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German Pages 258 Year 2020
Susanne Keuchel, Bünyamin Werker (Hg.) Gesellschaftspolitische Dimensionen der Kulturellen Bildung
Perspektivwechsel Kulturelle Bildung: Fachdiskurs, Fortbildung, Forschung | Band 3
Editorial Die Kulturpädagogik der 1970er Jahre entwickelte aus der außerschulischen Praxis heraus ein eigenes Handlungsfeld und etablierte hierfür den Begriff »Kulturelle Bildung«. Dieser trat der bisherigen einzeldisziplinarischen Betrachtungsweise der »Künste« in der Pädagogik entgegen und steht für einen eigenen pädagogischen Wertekanon. Das wachsende Interesse der Politik an Kultureller Bildung führte zu einem deutlichen Ausbau der kulturpädagogischen Praxis. Die damit einhergehende Zunahme an Akteuren im Feld, an zielgruppenspezifischen Segmentierungen, neuen Orten und politischen Zuständigkeiten hat die kulturelle Bildungslandschaft verändert. Neue Partnerschaften und eine zunehmende Internationalisierung des Feldes werfen neue Fragen für die kulturpädagogische Praxis auf: nach relevanten »Qualitäten«, Wirkungen sowie Interdependenzen mit gesellschaftlichen Prozessen, etwa dem soziodemografischen Wandel, zunehmender Diversität, Kommerzialisierung, Medialisierung oder Globalisierung. Die Schriftenreihe Perspektivwechsel Kulturelle Bildung greift diese Fragestellungen auf, um notwendige Aktualisierungen der kulturpädagogischen Praxis zu prüfen. Neue Erkenntnisse aus dem Fachdiskurs und der Fortbildung werden dabei ebenso berücksichtigt wie aktuelle Forschungsergebnisse. Die Reihe wird herausgegeben von der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW unter redaktioneller Verantwortung von Susanne Keuchel.
Susanne Keuchel (Prof. Dr.) ist Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung und Honorarprofessorin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Sie ist Präsidentin des Deutschen Kulturrats und Vorsitzende der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung. Bünyamin Werker (Dr. phil.) ist Erziehungswissenschaftler und lehrt und forscht als Studienrat im Hochschuldienst an der Universität zu Köln zu den Themen Bildung, Erziehung, Erinnerungskultur, Raum als pädagogische Kategorie, Diversität sowie Kulturelle Bildung in schulischen und anderen pädagogischen Handlungsfeldern.
Susanne Keuchel, Bünyamin Werker (Hg.)
Gesellschaftspolitische Dimensionen der Kulturellen Bildung
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Inhalt
Einleitung | 9 Susanne Keuchel und Bünyamin Werker
TEIL I GESELLSCHAFTSPOLITISCHE DIMENSIONEN IM F ACHDISKURS Gesellschaftspolitische Dimensionen Kultureller Bildung Im Spannungsfeld emanzipatorischer und gestalterischer Prozesse | 17 Susanne Keuchel Widerständigkeit als kulturelles Bildungsziel? | 39 Max Fuchs Die ästhetische und politische Dimension der Erinnerungskultur zum Holocaust Potenziale Kultureller Bildung | 49 Bünyamin Werker Neue Wege der baukulturellen Bildung in der Denkmalpflege | 63 Barbara Seifen Paradigmen baukultureller Bildung – erster Versuch | 81 Kawthar El-Qasem Kulturelle Bildung und nachhaltige Entwicklung Beispiele aus aller Welt und was wir daraus lernen können | 93 Ernst Wagner
Kulturelle Bildung für den sozialen Zusammenhalt? Zur Funktionalisierung der Ästhetik in einer Gesellschaft der Gegensätze | 117 Peter Tiedeken
TEIL II GESELLSCHAFTSPOLITISCHE DIMENSIONEN IN FORSCHUNG, MODELLVORHABEN UND PROJEKTEN Gesellschaftspolitische Dimensionen Kultureller Bildung auf Digitalisierung | 135 Susanne Keuchel und Steffen Riske Wand in Sicht, Brett vor dem Kopf Gesellschaftspolitische Dimensionen der Kulturellen Bildung am Beispiel einiger Streetart-Projekte | 153 Dolores Smith „Ich bin die Wahl“ – ein Projekt zur Bundestagswahl 2017 | 169 Ka Jahn und Detlef Roth
TEIL III GESELLSCHAFTSPOLITISCHE DIMENSIONEN IN F ORTBILDUNG UND M ETHODIK Potenziale der Kulturellen Bildung in der Rechtsextremismusprävention Die Fortbildung „Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen (VIR)“ | 181 Bünyamin Werker
Algorithmen? – War das nicht ein altes Volk in Griechenland? Big Data als Thema in der Kinder-, Jugend- und Kulturarbeit | 199 Horst Pohlmann Diversität im Spiel – das Kaleidoskop der Spielkultur Eine diversitätsbewusste Perspektive in der Methodik und Fortbildung von Spielkulturpädagog*innen | 219 Susanne Endres und Nadine Rousseau Invitation to Dance Community-Dance-Praxis in der Kulturellen Bildung | 235 Fabian Chyle-Silvestri und Heike Chyle Verzeichnis der Autor*innen | 253
Einleitung S USANNE K EUCHEL UND B ÜNYAMIN W ERKER
Bildungsprinzipien, wie Persönlichkeitsentwicklung, Selbstbildung, Perspektivwechsel, emanzipatorisches Denken oder Lebensweltorientiertheit, sind essenzieller Teil des subjektorientierten und subjektstärkenden Ansatzes der Kulturellen Bildung. Innerhalb der „Künste“, das Medium der Kulturellen Bildung, ist außerdem der Regelbruch impliziert und damit auch die Vorstellung, es gibt keine „richtige“ oder „falsche“ Kunst bzw. Lösung in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt. Zugleich stellen sich im Zuge gesellschaftlicher Transformation in Verbindung mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen wie Globalisierung, Digitalisierung, Populismus oder die Nachhaltigkeitsagenda 2030 vielfältige Bildungsaufgaben. Obwohl Kulturelle Bildung im Gegensatz zu anderen Bildungsbereichen, wie der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) oder der politischen Bildung, keine konkreten gesamtgesellschaftlichen Ziele verfolgt, wie z. B. Demokratiebildung oder die Umsetzung der Nachhaltigkeitsagenda 2030, wird der Kulturellen Bildung bei der Bewältigung gesellschaftspolitischer Herausforderungen trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – ihres subjektorientierten Ansatzes und der Prozessoffenheit im Zuge von Selbstbildungsprozessen oftmals eine Schlüsselrolle zugeschrieben. Dadurch entsteht für die Kulturelle Bildung ein produktives Spannungsverhältnis, auf der einen Seite Selbstbildungsprozesse anzustoßen, die gesellschaftspolitische Dimensionen berühren, ohne zugleich auf der anderen Seite normative konkrete Bildungsziele zu setzen, die Selbstbildungsprozesse einengen.
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Der dritte Band der Schriftenreihe „Perspektivwechsel Kulturelle Bildung – Fachdiskurs, Fortbildung, Forschung“ widmet sich der zentralen Frage, wie dieses Spannungsverhältnis in der Kulturellen Bildung produktiv in der Auseinandersetzung mit epochalen Schlüsselproblemen wie Nachhaltigkeit, Populismus, Digitalisierung, Ökonomisierung, Teilhabe oder gesellschaftlicher Zusammenhalt gestaltet werden kann? Anders gesagt – wie steht es um die gesellschaftspolitischen Dimensionen der Kulturellen Bildung? Das erste Kapitel liefert Beiträge zu gesellschaftspolitischen Dimensionen Kultureller Bildung aus der Perspektive des Fachdiskurses. Im ersten Beitrag „Gesellschaftspolitische Dimensionen Kultureller Bildung. Im Spannungsfeld emanzipatorischer und gestalterischer Prozesse“ widmet sich Susanne Keuchel der Frage, ob Kulturelle Bildung einen relevanten Beitrag zum Umgang mit aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen leisten kann. Dabei geht die Autorin von einem Verständnis von Kultureller Bildung aus, das unter dem Einfluss gesellschaftlicher Veränderungen einem ständigen Wandel unterliegt. Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen, wie Globalisierung, Migration, Rechtspopulismus, Ökonomisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit, lotet sie die unterschiedlichen Chancen und Grenzen Kultureller Bildung im Umgang mit gesellschaftspolitischen Themen aus. Max Fuchs diskutiert in seinem Aufsatz „Widerständigkeit als kulturelles Bildungsziel?“ einen Sachverhalt, der das Wesen von (Kultureller) Bildung ausmacht. Im historischen Bezug auf Wilhelm von Humboldt legt Max Fuchs dar, dass Bildung, verstanden als Allgemeinbildung, vor allem die Entwicklung des Individuums im Blick hat. Der Begriff der Bildung impliziert ein emanzipatorisches Streben nach Selbstbestimmung und weist damit auch eine politische Dimension auf. Ausgehend von diesem Bildungsverständnis problematisiert der Autor, welche Bildungswerte künstlerischen und ästhetisch-künstlerischen Praktiken zuzuschreiben sind. In seinem Betrag „Die ästhetische und politische Dimension der Erinnerungskultur zum Holocaust – Potenziale für die Kulturelle Bildung“ beschäftigt sich Bünyamin Werker mit der Frage, welche Bedeutung der Kulturellen Bildung in der Aneignung und Gestaltung von Erinnerungskultur im Kontext der Holocausterinnerung zukommt? Dabei fokussiert er am Beispiel der „Wehrmachtsausstellung“ die ambivalenten Deutungen von kulturellen Manifestationen des kulturellen Gedächtnisses zum Holocaust.
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Der Autor diskutiert im Weiteren Potenziale, aber auch Grenzen Kultureller Bildung im Rahmen der künstlerischen Auseinandersetzung mit der NSGeschichte. Mit ihrem Beitrag „Neue Wege der baukulturellen Bildung in der Denkmalpflege“ verweist Barbara Seifen nicht nur auf ein verwandtes Thema der Erinnerungskultur, sondern auch auf ein Thema von besonderer gesellschaftspolitischer Bedeutung. Anhand von Projekten wie „Europa in Westfalen – Spurensuche im Denkmalbestand“ und „RUHR.2010“ veranschaulicht die Autorin, wie die Beschäftigung mit baulichen Artefakten im Rahmen baukultureller Bildung einen wesentlichen Beitrag zur Integration und Teilhabe in Gesellschaft leisten kann. In ihrem Artikel zur „Paradigmen baukultureller Bildung – erster Versuch“ diskutiert Kawthar El-Qasem das Grundverständnis des Begriffs baukulturelle Bildung. Dabei problematisiert sie den Sachverhalt, dass der Bereich der baukulturellen Bildung trotz der Wichtigkeit der bebauten Umwelt für das menschliche Leben, längst noch nicht so theoretisch und empirisch ausgearbeitet ist, wie es möglich oder nötig wäre. Anhand von Projekten arbeitet Ernst Wagner in seinem Artikel „Kulturelle Bildung und nachhaltige Entwicklung. Beispiele aus aller Welt und was wir daraus lernen können“ wesentliche Möglichkeiten der Verbindung von BNE und künstlerischen Herangehensweisen in Bezug auf Nachhaltigkeit heraus. In einem weiteren Schritt leitet er aus diesen Projekten Konsequenzen für die Kulturelle Bildung in ihrer gesellschaftspolitischen Dimension ab. Das Kapitel schließt mit dem Beitrag von Peter Tiedeken „Kulturelle Bildung für den sozialen Zusammenhalt? Zur Funktionalisierung der Ästhetik in einer Gesellschaft der Gegensätze“. Der Autor richtet in seinem Text einen kritischen Blick auf die Annahme, dass Kulturelle Bildung einen ausschließlich konstruktiven Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten kann. Dabei verweist er auf die Gefahr der politischen Instrumentalisierung von Kultureller Bildung und plädiert für eine Kulturelle Bildung der Aufklärung. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den gesellschaftspolitischen Dimensionen Kultureller Bildung aus der Perspektive von Forschung, Modellvorhaben und Projekten. Susanne Keuchel und Steffen Riske widmen sich in ihrem Beitrag „Gesellschaftspolitische Dimensionen Kultureller Bildung auf Digitalisierung“
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der Frage, welche gesellschaftspolitischen Dimensionen Kulturelle Bildung im Kontext von Digitalität leisten kann? Ausgehend von der Feststellung, dass in der gegenwärtigen Gesellschaft im postdigitalen Zeitalter die Trennung von Analogem und Digitalem obsolet geworden ist, loten sie vor dem Hintergrund aktueller Forschung zum Verhältnis von Digitalität, Lebenswelten und kulturellen Techniken die Potenziale Kultureller Bildung im Kontext der Digitalisierung aus. Dolores Smith greift in ihrem Beitrag „Wand in Sicht, Brett vor dem Kopf. Gesellschaftspolitische Dimensionen der Kulturellen Bildung am Beispiel einiger Streetart-Projekte“ als einen wesentlichen Faktor für die Initiierung von Selbstbildungsprozessen ein zentrales Thema auf: die Diskussion um die Bedeutung der freiwilligen Teilnahme an Angeboten der außerschulischen kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Die Autorin geht der Frage nach, ob die „Freiwilligkeit“ für die Initiierung von künstlerischästhetischen Bildungsprozessen tatsächlich in vollem Maße gewährleistet sein muss. Dabei problematisiert sie anhand von Streetart-Projekten das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und gesellschaftlichem Engagement in der Kunst und der Kulturellen Bildung. Im letzten Beitrag des zweiten Kapitels stellen Ka Jahn und Detlef Roth das Projekt „‚Ich bin die Wahl‘ – ein Projekt zur Bundestagswahl 2017“ vor. Dabei veranschaulichen die Autor*innen sehr eindrucksvoll, was passiert, wenn junge Menschen ihre eigenen politischen Aussagen aus ihren Ideen und ihren Einschätzungen heraus entwickeln. Im abschließenden dritten Kapitel widmen sich die Autor*innen den gesellschaftspolitischen Dimensionen Kultureller Bildung im Kontext von Fortbildung und Methodik. Ausgehend von der These, dass Angebote Kultureller Bildung vor allem mit Jugendlichen arbeiten, die im Sinne des Empowerment-Ansatzes gestärkt werden sollen, um gegen Rechtsextremismus einzutreten, und es selten Projekte gibt, die mit Jugendlichen arbeiten, die rechtsextreme Orientierungen aufweisen, greift Bünyamin Werker in seinem Beitrag „Potenziale der Kulturellen Bildung in der Rechtsextremismusprävention – die Fortbildung ‚Veränderungsimpulse setzen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (VIR)‘“ diese These auf und arbeitet anhand der Fortbildung „VIR“ Potenziale und Grenzen Kultureller Bildung in der Rechtsextremismusprävention heraus. Dabei zeigt sich sehr deutlich die gesellschaftspolitische
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Dimension der Kulturellen Bildung in sehr schwierigen von extremistisch geprägten Sozialisations- und Bildungskontexten. Horst Pohlmann beschäftigt sich in seinem Beitrag zu „Algorithmen? – War das nicht ein altes Volk in Griechenland? Big Data als Thema in der Kinder-, Jugend- und Kulturarbeit“ mit dem Einfluss unterschiedlicher Formen der Digitalisierung auf das gesellschaftliche Leben und formuliert in Bezug darauf medienpädagogische Zugänge zu Big Data. Mit ihrem Beitrag „Diversität im Spiel – Kaleidoskop der Spielkultur. Eine diversitätsbewusste Perspektive in Methodik und Fortbildung von Spielkulturpädagog*innen“ fokussieren Susanne Endres und Nadine Rousseau die Potenziale spielpädagogischer Perspektiven auf den Umgang mit einer von Diversität geprägten pluralisierten Lebenswelt. Dabei gehen die Autorinnen in einem ersten Schritt auf die Alltagsrelevanz von Spiel in der heutigen Zeit ein. In einem zweiten Schritt gehen sie der Bedeutung spielpädagogischen Handelns in von Diversität geprägten Spielwelten nach, um in einem dritten Schritt nach den Potenzialen von Spiel als Teil der Kulturellen Bildung zu fragen. Der Band schließt mit dem Beitrag „Invitation to Dance – CommunityDance-Praxis in der Kulturellen Bildung“ von Fabian Chyle-Silvestri und Heike Chyle. Ausgehend von der These, dass die Künste einen besonderen Beitrag zu Prozessen der Vergemeinschaftung leisten können, heben die Autor*innen in diesem Kontext die Bedeutung des Tanzes für solche Prozesse hervor. Sie stellen sich die Frage, was Tanz bei der Initiierung und Stärkung von Vergemeinschaftungsprozessen leisten kann. Am Beispiel der Community-Dance-Praxis und einer Reflexion der aktuellen Produktion „Invited“ (2018) des belgischen Choreografen Seppe Baeyens beleuchten die Autor*innen Potenziale des zeitgenössischen Tanzes und des Community Dance im Kontext von Vergemeinschaftung und Sozialität. Die vorliegenden Beiträge dieses Bandes verdeutlichen die enorme Relevanz und Vielfältigkeit der Kulturellen Bildung in der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen. Ebenso zeigt sich in der Diskussion um die beschriebenen Spannungsfelder, dass in der Kulturellen Bildung eine kontinuierliche Reflexion des Themas notwendig ist.
Teil I Gesellschaftspolitische Dimensionen im Fachdiskurs
Gesellschaftspolitische Dimensionen Kultureller Bildung Im Spannungsfeld emanzipatorischer und gestalterischer Prozesse S USANNE K EUCHEL
Nach Karl Ermert (2009: o. S.) gehört Kulturelle Bildung „zu den Voraussetzungen für ein geglücktes Leben in seiner personalen wie in seiner gesellschaftlichen Dimension“. Kulturelle Bildung hat aktuell Konjunktur, vor allem Programme für soziale Brennpunkte und Bildungsbenachteiligte, wie das internationale Musikbildungsprogramm „El Sistema“ oder „Kultur macht stark“. Auch die politische Bildung sucht neuerdings den Schulterschluss zur Kulturellen Bildung. Nach Yvonne Fietz fördern „politische und kulturelle Bildung […] die Demokratisierung einer Gesellschaft“ (Fietz 2009: o. S.). Und weiter: „Sie erreichen gemeinsam auch bildungs- und politikferne Menschen. Und eröffnen ihnen dadurch Teilhabechancen, die sie zu gestaltungsfähigen Mitbürgern machen […].“ (Ebd.) Gleichermaßen entdecken Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und Umweltbildung zunehmend die Vorzüge der Kulturellen Bildung. Das gemeinsame Positionspapier von BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) und Deutscher Kulturrat (DKR) betont: „Die Umweltbildung mit ihrem Blick auf den verantwortlichen Umgang mit Ressourcen und die Kulturelle Bildung mit ihrer Ergebnisoffenheit für neue Perspekti-
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ven und Lösungswege sind eine entscheidende Grundlage zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der UN.“ (BUND/DKR 2018: o. S.)
Kulturelle Bildung wird zunehmend entdeckt als „Allheilmittel“ für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Aber leistet Kulturelle Bildung wirklich einen relevanten Beitrag zu den aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen? Wie sieht das Selbstverständnis, hier Handlungsfelder und Zielsetzung, der Kulturellen Bildung aus? Nach einer ausführlichen Betrachtung des Selbstverständnisses werden nachfolgend aktuelle gesellschaftspolitische Themen herausgegriffen und Chancen wie Grenzen der Kulturellen Bildung gegenübergestellt, unter der Frage: Welches Potenzial hat Kulturelle Bildung für gesellschaftspolitische Dimensionen?
N ATIONALE UND INTERNATIONALE P ERSPEKTIVEN AUF DAS S ELBSTVERSTÄNDNIS DER K ULTURELLEN B ILDUNG , Z IELE UND H ERAUSFORDERUNGEN Es gibt keine verbindlich festgelegte Definition für Kulturelle Bildung, weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene. Im Rahmen des internationalen Projekts „Monitoring arts education systems“ (MONAES) (vgl. O’Farrell/Shonman/Wagner 2014) wurde daher eine Vorstudie1 durchgeführt, die im Rahmen einer explorativen internationalen Expertenbefragung anhand von Kurzbeschreibungen zur Kulturellen Bildung untersuchte, wie sich das jeweilige Konzept Kultureller Bildung der an der Studie beteiligten 16 Länder2 unterscheidet. In der nachfolgenden Zusammenfassung der Ergebnisse (vgl. Keuchel 2016) fließen sowohl deutsche Positionen als auch punktuell Perspektiven anderer Bildungsbereiche ein.
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Vgl. Aufzeichnungen Keuchel (2015a). An der genannten Vorstudie waren die folgenden Länder/Regionen beteiligt: Australien (Westaustralien und Queensland), Hong Kong, Kolumbien, Deutschland, Dänemark, England, Indien, Portugal, Spanien, Kanada, Norwegen, Neuseeland, Israel, Singapur.
