingung dar. Wenn es richtig ist, daß die Zusammensetzung des Menschen aus Zeit und Ewigkeit eine Deutung in Richtung auf Eckharts Lehre vom ungeschaffenen Seelengrund und Seelenfunken offenläßt, ohne die vorherrschende orthodoxe Deutung auf geschaffene Ewigkeit definitiv auszuschlagen, dann geht die CRedaktion des Dekalogtraktats einen sehr ähnlichen Weg wie Marquards Predigt über den synderesis-Begriff nach Eckhart. Daraus muß man, wie ich denke, schließen, daß der C-Redaktor Marquards Position zur Frage der imago Dei zumindest sehr gut kannte.
4. Marquard als Autor über Gewissen und sittliche Fähigkeiten Hier soll resümiert werden, welche Positionen zu Gewissen und sittlichen Fähigkeiten zweifelsfrei Marquards eigene Stellungnahmen im Dekalogtraktat
Der Liber de causis ist dafür nicht die einzige Traditionslinie. Auch Augustin De trin. c. 13 und Avicenna De anima I c. 5 kennen die Ewigkeit der Seele unter dem Bild eines ihrer Gesichter oder Augen. Allerdings wird gerade diese Lehre auch bei Eckhart Q 26, DW 30,1-4 repetiert, vgl. LARGIER, Zeit, S. 172 und ebd., Anm. 342. Vgl. dazu LARGIERS Gegenüberstellung von Eckhart über Beati pauperes spiritu, DW II, bes. 488,3 ff und 491,15f, mit dem Stück aus dem Buch von der geistigen Armut ed. DENIFLE 3,21-27: LARGIER, Zeit, S. 83-84 Anm. 176.
Marquard als Autor über Gewissen und sittliche Fähigkeiten
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darstellen. Diejenigen der interpretierten Passagen, die Al und C1/C3 gemeinsam haben, werden mit einiger Sicherheit als Marquardisch gelten dürfen. Das gilt auch für die Stelle über die Seelen im Fegefeuer, die durch den Querverweis in De nobilitate creaturarum gesichert ist. In der Fegefeuerstelle begreift Marquard C die conscientia als ein sich selbst reflektierendes Urteilsvermögen. Nachdem bei Eckhart die conscientia keine systematische Rolle gespielt hatte, fuhrt Marquard synderesis und conscientia wieder zusammen. Er behandelt conscientia und synderesis insoweit gemeinsam, als er ein Weiterleben der conscientia nach dem Tode annimmt, die er nach dem Zeugnis von De nobilitate creaturarum als die Erscheinungsform der synderesis in der abgeschiedenen Seele versteht. Weil dadurch eine Verdopplung der conscientia in ein Gewissen des lebenden Menschen und eines der abgelösten Seele entsteht, nehme ich an, daß Marquard von Bonaventuras Unterscheidung conscientia innata - conscientia aquisita ausgeht. Die conscientia innata, die auch bei Bonaventura der synderesis sehr ähnelt, ist seine conscientz nach dem Tode. In diesem Sinne hat die C-Redaktion offenbar die Lehre vom aus Zeit und Ewigkeit zusammengesetzten Menschen aus dem BvdgA aufgenommen; die Zusammensetzung zieht sich, so aufgefaßt, auch durch das Gewissen, als dessen zeitlicher Teil die conscientia aquisita, als dessen überzeitlicher aber die conscientia innata/synderesis gilt. Dafür, daß die Übernahme aus dem BvdgA mit einer Interpretation in Marquards Sinn einhergeht, sprechen die sicher Marquardischen (schon in der Al-Fassung enthaltenen) Passagen. Die conscientia hat danach Anteil an der Zeit und an der Heilszeit, wobei die Verfügung über Zeit dem Menschen verwehrt bleibt und die Ewigkeit, an der die conscientia teilhat, als abzählbar unendliche Zeit, als Dauer begriffen wird. Mit demselben Ewigkeitsbegriff, nämlich der geschaffenen Ewigkeit, ist der Satz der mensch ist gemacht von zeit vnd von ewikeit vnd zeit vnd ewigkeit sind wiederwertig theologisch schlüssig, und so geht er mit Marquards synderesis-Auffassung genau parallel. In der Auffassung von der conscientia erronea schließt Marquard an Bonaventura an, versucht das Ungenügen dieser Lehre hinsichtlich der Überwindung des Irrtums aber thomistisch zu beheben. Seine wichtige Neuerung ist die quasisinnliche, aber übersinnlich begründete Erfahrbarkeit des Gewissensirrtums, die zu neuer Gewissenstätigkeit Anstoß gibt.
Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
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5. Feste Urteile in unfesten Textstrukturen Um zu zeigen, wie Marquard von Lindau sittliche Urteile fallt und zum Urteilen anleitet, wähle ich die Auslegung des 5. Gebotes. Das 5. Gebot bietet in besonderem Maße die Möglichkeit zu studieren, wie sich verschiedene Traditionsstränge und die dazugehörigen Textmuster überkreuzen; Totschlag und Mord waren bevorzugte Gegenstände kanonistischer Distinktionen in der Schuldlehre, das Gebot hat aber auch unterschiedliche Anlagerungsmöglichkeiten über Norm wissen (öffentliche Gewaltausübung, Leumund, Leiden, Zorn, Neid etc.) Schließlich ist bei Marquard zu untersuchen, wie sich die Form des Lehrgesprächs zu den theologisch deduzierenden Aufbauformen der Quellen verhält, aus denen die Inhalte geschöpft sind, und ob diese Überlagerungen Konsequenzen für die Struktur der unterstellten und vorgeführten sittlichen Urteile haben. Für diese Fragestellungen benutze ich den (umfassendsten) Text von C3. Dabei wird es aber wiederum erforderlich sein, auf Al und C1 zurückgreifen: Mayr hatte als ein Charakteristikum der Α-Fassungen angegeben, daß die Dialogform hier am konsequentesten durchgeführt ist,73 und van Maren stellt in seiner Edition des Druckes von 1483 Vermutungen über die Herkunft des Sondergutes von C3 gegenüber C1 an.76 Die Feststellung, daß auch in diesem Gebot am Schluß der C l - (und damit auch der C3-) Redaktion ein Stück aus dem BvdgA verwendet wird, geht auf Denifle zurück.77 Diese Aspekte der Umformung und Addition in der Textgeschichte spielen notwendig eine Rolle, wenn die Struktur des sittlichen Urteils in ihren Vorgaben für die Textstruktur beleuchtet werden soll, denn während man für die früheste Textstufe (Al) einen direkten Zusammenhang von Lehrinhalt und Formung unterstellen darf, sobald man den Text als geschlossenes Werk ansieht, ist dieser Zusammenhang für C l und in noch stärkerem Maße fur C3 erst in sekundärer Weise in einem formenden Autorwillen begründet, der vordringlich als Akzeptanzrahmen rekonstruiert werden kann: Ein Bearbeiter, wer auch immer, muß der Auffassung gewesen sein, daß die Zusätze der jeweiligen Fassung in den Gedankengang passen und ihn nicht sprengen; dabei muß die Vorstellung von Argumentation, die ihm vorschwebte, nicht notwendig
75
MAYR, S . 7 2 .
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Er hält die Zusätze über Tötung von Verwandten, von Priestern etc. für freie Entsprechungen zur Tradition der Bußbücher ohne eine feste Quelle, vgl. van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 6*. BvdgA ed. DENIFLE, S. LII.
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Feste Urteile in unfesten Textstrukturen
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mit der zusammenfallen, die der Dekalogerklärung Α zugrundeliegt. Ob dieser mögliche Auseinanderfall sich in einer Verschiedenheit der Autoren oder in einer solchen der Zeit, des Publikums oder des unmittelbar intendierten Zweckes gründet, ist dafür zunächst zweitrangig. Zur leichteren Übersicht sei wiederum die Gliederung der Gebotsauslegung nach C3 78 vorangestellt; bei jeder Gliederungseinheit wird ausgewiesen, ob sie sich auch in A l und C1 wiederfindet. Das ist von dem ßnfften gepot vnd auch von synnen vnd materiert die darzü gehören. Ε wie man mag töten on alle sünd auch A l , C1 F Man sündet swerleicher an dem leiplichen vater dann an dem gaistlichen fehlt A l , C1 G Man sundet gleich an vater vnd an mäter wer sie leydiget oder tötet vnd ist in gleich schuldig zä helffen vnd zu staten zu kumen fehlt A l , C1 Η Es ist ein größer sünd das man einen cristen tottet dan einen iüden oder sust einen vngelaubigen menschen fehlt A l , C1 I Es ist sunder das ein muter ir kint töttet das vngetauft ist dan das do getauft ist vnd ist doch nicht sunder das einer einen iüden tottet wie wol der vngetauft ist dan ein cristen der do getauft ist fehlt A l , C1 Κ Er sündet swerleicher der sein muter tottet dan sein weibe vnd man sol auch doch den mer puße setzen dem der do sein weibe tottet dan sein muter fehlt A l , C1 L Er sündet mer der äinen menschen töttet mit vergift dan mit einem swert vnd sündet auch mer der do einen heimlichen töttet dan der einen offenlichen töttet fehlt A l , C1 Μ Nymant sündet dar an das er ein vich töttet oder einen paum abhaue vmb das sie vns zä nießen geben seind. fehlt A l , C1 Ν wer einen menschen tottet wie böß halt er ist anders dan mit dem rechten oder als ein richter oder als ein furste der des gewalt hat und [recht] der sundet dar an vnd ist auch manslechtig vor dem almechtigen got fehlt A l , C1 Ο Uon dreyerläy sach ist es vntzimlich vnd ein swere sunde wer sich selber tötet fehlt A l , C1 Ρ wie wol das zimliche ist das ein mensch vber den andern ein richter sey vnd
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Die Formulierung der Gliederungseinheiten entnehme ich van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 64-84. Die Ordnungsbuchstaben dort laufen ohne Rücksicht auf die Übergänge zum nächsten Gebot jeweils von Α bis Z. Sie werden zum leichteren Vergleich mit der Ausgabe beibehalten. Das 5. Gebot beginnt mit dem Buchstaben Ε und endet mit S.
300
Q
R
S
Τ
U X
Y Ζ Α Β C D Ε F G Η J Κ L Μ Ν Ο Ρ Q R S
Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
in als ein richter getöten mag so ist es doch vnzimlichen das ein mensch ein richter vber sich selbs sey also das er sich selbs töte fehlt A l , C1 Das sich etlich heiligen selbs getötet han dar an haben sie nicht gesundet wa sie ez von besunder einsprechung wegen des heiligen geists getan haben fehlt A l , C1 Es ist auch nicht zimlich das im yemant selbs kein gelied absneyd dan als ver als es dem leychnam schedlichen ist oder das in verunräinen mag fehlt A l , C1 Es sol kain man im selber außsneyden vmb das er keusch beleyben mitg wan die keußhait ligt mer an ainem guten willen wan an brauchung der aufwendigen glieder fehlt A l , C1 Es sol sich ein iungfraw selbs nicht töten vmb das sie ir keuscheit behalten müg vor einem der wieder iren willen nemen wil noch ain eefrwaw das sie ir ee icht breche fehlt A l , C1 Die keuscheit Verliesen oder ee brechen ist nicht als sünde als so sich ain mensch selber tötet fehlt A l , C1 Uon vorchten wegen die ein mensch hat vor Sünden do er eingefallen mag dar Vmb sol sich ein mensch selbs nicht töten vmb das er sye vermeyden m&g fehlt A l , C1 Uon vierley sach wegen ist ez sünder das man einen gerechten menschen tottet dan einen vngerechten menschen vnd einen sunder fehlt A l , C1 Es ist ein großer sund meyneid swern dann manslacht vnd man setzet doch manslachten grosser vnd auch mer pus dann meinaid sweren fehlt A l , C1 Das man weder hilff noch rat z& ertöten geben sol auch A l , C1 das man nyemant gaistlich töten sol auch A l , C1 Uon haß vnd neyd auch A l , C1 Das man göttlich manung nicht sol ertoten auch A l , C1 Uon hinder rede dem menschen z& tün auch A l , C1 Uon hinder red z& hörn von andern lewten auch A l , C1 Uon vnterzihen in der iungsten notdurfft auch A l , C1 wie man die veind lieb haben sol auch A l , C1 Uon vergeben den veinden auch A l , C1 Uon reden mit den veinden auch A l , C1 Uon neyde vnd von haß auch A l , C1 Wie man gepunden sey almäsen zä geben auch A l , C1 Uon der iungsten notdurfft auch A l , C1 wie die würdig mäter maria sich hielt in disem gepote auch A l , C1 wie gotes freiind halten sich in disem gepot auch A l , C1 was man schuldig sey dem lober vnd dem schelter auch A l , C1 Uon getult vnd vngetult in dem leyden auch A l , C1 Uon leiden nicht A l , auch C1
Unter diesen Gliederungspunkten sind einige durch explizite Ankündigung einer weiteren Einteilung und durch die Wiederaufnahme der entsprechenden Signalwörter an zum Teil erheblich entfernter Stelle herausgehoben. Noch vor
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Beginn von E(l) 79 wird angekündigt: vnd also hat das gepot drey Unmittelbar anschließend heißt es:
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der erst das man nyemant sol leiblichen ertbtten on sUnd: vnd ditz mag in vierläy hand weise geschehen.
Der Ordnungsbuchstabe E(l) fangt folgerichtig mit Zürn ersten an, und noch innerhalb dieses Abschnittes werden alle vier Möglichkeiten behandelt. Die Gesamtgliederung wird mit der ander synn ditz gebottes ist das man nyemant
sol ertöten nicht alläin mit der hand mer auch mit radt vnd hilff unter A(2) wieder aufgenommen. Damit bleibt das Sondergut der Redaktion C3, die Abschnitte F(l) bis Z(l), außerhalb der angekündigten Großgliederung, es fällt also dem Anschein nach in C3 unter den ersten Sinn des Gebotes. Tatsächlich handelt es sich um Spezialfragen physischer Vernichtung oder Beschädigung, die Additionen stehen also am rechten Ort innerhalb der Gesamtgliederung. Als den dritten Sinn unter B(2) führt diese an: Der drit syn ditz
gepotes ist das man nyemant gäistlichen ertbtten sol. In der Al- wie in der C1-Redaktion beanspruchten die ersten beiden Auslegungsweisen des Gebotes nur je einen Gliederungspunkt von wenigen Zeilen, in der C3-Redaktion dagegen ist der zweite Sinn durch Spezialfragen zur Schuldbewandtnis stark aufgeschwellt. Das geistliche Töten als dritter Sinn wird vierfach untergliedert, wobei der erste Unterpunkt noch einmal binär geteilt wird, so daß diesem dritten Auslegungssinn in allen Redaktionen 5 Abschnitte mit direkten Verweisen zugeordnet sind. Merkwürdigerweise steht der zweite Abschnitt über die iungste notdurft, N(2), bereits in Al nicht direkt nach G(2), obwohl er dazu eine unmittelbare Fortsetzung ist und die Anschlußstelle der Vorlage übersetzt, während H(2) bis L(2) thematisch zur ersten Untergruppe des geistlichen Tötens gehören, also eigentlich sinngemäß an C(2) anschließen. Man gewinnt so den Eindruck, als nähme das Lehrgespräch Fragen auf, um sie zunächst zugunsten eines neuen, locker assoziativ angereihten Inhaltes wieder fallenzulassen, später aber wieder aufzugreifen und erschöpfend zu lösen. Die assoziative Reihung beginnt aber erst nach der Nennung des dritten Sinnes aus der Vorlage, der Dekalogerklärung des Heinrich von Friemar, also nachdem dessen Gliederung der Auslegung abgearbeitet wurde, denn mit Ausnahme des Sondergutes von C3, das sich der Gliederung fügt, bieten die
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Da das Alphabet, wenn auch nicht vollständig, in den Ordnungsbuchstaben zweimal durchlaufen wird, benutze ich zur Identifizierung eines Punktes in der Gliederung eine zusätzliche Ziffer, die darauf hinweist, ob der Buchstabe zur mit Ε beginnenden ersten oder zu der mit Α beginnenden zweiten alphabetischen Reihe gehört. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 64.
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Abschnitte E(l) bis E(2) gleichmäßig fortschreitende freie Paraphrasen von Hauptgedanken aus der Auslegung Heinrichs von Friemar zum 5. Gebot. Die Ergänzung F(2) steht zwar nicht bei Heinrich, ist aber - auch in ihrer Kristallisation um das Bernhard-Zitat - als beinahe topisch zu werten;81 G(2) subsumiert wiederum Gedanken aus Heinrich von Friemar, die den Anschluß zu den in E(2) wiedergegebenen bilden. H(2) bis L(2) benutzen (mindestens) eine andere Quelle, aber in M(2) und N(2) setzt sich die Orientierung an Heinrich fort, allerdings irritierenderweise innerhalb der Auslegung Heinrichs von hinten nach vorn, was weder als freies Referat noch hinsichtlich der Folgerichtigkeit im neuen Text einen Sinn erkennen läßt.82 Der Vergleich dieser Quellenverwendung mit der inhaltlichen Folgerichtigkeit der Teile fuhrt zu dem Ergebnis, daß die scheinbaren Sprünge und Kreisbewegungen des deutschen Textes das Ergebnis ungleichmäßigen Exzerpierens aus dem Lateinischen darstellen: Was bei Heinrich nacheinander behandelt wird, erscheint auch bei Marquard (A und C) weitgehend nacheinander,83 aber ohne daß die Querverweise und Rückbezüge mitübertragen worden wären. Die Dopplung des Abschnittes über Neid und Haß erklärt sich offensichtlich aus der
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Es handelt sich um De consideratione libri V, Ii. II, cap. XIII, nr. 22, Opera ed. J. LECLERQ/ J.H.M. ROCHAIS, Bd. 3, Rom 1963, S. 393-493, hier S. 430. Die Stelle ist sowohl von Kanonisten wie von Theologen benutzt worden, kanonistisch ausgewertet bei Johannes von Erfurt, Summa confessorum, 1.4.3, ed. N. BRIESKORN 1980-81, T. 2, 1981, S. 111. Sie findet sich auch in der nd. Bearbeitung Heinrichs von Friemar, vgl. Nürnberg, Germ. Nationalmus., Cod. 22936, fol. 26v-103r, hier fol. 63r. Auch in theologischer Ethik findet sich die Stelle einigermaßen regelmäßig unter der detractio, so bei Thomas S.th. II-II q. 74 a. 4, von wo aus sie wegen der vorbildlichen Wirkung der Secunda secundae als Handbuch der Ethik und Moral wiederum Eingang in Bearbeitungen findet, so in das Büch der tug enden, Abschnitt II.2.20.5., BERG/KASPER, Bd. 1, S. 161. G(2) referiert zusammenfassend den Inhalt von GUYOT, Ausgabe, entsprechend clm 8151 fol. 32r-33r, und N(2) nimmt wieder fol. 33r auf, obgleich zuvor in M(2) Inhalte aus ebd. fol. 33v und 34r-34v wiedergegeben worden waren. Mit einer Ausnahme: Das Almosengeben, bei Marquard als Gliederungspunkt M(2), wird bei Heinrich von Friemar erst nach der letzten Not behandelt. Dieses Thema tritt bei Marquard in Abschnitt G(2) auf, aber noch einmal in N(2), also einmal vor und noch einmal nach dem Almosengeben. Ich gebe eine Zusammenstellung der Marquardpassagen und der korrespondierenden Stellen aus Heinrich von Friemar. Dabei handelt es sich oft um generalisierende Zusammenfassungen von Gedanken, die bei Heinrich breiter ausgeführt werden. E(l): GUYOT entsprechend clm 8151, fol. 29r, 29v-30r; A(2): GUYOT entsprechend clm 8151, fol. 30r-30v; B(2) und C(2): GUYOT entsprechend clm 8151, fol. 31r; D(2): GUYOT
entsprechend clm 8151, fol. 31v; E(2): GUYOT entsprechend clm 8151, fol. 31v32r; G(2):
GUYOT e n t s p r e c h e n d c l m 8 1 5 1 , fol. 3 2 r , f o l . 3 3 r ; M ( 2 ) :
GUYOT
entsprechend clm 8151, fol. 33v, 34r-34v, 34r; N(2): GUYOT entsprechend clm 8151, fol. 33r.
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Verwendung einer Zweitquelle, die einen anderen Aspekt behandelt, denn L(2) hat - wie die vorherigen Abschnitte H(2) bis K(2) - bei Heinrich keine Entsprechung. Aber auch bei den letzten aus Heinrich von Friemar übertragenen Inhalten (letzte Not und Almosen, G(2), M(2) und N(2)) ist die Entsprechung nur noch vage, und das nicht nur, weil die Ausführungen gegenüber der Vorlage stark gerafft sind. Der Übergang zu einer lockeren Reihung hat formal mit der Bindungskraft der übergeordneten Großgliederung zu tun. Da sie in der Rede des Meisters eingangs als Dreigliederung angekündigt war, verwundert es zunächst, in der Überleitung zu G(2) zu lesen: Der Vierde syn ditz gepots in der vorgeschribenen weise ist das der nyemant sol ertöten mit vntertzihen der notdurft seins lebens
mensch
Das Rätsel ist nur inhaltlich und vom Vorlagenbezug her aufzulösen. Es handelt sich beim Verweigern von Nahrung für den Verhungernden ja offenkundig um leibliches Töten, und zu diesem hieß es in der Einleitung der Auslegung, in der es auch als der erste Sinn des Gebotes definiert worden war: vnd ditz mag in vierläy hand weise geschehen. Die Zahlenangabe an einer Stelle, an der der dritte Sinn des Gebotes (geistliches Töten) bereits verhandelt worden war, greift also auf einen nicht abgearbeiteten Gliederungspunkt des ersten Sinnes zurück. Es ist gerade diese Stelle, an der sich der Charakter des Textes wandelt und die lineare Folgerichtigkeit zugunsten einer das Problem eher assoziativ umkreisenden Reihung verlassen wird, die auch thematische Dopplung nicht scheut. Ein zweiter Neuansatz findet sich erst dort, wo das konstante Konstruktionsprinzip der Marquardschen Auslegungen einsetzt: bei den Abschnitten ab 0(2) über die Vorbilder Mariae und der Gottesfreunde. Sie werden durch die Aufforderung des Jüngers, nach dem Vorbild der vorherigen Auslegungen auch hier über die Gottesmutter zu sprechen, eingeleitet: Sag mir fiirbas wie dy edel müter gotes sich hilt in disem
geböte.*5
Die Fortführung zu den Gottesfreunden wird dem Meister in den Mund gelegt: Nü wil ich dir auch sagen von den andern lieben fr&nden gotes
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 77. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 81. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 81.
[...]86
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Aber nunmehr ist es wieder der Jünger, der die Fragen stellt, also die Einzelprobleme aufwirft. Diese abschließenden Reflexionen über Vollkommenheit, Zurechtweisung und Leiden verlassen Heinrich nun gänzlich, aber nur das in C1 und C3 gemeinsame letzte Stück entstammt dem BvdgA.87 Während die Gliederung der Auslegung in drei Sinne nach Heinrich von Friemar alleiniger gedanklicher Besitz des Meisters war und nur von ihm verwendet und eingebracht wurde, gehen Jünger und Meister gemeinsam von dem festen, in allen vorherigen Auslegungen bereits erprobten Bauprinzip (erstens systematische Auslegung, zweitens über Maria, drittens über die Gottesfreunde) aus, so daß beide je einen Übergang zum neuen Unterpunkt vorbringen können. Wenn man der Frage nachgeht, wie die spezifische Reihung bei Marquard zustandekommt, so stößt man auf die Tatsache, daß die Umschlagspunkte im Aufbauprinzip durchaus mit einem Wandel der Formen einhergehen. Es ergibt sich nämlich der eigenartige Befund, daß im gesamten Text von C3 bis zum Ordnungspunkt H(2), also bis zur Feindesliebe, Rede des Jüngers nur im Sondergut von C3 vorkommt; ließe man dieses Sondergut aus, rekonstruierte man also Al aus C3, 88 so wären die acht verbleibenden thematischen Abschnitte bis G(2), zu den Erkennungszeichen der letzten Not, reines Referat des Meisters, belehrende Rede mit einem Adressatenbezug (Nü sag ich dir..., doch soltü wissen), der eine vorgeführte, literarisch ausgeformte Gesprächssituation nicht notwendig voraussetzen würde. Al und C1 stimmen darin genau mit dem Text von C3 überein. Es handelt sich bei dieser Lehrrede um diejenigen Inhalte, die an die Gliederung der Auslegung bei Heinrich von Friemar (die drei Sinne des Gebotes) direkt gebunden sind, und sie werden auch in dieser gliedernden Weise wiedergegeben: Der erst das man nyemant sol leiblichen ertbtten on sfmd: vnd ditz mag in vierläy hand weise geschehen [...]89 Der ander synn ditz geholtes ist das man nyemant sol ertöten nicht alläin mit der hant mer auch mit radt vnd hilff vnd do wieder tün dreyerläy menschen,90
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BvdgA ed. DENIFLE, S. 152,36 - 153,15; S. 155,14 - 155,30; 159,33 - 160,14; 166,37 - 167,3. Die Angabe von DENIFLE selbst im Vorwort ebd., S. LH Anm. 1 ist also eher ein Hinweis auf eine Fundstelle als eine genaue Angabe der Parallelen mit seiner eigenen Ausgabe. Dieses Gedankenexperiment unternehme ich wegen der Bemerkung MAYRS, die C-Gruppe dränge gegenüber der Al-Fassung die Gesprächsform ins Formale zurück. MAYR, S. 72. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 64. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 75.
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Der drit syn ditz gepoles ist das man nyemant gäistlichen ertöten geschickt in vierläy weise [...]. 91
ertbtten sol. vnd ditz
Die Fallunterscheidungen, wie sie für die Erklärung nach Heinrich von Friemar typisch waren, werden also prinzipiell übernommen; den kennzeichnenden Unterschied zu jenem Text bildet die Applikation der Fallstruktur auf ein hypothetisches Ich oder ein hypothetisches Du: Wo es bei Heinrich von Friemar heißt puta si aliquis occidat insequentem
se,92
setzt Marquard ein als ob man mich ertöten wblt in äinem wald vnd ich mein leben beschirmet äinen ertötet der mich ertöten wblt [...].93
vnd
Zum Vergleich: Die vorn behandelte Auslegung nach Heinrichvon Friemar hatte diese Stelle wie ihre Vorlage anonym-hypothetisch übersetzt: das ander tötten geschieht, wenn der mensch dar zä genöttet wirt, also das er sinen fiinden nicht gewichen möcht vnd es vngern tat, der sündet nil, ob er sich wert vnd in erschlöcht,94
Der subsumtiven Urteilsleitung tut diese Umformung Marquards keinen Abbruch. Sie läßt sich aus dieser Passage über die Notwehr gut ablesen: Möcht aber ich gefliehen vnd ich ez nicht tette mer das ich in ertöten wlt So wer ez todshnde Möcht ich mich auch erwern, also das ich in nicht töttet das wer ich auch gepunden. Aber möcht ich der keines get&n: so möcht ich in on stinde ertbtten [...].95
Der Ausschlußcharakter der hypothetischen Fälle gegeneinander wird hier besonders betont: Eine Handlung fällt nicht unter mehrere Regeln, sondern in Ansehung ihrer Umstände nur unter eine, das sittliche Urteil ist so mit der Subsumtion unter die richtige Fallklasse bereits gefallt. Dennoch macht die Verwendung der Personalpronomina der 1. und 2. Person einen Unterschied
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 76. Clm 8151 fol. 29v. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 64. Cgm 445, fol. 136r/v. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 64.
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zur neutralen Setzung vom Typ ein mensche aus, die daneben ebenfalls verwendet wird. Kennzeichnend ist die folgende Zusammenstellung beider Verwendungsweisen: Zum dritten mal wirt ein mensch ertbttet von geschickt: als ob ich ein glocken lewtet vnd der Swenckel herab viel von dem lewten vnd ein mensch ertbttet das ist kein sünde so ez mir läid ist vnd ich ein zimlich werck tün nach gewbnlichen syeten. Tbt aber ein mensch ein vnzimlich werck: als so man schewst über einen weg do lewt gewon sein zägeen wirt do yemant geschossen das ist todsünd.96 Die Fallunterscheidung (die oft wiederholtes Standardgut bietet) enthält neben der expliziten Bewertung auch eine implizite. In diesem Beispiel scheint es so, als bezögen sich beide auf die Sündhaftigkeit: Das ich wird für die sündlose Konstellation gebraucht. Blickt man aber zurück auf Mbcht aber ich gefliehen vnd ich ez nicht tette mer das ich in ertbten wblt So wer ez lodsände71 und stellt den parallelen Fall Wiß wen dlt dich richest dar'vmb das deinem zorn gen&gk geschech vnd die räch swer ist Also das dä dem menschen groß smechlich gepresten auf hebest das trieft auf todslinde: mäinstu aber in räch gerechtigkeit vnd auch das es nicht mer geschech oder ander peßerung das ist nicht todsünde98 daneben, so ergibt sich die Vermutung, daß die Pronomina der ersten und zweiten Person gute oder erlaubte Intentionen bewerten, die entweder unbezweifelt vorausgesetzt werden oder die mögliche Alternative zu einer verwerflichen aufzeigen." Die Urteilsleitung vollzieht sich neben der deduk-
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 64f. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 64. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 79. Deshalb scheint mir diese Umformung einem Gestaltungsplan zu entsprechen. GREIFENSTEIN, S. 149-151 konstatiert für die Tradition des Hiob-Traktats, daß in einigen Handschriften neutrale Wiedergaben von quaestio und responsio, also die Entsprechungen zum unpersönlichen Typ Queritur... Respondetur..., stehen, in anderen solche, die eine persönliche Anrede des Meisters an den Jünger und des Jüngers an den Meister vorbringen {wissest das). Ich halte diese Veränderung mit GREIFENSTEIN für Schreibereingriffe, meine aber, daß die Differenzen zwischen unpersönlicher und persönlicher Einkleidung innerhalb des Dekalogtraktats insgesamt planvoller wirken als die Eingriffe in den Hiobtraktat, weil sie auch Bezüge zum Inhalt aufweisen. Welcher Person innerhalb der Tradition diese planvolle Gestaltung aber zugeschrieben werden muß, ist allerdings höchst frag-
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tiven Subsumtion zusätzlich über das Identifikationsangebot mit dem positiven Handlungsmuster. Diese Vermutung bestätigt sich an den parallelen Verwendungen von Personalpronomina zur Falldarstellung.100 Diese Einkleidung der Fallstrukturen in personal aufgefaßte Handlungsmöglichkeiten eines Ich oder Du ist aber, wenn man den Fortgang der Auslegung betrachtet, nicht überall gleich zu bewerten. Im ersten Teil, der sich dem Gliederungsprinzip Heinrichs von Friemar fügt, so wie der Lehrer es referiert hatte, wird der aufgestellte Fall stets unpersönlich ausgedrückt,
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lieh. Auch den Schreiber kann man nicht grundsätzlich ausschließen, wenngleich es mir unwahrscheinlich vorkommt, daß ein Schreiber Veränderungen eingebracht haben soll, die eine Übersicht über größere Textpartien voraussetzen. Ich stelle im folgenden alle Belege für Falldarstellungen mit den Pronomina ich oder du aus der Gebotsauslegung (Van MAREN, Marquard Druck 1483) zusammen, sofern sie noch nicht zitiert wurden: Wolt aber yemant mir mein güt nemen darämb sol ich nyemant tbtten Und sol ee alles mein gilt verlißen ee ich ez erwerte mit keines menschen tode Es wer dan das man mir wlt nemen etzwas von des mangels wegen ich sterben mäste das zä beschirmen möcht ich wbll einen menschen ertbtten S. 64; Dä solt wissen ob dä neyd oder haß tragest das dir gecheling einfeilet: vnd dä in äiner gachhit äinen verganst seines glückes das ist nicht todsünde beleibt es halt lang in dir vnd ist dir doch läid das ist küin todsünde. Begerestä auch das es etleichen lewten tbel gee vnd woltest doch vngern ichts darizü tän das ez geschech mer mbchtestu ez irren du teilst ez: vnd do bey wer ez dir lieb das ez geschech dost ist aber nicht todsünde dar tzü begerestudas im läid gescheh an din zä tän vnd whitest ez nil irren ob du ez vermbchtest mäinstu dan gerechtigkeit dar innen so ist ez nicht todsünde mäinstu aber auch räch dar innen alläin vnd das deinem neyd genüg geschech so ist ez zä flirchten das es todsänd sey S. 76; Wen du einem menschen vrsach gibst wissenlichen zä todsänden so tästä todshnde Wirt man aber von dir geergert in den dingen die nicht todsänd sind so ist es nit todsünde So du idoch im zä den selben vrsach vnd ein vorbilde bist gewesen vnd sie an dir geergert werden Aber tästä todsänd vor in vnd zewhest du sy auch mit vrsach zä todsänden Wie dir doch das läid wer so sie ez auch geteten dannoch ist ez zä fürchten das du auch todsünde tetest von der vrsach wegen S. 77; hinderrede tän oder hinderrede hbrn wellicher do pbßer sey das ist mir nicht leicht außzärichten doch das soltu wissen vnd also versteen wan einem die hinderrede nicht läid ist von hasses wegen vnd du vrsach gibst der hinderrede williglichen mit deinem verhbrn Gibstu aber deinen willen nicht darzä vnd verhörest das alläin von zücht das dü den menschen nicht gern wilt versmehen der mit dir die rede tät: so ist es nicht todsünde S. 77; hastü dan so vil das dä im gehelffen macht das dä doch do von nicht verdärbst so bistü schuldig an im wo dä im nicht hilffest vnd täst todsänd und die ganze anschließende Passage über Almosen S. 77-78, Teile des Almosenkapitels S. 80; wo man dich pitet das du abiaßest so bistu gepunden deinen zorn diemätiglich ab zälassen gen im vnd deinen haß ob er dich halt nymer nichts gepitet und die anschließende Passage über Vergeben S. 79; Wen sich dein veint erpewtet dir genüg zä tän an schaden oder süst sich erkennet ob er dir nicht schaden hat getan So bistu gepunden mit im zä reden Wil aber er des nicht tän So bistu ez nicht gepunden S. 79.
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und in der Lösung finden sich die ich oder du als persönliche Lösungsmöglichkeiten, das heißt als Wege zur Schuldlosigkeit oder Entschuldbarkeit in einer Situation mit grundsätzlicher Schuldbewandtnis. An der Stelle nach E(2), an der die Dreigliederung der Auslegung nach Heinrich von Friemar zu einem logischen Ende geführt scheint, ändert sich dieses Verfahren. Die gliedernden Fragen, die von nun an überwiegend vom Jünger gestellt werden, geben meist schon die Applikation der Fälle auf ein Ich oder ein Du vor. Wie sich die Bindungskraft des analytisch-subsumtiven Gerüstes aus Heinrich von Friemar bis zu dieser Stelle mit der Rede des Meisters verbunden hatte (denn das Sondergut von C3 wird durch Schülerfragen eingebracht), so scheint umgekehrt die themensetzende Rede des Meisters mit dieser Bindungskraft erschöpft, 101 und die Inhalte, die nunmehr sowohl vom Jünger als auch vom Meister eingebracht werden können, hängen nur noch assoziativ zusammen. Dennoch läßt sich für diese assoziative Reihung, die den Teil zwischen den drei Sinnen nach Heinrich von Friemar und den Kapiteln über Maria und die Gottesfreunde bestimmt, ein Bildungsgesetz angeben, das aber im Unterschied zu den aus der Vorlage übernommenen systematischen Gesichtspunkten nicht eigens expliziert wird: Die Kapitel über Almosen, Feindesliebe, Neid und Haß beenden die theoretischen Entwicklungen des Normumfangs und leiten zu den zwei anderen Abschnitten über Maria und über die Gottesfreunde als Vorbilder der Gebotserfüllung über. Sie haben damit eine mehrfache Mittlerstellung: Unter dem Aspekt der Normentwicklung stellen sie die positiven Verpflichtungen aus dem Gebot dar, wobei sie im Grunde nicht über Tötung und Lebenserhaltung, sondern über Caritas handeln. Unter dem Aspekt des urteilenden Subjektes behandeln sie nicht mehr das Verbotene und damit spiegelbildlich das Erlaubte (wie die ersten Abschnitte) und noch nicht das vorbildlich Gute (wie die letzten beiden Teile über die Gottesmutter und die Gottesfreunde), sondern diejenigen Ausschnitte aus dem Erlaubten, die als Pflicht und insofern als gut anzusehen sind. Unter dem Aspekt der Darstellungstehen sie zwischen einer deduktiv-subsumtiv entwickelnden belehrenden Rede und einer Rede über exemplarische Figuren und deren Handlungen. 102 Sie behandeln noch eine Fallstruktur mit deduktiv-subsumtiven Mustern der Urteilsleitung, aber das Urteil wird über die pronominale Darstellung sozusagen doppelt gefallt: analytisch durch die Einordnung einer Tat in eine Tatklasse, aber auch persuasiv-rhetorisch, indem das Ich oder Du in eindeutig positive Zusammenhänge oder in Alternativen gestellt wird, von denen die
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Seine Einführung der Gottesfreundproblematik ist, wie oben ausgeführt wurde, nur die Erfüllung eines Bauprinzips und kein neues Thema. Diese Rede über die exemplarischen Figuren umfaßt 0(2) und P(2), also die geschlossenen Ausführungen des Meisters über Maria und die Gottesfreunde.
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eine Möglichkeit schuldloses, nicht nur (wie bisher, wenn ein ich oder ein du auftauchte) entschuldbares Handeln darstellt. Damit gibt der alltägliche Fall des Ich und Du die positive Pflicht zur prohibitiv formulierten Norm an. Ihre Erfüllung bietet doppelten Anlaß zur moralischen Wertung als gut: Weil es gut ist, Pflichten zu erfüllen, und weil, wie im Almosengeben, der Inhalt der Pflicht selbst etwas sittlich Gutes darstellt. Diese alltäglichen Fälle des Ich und Du im Verhältnis zum Nächsten sind also gleichsam eine Vorbereitung auf die Schilderung des Handelns der Vorbilder, denn die exemplarischen Figuren werden anschließend nicht mehr für das Erlaubte stehen, nicht mehr mit Übertretungssituationen konfrontiert werden, sondern das Gute zeigen, das in der Erfüllung des Gebotes eingeschlossen sein kann. Dieses Gute erschöpft sich aber bei den exemplarischen Figuren nicht in der Erfüllung einer Pflicht. In einer Gegenüberstellung wird das deutlich. Im Zwischenstück fragt der Jünger unter H(2) den Lehrer, ob die evangelische Ermahnung zur Liebe gegenüber den Feinden als Rat oder als Gebot aufzufassen sei. Die Antwort des Meisters beruft sich auf Thomas und grenzt die Pflicht ab: Sanctus Thomas spricht das man gepunden ist bey todsünden in der gemeind den veind lieb zä haben: also das man in der gemeind so man got lieb hat das man auch den in äiner gemäinen weiße alle menschen lieb habe aber besunderlich lieb zü dem feind zü haben des ist man nicht schuldig.103
Die Handlungsweise der Gottesmutter bietet dazu die ideale Überbietung. Unter 0(2) heißt es von ihr: wisse mbcht sie die die ir kind gekrewtzigt haben mit äinem wort ertt oder betrübt haben Sie het ez vngern getan ia wem sie darnach kämen in ir haws Sie hett sie gültlich gegrüßet.104
Der Jünger stellt seine Fragen also nach der positiven Pflicht aus dem Gebot und stellt dabei Fälle in der Ich-Form auf (pin ich des gepunden oder wie sol ich es versten;w> bin ich dan gepunden im zä vergeben106). Die Handlung der exemplarischen Figur, wiederum in Rede des Meisters dargeboten, zeigt die Verlängerung der Pflicht ins unerreichbar Ideale an, also das nicht nur durch Erfüllung, sondern an und für sich Gute. Dieses an und für sich Gute aber ist, wie wir vorn bei der Auslegung nach Heinrich von Friemar gesehen haben, aus einer negativ formulierten
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Van Van Van Van
MAREN, MAREN, MAREN, MAREN,
Marquard Marquard Marquard Marquard
Druck Druck Druck Druck
1483, 1483, 1483, 1483,
S. S. S. S.
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Norm mit streng logisch-deduktiven und subsumtiven Mitteln nicht zu gewinnen. Wenn es ein Ziel der Auslegung sein soll, auch dieses Gute darzustellen, also den positiven Normumfang mitzuumfassen, ist das Ausweichen auf die exemplarische Handlung notwendig. Sie muß das Gute weder begrifflich umgrenzen noch in seinem Verhältnis zum Verbot bestimmen, sondern kann es an einer vorbildlichen Handlung zeigen. Damit ist für die inhaltliche Spannweite der Auslegung eines negativ formulierten Gesetzes viel gewonnen. Wenn seine positiv normierenden Aspekte nicht mehr aus den Prohibitionen deduziert werden müssen, entfallen die unzureichenden Ableitungsmechanismen vom Typ gut = nicht böse, erlaubt = gut und, der negativen Fallstruktur folgend, gut ist etwas, wenn.... Vielmehr stehen Begriff und Inhalt des Guten von vornherein fest und werden im Zusammenhang mit der negativen Norm als nicht begründungsbedürftig ausgewiesen; dann aber kann eine Handlung nach folgenden Urteilsleitungen begriffen werden: Eine Handlung, die dieser gleicht, ist gut (Analogieschluß); Eine Handlung, die dieser gleicht, fällt in den vom Gebot geregelten Handlungsbereich (d.h. fallt unter das im Gebot Erlaubte: Analogie, Subsumtion und logische Negation). Das Ausweichen auf exemplarisches Argumentieren in der Darstellung des positiven Normumfanges ist unter diesem Aspekt nicht nur eine Notlösung und eine Konzession an theoretischen Unverstand möglicher Rezipienten, sondern es hat sogar verfahrenstechnische Vorzüge: Es macht das Verfahren der Urteilsleitung in besonderem Maße transparent, denn es setzt eine entwickelte Wertehierarchie explizit voraus und verwendet nur diejenigen Schlußmuster, die tatsächlich geeignet sind, einer negativen Gattungsnorm Vorstellungen über das gattungshaft Vorbildliche abzugewinnen; sie verschleiert also nicht, erweckt nicht den Anschein, als sei die positive Wertehierarchie in ihren wesentlichen Bestandteilen aus den - naturrechtlich oder göttlich verstandenen - elementaren Verboten deduzierbar. Es könnte nun scheinen, als läge der Einführung des Verfahrens, die positive Gattungsnorm nur exemplarisch zu fassen, während die negative sich in deutlichen Verboten explizieren läßt, ein weitergehendes und moderneres Problembewußtsein zugrunde als dem Versuch, auch die positive Norm naturrechtlich und aus Prohibitionen ableiten zu wollen, und als ginge dieses modernere Problembewußtsein einher mit einer beginnenden Skepsis gegenüber der göttlich-vernünftigen Geschlossenheit der Welt, auch der Wertewelt, insofern sie sich durch menschliche Vernunft aufdecken läßt. Dieser Schritt nach vorn kann aber gleichermaßen als ein Schritt zurück begriffen werden. Den Schlüssel zum Verständnis hierzu liefert die Textstruktur, die so entsteht und die man an Marquard studieren kann. Wenn positive Handlungsnormen über exemplarische Beispiele gebildet werden, fallt das Ende der logischen Gedankenkette als Maß für den Umfang der Norm aus. Exempla können
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beliebig vermehrt werden. Was sie als gut darstellen, muß, um als das im Dekalog vorgeschriebene Gute gelten zu dürfen, nur in den vom Gebot geregelten Handlungsbereich fallen. Dieser Handlungsbereich wird aber allein durch Auslegungskonsens bestimmt, und die Art seiner Bestimmung ist deshalb naturgemäß keine begrenzende, sondern eine zentrierende. Das heißt: In der Tradition werden Normelemente als unverzichtbar festgehalten, aber wenn neue Handlungstypen auftauchen, entsteht ein Normendefizit. Der Vorteil der exemplarischen Darstellung des Guten besteht dann darin, daß das Defizit additiv behoben werden kann, solange sich Gemeinsamkeiten mit bisherigen Normen finden und Widersprüche zu ihnen ausgeschlossen oder harmonisiert werden können. In der Dekalogerklärung Marquards schlägt sich das unmittelbar nieder: Das additive Prinzip der positiven Normdarstellung (Maria und Gottesfreunde) ist der eigentliche Grund dafür, daß die C-Redaktion bruchlos Inhalte aus dem BvdgA addieren und dabei damit rechnen konnte, daß diese Teile als Fortsetzung der Ausführungen über die Vorbildwirkung der Gottesfreunde gelesen werden würden. Aber selbst wenn man sich auf die Al-Redaktion beschränken würde, wiese diese Dekalogerklärung die mehrfache Vernetzung von Struktur des Textes und Struktur des sittlichen Urteils deutlich aus. Der erste Teil, vom Anfang bis E(2), ist eine klar strukturierte Lehrrede mit mehrfacher Untergliederung, deutlichen und verfolgbaren Verweisungen und überwiegend deduktiv-subsumtiver Argumentation, die diejenige ihrer Vorlage verkürzt nachzubilden sucht. In diesem Teil ergibt sich das jeweils nächste Problem mit einer nachvollziehbaren Notwendigkeit aus dem Bisherigen, und zwar nicht seinem spezifischen Inhalt, aber seinem systematischen Ort nach; diese Gliederungsweise entspricht der scholastischer Traktate und Summen, und so ist es nur folgerichtig, daß sowohl die Al- als auch die C-Redaktion in diesen Abschnitten, die Heinrich von Friemar entlehnt sind, das neue Problem vom Lehrenden selbst aufwerfen läßt, denn nur er ist in der vorgestellten Gesprächssituation im mentalen Besitz der inneren Gliederung, die er seiner Unterweisung gibt. Ebenso folgerichtig ist es, daß das Sondergut der C3Redaktion, nämlich F(l) bis Z(l), dort in Fragen des Jüngers gekleidet werden muß, obgleich es in sich ebenfalls deduktiv-subsumtiv angelegt ist, eben weil es nicht der vom Meister vorgegebenen Großgliederung unmittelbar inkorporiert werden kann. Im Abschnitt F(2) vollzieht sich mit der Ankündigung des Inhaltes von G(2) ein Übergang zu anderen Darstellungsmitteln. Die folgenden Inhalte bis zu den Teilen über Maria und die Gottesfreunde gehören zwar dem Verweis nach noch zu der Gesamtgliederung der Darlegungen des Meisters, aber sie stehen im Gespräch an einem Ort, an dem dieser Verweis nicht mehr nachvollzogen werden kann, ohne daß man beim Versuch der Zuordnung einen
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Fehler unterstellen müßte. Die Gliederung wird eigentlich nur noch zitiert, nicht mehr durchgeführt. Ihr Aufbrechen bei gleichzeitigem nominellem Fortbestand korrespondiert mit der Tatsache, daß nun der Jünger die Fragen stellt, auch in C; das heißt, daß diese Abschnitte systematisch zu den theoretisch-deduktiven Herleitungen gehören, sich ihnen aber eher assoziativ anreihen. Nur so ist es auch erklärlich, daß Fragen (letzte Not, Almosengeben, Neid und Haß) an getrennten Stellen doppelt behandelt werden, und zwar jeweils unter dem Aspekt, der sich assoziativ ergibt, also nicht, wie man es in einem scholastischen Traktat erwarten würde, nacheinander. Das Assoziationsprinzip geht mit einer Verstärkung der personalen Einkleidung von Fallstrukturen einher, die zuvor, im engeren Geltungsbereich der Hauptgliederung, nur ausnahmsweise angewendet wird; während sie dort unter einer Frage als gesondertes Darstellungsmittel und Identifikationsangebot vorkamen, hat sich das Verhältnis jetzt verkehrt: Sie werden in der Frage durchgehalten und bilden in der Antwort den überwiegenden Modus des Sprechens. Damit ändert sich auch die Funktion der unpersönlichen Aussagen. Sie sind zwar immer noch Ausdruck einer überpersönlichen Regelhaftigkeit und Allgemeinheit, stellen aber nicht mehr abstrakt einen Fall vor, dessen Sündhaftigkeit bereits zu vermuten ist und nur noch gemessen werden muß, und dienen auch nicht mehr zum Ausdruck der krassen Übertretungen wie in ertbt man einen menschen von haß vnd von mütwillen vnd durch gät vnd von zorn das ist alle wegen todsänd107,
sondern zeigen die allgemeinen Regeln der Pflichtenbegrenzung an: Wen der mensch sieht das des andern notdutft ist das er von hunger sterben wil oder von froste erfrießen wil das haißet die iungst notdurfi [...].108
Die unpersönlichen Aussagen bilden in diesen Abschnitten die Ausnahme. Die Darstellung hat sich also von einer Fallstruktur an sich, die systematisch entwickelt wurde, zu einer Fallstruktur für den Fragenden, der sie deshalb auch in der Gedankenfolge seiner Betroffenheit (unter dem Gesichtspunkt einer positiven Pflicht) formt, verschoben. Die positive Pflicht ist für den Benutzer des Textes an dieser Stelle das organisierende Prinzip, denn daß Stellen in den verhandelten Fragen genau in dieser Reihenfolge auf Heinrich von Friemar zurückzuführen sind, ist wegen der Ausblendung der jeweiligen
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 65. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 80. Parallelfall: Aber in s&nderlicher weise ist man gepunden kein lieb zä im zä erzäigen, ebd., S. 78.
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Untergliederung mit dem zugehörigen systematischen Kontext der Vorlage nicht mehr nachvollziehbar. Die dritte Weise der Verflechtung von Urteil und Textstruktur zeigen die beiden Abschnitte über Maria und die Gottesfreunde, die die Fallstruktur völlig verlassen. Obwohl die Urteile über die Handlungen der exemplarischen Figuren durch deren Wahl bereits feststehen, wird ihr Vorbildcharakter zusätzlich unterstrichen. Bei Maria, deren Sündlosigkeit dogmatisch gesetzt ist, vollzieht sich dieser explizite Hinweis durch zugesetzte Wertung, verstärkende Partikeln und beigefügte Interjektionen: Ach ir miltes hertz was so verr an allen neyd\[...\ Nym war wie gar gehillfig sie allen lewten was; [...] Ach wie dan allespbßes bilde vnd alle hinder rede so verr von irem göttlichem hertzen was [...].109
Maria wird also bemüht wie eine Exempelfigur, deren bloße Nennung das Beispielhafte (hier weniger ein Handlungskern als hervorragende Eigenschaften) bereits aufruft. Anders werden die Handlungen der Gottesfreunde betrachtet: sie sind auch vorbildlich, aber in ihrem beispielgebenden Handeln weder so vertraut noch so schlechthin vollkommen, daß sie des ausdrücklichen Referates und der Interpretation nicht mehr bedürften, sondern nur angeschaut werden müßten; das reine Vorzeigen von Figur oder Handlung reicht nicht aus. Die bemühten Gottesfreunde sind nicht nur in Hinsicht auf ihre theologische Dignität, sondern auch als Protagonisten von Exempla Bezugsgrößen zweiter Ordnung. Sie taugen aber dadurch zur Anpassung an nicht unmittelbar evidente Zwecke des Zeigens: Wir lesen das ein iunger Sancti dionisii hieß Thimotheus der selb man het also vast zu genomen in aller gbtlicher lieb fir alle ander länger das die andern länger ein wunder douon heten vnd fragten iren m&ister was sach er were Do antwürtet er in vnd sprach er wer ein gütiger mensch ach wie ein edel wort das was. Sich er was also got leydende das er alles leyden vnd durchechtung ynnewendig vnd außwendig enpfing als ein sonderlich gab von got: also tün die lieben freCind gots die rechen nichts nicht sie vrteiln nyemant sie kern alle ding zu dem pesten.
Der Modus des sittlichen Urteils nach Exempla ist von dem deduzierenden des ersten Teiles (nach Heinrich von Friemar) deutlich abgesetzt. Dennoch bleiben diese Urteile, die eine zuvor gefestigte Wertewelt auf die Exempla projizieren, an geschlossene Redepartien des Meisters gebunden; aus ihnen
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Alle Belege: van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 81. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 83.
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beziehen sie ihren rhetorischen Argumentationswert und ihre innere Urteilsstruktur. Die Frage des Jüngers, im zitierten Beispiel Aber sag mir lieber mäisler wie sol ich das leyden tragen das gotes ere darinnen behalten wer,111 ist nur Anstoß. Ein Abschnitt scheint zunächst eine Ausnahme zu sein. Der Jünger legt dem Meister im Abschnitt Q(2) die Frage vor, was er dem schuldig sei, der ihn lobe, und dem, der ihn schelte. Der Meister gibt ihm daraufhin ein Beispiel zur Entscheidung vor: Hätte der Kaiser sein Erbe dem versprochen, der ihm auf gleichem Wege in die Lombardei nachreise, und wollte man dieses Erbe erlangen, wem wäre man verpflichtet? Der Jünger antwortet: Dem, der den rechten Weg weiß und zeigt. Der Meister deutet sein Beispiel: Der Kaiser ist Christus, und wer einem andern dessen Weg weist, wird eher tadeln als loben. Das Beispiel wird in Frage und Antwort entwickelt, und zwar nicht in traditionell dialektischer, sondern in rein rhetorischer Weise," 2 denn für die Antwort, den Anteil an Fremdrede, sind inhaltliche Varianzen nicht möglich, sie kann also von vornherein in den Gang der eigenen Argumentation des Meisters einbezogen werden. Die Deutung erfolgt rein auktorial; der Aufbau der Argumentation und damit auch die Sinnstiftung für das dialogisch entwickelte Beispiel liegen allein in der Hand des Meisters. 113 Damit fügt sich dieser Abschnitt hinsichtlich der Funktion des Beispiels im Text und für die Urteilsleitung an die vom Meister allein darge-
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 82. Zu der Position, daß es im eigentlichen Sinne keine dialektische Methode (im Sinne der Platonischen Dialoge) gäbe, da der Fragende die Kontrolle über den Gang des Dialoges nie aus der Hand gibt und so im Grunde eine Rede mit vorab geplanten, stichwortgebenden Unterbrechungen hält, wobei die organisierte Zustimmung des einen Gesprächspartners den Wahrheitswert des verfolgten Gedanken verbürgen soll, vgl. PERELMAN/OLBRECHTS-TYTECA, T . l , S. 46-53. Karl-Heinz WITTE hat in seinen Bemerkungen zur Struktur des bei ihm edierten In-principio-Dialoges demgegenüber für seinen Text die Wichtigkeit der Einwürfe und Forderungen des Jüngers für den inneren Fortgang dieses Textes betont (WITTE, S. 165). Dennoch übersteigt ihre Funktion auch dort nach seinen eigenen Untersuchungen S. 164f. nicht die von Scharnieren zwischen den Lehreinheiten (denn die Zusammenfassungen des vorangegangenen Verstandenen gehören in einer vorgestellten Gesprächssituation ja dazu). Mir scheint es deshalb sehr schwierig, das Rekurrieren auf den Buchcharakter der Unterweisung mitten im Text als Stilbruch gegenüber der Gesprächsfiktion aufzufassen, wie WITTE es S. 165 und S. 166 tut. Die geschlossene Unterweisung, die sich selbst als Buch bezeichnet, ist meines Erachtens die Grundform, die man mit rhetorischen Mitteln ebenso dialogisieren kann, wie man sie versifizieren könnte; sie wird nicht aufgehoben, sondern nur modifiziert. Das gilt für Marquard in gleicher Weise.
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botenen Exempla an. Die Beweiskraft gedachter Analogien ist nach Aristoteles geringer als die historischer Beispielfälle;"4 da das Lehrgespräch am Ende einer thematischen Einheit stets auf einen Konsens von Lehrer und Schüler zielt, könnte man vermuten, daß die geringere Beweiskraft der erdachten Parallele dadurch aufgewertet werden soll, daß der Schüler einige Teilschritte selbst geht, so daß, obgleich Redeplan und Deutung für das Beispiel an die Rolle des Meisters gebunden bleiben, der Anschein entsteht, als habe der Schüler sich selbst oder doch beinahe selbst die Frage beantwortet. Der Eigenanteil des Schülers an der Lösung kompensiert 'also gleichermaßen das Defizit an Beweiskraft, das dem erdachten Beispiel eignet. Mit diesen drei Mustern der Urteilsleitung, deduktiv-subsumtivem Einreihen unter eine gewertete Handlungsklasse, rhetorisch deduzierender Hinleitung zur Identifikation bei anerkannten Pflichten und rhetorischexemplarischer Lösung von Schwierigkeiten und Zusatzproblemen, stellt Marquard unter den hier untersuchten Texten das breiteste Spektrum von Möglichkeiten für sittliche Urteile bereit. Sein Gewissensurteil ist nicht nur in systematischer Hinsicht, sondern auch der Form nach offen, es wird im Text selbst auf verschiedene Weise vorgefühlt und gleichsam erprobt. Das kann insofern nicht verwundern, als die Untersuchungen zu Marquards Gewissensbegriff ergeben hatten, daß dieser sehr unterschiedliche Aspekte, einen rational hochscholastischen, einen traditionell patristischen und einen aus neuen, volkssprachlichen Autoren aufgenommenen synderesis-Aspekt, in sich vereinigt. Man kann diese drei Gewissensbegriffe nicht eindeutig auf die drei festgestellten Urteilstypen projizieren, sondern allenfalls konstatieren, welchen Gewissensbegriff ein Urteils- und Textaufbauprinzip notwendig voraussetzt (die anderen Aspekte können sich dann jeweils anreihen, sie wären aber prinzipiell verzichtbar). Versucht man eine solche Applikation, so ergäbe sich folgendes Bild: Die Lehrrede des Meisters, die der Großgliederung nach Heinrich von Friemar folgt, setzt einen rational-scholastischen Gewissensbegriff voraus, das Übergangsstück über die positiven Pflichten sowohl diesen als auch einen traditionell patristischen (gutes/böses Gewissen). Die Abschnitte über die exemplarischen Figuren können auf eine rationale Gewissensbestimmung weitgehend verzichten, sie brauchen aber eine subjektive Gewissensauffassung, weil sonst die Gottesfreunde als Oberbegriff keinen Exempelwert verkörpern. Daß die Urteilsstrukturen in diesem Sinne bereits mit Textstrukturen korrelieren, ist, wie ich hoffe, deutlich geworden. Nun muß ergänzend gefragt werden, wie die übergreifende Form des Lehrgesprächs diese Text-
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Rhetorik 1394a.
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strukturen überformt und zusätzlich prägt. Damit rückt zugleich die Funktion des Fragens im Lehrgespräch in den Blick.115 Ich wende mich zunächst der häufigsten Konstellation116 zu: Der Jünger stellt dem Meister Entscheidungsfragen nach den beiden Mustern Ist XY erlaubt? und Bin ich zu XY verpflichtet? Die Fälle, die er ihm zur Entscheidung vorlegt, bieten aber Subsumtionsschwierigkeiten, die sich aus Wertekonflikten herleiten: Seint das du mir sagest das sich selbs nyemant töten sbl So wölt ich gern von dir hörn ob ez äiner iUngfraw zimlich wer das sy sich selber tötet bmb das sy ir keuschäit vnd reynigkeit behalten mbcht vor dem der sie der selben außwendig der ee vnzimlich berawben wolt"1
Insofern schafft der Jünger durch seine Bitte um Entscheidung einen Kasus als literarische Grundsituation. Dabei ist ihm eine Möglichkeit der Subsumtion unter eine Regel bewußt, aber zweifelhaft. Im zitierten Beispiel rührt der Zweifel daher, daß die Befolgung der Regel die Verletzung eines unstreitigen Wertes (hier der Bewahrung der Keuschheit) bedeutet; der Kasus entsteht also durch Unklarheiten der Wertehierarchie. Das trifft auch für die folgende Frage zu, obgleich der unstreitige Wert (Gerechtigkeit) durch die Befolgung der Regel nur scheinbar, dem subjektiven Rechtsempfinden nach, verletzt wird und die Antwort in den Formulierungen der Frage bereits vorweggenommen ist: Sag mir aber mer ist ez zimlichen das ein man oder säst ein persone einen Vbeltetigen menschen tbttet nicht als ein richter noch in rechtes weise vnd on vrteil.m
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Ich gehe im folgenden von der C3-Redaktion aus in der Erwägung, daß die Addition zusätzlicher Fragen (im Sondergut von C3) das Bild allenfalls erweitern, aber nicht verfälschen kann. Der Jünger stellt in der C3-Redaktion unter dem 5. Gebot 21 Fragen und richtet zwei Aufforderungen fortzufahren an den Meister. Unter den Fragen sind 7 nach Entscheidungen innerhalb von Alternativen um ein Mehr oder Weniger an Sünde: die zum nächsten Punkt führenden Fragen in E ( l ) , F(l), G(l), J(l), K(l), X(l), Y ( l ) . 4 Fragen zielen auf Entscheidungen innerhalb von Alternativen von sündhaft - sündlos: L ( l ) , M(l), S(l), U(l), 4 auf solche über Pflicht - nicht Pflicht H(2), J(2), K(2), Q(2). Die übrigen richten sich auf: ein Warum in der ersten Frage von J(l), in P(l), R(l); eine Sachdefinition in M(2); ein Wie in R (2); S(2) bringt einen Einwand vor. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 73. In diesem Beispiel ist der Wert, der den Fall unter eine andere Regel stellen würde, explizit ausgesprochen. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 68.
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Die Frage Sag mir flirbaß ist ez icht sünd das man das vich tbttet vnd die pawm abhawet vnd ander wachsend ding.119
richtet sich auf den Geltungsbereich des Gebotes, aber sie kann nur gestellt werden, weil zunächst ein Sammelbegriff dessen gebildet wurde, was zu töten möglich ist (nämlich wachsend ding), und weil ein Widerspruch zwischen der hierarchischen Gliederung der Schöpfung und der generellen Aussage des Gebotes empfunden wird, also ein Konflikt göttlicher Werte, der selbstverständlich als Verstehenskonflikt behandelt werden muß. Die Entscheidungsfragen dienen also dazu, Wertekonflikte zu thematisieren, die die Subsumierung unter die vorgegebene Regel erschweren. Sie verkörpern den Fragetyp, den das retrospektive ebenso wie das prospektive Gewissen verwenden muß, wenn es urteilt. Dem fragenden Jünger kommt es zu, sie als Besonderes zu erfassen, dem Meister, sie dem Allgemeinen trotz ihrer Besonderheit zuzuordnen: Zwei Funktionen, die bei der Handlungsbewertung und Handlungssteuerung vom Gewissen einundderselben Person geleistet werden müssen, sind auf zwei Agierende verteilt. Dieser Dialog, der ohne Schwierigkeiten als innerer Dialog aus Selbstbefragung des prospektiven Gewissens und Beratung durch die praktische Vernunft aufgefaßt werden könnte, hat aber eine Besonderheit: Die Antwort zieht sich dabei bevorzugt auf Autoritäten zurück; zu allen hier zitierten Fragen beginnt die Antwort mit einer Berufung auf Thomas von Aquin.120 Sofern Jünger und Meister also die Selbstbefragung im Konfliktfall abbilden - und es ist gerade dieser Typ von Fragen nach Entscheidungen über 'sündhaft - nicht sündhaft' und nach 'Pflicht - nicht Pflicht', der in der ersten Person vorgebracht werden kann geht die Beratung damit eindeutig über die Rollenentsprechung der praktischen Vernunft, also über das Urteil des Meisters, hinaus, so daß sich ein Fremdberatungsmodell ergibt, wie es von Bonaventura empfohlen wird.
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 68. In M(L): Es spricht sanctus Thomas von Aquin Wie das sey das des vichs leben vnd der paum wachsen von got sey So sündet doch nyemant dar an das er ain vich tbttet oder ein bawm abhawet. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 68; in N(L): Hie zä antwurt sanctus Thomas von aquino vnd spricht Es sey keinem menschen zimlichen den andern zä tötten Wie pbß halt oder wie ibeltetig er sey, ebd., S. 68-69; in T(L): Es spricht sanctus Thomas de aquino. Es sey nicht zimlich das sich äin iungfraw selber tbt vnd vmb das sie ir kewschäit icht berawbt würd, ebd., S. 73.
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Schreitet man von der Einzelfrage und -antwort aus weiter, so ergibt sich ein weiterer Deutungshorizont für die Gesprächssituation. Er ist an die Verknüpfung der Texteinheiten untereinander geknüpft, und zwar an die Überleitung zu einem neuen Thema und die Art, wie der Meister dieses neue Thema aufgreift. Ein Beispiel: Der Jünger stellt zur Feindesliebe drei Fragen, H(2) bis K(2): ob er verpflichtet sei, die Feinde zu lieben, ob er verpflichtet sei, dem zu vergeben, der ihm Böses getan habe, und zuletzt Bin ich aber gen meinen veinden gepunden zä reden oder mag ich vngeredl mit in sein on alle todsünd.121
Der Meister gliedert seine Antwort in drei Fälle, die er durch Konditionalsätze am Satzanfang ausweist: Wen sich dein veint erpewtel dir genüg zä tän [...] Wil aber er des nicht tän [...] Wer auch das man mer forchten müst das der mensch dester freueller würde vnd dester herter [..].122
Nachdem er diese Fälle einzeln entschieden hat, führt er die Belehrung thematisch weiter, verläßt aber dabei die engere Bedeutung der Frage: Nä wil ich dir ein gemäine regel sagen von neyde vnd von haß.m Nach dieser Ankündigung unterscheidet er nochmals vier Fälle, die die Umstände mißgünstiger Gefühle von den Intentionen dessen auffassen, der sie erlebt, und jeweils die Grade der Sündhaftigkeit zuordnen. Damit bezieht er die Frage des Jüngers auf ein ergänzendes Normativ, denn er fragt nach der Art der Feindschaft, die in dessen Frage vorausgesetzt worden war. Damit ergibt sich ein Bezug auf die Textstruktur scholastischer Summen: Der Jünger fragt nacheinander so, wie die Untergliederung der quaestio in sich fortschreiten könnte, und der Meister antwortet jeweils mit einem Referat, das dem entsprechenden corpus articuli entnommen sein könnte; wo die Vollständigkeit des Fragens durch den Lernenden noch nicht erreicht ist, stellt der Meister selbst das neue Problem auf. Es ist, als würde ein Abschnitt aus einer theologischen Summe mit verteilten Rollen aufgeführt; der Jünger kann wegen seiner in der Systematik des Wissensstoffes notwendig inferioren Stellung Vollständigkeit nicht selbst erreichen, so daß der Meister sie durch seine Ergänzung herstellt; erst dadurch erweist sich der Meister als Herr der
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 79. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 79. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 79.
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verhandelten Themen, 124 wird eine Formtradition angesprochen, die Jauß für Spätantike und Mittelalter als den magistralen Dialog verhandelt. 125 Der zweithäufigste Fragentyp richtet sich auf eine relative Maßbestimmung. Wenn unter zwei Handlungen, deren Sündhaftigkeit in beiden Fällen für den Fragenden wie für den Befragten feststeht, die Größe der Sünde gegeneinander abgewogen werden soll, kann eine Entscheidung durch Menschen, die Sünde als Verstoß gegen den göttlichen Willen nicht unmittelbar bemessen können, nur dadurch erfolgen, daß die Sünde als Verstoß gegen einen Wert begriffen wird. Auch diese Art zu fragen zielt also auf die Wertehierarchie, aber unmittelbarer als der Typ der Entscheidungsfragen, denn hier geht es nicht um den Konflikt zweier Normen bzw. der durch sie geschützten Werte
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Die Dialogverwendung Marquards ist seit RUH, Bonaventura, S. 54, von STEER, Gnade, S. 178-194, bes. S. 179 und von GREIFENSTEIN, S. 148, auch mit Rücksicht auf den Dekalogtraktat, behandelt worden. Konsens besteht in der Charakterisierung Marquardscher Dialoge als "Belehrungsdialoge". Ich halte mit GREIFENSTEIN ebd. u. S. 152 die Abgrenzung von "echten" Dialogen und "dialogisierten Abhandlungen" für unmöglich und für müßig. Dagegen bin ich gegen GREIFENSTEIN w i e STEER, S . 1 u. S . 1 8 0 , d e r A n s i c h t , d a ß d e r D i a l o g als F o r m p r i n z i p
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prinzipiell gattungsfahig ist, aber oft von anderen, dominanten Gattungsmerkmalen überlagert wird, so daß es durchaus eine treffende Bestimmung sein kann (aber nicht muß), von der Dialogform eines Traktales zu sprechen (wie STEER, Gnade, S . 180). JAUSS, Frage hält den magistralen Dialog zwar grundsätzlich für den Gegenpol philosophisch-dialektischen Fragens (im sokratischen Sinne): "Der magistrale Dialog zeigt in seiner historischen Entwicklung immer wieder einen Prozeß, in dem die Offenheit des Fragens und Weiterfragens in kanonisierten Antworten aufgefangen wird, die Priorität der Frage vor der Antwort als Vorrecht der Lehrautorität gilt und das dialogische Suchen nach unerkannter Wahrheit im monologischen Behaupten der einen Wahrheit endigt", ebd., S. 410. Er räumt aber ebd., S. 411 ein: "Gleichwohl eröffnete die scholastische Theorie der Quaestio einen erheblichen Spielraum zwischen interrogatio und responsio, der erlaubte, den Zweifel und die Suche auszuschöpfen." Diesen Aspekt würde ich aus meinen Bemühungen um scholastische Texte unterstreichen; er verändert das Formprinzip des magistralen Dialogs aber so grundsätzlich, daß es als bloße aufgesetzte Konventionserfüllung fungieren kann. Daß die Füllungsfreiheit zwischen Frage und Antwort auch in katechetischen Texten bestehen kann, scheint mir bei Marquard evident. Deshalb habe ich starke Zweifel, ob man in einer Geschichte des literarischen Fragens die scholastische quaestio ohne weiteres zum verfestigten protestantischen Katechismus als zu ihrem Endpunkt führen kann (ebd. S. 414ff.). Natürlich ist die Dialogstruktur des protestantischen Katechismus gerade als Gegengewicht zur scholastischen Frage- und Erörterungsgewohnheit mit einer gegensätzlichen Funktion beladen worden: Sie ist nur noch Memorierform und insoweit tatsächlich eine Grenze. Aber daß die Verlagerung des Fragens in die Dichtung dessen funktionale Erlösung und historische Bewahrung bedeutet (ebd. S. 412), bezweifle ich.
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in einer einzigen Handlung, sondern um das Verhältnis der leitenden Normen zu zwei Handlungen, die sich nicht in eins zusammenfassen lassen: Sag mir ßrbaß
sündet äin man mer der sein mäter oder sein weib töttet126
oder Sag mir sündet einer mer der einen kristen oder einen iuden oder sust einen vngelawbigen menschen lbttetm
sind Fragen, die sich auf zwei getrennte Handlungen richten. Der Jünger antizipiert, indem er fragt, also die Situation eines äußeren Gerichtes, denn die Normenhierarchie für getrennte Handlungsumstände kann sich mit Ausnahme extremer Sonderfälle nicht im Gewissenskonflikt manifestieren.128 Dadurch rückt der Meister in die Position des (geistlichen) Richters, der die an sich nicht greifbare Sünde bemißt, indem er dem Verstoß gegen den höheren Wert die größere Strafe androht. Dieser Fragetyp steht ausschließlich im Sondergut von C3, während die Entscheidungsfragen nach sündhaftsündlos und nach Pflicht-nicht Pflicht diesem Sondergut und dem Grundbestand von Al gemeinsam sind. C3 fügt also gleichsam eine neue Rollenbedeutung für Meister und Jünger ein. Sie ermöglicht den Antworten des Meisters explizite Hinweise auf mögliche kontroverse Entscheidungen: Etlich lerer die sprechent das äin kint mer sänd an seinem vater dan an seiner mäter: bmb das do got geböte das man vater vrtd mäter eren solt do nant vnd satzt er den vater vor der mäter: vnd auch darimb das äin iglich kint mer in gewalt ist seins vaters dann seiner mäter Aber die mäist menig der lerer sprechen das äin kindt als vast shnde an seiner mäter als an seinem vater Und des gelawb ich auch
Im folgenden Fall wird die juristische Herkunft dieser Kontroversen betont: Es sprechent etlich iuristen es sey sünder das äiner sein weib tötet dan das äiner sein mäter tbttet.130
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Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 67. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 66. Und zwar sowohl im Sinne von Gewissen als innerer Urteilsinstanz über bereits Getanes als auch im Sinne der Handlungssteuerung. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 65-66. Van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 67.
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Hier zeigt sich, daß Kanonisten und Theologen als getrennte Instanzen und ihre Entscheidungen in verschiedener Reichweite und Konsequenz begriffen werden: Aber die mäister der heiligen geschriefi sprechen. Es sey hin größer s&nde das äiner sein müter tött dann sein weib: wan es ist mer wieder die natüre [...]131
In der Lehre wird damit die Theologie favorisiert, der Kanonistik bleibt aber ihr Recht: ye doch so setzet man äinem man größer büß nach gäistlichem rechten der sein weib tötet dan der sein müter tötet. Und das ist darimbe das äin iglich man mer gen&igt vnd bebender ist seinn weib zü tbtten dan sein müter.132
Das Eigenrecht von Theologie und Kanonistik im Nebeneinander zweier im Grunde widersprüchlicher Lehrentscheide wird in zwei Begründungen gefaßt, die einander nicht widersprechen. Eine von beiden Positionen aus, der kanonistischen wie der theologischen, abzulehnende Schuldauffassung wird dagegen anonymen Unwissenden oder dem fragenden Jünger in den Mund gelegt: Ettlich torrecht menschen sprechent das äiner mer vnd auch swerlicher sünd der einen iuden oder einen vngelawbigen menschen tött dan einen gelawbigen Wan nach dem als sie sprechen so iehen sie wer einen iuden oder säst einen vngelaubigen tött der tött in nach leib vnd nach sele Aber einen kristen newer nach dem leibem
oder Wie k&mpt das seint doch ein müter mer sündet die ir vngetauftes kint töttet dan ir getauftes kint nach dem zä nemen So düncket mich das einer auch mer s&nde der einen vngetauften tött als einen iuden oder heiden dan einen getauften: als einen kristen134
Die Strukturen der vorgebrachten abgelehnten Positionen sind, unabhängig vom Sprecher, einander äquivalent: Es ist ein theologisches Vorwissen mit daraus abgeleiteten, logisch nicht anfechtbaren Gründen, das die Irrmeinung
131 132 133 134
Van Van Van Van
MAREN, MAREN, MAREN, MAREN,
Marquard Marquard Marquard Marquard
Druck Druck Druck Druck
1483, 1483, 1483, 1483,
S. S. S. S.
67. 67. 66. 67.