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Ein Großteil der Expert*innen der einzelnen Länder bezieht Kulturelle Bildung auf Rezeption, Produktion und Reflexion bzw. theoretisches Wissen der Künste oder listet die Beschäftigung mit konkreten künstlerischen Sparten auf. Auch der deutsche Diskurs bezeichnet die „Künste als Medium“ (Ermert 2009: o. S.) der Kulturellen Bildung. Dabei zeigen einzelne internationale Expert*innen ein eher enges, andere ein eher breites Kunst- und Kulturverständnis. Auch innerhalb des deutschen Fachdiskurses kann ein Spannungsfeld innerhalb der unterschiedlichen formalen und non-formalen Handlungsfelder beobachtet werden, zwischen einem sehr engen Verständnis von Kultureller Bildung, das sich im Wesentlichen auf die Künste fokussiert, und einem, das wesentlich mehr umfasst. Eine Herausforderung besteht dabei darin, dieses „Mehr“ genauer einzugrenzen, wie dies beispielweise nachfolgend exemplarisch versucht wurde: „Kulturelle Bildung bezeichnet den Lern- und Auseinandersetzungsprozess des Menschen mit sich, seiner Umwelt und der Gesellschaft im Medium der Künste und ihrer Hervorbringungen. Im Ergebnis bedeutet Kulturelle Bildung die Fähigkeit zur erfolgreichen Teilhabe an kulturbezogener Kommunikation mit positiven Folgen für die gesellschaftliche Teilhabe insgesamt.“ (Ebd.)
D IE S UBJEKTEBENE Einzelne internationale Expert*innen stellten in ihren Kurzbeschreibungen, wie vorausgehend betont, nicht die Künste, sondern vielmehr ihre Funktion für das Individuum in den Mittelpunkt. Auf der Subjektebene wurden die künstlerischen Ausdrucksformen als wichtiges Medium für jede*n Einzelne*n betrachtet, dabei zu unterstützen, eigene Haltungen und Positionen auszuhandeln – auch im Sinne des „way of life to express self identity of individuals“ – oder auch als „training of citizen“ (vgl. Keuchel 2016). Diese Subjektorientierung deckt sich mit nationalen Leitkriterien der Kulturellen Bildung in Deutschland. Der Begriff Kulturelle Bildung wurde in Deutschland im Zuge der 1968-Bewegung etabliert und ersetzte den vorherigen Begriff der „Musischen Erziehung“ (Zacharias 2015: 44). Die
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Kulturelle Bildung als neue Kulturpädagogik (vgl. ebd. 2001: 20) kritisierte dabei die Fokussierung der „alten“ Kulturpädagogik auf einen klassischen Kulturkanon in der pädagogischen Arbeit. Es solle nicht zu einer Kultur einer gesellschaftlichen Elite erzogen werden, sondern Bildung solle sich künftig „in Kultur vollziehen“ (Liebau/Zirfas 2004: 579). Neben dem Fokus auf Selbstbestimmung und Persönlichkeit des Menschen werden weitere Grundprinzipien formuliert, die hierdurch abgeleitet werden können – wie Partizipation oder Ganzheitlichkeit von Bildungsprozessen (vgl. Braun/Schorn 2012). Auch gibt es Parallelen zur kritisch-emanzipatorischen Pädagogik in Deutschland, so die Mündigkeit des Individuums zu stärken und bestehende kulturelle Machtverhältnisse zu entlarven (vgl. Bourdieu 1987). Auch jugendkulturelle Ausdrucksformen und Lebensweltorientierung rücken zunehmend in den Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung, dabei auch das Prinzip der Stärkenorientierung.
D IE G ESELLSCHAFTSEBENE Einzelne internationale Expert*innen sehen die Aufgabe der Kulturellen Bildung in der Vermittlung des kulturellen Erbes, um die Bindung des*r Einzelnen zur Gesellschaft zu stärken. Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann betont in diesem Kontext den wichtigen Stellenwert gemeinsamer kultureller Symbolsysteme und Werte für den gesellschaftlichen Zusammenhalt – wie Sprache, Essen, Tänze, Bilder, Geschichten etc. Es bedarf nach Assmann eines „Vorrat[s] gemeinsamer Werte, Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen“ (Assmann 2005: 140). Subkulturelle oder gegenkulturelle Werte einzelner Gruppen und Individuen können diesen gegenüberstehen. Je pluralistischer eine Gesellschaft ist, desto schwieriger wird es allerdings, gemeinsame kulturelle Präferenzwerte zu definieren (vgl. Hall/du Gay 1996). In Deutschland ergibt sich ein differenzierteres Bild: Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus wird ein nationaler Kulturkanon eher kritisch reflektiert. Auch das „Erziehen“ zu einer Kultur wurde in Deutschland mit der Etablierung des Begriffs Kulturelle Bildung in den 1970er Jahren kritisiert und es wurden hier Öffnungen zum außerschulischen Handlungsfeld gefordert, das explizit Alltags- oder Jugendkultur einbezieht. Die Studie belegt zudem, dass in einzelnen – oftmals nicht
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europäischen – Ländern, interkulturelle Aspekte eine größere Rolle spielen. Dies könnte ein erster Hinweis auf „Eurozentrismus“ sein. In den Rückmeldungen wurde jedoch auch deutlich, dass einzelne europäische Länder Schwierigkeiten mit Begriffen wie „gleiche“ oder „andere“ Kultur haben, vor allem Länder mit einer kolonialen Vergangenheit oder Länder mit einer hohen Zuwanderungsrate.
D ER F OKUS AUF T RANSFEREFFEKTE UND K ULTURELLE B ILDUNG ALS „ LEARNING TROUGH THE ARTS “ Innerhalb der Kurzbeschreibungen einzelner internationaler Expert*innen spielen Transfereffekte (vgl. Winner/Goldstein/Vincent-Lancrin 2013) im nationalen Kontext eine wesentliche Rolle in der Kulturellen Bildung oder fördern Transfereffekte wie Intelligenzförderung oder das Sozialverhalten durch musikalische Praxis (vgl. Bastian 2002). Zudem wird Kulturelle Bildung von einzelnen Expert*innen als spezifische, kreative Lernmethode, „learning through the arts“, gedeutet, deren Priorität nicht in der Vermittlung von Wissen über Kunst liegt, sondern die Künste ermöglichen das Verstehen von Sachverhalten aus anderen Fächern, wie Mathematik oder Sprachen (vgl. Bamford 2006). Auch andere Bildungsbereiche entdecken zunehmend das Potenzial, mittels Kultureller Bildung eigene Inhalte besser zu vermitteln, so beispielsweise BNE (vgl. bpb 2012), Umweltbildung (ANU o. J.) oder politische Bildung (vgl. Fuchs 2009). Dabei entsteht durchaus die Gefahr, dass die Künste hier nur als „attraktive Verpackung“ dienen. So heißt es beispielsweise im Kontext der politischen Bildung: „Projekte der kulturellen politischen Bildung bieten […] Vermittlungsmöglichkeiten und Kommunikationswege […]. Sie ermöglichen es, neue Zielgruppen zu erschließen und an Inhalte der politischen Bildung heranzuführen.“ (Dengel/Mushak 2009: o. S.)
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P ERSPEKTIVWECHSEL
UND
K REATIVITÄT
Die Künste und Kreativitätsentwicklung sind historisch eng miteinander verknüpft. So waren es „die künstlerischen und ästhetischen Bewegungen seit dem Sturm und Drang und der Romantik, die in immer neuen Schüben die Überzeugung forciert haben, dass die Welt und das Ich schöpferischkreativ zu gestalten seien“ (Reckwitz 2012: 13). Entsprechend hat sich für den kulturellen Arbeitsmarkt das Wort der Kreativwirtschaft etabliert: „Unter Kultur- und Kreativwirtschaft werden diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen erfasst, welche überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und/oder medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen.“ (BMWI 2009: 3)
Ein weiterer Aspekt Kultureller Bildung ist nach Rückmeldung einzelner Expert*innen die Förderung des „critical thinking“. Eng verbunden hiermit ist der Perspektivwechsel bzw. der emanzipatorische Charakter der Künste und der Kulturellen Bildung im nationalen Kontext. So heißt es u. a., dass Kunst „das gewohnte, eingeübte Sehen stören und zum Reflektieren anregen kann. Der alltägliche Blick auf die (politische) Welt wird unterbrochen. Die Einbildungskraft, die durch das sinnlich wahrgenommene Kunstwerk angeregt wird, führt zu neuen Sichtweisen (Seel 1993). Eigene und fremde Wirklichkeitskonstruktionen werden hinterfragt.“ (Richter 2011: o. S.)
Auch innerhalb des Fachdiskurses zur nachhaltigen Entwicklung wird das Potenzial der Künste und der Kulturellen Bildung als „Aufbrechen von Denkmustern“ (Leipprand 2013/2012: o. S.) gedeutet.
F AZIT : Z UM S ELBSTVERSTÄNDNIS VON Z IELEN H ANDLUNGSFELDERN K ULTURELLER B ILDUNG
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Die vorausgegangene Betrachtung legt nahe, dass es verschiedene pädagogische Zielsetzungen innerhalb der Kulturellen Bildung gibt: Geht es um learning in, through or about arts? Sind die Künste im Mittelpunkt des
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Wissenserwerbs? Oder ist die künstlerische Auseinandersetzung ein Mittel, um sich Wissen in anderen Fachbereichen anzueignen? Findet eine Auseinandersetzung mit den Künsten statt, um sich in den Künsten zu professionalisieren? Oder findet diese statt, um Transfereffekte zu fördern? All diese unterschiedlichen Ansätze werden mit dem Begriff Kulturelle Bildung verbunden. Dabei werden in der formalen und non-formalen Kulturellen Bildung durchaus unterschiedliche Akzente und Inhalte gesetzt, wie auch in den unterschiedlichen Ländern. Abb. 1: Unterschiedliche Aufgabenfelder der Kulturellen Bildung
© Grafik: Susanne Keuchel
Im Sinne eines breiten Kulturverständnisses, das über die konkrete Beschäftigung mit den Künsten hinausgeht, werden zwei Ebenen sichtbar: 1) 2)
die Ebene des Subjekts, eine eigene Lebensweise zu entwickeln und zu gestalten, und die gesellschaftliche Ebene, hier Kultur im Sinne von gesellschaftlichen Werten und kulturelle Identitäten.
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Die Stärkung des Subjekts durch Kulturelle Bildung kann in der Entwicklung der eigenen Identität (self identity) liegen, aber auch darin, dem*r Einzelnen zu ermöglichen, seine*ihre persönlichen Erfahrungen und Überlegungen mittels künstlerischer und kultureller Ausdrucksformen (aesthetic and cultural expressions) auszudrücken und durch sie mit Dritten zu kommunizieren. Die Stärkung der Gesellschaft erfolgt über eine Stärkung kultureller Identitäten im Spannungsfeld kultureller Traditionen, Diversität und kreativer Weiterentwicklung. Doch auch gesellschaftspolitische Entwicklungen in Vergangenheit und Gegenwart haben Einfluss auf das Selbstverständnis von Kultureller Bildung und damit auch auf gesellschaftliche Grundwerte. Dies belegen die unterschiedlichen Akzentsetzungen in den einzelnen befragten Ländern. Steht beispielsweise die Stärkung des Individuums oder die einer sehr konformen Gesellschaft im Vordergrund? Damit wird deutlich: Das Verständnis von Kultureller Bildung ist nicht statisch, sondern unterliegt einem permanenten Wandel gemäß den gesellschaftlichen Veränderungen. Diesen Wandel gilt es, im Hinblick auf den emanzipatorischen Anspruch der Kulturellen Bildung zu reflektieren.
A KTUELLE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE H ERAUSFORDERUNGEN : C HANCEN UND G RENZEN K ULTURELLER B ILDUNG Der Duden setzt „Gesellschaftspolitik“ mit „Sozialpolitik“ gleich (vgl. Duden online o. J.). Unter Sozialpolitik wird verstanden, „die Gesamtheit aller gesellschaftlichen, staatlichen und betrieblichen Maßnahmen, die der Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation der einzelnen Bürger bzw. Arbeitnehmer, der kollektiven Sicherung individueller Lebensrisiken sowie der Hilfe von sozial Schwachen und Schutzbedürftigen dienen.“ (Rechtswissenschaft verstehen online o. J.: o. S.)
Diese Gleichsetzung ist jedoch umstritten (vgl. Himmelmann 2013: 232). So gibt es auch den Ansatz, die Sozialpolitik der Gesellschaftspolitik unterzuordnen (vgl. Müller 1999: 89). Bildungspolitik, Gewaltprävention oder
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Gleichstellung von benachteiligten Gruppen werden ebenfalls zur Gesellschaftspolitik gezählt (vgl. WirtschaftsWoche online o. J.). Gesellschaftspolitik zielt auf Maßnahmen ab, die bestehende gesellschaftliche Praxis dahingehend zu beeinflussen, die Situation der Menschen positiv bzw. wertorientiert zu verändern. Somit führen veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen oftmals zu gesellschaftspolitischen Aufgaben bzw. Herausforderungen wie Globalisierung, Ökonomisierung, Nachhaltigkeit, Migration, Liberalisierung, Rechtspopulismus oder Digitalisierung. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob Kulturelle Bildung einen konkreten fachlichen Beitrag zu einzelnen aktuellen, gesellschaftspolitischen Herausforderungen leisten kann.
G ESELLSCHAFTLICHEN S PALTUNGSPROZESSEN ENTGEGENWIRKEN ? Zu aktuellen Herausforderungen im Kontext von Migration, Diversität, Bildungsbenachteiligung oder Rechtspopulismus in Europa Der zunehmend fehlende Zusammenhalt innerhalb der (deutschen) Gesellschaft wird auf verschiedene Ursachen zurückgeführt. Ein wesentlicher Grund wird in der seit den 1968er Jahren fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaft gesehen (vgl. Jarausch 2007; Inglehart 1989; Beck 1986). Im Zuge der 1968er-Bewegung wurden zunehmend bestehende Werte und Normen der Lebensführung hinterfragt und eine Vielzahl von Lebensstilen etabliert, die sich in heutigen Milieustudien (vgl. Sinus Marktund Sozialforschung o. J.) widerspiegeln und im Drang nach dem Besonderen gipfeln. Andreas Reckwitz betont: „Nicht an das Standardisierte und Reguläre heften sich die Hoffnungen […], sondern an das Einzigartige, das Singuläre.“ (Reckwitz 2017a: 7) Eine zentrale Rolle nimmt dabei die zunehmende Globalisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft ein, die sich nicht zuletzt der Prinzipien des Individualismus und der Liberalisierung bedient und so den Wettbewerb der Individuen innerhalb der Gesellschaft fördert, wie dies der Volkswirt Rainer Bartel ausführt: Das Individuum wird in einer liberalen
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Gesellschaft ermutigt, „seinen eigenen Präferenzen zu folgen und […] seinen persönlichen Nutzen zu maximieren“ (Bartel 2007: 1). Entsprechend spaltet sich die globalisierte ökonomisierte Gesellschaft nach Sighard Neckel (2008) in „Gewinner und Verlierer“. Hieraus ergeben sich häufig Migrations- und Fluchtbewegungen, die, zumindest in Deutschland, die Debatte um eine Fragmentierung der Gesellschaft im Sinne des sogenannten Culture Clash (vgl. Huntington 1996) zusätzlich anfeuert. So ermöglichen liberale Wettbewerbsprinzipien auf der einen Seite Freiheit in der Lebensgestaltung, auf der anderen Seite verpflichten diese die*den Einzelnen ihr*sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten, im Sinne von Ulrich Becks Modell der „Risikogesellschaft“ (1986). Hierbei wird oft übersehen, dass der Ausgangspunkt jeder*s Einzelnen – bezogen auf Bildung oder Einkommen der Familie – sehr unterschiedlich gesetzt sein kann. Dieser Widerspruch in der Verantwortlichkeit der Lebensgestaltung“ ist möglicherweise mit ein Grund für den ansteigenden Rechtspopulismus. Statt die Verantwortung für das Scheitern bei sich oder den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu suchen, werden die Regierung, die Elite oder eben auch Migrant*innen verantwortlich gemacht. Der Kern des (Rechts-)Populismus besteht in einer demagogischen Argumentation, die nicht nur „den kleinen Mann“ oder „das einfache Volk“ gegen „das Establishment“ oder „die da oben“ abgrenzt, sondern ein „Wir-Gruppen“-Gefühl stärkt (Spier 2014: o. S.), auch in der Abgrenzung zu anderen ethnischen oder religiösen Gruppen wie beispielsweise Muslime. Entsprechend „gemeinsam sind den rechtspopulistischen Parteien in Europa ihre Bemühungen, Einwanderung zu beschränken, Integration zu erschweren und liberale Bestimmungen diesbezüglich rückgängig zu machen“ (Schellenberg 2018: o. S.). Was sind die Chancen der Kulturellen Bildung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Reckwitz geht in seinem Modell der „Gesellschaft der Singularitäten“ davon aus, dass das „kreative Milieu“, „das verhältnismäßig überschaubare, aber kulturell wirkmächtige Milieu jener, die in den Berufen der creatives industries im engeren Sinne (Computer und Internet, Medien, Kunst, Design, Marketing etc.) tätig sind [als] kultureller Inkubator [des] singularistischen Lebensstil[s] dient“ (Reckwitz 2017a: 274f.).
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Das Kernprinzip des Liberalismus, sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten, setzt letztlich einen konkreten Bezug zur gestalterischen Komponente der Kulturellen Bildung. Auch innerhalb der Kulturellen Bildung gab es Diskurse, die in die Richtung zielten, dass ein „gutes Leben“ gestaltbar ist – unter dem Stichwort „Lebenskunst“. So wurde im Kontext der „Lebenskunst“ argumentiert, dass Kulturelle Bildung „die notwendigen kommunikativen, interkulturellen, kreativen und flexiblen Grundkompetenzen“ fördere, „die es angesichts der Komplexität und Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Realität für eine gelungene Lebensführung“ (Bockhorst 2012: 139) brauche. Es bedürfte hier, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, also auch einer eigenen kritischen Reflexion des Fachdiskurses innerhalb der Kulturellen Bildung. So müsste beispielsweise der Aspekt der Eigenverantwortlichkeit relativiert werden. Nicht das Individuum muss durch Kulturelle Bildung in einem sozialen Brennpunkt gestärkt werden, sondern wichtiger wäre es, die Lebens- und Ausgangsituation der*s Einzelnen zu verbessern und hier gerechtere Lebensumstände zu schaffen. Dies bedeutet letztlich auch eine Relativierung der eigenen Bildungswirksamkeit. Auch beim Trend zum Besonderen, Individuellen, Singulären kann Kulturelle Bildung helfen, einen Perspektivwechsel herbeizuführen. Dabei gilt es, nicht nur die ökonomischen Prinzipien, die diesen Trend fördern, zu entlarven, sondern den Blick auch wieder stärker auf gemeinsame kulturelle Symbole diverser Gruppen zu lenken. Auch im rechtspopulistischen Kontext können Verweise auf das kulturelle Erbe, auf inter- und transkulturelle Aspekte helfen, alternative kulturelle Identitäten und Lebensstile aufzuzeigen. Auch globales Lernen ist in diesem Zusammenhang eine wichtige Grundlage, nicht nur Abgrenzungen aufgrund von Herkünften aufzubrechen, sondern auch eine Grundlage zu schaffen, sich in anderen Weltkontexten zu bewegen. Globales Lernen hat immer eine kulturelle Dimension. Allerdings weisen globale Lernbezüge, beispielsweise das Einbeziehen nicht nationaler und nicht europäischer Inhalte und Künstler*innen in der aktuellen kulturellen Bildungspraxis, durchaus noch Entwicklungspotenzial auf (vgl. Keuchel 2015: 145).
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W ERTEORIENTIERUNG
UND - VERMITTLUNG ?