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begründet. Die Gegenposition, die vom Meister vertreten wird, hat dagegen nur Konvenienzgründe für sich; im ersten Fall wer einen iuden oder säst äinen vngelawbigen totlet: der tbttet in alläin nach dem leibe Aber sein vngelawb vnd sein shnde in den er also verhertet ist die tbtten in nach der sele vnd nicht der der im den leip nympt [...] Wan als vil einer swerlicher sUndet der seinen brüder tbttet dan säst einen fremden Als vil sändet säst einer auch swerlicher der einen kristen tbttet dan einen iuden oder häidenni
Im zweiten Fall: das vngetauft kint das von seiner mäter getbtt ist das wer zum gelawben vnd zä dem taw/f kämen: hett es die mäter nicht getbttet. Aber der iäd oder der häiden der wer vil leicht nymmer zä dem gelawben kämen wer er dann dartzJä kämen so werden selten gätt kristen awß alten iäden.136
Sobald mit dem Wechsel des Fragetyps das forum internum als Grundsituation der Rollenbesetzung aufgerufen ist, wird allein positives Recht verhandelt, und dieses ist weniger auf stringente inhaltliche Widerlegung der Gegenposition als auf positive Stützungen der eigenen Übereinstimmung mit Grundauffassungen von Gerechtigkeit angewiesen. Diese Grundauffassungen entbehren in den hier verhandelten Fragen deutlich jeder naturrechtlichen Komponente. Interessanterweise hängt unter den 7 Fragen zum Vergleich der Schuldbewandtnis keine inhaltlich von der vorherigen oder von anderen Kontextelementen (im Sinne logischer Folge) ab, sondern es handelt sich um eine lockere Reihung beliebig vermehrbarer Fälle ohne ein explizierbares Ordnungsprinzip. Nur zu einer Entscheidung über vergleichende Schuldbewandtnis, am Anfang von J(l), gibt es eine Warum-Frage, und diese bildet ihr Warum aus einer Erwartung der Symmetrie von Urteilen: Warum sündigt der mehr, der einen Christen erschlägt, da doch die Mutter mehr sündigt, wenn sie ihr Kind ungetauft tötet, als wenn sie es getauft getötet hätte? Das Vergleichswissen, das in den anderen Fragen dieses Typs erst zu erfahren intendiert wird (Kindstötung vor und nach der Taufe) wird hier bereits vorausgesetzt und mit dem Ergebnis aus der vorigen Frage (Tötung eines Christen oder Heiden) konfrontiert, es handelt sich also um den Vergleich zweier Vergleiche. Dabei bildet den Gegenstand des Warum die vom Fragenden unterstellte und durch die letzte Antwort des Meisters nicht bestätigte Analogie der beiden Maßverhältnisse, von der vorausgesetzt werden darf denn sonst könnte die Frage so gar nicht gestellt werden -, daß sie sich aus
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der Gemeinsamkeit des zu schützenden Wertes (Möglichkeit zum ewigen Leben) begründen sollte. Wenn nun auch der Fragetyp, der sich auf vergleichende Schuldbewandtnis richtet, und die mit ihm verbundene Rollenbesetzung für Meister und Jünger nur im Sondergut von C3 auftaucht, so gilt jedoch nicht umgekehrt, daß dieses Sondergut allein aus solchen Fragen besteht. Das heißt, daß die ursprüngliche Anlage des Lehrdialogs (die sich in der Al und C1 gemeinsamen Schicht nachweisen läßt) auf Fragen verzichtete, die die Dialogpartner situativ auf das forum festlegen. Umgekehrt zeigen die Additionen der C3-Rfcdaktion, daß deren Urheber die beiden Rollenbesetzungen für Meister und Jünger als durchaus vereinbar empfand: Jünger und Meister als Figuren für Frage und Antwort im Gewissensentscheid oder: Jünger und Meister als Figuren für Rechtsanfrage und autoritativen Rechtsentscheid. Für den Redaktor ist die Unterweisungssituation also in dieser Hinsicht grundsätzlich offen, und die Fragen nach der moralischen Bewandtnis einer einzelnen Handlung erscheinen ihm denen nach Vergleich der Schuldbewandtnis getrennter Handlungen eng verwandt.137 Marquards Dialog ist, aufs ganze gesehen, also durchaus ein magistraler Dialog im Jaußschen Verständnis. Dabei befindet sich der Meister nach Al zunächst nur in der Position des geistlichen Beraters, er wird befragt in Angelegenheiten, die auch Gewissensfragen sein könnten, also über Handlungsbewertung und Handlungssteuerung. Durch die Additionen von C3 rückt er auch in die Position des geistlichen Richters. Während die Erörterungen des geistlichen Beraters einschließlich der Kasus, die der Meister in dieser Funktion verhandelt, in ein geschlossenes Gesamtkonzept eingebunden bleiben, sind die Fragen zur Schuldabwägung untereinander unverbunden. Für die Überlagerung der Dialogform mit anderen strukturbildenden Elementen heißt das: Der magistrale Dialog, der den Meister in die Rolle des Beraters
137
Zu dieser Auffassung der Gesprächssituation passen auch die Erweiterungen der C3-Fassung unter dem 8. Gebot, wo die schwierigen Fragen der Prädestinationslehre und des freien Willens verhandelt werden. Die Antizipation der Verantwortung vor Gott, die in den Antworten des Meisters trotz aller Bescheidenheitstopoi enthalten ist, bietet den Fluchtpunkt, in dem vergleichendes Abwägen und Entscheidung über Erlaubtes und Verbotenes, Gutes und Böses zusammenfallen. Nur hier weist der Meister einmal eine Frage zurück, van MAREN, Marquard Druck 1483, S. 118: warimb das sey das er äineti menschen zü ewigem leben erwel vnd den andern verwerf. Er kommentiert aber seine Zurückweisung höchst ausführlich. Die Transformation des göttlichen Standpunktes ins menschlich Faßbare beschreibt dieselbe Gedankenfigur wie bei der Abwägung der Sünden, die eigentlich auch nur Gott vergleichen kann: größere Sünde tut, der gegen den höheren menschlichen Wert verstößt, und zur Erwählung geeignet ist unter dem Vorbehalt der fernen göttlichen Entscheidung, wer das als gut Geltende tut.
324
Der Dekalogtraktat Marquards von Lindau
stellt, bildet eine Formengemeinschaft mit dem scholastischen Traktat, der die subsumtive Urteilsleitung mit der Deduktion der Urteilbereiche verbindet.138 Diejenigen Dialogteile, die dem Meister richterliche Gewalt zusprechen, verbinden sich mit den Kasus; die Überlagerung mit der kleineren Grundform verselbständigt sich und wird, da die systematisch-logischen Konnektoren zum nächsten Fall fehlen, gegenüber dem linearen Gang des Gespräches dominant.139 Da aber auch die Gewissensurteile virtuell an Fallstrukturen gebunden sind, ist das Lehrgespräch selbst in den Partien, die den Meister als Beratenden auffassen, offen, neue Inhalte aufzunehmen; es erweist sich also als eine grundsätzlich offene Form, wenn auch in Abhängigkeit von der inhaltlichen Rollenbelegung die Aufnahmefähigkeit für neue Inhalte differiert. Als Beratungsbuch gehört Marquards Dekalogerklärung damit einem ganz anderen Typ an als Bertholds 'Rechtssumme' und die Auslegungen der Redaktoren des Nikolaus von Dinkelsbühl und des Heinrich von Friemar. Es addiert Normwissen im weitesten Sinn und orientiert nicht nur auf das Erlaubte, sondern auch auf das Gute. Insofern ist es inhaltlich reicher als die zuvor behandelte deutsche Bearbeitung Heinrichs von Friemar. Allerdings kann ich mir schwer vorstellen, daß Marquards Buch in breitem Maße zum Nachschlagen in Einzelfragen benutzt worden ist. Trotz der Register sind die behandelten Teilprobleme kaum zu finden, wenn man schnell eine Orientierungshilfe braucht, und die Bildungsgesetze der einzelnen Partien erschließen sich erst gründlicher Textanalyse. Das hängt mit dem Aufbrechen der scholastischen Formen zusammen. Reine Addition hat keinen genauen gedanklichen Ort und folglich auch keinen fixen Platz im Text, und ein Autor, der scholastische Darstellungsmuster nur punktuell bewahrt, muß für die Verknüpfung der gedanklichen Einheiten zum Abschnitt und zum Text eigene Regeln erfinden, läuft aber zwangsläufig Gefahr, daß sie nicht schnell erkannt und gehandhabt werden können. Man muß das Buch durchlesen, um sich später in einem speziellen Fall bei ihm beraten zu können. Diese Stufe der Textorganisation hatte die lateinische Buchkultur für alle verwandten
138
139
So versuche ich RUHS Bemerkung vom Überwiegen des "scholastisch-formalistischen Elements" in den Dialogen Marquards zu verstehen (RUH, Bonaventura, S. 64), also nicht von einem geschlossenen Gattungsbild von Dialog, Traktat, Auslegung usw. auszugehen, sondern von literarischen Reihen im Sinne des Russischen Formalismus; dann werden die Überlagerungen wieder kategorial faßbar. In den Additionen aus dem 8. Gebot (Prädestination und göttlicher Wille) bleibt der Meister gerade dadurch in der Rolle des Beraters, daß er die des Richters als menschlich nicht ausfüllbar ablehnt. Dadurch kann er dem Denkmöglichen hypothetisch nachgehen, was wieder auf einen Verbund mit Strukturelementen des Traktates führt.
Feste Urteile in unfesten Textstrukturen
325
Gegenstände längst verlassen.140 Marquard hat den Versuch unternommen, ein Buch zu schreiben, das es unter inhaltlichem Aspekt mit lateinischen Großformen der Exegese und der Normdarstellung aufnehmen kann. Aber ihm (und möglicherweise seinen Redaktoren) schien das Medium Volkssprache offenbar nicht oder noch nicht geeignet für eine deutsche Summa im methodischen Sinn, weil er, wie ich glaube, die Denk- und Leseregeln, die einer solchen Form zugrundeliegen, nicht als seinen Lesern verfügbare pragmatische Universalien unterstellen konnte. Daß er seinem eigenen Ordnungsversuch zugetraut hat, die Textform zu einer neuen Methode zü werden, bezweifle ich. Deshalb verstehe ich Marquards Auslegung, dabei besonders die C-Redaktion, in der Reihe der großen Normenbücher als einen Vorläufer, als einen frühen Versuch wie die von Marlies Hamm und Helgard Ulmschneider vorgestellte deutsche Version der kanonistischen 'Pisanella': 141 Es ist eine Schrift, die das alte Ordnungssystem der scholastischen Vorbilder - der wissenschaftlichen Auslegung, der theologischen und der kanonistischen Summe - in wesentlichen Teilen aufhebt, aber noch nicht konsequent ein neues Buchprinzip schafft.
140
Vgl.
141
HAMM/ULMSCHNEIDER, Ü b e r s e t z u n g s i n t e n t i o n , S .
ROUSE/ROUSE. 61-68.
IV. Beste deutsche Scholastik: Die Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus von Dinkelsbühl 1. Bemerkungen zur Textgrundlage Die Dekalogerklärung nach Nikolaus von Dinkelsbühl liegt in einer diplomatischen Textwiedergabe nach cgm 392, fol. 22r-228r, vor, die Karin Baumann ihrer Studie 'Aberglauben für Laien' beigefügt hat.1 Für den Philologen ist das, obgleich der Text nun leicht erreichbar ist, nicht unbedingt ein Glücksfall, denn der Text ist leider voller zum Teil sinnentstellender Fehler. Eine volkskundliche Arbeit ist freilich mit zwei nebenbei geleisteten umfänglichen Editionen - der zweite von Karin Baumann edierte Text ist die Dekalogerklärung des Hieronymus Posser, die sie allerdings nicht erkannt hat2 - überfordert, und so soll diese Feststellung auch keineswegs ein Vorwurf an die im übrigen materialreiche Arbeit von Baumann sein. Allein, die Aufgabe der Aufbereitung der Texte bleibt bestehen. 3 Sie kann hier, weil
1
2
3
BAUMANN, Bd. 2, S. 497-680. BAUMANN, Bd. 2, S. 681-831. Vgl. HAYER, Posser, S. 210.
Karin BAUMANN stützt sich wesentlich auf MADRE. Er verzeichnet (DERS., S. 174) die Parallelhss. Wien NB 3054 fol. 352r-490, Stockholm Kung. Bibl. A 191 fol. 281r-393r, Vorau 139 fol. 268r-276r (Teilüberlieferung). Die dort S. 174-175 verzeichneten Hss. Wien NB 2828, fol. lr-92v , Vorau 163, fol. 114r-144r enthalten die Dekalogerklärung aus der 'Christenlehre' des Thomas Peuntner, vgl. SCHNELL, Liebhabung, S. 113, S. 111; die Angaben in BAUMANN, Bd. 1, S. 130
(nach MADRE) sind in dieser Hinsicht zu korrigieren. MENHARDT, Eigentum wird von BAUMANN Bd. 1, S. 129 erwähnt, aber ohne die dort angegebenen (bei MADRE fehlenden) Textzeugen herauszustellen. Zu den beiden von MENHARDT ebd. S. 18 erwähnten Klosterneuburger Hss. CC1 48 und CC1 49: vgl. HAIDINGER, Kat., II.l, S. 84-86. In der von MENHARDT ebd. als Abschrift des Archetyps erwähnten Nikolaus-Redaktions-Sammlung cgm 248 ist die Dekalogerklärung nicht enthalten. HOHMANN, Redaktor führt noch zwei weitere Hss. mit der Dekalogerklärung auf: Berlin SBPK mgf 1316 fol. 67va-326, Melk Stiftb. 705 fol 367v-416va. Daß die Nikolaus-Sammlung in cgm 1151 auch das dritte Gebot aus cgm 392 enthält (BERG, S. 222), war für BAUMANN offensichtlich wegen der Zentrierung ihres Interesses auf das 1. Gebot zu vernachlässigen; zu dieser Hs. findet sich eine Parallele (die also auch das dritte Gebot nach cgm 392 enthält) in
Bemerkungen zur Textgrundlage
327
diese Arbeit andere als editorische Ziele verfolgt, nicht geleistet werden, ohne den Fehler der Flüchtigkeit zu wiederholen.4 Aus den drei wichtigen Äußerungen von Thomas Hohmann zum Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktor hat Karin Baumann zwar eine5 ins Literaturverzeichnis aufgenommen, aber nicht mit dem Aufsatz von Menhardt über die Predigt über das Eigentum im Kloster6 in Verbindung gebracht, sonst hätte sie wie Menhardt und Hohmann zu dem Schluß kommen müssen, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach einen Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktor gab, der zwei Korpora, nämlich eines von Reihenpredigten (Reue, Beichte und Buße; 8 Seligkeiten; Gottes- und Nächstenliebe; Eigentum im Kloster; zehn Gebote)7 und eines von Jahrespredigten8 bearbeitet hat. Daß der deutsche Text Nikolaus von Dinkelsbühl selbst zuzuweisen sei, nimmt Baumann9 mit Schäffauer10 an; hier ist wohl eher der vorsichtigen Einschätzung von Schnell" zuzustimmen. Hohmann hat die Argumente für einen einheitlichen Redaktor zusammengefaßt: "Folgende Elemente sprechen für den gleichen Redaktor: 1. Beide Sammlungen sind schriftliche Redaktionen. Querverweise machen deutlich, daß sie als Buch verstanden wurden. 2. Nikolaus wird jeweils 'der maister' genannt, was für einen Redaktor spricht.
4
5
Salzburg, Benediktiner-Frauenstift Nonnberg, Ms. 28 D4, vgl. SCHNELL, Liebhabung, S. 101, und eine weitere ebd. Ms. 28 D2, vgl. SCHNELL, Liebhabung, S. 217. BAUMANN verweist Bd. 2, S. 498 auf BERG, S. 204, aber ohne die dort angegebene Parallelüberlieferung zu erwähnen; Melk Stiftsb. 705 in 2°, fol 367va421va, also die auch von HOHMANN, Redaktor, aufgeführte Hs., die BERG noch als 371, olim G33, zitiert. Auch ein Hinweis darauf fehlt, daß Textproben bereits bei MENHARDT, Predigten abgedruckt sind. Sie folgen dem Text der Parallelhs. Wien NB 3054, fol. 352r-490r. Der Liste der lateinischen Hss. der Dekalogerklärung bei MADRE hat E. BAUER, Handschriftenfund, die Hs. Innsbruck UB 51, fol. 2r-69v zugefügt. Andere Ergänzungen (mit einigen Dubia) BLOOMFIELD u.a., Nr. 4049, S. 343f. Wie in SCHNELLS Peuntner-Edition (SCHNELL, Liebhabung) müßte ein hergestellter deutscher Text der lateinischen Fassung gegenübergestellt werden, die konsequenterweise ebenfalls nur aus dem Autograph - und nicht aus dem Frühdruck gewonnen werden dürfte. HOHMANN, Deutsche Texte.
6
MENHARDT, E i g e n t u m .
7
MENHARDT, E i g e n t u m , S. 13.
8
HOHMANN, Deutsche Texte, S. 325. BAUMANN, Bd. 1, S. 128-130, S. 261-264.
9 10
SCHÄFFAUER, S. 5 1 6 - 5 2 6 .
11
SCHNELL, Liebhabung, S. 352-353.
328
Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus von Dinkelsbühl
3. Beide Sammlungen nehmen einige Texte des Wiener Magisters Konrad von Rothenburg mit auf. 4. Passagen, die nicht auf Nikolaus zurückgehen, werden mit Rubrum als 'extra sermonem' gekennzeichnet. 5. Innerhalb des Zyklus der deutschen Jahrespredigten ist eine Predigt der lateinischen Vorlage (Madre 138, Nr. 20) nicht übersetzt. Sie findet sich jedoch als Nr. 1 bei Menhardt (3).'" 2 Der Bearbeiter ist bis heute nicht namentlich zu fassen; es scheint allerdings festzustehen, daß er wohl ein enges Verhältnis zu Nikolaus von Dinkelsbühl hatte, aber nicht mit Thomas Peuntner identifiziert werden darf. 13 Für die Reihenpredigten, zu der die Dekalogauslegung gehört, nimmt Menhardt einen deutschen Archetyp an, den er auf etwa 1414/15 datiert14; Madre hatte die Beendigung der Arbeit des Nikolaus an den lateinischen Texten auf die Zeit nach dem Konstanzer Konzil gelegt.15 Schnell hat aber richtig darauf hingewiesen, daß der primäre Ertrag der Analysen Schäffauers nicht darin bestehe, nunmehr den Nachweis deutscher Predigt für Nikolaus erbracht zu haben, sondern darin, daß die Sammlung der Reihenpredigten auf dem ersten Entwurf der lateinischen Predigten des Nikolaus beruhen, nicht aber auf der überarbeiteten Fassung, wie sie später in den 'Tractatus octo' gedruckt wurde. 16 Für die Dekalogerklärung ist dieses Verhältnis allerdings nicht gesichert, weil sie in cgm 248 (Schäffauers Korpus) nicht enthalten ist. Der Vergleich des deutschen Textes mit dem Autograph des Nikolaus von Dinkelsbühl in Wien NB Cod. 4354 fol. 168r-193v, weist in eine andere Richtung. Auch diesen Zyklus hat Nikolaus von Dinkelsbühl, wie die zahlreichen Randergänzungen und einige Überschreibungen im Grundtext erweisen, offenkundig mindestens einmal vollständig überarbeitet. Die Überarbeitung trägt allerdings ganz anderen Charakter als die des Zyklus über die Gottesund Nächstenliebe. Während dort ganze Passagen getilgt, umgestellt und ersetzt werden,17 handelt es sich bei der Dekalogauslegung im wesentlichen um Ergänzungen. Die deutsche Fassung nutzt diese Erweiterungen; für die analysierten Passagen werde ich deshalb die Stellung auf dem Blatt des
12 13
HOHMANN, maister, S. 360f. Erwägungen zum persönlichen Verhältnis bei MENHARDT, Eigentum, S. 16-18; Abgrenzung von Peuntner bei SCHNELL, Liebhabung, bes. S. 352-353.
14
MENHARDT, E i g e n t u m , S. 3 8 .
15
MADRE, S . 1 2 9 f .
16
SCHNELL, Liebhabung, S. 352 mit Bezug auf die Ausgabe, die Jakob Wimpfeling 1516 auf Wunsch des Herzogs Heinrich von Bayern als Auswahl aus den Werken des Nikolaus veranstaltete (Johann Schott, Straßburg 1516).
17
V g l . SCHNELL, L i e b h a b u n g , S. 3 4 9 .
Bemerkungen zur Textgrundlage
329
Autographs, und das heißt: die Zugehörigkeit zu Grundtext und Erweiterung, jeweils nachweisen. Klar ist jedenfalls, daß der Redaktor in diesem Fall nicht die erste, sondern die überarbeitete Fassung des Nikolaus verwendet. Wenn Schäffauers Ergebnisse richtig sind,18 bedeutet das, daß die deutschen Redaktionen auf unterschiedliche Bearbeitungsstufen der Reihenpredigten zurückgreifen. Für die Chronologie der Textproduktion ist das nur ein relatives Ergebnis. Es besagt zwar, daß der Redaktor unterschiedliche Bearbeitungsstadien der Zyklen benutzen konnte; jedoch ist nur für den jeweiligen ersten Fassungstext ein Nacheinander in der Abfolge des Autographs (also Dekalogerklärung nach Erörterung der Gottes- und Nächstenliebe) gesichert. In welcher Reihenfolge Nikolaus überarbeitet hat, bleibt unsicher. Die zweite Fassung der Predigten zur Gottesliebe hat Nikolaus von Dinkelsbühl nach Schnell im August 1422 in Melk gehalten.19 Menhardt hatte nachgewiesen, daß die Predigt über das Eigentum im Kloster (die in der deutschen Redaktion zu demselben Textverbund gehört wie die Dekalogerklärung) 1414 gehalten worden ist.20 Unterstellt man die Möglichkeit, daß Nikolaus in seinem Arbeitsexemplar mehr nach Bedarf denn nach primärer Abfolge geändert hat, so ergibt sich, falls die Redaktion in einem Zuge erfolgte (das ist allerdings nicht beweisbar) folgende Konstellation: Der Redaktor bekommt die lateinischen Texte an die Hand, als die Dekalogerklärung bereits überarbeitet ist, nicht jedoch der Zyklus über Gottes- und Nächstenliebe, also frühestens 1414 und vor August 1422. Er bearbeitet die Reihenpredigten zuerst. Denn daß in der deutschen Redaktion der Jahrespredigten gegenüber der lateinischen Vorlage eine fehlt, die im Buch der Reihenpredigten sozusagen nachgetragen wurde, scheint mir ein Akt bewußter Redaktion zu sein, der auch ein Licht auf die Vor- und Nachzeitigkeit der beiden Korpora wirft: Die Fastenpredigt paßt thematisch zu Beichte, Buße und Reue und wird vom Redaktor unter diesem inhaltlichen Gesichtspunkt - also dem eines geschlossenen Buches - in den einen Verbund aufgenommen und dafür aus dem anderen, weil schon niedergeschrieben, ausgelassen. Dieser Akt der Wahl erfordert, wenn er so stattgefunden hat, zeitliche Nähe (der Redaktor muß noch wissen, daß er die Fastenpredigt in das andere Buch aufgenommen hat), aber auch ein Nacheinander: das den Reihenpredigten entsprechende Buch zuerst, das den Jahrespredigten entsprechende darauf.
18 19
20
SCHAFFAUER, S. 5 1 6 - 5 2 6 . SCHNELL, Liebhabung, S. 352.
MENHARDT, Eigentum, S. 24-30.
330
Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus von Dinkelsbühl
Die Annahme der Zeit "bald nach 1420"21 hat wohl einige Wahrscheinlichkeit für beide Zyklen. Auf jeden Fall erweist die Umstellung gegenüber den Vorlagen, daß die Menhardtsche Sammlung als ein Buch aufzufassen ist, dessen Gliederungseinheiten zwar auf Predigten zurückgehen, aber ebenso, wie es Wimpfeling in seiner Edition getan hat, als thematisch verbundene Traktate aufgefaßt werden können.22 Im folgenden soll die Dekalogerklärung des Redaktors als selbständiger Text untersucht werden. Insofern ist meine Kapitelüberschrift tatsächlich eine Verneigung vor Wolfgang Stammler, der schon 1953 von "deutscher Scholastik" gesprochen hatte.23 Ich habe keineswegs die Absicht, mit einer Einzeluntersuchung die Ergebnisse von vier Jahrzehnten Prosaforschung wieder in Zweifel zu ziehen und im Widerspruch zu ihnen zu Stammler zurückzukehren.24 Nur scheint mir die generelle Skepsis der Stammlerschen Begriffsprägung gegenüber eines zu verkürzen: die wesentliche Zweisprachigkeit (nicht nur für das Deutsche: Gerson hat auch französisch geschrieben) der ethischen und zunehmend der theologischen Diskussion im späten Mittelalter. Die Mündigkeit der Volkssprache in scholastischen Formen bringt allererst deren Akzeptanz durch die lateinische Wissenschaft hervor. Erst als ihre eigenen Denkformen ihr im fremden Idiom entgegentreten, fühlt diese sich genötigt, sich mit den dort verhandelten Inhalten ernsthaft und nicht nur im Sinne der Abwehr und Zensur auseinanderzusetzen. Der Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktor war, das räume ich gern ein, kein Denker, der nachfolgen-
21 22
HOHMANN, Deutsche Texte, S. 326, zunächst nur für die Jahrespredigten. In welchem Sinne "Traktat" von Wimpfeling verwendet worden ist und ob überhaupt eine Gattungsbezeichnung (und nicht die Bezeichnung einer Behandlungsweise, des modus tractandi) intendiert ist, muß dabei vorläufig offenbleiben. Fest steht aber, daß seine tractatus nicht mit den einzelnen Predigten zusammenfallen, sondern deren thematische Zusammenstellungen betreffen, die Dekalogerklärung ist für ihn also ein Traktat.
23
STAMMLER, Scholastik, S. 1.
24
Der Anspruch, den diese Bezeichnung mitträgt, erschien in den folgenden Jahrzehnten der intensiven Beschäftigung mit religiöser Prosa, die mit Kurt RUHS Buch 'Bonaventura deutsch' von 1956 begonnen und in späteren, von ihm geförderten Arbeiten weitergeführt worden war, in der Tat als überhöht. Georg STEER faßt in einer Art von Zwischenbericht 1970 zusammen: "Kein einziger Text der lateinischen Scholastik wurde, wie wir bisher sahen, in seiner ursprünglichen Gestalt, d.h. in seiner scholastisch-wissenschaftlichen Konzeption, in die deutsche Sprache übernommen; sie alle wurden, entweder vorher oder während ihres Übergangs in die Volkssprache, hinsichtlich ihrer Zweckbestimmung, Darstellungsform und Sprache umfunktioniert." STEER, Scholastikforschung, Τ. 1, S. 219. Als Ausnahme gilt ihm allein das 'Compendium theologicae veritatis' des Hugo Ripelin von Straßburg, mit der Begründung, daß dies eben kein akademisches Lehrbuch, sondern eher ein Handbuch zur Glaubensbelehrung sei, ebd.
Bemerkungen zur Textgrundlage
331
den Jahrhunderten Rätsel aufgibt, aber er hat einen solchen akzeptablen Text geschrieben, und zwar über Gewissen und Gebote.
2. Das natürlich Rechte Die Dekalogerklärung nach Nikolaus von Dinkelsbühl beginnt mit Ausführungen zum Naturrecht: An die gemain gepöt der natürlichen gesecz als sind alles, das gut ist, ist wol zü rümen, aber kain pös nicht ze tün. Nicht tüe einem andern, das dw wild, das man dirs nit tü. Das tü ainem andern, das dw wild, das man dirs tü, vnd ander semlich ding, dije ain yeds mensch, das sein sinn hat, wol erkennen mag von aygner verstäntikaijt. Er wel es dan von aijgner pöshayt nicht versten. Hije suit ir mercken [...]25
Im lateinischen Text heißt der Anfang: Preter precepta legis nature communia ut sunt ilia: omne bonum est faciendum, nullum malum est faciendum; non facias alten quod non vis tibi fieri; hoc facias
25
BAUMANN, Bd. 2, S. 503. Ich verwende den gedruckten Text, um in meinen Aussagen soweit wie möglich überprüfbar zu bleiben. Um dennoch die sinnstörenden Entstellungen nicht in Kauf nehmen zu müssen, stelle ich zu allen im folgenden zitierten Passagen Lesarten zusammen, die durch Vergleich mit Wien NB Cod. 3054, fol. 352r-490r (W) gewonnen worden sind, also der Handschrift, die auch MENHARDT, Predigten benutzt hat. Das unternehme ich noch nicht in textkritischer Absicht, sondern nur zum Zweck der Fehlerbegrenzung, indem ich mich auf diejenigen Stellen beschränke, an denen der Text des cgm 392 sich durch Vergleich mit dem lateinischen Autograph Wien NB Cod. 4354, fol. 168r193v (vgl. MADRE, S. 171) als offensichtlich dem Sinn nach fehlerhaft erweist. Im Rahmen eines Augsburger Forschungsprojektes zur Wiener Schule stellt Ulla Williams gegenwärtig eine Probekollation der deutschen Nikolausüberlieferung her. Es ist möglich, daß deren Ergebnisse es zukünftig erfordern werden, von einer anderen als der Wiener Handschrift als der textkritisch wertvollsten auszugehen. Im Moment steht die Entscheidung für eine potentielle Leithandschrift noch nicht fest. Ich danke Frau Williams herzlich für diese Information. Die Zählung in Zeilen, die meine Korrekturvorschläge dem edierten Text zuordnen sollen, richtet sich nach der Ausgabe von BAUMANN. Für den Prolog ließe sich nach der Korrekturhandschrift folgendermaßen bessern: 3 land] lewt W; 50 ist] sy W, geprachen] zebrochen W\ 97 er cze einander vor] er das zu ainer vorred W; 139 vnmäslich] vnmäslichen wirdig W; 152 31] 37 W; 224 sich also sterkent] so sy also sterbent W; 318 vnd got] von got W. Bei der Interpretation gebesserter Stellen verwende ich hier und im weiteren kommentarlos den emendierten Text.
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Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus von Dinkelsbühl
alte ή quod tibi vis fieri etc huiusmodi ex se evidentia eo quod sunt cuilibet homini terminos intelligenti et non specialiter depravato nota in lumine naturali et ex quibus omnia alia precepta moralia deducibilia sunt per modum conclusionum; preter illa inquam sunt adhuc triplicia precepta divina moralia. Prima sunt illa duo principalia et maxima precepta scilicet de diligendo deo super omnia et de diligendo proximo propter deum, in quibus omnia alia precepta divina particularia continentur et in eorum implecione implentur vt in superioribus declaravi. Alia sunt precepta decalogi [...] Adhuc sunt tercia precepta divina sparsim in sacra scriptura posita [...]26
In der kurzen Passage des deutschen Textes ist in äußerster Verknappung eine Naturrechtslehre enthalten, die sich im wesentlichen an Thomas orientiert: Das Naturrecht kann kurz gefaßt werden in der Formel, das Gute zu tun und das Böse zu lassen, und dieses Naturrecht wird den Verstandeskräften zugeordnet, denn es wirkt in jedem, das sein sinn hat und die Gesetze dadurch wol erkennen mag von aygner verstäntikaijt: Wen nicht aijgen pöshayt hindert, dem sind die sittlichen Prinzipien des Naturrechts unmittelbar einsichtig.
26
Wien NB Cod. 4354, fol. 168r-193v (Autograph, vgl. MADRE, S. 171), hier fol. 168r. Zum Vergleich zur Lehre des Dekalogtraktats biete ich eine kurze Zusammenfassung dessen, was im Sentenzenkommentar des Nikolaus (Buch III, dist. 37) steht, nach der Hs. Wien Schottenstift Cod. 201/170 (zur Wahl dieser Hs. MADRE, S. 88), fol. 291v-292r: Auf die Frage vtrum omnis preceptorum decalogi obligatio sit de lege nature werden vier Argumente für ein Nein vorgetragen: 1.: Der Dekalog ist ein göttliches Gesetz, das Naturgesetz nicht; 2.: Alle Naturgesetze werden natürlich erkannt; das Gebot Non concupisces kann aber nicht natürlich erkannt werden, folglich ist der Dekalog kein Naturgesetz; 3.: Jede Todsünde verstößt gegen ein moralisches Gebot. Falls alle moralischen Gebote naturrechtlich verankert wären, würde jede Todsünde zugleich eine Sünde gegen die Natur sein, was offensichtlich falsch ist; 4.: Die Akte der übernatürlichen Tugenden sind nicht naturgesetzlich. Nun ist den Glauben zu bekennen ein solcher Alrt, fällt aber gleichzeitig unter dem Gesichtspunkt der Heilsnotwendigkeit unter die moralischen Gesetze. Als Argumente für die Übereinstimmung von Dekalog und Naturrecht werden aufgestellt: 1. Naturrecht ist das, was in Gesetz und Evangelium übereinstimmt, was offensichtlich auf den Dekalog zutrifft; 2. Das Naturgesetz ist ein Diktat der praktischen Vernunft, ihr lumen naturale, das als participatio legis aeternae eingegossen wird. Die vier conclusiones sind: 1. Decern mandata decalogi que omnia sunt moralia quare ad mores ordinata ad legem pertinent nature quod patet quia aliqua sunt principia practica ex se euidentia intellectui in suo naturali lumine ex quibus omnia precepta decalogi sunt per modum conclusionum deducibilia etiam in naturali lumine [...] (fol. 133v); 2.: obligatio mandatorum decalogi radicaliter sequitur legem nature licet quantum ad explicationem sequitur legem scripture; 3.: Precepta cerimonialia et iudicialia non ut moralia pertinent ad legem nature [...] non enim istum modum colendi secuntur per modum conclusionum ex primis principiis [...]; 4. : Omnia moralia in lege precepta reducuntur ad hec decern decalogi et ad duo principalia [...] (fol. 134r).
Das natürlich Rechte
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Aijgeti pöshayt ist eine ambivalente Bezeichnung; sie kann ebenso die Defizienz der menschlichen Natur im physischen Sinne bedeuten wie die absichtsvolle Beharrung auf dem Bösen im moralischen Sinne. Aber moralische Disqualifikation kann die Evidenz von Prinzipien nicht außer Kraft setzen; so wäre vom Standpunkt des Thomas, der hier bemüht wird, die Fehlerhaftigkeit aller natürlichen Geschöpfe zu unterstellen.27 So eindeutig ist der deutsche Text jedoch nicht; wollte man ihn in gewünschter Deutlichkeit auf Thomas verpflichten, so sollte das Verb eher mugen lauten. Es heißt aber: Er wel es dan von aijgner pöshayt nicht versten. Wenn aber Er wel tatsächlich auf das Wollen als Seelenpotenz bezogen ist, dann unterstellt die Einräumung, daß der Wille in der Lage ist, die Erkenntnis des Verstandes hinsichtlich der Einsicht in das natürlich Rechte zu blockieren. Das legt die Vermutung nahe, daß die strenge Ausrichtung auf Thomas zugunsten der Höherwertung des Willens in der franziskanischen Tradition (zum Beispiel bei Bonaventura) verlassen wird. Denn wenn die Erkenntnis der ratio gewollt oder nicht gewollt werden kann, dann sieht es zunächst so aus, als besitze der Wille eine Art Vetorecht, der sich aus seinem natürlichen Vorrang (denn es ist bei Bonaventura der natürliche Wille, der das Gute anstrebt) herleitet, und die ratio könne ihre dienende Funktion, das Einzelgut als Gut vorzustellen, nur erfüllen, wenn der Wille es ihr gestattet und sie zur Beraterin aufruft. Um diesen Anschein zu bestätigen oder als falsch zu widerlegen, ist es zunächst nötig, den Befund im deutschen Text nochmals klar zu benennen. Den Kontext bildet die übergeordnete Feststellung, jeder Mensch sei durch eigene Verstandeskräfte grundsätzlich in der Lage, die gemain gepöt der natürlichen gesecz zu erkennen. Die Einräumung enthält die Leitwörter wollen (Er wel es dan), erkennen (nicht versten) und den Grund von aigner pöshayt. Der Kern ist also, daß jemand etwas nicht verstehen will; und dieses Problem wird in beiden Traditionen nicht auf der Ebene der höchsten Präferenzen abgehandelt; bei Thomas
27
Vgl. S.th. I-II q. 94, a. 4 co.: Sic igitur dicendum est quod lex naturae, quantum ad prima principia communia, est eadem apud omnes et secundum rectitudinem et secundum notitiam. Sed quantum ad quaedam propria, quae sunt quasi conclusions principiorum communium, est eadem apud omnes ut in pluribus et secundum rectitudinem, et secundum notitiam: sed ut in paucioribus potest deficere et quantum ad rectitudinem, propter aliqua particularia impedimenta (sicut etiam naturae generabiles et corruptibiles deficiunt ut in paucioribus, propter impedimenta), et etiam quantum ad notitiam; et hoc propter hoc quod aliqui habent depravatam rationem ex passione, seu ex mala consuetudine, seu ex mala habitudine naturae [...].
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Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus von Dinkelsbühl
als die Spezialfrage der ignorantia voluntaria.28 Die Problemverschiebung zu dieser Spezialfrage hin besteht darin, daß die Erkenntnis nicht wegen ihres Objektes oder wegen einer ihr entgegenstehenden Seelenanlage {habitus oder potentia) grundsätzlich unmöglich ist, sondern in actu verhindert wird. Bei Thomas heißt es dazu S.th. I-II qu. 6 art. 8 co.: Consequenter autem se habet ignorantia ad voluntatem, inquantum ipsa ignorantia est voluntaria. Et hoc contingit dupliciter [...] Uno modo, quia actus voluntatis fertur in ignorantiam; sicut cum aliquis ignorare vult ut excusationem peccati habeat, vel ut non retrahatur a peccando [...] Alio modo dicitur ignorantia voluntaria eius quod quis potest scire et debet: sic enim non agere et non ν eile voluntarium dicitur [... ] Hoc igitur modo dicitur ignorantia, sive cum aliquis actu non considerat quod considerare potest et debet, quae est ignorantia malae electionis, vel ex passione vel ex habitu proveniens: sive cum aliquis notitiam quam debet habere, non curat acquirere; et secundum hunc modum, ignorantia universalium iuris, quae quis scire tenetur, voluntaria dicitur, quasi per negligentiam proveniens.19
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Wann Unwissen entschuldigt und wann es als willentlicher Widerstand gegen evidente Normen aufzufassen sei, ist auch für andere große Zusammenstellungen von Normwissen ein Problem; Ausführungen dazu gibt es sowohl in der 'Rechtssumme' als auch im bäch der tugenden. Berufung auf Thomas gehört in dieser Frage offensichtlich zum Üblichen. Zum Vergleich die oben interpretierte Stelle der RECHTSSUMME, Edition, Redakt. Β, I 9, Bd. 3, S. 322-326, Sp. 1: Wa von irretam den lauten chomm, nach der Vorlage Johannes von Freiburg, Ausgabe Bd. 6, S. 414-415, Summa Confessorum, III, 32, qu. 16, der sich auf Thomas beruft. Dazu der entsprechende Text aus dem bäch der tugenden, BERO/KASPER, Bd. 1, S. 94, nach Thomas S.th. II-II q. 46, a. 2c, a. 3 co., a. 6 co. (vgl. ebd.): Ob torheit sünde si. Der mensche ist vnderwilen torecht von gebresten der nature, als tobige l&te sint, solich torheit ist nüt sunde, wan enkein sünde kumet von nature, wan mit natürlichen werken engedienet noch verlüret der mensche kein Ion. Ein ander torheit ist, so der mensche von rechter torheil, nüt von gebresten der nature sinen sin senket in zergengliche din gentzlich. Wan von solichem besbphenne des sinnes in zergengliche ding so wirt des menschen sin als vnbereit zu emphahenne gbtliche ding [...] vnd solich torheit ist sünde [...]. Übersetzung: 'Folgerichtig steht die Unwissenheit insofern in Beziehung zum Willen, als die Unwissenheit willentlich ist. Das geschieht auf zweierlei Weise. Erstens, indem der Willensakt in Unwissenheit umschlägt: zum Beispiel, wenn jemand etwas nicht wissen will, um eine Entschuldigung für die Sünde zu haben, oder um nicht vom Sündigen zurückgehalten zu werden. Zweitens heißt die Unwissenheit darüber, was jemand wissen kann und muß, willentlich. Auf diese Weise werden nämlich Nicht-Handeln und Nicht-Wollen als willentlich bezeichnet. In diesem Sinne spricht man also von Unwissenheit, wenn jemand augenblicklich nicht bedenkt, was er bedenken kann und muß. Das ist eine Unwissenheit, die aus einer falschen Wahl herrührt, oder die aus einer Leidenschaft oder Gewohnheit hervorgeht. Man spricht von Unwissenheit in diesem Sinne auch,
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Bei Bonaventura wird das Problem durch gegenteilige Voraussetzungen auf die Ebene des Umganges mit natürlich immer Erkanntem verlagert; er erklärt im Kommentar zu II Sent. dist. 39, art. 1 qu. 2: Sed hoc attendendum est praecipue; quia, sicut inter cognoscibilia quaedam sunt valde evidentia, sicut dignitates et prima principia; quaedam sunt minus evidentia, sicut conclusiones particulares; sie et in operabilibus quaedam sunt maxime evidentia, utpote illud 'quod tibi non vis fieri, alii non feceris', et quod Deo obtemperandum est, et consimilia. Quemadmodum igitur cognitio^ primorum prineipiorum ratione illius luminis dicitur esse nobis innata, quia lumen illud sufficit ad ilia cognoscenda, post reeeptionem specierum, sine aliqua persuasione superaddita, propter sui evidentiam: sie et primorum prineipiorum moralium cognitio nobis innata est, pro eo quod iudicatorium illud sufficit ad illa cognoscenda.30 Die conscientia kann also in einem ihrer Teile, nämlich insofern sie in Bezug auf die ersten Prinzipien innata ist, nicht irren; da aber der Wille seinerseits auch durch die synderesis zum Guten geneigt ist, kann nur der deliberative Wille, der auch das Böse anstreben kann, die Erkenntnis der sittlichen Prinzipien verhindern, aber ebenfalls - wie bei Thomas - nicht per se, sondern nur in actu. Dieser Fall wird aber bezeichnenderweise bei Bonaventura nicht im Kontext von Naturrecht und synderesis erörtert. Er bliebe auch folgenlos, sofern er nicht vom (deliberativen) Willen zur bösen Tat begleitet wird, denn die falsche conscientia bindet nicht gegen das Gesetz Gottes, sondern verpflichtet dazu, sie aufzugeben. 31
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wenn sich jemand nicht befleißigt, eine Kenntnis, die er haben muß, zu erwerben. Dieser Verständnisweise gemäß nennt man die Unkenntnis der Allgemeinbegriffe des Rechts, die zu kennen jeder verpflichtet ist, willentlich, weil sie sich gewissermaßen aus Geringschätzung ergibt.' Quaracchi II, S. 903. Übersetzung: 'Dies aber ist besonders zu beachten. Denn wie im Bereich des Erkennbaren manches völlig einsichtig ist, wie zum Beispiel die Axiome und ersten Grundsätze, und manches weniger einsichtig, wie die Teilschlüsse, so ist auch im Bereich dessen, was man tut, manches besonders einsichtig, wie ζ. B. 'Was du nicht willst, daß man dir's tu, das füg auch keinem andern zu' und die Tatsache, daß man Gott gehorchen muß, und ähnliches. Von der Erkenntnis der ersten Grundsätze heißt es, sie sei uns auf Grund jenes Lichtes angeboren, weil jenes Licht genügt, um diese Dinge zu erkennen, nachdem man die Gedankenbilder davon empfangen hat. Dazu ist keine zusätzliche Überredung nötig, weil diese Grundsätze einsichtig sind. Ebenso ist uns auch die Erkenntnis der ersten Grundsätze der Moral angeboren, weil jenes Urteilsvermögen ausreicht, um sie zu erkennen.' Vgl. In II Sent 39,1,3, Quaracchi II, S. 905-908.
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Für die deutsche Übersetzung nach Nikolaus von Dinkelsbühl heißt das: Hier wird eine Formulierung gebraucht, die prinzipiell schulübergreifend gelesen werden kann, obgleich sie sich treu an die Erwägungen hält, die Thomas im Umkreis von Naturrecht und sittlichen Prinzipien anstellt. Die Einbindung der Naturrechtsproblematik in die Abhandlung der Gebote geschieht bei Nikolaus von Dinkelsbühl reihend, nach dem Vorbild des Thomas, der die verschiedenen Arten der lex in der Summa theologiae I-II nacheinander erörtert und die lex vetus nach der lex aterna und der lex naturalis behandelt. Für Nikolaus ist die Erwähnung der natürlichen lex in diesem Zusammenhang offensichtlich logisch unverzichtbar, da es ihm aber um den Dekalog geht, verwendet er eine auf die Typologie der Gebote zielende Formulierung: Preter precepta legis nature communia ut sunt ilia: omne bonum est faciendum, nullum malum est faciendum; Non facias alten quod non vis tibi fieri; hoc facias alten quod tibi vis fieri [...] preter illa inquam sunt adhuc triplicia precepta divina moralia. Prima sunt ilia duo principalia et maxima precepta scilicet de diligendo Deo super omnia et diligendo proximo propter Deum [...] Alia sunt precepta decalogi [...] Adhuc sunt terciaprecepta divina sparsim in sacra scriptum posita,32
In der deutschen Übersetzung wird die mit Preter precepta legis nature eingeleitete ausladende Adverbialbestimmung syntaktisch analog übersetzt: An die gemain gepöt der natürlichen gesecz als sind alles, riimen, aber kain pös nicht ze tun. Nicht tue einem andern, dirs nit tu. Das tü ainem andern, das dw wild, das man dirs ding, dije ain yeds mensch, das sein sinn hat, wol erkennen stäntikaijt. Er wel es dan von aijgner pöshayt nicht versten. Es waren dreyerlaij pöt, die got der herr gab dem judischen sen.n
das gut ist, ist wol zü das dw wild, das man tü, vnd ander semlich mag von aygner verHije suit ir mercken: volck durch den Möy-
Die Typologie der Gesetze fallt damit an dieser Stelle aus der Übersetzung heraus. Der Beginn des neuen Gedankens mit Hije suit ir mercken, der syntaktisch nach dem Vorbild der Vorlage den oben begonnenen Hauptsatz fortsetzen müßte, erleichtert die im deutschen Text neugeknüpfte Verbindimg: die Gegenüberstellung von Naturrecht und den verschiedenen Arten von Vorschriften im Dekalog (die bei Nikolaus erst im Anschluß behandelt werden); im Hinblick auf die Vorlage ist das eine zugleich vorgreifende und vereinfa-
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chende Zuordnung, die die Typologie der Gesetze ausspart. Eigentümlicherweise holt die Übersetzung jedoch zwei Blätter später die Erklärung der grundlegenden Typologie von Geboten nach: An dij daigen yecz genanten pöt sind noch triualtige gotliche pot. Dije ersten sind dij daigen vodristen vnd grossisten zwaij pöt: Hab got lieb vber all ding vnd hab lieb deinen nächsten durch gots willen [...] Dij andern pot sind "precepta decalogi" [...] Noch sind dij dritten gottlichen pöt die ainczigen in der heijligen geschafft geseczt sind.M
Das ist genau der Teil des ersten Satzgefüges und logischen Bogens aus dem lateinischen Text, der zunächst in der Übersetzung ausgelassen wurde. Damit wird aber eine bedeutende inhaltliche Verschiebung vorgenommen: Nach Nikolaus von Dinkelsbühl gibt es mit Thomas neben dem Naturrecht die göttlichen Gebote, unter denen das Doppelgebot der Liebe das höchste ist, der Dekalog in seinen moralischen Vorschriften ebenfalls bindet und die verstreuten biblischen Anweisungen eine ergänzende Rolle spielen. Nach der Übersetzung gibt es nun neben dem Naturrecht moralische, Zeremonialvorschriften und juridische Vorschriften, wovon nur die moralischen dem Dekalog zugeordnet werden. Das ist aber gerade die Untergliederung der lex vetus nach Thomas, und darauf zielt auch die Ankündigung Hije suit ir
mercken: Es waren dreyerlaij pöt, die got der herr gab dem judischen volck. Die Typologie der Gesetze heißt also nach der Übersetzung verkürzt: Neben den Gesetzen des Naturrechts gibt es die Vorschriften des Alten Testaments; neben diesen gibt es das Doppelgebot der Liebe, die Vorschriften des Dekalogs und Einzelvorschriften. Dieser zweite Block kann kaum anders denn als Zusammenfassung neutestamentlicher Gesetzlichkeit aufgefaßt werden; daß der Dekalog hier nach Ex 20 zitiert wird,33 ist mit dem Rückverweis in der Bergpredigt gut begründet. Dazu paßt, daß die Erörterungen, die zwischen der ersten und zweiten Stelle über die Arten von Geboten liegen, dem Grad der Verbindlichkeit alttestamentlicher Vorschriften für Christen gewidmet sind: Dije andern poten waren oder hyessen 'cerimonialia'. Das waren dye pot, wije man sich mit äusseren dingen soll halten jn dem gottes dinst [...] Vnd wer yeczunder solichs tat, der sundet daran. [...] Dij dritten pöt hyessen 'judicalia', als dij pöt, wie man richten soll. Dy sijnd auch ab, wann sy waren nur gegeben dem
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Dij andern pot sind 'precepta decalogidas ist die pöt, die der herr hat gewen dem judischen volk auff dem perg Sinay durch den Moijsen in zwain stainen tafelen geschriben Exodi 20 capitulo. BAUMANN, Bd. 2, S. 505.
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jüdischen volck, das da cklain was gegen den anderen lewten vnd anderen hinten?6
Das inhaltliche Verhältnis von Vorlage und Übersetzung bezüglich der Typologie der Gebote gestaltet sich also so: Nikolaus von Dinkelsbühl unterscheidet Naturrecht und biblische Gebote (Dekalog und Einzelanweisungen); der deutsche Text zunächst Naturrecht und Gebote des Alten Testaments, um anschließend die für Christen relevanten Gebote (darunter auch den Dekalog) noch einmal gesondert zusammenzustellen. Er geht also in der Feinheit seiner Untergliederung über Nikolaus hinaus, und zwar nicht nur im Sinne weiterer Explikation, sondern im Sinne der Erweiterung der Unterscheidungen um solche, wie sie bei Thomas in der Summa I-II anzutreffen sind: Zwar wird die dort behandelte lex aeterno (wie auch bei Nikolaus) ausgespart, aber lex naturalis, lex vetus und lex nova sind getrennt aufgeführt. Thomas hatte als
qu. 103 De duratione praeceptorum caeremonialium gehandelt37 und qu. 104 art. III untersucht, Utrum praecepta iudicialia veteris legis perpetuam obligationem habeant;38 auch dazu finden sich bündige Aussagen in dem deutschen Text, die bei Nikolaus fehlen; sie passen zwar zur Richtung der Ausfuhrungen des Thomas, sind aber dort nicht wörtlich nachzuweisen. Die zweite Gebotsunterscheidung entspricht dem, was Thomas als Fortsetzung der lex vetus in der lex nova thematisiert; aber auch wenn der deutsche Text auf Nikolaus und vermutlich auch auf Thomas baut, wird es wenig Sinn haben, gerade diese Auffassung theologisch orten zu wollen: Sie ist Gemeingut zu vieler Abhandlungen über den Dekalog, um zur Erhellung von Quellenbeziehungen zu taugen. Nichtsdestoweniger ist sie, wenn sie an jener zweiten Stelle allererst eingeführt wird, schon systematisch verankert, und der Leser respektive Hörer weiß bereits, daß die Prinzipien sittlichen Handelns auch im Naturrecht verankert sind und daß der Dekalog unter dem Gesichtspunkt der precepta moralia aus der lex vetus in die lex nova hineinreicht. Offen bleibt noch, in welcher Beziehung das Naturrecht zu den Vorschriften des Dekalogs steht. Da der Begriff der lex naturalis aber bereits eingeführt und erklärt ist, ergibt sich gleichsam die Aufgabe zur weiteren Explikation, wenn die Mitübersetzung des lateinischen Anfangs nicht ein der Vorlage geschuldetes blindes Motiv bleiben soll. Im lateinischen Text wird der Gedanke des Naturrechts wiederaufgegriffen und mit dem der Gebote verknüpft:
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Leonina Bd. VII, S. 252-257. Leonina Bd. VII, S. 259-260.
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Tercio nos mouere debet etiam divinorum preceptorum rationabilitas. Ipse enim dominus precipiens est infinite sapiens et ideo nichil precipit nisi quod est rationabilissimum. Propter quod dicitur Ro 7 "Mandatum sanctum iustum et bonum". Ymmo dominus deus instituendo decalogum aut alia moralia precepta dando non precipit nisi ad que alias obligati fiiimus de lege nature et ex dictamine nostre rationis naturalis dictantis talia facienda esse ut declarant doctores in 3 dist. 37. Et quamvis talia precepta sint naturaliter inscripta cordibus hominum expediebat tarnen ea a domino populo mandare et in scripto per modum preceptoris redigere ut quilibet ea facilius nosceret et nullus se per ignorantiam posset aliqualiter excusare saltem adultus et compos rationis et etiam ut ea cognoscentes ad bonum non solum natura inclinaret sed etiam impelleret coactio legis.39 Im deutschen Texte heißt die Stelle: Zu dem dritten mal sol vns dar zü vben, das die pot gots sind gerecht, ordenleich, pillich vnd vernüftiglich aufgeseczt. Wann er der herr, der sewpewt, ist vnmäslich weijs vnd darvmb so gepewt er vns nichts, nur das da vernüftig ist, gerecht vnd pillich. Durch der willen spricht sand Pauls ad Romanos septimo: "Die pöt gots die sind gerecht, heijlig vnd gilt." Halt der weijs almachtig got, do er aufsaczt die czehen pöt oder halt dij andern pöt der siten gab. Da hat er nichts poten denn dije ding, zu dem wir säst schuldig waren von naturlicher gesecz wegen vnd dij recht natürlich vernüfft vns erweijst, das sij ze tun sein. Als da von schreijbent dij lerär jn dem dritten püch summarum distinccio 31 Vnd wie wol solich pot sind naturlich oder von natur geschriben jn den herczen der menschen, das ist wie wol wir die pot von verstantikaijt rechter vernüfft schuldig sein zu behalten. Denn noch hat vns got der herr gepoten vnd geschribens gegeben, das ain yder mensch die pot leicht erkent vnd wir die pot dester mer pflichtig wären ze behalten, vnd sich kain mensch da von mit vnweijshayt nicht mocht entschuldigen oder aus gereden, der zu seinen beschaijden jaren kamen war vnd zu seiner rechten vernüfft. Vnd auch das wir sy erkennen, das vns dij natür nicht allain dar zu naiget, sünder das vns dar czü trib die twingnüs des gesecz-40 Das ist im wesentlichen eine treue Übersetzung; sie behauptet mit ihrer Vorlage, daß die Vorschriften des Dekalogs - und andere göttlich eingesetzte moralische Vorschriften - mit dem Naturrecht zusammenfallen und daß jene ersten Prinzipien sittlichen Handelns dem Herzen des Menschen eingeschrieben sind. Mit der Formulierung cordibus inscripta bzw. geschriben jn den herczen wird eine begriffliche Festlegung darauf, welchem Seelenvermögen die natürliche Gabe zukomme, zunächst vermieden. Wenn hier auf Augustins
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Wien NB Cod. 4354 (Autograph), fol. 168r. BAUMANN, Bd. 2, S. 507 .jn der herczen für jn den herczen Z. 153 halte ich für einen Druckfehler.
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Formulierung angespielt wird, der die lex dei als in animas transscripta aufgefaßt hatte,41 so setzt sich diese metaphorische Redeweise nach Paulinischem Vorbild selbst in begrifflich hochdifferenzierten ethischen Systemen etwa bei Thomas - fort, 42 auch wenn sie dort von eindeutigen Zuordnungen in Kategorien aristotelischer Ethik ergänzt wird. 43 Nun hat der Übersetzer der offenen Formulierung des Nikolaus eine Erklärung hinzugefügt, die in der Vorlage nicht enthalten ist: Vnd wie wol solich pot sind naturlich oder von natur geschriben jn den herczen der menschen, das ist wie wol wir die pot von verstantikaijt rechter vernüfft schuldig sein zu behalten [...].
Ein Versuch der Rückübersetzung in lateinische Terminologie wäre gewagt; aber wenn man dennoch verstehen will, was hier gemeint ist, hilft nur eine Orientierung an den klar übersetzenden Stellen und damit mittelbar doch an der lateinischen Terminologie weiter.44 De lege nature et ex dictamine nostre rationis naturalis heißt in der Übersetzung von naturlicher gesecz wegen vnd dij recht natürlich vernüfft vns erweijst, das sij ze tun sein·, so ist es wahrscheinlich, daß auch in dem erklärenden Zusatz das ist wie wol wir die pot von verstantikaijt rechter vernüfft schuldig sein ze behalten, der das Eingeschriebensein der grundlegenden Normen in das Herz paraphrasiert, vernüfft auf ratio als Vermögen zielt. Daneben erscheint der zu seinen beschaijden
Die Augustinische Auffassung vom eingeschriebenen Gesetz lehnt sich an Ro 2,14 an und ist von der stoischen Ethik beeinflußt. Herleitung des Gedankens bei STELZENBERGER, Stoa, S. 95-157; die Belegstellen aus Augustin sind zusammengestellt ebd., S. 140, Anm. 195 - Anm. 198. S.th. I-II q. 94, a. 5 ad 1: lex scripta dicitur esse data ad correctionem legis naturae, vel quia per legem scriptam suppletum est quod legi naturae deerat: vel quia lex naturae in aliquorum cordibus quantum ad aliqua, corrupta erat intantum ut existimarent esse bona quae naturaliter sunt mala; et talis corruptio correctione indigebat. Die Titelfrage zu ebd. a. 6 heißt: JJtrum lex naturae possit a corde hominis aboleri. S.th. I-II q. 94, a. 3 c o . : Inclinatur autem unumquodque naturaliter ad operationem sibi convenientem secundum suam formam, sicut ignis ad calefaciendum. Unde cum anima rationalis sit propria forma hominis, naturalis inclinatio inest cuilibet homini ad hoc quod agat secundum rationem. Der Text der 'Rechtssumme' nimmt in den Ausführungen über dasjenige, was ein Laie wissen muß, mittelbar Bezug auf Thomas. Die besondere Anbindung an Verstandesvermögen wie in dem Text nach Nikolaus von Dinkelsbühl wird aber vermieden. Rechtssumme, Edition, L 6, Bd. 3, S. 1540, und Bd. 6, S. 499, nach Summa Johannis III, 32, q. 17. Text vgl. oben in Teil I, Kap. V.3. Auch in diesem Fall wird der deutsche Text von der Quelle nicht völlig abgedeckt.
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jaren kamen war vnd zu seiner rechten vernüfft als Übersetzung von saltem adultus et compos rationis.45 Das bedeutet, wenn ich es recht verstehe, daß ratio für den Übersetzer ein Verstandesvermögen ist, das in sittlichen Entscheidungen nicht nur zu richtigen oder falschen Resultaten führt, sondern selbst richtig oder korrumpiert und schlecht ist. Das läßt mich an Bonaventuras conscientia recta denken, denn bei Bonaventura urteilt eine richtige oder eine falsche Vernunft über Sittliches: Ein verständiges Vermögen, dem nicht zugebilligt wird, seine Fehlleistungen vernünftig korrigieren zu können, ist nicht trotzdem'gut, auch wenn es irrt, sondern ist dann schlecht. Unreflektierten Gebrauch und eine gewisse Willkür zu unterstellen fällt schwer, wenn man sich vor Augen führt, wie der Übersetzer durch eigene Quellenkenntnis die Typologie der Gesetze erweitert und erläutert hat. Deshalb scheint mir, daß der Übersetzer an die Erklärung des Naturrechtsgedankens eine Erläuterung anschließt, die auf das Lehrsystem des Bonaventura hinweist, aber ohne vordergründige Konfrontation, sondern unter Betonung dessen, was in beiden Lehrsystemen, dem des Thomas wie dem des Bonaventura, gilt; und dieses Bestreben nach Harmonisierung speist sich kaum aus dem alleinigen Wissen um das Gemeinsame, sondern eher aus dem Bewußtsein der Unterschiede. Die Stelle legt nahe zu folgern, daß der Redaktor an seine Übertragung zwei Forderungen gerichtet hat: daß die Rückübersetzbarkeit in scholastische Terminologie gewahrt bleibt, die Übersetzung also den Fachmann die zugehörigen Autoritäten und Stellen leicht assoziieren läßt, und daß die deutsche Wiedergabe so präzis wie möglich den theologischen Sachverhalt an der Grenze des schulübergreifend Gemeinsamen beschreibt, dem Nichtfachmann also gesicherte, aber noch im wissenschaftlichen Sinn theologische Wahrheit vermittelt.
3. Normative Ethik als Auslegungsethik Der deutsche Text nach Nikolaus von Dinkelsbühl enthält, wie oben bereits dargelegt, in seiner Einführung des natürlichen Sittengesetzes am Textanfang die Einräumung dije ain yeds mensch, das sein sinn hat, wol erkennen mag von aygner kaijt. Er wel es dan von aijgner pöshaijt nicht ν ersten.4,6
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Der Gedanke, daß ein Gesetz aber auch ausgelegt und verstanden werden müsse, um seinen Zweck der Handlungsnormierung erfüllen zu können, kehrt nun in der Einleitung noch zweimal wieder; das erste Mal zielt die Erwähnung auf das Verhältnis von natürlichem und geschriebenem Gesetz, das zweite Mal allein auf den Dekalog. Die erste dieser beiden Stellen schließt unmittelbar an die oben analysierte über verstantikayt rechter vernüfft an. Sie lautet im Zusammhang: Vnd wie wol solich pot sind naturlich oder von natur geschähen jn den herczen der menschen, das ist wie wol wir die pot von verstantikaijt rechter vernüfft schuldig sein ze behalten. Denn noch hat vns das got der herr gepoten vnd geschribens gegeben, das ain yder mensch die pot leicht erkent vnd wir die pot dester mer pflichtig wären ze behalten, vnd sich kain mensch da von mit vnweijshayt nicht mocht entschuldigen oder aus gereden, der zu seinen beschaijden jaren komen wär vnd zu seiner rechten vernüfft. Vnd auch das wir sy erkennen, das vns dij natür nicht allain dar zu naiget, sünder das vns dar czü trib die twingnüs des gesecz,47
Hier nochmals die Stelle aus dem lateinischen Text: Et quamvis talia precepta sint naturaliter inscripta cordibus hominum expediebat tarnen ea a domino populo mandare et in scripto per modum preceptoris redigere ut quilibet ea facilius nosceret et nullus se per ignorantiam posset aliqualiter excusare saltem adultus et compos rationis et etiam ut ea cognoscentes ad bonum non solum natura inclinaret sed etiam impelleret coactio legis.4*
Gegenstand der Erörterung bleibt in diesem ganzen Satz des lateinischen Textes das natürliche Sittengesetz und seine Eigenschaft, zum Guten hin auszurichten; der Dekalog wird von diesem aus als eine Hilfe dargestellt. Der Zusatz vnd wir die pot dester mer pflichtig wären ze behalten hat in der Vorlage keine direkte Entsprechung, und es ist grammatisch nicht klar, ob er sich noch auf die Gebote des natürlichen oder schon auf die des geschriebenen Gesetzes bezieht; offensichtlich soll die Unterscheidung an dieser Stelle schon nicht mehr getroffen werden, obwohl sie Nikolaus hier noch durchhält. Den Zweck der Unterstützung der inneren Schrift (cordibus inscripta) durch äußere (per modum preceptoris redigere) gibt Nikolaus an als ut quilibet ea facilius nosceret et nullus per ignorantiam se posset excusare; hier zielt ea noch auf die Gebote des natürlichen Sittengesetzes. Erst die Fortsetzung des Finalsatzes bringt die Übereinstimmung beider Gesetze unter dem Gesichtspunkt des Guten vor: et etiam ut ea cognoscentes ad bonum non solum natura
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inclinaret sed etiam impelleret coactio legis. Das Gute kommt aber im Deutschen nicht mehr vor, es ist durch ein dar zu ersetzt, das man nur auf die Erkenntnis und Befolgung der (natürlichen und göttlichen) Gebote beziehen kann. Erkenntnis und Befolgung waren aber schon in dem vorhergegangenen Satz (das ist wie wol wir die pot von verstantikaijt rechter vernüfft schuldig sein ze behalten) in eins gesetzt worden, und nun heißt es in der hier untersuchten Passage - wiederum mit einem nicht der Vorlage entstammenden Zusatz - das ain yder mensch die pot leicht erkent vnd wir die pot dester mer pflichtig wären ze behalten. Deutscher und lateinischer Text gleicheö einander also in dieser Passage darin, daß sittliches Naturgesetz und Inhalt der Gebote übereinstimmen und daß die Gebote als Hilfe aufzufassen seien; aber dieser Hilfscharakter tritt im deutschen Text anders zutage: Er unterstellt, daß das sittlich Gute und die Erfüllung der Gebote nach ihrer Erkenntnis (und zwar vordringlich, weil leichter faßbar, der geschriebenen) völlig zusammenfallen. Die anscheinend leicht wiegende Ersetzung von ad bonum durch dar czu, bezogen auf Gebotserkenntnis und -erfüllung, fordert deshalb dazu auf, darüber nachzudenken, was denn in Vorlage und deutschem Text unter Verständnis und Befolgung des Sittengesetzes verstanden und wie beides zueinander in Verbindung gebracht wird. Beiden Versionen ist gemeinsam, daß das Wissen um das eingeschriebene Naturgesetz zwar prinzipiell zum guten Handeln hinreichen würde, gleichzeitig aber die lex scripta als Handlungsunterstützung willkommen ist. So hatte auch Thomas argumentiert; bei ihm allerdings lag die Begründung in den Defekten der menschlichen Natur, die eine partielle Korruption des natürlichen Gesetzes mit sich bringen kann.49 Diese kausale Einführung des geschriebenen Gebotes wird bei Nikolaus durch eine finale ersetzt: ut quilibet ea facilius nosceret et nullus se per ignorantiam posset excusare [...] et etiam ut ea cognoscentes ad bonum non solum natura sed etiam impelleret coactio legis.
aliqualiter inclinaret
In dieser finalen Bestimmung sind mehrere implizite Unterstellungen enthalten. Im ersten Teil wird vorausgesetzt, daß der Mensch ein geschriebenes Gesetz leichter wissen kann als ein eingeschriebenes und daß ihm die Kenntnis eines geschriebenen Gesetzes leichter abverlangt werden kann als die eines natürlich eingeprägten. Im zweiten Teil ist unterstellt, daß diejenigen, die die
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S.th. I-II q. 99, a. 2 ad 2: Ratio autem hominis circapraecepta moralia, quantum ad ipsa communissima praecepta legis naturae, non poterat errare in universali: sed tarnen, propter consuetudinem peccandi, obscurabatur in particularibus agendis.
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moralischen Vorschriften erkennen, währenddessen oder dadurch zum Guten geleitet werden. Diese unterstellten Voraussetzungen werden im deutschen Text in ihren inhaltlichen Schwerpunkten verschoben. Wenn es hier heißt Denn noch hat vns das got der herr gepoten vnd geschribens gegeben, das ain yder mensch die pot leicht erkent vnd wir die pot dester mer pflichtig wären ze behalten, vnd sich kain mensch da von mit vnweijshayt nicht mocht entSChllldigen, SO
so wird die bindende Kraft der Gebote dadurch noch stärker als in der Vorlage aus dem Verständnis abgeleitet; der Effekt des geschriebenen Gesetzes, daß es leichter aufzufassen ist, fällt zusammen mit dem anderen, daß es stärker verpflichtet. Da aber auch nach Aussage des deutschen Textes die natürlichen Sittengesetze prinzipiell zu gutem Handeln hinreichen, kann dieses Ineinssetzen von Verstehen und stärkerer Bindung nur so verstanden werden, daß es nicht die Gesetze in sich, also in ihrem Inhalt, sind, die erkannt werden, sondern die Gesetze als Schrift Gottes. Das heißt: Die natürliche Gabe der ersten sittlichen Urteile kann verkannt werden; Gottes explizites Gesetz kann nicht verkannt werden, insofern es ausdrücklich Gottes Gesetz für den Menschen ist, obgleich dadurch über das inhaltliche Verständnis noch nichts ausgesagt ist. Wenn es aber nur dies ist, was jedermann abverlangt werden kann, nämlich daß er eine Norm als den Willen Gottes versteht, dann kann von ihm billigerweise nicht gleichzeitig die Einsicht gefordert werden, daß gerade diese göttlich gesetzte Norm mit seinem natürlichen Streben übereinstimmt, denn dieser Vergleich ist nur über die Inhalte beider Gesetze unabhängig von der stiftenden Instanz - möglich. Über die Richtigkeit göttlicher Gebote steht dem Menschen überdies kein Urteil zu, denn er kann nicht Gottes Gedanken denken; er kann allenfalls darüber nachdenken, wie er sie wohl zu befolgen habe. Da er sie aber nur nach menschlichem Maß befolgen kann, ist für ihn die Übereinstimmung mit dem eigenen natürlichen Sittengesetz allerdings zwingend; aber es ist dann nicht mehr eine Übereinstimmung der Sachen selbst, sondern eine ihrer menschlichen Faßbarkeiten. Folgerichtig steht nicht mehr das Gute selbst im Blickpunkt dieser Ethik, sondern das angestrebte Gut, nämlich eines, das nicht mehr eigens antizipiert, dessen Begriff nicht mehr selbst gebildet werden muß. Wer wie der Übersetzer des Nikolaus von Dinkelsbühl die Neigung zum Guten durch eine Neigung zum Befolgen der als übereinstimmend erkannten Weisungen von natürlicher Vernunft und Geboten ersetzt, legitimiert letztlich eine institutionell gestützte
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Konsensethik:51 Als Normen werden diejenigen Sätze begründet, die sich im Schnittpunkt dessen befinden, was man einerseits als den menschlichen Geltungsbereich der göttlichen schriftlichen Weisung bestimmt und was man anderseits durch den (immer selektiven) Vergleich mit anderen Zeiten und Kulturen für natürliches sittliches Urteil zu halten berechtigt zu sein glaubt. In einer solchen Bestimmung der Güter als das, was alle Einwohner der akzeptierten Welt (einschließlich Gott, so wie wir ihn verstehen) nach dem Maß jener eingelernten Akzeptanz noch für gut halten und als gut anstreben, sind die Güter selbst letztlich entbehrlich, sie werden nur noch formal als Telos, inhaltlich aber als die Schnittpunkte von Normen abgeleitet. Dazu stimmt, daß der Übersetzer - über Nikolaus hinausgehend und ihn überbietend - die unmittelbare Übereinstimmung von erkennender Interpretation und normgerechter Handlung im Sinne von guter Handlung betont: das ist wie wol wir die pot von verstantikaijt rechter vernüffl schuldig sein ze behalten und das ain yder mensch die pot leicht erkent vnd wir die pot dester mer pflichtig wären ze behalten.52
Gesetzesverständnis erzeugt gute Handlung nur dann, wenn sich die gute Handlung aus dem Gesetz definiert. Die zweite Hälfte der Bewegung, die Herleitung vom reinen Guten, das weder Gesetze noch Lebensmuster bereithält, wie sie sowohl bei Thomas als auch bei Bonaventura noch thematisiert wurde, fällt damit aus der Betrachtung aus; dann kann aber eine Güterhierarchie nur noch als Normhierarchie auftreten, und eine Gegenkraft zur Kasuistik wie die Repugnanzlehre des Thomas verliert ihren ausgleichenden Erklärungswert. Diese Konsequenz ist eine Eigenheit der deutschen Darstellung; der Vergleich mit Nikolaus von Dinkelsbühl lehrt, daß sie nicht notwendig aus der isolierten Behandlung der Gesetzestypen und des Dekalogs folgt. Es ist bei einem Autor, der sich die Mühe macht, die komplizierten naturrechtlichen Grundlagen der normativen Moral mitzuübersetzen und dem daran offenbar liegt, ein gewisser Widersinn, daß diese Verkürzung gerade dorthin weist, wo andere Erklärungen unter Aussparung jeder ethischtheoretischen Reflexion als reine Morallehre ansetzen; aber dieser Widersinn zeigt, daß es zu jenen Verkürzungen von Ethik auf Morallehre - etwa im
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Möglicherweise ist hier ein Prozeß angelegt, der sich in der "Parzellisierung des Guten" in der Neuzeit fortsetzt, vgl. He. KUHN, Gutes, S. 657. BAUMANN Bd, 2, S. 507, Z. 153-154 u. Z. 156-157.
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Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus v o n Dinkelsbühl
'Gewissensspiegel' des Martin von Amberg - Vorbilder gibt, die sich direkt aus scholastischer Ethik herleiten und zu ihr vermitteln. 53 Die dargestellte, gegenüber den scholastischen Vorbildern negativ und als Verkürzung erscheinende Konsequenz aus dem Satz, daß Normverständnis und sittliche, weil normgerechte Handlung unmittelbar zusammenfallen, hat aber auch eine andere Seite; und diese andere Seite weist nun über die scholastischen Vorbilder hinaus in eine neue Richtung. Wenn Verständnis als unmittelbar handlungsstiftend und handlungsbegründend aufgefaßt wird und dieses Verständnis sich explizit auf Texte richtet, so wird der hermeneutischen Dimension der sittlichen Urteile, die Thomas auf die ersten Schlußfolgerungen aus den sittlichen Prinzipien begrenzt hatte, weiterer Raum gegeben. Darauf weist eine zweite Passage über das Verhältnis von Verständnis und Geltung der Gebote hin, die sich bei Nikolaus von Dinkelsbühl an das Exempel vom Propheten aus 3 Reg 13 anschließt und bei ihm heißt: Ecce tarn stricte vult deus sua mandata custodiri quod licet ille propheta venerit contra domini preceptum non ex ignorancia affectata aut crassa nec ex levi credulitate sed α propheta dicto modo persuasus et deceptus, non tarnen excusabatur sed grauiter puniebatur. Quanto minus nos excusabimur per ignorantiam crassam aut affectatam aut cum dimissa via securiori sequimur expositionem precepti falsam nostro tarnen desiderio aut comodo magis conformem.54
Die Stelle lautet in der Übersetzung: Secht an, wije gar erenstlich wil got der herr, das man behalt seine pöt. Wie wol der prophet hat getan wider das gepot des herren, nicht also das er das pöt nicht erkennen oder nicht wissen wolt oder von träghaijt wegen noch von leichtem glauben, sunder von dem anderen propheten ward er betrögen. Dannoch was er nicht entschuldigt vnd müst swärlich gepeinigt werden in seinem aygen plüt. Vil minner werden wir entschuldigt, so wir tun wider das gepot gots offt von solichen
53
Wie übrigens an Martins von Amberg 'Gewissensspiegel' selbst abzulesen ist, der, wie STEER gezeigt hat, in wesentlichen Teilen vom 'Compendium theologicae veritatis' des Hugo Ripelin von Straßburg abhängt. Vgl. STEER, Martin ν. Α., u n d DERS., C o m p e n d i u m , S . 4 4 1 - 4 4 2 .
54
Autograph Wien NB Cod. 4354, fol. 168v. Leipzig UB Cod 597, fol. 137rb hat die Lesart: expositionem scismaticam. Die ignorantia crassa in Gleichsetzung mit der ignorantia affectata gehört nach kanonistischen Unterscheidungen der Schuldfähigkeit zu den Umständen, die volle Schuldzuweisung rechtfertigen, weil diese Unwissenheit selbst eine Schuld darstellt. Zur Auffächerung der ursprünglichen Polarität ignoranita vincibilis - ignorantia invincibilis und der Einführung der Begriffe ignorantia affectata und ignorantia crassa vel supina in die Theologie und Kanonistik vgl. KUTTNER, Schuldlehre, S. 137-147, bes. S. 145.
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vnwissen, das wir nicht wissen wellen vnd doch wissen möchten, das es ist wider das pot gots.ss
Den Fehler des betrogenen Propheten setzt der Übersetzer mit Nikolaus noch von drei anderen, niederen Ursachen für Irrtümer ab: nicht also das er das pöt nicht erkennen oder nicht wissen wolt oder von träghaijt wegen noch von leichtem glauben56.
Bei Nikolaus hieß es non ex ignorantia affectata aut crassa nec ex leui credulitate. Die credulitas levis hatte auch Nikolaus bei der Benennung der aktuellen Irrtumsmöglichkeiten, mit denen jeder Mensch rechnen müsse, ausgelassen beziehungsweise unter die dimissa via securior subsumiert. Nun faßt der Übersetzer aber die bei Nikolaus erwähnten drei Gefahren für alle Menschen - ignorantia crassa, ignorantia affectata, expositio falsa - nach seinem Vil minner werden wir entschuldigt, zusammen in von solichen vnwissen, das wir nicht wissen wellen vnd doch wissen möchten. Das ist aus seinen eigenen Voraussetzungen ganz folgerichtig: Er faßt das grobe Unwissen bei Nikolaus im Sinne seiner Ergänzung zum allerersten Satz des Prologs Er wel es dan von aijgner pöshaijt nicht versten als freiwilliges Unwissen auf und rückt es deshalb mit der ignorantia affectata zusammen, weil nach den vorhergehenden, oben analysierten Ausführungen über den Übergang zum geschriebenen Gesetz das Nichtwissen des geschriebenen Gesetzes noch verwerflicher als das des natürlichen Gesetzes ist und noch mehr als dieses einen ausdrücklichen negativen Willensakt voraussetzt; damit wird wirkliches Nichtwissen aber unmöglich, denn das bewußte Wegsehen ist schon eine ignorantia affectata. Die ignorantia crassa und die ignorantia affectata werden also ganz im Sinne der kanonistischen Tradition - gemeinsam verhandelt, als diejenigen Formen des Unwissens, die durch negligentia, contemptus oder voluntas Zustandekommen und folglich schuldhafte Irrtümer darstellen.57 Dabei muß der Übersetzer wissen, daß Kanonisten (zum ersten Male Rolandus Bandinelli)58 den Begriff ignorantia crassa in der Fügung ignorantia crassa vel supina verwenden, denn er gibt crassa nicht wörtlich wieder.
55 56 57 58
BAUMANN, Bd. 2, S. 511. BAUMANN, Bd. 2, S. 511. Vgl. KUTTNER, Schuldlehre, S. 145. Alexander III Sent., S. 125. Vgl. KUTTNER, Schuldlehre, S. 145f.