Im Spannungsfeld von Globalisierung, Ökonomisierung, Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit Im Zuge der Liberalisierung, Individualisierung, Ökonomisierung und Globalisierung haben sich auch Wertekontexte innerhalb der Gesellschaft deutlich verändert. Neben der Konzentration auf individuelle Lebensperspektiven, die es gilt, in einer Wettbewerbsgesellschaft zu stärken und stetig zu verbessern, werden normativ begründete Wertvorstellungen durch eine zunehmende Technokratisierung gleichzeitig kontrakariert, basierend auf der Annahme, dass komplexe Zusammenhänge der Moderne nicht mehr von politischem Sachverstand getroffen werden können, sondern wissenschaftliche Fachexpertise benötigen (vgl. Böcher 2007: 17). Parallel dazu verlagern sich Entscheidungen zunehmend in globale Kontexte, sodass innerhalb der Gesellschaft neben Spaltungsprozessen ein zunehmender Verlust des Vertrauens in demokratische Prozesse und Politik beobachtet werden kann. Das Leben in einer zunehmenden individualisierten Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft fördert aktuell das Bedürfnis nach mehr Sicherheit und der Wertschätzung familiärer Kontexte. Ein abnehmendes Interesse der jungen Bevölkerung an Leistungskriterien und ein wachsendes an ethisch-moralischen Werten wurde jüngst auch innerhalb einer Zeitreihenanalyse der Shell-Jugend-Studie diskutiert. Der Jugendforscher Thomas Gensicke vermutet, aufgrund der historischen Werteentwicklung, ein „übergreifendes Muster“ in Form eines Dreischritts von „politisch“, über „hedonistisch“ zu „ökonomisch“. Demnach wäre gegenwärtig wieder eine „politische“ Generation zu erwarten“ (Gensicke 2009: 582ff.). Die Fridaysfor-Future-Bewegung wäre ein Beleg für diese These. Dabei spielen neue Wertkriterien eine Rolle, weg von Ökonomisierungsprinzipien hin zu Prinzipien der Nachhaltigkeit. Auf der politischen Ebene spiegelt sich dies in der weltweit ratifizierten UN-Nachhaltigkeitsagenda 2030 wider, die sich 17 ethisch-moralischen Zielen verpflichtet. Ein wesentlicher Wertewandel liegt dabei auf Aspekten von Generationengerechtigkeit und globalen Perspektiven. Derzeit werden neue Wege für eine neue soziale Gesellschaftsordnung als Alternative zur Wettbewerbsgesellschaft gesucht: Beispielsweise weg von Individualisierung und Liberalisierung hin zu einer stärkeren Gemeinwohlorientierung, um so „dem Sozialen gegen-
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über dem Politischen und Ökonomischen den Vorrang“ (Bango 1998: o. S.) zu gewähren. Wie kann Kulturelle Bildung diesen Wertewandel und die Suche nach neuer gesellschaftlicher Orientierung hin zu mehr Nachhaltigkeit fördern und begleiten? Grundsätzlich kann ein Zusammenspiel von Künsten und Werten durchaus kritisch angesehen werden. So resultiert der Artikel 5 zur Freiheit der Kunst im Grundgesetz u. a. aus den Erfahrungen im Nationalsozialismus, wo Kunst und Künstler*innen entweder der NS-Ideologie und ihren Wertevorstellungen entsprachen oder aber als entartet stigmatisiert wurden. Dass ideologische Gesellschaftssysteme „Künste“ instrumentalisieren, ist zugleich ein Indiz dafür, dass Künste Werte innerhalb einer Gesellschaft vermitteln. So sieht Reckwitz in der globalen Gesellschaft „sowohl eine außergewöhnliche Öffnung als auch eine Schließung von Lebensformen“ (Reckwitz 2017b: o. S.). Die Öffnung gehe dabei einher mit der „individuellen Selbstverwirklichung“, die Schließung mit einer „kollektiven Identität“ (ebd.). Beide Tendenzen hätten jedoch gemeinsam, dass sie „das Soziale kulturalisieren“ (ebd.). Kulturelle Bildung kann also zunächst einen zentralen Beitrag leisten, aufgrund ihres emanzipatorischen Potenzials, kulturelle Werte zu dechiffrieren und kritisch zu reflektieren. In ideologischen Gesellschaftssystemen mit einem stabilen Wertekanon, kann Kulturelle Bildung Perspektivwechsel, also eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Werten ermöglichen. Für den aktuellen Fachdiskurs bedeutet dies, wie vorausgehend schon diskutiert, bestehende Gesellschaftswerte kritisch zu reflektieren und diese nicht unbewusst zu übernehmen. So konnte im Sinne des Zeitgeistes auch innerhalb der Kulturellen Bildung ein Wechsel, weg von normativen Leitkriterien hin zu einer rein fachlich begründeten Qualitätsdebatte und zu Kompetenzmodellen, beobachtet werden. Dabei steht vor allem die wirtschaftliche Verwertbarkeit Kultureller Bildung im Fokus, insbesondere Transfereffekte wie Intelligenz, soziales Verhalten, Kreativität etc., die mittels empirischer Wirkungsstudien überprüft werden sollen. Als Gegenimpuls könnte wieder eine stärkere Rückbesinnung auf eine normativ begründete politische Argumentationslogik innerhalb der Kulturellen Bildung erfolgen, die ein Gegengewicht schafft zu technokratischen Prinzipien der Ökonomisierung, die sich schleichend auch innerhalb des Fachdiskurses der Kulturellen Bildung etabliert haben.
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Geht es darum, neue Wege der Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien zu verankern, kann Kulturelle Bildung durchaus als kreativer Freiraum dienen, da es hier kein Richtig oder Falsch, sondern mehrdimensionale Perspektiven gibt. Dies eröffnet die Chance, neue Lösungswege und kulturelle Narrative für eine „neue Gesellschaftsordnung“ zu entwickeln.
K REATIVITÄT , P ERSPEKTIVWECHSEL GESTALTERISCHES P OTENZIAL ?
UND
Digitalität, KI und Robotik Eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung ist der digitale Wandel. Digitale Technik hält Einzug in alle Bereiche unseres Lebens: Freizeit, Kommunikation, Erwerbsleben und Alltagsbewältigung. Dabei überlagern sich analoge und digitale Lebenswelten zunehmend, beispielsweise in Form fahrerloser Autos, im Körper implementierter Chips zum bargeldlosen Bezahlen oder im Augmented Reality Gaming. Dies führt dazu, dass jüngere Generationen nicht mehr zwischen virtuellen und reellen Welten unterscheiden (vgl. Keuchel 2020). Dies eröffnet weitere Herausforderungen: Der schnelle digitale Wandel fordert von Einzelnen, sich kontinuierlich mit neuer Technik auseinanderzusetzen und sich stetig weiterzuentwickeln. Neben einer veränderten Wahrnehmung des Digitalen verändert sich gleichzeitig das menschliche Verhalten, das sich zunehmend den Bedingungen des Digitalen anpasst, was letztendlich auch zu einer Veränderung der Wahrnehmung des Menschen auf das Menschsein führt. Digitale Technik tritt zunehmend in Konkurrenz zum Menschen, beispielweise im Erwerbsleben oder im Schachspielen oder in der Mathematik. Bereits 2013 warnte eine Studie der Universität Oxford (vgl. Frey/Osborne 2017) davor, dass Digitalisierung 47 Prozent der Industriejobs in den USA gefährde. Auch weitere humane kulturelle Techniken können von digitaler Technik geleistet werden, wie das Lesen, Schreiben, Komponieren oder das Verständigen in Fremdsprachen. Dies bedingt, das Konzept der Menschheit, beispielsweise den zentralen Lebenssinn der Erwerbstätigkeit, neu zu überdenken.
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Kulturelle Bildung könnte hier auf verschiedenen Ebenen einen Beitrag leisten. Zum einen bietet die experimentelle, gestalterische Prozessorientiertheit der Kulturellen Bildung erneut Perspektivwechsel an: Digitalität wird aktuell aus ökonomischer und technischer Perspektive diskutiert. Der Mensch kann sich jedoch dem technischen Wandel anpassen oder diesen aktiv mitgestalten. Das künstlerische, ästhetische Spielen mit analogdigitalen Schnittstellen hilft bei Entscheidungsprozessen: Welche humanen Aufgaben und kulturellen Techniken soll digitale Technik künftig übernehmen? Und welche nicht? Digitaler Wandel ist human gestaltbar und damit auch eine kulturelle Bildungsaufgabe.
F AZIT : G ESELLSCHAFTSPOLITISCHE D IMENSIONEN K ULTURELLER B ILDUNG Es gibt ein spannendes Wechselverhältnis zwischen den Künsten, dem Zeitgeist, den gesellschaftspolitischen Herausforderungen und der Kulturellen Bildung. Gesellschaftspolitische Herausforderungen markieren Bruchstellen, generieren Fragen nach der Entwicklung gesellschaftlicher Transformation. Bestehende gesellschaftliche Praxis manifestiert sich in Kultur und künstlerischen Ausdrucksformen. Der Zeitgeist ist bestimmt durch aktuelle Praxis und aktuellen Fragen der gesellschaftlichen Weiterentwicklung und spiegelt sich ebenfalls in künstlerischer Praxis wider. Gesellschaft bedarf also der Künste, kultureller Narrative, die sich „nicht im ‚luftleeren Raum‘, sondern im Rahmen von kultur-geschichtlichen Meta-Erzählungen und Mythen, in denen sich Zivilisationen gemeinsame Sinnstrukturen geschaffen haben“ (Campbell/Moyers 1991 zitiert nach Meinert 2012: o. S.), vollziehen. Kulturelle Narrative prägen damit Akzeptanz gesellschaftlicher Praxis, aber auch Akzeptanz des Vergangenen und künftiger Transformation. Künste und kulturelle Narrative sind Medien der Kulturellen Bildung. Das heißt letztlich, Kulturelle Bildung und Künste können gesellschaftliche Entwicklung maßgeblich fundamentieren, aber auch in andere Richtungen lenken. Das unterstreicht den wichtigen Stellenwert der Kulturellen Bildung, sich auf die Subjektebene zu fokussieren und sich nicht von staatlichen oder anderen Instanzen instrumentalisieren zu lassen, wie es in ideologischen Staaten grundsätzlich geschieht.
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Eine wesentliche Kraft der Kulturellen Bildung für gesellschaftliche Herausforderungen besteht in der Chance, mit dem Medium der Künste Perspektivwechsel zu ermöglichen: Es gibt kein Richtig oder Falsch und damit die Chance eines Experimentierraums, neue kulturelle Narrative zu entwickeln. Dabei muss bewusst sein, dass auch die Strukturen der Kulturellen Bildung nicht im „luftleeren“ Raum agieren, sondern ebenfalls vom aktuellen Zeitgeist beeinflusst sind, sich beispielsweise in einem gesellschaftlichen Prozess der Ökonomisierung ebenfalls ökonomisieren. Denn auch Gesellschaftspolitik beeinflusst Kulturelle Bildung! Daher ist es umso wichtiger, im Sinne des emanzipatorischen Anspruchs der Kulturellen Bildung, diesen auch auf sich selbst zu richten: Eine kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftspolitischen Praxis sollte daher auch als Korrektiv für die eigene fachliche Praxis genutzt werden. Kulturelle Bildung bedarf also der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen: als fachliches Korrektiv für sich und als Experimentierraum für Individuen, eigene Antworten und Positionen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entwickeln zu können. Kulturelle Bildung kann gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, müsste dies infolge aber auch wiederum kritisch reflektieren, ob dieser Zusammenhalt dann genug Raum für die Entwicklung der*s Einzelnen ermöglicht. Kulturelle Bildung kann Transformationsprozesse anstoßen, von der Ökonomisierung zur Nachhaltigkeit. Müsste dann infolge aber auch eine auf Nachhaltigkeit fokussierte Gesellschaft kritisch auf eine möglicherweise zu einseitige Wertefokussierung reflektieren. Zugleich liegt in der Herausforderung stetiger Perspektivwechsel eine große gestalterische Chance. Es gilt, nicht nur emanzipatorisch kritische Perspektiven zur bestehenden Praxis einzunehmen, sondern auch gestalterisch neue Wege zu eröffnen. Die Kraft von Kunst und Kultur liegt in der Stärkung individueller und kultureller Identitäten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und sie liegt im Anstoßen von Transformationsprozessen durch das Bilden freier Diskursräume, innerhalb derer das „Unmögliche“ denkbar werden kann. Innerhalb dieser Diskursräume müssen Werte für den gesellschaftlichen Zusammenhalt immer wieder neu ausgehandelt werden.
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Widerständigkeit als kulturelles Bildungsziel? M AX F UCHS
E INE P ROBLEMSKIZZE Das Fragezeichen im Titel meines Beitrags findet seine Rechtfertigung darin, dass es keine Sicherheit gibt, ob Widerständigkeit ein legitimes Bildungsziel ist. In politischer Hinsicht mögen die einen an das in Artikel 20 des Grundgesetzes verankerte Recht eines*r jeden Deutschen denken, Widerstand gegen diejenigen zu leisten, die die in demselben Artikel formulierte Verfassungsordnung verändern wollen. Das Recht, Widerstand zu leisten, ist also ein wichtiges politisches Recht der Menschen, sich gegen unerträgliche Zustände und Zumutungen zur Wehr zu setzen oder die Grundlagen einer hart erkämpften demokratischen und politischen Ordnung zerstören zu wollen (vgl. Fuchs 2019a; 2018). Dies setzt allerdings eine Vielfalt unterschiedlicher persönlicher Dispositionen voraus, soll der Widerstand Erfolg haben, nämlich u. a. Wissen, eine bestimmte moralische Haltung, die sich an begründbaren humanistischen Werten orientiert, eine praktische Handlungsfähigkeit und eine gewisse taktische und strategische Kompetenz. Widerständigkeit kann also als individuelle Disposition verstanden werden, in diesem Sinne Widerstand leisten zu können. Allerdings ist es fraglich, ob der bisherige Versuch einer Klärung der Begrifflichkeit bereits hinreichend ist. Denn auch unterhalb des in Artikel 20 formulierten Widerstandsrechts gibt es Formen von politischem Widerstand, über dessen Berechtigung die Meinungen auseinandergehen. So gibt es Widerstand
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gegen die Zuwanderungspolitik der Bundesregierung, es gibt Widerstand gegen eine Vermögenssteuer, es gibt Widerstände gegen Regelungen im Bereich der Klimapolitik, kurz: Die Berechtigung, Widerstand zu leisten, ist verbunden mit erheblichen und schwierigen Entscheidungsfragen im Bereich der Politik und der Moral. Nicht leichter wird die Antwort auf die Frage, ob Widerständigkeit ein legitimes (kulturelles) Bildungsziel ist, wenn übliche Prozesse des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen betrachtet werden. So gehört es zu Prozessen des Erwachsenwerdens, in der Zeit der Pubertät, Widerstand gegenüber allen Wünschen der Erwachsenen und insbesondere der eigenen Eltern zu leisten. Selbst wenn bekannt ist, dass solche Abgrenzungsprozesse notwendig sind, damit die Heranwachsenden eine eigene Identität entwickeln können, ist diese Phase für beide Seiten häufig nicht leicht zu ertragen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage stellen, ob diese ohnehin schon alltäglich praktizierte Widerständigkeit der Heranwachsenden nun auch noch pädagogisch unterstützt werden soll. Aus dieser – natürlich nur fragmentarischen – Problemskizze ergibt sich, dass es einen weiteren Klärungsbedarf im Hinblick auf die Begrifflichkeit und auf die Notwendigkeit eines entsprechend verstandenen Bildungsziels gibt. Und selbst wenn es im Ergebnis zu einer positiven Antwort kommt, ist zu klären, inwieweit ausgerechnet kulturelle Bildungsarbeit dazu eine besondere Leistung erbringen kann. Dabei geht es zum einen um individuelle Entwicklungs- und Bildungsprozesse, es ist zum anderen aber auch deutlich geworden, dass es hierbei einen engen Zusammenhang mit sozialen und politischen Prozessen in der Gesellschaft gibt. Implizit steckt also die Frage dahinter, in welcher Beziehung Kulturelle Bildung zur sozialen und politischen Bildung steht. Werden aktuelle kultur-, jugend- und bildungspolitische Diskurse rund um Kulturelle Bildung betrachtet, so lässt sich feststellen, dass offenbar solche gesellschaftlichen und politischen Wirkungen (Integration, Unterstützung des gesellschaftlichen Wandels etc.) eine zentrale Motivation für die Einrichtung bestimmter Förderprogramme waren und sind. Damit stellt sich aber die Frage nach der Wirksamkeit kultureller Bildungsarbeit, ob solche Ziele nicht nur legitim sind, sondern ob sie auch erreicht werden können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Kulturelle Bildung eine Art Containerbegriff ist, in dem eine Vielfalt unterschiedlichster Angebote und Praxisformen zusammengefasst sind, sodass es zumindest unvorsichtig ist,
W IDERSTÄNDIGKEIT
ALS KULTURELLES
B ILDUNGSZIEL ?
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pauschale Wirkungsbehauptungen aufzustellen: Haben wirklich Musik, Theater, Zirkusarbeit, Spiel etc. und innerhalb dieser Felder die verschiedenen Stile und Erscheinungsformen dieselben Wirkungen und dies auch noch in verschiedensten Angebotsformarten?
K ULTURELLE B ILDUNG IST A LLGEMEINBILDUNG Ein verbreitetes Verständnis von Kultureller Bildung besteht darin, sie als Allgemeinbildung zu verstehen, die die Besonderheit hat, spezifische Arbeitsformen zu verwenden. Es geht dabei um die unterschiedlichen Künste, es geht um Spiel, um Zirkusarbeit und auch um Medien. Dies entspricht auch der Zusammensetzung der Mitglieder der zentralen Fachorganisationen, wie etwa der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ). Unstrittig dürfte sein, dass es bei dem Begriff der Bildung um die Entwicklung der Persönlichkeit geht. Dabei wird in den meisten (oder sogar allen) Konzeption von Bildung das sich entwickelnde Individuum in einem sozialen Kontext gestellt, sodass Bildung neben der individuumsbezogenen Dimension auch eine soziale Dimension hat. Dies bringt Wolfgang Klafki (1991) in seiner nach wie vor akzeptierten Konzeption von Allgemeinbildung dadurch zum Ausdruck, dass er von Schlüsselproblemen spricht, die ein zeitgemäßes Konzept von Bildung berücksichtigen muss: Frieden, Umwelt, Technikfolgen, Demokratisierung, gerechte Verteilung, Gleichberechtigung und Menschenrechte sowie Glücksfähigkeit. So ähnlich formulierte dies auch die Bildungskommission NRW in ihrer Denkschrift „Zukunft der Bildung, Schule der Zukunft“ (1995), die die Aufgabe der Schule im Hinblick auf die Entwicklung einer solchen Bildung bestimmt, die die Menschen in die Lage versetzt, sich mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen. Stichworte der damaligen Denkschrift sind: Pluralisierung der Lebensformen und der sozialen Beziehungen, Entwicklung neuer Technologien und Medien, die ökologische Frage, Probleme der Migration, der Internationalisierung der Lebensverhältnisse und des Wertewandels. Es geht also wesentlich um Transformationsprozesse in der Gesellschaft, sodass es sinnvoll ist, auch Bildung unter dem Aspekt der Transformation zu verstehen (vgl. Fuchs 2017). Bildung in diesem Sinne erfasst das dazu notwendige Wissen, orientiert sich an
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humanistischen Werten, ist ein nicht abschließbarer Prozess und kann als Lebensform verstanden werden. Im Prozess der Bildung soll der Anspruch auf Selbstbestimmung realisiert werden. Es geht um Prozesse der sozialen Anerkennung und der Mitgestaltung der Gesellschaft in ihrer Komplexität, und insbesondere geht es in einer emanzipatorischen Absicht um die Entwicklung einer kritischen Haltung. Auch bei dem Philosophen Peter Bieri (der unter dem Pseudonym Pascal Mercier zahlreiche anerkannte Romane geschrieben hat) steht der Aspekt der Selbstbestimmung im Mittelpunkt. Insbesondere weist er darauf hin, dass es einen engen Zusammenhang von Selbstbestimmung und Moral gibt: „Nur bei Wesen, die sich selbst befragen und über sich bestimmen können, ergibt es einen Sinn, von moralischer Scham und Reue zu sprechen.“ (Bieri 2014: 29) Als Gefahr für die von ihm zentral in den Mittelpunkt gestellte Dimension der Selbstbestimmung gelten die allgegenwärtigen Versuche der Manipulation des einzelnen Menschen, sodass ein wichtiges Bildungsziel bei ihm „Wachheit“ (ebd.: 33) wird: „Bildung ist die wache, kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur. Es ist dieser Prozess der Aneignung, indem sich jemand eine kulturelle Identität schafft.“ (Ebd.: 62)
Und weiter: „Das Besondere an Kulturwesen ist, dass sie stets erneut zum Problem werden und die Frage aufwerfen können, wer sie sind und was ihnen wichtig ist. Und Bildung, richtig verstanden, ist der komplizierte Prozess, in dem es um die Beantwortung dieser Fragen geht.“ (Ebd.: 83)
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Dieses Verständnis von Bildung, das sich zwar auf die Entwicklung des Individuums bezieht, dieses Individuum allerdings immer in seinem sozialen Kontext sieht, hat eine lange Tradition. Ein erster Hinweis auf den engen Zusammenhang von individueller Entwicklung und politischer Gestaltung lässt sich darin finden, dass sich wichtige Reflexionen über Bildung in
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staatstheoretischen Schriften finden. Dies gilt für die politischen Schriften von Platon, die sich seitenweise als Überlegungen zu einer richtigen Gestaltung von Bildungsprozessen (v. a. der Herrschenden) lesen lassen. Es gilt insbesondere für einen wichtigen Vertreter eines humanistischen Bildungsbegriffs, nämlich für Wilhelm von Humboldt (etwa 1991). Es geht um ein zentrales Thema der bürgerlichen Emanzipation, nämlich um das Recht der Bürger*innen auf Mitgestaltung der Gesellschaft. Ein solcher Emanzipationsprozess kann allerdings nur dann gelingen, wenn jede*r Einzelne über die entsprechenden Bildungsdispositionen verfügt. Und so gelangt Humboldt zu wichtigen Begriffsbestimmungen, etwa der, dass Bildung darin besteht, so viel Welt wie möglich in sich aufzunehmen. Bildung, so eine weitere Bestimmung, meint die Entwicklung einer reflexiven und bewussten Beziehung zu sich, zur Welt, zur Geschichte, zu Natur und Kultur (vgl. von Humboldt 1999). Der Begriff der Bildung ist also von Anbeginn an ein Begriff der Emanzipation des einzelnen Menschen, ein Begriff der Freiheit und der Selbstständigkeit und er deckt sich in dieser Hinsicht weitgehend mit dem Begriff des Subjekts, so wie er etwa in der Philosophie von Immanuel Kant entwickelt worden ist. In dieser Zeit – in der Geschichtswissenschaft wird die Zeit von 1770 bis 1830 als Sattelzeit bezeichnet – finden nicht bloß gravierende politische und gesellschaftliche Veränderungen statt, es verändern sich auch wesentlich die Bedeutungen zentraler Begriffe. Dies gilt insbesondere für den Begriff des Subjekts. War bisher – etymologisch korrekt – mit dem Subjekt das Unterworfene (subiacere) gemeint, so wird nunmehr das Subjekt zu dem Tragenden, zu dem Ausgangspunkt des Handelns, zu dem Motor von Entwicklungen. Zwar wurde in der Romantik oder etwa in der Philosophie von Johann Gottlieb Fichte dieser Gedanke des handlungsfähigen Individuums hoffnungslos übersteigert – sodass später zu Recht Kritik an dieser Allmachtsfantasie geübt wurde –, doch ist seit diesen Überlegungen der Gedanke der individuellen Handlungsfähigkeit als wichtiger zentraler Aspekt des Bildungs- und Subjektbegriffs nicht mehr wegzudenken. Eine so verstandene Konzeption von Individuum und Individualität ist zugleich die Basis einer rechtsstaatlichen, sozialen und liberalen Demokratie. Auch hierbei zeigt sich, dass das Ziel einer politischen (Mit-)Gestaltung der Gesellschaft und die Vorstellung von Bildung in einem engen Zusammenhang stehen. Dies zeigt sich zum einen an dem inzwischen entwickel-
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ten Katalog der Menschenrechte, es zeigt sich aber auch in zahlreichen Einzelgesetzen, etwa in den verschiedenen Schulgesetzen der Länder oder im Kinder- und Jugendhilfegesetz, bei denen in den verschiedenen Zielparagrafen ein solches Bildungskonzept formuliert wird. Ein erstes Zwischenfazit aus diesen Überlegungen zur Allgemeinbildung besteht darin, Bildung insgesamt als diejenige Disposition zu verstehen, die den Menschen befähigt, sein eigenes Projekt des guten Lebens zu realisieren (Fuchs 2019b). Die dahinterstehende Vorstellung vom Menschen sieht diesen nicht als abstrakt-isoliertes Individuum, sondern als Menschen in der Fülle seiner sozialen und kulturellen Beziehungen. Dies bedeutet u. a. auch, dass jeder Mensch auf Ressourcen angewiesen ist, will er das Projekt des guten Lebens realisieren. Die Bereitstellung solcher Ressourcen ist Aufgabe der Politik, wobei das in diesem Beitrag vertretene Konzept von Bildung die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Mitgestaltung der politischen Rahmenbedingungen wesentlich einbezieht. Dies bedeutet, dass Bildung auch eine Handlungsfähigkeit in den verschiedenen Subsystemen der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Gemeinschaft, Kultur) einschließt. Zu einer solchen Handlungsfähigkeit gehört eine kritische Haltung und somit auch die Fähigkeit, gegebenenfalls Widerstand gegen unzumutbare Anforderungen und – wie Peter Bieri oben schreibt – gegen vielfältige Manipulationsversuche zu leisten. Es geht also gerade nicht um Widerstand um jeden Preis, sondern um eine reflexive Widerständigkeit, für die in jedem Einzelfall auch Gründe angegeben werden können. Aufgrund der Komplexität des Bildungsbegriffs können unterschiedliche Facetten und Bereiche, wie etwa politische, ökonomische, soziale oder Kulturelle Bildung unterscheiden werden, zumal sich auch unterschiedliche Professionalitäten und Institutionen der Vermittlung dieser verschiedenen Bereichskonzepte entwickelt haben. Doch ist das gemeinsame Band, dass es sich bei all diesen Formen bei aller bereichsspezifischen Differenzierung um Allgemeinbildung handelt, sodass eine Trennung und Unterscheidung in weiten Teilen eine bloß analytische Trennung ist. Allerdings ist zu zeigen, in welcher Weise diese unterschiedlichen Bildungsformen in der Lage sind, die angesprochenen Aufgaben auch zu erfüllen. Insbesondere gilt dies für Kulturelle Bildung.