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sondern spricht bei den Irrtumsmöglichkeiten des Propheten dort, wo ignorantia crassa stehen müßte, von träghayt.59 Für die Zusammenfassung Vil minner werden wir entschuldigt, so wir tun wider das gepot gols offt von solichen vnwissen, das wir nicht wissen wellen vnd doch wissen möchten, das es ist wider das pot gots60
zieht er sich aber wiederum auf die ignorantia affectata zurück, deren Leitmerkmal in kanonistischen Erörterungen das scire posse sed nolle ist.61 Die ignorantia crassa wird zum Spezialfall und ist für den Bearbeiter potentiell in der ignorantia affectata enthalten. Dadurch wird aus der Dreiteilung der unverzeihlichen Fehler in der Vorlage eine Zweiteilung in der Übersetzung: Nikolaus von Dinkelsbühl hatte grobes Unwissen, willentliches Unwissen und Verleitung durch falsche Auslegung mit Unterstützung der eigenen Interpretationsbedürfnisse unterschieden, der Übersetzer stellt zusammen: das wir nicht wissen wellen vnd doch wol wissen möchten das es ist wider das pot gots Oder so wir uerlässen den sichern weg vnd uolgen offt nach ainer vngerechten auslegung der pöt oder heyligen geschrifft.62
Das Wichtige an dieser Zusammenlegung zweier Fehlertypen der Vorlage ist, daß sich das so umfaßte freiwillige Unwissen der gedanklichen Form und dem Wortlaut nach (so wir tun wider das gepot gots; das es ist wider das pot gots) auf ein sicheres Gebot richtet, während es inhaltlich und dem Kontext nach (das Exempel vom Propheten aus 3 Reg 13 thematisiert ja nicht nur den Gegensatz von göttlichem und menschlichem Geheiß, sondern auch die Frage nach sicheren Gewährsleuten für ergangene Offenbarung) die ausgelegte Wahrheit betrifft. Die erste dieser Eigenschaften hat der Übersetzer nur im deutschen Text hergestellt; im Lateinischen fehlt die eindeutige grammatische Beziehung von ignorantia auf preceptum, die die ignorantia eng festlegen würde. Die zweite, den Kontextbezug auf Wahrheit und verbürgte Botschaft, übernimmt er aus Nikolaus, wodurch eine gewisse Spannung zwischen dem mitreferierten Exempel und dem Auslegungsverständnis entsteht. Denn durch die Zusammenlegung von ignorantia crassa und ignorantia affectata mit
59
KUTTNER, Schuldlehre, S. 146 und ebd., Anm. 1 weist darauf hin, daß die Attribute crassa und supina zu ignorantia aus den Digesten übernommen worden sind, also eine römischrechtliche Entlehnung der theologisch-kanonistischen Schuldlehre darstellen.
60
BAUMANN Bd. 2 , S. 5 1 1 Z. 2 9 8 - 3 0 1 .
61
KUTTNER, Schuldlehre, S. 149.
62
BAUMANN Bd. 2 , S. 5 1 1 , Z . 2 9 9 - 3 0 3 .
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eindeutiger Bindung an Gebotswissen wird zunächst unterstellt, daß der Inhalt der Gebote in einem Maße evident sei, das wir [...] doch wol wissen möchten, das es ist wider das pot gots,63 und daß diese Einsicht durch einen Willensakt verhindert werden müsse; gleichzeitig bleibt durch den übernommenen Kontext die Schwierigkeit assoziiert, diese sichere Auslegung im Einzelfall zu erkennen. Der Geltungsanspruch der Gebote und die Pflicht, sie zu verstehen und sich ihnen gemäß zu verhalten, gründet sich nach der Eigendarstellung des Übersetzers also in der Überzeugung, daß eine erste und grundlegende Auslegung das Wesen des ausgelegten Gesetzes trifft und mit ihm verschmilzt. Das ist bei Nikolaus nicht in gleicher Weise der Fall, denn wenn die Unterscheidung von ignorantia crassa und ignorantia ajfectata in diesem Kontext verwendet wird, betrifft die ignorantia crassa Buchstaben und Laut des Gesetzes; dadurch wird in der Darstellung der Vorlage - im Gegensatz zu der der Übersetzung - nicht entschieden, ob und inwieweit Wahrheit und Verpflichtung des Gesetzestextes und Wahrheit und Verpflichtung der ersten Auslegung zusammenfallen sollen. Deshalb wird der Gedanke in beiden Versionen auch nicht genau parallel weitergeführt: Nikolaus nennt als nächste mögliche Verfehlung das Befolgen einer falschen Auslegung dimissa via securiori, wobei offen bleibt, worin der sicherere Weg besteht und was ihn sicherer macht. Der Übersetzer setzt den sichern weg schlechthin ein und spricht von der vngerechten valschen aus legung nicht nur der Gebote, sondern der gesamten heiligen Schrift;64 der zweite Bezug, der auf die Schrift als Ganzes, fehlt bei Nikolaus. Auch sequimur expositionem [...] nostro tarnen desiderio aut comodo magis conformem wird auf eine eindeutige Wertung projiziert: Darvmb das dy selb auslegung oder glos gleich ist vnserm gemach oder vnser begir.65 Die beiden Komparative des lateinischen Textes (via securior, expositio nostro desiderio magis conformis) unterstellen einen gewissen Grad an verbleibender Unsicherheit: der sicherere Weg ist nicht der einzig sichere, die größere Konformität mit dem eigenen Begehren setzt jedenfalls eine gewisse Konformität auch beim Vergleichsmaßstab voraus. Nikolaus ist - und das paßt zur Wahl des ambivalenten Exempels - bemüht, keine Klarheiten vorzugeben, die sich nicht systematisch begründen lassen; er behandelt die Auslegungswahrheit nicht als die Wahrheit des Gebotes schlechthin, sondern unterstellt generelle Irrtumsfähigkeit bei der Auslegung, auch wenn er den besser verbürgten vom gewagteren Weg unterscheidet.
63
BAUMANN, Bd. 2 , S. 5 1 1 .
64
Deshalb möchte ich auch im sichern weg keinen kontrahierten Komparativ sehen.
65
BAUMANN Bd. 2, S. 511, Z. 3 0 3 - 3 0 4 .
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Hier verfahrt nun der Übersetzer grundlegend anders; von der Evidenz dessen, was man nur wissentlich nicht erkennen kann, gibt es für ihn nur eine Abweichung zum Üblen und Falschen hin. Wenn erst diese Abweichung und nicht schon ein richtiges primäres Textverständnis explizit auslegung oder glos genannt wird, so findet sich zwar dazu eine Entsprechung bei Nikolaus, der auch erst die fehlerhafte Auslegung ausdrücklich als expositio bezeichnet; aber durch den komparativischen Ausdruck in sequimur expositionem precepti falsam nostro tarnen desiderio aut comodo magis conformem wird eine Vergleichsgröße unterstellt, die richtiger, aber auch expositio ist; im deutschen Text erscheint es dagegen so, als sei der Übergang zur falschen Interpretation mit dem ausdrücklichen Bewußtsein des Interpretierens verbunden, denn die Folie, auf der die Abweichung dargestellt wird, ist hier die gebundene, mit dem Text gleichevidente Primärinterpretation. Warnung vor (eigenmächtiger) Interpretation kommt aber nur dort vor, wo das Angemahnte eine reale Gefahr, das heißt aus einer anderen Perspektive einen wirklichen Wert darstellt; sie kann nur zu einem Teil als topische Verlängerung der biblischen Warnungen vor falschen Propheten aufgefaßt werden.66 Nikolaus hatte die Pole klarer benannt: einer konsensfahigen, für die Mehrheit der Christen durch die Kirche verbürgten Basisinterpretation (dem sichereren Weg) steht bisweilen eigene Interpretation entgegen, die möglicherweise subjektiv wahrhaftig ist und einige gute Gründe für sich anführen kann, aber sich schon dadurch als falsch qualifiziert, daß sie den Schutz der kirchlichen Autoritäten weniger hoch achtet als die innere Stringenz. Der Übersetzer verzichtet in überbietender Konsequenz gegenüber den Aussagen der Vorlage deshalb darauf, auch der Vergleichsbasis grundsätzliche Fehlbarkeit einzuräumen: Der Fehler der Auslegung wird dadurch absolut. Das kann nicht verwundern, wenn man sich daran erinnert, daß der Bearbeiter in der Behandlung des Naturrechts den Verstoß gegen das natürlich Rechte nicht wie Thomas als einen gleichsam physischen Defekt, sondern als einen willentlichen Verstoß gegen das Evidente aufgefaßt hatte, obgleich er die Notwendigkeit, das erste und natürlich Rechte zu verstehen, besonders betonte. Gebundene Interpretation, die Verpflichtung der Vernunft auf eine bestimmte Richtung des Verständnisses und der Auslegung, legt er auch hier in den Bemerkungen über das Interpretieren von Schrift und Geboten zugrunde, und wie an jener früheren Stelle wird die dazu verpflichtende Instanz in Gott selbst verlegt; sie ist rationaler (syllogistischer) Überprüfung nicht oder allenfalls aushilfsweise (durch Vergleich mit Autoritäten) zugänglich. So
Interpretationsverbote gab es freilich auch in der Geschichte des weltlichen Rechts (Justinian), vgl. PREE, Rechtsnorm, S. 80. Der Weg zur Interpretationsbindung normierender biblischer Texte im Mittelalter ist zumindest nicht linear.
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wird, wenn man von Thomas her denkt, an beiden Stellen die Zuversicht in die auslegende ratio noch über Nikolaus hinaus vermindert; anderseits hat die deutsche Erklärung eine Art von Vertrauen darauf, die rechte Auslegung zu finden, die wiederum - man erinnere sich an die ausgelassenen Komparative die des Nikolaus übersteigt (und die sich in der Unternehmung des Textes selbst niederschlägt: denn der Leser kann sich ja nicht im Zweifel darüber befinden, daß er eben einen Text in Händen hält, in dem gerade Interpretation der Gebote versucht wird). Dieses Vertrauen gründet sich darin, daß der sichre weg als Weg zu Gott aufgefaßt wird, weil Gott diejenige Instanz ist, die die Vernunft in ihrem Verständnis des Rechten zum Rechten hin bindet. Für den Menschen verlagert sich die Instanz seiner Sicherheit, recht zu verstehen, damit aber nach innen; wenn auch die Konformität zu Sätzen von Autoritäten prüfbar bleibt, so entscheidet sie doch allenfalls in abgeleiteter Hinsicht und in Hinsicht auf das Vorhandene; einen neuen Deutungsansatz richtet allein Gott: Wer sonst soll nicht nur vergleichend, sondern absolut entscheiden, ob eine Deutung gleich ist vnserm gemach oder vnser begirl Der Nikolausredaktor geht davon aus, daß der reflektierende Mensch sich die Frage selbst beantworten kann.
4. Die Struktur des sittlichen Urteils als Vorgabe für die Textstruktur Nikolaus von Dinkelsbühl und sein Redaktor nehmen ihren Ausgangspunkt von einer naturrechtlichen Begründung von Sittlichkeit. Zur Analyse der Struktur des sittlichen Urteils wähle ich deshalb zwei Textabschnitte, einen Teil aus dem ersten und das vierte Gebot. Dieser Auswahl liegt die Überlegung zugrunde, daß in der scholastischen Ethik die Gebote des Dekalogs nicht gleichwertig und unwidersprochen unter das Naturrecht fallen; Duns Scotus hatte nur die Gebote der ersten Tafel als im engeren Sinne naturnotwendig, also aus sich selbst zwingend, betrachtet; den Gebotscharakter der zweiten Tafel hält er nicht für das Resultat einer Kodifizierung von natürlich Rechtem, sondern für das einer solchen des göttlichen Willens, der prinzipiell auch anders sein könnte.67 Würde ein Verfasser (ich behandle mit den oben
57
Von den Geboten der zweiten Tafel heißt es Ordinatio III, suppl. dist. 37: Non enim est necessaria bonitas in his quae ibi praecipiuntur ad bonitatem finis Ultimi; nec in his quae prohibentur malitia necessario avertens a fine ultimo. Quin si istud bonum non esset praeceptum, posset finis ultimus attingi et amari. Et si illud malum non esset prohibitum, staret cum illo acquisito finis Ultimi. Duns ed. WOLTER, S . 2 7 6 .
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genannten Gründen hier auch Übersetzer und Bearbeiter als Autoren) diese Ansicht teilen, so wäre es möglich, daß zwischen den Geboten 1-3 und 4-10 grundlegende Unterschiede in der Darstellung des sittlichen Urteils entstünden, ohne daß diese Unterschiede in der summierenden Analyse des Gewissensbegriffes bereits zutage getreten sein müßten. Mit dem ersten und vierten Gebot werden zwei Auslegungen gewählt, die strukturell verschiedene normierende Sätze erklären: Das erste ist affirmativ und negativ, das vierte rein affirmativ gefaßt. Indem ich mich im ersten Gebot auf die Auslegung des affirmativen Teiles beschränke, folge ich einer Anregung von Hans Robert Jauß, der fragt, ob nicht durch die ausnahmsweise positive Normfassung innerhalb des Dekalogs "der unübersehbare Anfang einer positiven Normierung sittlichen Handelns gesetzt ist".68 Wenn das so sein sollte, dann könnte die Einführung naturrechtlicher sittlicher Prämissen diesen Zug verstärken, die Auslegung könnte dann einen Anfang systematischer positiver Normentfaltung markieren.
4.1.
Das erste Gebot
Die Erklärung des 1. Gebotes ist bei Nikolaus von Dinkelsbühl in vier Abschnitte geteilt, von denen er explizit ausführt, daß es sich beim ersten um den affirmativen Aspekt, bei den folgenden um die Prohibitionen handelt.69 Der deutsche Bearbeiter hat diese Gliederung in der Übersetzung beibehalten, ihre explizite Charakteristik jedoch ausgespart; bei ihm handelt es sich um
68 69
JAUSS, Dekalog, S. 443. Wien NB Cod. 4354 (Autograph), fol. 171r/v: quia cum dictum sit Matth. 4: Nemo potest duobus dominis servire per hoc quod precipitur affirmative cultus latrie soli deo exhiberi/ intelligitur ydolatria prohiberi/ et in hoc negatiuo/ Non habebis deos alienos coram me etc quo prohibetur ne cultus diuinus exhibeatur creaturis intelligitur id affirmativum de cultu vnius veri dei vt declarat beatus Thomas prima 2e q 100 Et Bonaventura in expositione textus dist. 37 tertii dicit quod istud primum mandatum continet plus affirmationis quam negationis quia prohibet omnem ydoli venerationem in quo includitur quod vult deus omnem honorem latrie sibi soli deferri/ et ideo dicit quod non implet mandatum qui solum desistit ab idolatria quia ibi precipitur adoratio que soli deo est exhibenda/ Et ergo vt clarius fiat et a simplicibus facilius intelligatur/ ponimus primum preceptum explicite sub igitur verbis Exo 20 scilicet [171 ν ] positis/ Ego sum dominus deus tuus qui eduxi te de terra Egipti et de domo servitutis Non habebis deos alienos coram me Non facies tibi sculptile neque omnem similitudinem [...] et sie erat preeeptum primum vna copulativa cuius prima pars est affirmativa/ et alie tres sunt negative [...].
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gleichberechtigte vier tail oder vier stukel.70 Sie werden aber im tatsächlichen Textaufbau nicht klar unterschieden; vielmehr weisen die Ausführungen, die in der Vorlage die Abschnitte 2-4 bilden, eine gemeinsame übergeordnete Gliederung auf, die numerierte Aufzählung der Hauptsünden gegen das Gebot. Die Untergliederungen mit ihren Teilnumerierungen sind zum Teil schwer zuzuordnen, weil ohne klare Markierung die übergeordnete Gliederung mit ihren Bezifferungen wieder aufgenommen wird. So ist aus der Vierteilung eine Gliederung in zwei große Teile, einen affirmativen und einen prohibitiven, geworden, wobei der prohibitive zunächst auf relativ gedrängtem Raum drei Arten von Verstößen unter systematischem Gesichtspunkt unterscheidet, um anschließend die Typen von Sünden gegen das Gebot gemeinsam und ohne Rückbindung an die vorangestellte Unterscheidung zu behandeln. Ich untersuche im folgenden den ersten, affirmativen Teil.71 Zur leichteren Orientierung stelle ich meinen Ausführungen eine Übersicht über den Inhalt des behandelten Abschnittes voraus.72 A: Exposition: Warum Gott ehren? Er bedarf unser nicht, wir aber seiner und seiner Gaben. Die Gaben sind: 1) geistlich = Seele und darin Klugheit, Tugend und tugendhafte Werke; 2) leiblich = Leib und damit Gesundheit, Stärke, Schönheit; 3) äußerlich (nicht kommentiert). B: Ableitung der Norm: Wie Gott ehren? zu 1) mit den geistlichen Gütern: a) Andacht,
70
BAUMANN, B d . 2 , S. 5 1 7 .
71
Der Aberglaubenskatalog wird bewußt ausgespart, weil diese Textstücke in Dekalogerklärungen die am stärksten traditionsbeschwerten sind und Übernahmen im Block vorkommen. Ich gebe auch hier eine Zusammenstellung der Lesarten, die gegenüber der Ausgabe von BAUMANN mit Sicherheit und aus Gründen der Sinnentstellung zu bessern sind, nach der Korrekturhs. Wien NB Cod. 3054, fol. 372v ff. Die Zeilennummern entsprechen der Ausgabe von BAUMANN. 3 waren] worden W; 12 hat] halt W; 17 gemainerin] gemainern in W; 22 wolt halten] wol halt W; 42 spricht] fehlt W; 57 gotlichen] gütlichen dinst W; 92 materia] fehlt W\ 125 vnd] wil W\ 152 er wirt] er wir W; 155 parmherczig] parmherczig ist W; 160 oder] vnd nicht W; 168 das aller dinger] das lest end aller dinger W; 183 loben vnd eren] lob vnd er man pedarff nicht das man in lob vnd er W; 187 vnd mit den äusseren werchen] vnd mit den jnern werichen Sunder halt auch mit den äusseren werchen W; 193 ob] oder W; 196 geschafft] herschafft W; 229 ich ] icht W; 265 erberden] erberfen W. Ich zitiere im folgenden den korrigierten Text ohne weiteren Nachweis.
72
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b) inneres Gebet; c) theologische Tugenden: Glaube ohne Zweifel, Hoffnung auf Vergebung der Sünden, Liebe um Gottes selbst willen; zu 2) mit Stimme und Gebärde; zu 3) mit Zehnt, Kerzen und Opfergaben C: Antworten auf Einwände: zu Β 2) und Β 3): Notwendigkeit äußerer Übung? a) Pflicht, b) Vorbildwirkung, c) Zeichen für Gott und Anreiz für den Ausübenden, zu Β 2): Gesten der Verehrung auch für Menschen? d) unter gemeinsamem Aspekt der eigenen Hilfsbedürftigkeit Verehrung Gottes und der Oberen vereinbar e) Bedingung: verschiedene Absicht bei Ausübung. Die Einleitung bringt eine logische Voraussetzung für die Normentwicklung, die auf die elementare Konstellation von Gott als dem Ungeschaffenen und Vollkommenen und dem Menschen als dem Geschaffenen und Unvollkommenen hinausläuft. Darauf bauen die folgenden Ausführungen auf. Die eigentlichen sittlichen Urteile setzen in dieser Entwicklung des Normumfangs auf der jeweils hierarchisch niedrigsten Stufe an. Zu den geistigen Gaben heißt es: Das dritt ist das wir mit dem glauben, mit der hoffhiig vnd mit der lieb, die da haijssent "virtutes theologiaegütliche tugent, sullen got eren. Wann mit [den] dreien eret man vnd lobet got den Herren, besunderlichen mit dem glauben, als das der mensch all stück des glaubens vnd was vns got hat geoffent zu gelauben vnd die kirch, das ist dije kristenhaijt, hat gepoten vestiglichen vnd an allen zweyuel gelaübt, darvmb das got, der das geoffent hat, ist vnmäslich weis vnd dem nichts verporgen ist, die vnuertrieglichen worhat, die niemants betriegen mag noch da von betrogen mag werden.n Das hierin enthaltene sittliche Urteil darüber, was in Glaubensfragen gut und richtig ist, basiert auf der vorher gegebenen Erklärung:
73
BAUMANN, Bd. 2, S. 519. Ich habe die Interpunktion sinnentsprechend geändert und m.E. zu ergänzende Wörter in eckigen Klammern hinzugefügt. Die entsprechende Stelle der Vorlage heißt nach dem Autograph, Wien NB Cod 4354 fol. 171v: Item specialiter fide spe et caritate quia istis secundum Augustinum in Enchiridion deus specialiter colitur et honoratur/ fide quidem vt scilicet homo omnes articulos fidei et quidquid nobis deus ad credendum reuelauit et ecclesia credendi precepit sine hesitatione credat propter hoc quia deus talia reuelans est infinite sapiens quem nichil latet et est infallibilis Veritas que nec /allere potest nec falli.
Die Struktur des sittlichen Urteils
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Vnd do ist cze mercken, das vnser güte ding, die wir haben von got dem herren, sind treyerlay. Dij ersten sind dij geistlichen guten ding als do ist vnser sei vnd die ding, dij sy in ir hat als ist kunst, tugent vnd tug entliche werch,74 Das logische Zwischenglied, nämlich daß alle Kreatur Gott auf ihre Weise ehrt, steht im Satz zuvor: Vnd als wir in mit allen dingen verjehen, also sullen wir in auch von allen vnsseren dingen eren.15 Die nichtabgeleiteten Elemente in dieser um logische Stringenz bemühten Erklärung76 besitzen innerhalb des gewählten Bezugssystems für den Autor axiomatische Geltung; sie beziehen sich sämtlich auf das Verhältnis des Menschen zu Gott als seinem Schöpfer und sind insofern theologische Gemeinplätze: Alle Kreatur ehrt Gott, Gott hat dem Menschen die Seele gegeben usw. Nicht ableitbar ist auch die Verbindung zwischen der theologischen Tugend des Glaubens und der Autorität der Kirche. Die Forderung, daß der Mensch das, was die kirch, das ist dije kristenhaijt, hat gepoten ve-
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BAUMANN, Bd. 2, S. 518. Vorlage: Wien NB Cod 4354 fol. 171v: sunt autem triplicia bona nostra prima sunt spiritualia vt anima et bona que eidem insunt vt scilicet virtutes et operationes virtuose/ 2a sunt corporalia vt corpus nostrum et bona que isti conveniunt ut sanitas robur pulchritudo etc/ 3a sunt exteriora bona. BAUMANN, Bd. 2, S. 518. Entspricht Wien NB Cod. 4354 fol. 171v: Et est notandum quod sicud inter homines videmus fieri quod subditus offert domino suo aliquid in signum recognitionis dominii eius et subiectionis sue/ ita et nos de omnibus bonis que habemus debemus deo nostro seruire et ei reuerentiam exhibere (Randergänzung: eo quod animam ab ipso habemus debemus autem hoc facere) non propter ipsius indigentiam quia in se infinite plenus est gloria nec a creatura aliquid illi glorie adici potest nec bonorum nostrorum eget dominus sed in recognitionem dominii sui et subiectionis nostre et in recognitionem quod omnia nostra ab eo habemus et quod sicud eum ex omnibus recognoscimus sie eum de omnibus nostris honoramus. Mein Vorschlag, die innere Logik des Textes nachzuvollziehen: 1. Prämisse: Alles Geschaffene ehrt Gott auf seine Weise. 2. Prämisse: Der Mensch ist geschaffen. Schluß: Der Mensch ehrt Gott auf seine Weise. Nächste Schlußfigur, 1. Prämisse: Gott wird von aller Kreatur ausgesagt und verehrt durch die Eigenschaften, die er ihr verliehen hat. 2. Prämisse: Der Mensch ist Kreatur. Schluß: Der Mensch sagt Gott aus und verehrt ihn durch die Eigenschaften, die er ihm verliehen hat. Neue Schlußfigur, 1. Prämisse: Der Mensch ehrt Gott durch die Eigenschaften, die dieser ihm verliehen hat. 2. Prämisse: Gott hat dem Menschen die Seele, dazu Verstand, Tugend und die Fähigkeit zu tugendhaftem Handeln verliehen. Schluß: Der Mensch ehrt Gott durch seine Seele und mit Verstand, Tugend und der Fähigkeit zu tugendhaftem Handeln.
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stiglichen vnd an allen zweyuel gelaübt,11 zeigt sich damit als reine Setzung, während die Forderung nach Verehrung Gottes durch den Glauben aus einer Eigenschaft Gottes logisch begründet wurde. Der Gedanke wird aber noch zum Aspekt der Verdienstlichkeit des Glaubens weitergeführt: Wann also ein mensch gelaubt vnd sich uestiglichen seczt auffdie gotiich warhaijt, denn so ist jm der glaub verdienlich,n
vnbetrieglichen
Dieser hypothetische Schluß ist nicht ohne innere Probleme, denn die Verdienstlichkeit eines Aktes wird von Gott beurteilt, resultiert also aus einem göttlichen Handeln, von dem der Mensch im strengen Sinne nichts wissen kann, wenn der Satz von der Allmacht Gottes gelten soll; er stellt sich aber sprachlich als eine notwendige Folgerelation dar. Damit wird ein theologischer Wahrheitswert unterstellt, der vom logischen unabhängig und ihm übergeordnet ist; durch das Konditionalgefüge wird aber gleichzeitig der Anschein erweckt, als handele es sich um eine Folge im menschlich-logischen Sinne, das heißt, als könne im theologischen Sprechen dieser theologische auf einen logischen Wahrheitswert abgebildet werden. Die beiden folgenden dogmatisch relevanten Unterpunkte zur Verehrung Gottes durch die theologischen Tugenden werden kausal abgeleitet, und zwar wiederum so, daß die Kausalität auf der inhaltlichen Ebene durchaus angezweifelt werden könnte, während sie syntaktisch als eindeutig signalisiert wird, durch eingeleitete Kausalsätze. In beiden Fällen steht in dem Kausalsatz eine Eigenschaft Gottes. Zur Hoffnung heißt es: Mit der hoffnung er wir got als das der mensch hofft ze entphahen von got vergebung seiner sund, zu erberfen sein gnad vnd zu begreyffen das ewig leben dar vmb das er vnmäslich mild vnd parmherczig ist.79
77
BAUMANN, Bd. 2 , S. 5 1 9 .
78
BAUMANN, Bd. 2, S. 519 mit sinnentsprechend geänderter Interpunktion. Die Stelle im lateinischen Text bei Nikolaus, Autograph, Wien NB Cod. 4354 fol. 171v. BAUMANN, Bd. 2, S. 519 mit sinngemäß veränderter Interpunktion und Konjekturvorschlägen. Vgl. Wien NB Cod. 4354 fol 171v: spe vero vt scilicet homo speret et confidat se a deo obtinere posse et etiam expectet ab eo recipere remissionem peccatorum collationem gratie et adeptionem vite eteme...
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Und zur Liebe: Auch mit der lieb lob vnd er wir got. Als das der mensch got den herren lieb hab durch sein selbs willen [...] Vnd das dar vmb, das er ist das vnmäslich, das höchst vnd das volkomenest gut vnd das lest end aller dinger.80
Die beiden mit als das eingeleiteten Satzteile (so nämlich, daß...) haben inhaltlich am ehesten mit den angegebenen Gründen zu tun. Syntaktisch liegt es näher, die Kausalsätze auf diese Satzteile zu beziehen. Dann bleibt aber die jeweilige Eingangsthese (Mit der Hoffnung ehren wir Gott... Auch mit der Liebe loben und ehren wir Gott) eigentlich unbegründet, denn warum die mit als das eingeleiteten Tätigkeiten unter den Oberbegriff 'Gotteslob' fallen sollen, wird nicht mitgeteilt. Bis hierher, bei der Behandlung der Ehre Gottes durch die höheren Seelenkräfte (im Strukturschema des Abschnittes oben bis Bl), legt die Darstellung des Nikolaus-Bearbeiters Wert darauf, die explizierte Norm so abzuleiten, daß deren theologische Evidenz sich durch den Anschein logischer Folgerichtigkeit stützt. Die unterstellten Setzungen betreffen aber gerade das Verhältnis des Menschen zu Gott, also einen zentralen Gegenstand der Erörterung. Wenn eine so abgeleitete Norm das sittliche Urteil bestimmen soll, so stellt sich dieses Urteil dar als ein Nachvollziehen der Argumente und Schlüsse für ein urteilendes Subjekt. Dieses urteilende Subjekt darf aber gerade nicht geistig ungebunden sein, sondern muß die Unterstellungen teilen und als wahr betrachten. Das ist ein Rationalitätsstandard der Rhetorik, den im Sinne methodischer Reflexion zu überbieten sich auch wissenschaftliche scholastische Texte nicht verpflichtet fühlen müssen. Der Aufbau der folgenden Teile, im Strukturschema B2 und B3 und die daraus resultierenden Einwände und Lösungen unter C, weicht von dem des vorhergegangenen Teilabschnittes partiell ab. Die beiden Normteile B2 und B3, das Ehren Gottes mit den leiblichen Gaben und mit den äußeren Gütern, werden nicht eigens kausal hergeleitet, sondern in Beispielen angegeben. Die leiblichen Güter sollen eingesetzt werden
80
BAUMANN, Bd. 2, S. 519-520. Vgl. Wien NB Cod. 4354 fol. 171v: Caritate autem vt homo deum diligat propter se absolute [...] ideo quia ipse est infinitum bonum summe ac universaliter perfectum vltimus finis omnium [...].
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Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus von Dinkelsbühl
mit vnsserm pet, mit pater noster vnd mit der stim [...], mit lesen vnd mit singen, mit nijderknijen vnd hennd auff recken, mit dem, das wir das haubt naijgen vnd mit ander samlicher diemütiger erpietung,81
In der Aufzählung stehen Oberbegriffe neben solchen Tätigkeiten, die unter sie subsumiert werden: pater noster ist ein Beispiel für Gebet, lesen vnd [...] singen82 eines für den Dienst durch die Stimme, der aber noch überm Gebet stehen müßte; zum Niederknien, Händeaufheben und Kopfneigen fehlt der Überbegriff, obgleich es sich offensichtlich hier um die Gebärde des Körpers handelt. Offenkundig soll hier keine Systematik gegeben, sondern es sollen vertraute Übungen zusammengestellt werden. Worum es sich handelt, wird explizit erst für die Ehrung Gottes durch äußeres Gut ausgesagt: Zu dem dritten mal sull wir got dienen, jn loben vnd eren mit vnsseren guten dingen. Als mit vnsserem oppfer, mit vnssrem zehent, mit kerczen vnd mit andern samlich dingen, dij wir gebonhaijt haben ze tun ze lob vnd ze ere got dem Herren. 83
Hier wird der Oberbegriff für die Einzelübungen über den Brauch gebildet, und das wäre vom logischen Standpunkt ein Zirkelschluß (wir sollen Gott so dienen, das heißt die Gewohnheit ausbilden, ihm so zu dienen, weil wir die Gewohnheit haben, ihm so zu dienen), wenn nicht unterderhand feststünde: Die Gewohnheit ist gleichzeitig das Rechte. Dies aber wird nicht expliziert, und das ist im Vergleich zu den um formallogische Richtigkeit bemühten Aussagen zur Ehre Gottes durch die Seelenpotenzen auch nicht zu verwundern: Wenn dort die natürliche Ausrichtung des Menschen auf das Gute und auf Gott feststand, wird auf die naturrechtliche Begründung des sittlich Guten und im besonderen des Dekalogs rekurriert; nun trifft diese naturrechtliche Begründung aber nach gemeinscholastischer Auffassung auf die Zeremonialvorschriften nicht zu, die sich also nicht gleichermaßen aus dem AT (mit dem Argument ihrer neutestamentlichen Wiederholung) herleiten können. Folglich kann ein Autor diese Art von Normen nicht anders als durch Brauch und
81
BAUMANN, Bd. 2, S. 520. Vgl. Wien NB Cod 4354 fol. 171v: Secundo debemus deo seruire et ipsum colere ac reuereri per nostra corporalia bona/ ilia scilicet applicando ad diuinum seruitium per aliquas reuerentiales exhibitiones et corporum humiliationes vt per orationem exteriorem per cantum et verbalem laudem per genuflectionem per manuum iunctionem aut elevationem per eorum prostrationem per capitis inclinationem et ceteris ceremonialibus reuerentialibus exhibitionibus.
82
BAUMANN, Bd. 2 , S. 5 2 0 .
83
BAUMANN, Bd. 2, S. 520. Vgl. Wien NB Cod. 4354 fol. 171v: tertioper exteriora nostra bona vt per oblationes per sacrificia per decimarum solutiones per candelarum incensiones et per similia in dei reuerentiam fieri consweta.
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Herkommen begründen, wodurch eine deduzierende Herleitung erschwert wird; in eine solche eingebunden ist sie nur durch die im bisherigen, strenger logischen Teil (A bis Bl) isolierte und dort ursachs- und folgenlose Setzung, daß der Glaube durch die Gebote der Kirche erfordert werde. Dem sittlichen Urteil über die Erfüllung dieser beiden Normteile werden also zwei Orientierungspunkte angeboten: Zum einen die Erfüllung oder Nichterfüllung der explizit angesprochenen Einzelbeispiele, ein Urteil, das eindeutig und binär gefallt werden kann; zum anderen die Konvenienz mit der Übung der Kirche, also ein archaisches Muster des Gewissensurteils: Die Gruppe ist gegenüber dem einzelnen, der in ihr lebt, grundsätzlich im Recht, und er muß nach Verstoß gegen deren Gewohnheit seine Übereinstimmung mit jener wiederherstellen.84 Dieses Konvenienzurteil bedarf außer der kodifizierten (auch der im Text erklärten) Norm immer noch eines lebendigen Korrelativs, denn die Norm verlangt, so wie der Nikolausbearbeiter versteht, in diesem Punkt Übereinstimmung, die trotz aller Berufung auf die Tradition und auch unter dem Anschein längster Dauer jener Gewohnheiten immer nur synchron, nur auf einem Ist-Stand möglich ist. Da die Abfrage der Einzelbeispiele der Möglichkeit nach immer unvollständig ist, liegt im Vergleich mit dem Tun der anderen, mit deren in der Gemeinschaft gefestigter (und möglicherweise institutionell gestützter) Gewohnheit in den Dingen, die logisch nicht ableitbar sind, der eigentliche Kern der Urteilsstruktur für die Abschnitte B2 und B3. Diese Grundfigur wird in der Lösung des ersten Einwandes Möcht ain mensch sprechen: "Seijt das got der herr sieht vnser hercz, so ist es genug, das man jn von jnnen lob vnd er, man pedarff nicht das man in lob vnd er mit äusseren diensten als mit uasten, petten, gen kirchen gen1,85
modifiziert. Es heißt hier: Antwurten dy lerer in tercio summarum distinccio nona, das got der her sol durch vns geert werden, nicht allain mit jnneren vbung vnd mit den äusseren werchen, also halt es dy krystenhayt. Vnd das selb bedewt auch der psalmist, so er spricht: "Mein hercz vnd mein fleysch hat sich gefrewt in den lebentigen got." Bey dem
84
V g l . KITTSTEINER, S .
85
BAUMANN, Bd. 2, S. 520. Die Stelle ist in egm 392 (und deshalb auch in BAUMANNS Text) durch eine Auslassung sinnentstellend gestört. Vgl. Wien NB Cod. 4354 fol. 171v: Diceret aliquis ex quo deus videt corda nostra tunc sujficit interior cultus et omnino superfluit cultus exterior per reuerenciales exhibitiones et ceremonias exteriores.
18.
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herczen sull wir versiert vnser sei vnd pey dem fleysch versiert wir den vnd die leiplichen vbung.86
leichrtam
Die Antwort auf die Frage beinhaltet zunächst ein Referat anerkannter Lehrmeinung. Diese Lehrmeinung enthält erstens eine Entscheidung der Frage und zweitens den Hinweis auf die Übereinstimmung dieser Entscheidung mit dem Üblichen; dieser Hinweis vertritt die Stelle einer Erklärung. Hier wird also innerhalb der Autoritätsberufung dieselbe Figur wiederholt, die vom Bearbeiter bereits in der positiven Darstellung der leiblichen und äußeren Übung (vor dem Einwand) benutzt wurde; allerdings wird der Sprechende in eine andere Person verlegt, in die anonyme, aber per se autorisierte Instanz der Lehrer. Der erste Schritt zur Lösung der Frage, die der Einwand formuliert, ist also die Wiederholung der bereits unternommenen Argumentation im Referat eines anderen, höher autorisierten Sprechers. Der zweite Schritt ist eine Schriftberufung, von der in der Schwebe bleibt, ob man die auslegende Instanz, die sagen darf sull wir versten, in den referierten Lehrern oder in der Person des Autors selbst sehen sollte; daß der Autor diese Unsicherheit über den Sprechenden erhalten hat, kann zwar aus dem inhaltlichen Zusammenfall seiner eigenen und der referierten Argumentation erklärt werden, es hat aber darüber gleichzeitig den Effekt der Entpersonalisierung des Sprechens. Die Auslegung der Schriftstelle ist im bisherigen Gang der Argumentation die erste Begründung, die ein anderes Element als Konvention und Konvenienz bemüht; es soll gezeigt werden, daß sich dieser Brauch in Übereinstimmung mit der Schrift befindet. Allein daß der psalmist tatsächlich das selb bedewt, ist eine Auslegung, als deren Urheber der Autor wie die Lehrer gleichermassen und gleichzeitig fungieren können. Durch die Verschiebung der auslegenden Instanz in eine Gemeinsamkeit, die ebenso allgemein bleibt wie die zuvor zur Begründung herangezogene kristenhayt, kann die Schriftstelle die entwickelte Position in besonderem Maße stützen, denn es wird unterstellt, daß dies das richtige Verständnis der Stelle und damit die Gemeinsamkeit der so Auslegenden sachlich begründet sei, wodurch unterderhand ein neuer Wahrheitswert in die Argumentation eingeführt wird, die Wahrheit des Auslegungskonsensus. Diese Wahrheitsform stellt sich nicht so dar, daß eine Auslegung richtig sei, weil sie allgemein geteilt würde, sondern im Gegenteil so, daß sie allgemein geteilt wird, weil sie wahr ist.
86
BAUMANN, Bd. 2, S. 520. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 171v: Respondent doctores in tertio distinctione nona quod deus a nobis colendus est latria non solum secundum interiores actus sed etiam secundum exteriores corporales ritus/ sie enim seruat ecclesia/ et innuit etiam psalmista dicit Cor meum et caro mea exultauerunt in deum viuum/ vero per cor intelligit animam et interiores anime actus et per carnem intelligit corpus et ritus corporales.
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Die Fortsetzung der Lösung zum Einwand weist eine charakteristische Argumentationsstruktur auf. Der Einwand hatte die logische Form: Wenn..., dann, und die hypothetische Folge stand im Gegensatz zu dem bisher Referierten. Der Einwand lieferte also eine Antithese mit Begründung oder Bedingung. Das ist ein klassisch scholastisches Muster und wird in theologischen Summen mit der Entkräftung der gegnerischen und der zusätzlichen Anführung eigener Argumente beantwortet. Die folgenden Ausführungen führen aber einen neuen Pflichtbegriff ein, der, wenn er (gemessen an scholastischer Gewohnheit) als Argument zählen soll, durch sich selbst evident sein oder abgeleitet werden muß: Vnd die äussern werch oder vbung sol getan werden oder tun wir dar vmb: Zum ersten als ich vor gesprochen hab, das wir sei vnd leib vnd vnsere gute ding von got haben vnd von dem allen sull wir jm dienst erczaigen zu ainer vergehung seiner geschäffl [...] Vnd sullen jn an peten mit vsseren werchen, nicht allain darvmb, das es zimlich vnd pillich ist, sunder darvmb das wir es pflichtig sein ze tun, so es zeit vnd stat ist vnd so es auch sein sol.*1
Die Berufung auf die göttliche Gabe, die zuvor eher im Sinne einer moralischen Verpflichtung ausgeführt worden war, wird hier in die Sphäre des rechtlich Verbindlichen gehoben; es kommt dem Menschen nicht nur zu, Gott in äußeren Werken zu ehren, sondern diese Ehre ist ein dienst erczaigen: Der Lehnsherr kann den Mann abfordern, so es zeit vnd stat ist. Die Einkleidung in diese im späten Mittelalter nicht eben modernen weltlich-rechtlichen Vorstellungen verlangt eigentlich die Voraussetzung, daß es Gott selbst sei, der Zeit, Ort und Weise des Dienstes bestimmt. Das ist kein Eigengut des Redaktors, sondern findet sich parallel bei Nikolaus vor, der vom obsequium spricht. Die unpersönliche Formulierung so es zeit vnd stat ist wiederholt in dieser Schwierigkeit die Gratwanderung der Vorlage, die die Verehrung loco et tempore oportunis verlangt. Der Redaktor fügt noch an: vnd so es auch sein sol. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Vereinfachung, die (mittelalterlich christlichen) Zeremonialvorschriften seien von Gott, beiden Autoren für die Durchsetzung der religionspraktischen und weltlichrechtlichen Interessen der Kirche durchaus entgegenkommt; aber als Theologen müssen sie sich hüten, sie explizit zu behaupten. Nikolaus von
87
BAUMANN, Bd. 2, S. 520-521. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 171 V: fit autem cultus id est exterior primo propter hoc quia vi dictum est a deo tenemus animam corpus et exteriora bona nostra/ de omnibus istis debemus sibi obsequium ad recognitionem pleni dominii sui super totum hominem et omnia bona sua et deum adorare per actus exteriores debemus non solum de congruitate sed etiam de necessitate loco et tempore oportunis.
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Dinkelsbühl verzichtet deshalb auf eine Festlegung, die dem deutschen vnd so es auch sein sol entspräche. Der Redaktor dagegen fügt hier ein Sollen an, das in der allgemeinen Dienstpflicht aus der Vorlage nicht enthalten ist. So hinterläßt der Auseinanderfall von fordernder Instanz (Gott) und festlegender Instanz (Kirche) ein Begründungsdefizit, denn nur durch deren Identität wäre die Pflicht, die als Grund für die eigene Position gegen den Einwand ins Feld geführt worden war, hergeleitet, was den Gebrauch des Pflichtbegriffs in einem begründenden Nebensatz rechtfertigen würde; die unvollständige Schlußfigur muß folglich entweder als solche für den Text akzeptabel erschienen sein, oder aber der Pflichtbegriff im verwendeten Sinne galt als evident; dann aber wäre ein Versuch der Herleitung systematisch nicht nötig, und man müßte die Ausführungen über Belehnung und Dienst als ornamentale, verdeutlichende Wiederholung aufgefaßt haben. Es scheint aber, als sei dem Autor das Begründungsdefizit durchaus bewußt gewesen. Die beiden folgenden Punkte liefern nämlich nicht nur weitere Antworten auf die Frage, warum die äußeren Werke notwendig seien, sondern sie legitimieren gleichzeitig die stellvertretenden, temporären Forderungen der Kirche als notwendig gegenüber Gott (der nur ewig Geltendes fordert) und den Menschen: Zu dem andern mal so tun wir darvmb dy äusseren gute werche zu pesserung vnser nächsten [...] Vnd das wir den glauben haben, das mugen vnser nächsten nicht erkennen, nur mit solichen äusseren czaichen,88
Die Vorbildwirkung ist an die Verbindlichkeit von Normen gebunden, an deren Erfüllung sie sich mißt. Die zugrundeliegende Korrelation von eigenem Verhalten und dem Verhalten der anderen (mit dem Ziel eines gemeinsamen idealen Zustandes) entspricht dem Prinzip der Goldenen Regel, und zwar im Sinne dessen, was Hans Reiner als "Autonomieregel" charakterisiert, nämlich als eine "Forderung, dem eigenen Verhalten die eigene sittliche Beurteilung des Verhaltens anderer zu Grunde zu legen".89 Daß vnser nächsten den Glauben nicht anders als in geronnenen Formeln an uns erkennen können, bedeutet ja nichts anderes als die inverse Formulierung der Tatsache, daß wir selbst den Glauben der anderen nur so wahrnehmen. So ist es dem Autor
88
89
BAUMANN, Bd. 2, S. 521. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 171v: Secundo fit cultus id est exterior propter edificationem proximorum vt videntes talia a nobis fieri ad honorem dei incitentur ad similia quia huiusmodi exteriores ritus reuerentiales sunt quasi fidei protestationes quibus sibi ostendimus nos credere deum esse nostrum summum dominum etc/ et istam fidem nos habere proximi iudicare non possunt nisi per huiusmodi exteriora signa. REINER, R e g e l , S. 8 3 .
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gelungen, elementar menschliche Setzungen zwar noch nicht in ihrer Gestalt, aber doch in ihrer Notwendigkeit für naturrechtlich zu erklären, denn die Goldene Regel gilt seit Augustin bis zur Reformation (und weiter bis zu Thomasius)90 als Kernstück des Naturrechts. Die Verbindung zur Sphäre des Göttlichen muß nun aber, da das Naturrecht im Kult rein menschlich-naturrechtlich hergeleitet ist, wiederhergestellt werden, und so lautet die dritte Antwort: Zu dem dritten mal dar vmb, das wir mit dem leiplichen äusseren pet vnd werchen erkennen in vns dy jnneren werch der sei [...] Vnd die äusseren werch nimbt got auff gemainklich durch der jnneren werch willen der sei. [...] Also das wir mit den äusseren zaychen der diemütikayt, mit den erczaigt wirt leiplich dienst, erweckt werden, das wir vns got vnttertänigen.91 Die Zeichenfunktion wird von Gottes Akzeptanz her begründet und damit noch vor das Bezeichnete gesetzt: Das Zeichen dient zur Erkenntnis des Bezeichneten und sogar zu seiner Hervorbringung. Wenn das aber so ist, dann stellt sich der nächste Einwand Tun wir icht da mit wider das pöt, so wir solich aussre wirdikayt erpieten vnd erczaigen nit got attain, sunder auch der creatur?91 sozusagen von selbst, und er wiegt weniger leicht, als der Autor mit der Bemerkung
90 91
91
Vgl. REINER, Regel, S. 76-77. BAUMANN, Bd. 2, S. 521. Vgl. Wien N B Cod. 4354, fol. 171v/172r: Tertio ideo vt per exteriores gestus corporales excitemus in nobis interiores anime actus reuerentiales [...] et idem exterior cultus a deo acceptaturpropter cultum anime interiorem [...] ita vi per exteriora signa humilitatis quibus cultus corporalis exhibetur excitetur affectus ad subiciendum se deo et ad alias intentiones predictas et affectiones bonos/ tunc erit exterior cultus deo acceptus. BAUMANN, Bd. 2, S. 522. Wien NB Cod. 4354, fol. 172r: herum diceret aliquis prius dictum est quod exteriores actus reuerenciales quos exhibemus deo etiam aliquando secundum spiritualem exhibeantur creaturis/ quia sicut inclinamus nos deo/ aut flectimus sibi genua etc sic et sanctis et aliquando etiam hominibus. Die Hs. ist hier wegen mehrfacher Überarbeitung schwer lesbar. Auf dem Rand steht als Ergänzung zu dieser Stelle eine genauere Entsprechung zur deutschen Formulierung: facimusne per hoc contra diuinum preceptum cum talem exteriorem reuerentiam exhibemus non solum deo sed et creature.
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Habt ir dy voderen wort recht gehört, so antwurt ir selben dar aujf3
scheinen macht. Das äußere Zeichen, das in der Lage sein soll, die innere Seelenbewegung zu erkennen und als Stimulus der inneren Einkehr zu Gott zu wirken, erscheint, insbesondere in Hinsicht auf seine Erkenntnisfunktion, in einem anderen Licht, wenn es zwei mentale Entsprechungen hat. Der angebotene Ausweg ist ein Ausschließungsmechanismus: das sol gesehen in ainer andern mainung, so man die ding got erezaigt. Es sol auch geschehen in ainer andern mainung, so mans erezaigt der creatür,94
Für die Verehrung menschlicher Obrigkeit und der Heiligen steht fest: Das tü wir jn solicher mainung, das wir erkennen an jm ain obristikayt [...] mit der vns gehelfen mag werden, doch nicht sam der obrist oder der vodrist würcher.9>
Dieser Ausschließungsmechanismus ist an die Intention gebunden, aber die Intention erschien in der Lösung des zweiten Einwandes der Möglichkeit nach als abgeleitet, sofern es sich um die göttlich akzeptierten Zeichen handelt. Der Autor gerät hier in zwei Schwierigkeiten: in die Lage, rein intentional argumentieren zu müssen, und zudem in logische Begründungsnöte, denn im Sinne logischer Schlußfiguren hat sein Intentionsargument nichts gelöst. So braucht er zur anschließenden Explizierung des anscheinend so Leichten auch mehr Text als für alle drei Antworten zur ersten Frage zusammen. Er versucht den unterschiedlichen Geltungsbereich der Zeichenrelationen zu erläutern und stellt dabei doch nur fest, daß das Zeichen für drei Bedeutungen (Ehre für Gott, Heilige, Menschen) steht, die ihm vom Ausübenden gegeben werden können (aber nicht müssen), so daß er den zirkulären Beweisgang schließlich beendet mit der Empfehlung, doch auch äußere Unterschiede zur Markierung der inneren einzuführen:
93
94
95
BAUMANN, Bd. 2, S. 522. Diese Aufforderung fehlt in der ursprünglichen Fassung des lateinischen Textes; unter den Erweiterungen am Rand (172r), die die Ungewißheit noch einmal etwas ausführlicher darstellen, steht allerdings: Respondetur quod huius solucio patet ex supradictis bene inspectis. BAUMANN, Bd. 2, S. 522. Wien NB Cod. 4354, fol. 172r: hoc tarnen decet fieri alia intentione quando exhibeantur deo et alia quando exhibeantur creature. BAUMANN, Bd.2, S. 522. Wien NB Cod. 4354, fol. 172r: quando vero talia exhibemus creature tunc faeimus tali intentione quod recognoscimus quandam superioritatem in eo cui talia exhibemus per quam nos iuuare polest/ non tarnen tamquam principalis auetor etc.
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Vnd war pillich vnd wirdig, so wir jn das erczaigen, das wirs mäslich teten vnd ein mass darjnn hieten. Das nicht allain in der jnneren vbung, halt auch in der äusseren war ein vnderschayd in der erpietung gots vnd der creatur, das man doch nicht tut.96
Damit erweitern die Einwände die in den positiven Darstellungen bereitgestellten Muster des Urteils (syllogistischer Schluß und Konvenienzurteil) um deren Verbindung. Insofern sie gegenüber der dargestellten Norm nur das Warum begründen, tragen sie nichts zur Bildung eines sittlichen Urteils im engeren Sinne bei; aber indem sie versuchen, diese Norm verstandesmäßig zu begründen, unternehmen sie die Rückbindung an natürliche Normative, wie sie in den hochscholastischen Modellen vorgebildet worden war. Gleichzeitig erweist sich, daß eine solche Rückbindung nicht auskommt ohne nichtbegründbare Setzungen, die aber keine Glaubenssätze im engeren Verständnis sein müssen. Vielmehr handelt es sich um solche nichtbegründeten und im gewählten Rahmen keiner Begründung bedürfenden Voraussetzungen, die sich in einem Auslegungskonsensus stiften. Die argumentative Verarbeitimg solcher Prämissen und der Versuch ihrer Rückbindung - bzw. der Rückbindung der Folgerung - an Naturrecht zeigt an, daß sich der Auslegende des Problems bewußt ist, das sich mit solchem Verfahren verknüpft: daß die Auslegungskonsensus virtuell pluralisch auftreten und sich der eine gewählte dem, der naturrechtliche Begründung von Sittlichkeit einmal anerkannt hat, erst als evident legitimiert, wenn er sich syllogistischer Argumentation mit naturrechtlichen Prämissen inkorporieren läßt. Wo dies, wie in der Lösung des letzten Einwandes, nicht gelingt, wird der verstandesmäßigen Lösung (dem Vorschlag, auch die äußeren Zeichen der Verehrung zu differenzieren) gegen das Herkommen der Vorrang gegeben. Dadurch entsteht ein Gegensatz zu dem zuvor in rhetorischen Scheinbeweisen ausgeführten Standpunkt, und der verständig herleitbare wird im Sinne eines anzustrebenden Ideals (das man doch nicht tut) von diesem abgesetzt; um den Eindruck abzuschwächen, daß das Logische auch in Fragen des Kults dem Herkommen überlegen ist, schließt der Autor eine Augustinstelle an:
96
BAUMANN, Bd. 2, S. 523. W i e n NB Cod. 4 3 5 4 , fol. 172r: et esset dignum quod hoc moderate fieret vi non solum in interiori cultu sed etiam in exteriori esset differencia in honoriflcentia dei et creature quod tarnen non semper seruatur.
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Es sind vil ding, die dem gotlichen dienst sind czu zeaygent, da mit man ert dy menschen offt von vbriger diemütikayt wegen oder von posen zu smayken wegen, das doch nicht gut ist.71 Damit endet die Antwort auf den zweiten Einwand und gleichzeitig auch der erste, affirmative Auslegungsteil. Ich habe alle Lizenzen vermerkt, die sich der Redaktor darin gegenüber einer korrekt ableitenden Darstellungsweise (die auch in der scholastischen Wissenschaft nur angestrebt wurde, aber nie erreicht worden ist) herausgenommen hat.
4.2.
Das vierte Gebot
Zur leichteren Übersicht stelle ich wiederum die Gliederung der Auslegung des Gebotes voran. 98
97
98
BAUMANN, Bd. 2, S. 523. In Wien NB Cod. 4354, fol. 172r heißt die Stelle: quia vt ait Augustinus IV de civitate dei Multa de cultu diis usurpata sunt/ que honoribus deferuntur humanis/ siue humilitate nimia/ siue adulatione pestifera. Das entspricht Augustin De civitate Dei X, cap. IV: Multa denique de cultu divino usurpata sunt, quae honoribus deferrentur humanis, sive humilitate nimia sive adulatione pestifera (ed. Dombart Bd. 2 S. 407). Der Zusammenstellung der Besserungsvorschläge für inhaltlich entstellende Lesarten der Ausgabe von BAUMANN (nach Wien NB Cod. 3054 fol. 434r ff.) gebe ich diesmal noch zwei Erklärungen bei. Die Auslassung S. 600 Z. 87 muß zwingend durch Nachtrag aus W gebessert werden, denn sie betrifft das eigentliche Zitat aus dem Kolosserbrief (Col 3,20), und das Z. 88 als Zitat ausgewiesene Stück ist die Auslegung dazu. Ferner sind S. 602 Z. 185-186 20 capitulo [...] Prouerbiorum zu streichen, nachdem die Lesart in ähnlicher Formulierung nach W in Z. 183 eingefügt wurde; es handelt sich offensichtlich um einen ungeschickten Besserungsversuch eines Schreibers, der bemerkt, daß er etwas ausgelassen hat, und es vor dem Ende des Unterpunktes noch nachtragen will. Die Richtigkeit der Lesart von W ergibt sich zwingend, sobald man die Schriftzitate nachschlägt. Meine Korrekturvorschläge benutzen wieder die Zeilenzählung von BAUMANN. 7 schuldig] mer schuldig W\ 27 pabst] probst W; 48 etwan got] etwenn W; 73 vber sich] vnd sew vber sich W\ 80 so sij] Zu dem driten mal sint schuldig sun vnd tochter gehorsam ze sein vater vnd muter so sij W; 87 ad Coloniceum 3 spricht er] ad Colocenses 3 spricht er aber in allen dingen so schult ir gehorsam sein vater vnd müter das verstet also IV; 102 dij selben] sy selber W\ 153 enpfalch er] enpfalch er sy W; 183 muetter] muetter den schol man toden Vnd prouerbiorum XX capitulo Wer da fluecht vater vnd müter W; 185 20 capitulo bis Prouerbiorum] fehlt W; 189 jn ausczewarten] oder von vordriessen wegen jn ausczewarten W; 201 die nert] dinen W; 222 sullen] sullen gegen W\ 226 geperen] darvmb das si ir vndertan geperen W; 259 als hin vnd ym yemer schuldig ist vnd wirt] anhin vnd ie mer er schuldig ist vnd wirt ie mer er darumb leiden mueß W; 276 panfastag] What pan vastäg, besser vielleicht den pan vnd
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A: Geltungsbereich des Gebotes: 1) Gott, 2) geistlicher Vater, 3) natürlicher Vater. 1) in Geboten 1-3 behandelt. Gründe für Verehrung eines Menschen: a) Stand, b) empfangene Wohltat. B: Ehrung der natürlichen Eltern (Dank für empfangene Wohltat) B l ) Normumfang: Dankbarkeit für natürliches Leben äußerliche Zeichen der Verehrung Gehorsam in Fragen der Sitte und der häusliche Einrichtung gebührende Ehre im Gespräch Versorgung und Betreuung bei Krankheit Ernährung und Obdach bei Bedürftigkeit. Spezialfälle: Ordenseintritt bei Bedürftigkeit der Eltern? Fall 1: Eltern ohne Kind nicht überlebensfähig: Ordenseintritt unzulässig Fall 2: Eigenvermögen der Eltern oder Versorgung vor Klostereintritt: dann keine Sünde Fall 3: Bedürftigkeit entsteht nach Eintritt des Kindes in den Orden: Rückkehr in die Welt nicht möglich, Bitte bei Oberen um Hilfe für Eltern empfohlen. B2) Verstöße: generelle Nichtachtung verbale Beleidigung und Spott Verfluchung Tod wünschen körperliche Mißhandlung mangelnde Hilfs- und Dienstbereitschaft mangelnde Ernährung und Versorgung Ungehorsam in Dingen, in denen Eltern empfehlungs- oder weisungsberechtigt C) Verehrung des geistlichen Vaters (entsprechend Stand und Gabe) C l ) Normumfang: äußere Ehrerbietung äußere Rechte: Zehnt, Opfer etc. Gehorsam C2) Verstöße: Richten der Taten der Oberen, Nachrede und böse Meinung Fluch, Böses wünschen
die fastag; 301 dancken] dancknäm W\ 302 vndancken] vndancknäm W; 304 leyplichen] leyplichen leben W; 305 dancken] dancknäm W; 307 des leben seins lebens] des selben seins lebens IV; 308 vndancknem er] vndancknemer W; 314 vns offent] vns nicht offent W\ 321 verslessen] verslossen W; 331 Pauls] Peter W; 338 der der] des W\ 342 Pauls] Peter W; 351 mautt] mawt, dem gebt zol vnd mawt W\ 352 orden] er W.
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Säumigkeit bei Abgaben mangelnder Gehorsam Sonderfall: Verschärfung der Sünde bei: Ungehorsam gegen Klosterobere Verstoß gegen Anweisungen der Mutter Kirche D: Fragen zum biblischen Lohn der Befolgung des Gebots D l ) Warum zu diesem Gebot? Antwort nach Alex. v. Haies: Symmetrie der Verhältnisse; Eltern durch Natur auf Kindesliebe fixiert, Kinder durch Verheißung auf Elternliebe. D2) Warum langes Leben verheißen? Antwort nach Thomas: Undankbarer verliert das Gut, für das er undankbar. E: Erweiterter Geltungsbereich des Gebotes (zu A b): das Alter ehren Gelehrte und Weise ehren weltliche Fürsten ehren, weil: biblisches Vorbild, Furcht, Gegenleistung für Schutzfunktion, Gegenleistung für Mühe.
Die Einleitung benutzt den scholastischen Topos vom dreifachen Vaterbegriff nur als beiläufigen Ausgangspunkt. Die drei möglichen Vaterinstanzen werden jeweils kurz erklärt; dabei wird die Vaterrolle Gottes mit der Bemerkung Vnd wir eren in nicht mit dem daigen pot, sunder mit den ersten drein poten99 aus der weiteren Betrachtung ausgeschieden. Nachdem die offenkundig bekannten Topoi schnellstens absolviert und mit einigen Stellen aus Bibel und Glossa ordinaria (und einem Thomas-Zitat aus der Secunda secundae, was erweist, wie sehr diese Teilschrift schon für Grundsatzerklärungen und Generalbeweise vereinnahmt worden war) bekräftigt wurden, wird die eigentliche Ausgangsthese aufgestellt:
99
BAUMANN, Bd. 2, S. 598. Wien NB Cod. 4354 fol. 182v: depatre primo modo dicto scilicet de domino deo non intelligitur presens mandatum quia de honore sibi exhibendo positum est primum mandatum/ sed intelligitur de patre secundo et tertio modis.
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Zu dem andern mal suit ir merken, es sind czwo sach, durch der willen wir etwenn lieb haben [...] Dij erst ist so ainer ist ains hohen stand. [...] dij ander sach ist die güttät, die wir von jm enpfangen haben.100
Damit wird eine Analogie zur Verehrung Gottes hergestellt. Die analoge Prämisse im ersten Gebot hieß: Wir bedürfen Gottes und seiner Gaben; er bedarf unser nicht. So war das Prinzip der Entsprechung von Geben und Nehmen auf eine elementare Konstellation im Verhältnis des Geschaffenen zum Ungeschaffenen zurückgeführt worden, und die beiden Gesichtspunkte, die in der Exposition zum 4. Gebot auftauchen, nämlich Ehre um des übergeordneten Standes willen und um der empfangenen Gabe willen, fielen im ersten Gebot zusammen. Die Ausdehnung auf menschliche Verhältnisse kann nicht mit der wesensmäßigen Verschiedenheit von Ungeschaffenem und Geschaffenem arbeiten und macht deshalb unterderhand eine andere Voraussetzung, nämlich das Prinzip der Goldenen Regel in seiner negativen und positiven Fassung: Was du willst, das man dir tu.... und Was du nicht willst, das man dir tu Damit ist die Hälfte der Exposition, die Ehrung für empfangenes Gutes, eine naturrechtliche Setzung; dagegen wird die Ehrung des Standes unkommentiert behauptet, sie unterstellt einen Unterschied im Handlungsspielraum, der dem im Gott-Mensch-Verhältnis vergleichbar ist.10' Man könnte erwarten, daß im Anschluß, insbesondere bei der Behandlung der geistlichen Väter und der Landesväter, mit beiden Voraussetzungen gleichberechtigt argumentiert wird. Es wird sich aber zeigen, daß die Durchführung dieser beiden Gedanken den Stand immer auf das Verdienst durch die empfangene Gabe zurückzuführen versucht. Die eigentliche Behandlung der Elternliebe beginnt mit der Liebe zu den leiblichen Eltern, obwohl diese in der Zusammenstellung oben erst an dritter Stelle standen. Die sechs Punkte, die zur affirmativen Darstellung der Elternehrung gehören, werden schlicht addiert; es gibt zwischen ihnen keine kausalen Verknüpfungen. Auch daß die erste Forderung (Dankbarkeit für das gegebene Leben) auf einen inneren Zustand, die Pflichten 2-6 jedoch auf
100
101
BAUMANN, Bd. 2, S. 598-599. Ich zitiere hier und im folgenden den nach den oben unterbreiteten Vorschlägen gebesserten Text. Die Interpunktion wird wie in der Auswertung des ersten Gebotes dort, wo es sich erforderlich macht, sinnentsprechend geändert. Dazu Wien NB Cod. 4354 fol. 182v: Tertio notandum quod vt dich sanctus Thomas 22 q 101 homo efficitur multipliciter aliis debitor secundum diversam eorum excellentiam et secundum diversa beneficia ab eis suscepta. Die Analogie zur Gottesliebe wird ausdrücklich auf beide Aspekte bezogen: Vnd durch der daigen czyvayer sach willen sey wir schuldig got czu eren, lieb haben vnd czu dienen. Baumann, Bd. 2, S. 599. Vgl. Wien NB Cod. 4354 fol. 182: in utroque autem illorum deus summum tenet locum quia excellentissimus est.
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Regeln des äußeren Verhaltens zielen, bleibt unkommentiert. In einem der bezifferten Untergliederungspunkte wird zur Bekräftigung auf Autoritäten Bezug genommen; sie werden meist nur zitiert und allenfalls mit einem knappen Hinweis darauf versehen, wie man das Zitat im Hinblick auf das Gebot zu verstehen habe: Tu dem andern mal sind schuldig sün vnd töchter, das sy habenl vatter vnd mütter ersamklichen auch mit äusseren czaychen. Als das sy gegen jn auffsten vnd naygen [...] Desgleychen stet geschriben ad Romanos 13" capitulo: Cui honorem. Do spricht die glos: Erczaigt vnd gebt wider er vnd wirdikayt, den ir des schuldig seyt, stet auff gegen in vnd ander samlich ding tut gegen jm.m Einzig der sechste Punkt, die Verpflichtung zur Ernährung und Versorgung der Eltern, ist dem Autor Anlaß zu näherer Erläuterung, und hier ist nicht von Formfragen der Sittlichkeit, sondern von der moralischen Pflicht zur Ausnutzung von Vermögenswerten die Rede: Zu dem sechsten mal sind dij kinder schuldig, das sy vatter vnd mutter neren vnd füren ob sij sind arem [...] vnd das sullen sij tun von irer aygen hab, ob sys haben oder arbaijten dester fleyssigklicher, dester vester vnd tun andern fleijss darczü, das sij sew neren.m Zu diesem Problem wird ein Spezialfall aufgestellt, der in eine kasuistische Entscheidung mündet: Was ist zu tun, wenn ein Kind hilfsbedürftig werdender Eltern in ein Kloster gehen will? Die Aufstellung dieses Problems wird wie eine Bekräftigung des vorher Gebotenen aufgefaßt und einer Autorität in den Mund gelegt: Item die kinder sind halt so gar strenglichen pflichtig czu neren vnd czu füren vatter vnd mütter vnd sy auffzehalden als sanctus Thomas spricht 2a 2e questione 101: Ob ein sun oder ein tochter wolt in ainen orden varen vnd vatter vnd mütter mochten an sew nicht geieben noch sich neren, so sol der sun oder die tochter in
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BAUMANN, Bd. 2, S. 599. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 182v: Secundo reuerentia parentibus a liberis suis debita consistit in signo vt in exteriori reuerentiali exhibitione que fit assurgendo ipsos supra se locando aut aliis similibus modis ita enim accipitur honor Ro 13 vero dicitur cui honorem honorem super quod dicit glosa reddite cui debetis honorem vt assurgere et huiusmodi. BAUMANN, Bd. 2, S. 600. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 183r: Tertium est exhibitio necessariorum vt si sint pauperes ipsis vite necessaria pro posse ministrent et hoc de propriis facultatibus/ que si non sufficiunt utrisque scilicet parentibus et liberis addant liberi proprium laborem.
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den ordert nicht varen, sünder er sol beleiben hye vor vnd sol vatter vnd mutter neren.104
Angefügt werden noch weitere Spezialfälle: Es ist keine Sünde, dem Orden beizutreten, wenn die Eltern über eigenes Vermögen verfügen, um sich Hilfe zu organisieren, nicht Sünde, wenn ihnen eine Abfindung ihren künftigen Lebensunterhalt sichert, und es ist auch keine Sünde, nicht für sie sorgen zu können, wenn das Kind sich bei Eintritt des Notfalles bereits in dem Orden befindet. Der Anschein der einfachen Addition mit Item und der bekräftigenden Steigerung (so gar strenglichen pflichtig) kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier in der Auslegung des Gebotes zum ersten Mal ein wirklicher Normen- und Wertekonflikt behandelt wird:105 Es ist ohne Zweifel ein Wert, für sein eigenes Seelenheil zu sorgen und in einem Orden ein gottgefälliges Leben zu fuhren, und es ist ebenso unzweifelhaft ein Wert, sich im Sinne der Goldenen Regel zu den Eltern zu verhalten, wie sich diese selbst verhalten haben, indem man sie nährt und kleidet. In den bisherigen Unterpunkten der affirmativen Normdarstellung waren Inhalte vorgeschlagen worden, die durch die Autorität des Auslegenden und durch zusätzliche Autoritäten als Erfullungsweisen für das Gebot gelten konnten. Nahm ein Urteilender diesen Auslegungsvorschlag an, so konnte er nunmehr sein Gewissen binär im Sinne eines Ja/Nein befragen. Des Urteils über den Auslegungsvorschlag selbst (und das heißt: über den Normumfang) wäre er nur dann nicht enthoben, wenn er bereit wäre, ihn zu problematisieren, das heißt potentiell anders auszulegen. Das liegt aber jenseits der Urteilsleitung durch den Text, der vielmehr - wie es schon unter dem ersten Gebot zu beobachten war - von einem Auslegungskonsensus als Urteilsgrundlage ausgeht. Mit der Einfuhrung der kasuistischen Unterscheidung nach Thomas gelangen zum ersten Mal die Voraussetzungen eines speziellen sittlichen Urteils und die Umstände der Handlung ins Blickfeld. Gleichzeitig verschiebt sich aber auch
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BAUMANN, Bd. 2, S. 601. Vgl. Wien NB Cod. 4354 (Autograph), fol. 183r (gehört zu den Ergänzungen auf dem Rand): Item liberi sie stricte obligantur ad parentum sustentationem quod vt dicit sanetus Thomas 22 q 101 si homo adhuc in seculo constitutus habet parentes qui sine ipso sustentari non possunt ipse non debet ipsis relictis intrare religionem alias transgreditur preeeptum hoc quartum. Da diese Passage im Autograph des Nikolaus von Dinkelsbühl zu den auf Blatt 183r nachträglich am Rand zugefügten Teilen gehört, ist sie wohl als sekundäre Erweiterung aufzufassen.
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die Darstellungsebene. Waren vorher alle Normen und Pflichten aufgezählt und - wenn auch in diesem Gebot bisher nicht systematisch, sondern durch Autoritatsbeweis - hergeleitet und erläutert worden, so wird hier eine Entscheidung, und zwar sündhaft/nicht sündhaft, zwar nach gehöriger Darstellung der Umstände, aber ohne weitere Erklärung gefällt. Es geht also nicht um Normerklärung, sondern um Normspezifizierung, und die Addition des Normwissens vollzieht sich durch die Vorausschau auf das Urteil eines idealen, angenommenen Beichtvaters (der in seiner Entscheidung durch die Autorität des Thomas gestützt wird). Dieses Urteil muß aber im vorliegenden Kontext offensichtlich nicht syllogistisch begründet werden (obgleich gerade hier Einwendungen des Typs: Soll man Gott nicht mehr als den Menschen dienen? leicht möglich wären). Das Nachvollziehen des sittlichen Urteils in diesem Spezialfall strebte also ein Vorwegnehmen des Urteils jenes idealen Beichtvaters an. Die Setzungen, die das Gebot mit möglichen Inhalten füllen, waren ebenfalls nicht abgeleitet worden, aber sie stammten der Darstellung nach vom Auslegenden selbst und erweckten dadurch, daß sie sich auf die naturrechtlich aufgefaßte Prämisse von der Rückerstattung der empfangenen Gabe stützen konnten, den Anschein von Evidenz, der durch die konventionellen Schriftbelege noch verstärkt wurde. Die Entscheidungen des hypothetischen Urteils in der kasuistischen Auffächerung zum Ordenseintritt werden dagegen explizit in die Person einer Autorität verlegt. Dabei liegt das Einbeziehen des Spezialfalles als Akt noch auf der Ebene der gliedernden Setzungen des Autors, die den Normumfang bestimmen. Die Entscheidungen über die Sündhaftigkeit in den Spezialfalien verläßt aber die Ebene gliedernder Setzungen. Sie würden sich grundsätzlich dem Versuch theologischer Ableitung (etwa nach dem Grundsatz: keine Sünde tun, um etwas Gutes vollbringen zu können) nicht widersetzen, aber diese Ableitung käme nicht mit den Prämissen der Exposition (Ehre für Stand und empfangene Gabe) aus; für den Text figurieren die Entscheidungen über die Sündhaftigkeit in den drei Fällen also auch als Setzungen, aber als solche einer zweiten Stufe, als nicht beweisbedürftige Urteile einer idealen Richterinstanz. Dem sittlichen Vermögen wird damit nicht mehr wie bisher ein Gegenstand seines Urteils als Normbestandteil so vorgegeben, daß das Urteil als Erfüllung oder Nichterfüllung zweifelsfrei und binär gefällt werden kann, sondern ihm wird ein Fall als Normbestandteil vorgeführt, der den Bereich der Zweifelsfreiheit verläßt. Die Autoritätszitation erhält damit eine doppelte Funktion für den Textaufbau: sie stützt die Aufnahme des Falles in den Bereich des Normumfanges, und sie verbürgt gleichzeitig die Richtigkeit der in ihrem inneren Schlußmuster nicht vorgeführten sittlichen Entscheidung. Ein handlungssteuerndes Urteilsvermögen, das sich nachvollziehend an diesem Text bilden wollte, hätte also nur die Möglichkeit, die Autorität als genügenden Beweis anzuerkennen; den Schluß der conscientia nachzubilden, der zu
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diesem feststehenden Ende führt, ist im engeren Sinne kein sittliches Urteil mehr.106 Die anschließende Zusammenstellung von Sünden gegen das Gebot hinsichtlich des leiblichen Vaters mutet wie eine spiegelbildliche Entsprechung der positiven Entfaltung des Normumfanges an. Dennoch lassen sich die Sünden nicht als einfache Negationen zu den Untergliederungen des Normumfangs auflösen; einige von ihnen sind bald allgemeiner, bald spezieller gefaßt als dort. So ist körperliche Mißhandlung nicht nur das Ausbleiben äußerer, gestischer Ehrerbietung, Verfluchung fallt nicht allein unter das Gebot, die Eltern in Worten zu ehren, und den Eltern den Tod zu wünschen verstößt eigentlich gegen alle der positiv angeführten Pflichten. Anderseits fallen allgemeine Mißachtung, Ungehorsam, mangelnde Dienstbereitschaft und Unterlassen der Ernährung und Kleidung genau mit den Negationen des positiv Dargebotenen zusammen. Dieser Befund läßt die Vermutung zu, daß sich der Sündenbegriff, der der Darstellung zugrundeliegt, nicht restlos aus der Normvorstellung des Textes ableiten läßt - denn sonst müßte Sünde der Verstoß gegen die aufgefächerte Norm sein, und eine gesonderte Darstellung erübrigte sich. So wird Sünde zwar auch begriffen, sonst gäbe es nicht die negativen Spiegelungen, und das heißt, daß in einem Übereinstimmungsbereich von negativer und positiver Darstellung die Sünde mittelbar auch an naturrechtliche Vorstellungen geknüpft ist. Aber die Auflistung von Spezialfällen verweist auch auf eine andere Traditionslinie, die der Tugend- und Lasterkataloge, die auf Einbettung in ethische Systeme weitestgehend verzichten. Ein handlungssteuerndes Urteil nach solchen Normativen stellt nicht das Streben nach dem Guten, sondern nach der Übereinstimmung mit etablierten Werten in den Vordergrund, es ist also ein moralisches (kein ethisches) Konvenienzurteil. Dieses Konvenienzurteil ist gegenüber demjenigen, das den Setzungen des positiven Normumfangs folgt und sich dabei auf einen Auslegungskonsens beruft, um einen weiteren Zwischenschritt von den ursprünglich postulierten naturrechtlichen Prämissen entfernt, denn es wählt nicht mehr nur Gegenstandsbereiche für das Urteil, sondern fertige Urteile innerhalb eines Kataloges von Spezialfällen aus. Daß im Text beides nebeneinandersteht, verwischt den grundsätzlichen Unterschied zwischen den Herangehensweisen; die etablierten Werte und Bewertungen erscheinen als die einzig legitimen Vertreter einer Wertewelt, die sich in Auslegung gründet, aber weder das Auslegungsmonopol noch die Ablösung des Verstandenen vom ausgelegten Text und seine Anverwandlung an neue Interessen und
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Das Feststehen des Schlusses läßt die Aufgabe, das Schlußmuster nachzuvollziehen, zu einer rein logischen Übung werden, und das ist nicht das Feld der ratio practica.
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Kontexte thematisiert. Es ist bezeichnend, daß in die logische Leerstelle, die durch die behauptete, aber nicht durchgeführte Rückführung auf naturrechtlich-ethische Muster entsteht, die Argumentation mit einem andersartigen Wahrheitswert eintritt:107 die mit dem Wahrheitswert des Exempels. 108 Der Nikolausbearbeiter verwendet im besprochenen Abschnitt ausschließlich biblische Begebenheiten, die in seinem klar wertenden Referat zu Exempla werden. 109 Dadurch ist die Kontinuität zur vorherigen Berufung auf Auslegungswahrheit und Auslegungsübereinstimmung gewahrt, und dennoch handelt es sich nicht um denselben Typ von Autoritätsberufungen wie seine vorherigen Zitationen von Schrift und Vätern, auch wenn die Stellen durchaus in geläufigem Sinne referiert werden, wie seine Illustration der Sünde allgemeiner Nichtachtung des Vaters zeigt: Das ist offenbar an Kaym vnd Absolon. Chaym spottat seins vatters. Darvmb ist sein sün von got gepeinigt worden in ewigem dienst seiner prüeder Sem vnd Yaphet. Als geschriben ist Genesis 9° capitulo. Vnd Absolon vnert sein vatter, wann er in aus seinem reich vertraib vnd beschlieff seins vatter hawsfrawn. Darvmb so nam er ein vnrain tod, wenn da er sich hieng mit dem kär an den pawm, do ward er mit ainem sper durchstochen. Als geschriben stet in dem andern püch der kunig.uo Selbstverständlich sind das keine originären Deutungen, aber dem Auslegenden scheint es auch nicht nötig, auf einen Urheber der Deutung hinzuweisen,
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Das heißt, daß der Anspruch der Argumentation auf Folgerichtigkeit und Wahrheit aber im ganzen gewahrt bleiben soll. Es handelt sich um argumentative Exempla, deren Eigenart im Mittelalter nach Peter von Moos darin besteht, daß sie "nicht mehr (wie etwa bei Aristoteles) allein auf historischer Faktizität, sondern ebenso auf autoritativer Textualität, auf Worten, nicht nur auf Taten" beruhen. Moos, Nase, S. 64. In der Vorlage handelt es sich dagegen um rein illustrative Exempla, im Autograph in der rechten oberen Blattecke von 183r nachträglich zugefügt, und zwar, wie es der Blattaufteilung nach scheint, noch nach den Randergänzungen zu den Pflichten der Kinder, in denen der Kasus des Klostereintritts bei Bedürftigkeit der Eltern verhandelt wird. Auch wenn innerhalb der lateinischen Tradition diese Stellen in den Text selbst gelangt sind, blieben sie doch dort potentiell verzichtbar (denn der erste Entwurf des Nikolaus ohne die Ergänzungen ist ein in sich lesbarer und vollständig argumentierender Text). BAUMANN, Bd. 2, S. 602. Im lateinischen Autograph ist der Nachtrag in der rechten oberen Ecke des Blattes zwar eindeutig inhaltlich als die Wiedergabe ebender Exempla zu identifizieren, aber sehr schwer genau zu lesen. Wegen eines auffälligen Verweiszeichens ist klar zu sehen, wohin diese Ergänzung gehören sollte: in den ersten Satz über die Übertretungen, nach dem Satz des ersten Entwurfes: Qui timet dominum honorat parentes.