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ZU
DEN B ILDUNGSWERTEN KÜNSTLERISCHER UND ÄSTHETISCH - KÜNSTLERISCHER P RAKTIKEN
Im Mittelpunkt der kulturellen Bildungsarbeit steht der Mensch mit seiner Körperlichkeit und seiner Sinnlichkeit. Dies gilt auch für den Kernbereich der Kulturellen Bildung, dem produktiven und perzeptiven Umgang mit den Künsten. Im Wesentlichen lassen sich die einzelnen Künste als Kultivierung der jeweils genutzten Sinne des Menschen verstehen. Es geht also um eine besondere Sensibilität im Hinblick auf das Sehen, das Hören, das Tasten und insgesamt die Körperlichkeit des Menschen in Raum und Zeit. Sie lassen sich als Welt- und Selbstverhältnisse bezeichnen, die im Bildungsprozess entwickelt und transformiert werden. In dem Maße, in dem sich der Mensch mit der natürlichen, sozialen und kulturellen Welt auseinandersetzt und versucht, diese zu verstehen und mitzugestalten (Weltverhältnisse), gestaltet er auch sich selbst, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten und insgesamt seine Haltung zur Welt und zu sich selbst (Selbstverhältnisse). Dies gilt auch für einen künstlerisch-ästhetischen Umgang mit sich und der Welt. Als systematische Theorie einer solchen Verständnisweise kann die Philosophie der symbolischen Form von Ernst Cassirer (1990) zugezogen werden, in der der Philosoph ein Tableau unterschiedlicher Weltzugangsweisen analysiert (Sprache, Technik, Wissenschaft, Kunst, Politik, Ökonomie, Mythos und Religion), die alle die Welt als Ganzes in den Blick nehmen, allerdings jeweils unter einem verschiedenen „Brechungsindex“. Wichtig an diesem Ansatz ist, dass es nicht nur keine Hierarchie zwischen den einzelnen symbolischen Formen gibt, sondern dass jede einzelne für das menschliche Leben unverzichtbar ist. Es ist also sinnlos, etwa die Künste gegen die Technik auszuspielen, weil der Mensch zum Überleben beide Zugangsweisen benötigt. Auch der ästhetisch-künstlerische Blick auf die Welt nimmt diese als Ganzes zum Gegenstand. Ein solcher Blick ist in der Lage, solche Facetten der Wirklichkeit (und von sich selbst) zu erkennen, die ein technischer, ökonomischer, wissenschaftlicher oder politischer Blick nicht erfasst. Dies gilt auch und gerade für Aspekte der Gesellschaft und möglicher Fehlentwicklungen, die durch eine falsche Politik zustande gekommen sind. Dieser Gedanke ist nicht neu. Vielmehr ist immer schon die Rede davon, dass die Künste der Gesellschaft (und dem einzelnen Menschen) einen Spiegel vorhalten. Künste sind eben auch Medien der Erkenntnis und der (Selbst-)Reflexion und damit ein
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wesentlicher Bestandteil von Bildung, wenn diese als Entwicklung einer reflexiven Beziehung zu sich und der Welt verstanden wird. Viele Kunsttheorien thematisieren dies, wenn davon gesprochen wird, dass in dem Prozess, in dem der Mensch ästhetische Erfahrung macht, Erfahrungen, die er im Bereich der Technik, Ökonomie oder Politik gemacht hat, reflektiert und gegebenenfalls auch infrage stellt, in jedem Fall aber erweitert und ergänzt. Es handelt sich um Kontingenzerfahrungen, was meint, dass die scheinbare Selbstverständlichkeit von Bildern über die Gesellschaft, die uns etwa medial angeboten werden, keineswegs alternativlos sind. So zeigt etwa ein ästhetischer Blick auf die Natur, dass diese keineswegs nur dazu da ist, in einem politischen, ökonomischen und technischen Interesse von Menschen ausgeplündert zu werden, sondern durchaus einen Eigenwert besitzt, dessen Wahrnehmung wichtig für das Menschsein ist. Vor diesem Hintergrund wird es einsichtig, dass sich in der aktuellen Entwicklung der unterschiedlichen Künste (etwa im Theater oder in der Literatur) eine neue Politisierung erkennen lässt, die im Zuge der Postmoderne in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in den Hintergrund gedrängt wurde. Ein wichtiges Charakteristikum einer ästhetisch-künstlerischen Praxis besteht zudem darin, von der Vielfalt der Erscheinungsweisen der Welt und der Ausdrucksformen des Menschen zu profitieren. Vielfalt ist also nicht nur kein Problem, sondern sie bedeutet Reichtum, ganz so, wie es ein Slogan der UNESCO formuliert (und wie es in der UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt zum Ausdruck kommt). Innerhalb einer künstlerischästhetischen Praxis (in der immer auch die sinnliche Praxis etwa im Bereich des Spiels oder der Zirkuspädagogik einbezogen ist), lässt sich daher genau dies lernen: Vielfalt als Bereicherung zu erleben, was auch heißt, von eigenen Einstellungen oder Haltungen abweichende Positionen möglichst vorurteilsfrei zur Kenntnis zu nehmen. In der Psychologie wird dies als Ambiguitätstoleranz bezeichnet und offensichtlich ist dies eine gesellschaftspolitisch wichtige individuelle Disposition, um in der aktuellen multiethnischen Gesellschaft bestehen zu können. Es sollten allerdings auch die Grenzen der kulturellen Bildungsarbeit gesehen werden. Es ist keineswegs die einzige Möglichkeit, sich selbst und die Welt besser zu verstehen und schon gar nicht ersetzt ein solches Verständnis ein eingreifendes Handeln. Ganz im Sinne von Ernst Cassirer ist ein solcher Zugang zur Welt und zu sich selbst zwar notwendig, aber
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keineswegs hinreichend. Es geht also gerade nicht darum, andere Zugangsweisen gering zu schätzen und einen ästhetischen Zugang zu verabsolutieren. Genau dies ist in der Geschichte immer wieder geschehen, etwa in der Romantik oder in der kulturkritisch angelegten Reformpädagogik rund um 1900. Man wollte in der berechtigten Kritik an den Pathologien der entstehenden industriellen Moderne ästhetische Gegenwelten schaffen, wobei die damit verbundenen politischen Vorstellungen oft genug beinhalteten, die Prinzipien einer liberalen, parlamentarischen und sozialen Demokratie abzulehnen (vgl. Fuchs 2019c). Es ist daher kein Zufall, wenn wichtige Vertreter*innen einer solchen ästhetischen Position zu wegweisenden Stichwortgeber*innen des Nationalsozialismus und des rechten Denkens insgesamt wurden. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich also die unvermeidbare politische Dimension Kultureller Bildung, denn Kunst und eine künstlerisch-ästhetische Praxis führen nicht im Selbstlauf zu einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung. Notwendig ist daher – quasi als Fundament eines jeglichen Bildungsprozesses – eine große Sensibilität im Hinblick auf die Werte und die moralische Grundhaltung. Auch dies ist kein neuer Gedanke, denn traditionell werden neben Ethik und Moral auch die Politik und die Pädagogik zu dem Bereich der praktischen Philosophie gezählt.
L ITERATUR Bieri, Peter (Pascal Mercier) (2014): Wie wollen wir leben? München: dtv. Bildungskommission NRW (1995): Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Neuwied: Luchterhand. Cassirer, Ernst (1990): Versuch über den Menschen. Frankfurt a. M.: Fischer. Fuchs, Max (2017): Bildung und die kulturelle Entwicklung des Menschen. Weinheim/Basel: Beltz-Juventa. Fuchs, Max (2018): Widerständigkeit als Grundprinzip eines selbstbestimmten Lebens. München: kopaed. Fuchs, Max (2019a): Freiheit und soziale Sicherheit. Zur Geschichte und Aktualität sozial-liberaler Werte. https://www.pedocs.de/volltexte/2019/ 17435/pdf/Fuchs_2019_Freiheit_und_soziale_Sicherheit.pdf [Zugriff: 03. 04.2020].
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Fuchs, Max (2019b): Das gute Leben in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Weinheim/Basel: Beltz-Juventa. Fuchs, Max (2019c): Rechtes Denken und Kulturpessimismus. München: kopaed. Humboldt, Wilhelm von (1999): Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792). In: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Wolfgang Stahl, Bd. 1. Essen: Mundus, S. 190-316. Klafki, Wolfgang (1991): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim/Basel: Beltz.
Die ästhetische und politische Dimension der Erinnerungskultur zum Holocaust Potenziale Kultureller Bildung B ÜNYAMIN W ERKER
Die Erinnerungskultur zum Holocaust hat in Deutschland eine immens gesellschaftspolitische Bedeutung. Über das Erinnern an die Verbrechen des Nationalsozialismus wird über diesen Vergangenheitsbezug kollektive (nationale) Zugehörigkeit vermittelt. Die „Nationalisierung negativen Gedenkens“ (Knigge 2005: 443) fand ihren Höhepunkt in der Benennung des 27. Januars, des Jahrestags der Befreiung von Auschwitz im Jahr 1945, zum „nationalen“ Holocaust-Gedenktag durch den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog im Jahr 1996 (vgl. Kaiser 2010: 372). Unter den Prozessen der Globalisierung hat sich dieses eher fragmentarische Gedenken mittlerweile weltweit universalisiert. Im November 2005 bestimmte die UN-Generalversammlung den 27. Januar zum „International Day of Commemoration in Memory of the Victims of the Holocaust“.1 Im Zuge des 60. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz fand damit die weltweite Verbreitung des Gedenkens an die Ermordung der europäischen Juden in dieser globalen kulturellen Manifestation ihren vorläufigen Höhepunkt (vgl. Werker 2016: 11). Am Beispiel des Holocaust-Gedenktags lässt sich veranschaulichen, dass Erinnerung immer dann fassbar wird, wenn sie in Form von Denkmälern,
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Vgl. hierzu die Webseite http://www.un.org/en/holocaustremembrance/docs/ res607.shtml [Zugriff: 09.05.2016].
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Kunstwerken, Ausstellungen, Filmen, Fotografien, Literatur, Gedenkritualen, Reden oder Erzählungen eine kulturelle Ausdrucksform erfährt. Solche symbolisch-verdichteten Darstellungsformen werden zu Medien des kulturellen Gedächtnisses2 einer Gesellschaft. Sie stoßen wiederum Prozesse kommunikativen Gedenkens an. In dieser Kommunikation wird über Wertvorstellungen und Zielbestimmungen eines wünschenswerten Lebens in der Gesellschaft verhandelt (vgl. Bubmann 2014: 13). Kunst und Kultur bilden in diesem Zusammenhang die Medien, über die Erinnerungskultur angeeignet und zugleich auch gestaltet wird. Am Beispiel der Erinnerung an den Holocaust möchte dieser Beitrag die Potenziale Kultureller Bildung in der Aneignung und Gestaltung von Erinnerungskultur ausloten.
E RINNERUNGSKULTUR – G ESCHICHTSKULTUR – EINE BEGRIFFLICHE A NNÄHERUNG Der Terminus der Erinnerungskultur wird in erster Linie für die Thematisierung von Vergangenheit im kulturellen Kontext verwendet. Für den Historiker Christoph Cornelißen bildet Erinnerungskultur den „Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“ (Cornelißen/Holec/Pešek 2005: 32). Nach Pampel scheint der Begriff der Erinnerungskultur für den öffentlichen Umgang von Geschichte zu stehen (Pampel 2007: 34). Der Geschichtsdidaktiker HansJürgen Pandel verwendet den Begriff Erinnerungskultur in ähnlicher Weise und beschreibt diesen wie folgt als „den generationsspezifischen Umgang sozialer Gruppen mit ihren eigenen Erinnerungen. Erinnerungskulturen haben immer spezifische soziale Träger: Veteranenverbände, Heimatvertriebene, Flakhelfergeneration, Opferverbände etc., die (eifersüchtig) über
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Der Ägyptologe Jan Assmann fasst unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses „den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt“ (Assmann 1988: 13).
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ihre Erinnerung wachen. Sie beschäftigen sich mit erinnerter und weniger mit erforschter Geschichte.“ (Pandel 2013: 162)
Erinnerungskulturen nehmen damit Bezug auf zeitgeschichtliche Ereignisse, die der Vergewisserung der jeweiligen sozialen Gemeinschaft dienen. Geschichtskultur könne dagegen als „Vergangenheitsvergegenwärtigungspraxis“ bezeichnet werden und fokussiere damit ganze Geschichtsepochen, wie Pandel anmerkt (ebd.: 164). Damit hebt der Begriff der Erinnerungskultur stärker auf das Moment des funktionalen Gebrauchs der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke ab, aus dem sich eine historisch begründete Identität formiert (vgl. Cornelißen 2012: o. S.). NS-Gedenkstätten stellen z. B. sogenannte Objektivationen von Erinnerungs- und Geschichtskultur dar. Im Rahmen gedenkstättenpädagogischer Arbeit werden gegenwärtige deutende Interpretationen des Holocaust repräsentiert und vermittelt. Dabei fließen sowohl Wissen aus erforschter Geschichte (bezogen auf eine ganze Epoche, den Nationalsozialismus) als auch Erinnerungen unterschiedlicher sozialer Gemeinschaften (beispielsweise bei Gedenkveranstaltungen) in die Vermittlung mit ein. Erinnerungskulturen sind damit nach Pandel als ein Teil von Geschichtskultur zu verstehen (vgl. Pandel 2013: 175). Die bewusste Erinnerung an die Ereignisse in der Zeit des Nationalsozialismus, wie sie insbesondere auch in Gedenkstätten in Form von Gedenkstunden, Führungen oder Schulprojekten erfolgt, bezieht sich bei dem weitaus größeren Teil der sich erinnernden Personen auf vergangene Ereignisse, die weit über die eigene Lebenspanne derjenigen, die sich erinnern, hinausgehen. Dieser Prozess der Erinnerung ist verknüpft mit einem generationenübergreifenden Appell, einem höheren Sinn, der in die Zukunft weist. Bei dieser Form der Erinnerung handelt es sich nach dem Historiker Jörn Rüsen „um einen deutenden Umgang mit der Zeit, der im Modus der historischen Erinnerung erfolgt“ (Rüsen 2008a: 237). Auch wenn der Akt des Gedenkens im Rahmen der Erinnerungskultur zum Holocaust in erster Linie sozial/kollektiv geprägt ist, bezieht sich der deutende Umgang mit der Zeit typischerweise auf das eigene Leben, ist also autobiografisch geprägt. Es wird aber erst dann spezifisch „historisch“, „wenn eine Erinnerung solcher Art über die Grenzen der eigenen Lebenszeit in die Vergangenheit zurückgeht und damit die gegenwärtige Lebenssituation so deutet, dass auch eine Zukunftsperspektive gewonnen wird, die über die Grenze der eigenen
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Lebenszeit hinausweist“ (ebd.: 238). So steht der Prozess des historischen Erinnerns in enger Verbindung zum Begriff des Geschichtsbewusstseins. In der klassischen Definition des Geschichtsdidaktikers Karl-Ernst Jeismann ist unter Geschichtsbewusstsein der „Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive“ zu verstehen (Jeismann 1985: 40). Das Geschichtsbewusstsein umfasst damit nicht nur die kognitive Verarbeitung von historischem Faktenwissen, sondern fokussiert auch Geschichtsdeutungen der Individuen, die diese auf die eigene Lebenswelt beziehen und somit für ihr zukünftiges Handeln verwenden. Die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein hat somit lebensweltorientierende Funktion und ist damit identitätsrelevant. Dahingehend stellt das historische Erinnern den zentralen Prozess der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein dar. Auch wenn Jeismann mit seiner klassischen Definition in erster Linie mentale bzw. kognitive Aspekte historischer Erinnerung im Blick hat, also eher Prozesse individueller Erinnerung fokussiert (vgl. Lange 2007: 105; Rüsen 2008a: 238), weist das Geschichtsbewusstsein auch kollektive Anteile auf. Rüsen versteht historisches Erinnern als eine kulturelle Tätigkeit, die sich im öffentlichen kulturellen Leben einer Gesellschaft manifestiert und praktisch wirksam artikuliert (vgl. Pampel 2007: 33). Diesen kollektiven Anteil des Geschichtsbewusstseins bezeichnet Rüsen als „Geschichtskultur“. Daher ist Geschichtskultur „nichts anderes als Geschichtsbewusstsein in praktischem Lebenszusammenhang“ (Rüsen 2008b: 132). Nach Rüsen lässt sich die Geschichtskultur in drei unterschiedliche Dimensionen – die ästhetische, die politische und die kognitive Dimension – gliedern. Im Rahmen dieser drei Dimensionen verschafft sich historische Erinnerung Ausdruck und in ihnen wird in unterschiedlicher Weise historischer Sinn gebildet und transportiert (vgl. Hasberg 2006: 50). Die ästhetische Dimension richtet den Blick auf die historische Erinnerung in Form von künstlerischer Gestaltung, wie sie sich in der Metaphorik der Sprache historischer Werke bzw. in Werken von Historiker*innen äußert. Auch „Bilder des Historischen im Bereich der visuellen Kommunikation, wie sie in der Form von Denkmälern oder anderen Erinnerungszeichen im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung die ganze Skala der kulturellen Manifestation der historischen Erinnerung durchzieht“ (Rüsen 2008a: 244f.), zählen hierzu. So manifestiert sich die ästhetische Dimension von Erinnerungs- und Geschichtskultur beispielsweise auch in der künstlerischmemorialen Gestaltung von Gedenkstätten oder einzelner Exponate sowie
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historischer Überreste. Oft wird dabei auch Kunst als Medium historischer Erinnerung genutzt, um Jugendlichen einen emotional-kreativen Zugang zur Geschichte des Nationalsozialismus zu bieten, statt nur einen rein kognitiven Zugang über die Vermittlung von historischem Faktenwissen möglich zu machen (vgl. Dorner/Engelhardt 2006). In der politischen Dimension drückt sich die Legitimationsfunktion historischer Erinnerung für politische Herrschaft aus, wie sie im kulturellen Funktionsgedächtnis3 nach Aleida Assmann begründet ist. Über die bewusste Traditionsbildung und Traditionspflege durch nationale Gedenktage bedient sich politische Herrschaft einer geschichtsträchtigen Symbolik, um die eigene Herrschaft zu legitimieren bzw. durch historische Erinnerung bei den Betroffenen politischer Herrschaft Zustimmung zu mobilisieren. Da diese sich nicht einfach erzwingen lasse, so Rüsen, impliziere historische Erinnerung gleichzeitig auch immer ein Stück Herrschaftskritik (vgl. Rüsen 2008a: 248). Auf dieser Ebene sind z. B. Gedenkstätten oder andere Erinnerungsorte als institutionelle Träger des kulturellen Gedächtnisses in der Erinnerung an den Holocaust immer wieder Orte für politische Willensbekundungen und Appelle, die beispielsweise im Rahmen von Gedenktagen wie dem Holocaust-Gedenktag von Politiker*innen an die Teilnehmer*innen von
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Für Aleida Assmann handelt es sich beim Funktionsgedächtnis um ein „bewohntes“ Gedächtnis, das sich insbesondere durch zentrale Merkmale wie Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung auszeichnet. Das Funktionsgedächtnis ist demnach gebunden an bestimmte Subjekte, die sich als dessen kulturelle Träger verstehen. Zu solchen kollektiven Handlungssubjekten zählt Assmann z. B. soziale Gruppen, Nationen oder Staaten, die sich über ein Funktionsgedächtnis konstituieren, „in dem sie sich eine bestimmte Vergangenheitskonstruktion zurechtlegen“ (Assmann 2009: 137). Das Funktionsgedächtnis ist erstens identitätsbildend und wirkt damit auch distinktiv in Abgrenzung zu anderen kollektiven Identitäten. Es stützt zweitens entweder die Legitimation oder die De-Legitimation einer bestehenden Gesellschaftsform. Assmann spricht hierbei von einer offiziellen Erinnerung, die z. B. staats- bzw. herrschaftslegitimierend fungiert, und von einer so genannten „Gegenerinnerung“, deren Träger die Unterdrückten und Besiegten sind und die nicht der Legitimierung der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse dient, sondern die in die Zukunft weist, einer Gegenwart, die auf den Umsturz der bestehenden Machtverhältnisse folgt (vgl. ebd.:139).