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wie er es in der positiven Normdarstellung noch für erforderlich gehalten hat, denn dort heißt es einleitend zu einem der Punkte: Vnd sanclus Ambrosius super Lucam 8 capitulo erczelt vil sach durch der willen sun vnd tochter sullen lieb haben vatter vnd mutter vnd sy neren vnd fliren. Vnd er spricht, ob du nerst dein mutter darvmb so hast du ir nicht wider gegewen oder genüg getan [...].'"
Die Verfehlungen dagegen werden als "exempelfahig" angesehen, aber man bleibt im Bereich des Biblischen, weil dort moralischer Sinn für die einzelne Begebenheit nicht eigens begründet werden muß, sondern sowohl in seinem Vorhandensein als auch in seinem Wahrheitswert jenseits allen Zweifels (und also auch jenseits der Nötigung zur menschlich-logischen Herleitung, sei es deduktiv, induktiv oder durch Analogie) liegt. Daß der Wahrheitswert an sich zwar durch die Glaubensgemeinschaft begründet ist, der besondere Wahrheitswert jeder einzelnen (menschlichen) Darstellung aber dieser Begründung notwendig entbehren muß, liegt jenseits des Betrachtungshorizontes; und das heißt, daß nicht nur einem Auslegungskonsens (wie in der Berufung auf die Auslegung des Ambrosius), sondern auch einem Darstellungstopos, das heißt hier: einem von vielen ähnlich wiederholten finalen Referat einer Stelle, beweisender Wert zugebilligt wird. Hinsichtlich des Normumfangs ergibt sich dadurch eine zusätzliche Möglichkeit, Regelwissen zu addieren, das sich nicht auf deduktivem Weg aus naturrechtlichen Prämissen ableiten läßt. Der Schritt von der Berufung auf den Auslegungskonsens zum exemplarischen Topos ist eine Bewegung, die hinter die Reflexion des bewußten In-eins-Stellens mit der Tradition zurückführt und die das Resultat einer ursprünglich einmaligen Auslegung so darstellt, als handele es sich um alltägliches, keiner Offenbarung bedürftiges Erfahrungswissen. Wenn man diesen Schritt vom hohen Argumentationsniveau lateinischer scholastischer Ethik aus betrachtet (und die illustrative Randstellung exemplarischer Begebenheiten im lateinischen Text als Folie nimmt), wird er leicht als Rückschritt und als eine Konzession an das Verständnis der Ungelehrten wirken. Er hat aber einen positiven Aspekt insofern, als er diejenigen nichtschulmäßigen Schlußmuster, die auch der Fassungskraft eines nur elementar ausgeprägten Urteilsvermögens entsprechen, in die Skala der Wahrheitswerte aufnimmt, so daß zumindest die Möglichkeit
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BAUMANN, Bd. 2, S. 600-601. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 183r, gehört zur Randergänzung: Et Ambrosius super Lucam id dicit si paueris matrem non reddidisti ei cruciatus quos propter te passa est non obsequia quibus te gestauit non alimenta que tribuit tibi pietatis affectum immulgens labris ubera non famem quam pro te ipsa tollerauit ne quid quod tibi noxium esset comederet ne quid quod lacti noceret hauriret tibi illa ieiunauit tibi manducauit.
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besteht, diese Wahrheit des topischen Exempels mit anderen Wahrheitstypen zu verknüpfen. Das ist gut rhetorische Gewohnheit, aber es findet in einem schriftlich geprägten Argumentationsrahmen statt, der den scholastischen Anspruch des Ableitens und fragenden Erwägens aufrechterhält; dadurch erscheint auch der Gesamtumfang der dargebotenen Norm als quasikausal abgeleitet und damit als feststehend, obgleich auf diese Weise beinahe beliebiges Regel wissen addiert werden könnte. Bei der Erläuterung der Pflichten gegen die geistigen Väter und Mütter tritt der Auseinanderfall von Darbietung der positiven Norm und Sündenkatalog noch deutlicher zutage. Die Ausweitung des Gebotes auf geistliche Vorgesetzte legitimiert der Autor noch vor der Unterscheidung der einzenen Normbereiche durch Autoritätszitat:112 denselben geijstlichen vattern vnd müttern sind schuldig ir vndertan von des pots wegen als man das nimbt aus der ler sancti Thome vnd Allexandri de Hallis, das sy sich sullen erberklich vnd diemuttigklich gegen in halden.m
Die erste Pflicht (gestische Ehrerbietung) wird nur genannt, für die zweite und dritte werden jeweils Gründe angeführt. Dazu dient beim geistlichen Gehorsam (dritte Pflicht) ein mit als sand Pauls schreibt114 eingeführtes Schriftzitat, während der Einhaltung der weltlichen Pflichten ein eigens begründender Satz gewidmet wird: Zu dem andern mal sind sy schuldig, das sy in ordenlichen vnd ganczlichen raichen vnd geben ire recht, die in czu gehorent nach kristenlicher Ordnung, als do ist czehent, das opfer vnd ander ding des diener der kirchen leben sullen. Wann dasselb ist ir Ion vnd ir sold vmb ir arbaijt, die sie tund mit dem volck in geystlichen dingen als do ist predigen vnd raichent die sacrament.115
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Und zwar im Unterschied zum Autograph des Nikolaus von Dinkelsbühl, wo die Namen fehlen, wo also eher auf gemeinsame sittlich-rechtliche Überzeugung im Sinne eines auch moralisch aufgefaßten Gewohnheitsrechtes rekurriert wird. BAUMANN, Bd. 2, S. 604. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 183r: Istis ergo patribus et matribus spiritualibus obligantur ex hoc precepto subditi eorum primo ad honorem et reuerentiam verbis et exhibitione exteriori. Im lateinischen Text kommt im gesamten Abschnitt weder Thomas noch Alexander von Haies vor. Der deutsche Bearbeiter muß seinen Stoff also hinreichend beherrschen.
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BAUMANN, Bd. 2 , S. 6 0 4 , Z. 2 4 4 - 2 4 5 .
UI
BAUMANN, Bd. 2, S. 604. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 183r: Secundo obligantur eis subditi ad solucionem decimarum suis ecclesiis debitarum et ad solucionem oblationum et aliorum iurium ordinatorum ad sustentationem ministrorum ecclesie/ hec enim sunt tamquam stipendia laboris ipsorum quem habent aut habere tenentur pro subditoris gubematione.
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Der Verweis auf die kristenlich Ordnung ist eine Berufung auf positives Recht, das durch seine Subsumtion unter das Gebot den Anschein naturrechtlicher Ableitung erhält. Nun ist die Ableitung gerechter Gesetze in Systemen mit naturrechtlicher Fundierung von Recht und Sittlichkeit aber umgekehrt: Als gerechtes Gesetz gilt, was sich als Folgerung aus natürlich-sittlichen Normen ableiten läßt, und aus diesem Grund war die Verpflichtung bei Nikolaus von Dinkelsbühl auch eigens in sich begründet worden: als Verpflichtung ad solucionem oblationum et aliorum iurium ordinatorum ad sustentationem ministrorum ecclesie."6 Diese Begründung der Rechtsnorm wird im deutschen Text ausgespart und durch den Verweis auf die kristenliche Ordnung ersetzt. Der zweite Teil der Begründung des Nikolaus wird dagegen angefügt: Wann dasselb ist ir Ion vnd ir sold vmb ir arbaijt.nl So entsteht, anders in der Vorlage, in der die Gesetzlichkeit der Norm konsequent abgeleitet wird, im deutschen Text eine doppelte Verweisstruktur: die Abgabenpflicht soll als ein gerechtes Gesetz der christlichen Ordnung legitimiert und zugleich - insofern diese christliche Ordnung eben nicht wiederum hergeleitet, sondern selbst als Begründung verwendet wird - als eine Pflicht aus dem vierten Gebot begriffen werden; der Mühe solcher doppelten Begründung einer Norm unterzieht sich der Autor an dieser Stelle, die er dadurch exponiert, zum ersten Male. Im Sündenkatalog bildet der Verstoß gegen diese Forderung eine doppelte Ausnahme; zum ersten, weil er sich genau auf eine positive Normbestimmung bezieht, zum anderen, weil andere Handlungen schlicht als sündhaft und gebotswidrig qualifiziert werden, während hier eine Proportionalität von weltlich-materieller Schuld und jenseitiger Pein behauptet wird: Zu dem dritten mal tund dawider, dy in nicht raichent vnd in trewlich gebent ire recht, dij sy in schuldig sein. Als do ist czehent, gewöndlichs oppfer, ewigen dienst oder grundrecht vnd ander samlich ding. Item sy sind halt schuldig alles das, das sy vergessen hahent wider cze gehen vnd die weyl sy des nicht tund, so sundent sij gleichs an hin vnd ie mer er schuldig ist vnd wirt ie mer er darumb leiden muß.m
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Autograph fol. 183r. BAUMANN, Bd. 2, S. 604, im Autograph fol. 183r bei Nikolaus: hec enim sunt tamquam stipendia laboris ipsorum quem habent aut habere tenentur per subditoris gubernatione. BAUMANN, Bd. 2, S. 604. Die Stelle ist in cgm 392 und Ausgabe wieder durch eine Auslassung unverständlich geworden. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 183r: Tertio qui subtrahunt eis iura que ipsis aut eorum ecclesiis sunt debita vi qui non soluunt decimas et oblaciones conswetas et cetera huiusmodi.
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Diese Proportion mit jenseitigen Strafen hat der Bearbeiter zugefügt. Sie bedeutet, zu ihrem theologischen Ende gedacht, daß ein Verstoß gegen naturrechtlich begründbare menschliche Normen mit Naturnotwendigkeit maßentsprechende jenseitige Konsequenzen haben wird: Das Naturrecht gilt dann auch für Gott. In den übrigen Punkten stimmt dieser Sündenkatalog nicht spiegelbildlich mit den positiven Bestimmungen überein. Auch hier wird Normwissen addiert, aber diesmal verzichtet der Autor auf die Herleitung durch Deutungstopoi für biblische Grundfiguren. Dennoch geschieht die Anreicherung mit zusätzlichen Nonnen auch hier unter dem Anschein der Entfaltung des grundsätzlich bereits Ausgeführten. Beim ersten Verbot heißt es: Wider das tund vnd sundent dye menschen, dij do leichtuertiglichen richtent ir obristen vnd poss von jn glaubent vnd die in nach redent vnd ir leben, wort vnd ir werch kerent ciu dem posislen vnd sij vnlewntent vnd vnerent."9
Es handelt sich um ein einziges Verbot, aber zwei Relativsätze. Rein syntaktisch bleibt also offen, ob es sich um zwei Teilsünden handele oder um eine einzige mit zwei120 gleichzeitigen und gleichwertigen (das heißt einander nachziehenden) Äußerungsformen. Geht man von den kleineren Einheiten aus und versucht von ihnen aus, die Aussage auf einen sachlichen Kern zu bringen, so erweist sich, daß eine der beiden Bestimmungen, nämlich das nachreden, vnlewnten und vneren, theologisch einen festen Ort hat: Es handelt sich um die Sünde der üblen Nachrede (detractio), die in Gliederungen nach dem Dekalog üblicherweise unter dem Gebot Du sollst nicht falsch Zeugnis reden
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BAUMANN, Bd. 2, S. 604. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 183r: Contra hoc peccant primo qui superioribus suis detrahunt et eos infamant leuiter et sine rationabili causa tenentur enim ipsos Honorare cuius contrarium faciunt cum eos inhonorant per leuem et irrationabilem detractionem et infamationem. Die Relativpronomina unterscheiden tatsächlich die sinngliedernden Einheiten. Böses zu denken ist erst als Folge eines Urteils möglich und kann also nicht mit diesem systematisch gleichberechtigt aufgefaßt werden. Wenn man nachreden und vnlewnten als Wiedergabe von detractio und infamatio auffaßt, ergibt sich in theologischer Ethik eine partielle Überschneidung, wobei offenbleibt, ob die infamatio, das vnlewnten, völlig mit der Nachrede zusammenfällt. Bei Thomas S.th. II-II q. 73 a. 1 co. ist die detractio als denigratio alienae famae per occulta verba gefaßt. Thomas unterscheidet bei der (öffentlichen) Schädigung des Leumunds contumelia, convicium und improperium, also den Vorwurf eines Verbrechens, die Beschimpfung und die Ehrverkürzung, vgl. BERG, S. 185. Der Ausdruck vnlewnten läßt ebenso wie infamatio offen, ob es sich um eine öffentliche oder verborgene Schädigung des Leumunds handele. Die Begrifflichkeit fällt weder mit der des Thomas noch mit der der 'Rechtssumme' zusammen, vgl. BERG, S. 180-192.
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verhandelt wird und auch im Gefolge der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge (im Augustinischen Sinn) auftreten kann. Was hier verboten wird, ist klar; und im lateinischen Text wird nur dies verboten, während der deutsche Bearbeiter den Akt des Urteilens allererst in das Verbot einbringt. Deshalb kann man weniger klar erfassen, worauf sein erstes Teilverbot zielt: Sich nicht leichtfertig ein Urteil bilden zu dürfen kann heißen, daß ein Urteil generell erlaubt wäre, aber nicht leichtfertig sein darf; es kann aber auch bedeuten, daß ein Urteil über Obere generell untersagt ist und, wenn es denn doch versucht wird, als leichtfertig bezeichnet werden muß. Versteht man die Anreihung vnd poss von jn glaubent als gleichzeitige Bedingung für das Verbot, so heißt das, daß die Handlung nur verboten wird, wenn sie ein leichtfertiges Urteil darstellt und wenn das Resultat dieses Urteils eine negative Bewertung ist. Da aber für die Leichtfertigkeit keine prüfbaren Kriterien angegeben werden, muß ein sittliches Urteil, das diesen Vorgaben folgen will, dem klar Erfaßbaren zuerst folgen. Dadurch erscheint es so, als handele es sich um eine redundante Bestimmung, als sei ein Urteil dann leichtfertig, wenn es negativ ausfallt. Stellt man diesen Verbotsteil mit dem zweiten, dem Verbot der Nachrede, zusammen, so zeigt sich derselbe Mechanismus der Monosemierung des schwerer zu Ortenden durch das Festliegende, der in den Anschein der redundanten Doppelbestimmung mündet: Verboten ist ein Urteil, wenn es leichtfertig erfolgt und sein Ergebnis negativ ist. Verboten ist auch üble Nachrede. Diese üble Nachrede hat ihren festen theologischen Ort als Sünde, während dem Akt des Urteilens, auch wenn er näher bestimmt wird, der feste theologische Ort als Sünde fehlt. Offensichtlich handelt es sich aber bei negativem Urteil und Nachrede um verwandte Phänomene, denn in beiden Fällen hat ein denkendes und sprechendes Subjekt eine abwertende Auffassung von einem Oberen. So wird die diffizilere Vorschrift, ein leichtsinniges Urteil mit negativem Ergebnis sei zu meiden, aus dem eindeutigen Fall der üblen Nachrede (die ein nicht vorhandenes Übel behauptet oder ein geheimes eröffnet und dem Betroffenen damit den Weg zur Umkehr aus eigener Kraft versperrt)121 erweiternd aufgebaut. Ursprünglich handelte es sich um getrennte Sachverhalte, denn der Akt des Urteils wäre, auch in leichtsinniger Weise und mit negativem Ausgang, sehr wohl ohne eine öffentliche oder private Bekundung des Urteils möglich. In der Darstellung des Textes wird aber das Urteil zur Vorbereitung auf die Nachrede. Das macht den Unterschied zum Text des Nikolaus von Dinkelsbühl aus, der nur auf die theologisch und kanonistisch klar bestimmten Tatbestände der detractio und infamatio zielt. Wer sich aber nach dem deutschen Text vor der Sünde der
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Vgl. Thomas II-II q. 73 a. 1 bis a. 4, Bernhard In Cant. Serm. 24 (ed. eist. Bd. 1, S. 151-162).
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Nachrede hüten und sichergehen will, keine Todsünde zu begehen, wird also füglich schon das Urteil über die Oberen überhaupt meiden. Das explizit zu verlangen dürfte man jedoch keinem Theologen oder Kanonisten zutrauen, denn das sittliche Urteil ist nach gemeinscholastischer Auffassung wie jedes Vernunfturteil für sich ein positiver Wert; es implizit zu fordern kann aber ein Auslegungsinteresse sein. Wie im oben behandelten Katalog von Verstößen das biblische Exemplum die Leerstellen besetzte, die sich in der syllogistischen Ableitung des sittlichen Urteils auftaten, so tritt hier in die Leerstellen der Argumentation die Applikation auf das bereits sicher Gewertete ein. Der Prozeß verläuft analog, aber in dem Fall des Verbots, negativ über Obere zu handeln, tritt klar zutage, daß sich solche Leerstellen nicht durch eine zufällige Insuffizienz des Beweisganges ergeben, sondern daß sie sogar geschaffen werden können. Sie entspringen einem Auslegungsinteresse, das das sittliche Urteil auf theologisch-kanonistisch begründete und rhetorisch stabilisierte Sätze zurückführt, um eine zu etablierende moralische Norm nicht als die Setzung einer autorisierten Institution erscheinen zu lassen, sondern den Anspruch ihrer Ableitbarkeit (und damit ihren Anspruch, ein gerechtes Gesetz im scholastischen und naturrechtlichen Sinne zu sein) zu erhalten. Mit einem Wort: Eine Lehre, die Moral anbietet, aber Sittlichkeit behauptet, ist auf solche Leerstellen der syllogistischen Argumentation angewiesen. Sie muß es aber gleichzeitig bei diesen Leerstellen bewenden lassen und kann sich nicht gänzlich auf die rhetorischen, persuasiv konsensstiftenden Begründungsstrategien zurückziehen, solange sie den Anspruch auf Sittlichkeit und auf Anbindung an ein ewig geltendes Rechtes aufrechtzuerhalten willens oder verpflichtet ist. Die Einwendungen zur Verheißung irdischer Belohnung desjenigen, der seine Eltern ehrt, dienen der Normbegründung. In beiden Fällen wird die Antwort direkt an den zitierten Lehrer weitergegeben: Antwurt Allexander
de Haitis in suo tercio vnd spricht
Antwurt sanctus Thomas 2a 2e questio 122 vnd
[...];
spricht.m
Das Bemühen, die innere Notwendigkeit von Normteilen eines göttlich offenbarten Gesetzes aufzufinden, resultiert aus der Vorstellung, daß die Offenbarung mit dem aus natürlichen sittlichen Grundsätzen Deduzierbaren zusam-
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BAUMANN, Bd. 2, S. 605 Z. 292-293, S. 606 Z. 299. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 183r: Respondet Allexander de Hallis in suo tertio [...] Respondet sanctus Thomas 22 q 122.
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menfallt. Dann müssen, auch wenn Gott in seinem Wollen und Fordern völlig frei ist, innere Widersprüche ausgeschlossen werden. Bestätigt sich ein solchermaßen logisch notwendiges und dazu offenbartes göttliches Wollen dem Menschen durch empirische Anschauung nicht, so kann der Fehler nicht in der Interpretation des Gesetzes liegen. Er wird vielmehr in der Interpretation des Beobachteten liegen müssen. Deshalb schließt der Nikolausbearbeiter an die Lösung des zweiten Einwandes an: Es geschieht auch offi, das die kinder, dy da gen vatter vnd mutter gar gehorsam sind, gar schier sterbent vnd das dy posen vnd die vngehorsamen vil lenger lebent. Aber das get czu von haimlicher sach wegen gotleicher gericht, die er vns nicht offent noch verkundent.m
Die Auslegung des Gebotes endet mit einer Ausweitung seiner Geltung auf zwei Personenkreise, die zusätzlich unter das vierte Gebot fallen. Die Ausführungen über die weltlichen Fürsten verwenden das bisherige Verfahren, die wesentlichen Bestimmungen von Vater für den Fürsten nachzuweisen. Dagegen geschieht die Ausweitung im ersten und zweiten Punkt, die die Ehre für das Alter und für die Weisen fordern, rein additiv. Zur Erhärtung werden zwei Schriftzitate und ein Zitat aus der glos angeführt; sie alle fordern oder begründen Ehrerbietung, aber enthalten keinen Bezug zur Bezeichnung als Väter oder Mütter. Es handelt sich also um eine Scheinbegründung, die folgendermaßen vorgeht: Wem in der Schrift Ehrung zugebilligt wird, den verbindet dies mit den Eltern, die zu ehren die Schrift ebenfalls vorschreibt; also sind alle zu ehrenden Personen hinsichtlich der Ehre Eltern, und Eltern fungiert als Sammelname für alle zu ehrenden Personen. Während bisher versucht worden war, für verschiedene Personenkreise nachzuweisen, daß ihre Bestimmungen wesentliche Bestimmungen von Vater und Mutter enthalten, und daraus ihren Anspruch auf Ehrung abzuleiten, setzt diese Addition die Umkehrung in Kraft: Wer Anspruch auf Ehre hat, der muß auch die wesentlichen Bestimmungen von Vater und Mutter erfüllen. Vom logischen Standpunkt ist das selbstverständlich unzulässig. Im lateinischen Text wird für den Fürsten die Begründung super quod etiam dicitur pater in scriptum174 eingefügt, also die logische Umkehrung durch den Schriftbeweis begründet;
123
124
BAUMANN, Bd. 2, S. 606. Vgl. Wien NB Cod. 4354, fol. 183r: Quia tarnen prineipia bona vel mala non cadunt sub merito vel demerito non inquam ordinantur ad flituram remunerationem et ideo quandoque secundum occultam rationem diuinorum iudiciorumque maxime flituram remunerationem respiciunt/ aliqui qui sunt pii in parentes citius vita privantur alii vero qui sunt impii in parentes diutius vivunt. Wien NB Cod. 4354, fol. 183v.
382
Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus von Dinkelsbühl
im deutschen Text fehlt diese Wendung, sie wird also entweder als selbstverständlich vorausgesetzt oder als für den Argumentationsgang entbehrlich betrachtet. Das heißt: Der Bearbeiter toleriert für seine Herleitungen logische Leerstellen nicht nur dann, wenn sie explizit durch Berufungen auf Schrift, Autoritäten oder Exempelwahrheit gefüllt werden, sondern ausnahmsweise auch dann, wenn sie sich in dieser Weise füllen ließen, ohne daß er selbst diesen Schritt mitvollzieht.
4.3.
Bauformen des Textes in Abhängigkeit von Gewissensbegriff und Urteilsstruktur
Ander Dekalogerklärung des Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktors zeigt sich, daß eine naturrechtliche Fundierung von Ethik und eine überwiegend Thomas folgende Gewissenskonzeption einen systematischen Zwang auf die Darstellungsweise ausübt. Er gründet sich darin, daß die Tätigkeit des Gewissens dann, wenn das Gewissensurteil aus unfehlbaren ersten Prämissen als unter allen Umständen bindend betrachtet wird, die Hauptfunktion aller menschlichen Sittlichkeit ist. Gerade weil die sittlichen Voraussetzungen dem Verstandesvermögen mitzugerechnet werden, stellt sich eine falsche Gewissensentscheidung als logischer Fehlschluß dar. Diese Auffassung muß für eine Unterweisung über sittliches Handeln bedeuten, daß sie richtiges Schließen lehrt, aber nicht im abstrakten Sinne des Dialektikunterrichtes, sondern bezogen auf sittliche Urteile. Deren expliziter Ableitung wird daher weiter Raum gegeben: Das im Text entwickelte Urteil entscheidet seinem Inhalt nach über Gut und Böse in einem Normbereich, der Struktur nach bietet es ein Muster für analoge Entscheidungen des Verstandes. Diese Urteile lehren daher gleichzeitig, welche Arten von Prämissen für sittliche Entscheidungen der ratio practica akzeptiert werden sollen. In der Nikolausbearbeitung wird neben der Wahrheit des Autoritätsentscheids und der Exempelwahrheit auch die Wahrheit eines Auslegungskonsensus als Wahrheitswert von Prämissen sittlicher Urteile akzeptiert. Dabei fallt auf, daß der Autor-Bearbeiter diese Wahrheitswerte in sich staffelt: Das logisch Beweisbare wird bevorzugt, Autoritäten und Auslegungskonsens über Schriftstellen nehmen die zweite Stelle ein, Exempelwahrheit rangiert am niedrigsten. Die Hierarchie der Wahrheitswerte zeigt sich in dem Bestreben, nach Möglichkeit immer zu beweisen und nicht rational Beweisbares so in einen Schluß einzubauen, daß es als evident oder bewiesen erscheint bzw. aus dem Beweisgang selbst (mit seinem Ergebnis, das als Maxime an bisheriger Einsicht gemessen und als richtig erkannt werden kann) eine zusätzliche Legitimation erhält. Das bedeutet umgekehrt für die Textstruktur, daß kausale und konsekutive Gliedsätze
Die Struktur des sittlichen Urteils
383
und Satzanschlüsse reihenhaft auftreten, und zwar so, daß Schlüsse aus Gründen nach Möglichkeit mehrere Kausalgefüge aufweisen, Schlüsse aus Bedingungen (die dem subsumtiven Urteilstyp der Kasuistik entsprechen) logisch eindimensional (ohne ausschließendes oder) bleiben. Weil alle Normentfaltung unter die Gebote untergeordnet werden muß, stellen sich selbst solche Ableitungen von Normteilen, die aus Prämissen folgern, im Text als Begründungen dar. Das bedeutet, daß die neue Teilnorm zuerst genannt und danach hergeleitet wird. Damit orientiert sich die Textstruktur noch an theologischen Summen mit ihrer thesenhaften Aufstellung des nächsten Satzes, aber sobald die Begründung bis zur Berufung auf die Wahrheit eines Auslegungskonsensus verkürzt wird, berührt der Bauplan des Textes bereits ein Strukturgesetz der kanonistischen Summe: Auslegungswahrheit über moralische Sollenssätze stimmt in ihrem Wesen mit derjenigen vorgängigen Wertung zusammen, die die Fallklassen für Kasuistik schafft. Was die Eingriffe des Redaktors gegenüber seiner Vorlage anlangt, so ließen sich hier zwei Arten von Veränderungen unterscheiden. Die erste betraf die Verknüpfung von positiver Rechtlichkeit der Gebote und Naturrecht in ihrer Auswirkung auf die Vorstellung davon, was als das bereits durch sich selbst Rechte zu gelten habe. Hier bemühte er sich um Formulierungen, die den Rahmen theologischer Aussagen nicht verlassen (und in lateinische Begriffssprache rückübersetzbar bleiben), aber dennoch schulübergreifend gelten, das heißt: Er stellt die Ansicht der Theologie als Lehrfach einheitlich dar, um sie Nichttheologen korrekt, aber ohne mögliche Widersprüchlichkeiten zu vermitteln. Das gleiche Bemühen, Theologie als einheitliches Fach nach außen zu vertreten, zeigte sich auch bei der Applizierung komplizierterer Wertungen der Vorlage auf eindeutige: Die institutionell und traditionell gebundene Primärinterpretation von Schrift und Geboten war für ihn der sichere Weg, ihr kam ein Wahrheitswert ohne Zweifel zu, während Nikolaus von Dinkelsbühl die generelle Irrtumsfahigkeit jeder Interpretation eingeräumt hatte. So hat der Redaktor auch bei der Begründung des äußeren Kultes angeschlossen, die religiösen Zeremonien seien als Dienstpflicht nicht nur (wie in der Vorlage) zu geeigneter Zeit an geeignetem Ort auszuführen, sondern wenn es sein soll, also wenn es vorgeschrieben ist. Das entgegengesetzte Verfahren, eindeutige Aussagen der Vorlage im Sprachwechsel bewußt so zu verunklären, daß ein Verbot mehr umfaßt, als theologisch unbedingt zu verbieten wäre, wählte der Redaktor am Beispiel des Urteils über die Oberen. Hier erscheint im deutschen Text bereits die Tatsache des Urteilens als potentiell sündhaft, während Nikolaus von Dinkelsbühl nur die Termini für üble Nachrede und Verleumdung (detractio, infamatio) verwendet. Diesen Vereinfachungen, die den Redaktor als einen Mann ausweisen, der die Positionen von Kirche und konservativer Theologie nach außen vertritt,
384
Redaktion der Dekalogauslegung des Nikolaus von Dinkelsbühl
steht seine genaue Übernahme der komplizierten Ableitungsstrukturen der einzelnen Normen gegenüber. Ihm ist also daran gelegen, daß dasjenige, das in der Verantwortung des einzelnen liegt, seine nachträgliche Handlungskontrolle und prospektive Handlungsplanung, an den Maßstäben theologischen und ethischen Denkens geschult wird. Auch wenn er sittliche Urteile, zumal solche über Pflichten der Kirche gegenüber, zuweilen verkürzt darstellt, schafft sein Text dennoch Modelle dafür, wie sich ein volkssprachiger Benutzer Normen selbst herleiten kann, wenn er sich einer einzelnen Situation gegenübersieht. Wie die hochscholastische Theologie Glauben und Wissen zu vereinbaren suchte, will der Redaktor die von der Kirche als Institution geförderten Werte und Urteile als vernünftig erweisen. Es ist nicht nur seine Überzeugung von der grundsätzlichen Vereinbarkeit des offenbarten Gesetzes mit dem Vernünftigen und natürlich Sittlichen, die ihn in seiner Darstellung leitet, sondern auch die Zuversicht, daß die Benutzer des deutschen Textes diese Vereinbarkeit in ihrem eigenen sittlichen Urteil werden nachvollziehen können. Den Textvorgaben nach spricht der Redaktor also ein Publikum an, dem er mit bloßer Anweisung nicht Genüge tun könnte, das also nicht nur wissen will, wie es sündlos leben und Strafe vermeiden kann, sondern das eine Vorstellung von christlich verstandener Sittlichkeit gewinnen will, und zwar in der Volkssprache. Die Hochschätzung des Verstandes und seiner Tätigkeiten in der Vermittlung solcher Sittlichkeit ist evident. Sie läßt an die häufig zitierte Formel von den frumen vnd verstanden laien125 denken. Sie ist freilich nicht für diesen Text geprägt, und so wissen wir nicht, ob er sich an laien wandte; aber die Nikolausredaktion kann indirekt zum Verständnis dessen beitragen, was man sich unter verstanden vorzustellen habe, nämlich deutschsprachige oder zweisprachige Personen, die in wichtige Gedankenformen, die schulmäßiger und wissenschaftlicher Durchdringung eines Gegenstandsbereiches eignen, bereits eingeübt sind und die danach verlangen, den geistigen Erwerb eines neuen Sachbereiches mit weiterer Einübung in diese geistigen Bewegungsformen zu verbinden.
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Eine Formel aus der Vorrede des Ulrich von Pottenstein, im Kontext: Darumb daz ich gar armer des sinnes vnd gar chranker der vernunfft icht so gar müssiger würde erfunden mit den die den ganczen tag müssig stunden auf dem markcht, vnd auch in gotleichen genaden der verloren czeit möchte ettwaz widerbringen, gedacht ich wie ich mit fleissiger mü vnd williger arbait vnd gar nichtes von aygem sinne ain puch in dewtsch zusammen wolde clawben Christo Jhesu czu lob, seiner lieben müter vnd allem hymlischen her czu eren, der heiligen kirchen vnd iren kindem, den frumen vnd verstanden layen, die geschikchet sind vnd lieb haben in dewtschenpüchern zu lesen, czenucz vnd cze Übung. ΒAPTIST-HLAWATSCH, Werk, Vorrede S. 144-149, Stelle S. 145.
V. Gewissen, Norm, Normenbuch vor reformatorisch: Die Dekalogerklärungen nach ihrem Materialwert 1. Ende eines gemeinsamen Weges: gewissen und synderesis Der Gewissensbegriff spätmittelalterlicher Dekalogerklärungen kann, insofern ihre Autoren bzw. Bearbeiter ausgebildete Theologen oder in Theologie Gebildete sind, auf dem hochscholastischen aufbauen, der in der Generation des Thomas und des Bonaventura voll ausgebildet war (und der von Autoren späterer Epochen in unterschiedlicher Weise benutzt worden ist).1 Das heißt, daß er eine Unterscheidung in ein (im einzelnen unterschiedlich definiertes) sittliches Grundvermögen und eine richtende Urteilskraft vorfindet, die zeitgenössisch synderesis und conscientia genannt werden. Während in der hochscholastischen lateinischen Gewissenstheorie synderesis und conscientia stets gemeinsam behandelt werden, kommt die synderesis in den analysierten Dekalogerklärungen nicht explizit vor, von conscientia ist jedoch die Rede, sie heißt mit dem Fremdwort conscientz oder mit der deutschen Lehnübersetzung gewissen. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß die Lehre von der synderesis nicht weiterverfolgt würde, während die Autoren an der conscientia-Theorie anknüpfen. Gewissenstheorie im eigentlichen Sinn kommt allenfalls rudimentär vor. Auffällig ist aber das gedankliche Auseinanderstreben der Traditionslinie synderesis und der Verarbeitung von conscientia-Lehren. In dieser Hinsicht bezeichnen die drei behandelten Texte gleichzeitig drei verschiedene Möglichkeiten, sich zur wissenschaftlichen Tradition ins Verhältnis zu setzen. Marquard von Lindau knüpft an Eckharts Vollkommenheitsethik an, indem er die Gebote nicht nur in Hinsicht auf das Verbotene, sondern immer auch auf das Gute und Vollkommene auslegt. Die C-Redaktion dokumentiert auch durch ihre Übernahmen aus dem 'Buch von der geistlichen Armut', daß es ihr um eine Vermittlung zwischen positiver Gesetzlichkeit und der Idee der spirituellen Vollkommenheit und der Einheit mit Gott geht. Marquards Text
V g l . KITTSTEINER, S . 1 7 0 , S .
180f.
386
Gewissen, Norm, Normenbuch vorreformatorisch
ist thematisch der reichste. Gleichzeitig verzichten die sittlichen Urteile, die er vorführt, auf die Strenge einer einheitlichen Gedankenform; kasuistisch geprägt sind sie nur auf der untersten Gliederungsebene, in den Einzelentscheidungen. Die Fülle von nichtbegründeten Setzungen, von nichtdargebotenen Folgerungen und von Autoritäts- und Exempelberufungen zeigt im Vergleich mit den anderen Auslegungen an, daß ein Zentralgedanke der hochscholastischen Gewissenstheorie, nämlich die Vernunftbindung der conscientia, bei Marquard stark zurückgenommen wird, auch wenn er auf die kanonistischen Normenstandards, die sich historisch erst daraus ergeben hatten, nicht wieder völlig verzichten will. Der Bearbeiter Heinrichs von Friemar geht wie seine Vorlage ebenfalls auf Vollkommenheit aus und postuliert positive Normen als Weg zur Einheit mit Gott. Aber das bleibt eine Absichtserklärung; aus den Gebotserklärungen läßt sich dieser Weg nicht synthetisieren, denn der Schritt von der Vermeidung des Verbotenen zum positiv guten Handeln wird nicht gezeigt. Anderseits werden die Normteile systematisch entwickelt und die einzelnen Urteile verstandesmäßig abgeleitet, auch wenn die Inhalte der Begriffe 'gut' und 'böse' nie Gegenstand der Erörterung sind, sondern als fest vorausgesetzt werden. Damit wird der Begriff der conscientia mit allen Eigenschaften und Tätigkeiten, die ihr in der Ethik des 13. Jahrhunderts zugeschrieben wurden, als selbstverständlich gehandhabt. So, als fragloser Begriff mit festem Inhalt, wird conscientia/gewissen auch erwähnt. Demgegenüber kommt die synderesis in den systematischen Bezügen, die sie durch Eckhart und den Streit um die imago Gottes gewonnen hatte, nicht vor. Sie wird nicht erwähnt, und daß es darum gerade einen theologisch-philosophischen Disput gegeben hatte, referiert Heinrichs Redaktor nicht. Er setzt die Debatte aber inhaltlich voraus, und zwar im negativen Sinne und abgrenzend, nämlich dadurch, daß der Bearbeiter die vervollkommnende Wirkung der Gebote in die Seelenkräfte, den Verstand, das Gedächtnis und den Willen, verlagert, als deren Akt nach Thomas die imago Gottes entsteht. Mit dieser thomistischen Auffassung hatten die Gegner der visio-beatifica-Anschauung Dietrichs von Freiberg und Eckharts argumentiert. Wenn der Bearbeiter einen festen synderesis-Begriff hatte, dann war er wohl an Thomas orientiert; einer einfachen Rezeption des Textes ohne Vergleich mit Vorläufern und Parallelen kann sich aber kaum erschlossen haben, daß es sich so verhalte: Die Absage an Eckharts synderesis-Begriff bedeutet für den Redaktor - wie für Heinrich von Friemar -, auf seine Verwendung und selbst auf seine Umschreibung ganz zu verzichten. Der Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktor hat seine Vorlage in einen deutschen Text verwandelt, in dem Gewissenstätigkeit konsequent als Vernunfttätigkeit dargestellt wird. Er führt vor, wie sittliche Urteile deduktiv aus
Ende eines gemeinsamen Weges: gewissen und synderesis
387
ersten Grundsätzen abgeleitet werden können. In seinem Bemühen, die Denkmuster und Darstellungsstrategien lateinischer Wissenschaft im Deutschen zu bewahren, geht er wesentlich weiter als Marquard von Lindau und, weil er positive Normherleitungen nachbildet, auch weiter als der Übersetzer des Heinrich von Friemar. Die naturrechtliche Begründung von sittlichem Vermögen und Gewissen, wie sie aus stoischer Tradition über patristische Autoritäten in die hochscholastischen Gewissensmodelle eingeflossen war, wird in den untersuchten Texten nur hier explizit entwickelt. Durch die Übertragung dieser Zusammenhänge erschließt der Redaktor für den deutschen Text die synderesis-Vorstellung in wichtigen Aspekten ihrer thomistischen Tradition, auch wenn er das Wort synderesis weder erwähnt noch umschreibt. Wenn der Begriff der synderesis im Kontext der Gewissenslehre eher gemieden wird, weil die Autoren falschen Assoziationen und Zuordnungen, etwa zu Dietrich von Freiberg oder Meister Eckhart, aus dem Weg gehen wollen, vielleicht auch, weil für sie die synderesis durch diese Autoren in ein ganz anderes Bezugsfeld und weg von der conscientia gerückt ist, stellt sich die Frage, wie man sich den scholastischen Lehrsatz von der conscientia als media inter nos et deum nun konkret vorzustellen habe. Wie berät sich die conscientia, wenn sie nicht mehr von der synderesis beraten wird, wenn also ein einheitlicher Gewissenbegriff entsteht? Gibt es eine wechselseitige Mitteilungsform zwischen dem Gewissen und Gott? Gibt es eine gemeinsame Sprache, die die conscientia versteht, in der sie sich aber zugleich auch ausdrücken kann? Was Gott in seiner eigenen, nur ihm eigenen Sprache ausdrücken würde, wäre entweder eine Anlage wie die synderesis, oder es könnte kein Mensch verstehen, es sei denn, Gott wollte es und bequemte sich einem menschlich faßbaren Zeichensystem an. Wenn es folglich im göttlichen Heilsplan enthalten ist, daß ein Mensch nach seinem Gewissen handelt und dabei primär nach dem Willen Gottes forscht, muß der Mensch ihm seine Konflikte vortragen dürfen, wenn die synderesis nicht mehr als ausreichende Beratungsinstanz begriffen werden kann. Das heißt nicht, daß die Antwort im gemeinen Idiom der Menschen ergehen muß. Aber für Gott gibt es kein Sprachproblem. Das heißt: Die allmähliche Loslösung der synderesis von der conscientia führt notwendig dazu, theoretisch zugestehen zu müssen, daß sich das Gewissen in der Volkssprache äußert, weil die Dimension der reinen Geistsprache mit der Entfernung der conscientia von der synderesis aus dem Blick gerät. Das Gewissen muß dann unter Menschen auch in der Volkssprache belehrt werden. Die theoretischen Voraussetzungen zu dieser Folgerung waren schon bei Bonaventura gelegt worden. Die Auseinandersetzung des 14. Jahrhunderts mit Eckhart und Dietrich von Freiberg in der Frage der synderesis und der Rückzug auf die conscientia - auch auf deutsch - tun ein
Gewissen, Norm, Normenbuch vorreformatorisch
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übriges. Nun steht fest: Das Gewissen spricht die Sprache, die der Mensch zu sprechen gelernt hat.2 Im Nebeneinander der Möglichkeiten von Gewissensverständnis zeigen sich die Auslegungen wie ein Steinbruch, aus dem Luther seine Blöcke nehmen konnte: Er behält die tradierte Metaphorik vom Fünklein (mit dem Assoziationsfeld des Göttlichen im Menschen) bei und nennt diesen Funken auch mit der Tradition synteresis, läßt sich aber nicht auf einen Streit um die Zuordnung zum Intellekt oder Willen ein, sondern setzt einfach sowohl eine synteresis des Willens als auch eine des Verstandes an.3 Da er aber gleichzeitig das Gewissen dem natürlichen Ausgangspunkt nach als schlechtes Gewissen faßt, von dem der Mensch sich nur durch die Hinwendung zur Verheißung und zur Gnade lösen kann,4 bilden alle drei übernommenen Gewissensbegriffe für ihn eine Einheit mit völlig neu gedeuteter Funktion; Abbild ist der Mensch nur, sofern und weil er in der Lage ist, sich vollständig auf Gott zu beziehen.5 Kittsteiner beschreibt diesen Zusammenfall so: "Das Fünklein hat jetzt die Funktion, die Glaubensgewißheit auszusprechen, und das Schicksal der Synteresis beginnt sich abzuzeichnen: sie wird vom Glauben aufgesogen bzw. durch ihn ersetzt. "6 Auch Einzelaspekte finden sich bei Luther wieder: Die aus Tauler übernommene Vorstellung Marquards, daß der nagende Gewissensbiß die eigentliche Fegefeuerstrafe darstellt, wird Luther teilen;7 auch Marquards Beispiel der vertanen Zeit dafür, daß selbst bei für die menschliche Gemeinschaft kleinen Vergehen der Mensch mit der Sühne überfordert sein kann, mutet, vom historischen Mündungspunkt Luther aus betrachtet, völlig vertraut an; Hirsch betont, daß Luther eine Sicherheit des Gewissens nur extra nos kennt, durch die Gnadenverheißung.8
2
3
Daß "ein Gewissen, das die Muttersprache spricht", für Luther wichtig ist, ist bereits seit langem bekannt: vgl. ERDCSON, S. 248. Vgl. HIRSCH, Bd. 1, S. 109, unter Berufung auf die Predigt W A I S.30-37, die HIRSCH ebd. S. 3 0 Anm. 2 auf den 26. 12. 1514 datiert.
4 5
Vgl. HIRSCH, Lutherstudien Bd. 1, S. l l l f . , Kittsteiner, S. 167-175. Das ist ein Rückgang auf Augustins Ansicht, daß der Mensch ohne den Glauben keine guten Werke vollbringen könne, vgl. STELZENBERGER, Augustinus, S. 7173.
6
7
8
KITTSTEINER, S. 171. Ähnlich hatte bereits BAYLOR, S. 149 unter Berufung auf den Kommentar zum Römerbrief, WA 56, 512,24-513,3 denProzeß der Ablösung Luthers vom Begriff der intellektiv gefaßten synderesis beschrieben: Weil nur der Glaube sündlos ist, gibt es keine sicherere Instanz als ihn, die zum Sittlichen leitet. Vgl. HIRSCH, Bd. 2, S. 136; S. 139 unter Berufung auf W A V, S. 590 (Oper, in Ps. 20/21, 10, von 1521). HIRSCH, B d . 1, 1 5 3 f . .
Ende eines gemeinsamen Weges: gewissen und synderesis
389
Aber mit Luther wird auch eine Entwicklung vorläufig abgeschnitten: Das vernünftige Gewissen, praktische Vernunft als Weg zu Gott, spielt für ihn theologisch und ethisch keine Rolle. Aber dennoch hat Luther sich in einer weltgeschichtlich wichtigen Situation seines Lebens auf sein Gewissen berufen. Er könne und wolle nicht widerrufen, so ist seine Antwort in Worms überliefert, denn sein Gewissen sei gefangen in Gott, und es sei weder sicher noch recht, gegen das Gewissen zu handeln. 9 Hier spricht, ex cathedra, das vernünftige Gewissen im Gefolge des Thomas und Bonaventura, und es entscheidet nach einer Abwägung gemäß der Theorie über das irrende Gewissen. Gegen das rechte Gewissen zu handeln ist immer schlecht, und es ist, selbst wenn das Gewissen zugestandermaßen irren kann, kein sicherer Weg, um an Stelle das Irrtums das objektiv Gute zu treffen, wenn man sich im Sinne einer Weisung gegen das Gewissen zu entscheidet. Die Diskrepanz dieser berühmten Äußerung zu Luthers Lehre vom Gewissen im 'Sermon von dem Sakrament der Buße' und in 'Von den guten Werken' (wo nicht der richtige Gewissensentscheid, sondern das ruhige und zuversichtliche Gewissen die gute Tat hervorbringt) ist auffallig. Wenn man auf die Lehrschriften schaut, so hat Luther die scholastische Gewissenslehre mit ihren positiven Errungenschaften für die Ethik zusammen verworfen. Anderseits hat er die Berufung auf die persönliche, vernünftige Beurteilung einer Sache in der protestantischen Tradition wiederum durch sein Vorbild geadelt.
2. Das Buch zur Norm Alle drei untersuchten Schriften ordnen den Geboten zahlreiche Einzelnormen zu. Sie verbinden damit sowohl den Anspruch, eine Gesamtnorm sündlosen Lebens aufzustellen, die sich aus göttlichem positivem Recht zwingend ergibt und sich durch diese Herleitung als Gefüge gerechter Forderungen legitimiert, als auch die Zuversicht, auf diese Weise ein Beratungsbuch schaffen zu können, dessen Gliederungsprinzip jedermann einsichtig und nicht von seiner Fachausbildung abhängig ist. Sie erheben den Anspruch, ein Ganzes, das nicht allein aus menschlichem Willen und Gutdünken, sondern göttlicher Ordnung zufolge als ein Ganzes anzusehen ist, so richtig und wahr darzustellen, daß sich die Wahrheit und Richtigkeit virtuell an der Zustimmung des göttlichen Urhebers der verhandelten Sache prüfen ließe, wobei sie unterstellen, daß in der Welt jene Zustimmung legitim durch die der Auslegungsgemeinschaft vertreten werde. In diesem Anspruch knüpfen die Autoren an
Luther W A VII, S. 838.
390
Gewissen, Norm, Normenbuch vorreformatorisch
die Tradition der hochscholastischen Summen an. Sie vermitteln Normwissen und nutzen deshalb besonders die Vorbilder der kanonistischen Summen und der Beichtsummen. Die Beichtsummen zeichnen sich dadurch aus, daß ihre Quellwissenschaft - die Kanonistik - fest im Gefüge lateinischer Schulwissenschaft verankert ist, ihre Wirkungssphäre - weil sie Nachschlagewerke für Beichtiger sind - jedoch aus diesem Bereich herausführt; die summa confessorum ist eine nach außen strahlende Gattung lateinischer Gelehrsamkeit (wie die Predigt). Sie ist eigens auf Grenzüberschreitung angelegt, indem sie fachmännisches Wissen zur Benutzung durch den Halb- oder Nichtfachmann bereitstellt. Aus diesem Grunde hatten Autoren seit dem Ende des 13. Jahrhunderts versucht, Textmodelle zu entwerfen, die es erlaubten, das inhaltliche Wissen auch an solche Benutzer zu vermitteln, die das Buchverwendungswissen eines Kanonisten nicht erwoben hatten, die also anders außerstande gewesen wären, einen Fall aufzufinden, weil sie die innere Ordnung der Primärquellen in Sammlungen und die Vertextungsmuster kanonistischer Kommentare und Summen nicht beherrschten, selbst unter der Voraussetzung, daß sie Zugang zu einer Fachbibliothek besaßen. Die Ordnung nach dem Alphabet, von Bartholomäus von Pisa in die lateinischen Beichtsummen eingeführt, setzte aber noch immer die Beherrschung des Lateinischen und seiner kanonistisch-theologischen Fachsprache voraus. Konsequenterweise unternahm Bruder Berthold deshalb den sehr erfolgreichen Versuch, eine Beichtsumme - die des Johannes von Freiburg - zu übersetzen und den Text nach dem deutschen Alphabet zu ordnen. Damit war in der Rezeption eine weitere Grenzüberschreitung möglich geworden: Nicht nur Lateinkundigen, die in der Volkssprache beraten und richten sollten, war ihr Handwerk durch eine solche Darreichung erleichtert, sondern nunmehr konnten auch Nichtlateinkundige das Buch benutzen. Auf diesem Stand der Entwicklung setzen die deutschen Dekalogerklärungen an. Auch sie vermitteln Normwissen, auch sie berufen sich auf theologische Autoritäten und kanonistische Lehrsätze, auch sie suchen ein Schema der Textgliederung, das zu verstehen nicht voraussetzt, daß der Rezipient zuvor das Buchverwendungswissen der lateinischen Wissenschaftsdisziplinen erworben hat und daß er des Lateinischen mächtig ist. Sie finden ein solches Buchprinzip im Dekalog und entwickeln in der Volkssprache ihre Vorstellungen davon, wie sich in diesem Rahmen die zahlreichen Einzelvorschriften über Erlaubtes und Verbotenes zu einer Gesamtnonn verknüpfen lassen, die als Weg zum Guten faßbar wird. Indem sie diesen Weg gehen, schaffen sie Schriften, die sich noch stärker zu privatem Gebrauch anbieten als die deutsche 'Rechtssumme': Die Einordnung in den Geltungsbereich der Gebote verbürgt dem Benutzer, daß es sich grundsätzlich um Normen handelt, die ihn - zumindest potentiell - betreffen, daß er heilsrelevantes Wissen erwirbt und daß er gut daran tut, sein eigenes Handeln nach diesem Wissen aus-
Das Buch zur Norm
391
zurichten. Die Normenvermittlung geht, sobald sie auf den allgemein verbindlichen Dekalog bezogen wird, also sowohl auf das Wissen vom Rechten und Falschen aus, das im Richter- und Berateramt erfordert wird, als auch auf das Gewissen, das die eigenen Handlungen verantwortet und plant. Insofern setzt der Dekalog als Ordnungsschema die hochscholastische Vorstellung vom prospektiven Gewissen voraus. Die Auslegung Marquards von Lindau verwendet die Formen interner Textorganisation, die in lateinischer Schriftlichkeit zur Anverwandlung bereitliegen, am sparsamsten. Sie geht offenbar davon aus, daß ein Adressatenwechsel auch einen Wechsel der Darstellungsprinzipien nach sich ziehen muß, und traut der volkssprachlichen Rezeption im Hinblick auf Deduktionen, Subsumtionen und logischen Verknüpfungen wenig Interesse und Verständnis zu. Anderseits nimmt seine Auslegung Themen auf, die in der zweisprachigen Theologie des 14. Jahrhunderts diskutiert werden, die aber allenfalls in mittelbarem Bezug zu Normsätzen stehen, und das vermag sie gerade durch die assoziative Anreihung. Andere Autoren waren in der Übernahme des literarischen Formeninventars lateinischer Summen weniger vorsichtig. Sie haben Texte geschaffen, die an die deutsche 'Rechtssumme' erinnern, aber in der Nachbildung von systematischen Verflechtungen im neuen sprachlichen Medium noch weiter gehen als diese. Es gibt - wie die Bearbeitungen Heinrichs von Friemar und des Nikolaus von Dinkelsbühl erkennen ließen - deutsche Normenbücher nach dem Dekalog, die die Rationalitätsstandards der lateinischen Wissenschaften Theologie und Kanonistik bezüglich der Ableitung, Begründung, Situierung und Verknüpfung von Normen auch im deutschen Text nach aller Möglichkeit befolgen. Die Beschreibung des Gewissens in den klassischen hochscholastischen Modellen war stets an Vernunfttätigkeit gebunden. Die quasischolastische Organisation deutscher Schriften über Richtlinien für die Gewissensentscheidung hat zur Folge, daß nicht nur der Richter über andere mit Hilfe dieser Bücher nach prüfbaren und verständigen Richtlinien urteilen kann, sondern auch der Richter über sich selbst: Das vernünftige Gewissen ist sinntragend, es führt zur Vermeidung von Sünde und leistet also das, was der Mensch selbst zu seiner künftigen Errettung beitragen kann. Insofern setzen solche scholastisch disponierten Schriften zur Gewissensbelehrung der bei Grosse breit behandelten scrupulositas10 die Überzeugung entgegen, daß der Unsicherheit gegenüber dem künftigen Heil in den Grenzen menschlicher Gewißheit mit den Mitteln der Vernunft zu begegnen sei. Luther wird - im 'Sermon von den guten Werken', der ja eine Dekalogerklärung ist - den Glauben an die Stelle der Vernunft setzen. Die streng scholastisch gebauten
10
GROSSE, Scrupulositas.
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Gewissen, Norm, Normenbuch vorreformatorisch
Normenbücher nach dem Dekalog haben zu dieser gegensätzlichen Wendung mehr beigetragen, als es auf den ersten Blick scheint, denn sie orientieren auch den Nichtgelehrten auf die Beratung mit dem Buch und mit sich selbst. Wenn es solche Bücher gibt, ist es letztlich unerheblich, ob die Beratung in Gewissensfragen allein mit dem Buch stattfindet oder allein mit einem Beichtvater, der das Buch gelesen hat - der Rat entstammt einer objektivierbaren, nachvollziehbaren, in der göttlichen Autorität gegründeten Norm und kommt im Verständnis des einzelnen an, und der andere Mensch, der es besser weiß, ist nur noch der Zwischenträger und wird entbehrlich. Weil die Norm im Normenbuch als göttlich gegründet und in sich verständig erscheint, spiegeln die großen scholastisch organisierten Normenbücher in deutscher Sprache noch einmal den Anspruch der hochscholastischen Summen: Die Gliederung des Wissensgebietes und die Inhalte des Wissens entsprechen wesentlich göttlicher Ordnung des menschlichen Geistes, auch wenn beider Erscheinungsformen akzidentiell nach der Einsicht der Menschen, ihrem Darstellungsvermögen und ihrer spezifischen Absicht auseinandergehen. Nun steht die hermeneutisch-praktische Vernunft des einzelnen, die sich die Normen erschließt und die Gewissensentscheidungen fallt, im Dialog mit dem Buch vor der normensetzenden (menschlichen und göttlichen) Gesamtvernunft wie der einzelne Glaube vor Gott (dem Objekt der Anbetung und dem Täter der Schöpfung): Die Überzeugung, daß jene objektivierbare, nachvollziehbare, vernünftige Norm göttlich begründet sei, ist mit den Mitteln der menschlichen Vernunft nicht zu erlangen, sie ist ein Glaubenssatz wie der, daß es einen Täter der Schöpfung hinter dem Objekt der Anbetung gibt. Der Dialog mit dem Buch erlaubt allererst die Frage, ob man dies glauben wolle. So stellt die Summa der Normen sündlosen Lebens auf der späten Stufe ihrer Entwicklung ihren eigenen Anspruch der Wahl des Lesers anheim. Luther hat 1520 die Summa Angelica
öffentlich verbrannt," aber seinerseits nicht erst im 'Gro-
ßen Katechismus' eine deutsche Dekalogerklärung geschrieben.12 ' V o n den guten Werken', im gleichen Jahr 1520 entstanden, gehört zu den programmatischen Schriften, ist aber der Form nach ein Kommentar zu den Geboten. Luther bedient sich hier genau der literarischen Form, gegen deren traditionelle Inhalte er anschreibt. Sie werden ihn wieder einholen: Auch die Reformation kommt nicht ohne Regelwissen aus. Dennoch haben die Autoren und die Benutzer reformatorischer Regelbücher den Anspruch und das Bewußt-
Ich halte dieses Datum mit TENTLER, S. 103 für eines der Eckdaten in der Gattungsgeschichte der summa. Die Wittenberger Predigten über den Dekalog bilden hierzu eine Vorstufe, vgl. O. ALBRECHT, Vorbemerkung zu beiden Katechismen, W A 30.1, Weimar 1910, S.
426-474, dort S. 468.
Das Buch zur Norm
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sein, in einer ganz anderen Textwelt zu leben. Im reformatorischen Zeitalter entscheidet das Gewissen nicht nur über das Handeln, sondern zuvor bereits über den Modus des Lesens und Verstehens.
Abkürzungen ABÄG: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik BvdgA: Das Buch von der geistlichen Armut CCSL: Corpus Christianorum. Series Latina CC Cont. Med.: Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis CSEL: Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum DVjs: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte DW: Meister Eckhart. Die deutschen Werke. (Zitation der Predigten: Q 1 usw.) DTM: Deutsche Texte des Mittelalters LW: Meister Eckhart. Die lateinischen Werke MGH: Monumenta Germaniae historica. 1826 ff. MMS: Münstersche Mittelalter-Schriften MTU: Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. Hg. v. der Kommission für Deutsche Literatur der Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1960ff. PBB: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur PL: Patrologiae cursus completus. Series Latina. Hg. v. J.P. Migne. Bde. 1-217, 4 Registerbände. Paris 1844-1864. TspMa: Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit TTG: Texte und Textgeschichte. Würzburger Forschungen. Hg. v. d. Forschergruppe 'Prosa des deutschen Mittelalters'. 1980ff. ZfdA: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur ZfdPh: Zeitschrift für deutsche Philologie
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Personen- und Werkregister Abälard 55, 57, 63-66, 213, 215 Abstractum-Glossar 190, 196 Adalbero-Ascelinus von Laon 212 Albertus Magnus 243, 256, 257 Albrecht von Johansdorf 28 Alexander von Haies 73f., 76, 80, 100, 106, 113, 117, 214, 368 Ambrosius 375 Aristoteles 30f., 42, 60-62, 71, 73, 100, 243f., 315 Augustin 47, 60-63, 83, 121, 243f., 339, 363, 365, 379 Bandinelli, Rolandus 347 Bartholomäus Anglicus 98 Bartholomäus von Pisa 179, 390 Baumgarten, Geistlicher Herzen 104, 106f., 109, 114, 116, 118f., 206 Beichte, Fuldaer 12 Bernger von Horheim 28 Bernhard von Clairvaux 57, 63f., 66, 73, 112, 114, 116, 118, 148, 242, 302 Berthold, Bruder 390 Rechtssumme 164, 178-189, 193, 196, 2 0 0 , 2 0 8 f . , 2 2 8 , 2 3 1 f . , 234-237, 324, 390f. Berthold von Moosburg 132, 294 Berthold von Regensburg 101-104, 106-111, 113f., 118, 121, 206 Boethius 30 Bonaventura 42, 56, 66, 73, 75-79, 80, 87f., 101, 106, 113f., 116-118, 127, 143, 145, 149, 152f., 173, 177, 188, 251, 278, 284f„ 297, 317, 333, 335, 341, 345, 385, 387, 389 Buch der Tugenden 164f., 208 Buch von der geistlichen Armut 127, 136-141, 143-152, 154-156, 161, 252f., 273, 291f., 294-298, 304, 311, 385 Chretien de Troyes 25, 57 Cicero 2, 54, 62
Closener, Pritsche 191f. coninx summe, des 230, 235f. Constitutiones König Rudolfs 15 Damasus, Papst 58 David von Augsburg 101, 103f., 107 Decretum Gratiani 55, 178, 209, 214, 216, 223 Deutschenspiegel 104 Dietmar von Aist 20, 22 Dietrich von Freiberg 132f., 160, 293, 386f. Dionysius Areopagita 81 Duns Scotus 351 Eckhart 97, 126-136, 139, 142-144, 151f., 154f., 157-161, 164, 169, 170, 173f., 177, 190, 194-196, 211, 227, 239, 252, 273, 284, 286, 293f., 296f., 385-387 Eide, Straßburger 12 Esse-essencia-Glossar 191 Friedrich von Hausen 27 Gerard Zerbold van Zutphen 210 De libris teutonicalibus 21 Of. Gerson, Johannes 209, 330 Glossa ordinaria 59, 73, 243, 368 Gotfrid von Straßburg 19, 41 f., 53 Tristan 41 f., 53 Gregor der Große 55 Guilelmus Brito 190 Guilelmus Peraldus 209, 220, 236 Hartmann von Aue 34f., 41-44, 48, 51f., 57 Armer Heinrich 44, 47 Erec 34f., 41, 48-52 Gregorius 42-45 Iwein 34-41, 44f., 47, 52 Heinrich von Friemar 127, 136, 146-149, 151f., 161, 205, 238f., 241f., 244, 246-249, 253, 257, 263, 270, 272-274, 301-305, 307-309, 311 f., 315, 324, 386f., 391 Heinrich von Morungen 28f. Heinrich von Veldeke 45, 53
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Personen- und Werkregister
Eneas 45, 53 Heliand 10 Herbort von Fritzlar 11 Hieronymus 58f., 63, 67, 131-133, 243 Hochfart, Von der 13 Honorius III. 99 Honorius Augustodunensis 212 Hostiensis 209, 256 Hugo a Sancto Caro 256 Hugo Ripelin von Straßburg 225 Hugo von St. Victor 213, 265 Innozenz III. 256, 288, 290 Isidor von Sevilla 264 Johannes Cassianus 146 Johannes von Erfurt 216f., 256 Johannes von Freiberg 179, 181-185, 188, 216, 232, 390 Summa Johannis 181, 184, 186, 220, 231 f. Jordanes 212 Konrad von Heinrichau 190 Konrad von Rothenburg 328 Lamprecht von Regensburg 12 Landfriede, Bairischer von 1256 15 Liber de causis 293, 295 Liber ordinis rerum 8, 191, 193f., 196 Lucidarius, deutscher 14 Luther 2, 8, 22f., 32, 88, 388f., 39 lf. Margeruite Porete 239 Marquard von Lindau 105, 127f., 139-141, 144, 157-161, 192, 195, 208f., 239, 241, 252, 270, 273-275, 277-286, 288, 293-298, 302-305, 310f., 315, 323-325, 385-388, 391 Martin von Amberg 346 Mechthild von Magdeburg 97 Nider, Johannes 211 Nikolaus-von-Dinkelsbühl-Redaktor 324, 327, 329, 330, 341, 351, 357, 359, 361f., 366, 374, 381-384, 386f. Nikolaus von Dinkelsbühl 324, 326-329, 331, 336-338, 340-352, 361, 377, 379, 383, 391 Notker-Glossator, St. Gallener 10 Notker 10 Origenes 131, 279, 284
Otfrid von Weißenburg 10 Petrus Lombardus 66f., 75, 79, 101, 131, 178, 222f. Peuntner, Thomas 328 Philipp der Kanzler 116 Pisanella 325 Plato 58 Porphyrios 30 Posser, Hieronymus 230, 326 Psalmenübersetzung, Millstätter 11 Quintilian 54 Raymund von Pennaforte 67, 209, 214, 223, 234 Richard von St. Victor 146 Robert von Melun 213, 229 Roger Bacon 101-103 Rudolf von Ems 162f. Rudolf von Fenis 29 Sachsenspiegel 104 Schwabenspiegel 17, 104 Seelentrost, Großer 207 Seneca 2, 62 Shakespeare, William 3 Spinoza 5 Summa Angelica 392 Summa Johannis s. Johannes von Freiberg Surius 138 Tauler, Johannes 138f., 280-283, 292, 294, 388 Thomas von Aquin 32, 51, 56f., 63, 66, 76, 79-91, 113f., 116-118, 121, 127, 133f., 136, 142, 152-154, 164f., 167, 169f., 173, 175f., 179, 181-185, 187-190, 194, 207, 209, 234f., 248, 278, 284f., 292-295, 309, 317, 332-338, 340f., 343, 345f., 350f., 368, 371f., 382, 385f„ 389 Thomasius 363 Titurel, Jüngerer 46 tilgenden büch, der s. Buch der Tugenden Twinger von Königshofen, Jakob 190, 192f., 196 Ulrich von Pottenstein 201, 204, 209 Vocabularius Ex quo 8, 191, 194, 196f. Vocabularius optimus 190f., 196f. Volmar, Antonius 137f.
Personen- und Werkregister
Wilhelm von Auvergne 247 Wilhelm von St. Thierry 118f., 121-125, 148 Wimpfeling, Jakob 330 Wimpfener Rechtsbuch 164 Wirnt von Grafenberg 12 Wolfram von Eschenbach 34, 52, 56f. Parzival 34, 56
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Sach- und Wortregister Abbild 159 Absicht 148 Affekt 29, 33f., 124 Akkulturation 24 Akt 73f., 80f., 116 Alphabet 177, 233 analog 130 Analogie 261, 268 Analogieschluß 270 Anleitungsbuch 237 Anweisung 384 Argumentation 360 syllogistische 380 Armut 137 Armutsideal 100 Artikel 214, 236 Auslegung 91, 207, 223 Auslegungsinteresse 380 Auslegungskonsens 311, 360, 382 Ausschließungsmechanismus 364 Autorität 382 Autoritätsbeweis 372 Autoritätstyp 141 Axiom 81 Begründungsdefizit 362 Beichte 67-69, 72, 171, 175 Beichtformular 70 Beichtlehre 290 Beichtpflicht 69 Beratung 115, 175f., 178, 183 Beratungsbuch 229, 324, 389 Beratungsethik 106, 173 Beratungspflicht 78, 188 Bettelorden 71, 165f., 168, 175 Bettelordensethik 137, 167 Bild Gottes 143 Bildlehre 160 Bildungskonzept 103 Bildungspolitik, franziskanische 103 Böses 73 Buch 236 Buchform 200 Buchgliederung 233
Buchverwendungswissen 228, 390 Buchwissen 175f. Bußbuch 68, 220 Buße 43, 171, 221 Bußsakrament 92 casus conscientiae 94f. compendium 213, 224f. conscientia 9, 58, 64, 73-75, 78, 80, 84-86, 109, 116f., 119f., 124, 126f., 133, 142, 144, 151-153, 158, 161, 187, 191f., 253 acquisita 79 erronea 77, 116, 181, 187 innata 11-79, 117 recta 11 pura 145 consilium 87 corpus articuli 225 cur a animarum 68 cur a monialium 166f. Dauer 289 Deduktion 84 Dekalog 83, 85, 178, 200, 211 Dekalogerklärung 326, 390 Denkregel 325 determinate bona 74 determinate mala 74 Deutung, privilegierte 91 Dialog, innerer 317 magistraler 319, 323 Dilemma 54 discretio 146-153, 161, 253 Dominikaner 103 eigenschaft 296 Eingebung 146, 148 Einordnung 261 Einzelsprache 87 Elementartheologie 105 Engel 295 Entscheidung 112 sittliche 126 Entscheidungsmonolog 47 Entschluß 153
Sach- und Wortregister
Enzyklopädie 224 Ethik 60, 64, Iii., 173, 179 integrative 161 prudentiale 89 Ewigkeit 289, 292, 294, 296 geschaffene 295f. Exempel 313, 374f. Exempelwahrheit 382 Fallklasse 85, 260, 383 Fallstruktur 312 Fegefeuer 280f., 286 inneres 283 Fegefeuertopoi 282 Fehlbarkeit 114 Fehler 183 Findemittel 179 Florileg 224, 226-228 Folgerichtigkeit 357 Formengemeinschaft 324 forum 175 confessionis 248 conscientiae 170, 184 conscientie 247 externum 93, 247 internum 92-95, 248, 252 iudiciale 247 iudicii 247 poenitentiale 170, 248, 250 Franziskaner 97 Franziskanerschule 143 ältere 99 deutsche 118 Funke 131, 160f., 190 Furcht l l l f . Gebot 106, 177, 200, 338 fünftes 298 Gegenbegriff 263 Gehorsamspflicht 112f. Geist 150 Geister 148 göttliche 146 teuflische 146 Gericht 175 Gerichtskampf 41 Gesetz 79, 106, 185, 205 gerechtes 380 göttliches 85 Gewißheit 108 gewisse 10 Gewissen 60f., 79, 106f., 109-118,
435
120, 123, 126, 134, 179, 185, 187, 193, 250, 271, 385 irrendes 56, 66, 80, 116-118, 180, 182, 285 prospektives 47 retrospektives 74 ruhiges 389 vernünftiges 66 Gewissensbegriff, einheitlicher 387 Gewissensbiß 44, 78, 116 Gewissenseinschätzung, irrige 116 Gewissensentscheid 87 Gewissensentscheidung 112 Gewissensgrund 78, 135 Gewissensmodell 135 Gewissenstheorie 110 Gewissensurteil 113, 315 Gewissensweisung 112 gewissn 194 gewizzen 8f., l l f . , 14-23, 119, 124 giwit 10 glosa 223 Glück 123 Gottesbild 135, 161 Gottesliebe 328 gotvorchtikeyt 8 Gutachter 174 Gutes 63, 73, 79 habitus 36, 62, 73f., 76, 78, 80, 84, 116f., 121, 134 Handlung 33 topische 260 Handlungsprogramm 44 Handlungssubjekt 37, 39 Handlungsvoraussetzung 45 Held 25 Ich 24, 26, 28, 70f. lyrisches 26, 34 selbstreflexives 24 Identität 40 personale 72 ignorantia 182 invincibilis 182 voluntaria 334 imago 158 imago dei 133, 159 imitatio Christi 141 imprudentia 182 Indizien 69 instinctus naturalis 148
436
Sach- und Wortregister
Instinkt 121 intellectus 243 Intellekt 124 Intention 66, 153, 364 Interpretation, gebundene 90 Irrtum 86, 117, 153, 181-183 Jahrespredigt 329 Kanonistik 92, 172 Kasuistik 89f., 173, 272, 383 Kasus 316, 324 Katechese 211 Kirchenrecht 171, 184 Klosterpredigt 107 Kommentar 221-223 Kompendium 225, 227f. Kompilator 226 Konflikt 112 Kontinuität, personale 70 Konvenienzurteil 365, 373 Korrektur 83 Laie 210 Laienbildungskonzept 103 Laienseelsorge 167 Laster 373 Lehnübersetzung 22 Lehnübertragung 8 Lehrgespräch 315 Leib 121 Leseregel 325 lex naturalis 81 Licht 159 eingeborenes 145 Liebe l l l f . Literatur, franziskanische 97, 106, 120 normierende 90 populärscholastische 89 lumen gratuitum 148 lumen innatum 145 lumen naturale 76, 148 Maßstab 40 memoria 243 Minnesang 25, 34 Mission 23 mitwissen 192f. Moral, objektive 46, 74, 152f. Morallehre 174 Muttersprache 177, 388 Nachrede 379 Nachschlagewerke 177
Nächstenliebe 328 Natur 67, 81f., 116, 150 naturale pondus 76 Naturanlage 114 Naturrecht 60, 73, 79, 81, 83, 126, 128, 171, 183, 292, 332, 335, 338, 378 Naturrechtsgedanke 205 Natursittlichkeit 112 Norm 175, 373, 376 Normenbuch 169, 176, 183, 21 lf., 229, 270, 325 Normenlexikon 200 Normenliteratur 176 Normenverständnis 46 Normierung 63, 105 Normwissen 177 Oberbegriff 263 Objekt 40 Ordensdoktrin, franziskanische 137 Ordenstheologie, dominikanische 103 Ordenstheologie, franziskanische 100, 103 Ordnungswissen 178 Orientierungsliteratur 176 perplexio 54, 55, 188 persona 62 Pflicht 46 Poenitentialsumme 220f. Popularisierung 174 potentia habitualis 74 Potenz 73, 116 Prämisse 84 Predigt 103 franziskanische 102 Prinzip 80 sittliches 332 quaestio 214f., 225, 236 raptus 149 Ratgeber 174 Ratgeberbuch 176, 178, 200 Rationalität 89 Rationalitätsstandard 357 Recht 65, 173, 179, 183 göttliches 171 römisches 172 Rechtsbuch 94, 104f., 179, 235 Rechtsratgeber 164 Redaktion 329 Redaktor 327, 329
Sach- und Wortregister
Reflexion 33 Reform 168 Reformklöster 169 Regel, Goldene 362, 369, 371 Registratur, moralische 123 Reihenpredigt 328 Rhetorik 48, 54, 365, 376, 380 Sachwissen 178 samwitticheit 8 sanwiczekeit 194 Scheinbeweis 365 Schluß, syllogistischer 365 Scholastikmüdigkeit 227 Schuld 43, 45f., 65, 69 Schuldbewußtsein 44 Schule 229 scientia 11, 84 scintilla conscientiae 59 Seele 121, 124 im Fegefeuer 278 Seelenfunke 129-131, 143, 294 Seelengrund 129f., 294 Seelengrund, ungeschaffener 295 Seelenkräfte 121, 144, 244 Seelenlehre 73, 243f. Seelenpotenz 75, 121, 243 Seelsorge 165 Selbstbeurteilung 42 Selbstbindung 87 Selbsttechnik 119 Selbsturteil 45f. Selbstvergewisserung 71 Selbstzensur 284 Seligkeit 113 Sentenzenkommentar 222 similitude dei 158 Sinnenseele 244 Sittenbuch 164 Sittlichkeit 135 Sprache, natürliche 88 Sprachlichkeit 87 Stadt 166-168 Sterbelehre 290 Stoa 62 Strafe 44 Strebevermögen 243f. subiectum 30, 32 Subjekt 28, 32, 34, 36, 40, 46, 72, 128 Subsumtion 85, 268
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Suchalgorithmen 178 summa 212-215, 217f. 224, 226f., 229-232, 234, 237 confessorum 96, 216, 221 de casibus conscientiae 96, 216, 221 de virtutibus 217 de vitiis 217 scholastische 227 Summe 228, 235, 237 deutsche 169, 212, 237 kanonistische 208, 216, 220, 383 theologische 215, 220 Sünde 43, 60f., 373 Sündenkatalog 376f. synderesis 59, 73-82, 84-86, 116, 126f., 131-135, 141-145, 147, 149-153, 157-161, 187, 191f., 335, 385 syneidesis 58f., 131, 151 synteresis 59 Tat 34 Tatklasse 261 Täuschung 117 Theologenschule, franziskanische 99 Traktat 103 scholastischer 324 Tugend 373 Typisierung 201 Typologie der Gesetze 336 Überbietung, ideale 309 Übersetzerwerkstätten 109 Übersetzung 105 Umstand 45, 69 unio 142, 149 Universität 229, 235 univok 130 Unterscheidung der Eingebungen 147 Unterscheidung der Geister 148f. Unterworfensein 29 Unwissen 65, 182 freiwilliges 347 grobes 347 Urteil, moralisches 89 Urteil, sittliches 357 Urteilsakt 85 Urteilsleitung 306, 308, 315 Urteilsstruktur 315 uuizza 10 Verbot 85
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Sach- un^ Wortregister
Verführung 115 Vermögen, habituelles 78 vernunffl 194 Vernunft 84, 101, 103, 117, 270 Diktat der 77 praktische 79-81, 87, 118, 389 Vernunftakt 117 Vernunftseele 244 Verpflichtungen 112 visio beatifica 127, 133f., 142, 149, 152 vita contemplativa 135 Volkssprache 23, 135f., 154, 156, 330, 384, 387 Vollkommenheit 135, 272 Vollkommenheitsethik 252, 385 Vollständigkeit 218
voluntas 243 Wahrheitswert 360, 374f., 382 Weisung 78 Wertung 313, 383 Wille 67, 75, 101, 103, 115, 143 Wirksamkeit 102 Wissen 108, 124 Wissensliteratur 229 Zeit 286, 292, 294, 296 äußere 288 innere 288 verlorene 290 Zeitlichkeit 286, 289, 292 Zensur 101 Zugrundeliegendes 29 Zweifel 155 Zweisprachigkeit 136, 330