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Gedenkveranstaltungen als Staatsbürger*innen gerichtet werden. Genauso sind Gedenkstätten oft Teil von Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Interessensgruppen um die Einrichtung selbst, ihre Existenz und ihre künstlerische oder pädagogische Gestaltung (vgl. Werker 2016: 34). Die kognitive Dimension wird durch die historischen Wissenschaften repräsentiert. Diese Dimension steht für den Sachverhalt, „dass das historische Wissen, mit dem das Geschichtsbewusstsein in der Erfüllung seiner kulturellen Funktionen operiert, seinen eigenen, spezifisch kognitiven Status durch methodische Operationen der Geltungssicherung geprägt ist“ (Rüsen 2008a: 248). An zentralen Orten der Erinnerung an den Holocaust zeigt sich die kognitive Dimension vor allem durch wissenschaftliche Standards der wissenschaftlichen Forschung zur Geschichte des historischen Orts, die dann ihren Ausdruck finden in den historischen Dauerausstellungen der jeweiligen Gedenkstätten oder in der didaktischen Aufbereitung von historischem Wissen und Exponaten für die pädagogische Arbeit am Ort. Hierbei sind Historiker*innen sowie Pädagog*innen als Professionelle beteiligt. Diese initiieren mit der Intention der historischen Aufklärung Lernprozesse bei jugendlichen Schüler*innen, die über diverse Medien wie eine Ausstellung oder Arbeitsmaterialien im Rahmen von Führungen und Projekten unterstützt werden (vgl. Werker 2016: 34). Alle drei Dimensionen sind zwar analytisch bzw. begrifflich getrennt, aber die alltägliche (historische) erinnerungskulturelle Praxis, darauf verweist Rüsen (vgl. 2008a: 249), wird von allen drei Dimensionen wechselseitig durchdrungen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lassen sich zudem in Anlehnung an Aleida Assmann (2013: 32f.) drei unterschiedliche Bedeutungsdimensionen von Erinnerungskultur formulieren: Erstens werden unter dem Begriff der Erinnerungskultur vielfältige unterschiedliche Zugänge zur Vergangenheit subsumiert. Die Vergangenheit stellt nicht mehr die Deutungsdomäne von Spezialist*innen dar. Es sind nicht nur mehr Historiker*innen, Archivar*innen oder Denkmalpfleger*innen, die sich mit dem Thema Geschichte und Erinnerung beschäftigen. Auch einzelne Individuen und soziale Erinnerungsgemeinschaften, Verbände, Städte oder Vereine haben die Thematisierung von Vergangenheit für sich entdeckt. Dies führt zu einer deutlichen Pluralisierung von Erinnerungskulturen in unserer Gesellschaft.
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Zweitens dient Erinnerungskultur sozialen Gruppen dazu, sich ihrer Identität zu vergewissern. Über die erinnerungskulturelle Praxis wird in sozialen Erinnerungsgemeinschaften Zugehörigkeit verhandelt. Gedenkveranstaltungen, filmische, literarische und künstlerische Repräsentationen der Vergangenheit bilden die Medien, über die Werte, Normen und Anleitungen für gegenwärtiges und zukünftiges gesellschaftliches Handeln vermittelt werden. Drittens steht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den damit verbundenen Verbrechen des Nationalsozialismus der Terminus Erinnerungskultur für eine ethisch konnotierte Pflicht zur Erinnerung und der Auseinandersetzung mit Gesellschafts- und Staatsverbrechen. Dieses implizite „Nie-wieder“ der Erinnerungskultur zum Holocaust wird immer wieder über die Pluralisierung von Erinnerungskulturen pluralisierter Gesellschaften auch von Konflikten um die „richtige“ Erinnerung begleitet. Hierin zeigt sich der oft ambivalente und widersprüchliche Charakter von Erinnerungskulturen und den damit verbundenen Identitätskonkurrenzen in unserer pluralisierten Gesellschaft. Im weiteren Verlauf des Beitrags wird versucht, am Beispiel der sogenannten Wehrmachtsausstellung diese gesellschaftspolitischen Ambivalenzen von Erinnerungskultur zu veranschaulichen.
D IE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE D IMENSION ERINNERUNGSKULTURELLER P RAXIS – DIE SOGENANNTE W EHRMACHTSAUSSTELLUNG (1995-1999, 2001-2004) Waren die 1980er Jahre bezüglich der Erinnerungskultur an die Zeit des Nationalsozialismus noch stark geprägt von einer Sicht auf die Schicksale der Opfer, richtete sich der Fokus des öffentlichen Interesses in den 1990er Jahren stärker auf die Täter*innen wie auch Unterstützer*innen des Nationalsozialismus. Jan-Holger Kirsch führt diesen Sachverhalt in seiner Dissertation zum „Streit um das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin“ vor allem auf die von den Medien (Fernsehen, Zeitung) breit und umfangreich präsentierten kontroversen Gedenkdebatten zurück, die in den 1990er Jahren geführt wurden (vgl. Kirsch 2003: 77). Exemplarisch hierfür steht die öffentliche Debatte über die Ausstellung „Vernichtungskrieg, Verbrechen
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der Wehrmacht 1941-1944“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung (vgl. ebd.: 45). Die „Wehrmachtsausstellung“ brach mit einer in der deutschen Gesellschaft lange kursierenden Legende der im Holocaust angeblich „sauber gebliebenen“ Wehrmachtssoldaten (vgl. Wette 2005: 262). Dies löste heftige Reaktionen in der Bevölkerung aus, vor allem bei den Angehörigen der Kriegserlebnisgeneration. Die Reaktionen reichten von positiver Zustimmung, Erschütterung und Irritation bis hin zu Empörung und totaler Ablehnung (vgl. Assmann/Frevert 1999: 277ff.). Diese Ausstellung fokussierte zum ersten Mal im öffentlichen Raum den Zusammenhang von Zweitem Weltkrieg und Holocaust. In ihrer Grundausrichtung verfolgte sie die These, dass die „Tötungsmentalität der Wehrmachtsführung auch bei den Mannschaften weit verbreitet gewesen sei“ (Kirsch 2003: 47f.). Anhand von Fotos, die beispielsweise Erschießungsaktionen der Wehrmacht zeigten, und weiterem Quellenmaterial, wurde das historische Wissen aus der Geschichtsforschung seit 1960 zusammengetragen. Das Besondere der Ausstellung lag mitunter im didaktischen Ansatz, der die Besucher*innen vor allem mit Bildern – viele davon auch unkommentiert – konfrontierte, die in erster Linie von Wehrmachtsangehörigen selbst gemacht wurden und Eingang fanden in die privaten familiären Fotoalben. Diese Konfrontation mit der „privaten“ Perspektive der Wehrmachtsangehörigen auf den Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus sollte dazu dienen, wie Wolfgang Keim anmerkt, „[…] die These von der vielfältigen Beteiligung der Wehrmacht am Vernichtungskrieg [zu] belegen, zugleich die von ihren Mitgliedern auf allen Ebenen begangenen Verbrechen aus der Anonymität [zu] holen und auf Augenhöhe der Betrachterinnen und Betrachter [zu] rücken […]“ (Keim 2003: 128). Die fast ausschließliche Konfrontation mit Bildern sprach vor allem die emotionale Ebene der Wahrnehmung von Vergangenheit an. Diesbezüglich waren auch die Reaktionen auf diese erste Ausstellung von 1995-1999 vor allem emotional geprägt. An vielen Standorten wurde die Wanderausstellung von zahlreichen aufsehenerregenden Zwischenfällen wie Neonazi-Aufmärsche, Gegendemonstrationen, Bombendrohungen und Brandanschlägen begleitet (vgl. ebd.). Zugleich erhielt die Ausstellung, wie oben schon erwähnt, auch viel Zustimmung aus der Bevölkerung. Aus der wissenschaftlichen Perspektive regte sich nach und nach Kritik an der Machart der Wanderausstellung. Neben einigen festgestellten methodischen Mängeln fokussierte sich diese Kritik seitens einiger
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Historiker*innen an der sehr undifferenzierten, an vielen Stellen plakativen, polarisierenden und überspitzenden Art der Darstellung der Verbrechen. Dies führte dazu, dass der Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Jan Phillip Reemtsma, 1999 die Ausstellung zurückzog und eine Historiker*innen-Kommission mit der Überprüfung der Ausstellung beauftragte. Das Ergebnis der Überprüfung mündete in eine aufwendig überarbeitete Konzeption, die eine deutlich differenziertere Sichtweise auf die Beteiligung von einfachen Soldaten an den Verbrechen der Wehrmacht aufwies und 2001 neu eröffnet wurde. Doch die ursprüngliche Grundthese blieb weiterhin erhalten. Die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust steht in der historischen Forschung mittlerweile außer Frage. Es ist allerdings strittig, in welchem Ausmaß diese Beteiligung erfolgte (vgl. Hartmann/Hürter/Jureit 2005; Kaiser 2002; Wette 2005). Insgesamt war vor allem die Eröffnung der ersten Wanderausstellung von 1995-1999 ein gesellschaftspolitisches Ereignis erinnerungskultureller Praxis, das über alle Medienkanäle in der Öffentlichkeit spektakulär inszeniert und diskutiert wurde.
D IE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE D IMENSION K ULTURELLER B ILDUNG IN DER E RINNERUNGSKULTUR ZUM H OLOCAUST Die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen fand nicht nur in der Nachkriegszeit, sondern auch schon zur Zeit des Nationalsozialismus immer auch eine künstlerische Form. Dies bezeugen vor allem die künstlerischen Hinterlassenschaften der Häftlinge in den Konzentrationslagern. Viele Kunstwerke von Häftlingen beschrieben u. a. den Lageralltag. Dabei gab es insbesondere zwei Formen des künstlerischen Tuns. Zum einen waren es erzwungene Arbeiten im offiziellen Auftrag oder für private Zwecke der SS. Hierzu zählten z. B. Ölgemälde, Schnitzereien oder Schmiedearbeiten, die im Sinne der NS-Propaganda die Lagerealität beschönigen sollten (Kaumkötter 2015: 62). Zum anderen gab es die Kunst im Verborgenen, in der Illegalität, die für viele Häftlinge das Mittel war, sich überhaupt noch als Mensch fühlen zu können und die eigene kulturelle Identität zu bewahren. Viele Häftlinge wollten mit ihren Zeichnungen auch den tatsächlichen Lageralltag dokumentieren und damit der Nachwelt einen Nachweis
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der an ihnen verübten verbrecherischen Grausamkeiten liefern (vgl. Endlich 2005: 276). Für die Überlebenden der Konzentrationslager war Kunst in vielerlei Hinsicht nach der Befreiung oft der einzige Weg, die Verbrechen, für die sie in der Verarbeitung ihres Leids keine sprachliche Form fanden, künstlerisch zu verarbeiten. Viele der so entstandenen Kunstwerke fanden Eingang in die Dauerausstellungen der NS-Gedenkstätten (vgl. Lutz 2006: 20). Seit den 1990er Jahren werden Gedenkstätten oder andere Erinnerungsorte des Holocaust auch immer stärker als Orte historisch-politischer Bildung zur NS-Geschichte begriffen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt bilden vermehrt auch Formen der künstlerisch-kulturellen Bildung die Medien für die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Die Aneignung und Vermittlung der Geschichte des Holocaust nimmt dabei unterschiedliche Gestalten an: Skulpturen, Bilder, Zeichnungen, Gedichte, Musik, fiktionale Texte, Theateraufführungen oder Graffiti-Kunstwerke entstehen im Rahmen von Projekten in Gedenkstätten oder Schulprojekten. Die künstlerische Vermittlung gehört damit mittlerweile zum grundständigen Repertoire in der Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit (vgl. Dorner/Engelhardt 2006). Methoden der Kulturellen Bildung bieten Jugendlichen die Möglichkeit einer in erster Linie individuellen Auseinandersetzung mit dem Erinnerungsort und der damit verbundenen Verbrechensgeschichte. Der Besuch einer Gedenkstätte ist begleitet von sinnlichen Eindrücken, die oft emotional überwältigen. Kunst kann ein Mittel sein, Eindrücke produktiv zu bearbeiten, wo die verbale Sprache als Kommunikations- und Vermittlungsmedium nicht ausreicht oder auch nicht zur bevorzugten Ausdrucksform der Teilnehmer*innen von Projekten gehört (vgl. Dorner 2006: 7). Mit dem Einsatz von künstlerischen Methoden im Rahmen der Erinnerungsarbeit können ästhetische Erfahrungsprozesse initiiert werden. Diese Erfahrungen können mit der Verschränkung der kognitiven und ästhetischen Dimension von Erinnerungskultur eine Reflexion dieser Erfahrungen bedeuten und im Idealfall in Bildungsprozesse münden (vgl. Schluß 2010: 29f.). Um eine ganzheitliche Vertiefung der Beschäftigung mit dem Lerngegenstand Holocaust zu erreichen, ist es unerlässlich, dass die künstlerische Herangehensweise mit der Vermittlung von historischem Wissen zum Verbrechensort verbunden wird. Denn der „[…] Versuch der emotionalen Nachempfindung ohne Wissen ist gefährlich, weil sie schnell die falschen Zusammenhänge assoziieren kann, hilflos macht und in ihrer emotionalen Überwältigung
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alleine lässt, ohne Möglichkeiten der Bearbeitung derselben zu bieten“, wie Thomas Lutz (2006: 20) von der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin anmerkt. Die gesellschaftspolitische Dimension von Projekten der Kulturellen Bildung an Gedenkstätten im Spezifischen oder in der Erinnerungsarbeit im Allgemeinen wird vor allem dann deutlich, wenn die künstlerischen Prozesse der Jugendlichen in künstlerische Interventionen münden, die an einem Ort wirken, den sie ansonsten als passive Besucher*innen als sakralen, unantastbaren Raum erleben. Dies kann z. B. mit einem selbstgestalteten Mahnmal oder in Form einer künstlerischen Perfomance (Tanzchoreografie, Theaterstück usw.) geschehen. Diese Arten der künstlerischen Intervention können flüchtige Momente der Intervention von konventioneller Erinnerungskultur sein oder aber sogar erinnerungskulturelle Praxis ganz neu gestalten. In beiden Fällen stellen die künstlerischen Prozesse Interventionen im politisch wie auch moralisch aufgeladenen Raum der Holocaust-Erinnerung dar. Sie sind damit Positionierungen der Erinnerung an den Holocaust im öffentlichen Raum.
P OTENZIALE K ULTURELLER B ILDUNG Projekte der Kulturellen Bildung an Orten der Erinnerung an den Holocaust geben vielfältige Möglichkeiten der individuellen Aneignung von Erinnerungs- und Geschichtskultur. Die unter Umständen dabei entstehenden künstlerischen Interventionen sind aber nicht nur Ausdruck eines individuellen ästhetisch begründeten Erfahrungsprozesses. Sie können zugleich Ausgangspunkt und Beitrag zu einer in die Zukunft gerichteten kollektiven (Neu-)Gestaltung von Erinnerungskultur sein. Das Potenzial eines solchen Prozesses liegt auf der einen Seite in der Verinnerlichung eines gesellschaftspolitischen Impetus des „Nie-wieder“, der auf einer demokratisch anerkennenden Perspektive einer pluralisierten Erinnerungskultur basiert. Auf der anderen Seite kann dies dann aber auch vor allem eine Emanzipation von gesellschaftlichen traditionellen Gedenkkonventionen bedeuten. Dabei dürfen auch z. B. Ritualisierungen der öffentlichen/politischen erinnerungskulturellen Praxis infrage gestellt werden. Grenzen sind sicherlich dann gesetzt, wenn mit der künstlerischen Intervention die Würde der Opfer
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des Nationalsozialismus verletzt wird. Dies gilt insbesondere für künstlerisch-mediale Formen, die versuchen, antisemitische und rechtsextremistische Botschaften zu transportieren. Hier sind dem emanzipatorischen Impetus der künstlerischen Bearbeitung von Erinnerungskultur gesetzliche und moralisch-ethische Grenzen gesetzt. Kulturelle Bildung darf insgesamt nicht Gefahr laufen, als bloßes Mittel der Aneignung ritualisierter erinnerungskultureller Praxis verstanden zu werden, um Herrschaftslegitimationen fortwährend zu bestätigen und zu reproduzieren. Sie soll in ihrem emanzipatorischen Streben zumindest dazu anregen, konventionelle gegenwärtige Erinnerungskultur auch infrage zu stellen und neue Formen der Erinnerung an den Holocaust zu finden, die eine Gestaltung zukünftiger Erinnerungskultur unterstützen. Dies würde wahrscheinlich helfen, die Gestaltung von Erinnerungskultur zur Geschichte des Holocaust nicht als moralisierende „Top-downPädagogik“ zu verfolgen, sondern als eine in die Zukunft gerichtete „Bottomup-Praxis“ zu verstehen.
L ITERATUR Assmann, Aleida (2009): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 4., durchges. Aufl. München: C. H. Beck. Assmann, Aleida (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: C. H. Beck. Assmann, Aleida/Frevert, Ute (1999): Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt. Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assman, Jan/Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 9-19. Bubmann, Peter (2014): Erinnerungskultur, Ritual und ästhetische Bildung. In: Bubmann, Peter/Dickel, Hans (Hrsg.): Ästhetische Bildung in der Erinnerungskultur. Bielefeld: transcript, S. 11-28. Cornelißen, Christoph (2012): Erinnerungskulturen. In: Docupedia Zeitgeschichte. http://docupedia.de/zg/cornelissen_erinnerungskulturen_v2_de_ 2012 [Zugriff: 01.08.2020].
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Neue Wege der baukulturellen Bildung in der Denkmalpflege B ARBARA S EIFEN
B AUKULTUR /D ENKMALPFLEGE , A BGRENZUNGEN Baukultur hat viel mit der Kenntnis der Geschichte, auch der jüngeren Geschichte einer Stadt, einer Landschaft, eines großen oder kleinen Orts und seiner Gebäude zu tun. Die Grenzen zwischen Baukultur und Denkmalpflege sind fließend. Die Denkmalpflege beschäftigt sich mit Objekten, die nach den jeweiligen Denkmalschutzgesetzen der Bundesländer in die Denkmallisten der Gemeinden, Kreise oder kreisfreien Städte eingetragen sind. Für sie gelten damit bestimmte Regeln im Umgang mit der Substanz. Der Bestand an baulichen Anlagen und städtebaulichen Zusammenhängen hingegen, die nicht direkt dem Denkmalschutz unterliegen, ist sehr viel weiter zu fassen. Baukultur ist also nicht gleich Denkmalpflege und Denkmalpflege ist nicht nur, aber auch Baukultur. Denkmäler und denkmalwerte Anlagen gehören zum baukulturellen Bestand insgesamt dazu. Praktizierte Denkmalpflege ist insofern auch praktizierte Baukultur. Ebenso ist Planungskultur, also die Arbeit im Bereich des Städtebaus und der Regionalplanung, die Steuerung der örtlichen und regionalen baulichen Entwicklungen, als Tätigkeit in der Baukultur zu sehen. Angemessenes Bauen bezogen auf die jeweilige Umgebung ist Baukultur. Dies kann im Einzelfall auch denkmalpflegerische Belange betreffen. Der umsichtige und nachhaltige Umgang mit Ressourcen ist für die Denkmalpflege schon lange selbstverständlich und hat inzwischen ebenso im weiten Feld der
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Baukultur Wurzeln geschlagen. Ein bewusster Umgang mit der gebauten und gestalteten Umwelt gehört sowohl in der Denkmalpflege als auch in der Baukultur überhaupt bei zahlreichen Beteiligten – wie Architekt*innen, Planer*innen, Handwerker*innen sowie Eigentümer*innen, Behörden und Ämtern – vielfach seit geraumer Zeit zum Standard. Baukultur in umfassendem Sinne entsteht jedoch nicht von selbst. Sie macht Arbeit, erfordert Bereitschaft zum Austausch über Vorstellungen, Ansprüche, Notwendigkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Realisierbares. Sie ist jeweils ein Prozess, das Zusammenwirken von vielen, sowohl aus der Denkmalpflege wie aus der Baukultur. Baukultur wird als Thema von den Architektenkammern der Länder, der Bundesarchitektenkammer und anderen Verbänden bespielt, auch die Denkmalpflegeinstitutionen gehören dazu. Konkurrenz ist hier nicht gefragt, sondern ein Miteinander. Dieses kann weiter optimiert werden. Öffentlichkeitsarbeit, beispielsweise in Form von thematisch ausgerichteten Stadtspaziergängen, Vortragsreihen, Veranstaltungen und Projekten sind für die Denkmalpflege wie auch für die Baukultur von zentraler Bedeutung. Vernetzungen untereinander sind dabei wichtig, Konkurrenz um die Deutungshoheit – Denkmalpflege versus Baukultur und umgekehrt – sind nicht angezeigt. Seit 2006 gibt es die auf Bundesebene gesetzlich installierte Bundestiftung Baukultur, die in vielfältiger Weise für ein Bewusstsein in der Öffentlichkeit zum Thema gebaute Umwelt für die Notwendigkeit von guten Planungsprozessen, eine angemessene Bürgerbeteiligung und für den Dialog miteinander wirbt – auf der Internetseite, mit Publikationen und Veranstaltungen, wie beispielsweise dem jährlichen Baukulturkonvent. Auch in einzelnen Bundesländern bestehen seit vielen Jahren Netzwerke für Baukultur, so beispielsweise seit 2009 das Netzwerk Baukultur in Niedersachsen, mit Geschäftssitz in Wolfsburg, das im Jahr 2003 gegründete Bremer Zentrum für Baukultur, in dem der Landeskonservator des Stadtstaats Bremen Mitglied im wissenschaftlichen Beirat ist, oder in BadenWürttemberg, wo 2014 vom dortigen Innenminister Winfried Hermann das Netzwerk Baukultur initiiert wurde. Ebenso haben inzwischen Bürger*innen an zahlreichen Orten das Thema Baukultur im Blick, so beispielsweise die Stadt Osnabrück. Dort ist im September 2018 der Verein für Baukultur Osnabrück mit der Zielsetzung gegründet worden, die Baukultur in der Stadt und in der Region Osnabrück zu stärken und zu fördern.
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E UROPA IN W ESTFALEN – S PURENSUCHE IM D ENKMALBESTAND Schon im Namen des Landesamts für Denkmalpflege in Westfalen, LWLDenkmalpflege, Landschafts- und Baukultur, ist der Begriff Baukultur ersichtlich. Diese enge Verbindung von Denkmalpflege und Baukultur wird dort seit zehn Jahren mit entsprechenden Veranstaltungen und Projekten konkret umgesetzt. So wurde für das europaweite Kulturerbejahr 2018 „sharingheritage“ das Projekt „Europa in Westfalen – Spurensuche im Denkmalbestand“ entwickelt und mit zahlreichen Partner*innen dezentral vor Ort durchgeführt – und damit auch Baukultur praktiziert (vgl. Seifen 2018: 34ff.). Das Konzept des Projekts ist nachhaltig angelegt. Es basiert auf dem Gedanken, Kinder und Jugendliche als nachfolgende Generation mit zeitgemäßen Vermittlungsmethoden für das baukulturelle und denkmalgeschützte Erbe zu begeistern und dazu zu motivieren, sich für dessen Erhalt und Pflege auch zukünftig einzusetzen. Im regionalen und lokalen Kulturerbe, im Denkmalbestand über ganz Westfalen verteilt, wurden die europäischen Bezüge anhand von Denkmalbeispielen aufgedeckt und zusammen mit Partner*innen vor Ort an ein breites Publikum vermittelt. Schwerpunktmäßig sind hierfür außerschulische Lernorte mit Denkmalbedeutung und Europabezug herangezogen worden. Sie ermöglichten die Herstellung eines konkret erlebbaren Objektbezugs, z. B. zum Schulmuseum in Hiddenhausen im Kreis Herford, zum Kloster Bentlage bei Rheine im Kreis Steinfurt oder zur Burg Altena im Märkischen Kreis.
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Abb. 1: Kloster Bentlage
© Foto: Hermann Willers, Rheine
Bei der Bearbeitung im Projekt „Europa in Westfalen – Spurensuche im Denkmalbestand“ wurden die unterschiedlichen Kulturperspektiven in unserer Gesellschaft berücksichtigt und in nachhaltigen Formaten aufbereitet. Das Projekt sollte vermitteln, dass Denkmäler ein gemeinsames Erbe der Vergangenheit und zugleich ein wertvolles Geschenk an alle für die Zukunft sind. Wesentlich war der Austausch darüber, welche Bedeutung das vielfältige baukulturelle Erbe für unsere Gesellschaft, für jede*n, hat. Nach welchen Kriterien wird es ausgewählt, wie kann dieses Erbe an die nächste Generation weitergegeben und warum sollte es auch zukünftig erhalten werden? Im Augenblick der Benennung eines Baudenkmals wird mit der Auswahl über die Gegenwart in der Gesellschaft mindestens so viel gesagt wie über die Vergangenheit. Ganze Stadträume, aber auch einzelne Denkmäler tragen Spuren unterschiedlicher Kulturen in sich. Die als eigen wahrgenommene Kultur und auch das eigene baukulturelle Erbe sind selbst häufig ein Ergebnis kultureller Austauschprozesse. Denkmäler prägen das Bild unserer Kulturlandschaften. Siedlungen, öffentliche Bauten, Wohnhäuser, Sakralbauten, Altstädte, Burgen und Schlösser, Parks und technische Bauten machen Geschichte in unserem schnelllebigen Alltag erfahrbar. Bauten, Stadtstrukturen, Plätze und Wege-
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führungen können komplexe historische Entwicklungen veranschaulichen. Aus ihrer von Mischung bestimmten Entstehungsgeschichte heraus können Architektur und baukulturelles Erbe ein großes Integrationspotenzial entfalten. Stadträume und darin zahlreiche Denkmäler bilden unser unmittelbares Lebensumfeld und die gebaute Umwelt ist ohne zielgerichtete Aufmerksamkeit wahrnehmbar und sinnlich erfahrbar. Das baukulturelle Erbe kann mit diesem Potenzial Menschen aus anderen Heimaten dabei helfen, sich neu zu verorten. Es kann genauso den hier schon länger oder sehr lange Beheimateten verdeutlichen, dass Vielfalt seit jeher ihr eigenes Lebensumfeld und unsere Gesellschaft bestimmt. Dies muss jedoch durch gezielte Angebote vermittelt werden. So bot das Europäische Kulturerbejahr 2018 Anlass für die thematische Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten schützenswertes kulturelles Erbe, kollektives historisches Erinnern und führte zur Erkenntnis, dass Denkmäler nicht nur für sich allein zu sehen sind, sondern immer auch im Kontext eines (sozio-) kulturellen Austauschs stehen. Die LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur führte das Projekt „Europa in Westfalen – Spurensuche im Denkmalbestand“ durch, um an beispielhaft ausgewählten Denkmalorten deren grenzüberschreitende europäischen Bezüge sichtbar zu machen.1 Das Projekt knüpfte inhaltlich an das Denkmalprojekt „Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet“ zum Kulturhauptstadtjahr RUHR.2010 an, das gemeinsam mit dem Rheinischen Amt für Denkmalpflege entwickelt und umgesetzt wurde (vgl. ebd. 2011: 20ff.).2 Mithilfe von rund 20 ausgewählten außerschulischen Lernorten in Westfalen, die Denkmalbedeutung und einen Europabezug haben, wurde im Projekt „Europa in Westfalen – Spurensuche im Denkmalbestand“ der jungen Generation die Möglichkeit gegeben, Parallelen zwischen dem Historischen und der Gegenwart aufzuspüren und zu hinterfragen. Unterschiedliche Veranstaltungen wurden in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Partner*innen vor Ort, meist ehrenamtlich Engagierten, aber auch Museumsleiter*innen, Lehrer*innen oder Eigentümer*innen, durchgeführt.
1
Siehe https://www.europa-in-westfalen.de [Zugriff: 31.03.2020]
2
Siehe https://www.fremde-impulse.de [Zugriff: 31.03.2020]
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Beispiel Dorfschule Hiddenhausen Die Museumsschule Alte Schule im Ortsteil Schweicheln in Hiddenhausen im Kreis Herford erarbeitete als Partner des Projekts eine Schulstunde, wie sie vor 100 Jahren hätte stattfinden können. Der europäische Bezug wurde hierbei herausgestellt und unter besonderer Mitwirkung einer örtlichen Schulklasse in der Museumsschule inszeniert. Ausgangspunkt war das Kriegstagebuch des Lehrers Johannes Schnücke (geb. 1872), der 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Schulmeister der Schule in HiddenhausenSchweicheln war. Er galt seinerzeit als Informations- und Organisationszentrale für die patriotische Unterstützung der in den Krieg gezogenen Soldaten und dokumentierte die sogenannten Kriegssammlungen während der wirtschaftlichen Notlage, die auch in diesem Dorf ab 1915 stetig zunahm. Ebenso berichtete er über die Zwangsarbeiten der englischen, russischen und französischen Kriegsgefangenen aus den Gefangenenlagern in Hiddenhausen. Das Nachstellen und Nachspielen des Schulalltags aus dem Jahr 1918 entführte die Kinder in eine Welt jenseits von Internet, Smartphone und virtuellen Realitäten. Zwar ist das Nachahmen vergangener Geschehnisse ebenfalls ein virtueller Akt, jedoch waren die Kinder in der Museumsschule unmittelbar am Ort des Geschehens, konnten sich austauschen und mitteilen, konnten etwa nachempfinden, wie sich ihre Altersgenossen vor hundert Jahren gefühlt haben müssen, und sie konnten Vergleiche zu ihrer eigenen, heutigen Lebenswelt herstellen. So wurden am Beispiel der Museumsschule in Hiddenhausen der Bezug dieses Baudenkmals und die Verflechtung seiner örtlichen Historie mit der europäischen Geschichte anschaulich und verständlich. Das Museum setzt dieses Angebot für Schulklassen fort. Beispiel Kloster Bentlage Das Kloster Bentlage, zugehörig zu Rheine im Kreis Steinfurt, ist mit seinen Bauten eingebettet in eine über Jahrhunderte von Menschen geprägte und gestaltete Kulturlandschaft – ein einzigartiges architekturgeschichtliches und landschaftliches Kleinod des Münsterlands. Das ehemalige Kreuzherrenkloster Bentlage gibt mit den erhaltenen drei Flügeln, Nord-, Ost- und Westflügel, ein bemerkenswertes Zeugnis von spätgotischer Ordensarchitektur ab. Die Kirche wurde in den Jahren nach der Säkularisation
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des Klosters im Jahr 1803 abgetragen. Das Baumaterial fand an anderen Stellen innerhalb des ehemaligen Klosterbereichs und in der Stadt Rheine Verwendung. Das Kloster Bentlage bezieht seine besondere Bedeutung aus seiner langen und sehr wechselvollen Geschichte seit seiner Gründung im Jahr 1437, die den Baubestand in charakteristischer Weise geprägt und immer wieder sichtbar verändert hat. Die Stadt Rheine hat die Gebäude und einige Ländereien, bis dahin in privatem Besitz, 1978 erworben und traf Mitte der 1980er Jahre die kluge Entscheidung, das ehemalige Kloster Bentlage zukünftig kulturellen Zwecken vorzubehalten und damit stärker kommerziell orientierten Nutzungen eine Absage zu erteilen. Diese Entscheidung bedeutete für das Denkmal, dass im Grundsatz Planungen mit großem Respekt vor dem historischen Bestand entwickelt und realisiert werden konnten. Es wurden keine dem Denkmal völlig zuwiderlaufenden Anforderungen an den Umbau und die Sanierung gestellt. Aber auch denkmalverträgliche Nutzungen erfordern gewisse Veränderungen und Eingriffe in die Substanz für notwendige Reparaturmaßnahmen, für haustechnische Einbauten und statische Ergänzungen sowie für Mindesterfüllungen der Auflagen des Brandschutzes. Es mussten also Wertungen vorgenommen werden, welche Teile des Bestands für die Denkmaleigenschaft unverzichtbar und welche gegen Veränderungen weniger empfindlich sind. Es galt zu entscheiden, wo Umbauten vorgenommen werden konnten und wo in besonderer Weise Rücksicht auf den historischen Bestand zu nehmen war. Die Gebäude zeigten sich vor der Sanierung in einem heterogenen Erscheinungsbild. Sichtbar war die Vielschichtigkeit im Bestand, ein Nebeneinander von Bauspuren aus unterschiedlichen Zeiten, Intaktes neben Gestörtem, jüngste Veränderungen neben spätgotischem Originalzustand und barocken Überformungen. Die Architekt*innen stellten sich der Aufgabe, die notwendigen neuen Ergänzungen in den erhaltenswerten Bestand so einzufügen, dass sich Alt und Neu voneinander abheben. Neues sollte jedoch unzweifelhaft als Neues erkennbar sein, das vorgefundene und bewahrte Alte seinen authentischen und nicht zu ersetzenden Zeugniswert neben dem Neuen behalten. Es wurden bis auf Ausnahmen keine vervollständigenden Ergänzungen oder Rekonstruktionen des ehemaligen Bestands vorgenommen. Insgesamt gilt das Ergebnis der Sanierung und Umnutzung des Klosters Bentlage als vorbildlich. In diese Anlage ist, wie schon nach der Gründung des Konvents im 15. Jahrhundert, nach dem großen Brand von 1647 wie auch im 18. und 19.
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Jahrhundert, ein weiteres Mal mit hohem Anspruch ideell und materiell investiert worden. Die Bauten können heute wieder gemeinschaftlich als Fortsetzung der Idee des ehemaligen Klosters von vielen genutzt werden und sie geben Raum für Begegnungen. Bewusst sollen die baulichen Sanierungslösungen zur Auseinandersetzung mit der denkmalwerten Gesamtanlage, mit der Geschichte des Orts und der hier im Laufe der Jahrhunderte lebenden Menschen ermuntern. Im Rahmen des Projekts „Europa in Westfalen – Spuren im Denkmalbestand“ wurde zusammen mit dem Museum Kloster Bentlage, das im Ostflügel der Gebäude angesiedelt ist, ein Konzept für Kinder und Jugendliche entwickelt, sich mit der Geschichte des Klosters zu beschäftigen, bestimmte historische Ereignisse spielerisch nachzustellen und so ein Verständnis für diesen Ort zu entwickeln. Dieses museumspädagogische Konzept wird fortgeführt und immer wieder erweitert. Abb. 2: Zeche Zollverein, Essen
© Foto: Hermann Willers, Rheine
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Beispiel Siedlungen im Ruhrgebiet Das Denkmalprojekt „Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet“, das zur Kulturhauptstadt RUHR.2010 erarbeitet wurde, erzählt anhand des Denkmalbestands von Veränderungen und Kontinuitäten, Zuwanderung und Austausch, von fremden Einflüssen auf Kunst und Baustile, Glaube und Herrschaft, Leute, Kapital und Technologie in der Geschichte der Region des Ruhrgebiets. Anhand der Baudenkmäler in dieser Region lässt sich der Normalfall Migration, der Normalfall gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt weit in die Geschichte zurückreichend aufzeigen. Der Schriftsteller Narvid Kermani (2009: 11) formulierte: „Gerade die kulturellen Institutionen Deutschlands müssen sich von innen verändern, müssen sich öffnen, wie es die Gesellschaft um sie herum längst getan hat, und den homogenisierten, national-staatlich bestimmten Kulturbegriff überwinden, der ideengeschichtlich auf das 19. Jahrhundert zurückweist. […] Für ein kosmopolitisches Verständnis von Kultur zu werben, hat dabei keine vorrangig sozialen Motive. Um ihrer eigenen Qualität und Lebendigkeit willen sind die Künste ebenso wie die Wissenschaft und das intellektuelle Leben einer Stadt auf äußere Einflüsse, den Austausch mit Künstlern und Gelehrten fremder Länder und den Blick auf andere Kulturen angewiesen.“
Dazu eine Geschichte von der Stadtmauer in Duisburg, an der ich im Frühjahr 2010 zufällig mit einer türkischstämmigen Familie ins Gespräch kam. Wie alt denn diese Mauer sei und woran man das sehen könne, wurde ich gefragt. Ich versuchte, mit meinem angelesenen Wissen über diese Mauer zu antworten, erzählte vom 12. Jahrhundert und von schriftlichen Quellen, als sich der zehnjährige Sohn engagiert ins Gespräch einbrachte. Er erläuterte seinen Eltern, Geschwistern und mir, die Hunnen wären nicht hier gewesen, aber die Wikinger mit Schiffen. Und sie hätten sich etwas mit den Leuten in Duisburg gestritten, es wäre auch jemand dabei umgekommen, aber dann hätten sie sich wieder vertragen. Er wüsste das, weil er oft im Stadtmuseum mitmache. Sie würden dort einen Film darüber drehen und er spiele darin einen Vater. Miteinander ins Gespräch kommen, sich über ein gemeinsam entdecktes Baudenkmal und seine Geschichte austauschen, Verbindungen herstellen, Beziehungen entwickeln – so kann es gehen.
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Das baukulturelle Erbe und die Baudenkmäler lassen sich dazu nutzen, den hier schon länger oder sehr lange Beheimateten zu vermitteln, dass Vielfalt seit jeher ihr eigenes Lebensumfeld und unsere Gesellschaft insgesamt bestimmt. Das baukulturelle Erbe, die Denkmäler und die Geschichten in den Bauten können aber ebenso Menschen aus anderen Herkunftsländern dabei helfen, sich hier neu zu verorten. Es bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für Bildungsprojekte mit unterschiedlichen oder auch gemeinsamen Vermittlungsformen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Wo lassen sich im Baubestand in jeder Stadt, an jedem Ort Bezugspunkte für Menschen aus anderen Regionen der Erde aufzeigen? Wo lassen sich Verbindungen zu anderen Kulturen in der lokalen, regionalen oder nationalen Geschichte herstellen, die sich in Gebautem manifestieren und an ihm abzulesen sind? Das Potenzial, das im Bestand des baukulturellen Erbes und in den Denkmälern für die Vermittlung von Kenntnissen über die kulturelle Vielfalt vorhanden ist, kann inhaltlich deutlicher zum Vorschein gebracht und genutzt werden, als es meines Wissens bisher der Fall ist. Mit dem Denkmalprojekt „Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet“ wurde aufgezeigt, was sich in dieser Region über Zuwanderung, Impulse und Einflüsse von außen ablesen lässt. Die jeweils örtliche Geschichte der Zuwanderung von Menschen, von hinzugekommenem Wissen, von neuen Ideen, anderen Gestaltungsweisen, innovativen Techniken, Materialien oder auch externem Einsatz von Kapital lässt sich im Grunde überall mithilfe der Spuren im Baubestand beschreiben und so auf ganz eigene Weise veranschaulichen. Diese aufgefundenen Fremden Impulse erzählen von Veränderungen und Kontinuitäten, Zuwanderung und Austausch in der Geschichte, sowohl in der Region des Ruhrgebiets wie nahezu überall. Aus unterschiedlichsten Gründen können oder müssen Menschen freiwillig oder unfreiwillig wandern und bringen Fremdes, bringen Impulse mit: Arbeitsmigrant*innen, Angeworbene, Geflüchtete, Zwangsarbeiter*innen, Zugezogene, Durchziehende, Pilger*innen, Geschäftsleute, Auszubildende, sie alle haben mit Migration zu tun. Aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert können für das Ruhrgebiet insbesondere die Handelsstädte Dortmund und Duisburg als Orte genannt werden, in denen sich über Jahrhunderte selbstverständlich viele Fremde einfanden. Die vom Bergbau und der Stahlindustrie angeworbenen Arbeitskräfte im 19. und 20. Jahrhundert stammten durchweg aus ärmsten Verhältnissen. Hauseigentum und Ähnliches konnten sie vor 1945 fast nie erwerben, sie haben da-
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her keine eigenen Bauten oder reiche Sachkultur hinterlassen können. Aber an einer Vielzahl von Wohnhäusern, Siedlungen, Ortsbildern und anhand der Dokumente und Exponate in den Museen lässt sich nachvollziehen, wie diese Menschen gelebt und sich als zunächst Fremde mit der Zeit in die neuen Lebensumstände eingefunden haben. Während der beiden Weltkriege wurden Tausende von Frauen und Männern aus dem von Deutschland besetzten Ausland zur Arbeit gezwungen. Davon künden Lagerreste, aber auch Gräber und Gedenksteine an zahlreichen Orten. Die Grenzverschiebungen infolge des Kriegs, die deutsche Teilung und der Kalte Krieg lösten unterschiedliche Menschenzüge aus. Geflüchtete, Übersiedler*innen und Spätaussiedler*innen mussten im Ruhrgebiet integriert werden. Arbeitsmigrant*innen aus Südosteuropa, Nordafrika und Asien waren ab 1955 unverzichtbar für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Politisch Verfolgte fanden vor allem seit den 1980er Jahren Asyl im Ruhrgebiet. Den Denkmalbestand in dieser Hinsicht für Projekte Kultureller Bildung zu nutzen und den Normalfall Migration, Zuwanderung und Austausch als eine Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit für alle Gesellschaften darzustellen, ist an jedem Ort und in jeder Stadt möglich. Die Fragestellungen werden an jedem Ort unterschiedlich sein. Die Musikwissenschaftlerin Dorothee Kolland (2013: 42f.) sagt dazu: „Die deutsche Gesellschaft beginnt, den stattfindenden Paradigmenwechsel zu erkennen und zu erleben, der sich von einer Gastarbeitereinwanderung mit Zwang zur Integration hin zu einer Gesellschaft der Diversität, von der Migrantenlast zur Lust der Vielfalt vollzieht. Wir stehen an einem wichtigen Anfang.“
In den Gedanken von Kolland erkenne ich einen Ansatz wieder, der auch im Denkmalprojekt „Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet“ in den Vordergrund gestellt wurde: Das Kommen und Gehen ist Teil menschlichen Alltagshandelns, historisch gesehen haben die meisten Gesellschaften von Einwanderungen profitiert. Austausch und Migration sind der Normalfall gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Diese Tatsache anhand ihrer Spuren im Baubestand aufzuzeigen, war der Hauptansatz des RUHR.2010-Projekts „Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet“, das von den beiden Landesdenkmalämtern in Nordrhein-Westfalen durch-
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geführt wurde. Beratend haben darüber hinaus die beiden Industriemuseen der Landschaftsverbände im Rheinland und in Westfalen mitgewirkt. Zielsetzung war es, das Thema Denkmalpflege im Jahr der Kulturhauptstadt RUHR.2010 und darüber hinaus verstärkt in die Öffentlichkeit zu bringen. Nicht nur im Ruhrgebiet, wo der Anteil der Bevölkerung mit sogenanntem Migrationshintergrund stetig wächst und der persönliche Bezug zur Geschichte des Wohnorts für viele aufgrund der eigenen Lebensgeschichte nicht ohne Weiteres gegeben sein kann, ist es von öffentlichem Interesse, den Menschen die Vergangenheit und historische Entwicklung ihrer Region nahezubringen. Es muss Teil des Auftrags der Denkmalpflege und der Denkmalvermittlung sein, sowohl neu Hinzukommenden wie auch den lange Ansässigen anhand der Baudenkmäler, in denen sie wohnen und/oder arbeiten, Geschichte erlebbar zu machen. Den Ausgangspunkt für das Projekt bildete der vorhandene und unter Schutz gestellte Denkmalbestand im Ruhrgebiet, aus dem die Einzelobjekte oft unter für Denkmalpfleger*innen neuen und ungewohnten Kriterien herausgesucht wurden. Im Rahmen des Projekts konnten auch bis dahin noch unbekannte, aber historisch bedeutende Gebäude ausfindig gemacht werden. Die ersten Quellen, die Denkmäler selbst, mussten für die Suche nach geeigneten Beispielen neu gelesen und weitere Quellen aufgetan werden. In einer üblichen Denkmalwertbegründung ist nicht immer ersichtlich, ob das Bauwerk mit zugewanderten Personen, mit fremdem Kapital oder andernorts entwickelten Ideen, Künsten und Techniken in Verbindung steht. Die Kriterien und Fragestellungen, nach denen der bekannte Bestand durchsucht und auch neuer Bestand ermittelt wurde, sind deshalb weiterzuentwickeln und werden je nach Region etwas unterschiedlich sein. Daraus ergeben sich unter Umständen neue Fragestellungen mit ungewohnten Sichtweisen und neue Forschungsansätze für die Denkmalinstitutionen. Der Begriff Migration wurde in dem Projekt „Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet“ sehr weit gefasst. In der Geschichte hat es schon immer Wanderungsbewegungen gegeben. Durchziehende Menschen, Händler*innen, Pilger*innen, Arbeiter*innen und Handwerker*innen hinterließen aber nicht in erster Linie Gebautes, sondern schufen mit ihrer Arbeitskraft Produkte – das konnten auch Bauten sein. Es entstand für die neu Hinzugekommenen eine eigene Infrastruktur, wie dies auch heute für die Geflüchteten, die Deutschland aktuell aufnimmt, der Fall ist. Investoren aus dem In- und Ausland gaben im 19. und 20. Jahrhundert Kapital, mit dem
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sie Produktionen in Gang brachten, die Arbeitskräfte erforderten und Menschen anzogen. Dies führte erneut zu Neubauten, zu Fabriken, Verkehrsbauten, zum Ausbau von Verwaltungen und Siedlungen, insbesondere im Ruhrgebiet. Die früheren Zustände und Entwicklungen der Kulturlandschaft im Bereich der RUHR.2010 sind in großer zeitlicher Tiefe seit dem Mittelalter durch Baudenkmäler überliefert. Exemplarisch können daran die Wechselwirkungen zwischen dem heutigen Ruhrgebiet und anderen Regionen in Europa, aber auch mit anderen Kontinenten dargestellt werden. Besonders im 19. und 20. Jahrhundert prägten diese Beziehungen das Gebiet und sind seitdem sogar als ein herausgehobenes Merkmal der Region zu verstehen. Der Wandel im Ruhrgebiet hatte immer mit Bewegungen und mit Impulsen, mit Fremdem und mit Vertrautem, mit Umbrüchen zu tun und birgt sowohl Konfliktstoff als auch Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten in sich. Der Titel „Fremde Impulse“ ist spielerisch gedacht, die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks wurde bewusst gewählt. Fremd bezieht sich ganz naheliegend auf etwas, das zunächst in der Region nicht vorhanden war. Diese geografische Definition des Fremden muss aber im jeweiligen zeitlichen Kontext verstanden werden. Während in früheren Zeiten schon manch ein Nachbardorf weitgehend als unbekannt hinter Grenzen liegend und jemand von dort als Fremde*r empfunden werden konnte – obwohl es immer schon Wanderungsbewegungen und Reisende in allen gesellschaftlichen Schichten gegeben hat –, sind heute in fast ganz Europa die Grenzen offen und sollten sich nach außen hin weiter öffnen. Menschen aus aller Welt kommen auch heute ins Ruhrgebiet, um hier zu arbeiten, zu studieren, zu leben und bringen ihre Kultur, ihre Sitten und Gebräuche, also fremde Impulse mit. Der Begriff Impuls wurde im Rahmen des Denkmalprojekts zur RUHR.2010 definiert als ein Einfluss, der von außen oder durch andere von außen auf die Region oder auf einen bestimmten Ort einwirkte und in der Region als auslösendes Element Entwicklungen in Gang setzte, wesentlich verstärkte oder zumindest weiter beförderte. In mehreren Bausteinen, Publikationen, Tagungen und auf einer Internetseite wurden die Themen des Projekts dargeboten. Dabei bildete die Wanderausstellung „Fremde Impulse“, die passenderweise in Transportkisten daherkommt, den Einstieg.
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Abb. 3: Wanderausstellung „Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet“, Standort KAZimKUBA
© Foto: Hermann Willers, Rheine
Diese Ausstellung reiste seit 2010 an acht Standorte im Ruhrgebiet und an sechs weitere Orte außerhalb dieser Region. An jedem Standort gab es ein Rahmenprogramm mit Veranstaltungen, das in der örtlichen Presse und auf der Internetseite3 angekündigt wurde. Im Sommer 2016 konnte die Ausstellung in Kasseler Architekturzentrum KAZimKUBA mit der Porträtausstellung „Wir sind Rheine – Menschen aus 101 Kulturen“ kombiniert werden, die Porträtfotos von Menschen aus vielen Ländern der Welt, die heute in der Stadt Rheine im Münsterland ihre Heimat gefunden haben, zeigt. Die beiden Ausstellungen „Fremde Impulse“ und „Wir sind Rheine“ sind fast zeitgleich unabhängig voneinander entstanden und wurden 2011 im Düsseldorfer Landtag zusammen präsentiert. Aus einer so angelegten Doppelausstellung können an jedem Ort die Vielfalt der Menschen einer Stadt und der jeweilige Denkmalbestand miteinander in Bezug gebracht und zu einer Entdeckungsreise durch die Welt werden. Das wäre ein ganz konkreter und einfacher Ansatz für neue kulturelle Bildungsprojekte, am
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Siehe https://www.fremde-impulse.de [Zugriff: 31.03.2020]
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jeweiligen Ort gemeinsam den Denkmalbestand zu entdecken: Porträts von den verschiedenen Menschen zu erstellen, den Normalfall Migration zu erleben und sich darüber besser kennenzulernen. Mit „denkmal-aktiv“, dem Schulprojekt der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, wurde für das Schuljahr 2010/2011 eine Kooperation gebildet (vgl. Braun/Zalewski 2014). Fünf Schulen im Ruhrgebiet befassten sich mit dem Thema „Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet“. In der Stadt Hagen ist dies im Jahr 2018 realisiert worden.4 Die Denkmalpfleger*innen konnten mit dem Projekt „Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet“ auf ungewöhnliche Art Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen der Kulturhauptstadt RUHR.2010 leisten, konnten Denkmalwissen auf andere Art vermitteln und haben selbst das „Vergnügen an der spannenden Unübersichtlichkeit“ (Wolfgang Pehnt, Architekturhistoriker) des Ruhrgebiets entdecken dürfen. Der zum Teil neue und ungewohnte Blickwinkel auf die Baudenkmäler hat durch dieses Projekt neue Impulse für die tägliche Arbeit der Denkmalpfleger*innen gegeben. Der Blick auf die Objekte ist weiter und um einige Aspekte und Fragestellungen in der täglichen Arbeit bereichert worden. Dies ist ein dauernder Prozess, der Zeit braucht und nur bedingt kurzfristig sichtbare Ergebnisse mit sich bringt. Aus sich selbst, aus ihrer von Mischung bestimmten Entstehungsgeschichte heraus, können Architektur und baukulturelles Erbe, können Denkmäler ein großes Integrationspotenzial entfalten, weil Stadträume und historische Bereiche unser unmittelbares Lebensumfeld bestimmen. Sie bilden für alle Heimat. Die gebaute Umwelt existiert ohne zielgerichtete Aufmerksamkeit und wird zunächst einmal sinnlich erfahren und wahrgenommen. Bauten, Plätze und Wegeführungen können komplexe historische Entwicklungen veranschaulichen, sogar, ohne dass sprachliche Barrieren dem entgegenstehen und ohne, dass sie größere soziale oder technische Fertigkeiten zu ihrer Entschlüsselung voraussetzen. Jeder Person zugänglich bieten Architektur und baukulturelles Erbe darüber hinaus Integrationspotenzial auch als Instrument der Kulturvermittlung. Als Beispiel sei dazu die Mendener Stiftung Denkmal und Kultur5 genannt.
4
Siehe https://www.guten-tach.de/osthausmuseum-fremde-impulse-in-trans portkisten [Zugriff: 31.03.2020]
5
Siehe http://www.mendener-stiftung.de [Zugriff: 31.03.2020]
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Abb. 4: Stadtturm in Menden, Treppenanlage
© Foto: Hermann Willers, Rheine
Die Stiftung hat sich unter dem Motto „Mendener für Menden“ zum Ziel gesetzt, in der Stadt Denkmäler, die sich für keine wirtschaftlich tragfähige Nutzung eignen, z. B. ein sehr kleines Fachwerkhaus aus dem frühen 18. Jahrhundert an der Stadtmauer, das sogenannte Schmarotzerhaus, und einen Stadtturm der ehemaligen Stadtbefestigung (erste Erwähnung in der Stadtchronik 1344), zu erhalten und für die Öffentlichkeit museal und durch Veranstaltungen zugänglich zu machen.
F AZIT
UND
A USBLICK
Wichtig sind der Austausch, die Beteiligung und Integration auch von neu hinzugekommenen Menschen. Das baukulturelle Erbe, die Baudenkmäler bieten vielfältige Möglichkeiten, um Geschichte, konkrete Ereignisse an der baulichen Substanz fassbar, sichtbar und begreifbar werden zu lassen. Das sind wertvolle Anknüpfungspunkte für Integration und Teilhabe. Die enge Verbindung zwischen den in den Themenfeldern Heimatpflege und Denkmalpflege Engagierten ist dafür eine besonders wichtige Grundlage (vgl. Seifen/Steinmeier 2019: 69ff.).
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Die Vermittlung von Baukultur und Denkmalpflege ist generationenübergreifend notwendig. Schon Kindern und Jugendlichen können diese Themen vermittelt werden. Das gelingt zum Teil, wie in den aufgeführten Beispielen dargestellt wurde. Aber als fester Bestandteil des Lehrprogramms an den Schulen sind Architektur, Denkmalpflege und Baukultur bisher meines Wissens nicht verankert. In dieser Hinsicht ist Entwicklungspotenzial vorhanden. Der jährlich von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz veranstaltete „Tag des offenen Denkmals“ zeigt, wie groß das Interesse ist, sich Denkmäler anzusehen und an Veranstaltungen teilzunehmen. Auch die NRWStiftung6, der Westfälische Heimatbund7 und der Rheinische Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz8 bieten ein buntes und erfolgreiches Programm für alle Altersstufen und Bevölkerungsgruppen an. In der Denkmalpflege wird die wachsende Durchmischung der Gesellschaft in ihren Auswirkungen auf Denkmäler und deren identitätsstiftendes Potenzial zunehmend als Herausforderung erkannt. Der Begriff des kulturellen Erbes ist in diesem Sinne neu zu denken. Die Rolle der Denkmalpflege als Impulsgeber und Kompetenzpool, sowohl für materielle als auch immaterielle Werte, hat Tradition. Die Verankerung ihrer Themen bei den Institutionen der Kultur, in der Politik und in der Öffentlichkeitsarbeit gilt es, weiter zu stärken. Wichtig ist, miteinander ins Gespräch zu kommen – über alle Barrieren hinweg, Denkmalkunde, Baukultur und Geschichte auf vielfache Art zu vermitteln, den Spaß an den Dingen weiterzugeben und gemeinsam Horizonte zu erweitern, mit Toleranz und Respekt auf allen Seiten.
6
Siehe https://www.nrw-stiftung.de [Zugriff: 31.03.2020]
7
Siehe https://www.whb.nrw [Zugriff: 31.03.2020]
8
Siehe https://www.rheinischer-verein.de [Zugriff: 31.03.2020]
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L ITERATUR Braun, Susanne/Zalewski, Paul (Hrsg.) (2014): Denkmal trifft Schule. Schule trifft Denkmal. Im Auftrag der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und der Europa-Universität Viadrina. Bonn/Frankfurt a. d. Oder: Deutsche Stiftung Denkmalschutz. Kermani, Navid (2009): Projekt Durchzug – Eine Akademie für das 21. Jahrhundert. In: Süddeutsche Zeitung, 26. Mai 2009, S. 11. Kolland, Dorothee (2013): Deutschland auf dem Weg in die multikulturelle Gesellschaft. In: Kulturpolitische Mitteilungen 140 (I), S. 42-43. Seifen, Barbara (2011): Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet. Das Denkmalprojekt zur Kulturhauptstadt RUHR.2010. In: Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet, 4. Westfälischer Tag für Denkmalpflege auf Schloss Cappenberg 10./11. Juni 2010. Dokumentation, Arbeitsheft der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen, 10. Münster: Coppenrath, S. 20-27. Seifen, Barbara (2018): Baukulturelles Erbe – vielfältige Lernorte – Spurensuche im Denkmalbestand. In: PLANERIN. Mitgliederfachzeitschrift für Stadt-, Regional- und Landesplanung 1, S. 34-36. Seifen, Barbara/Steinmeier, Christian (2019): Im Gespräch bleiben – Beratung und Vermittlung in der Praktischen Denkmalpflege. In: Denkmalpflege und Kommunikation, Arbeitsheft der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen. Hrsg. vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Münster/Steinfurt: Tecklenborg, S. 69-73.
Paradigmen baukultureller Bildung – erster Versuch K AWTHAR E L -Q ASEM
Dieser Beitrag ist ein erster Versuch über Paradigmen baukultureller Bildung. Er steht in einem engen Zusammenhang mit Fragen danach, was baukulturelle Bildung ist und sein soll. Dabei stellt sich die Frage, warum baukulturelle Bildung im Jahre 2020 noch in den Kinderschuhen steckt, obwohl die gebaute und gestaltete Umwelt unser Leben und unseren Alltag so grundlegend betrifft, wie kaum ein anderer Bereich Kultureller Bildung. Auf diesem Weg wird auch zu klären sein, welche Definition von Baukultur zugrunde liegt, aus der sich Gegenstände und Inhalte baukultureller Bildung erschließen.
S ETZUNGEN Eine Definition baukultureller Bildung setzt die Klärung des Begriffs der Baukultur voraus. Doch ein konsensuales Verständnis des Begriffs der Baukultur kann vor allem deshalb nicht vorausgesetzt werden, weil der Begriff der Kultur sehr vielschichtig in seinen Bedeutungen ist. So spannt sich ein Bedeutungsspektrum von Baukultur auf, das sich zwischen dem Besonderen und dem Alltäglichen, dem Verwirklichten und dem Möglichen bewegt. Für die baukulturelle Bildung ist eine Positionierung in diesem Spektrum notwendig. Dabei ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten und Schwerpunktsetzungen.
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Jedes Verständnis, das sich auf eine normative Sicht beschränkt, greift für eine Bildungsarbeit zu kurz, die sich an demokratischen Aushandlungsprozessen orientiert. Wenn Bildungsarbeit es sich zudem zur Aufgabe macht, gängige Raumpraktiken zu hinterfragen und auf Machtverhältnisse hin zu untersuchen, dann eröffnen sich neue, komplexe und herausfordernde Perspektiven. Eine Verknüpfung dieser Perspektiven mit einem Bildungsverständnis, das Aneignung und Lernen als relationale und soziale Prozesse und als ebenso individuelle wie kollektive Praxen zu verstehen sucht, Machtverhältnisse auch hier im Blick behält und selbst Raum für die Entstehung anderer Räume schaffen möchte, dann kann diese Herangehensweise zunächst als kritische baukulturelle Bildung bezeichnet werden. Kritisch deshalb, weil sie sich nicht darauf beschränken kann, Kinder und Jugendliche zu einer normativen Einordnung der gebauten Umwelt zu befähigen, sie für bauliche Leistungen und Möglichkeiten zu begeistern oder ihnen die Vokabeln zu vermitteln, die sie zukünftig als mündige Baufrauen und -herren brauchen könnten. Sie kann sich auch nicht darauf beschränken, Kinder und Jugendliche als (zukünftige) Teilnehmer*innen partizipativer Verfahren zu betrachten und sie auf diese Rolle vorzubereiten. Eine kritische baukulturelle Bildung sucht vielmehr die Bewusstmachung, Entwicklung, Ausbildung und Aushandlung einer individuellen und kollektiven Haltung zur gebauten und ungebauten Umwelt und ganz allgemein zu Raum. Die Entwicklung einer solchen reflektierten Haltung wird im Hinblick auf zentrale und drängende Themen wie Umweltschutz und Nachhaltigkeit, globale Ungleichheitsverhältnisse und Menschen- und Bürgerrechte unterschätzt. Doch nicht ohne Grund manifestieren sich Ereignisse und Krisen rund um diese Themen räumlich. Ob nun koloniale Raumfantasien, die Fiktion des sogenannten Orients oder die Imagination eines globalen Nordens bzw. Südens, eines Zentrums und einer Peripherie, Grenzsetzungen und Mauerbau, das Aufeinandertreffen von Grenzregimen und Migrationsbewegungen, Niederlassungsbeschränkungen, No-go-Areas in Großstädten oder das Bau- und Bodenrecht. So unterschiedlich die genannten Themen sind, sie alle sind jeweils mit gewordenen und vorherrschenden Auffassungen von Raum, dem Verhältnis von Mensch und Raum und dem sich daraus ergebenden Umgang mit Raum verbunden. Hier könnte meines Erachtens auch der Grund liegen, warum baukulturelle Bildung 2020 einerseits noch in den Kinderschuhen steckt, andererseits gerade jetzt an Fahrt aufnimmt. Baukulturelle Bildung nimmt bestehende
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Verhältnisse nicht nur zur Kenntnis: Im Rahmen baukultureller Bildung werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ebenso wie alle Lebensbereiche und gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick genommen und damit potenziell infrage gestellt. Was hier emergieren kann, ist ein Bewusstsein für Kontingenz. Dieses Bewusstsein birgt Risiken und Chancen gleichermaßen. Es ist geeignet, sowohl unsere Gesellschaftsarchitektur als auch unsere Gedankengebäude umzugestalten. Eine wirkliche und ernst gemeinte Einlassung auf diesen Prozess setzt die Bereitschaft dazu voraus, die Verteilung von Ressourcen und Privilegien neu zu denken. Es geht nicht weniger als um die Frage danach, wie wir zusammenleben wollen. Baukultur kann insbesondere im Kontext baukultureller Bildung im Sinne Marshall McLuhans als Medium verstanden werden, das als „mit ihrem Vermögen, Erfahrungen in neue Formen zu übertragen, wirksame Metapher[n]“ (McLuhan 1964/1995: 96f.) fungiert. Nichts könnte für diesen Zweck geeigneter sein als unsere gebaute Umwelt, in der wir uns ohnehin befinden und die wirklich mit uns und unserem Leben zu tun hat. Insofern ist eine solche Einlassung ein Wagnis und ein notwendiger Aufbruch im Sinne demokratischer Besinnung.
R AUMSCHULE – B AUEN
UND
N ICHT -B AUEN
Zunächst einmal verstehe ich baukulturelle Bildung im weitesten Sinne als Raumschule. Sie beschäftigt sich einerseits mit Wahrnehmungen und Befindlichkeiten in Bezug auf Raum und die gebaute Umwelt, ebenso wie mit Gestaltungsmöglichkeiten und Interventionen. Andererseits setzt sie sich auf diversen Ebenen mit räumlichen Verhältnissen, deren Geworden-Sein und deren Deutungen auseinander. Beide Aspekte greifen ineinander, insofern Widersprüche, Grenzen, Bedürfnisse und Ideen immer auch die eigene Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft voraussetzen. Im Folgenden werde ich mich daher auf den zweiten Aspekt konzentrieren, nämlich auf die Bedeutung der Auseinandersetzung mit räumlichen Verhältnissen und deren Deutungen auf verschiedenen Ebenen für die baukulturelle Bildung. Die räumlichen Verhältnisse, um die es hier gehen soll, werden einerseits hergestellt durch die bauliche Gestaltung unserer Umwelt, andererseits werden sie in gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnissen produziert und reproduziert. Diese beiden Ebenen sind verschränkt: Bauen setzt vielerlei
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Ressourcen voraus, nicht nur finanzielle – und Bauen ist Ausdruck von Macht, Berechtigung und Zugehörigkeit. Wenn dem Bauen das NichtBauen(-Können oder -Dürfen) gegenübergestellt wird, dann kann hier häufig das Fehlen von eben diesen Ressourcen festgestellt werden. Das Gebaute als den sich materialisierenden Teil dieser Verhältnisse zu betrachten, lässt im diskursanalytischen Sinn deren Spuren lesen und verstehen. Der Ausdruck, den das Bauen einnimmt, unterliegt dabei einem Zeitgeist, der mitgedacht werden muss. Dieser Zeitgeist kann z. B. staatliche Autorität betonen oder Bürgernähe anstreben. Doch selbst der Versuch, durch verglaste Verwaltungsbauten Transparenz und Bürgernähe zu schaffen, kann nur unter der Voraussetzung passieren, dass die Macht dazu vorhanden ist, Macht zu demonstrieren oder darauf zu verzichten. Es ist naheliegend, dass die architektonische Gestaltung allein keine transparente und bürgernahe Verwaltung ausmacht. Sie könnte auch zu einer Bühne für einen autoritären oder repressiven Umgang mit Bürger*innen verkommen. Das Verhältnis von gebauter Umwelt und Menschen, aus dem Baukultur schließlich erwächst, ist nur reziprok zu verstehen. Wenn Auftraggeber*innen, Stadtplaner*innen und Architekt*innen bestimmte Absichten mit ihren Projekten verfolgen, realisieren sich diese doch nur mit und durch die Menschen, die diese nutzen. Gute oder schlechte Nachbarschaft ist zweifelsohne durch gelungene oder misslungene Stadtplanung und Architektur beeinflussbar und doch braucht es die Menschen, die eine nachbarschaftliche Praxis realisieren. Baukultur ereignet sich somit im Zusammenspiel der vorgefundenen räumlichen Situation und der Performanz der sich in dieser Situation befindlichen Menschen. Angesichts der Wirkmächtigkeit der räumlichen Gestaltung, die innen und außen scheidet, den Blick freigibt oder versperrt, Wege vorgibt und Bewegungsrahmen setzt, Schutz oder Gefahr herstellt, aber auch unsere Befindlichkeiten beeinflusst, ist dieses Zusammenspiel nicht frei von Machtverhältnissen: Auftraggeber*innen, Planer*innen und Nutzer*innen sind Nicht-Gleichberechtigte in diesem Zusammenspiel.
W ER
IST
„ WIR “?
Wenn der Architektenweltverband Union Internationale des Architectes (UIA 2016) feststellt: „Architecture and the built environment – our
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buildings, villages, towns, cities and landscapes – provide the framework for all human activity and interaction. We give it form and it forms us“, dann kann der letzte Teilsatz mit Fragezeichen versehen werden. Wer ist „wir“ und „uns“, mit welchem Bewusstsein und welchen Handlungsmöglichkeiten geschieht die Tätigkeit des Formens durch wen? Haben Besucher*innen einer Einrichtung die gleichen Möglichkeiten, diese zu formen wie die Planer*innen, die sie entworfen haben? Oder haben Bewohner*innen einer Wohnsiedlung die gleichen Gestaltungsmöglichkeiten wie die Wohnungsbaugesellschaft, die den Bau in Auftrag gegeben hat? Wer hat im Kontext Schule welche Mitbestimmungsmöglichkeiten? An wem orientieren sich die Normmaße, die bei der Planung zugrunde gelegt werden? Wie sieht es mit der Erforschung und Berücksichtigung der Raumpraktiken von Frauen, Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen, Migrant*innen, Menschen mit Behinderung und vieler anderer aus? Häufig sehen Nutzer*innen und Bewohner*innen sich mit einer räumlichen Situation konfrontiert, an deren Entstehung sie nicht mitgewirkt haben und auch nicht mitwirken konnten. Und häufig werden Maße zugrunde gelegt, die sich (immer noch) am erwachsenen, mitteleuropäischen Mann orientieren.
…
UND WAS HAT DAS MIT
R EGELN ZU TUN ?
Hinzu kommen Regeln, die eine bestimmte Nutzung vorgeben oder eine andere unterbinden, eine Praxis ermöglichen oder ausschließen. Das Zusammenspiel von gebauter Umwelt und formellen wie informellen Regeln fungiert dabei als „‚Platzanweiser‘“ (Scharathow 2014: 46) und begrenzt die Möglichkeiten der sie nutzenden Menschen. In dieser Platzanweisung spiegeln sich gesellschaftliche Machtverhältnisse (vgl. ebd.). Besonders politisch-ideologisch aufgeladene Regeln und Gesetze führen uns diese Verhältnisse vor Augen, wenn bestimmte Gruppen explizit ausgeschlossen und „samt ihrer Erfahrungs-, Handlungs- und Deutungsräume an einen ‚Nicht-Ort‘ verwiesen“ (El-Qasem 2017: 30)1 werden, sodass ihr Handlungs- und Bewegungsradius in der Folge deutlich eingeschränkt wird. Nationalsozialismus und Apartheidregime sind extreme Beispiele für einen
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Der Begriff „Nicht-Orte“ ist hier von Marc Augé (2014) nach seinem gleichnamigen Buch (deutsche Übersetzung) übernommen.
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gezielten Einsatz von Raumpolitiken zur Marginalisierung, Eliminierung und (perspektivischen) Vernichtung von Bevölkerungsgruppen. Doch auch jenseits solcher drastischen, politisch-ideologischen Beispiele lassen sich im Alltag „verbotene Räume“ unterschiedlichster Art finden: Die Autobahn für Fußgänger*innen, der Bahnhofsvorplatz oder der Kaufhauseingang für Obdachlose, die Straße oder der Parkplatz für Kinder. Sie alle sind Ausdruck von Primaten, die eine Praxis, eine Seins- oder Lebensweise vor einer anderen priorisieren. Ein Verstoß gegen die Regeln bedeutet entweder Gefahr oder Sanktion. Räumliche Situationen können auch zu weniger expliziten Ausschlüssen führen: Ein Raum mit Nordfenster wird seinen Bewohner*innen auch an sonnigen Tagen den Sonnenschein vorenthalten. Was sich für ein Künstleratelier als Glücksfall darstellt, wäre für einen Wohnraum problematisch. Dunkelheit und Uneinsehbarkeit kann zu Vermeidungsstrategien nötigen, eine unübersichtliche und verwirrende Eingangssituation zu Einschüchterung führen oder zu einem erhöhtem Sicherheitsbedürfnis beitragen. Schließlich reduzieren und kanalisieren allgemeine Benimm-Regeln zusätzlich unsere Erfahrungsmöglichkeiten mit der gebauten Umwelt: Leise sein, nicht rennen, nicht springen, nicht tanzen, nicht schreien, nicht im Weg stehen, nicht hinsetzen oder hinlegen. Doch was passiert eigentlich, wenn diese Regeln nicht gesetzt werden?
Z WEI B EISPIELE Wenn wir die begehbaren Skulpturen Erwin Heerichs auf der Insel Hombroich betreten, werden wir als Besucher*innen durch den Raum animiert, mit diesem in Interaktion zu treten, ihn auszuprobieren, zu singen, zu schreien, zu tanzen, kopfüber den Raum zu betrachten. Durch unsere eigene Tätigkeit können wir uns den Raum aneignen, unseren Leib, unsere Stimme, uns selbst, aber auch den Raum erfahren und spüren. Wir können uns so in Bezug setzen zu uns selbst, zum Raum, zur*m Künstler*in, zum Kunstwerk und zu anderen Besucher*innen. Würde es hier ein streng überwachtes Verbot geben, müssten wir uns beherrschen, dem spontanen Impuls nicht nachzugehen. Uns würden diese eindrucksvollen und vielschichtigen Erfahrungen vorenthalten. Doch das Fehlen von Aufsichtspersonal, die Weitläufigkeit des Geländes, das Zusammenspiel von gebauter
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und gewachsener Umwelt und die Gastfreundschaft, die Besucher*innen der Insel Hombroich erfahren, tragen zu einer Atmosphäre bei, die Freude am Ausprobieren und an unkonventioneller Raumnutzung fördern. Wenn wir wiederkommen, werden wir feststellen, dass alles anders ist, weil jeder Tag, jeder Moment neu ist: Neue Perspektiven, Impulse und Ideen werden unsere Erfahrungen rahmen. Ein ähnliches Phänomen konnte ich beobachten, als ich vor einigen Jahren zahlreiche Moscheeführungen für Vorschulkinder organisierte: Sobald die Kinder den großen, unmöblierten und mit Teppich ausgelegten Gebetsraum betreten hatten, entfaltete sich reges Treiben – Lachen und Rennen, Springen und Spielen, Radschlag und Handstand. Die Erzieher*innen waren sichtlich verlegen, weil sie die Kinder vergeblich zur Ruhe mahnten. Sie entschuldigten sich mehrfach bei mir, obwohl ich ihnen immer wieder versicherte, dass dies in der Moschee kein Problem ist. Zwar passiert solches Spiel nicht ständig in der Moschee, doch Kinder sind dort in der Regel frei, ihrem Bewegungsdrang nachzugehen, wenn gerade keines der fünf täglichen Gebete stattfindet. Nachdem die Kinder eine Weile den Raum kennengelernt hatten, konnte die Moscheeführung beginnen. In über 50 Führungen konnte ich mich nicht über mangelnde Konzentration oder mangelnde Beteiligung der Kinder beschweren. Die Beziehung, die die Kinder in dieser kurzen Zeit zum Raum hergestellt hatten, vor allem auch die BeDeutung, die sie vorgenommen hatten, war eine gute Grundlage für ein Gespräch, in dem sie sich über den Raum äußern, ihre Entdeckungen teilen, Fragen stellen und mehr erfahren konnten. Der Einstieg mit der Möglichkeit zur tätigen Aneignung des Raums öffnete Türen für Interesse, Neugier und Neues.
Ü BER W IRKMÄCHTIGKEIT Die gebaute Umwelt ist auch deshalb so wirkmächtig, weil sie Tatsachen schafft, die über lange Zeit bestehen und nicht ohne Weiteres veränderbar sind. Die Errichtung von Bauten ist zeitlich begrenzt: Der Planungs- und Realisierungsprozess kann sich mitunter über Jahre oder Jahrzehnte erstrecken, dennoch kann in der Regel ein Anfang und ein Ende beschrieben werden. Ihre Aneignung, Deutung und Be-Deutung hingegen ist ein fortlaufender Prozess. Selbst das Verschwinden eines Gebäudes – ob nun durch
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mutwillige Zerstörung oder höhere Gewalt – führt nicht zwangsläufig zu seiner baukulturellen Bedeutungslosigkeit. Es kann in Erzählungen, mit Bildern, durch Praktiken, Rituale oder Mahn- und Denkmale erinnert und angeeignet werden. Seine Zerstörung kann sogar zu einer Überhöhung seiner Bedeutung führen. Die Unterscheidung zwischen gebauter Umwelt und deren baukultureller Bedeutung durch fortlaufende individuelle und kollektive Aneignung erscheint an dieser Stelle grundlegend. Eine solche Unterscheidung impliziert, dass auch der im baukulturellen Rahmen situierte Aneignungsprozess nicht monodirektional verläuft, sondern sich reziprok gestaltet – trotz der Wirkmächtigkeit unserer gebauten Umwelt. Aneignung als Prozess bedeutet vielmehr ein Hin und Her, dessen Bewegungen sich gegenseitig bedingen und „wieder in Handlungen auf die soziale Welt zurückwirk[en]“ (Aghamiri 2015: 54). In diesem Prozess kann der gegebene Rahmen der gebauten Umwelt umgedeutet werden. Voraussetzung dafür ist, dass die Handelnden sich selbst als baukulturelle Akteur*innen begreifen, sich die gebaute Umwelt bewusst aneignen und mit ihr in Interaktion treten. Baukulturelle Bildung sollte daher das Ziel verfolgen, in diesem Sinne die Grundlagen für eine baukulturelle Literacy zu legen, die Kinder und Jugendliche dazu befähigt, in diese Interaktion zu treten. Es gehört außerdem eine Portion Frechheit dazu, den Respekt vor der Macht des Gebauten abzulegen: Der gebauten Umwelt auf Augenhöhe begegnen bedeutet, uns nicht von ihr beherrschen zu lassen, sondern selbst zu entscheiden, wie wir uns in ihr, mit ihr und zu ihr verhalten. Deuten wir sie so oder anders? Reproduzieren wir ihre „Aussagen“ und ihre „Haltung“? Widersprechen wir ihr? Spielen wir mit ihr oder führen wir sie vor? Dies muss nicht zwangsläufig neu gelernt werden. Michel de Certeau beschreibt in „Kunst des Handelns“ eine Reihe von Praktiken, Strategien und „Finten“, die weit verbreitet sind (de Certeau 1988: 179-238). In der baukulturellen Bildungsarbeit geht es demnach vielmehr darum, individuelle und kollektive Praktiken und Strategien bewusst zu machen und ins Gespräch zu bringen – ein Gespräch, in dem die eigene Praxis reflektiert, ggf. korrigiert und optimiert werden kann und kollektive Praktiken (weiter-) entwickelt werden können.
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M EHR Z EIT Auch wenn sie nicht über die gleichen Einflussmöglichkeiten wie andere baukulturelle Akteur*innen verfügen und sich in einem Machtgefüge zunächst einmal weniger Handlungsmöglichkeiten für sie ergeben: Bewohner*innen und Nutzer*innen der gebauten Umwelt können noch lange nachdem Planer*innen ihr Werk vollendet haben, dieses umdeuten, umnutzen und transformieren. Um eine Umdeutung zu realisieren, muss die gebaute Umwelt zunächst in ihrem Geworden-Sein und in ihrer Wirkung gelesen werden. Die eigene Wahrnehmung, die eigenen Gefühle und Gedanken im Kontext der vorgefundenen Situation sind dabei genauso ernst zu nehmende und zu untersuchende Aspekte von Baukultur. Das zugrunde gelegte Leseverständnis ist dabei eines, das kein eindeutiges Identifizieren meint, sondern vielmehr das Erfassen von Vieldeutigkeit, Vielheit und dem Denken von Kontingenz. Was ist also der Ausdruck, die Geste oder der Diskurs, den wir aus unserer gebauten Umwelt vernehmen, was macht dieser mit uns und wie verhalten wir uns dazu? Welche Möglichkeiten haben wir in der Interaktion mit der gebauten Umwelt als Individuen oder als Gemeinschaft und welche wollen wir realisieren? Neben baukultureller Literacy kommt es also darauf an, das Vorstellungs-, Darstellungs- und Umsetzungsvermögen im Hinblick auf Baukultur zu entwickeln.
B AUKULTUR ALS „M ÖGLICHKEITSRAUM “ – R AUM ALS A KTEUR Während Michel Foucault Architektur (und das Bauen) als Instrument der Disziplinierung untersucht (vgl. Schwarte 2009: 137ff.), arbeitet Ludger Schwarte den Unterschied heraus, der sich zwischen der (un-)gebauten Umwelt und ihrer Nutzung und Bespielung auftut. Er zeichnet in „Philosophie der Architektur“ nach, wie die Schaffung von Straßen und Plätzen im 18. Jahrhundert überhaupt erst die Versammlungen und Demonstrationen der französischen Revolution ermöglichte. Wir können sehr sicher davon ausgehen, dass dies weder die Absicht noch dem Plan der Bauherren und Baumeister seinerzeit entsprach. Genau das Gegenteil, nämlich die Demonstration von Macht und Größe, war beabsichtigt. Dennoch haben sie
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einen „Möglichkeitsraum“ (ebd.: 348) geschaffen, der zwar nicht kausal, aber unverzichtbar für den weiteren Lauf der Dinge war (vgl. ebd.: 10). Schwarte macht anhand des Stadtplatzes deutlich, dass für ein umfassendes Verständnis des Verhältnisses von Architektur und Mensch, „nicht das Gebaute, sondern gerade das Ungebaute, nicht die materiellen Rahmungen, sondern die immateriellen Bewegungs-, Einfluss- und Entzugsmöglichkeiten kennzeichnend sind, in denen neue Wahrnehmungskonfigurationen entstehen können“ (ebd.: 346). Zugleich postuliert er – und das ist für das hier skizzierte Verständnis baukultureller Bildung relevant – den Raum als Akteur. Als solchem treten wir ihm entgegen, fassen Absichten, antizipieren „Möglichkeiten […] an der Grenze des Erfahrbaren“ (ebd.: 351) und entwerfen „Modelle [als] Schnittpunkte des Imaginären und des Realen“ (ebd.: 355). In Interaktion mit dem Raum, gebaut und ungebaut, in einem „Gestaltungsraum [, der] intersubjektiv und dynamisch [ist]“ (ebd.: 358), realisieren wir unsere Freiheit. Eine Freiheit, die gelernt werden will. „Architektur erschließt Möglichkeiten“ (ebd.: 349), es ist an uns, diese zu kennen und zu nutzen.
L ITERATUR Aghamiri, Kathrin (2015): Das Sozialpädagogische als Spektakel. Eine Fallstudie sozialpädagogischer Gruppenarbeit in der Schule. Opladen: Barbara Budrich. Augé, Marc (2014): Nicht-Orte. Non-lieux. 4. Aufl. München: Beck. Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns. Berlin: Merve. El-Qasem, Kawthar (2017): Palästina erzählen. Inversion als Strategie zur Bewahrung des Eigenen in Dekulturalisierungsprozessen. Bielefeld: transcript. McLuhan, Marshall (1995/1964): Die magischen Kanäle. Understanding media. 2., erw. Aufl. Düsseldorf/Wien: Verlag der Kunst. Scharathow, Wiebke (2014): Risiken des Widerstandes. Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen. Bielefeld: transcript. Schwarte, Ludger (2009): Philosophie der Architektur. München u. a.: Fink.
P ARADIGMEN
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UIA (Union Internationale des Architectes) (2016): Architecture & Children. UIA Built Environment network. https://www.architectureandchildrenuia.com/mission [Zugriff: 07.04.2020].
Kulturelle Bildung und nachhaltige Entwicklung Beispiele aus aller Welt und was wir daraus lernen können E RNST W AGNER
In diesem Beitrag werden Beispiele für die Entwicklung der Kulturellen Bildung im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) diskutiert. Nach der Einführung in den politischen Kontext im ersten Teil dient der zweite Abschnitt dazu, konkrete Beispiele vorzustellen und zu analysieren. Der dritte Teil versucht dann, Konsequenzen für die Kulturelle Bildung zu ziehen.
UNESCO
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UNESCO, eine Unterorganisation der Vereinten Nationen (UN), zuständig für Erziehung, Wissenschaft und Kultur mit derzeit 195 Mitgliedsstaaten, ist global der wichtigste Partner, wenn es um BNE, aber auch um Kulturelle Bildung geht. Um das Engagement der UNESCO für beide Bereiche zu verstehen, ist es wichtig, deren geschichtlichen Hintergrund zu sehen: Die Gründungsversammlung der UNESCO fand 1946, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel statt, durch die Förderung internationaler Zusammenarbeit zum Frieden beizutragen. Auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Bereich der Kulturellen Bildung wie die International
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Society for Education through Art (InSEA) für Kunstpädagogik oder die International Society for Music Education (ISME) für Musikpädagogik wurden unter der Schirmherrschaft der UNESCO schon in den 1950er Jahren gegründet, geleitet von der gleichen Hoffnung: Kultureller Austausch und Verständigung durch die Künste würden zur Förderung des Friedens beitragen – durch Bildung durch Kunst (vgl. Lindström 2012). Danach verschwand die Kulturelle Bildung jedoch ziemlich von der UNESCO-Agenda. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts änderte sich dies im Rahmen des allgemeinen Booms um die Kulturelle Bildung weltweit. Nach mehreren Regionalkonferenzen hielt UNESCO 2006 in Lissabon und 2010 in Seoul Weltkonferenzen zur Kulturellen Bildung ab. Das zentrale Ergebnis dieser anhaltenden Bemühungen war die Veröffentlichung der „SeoulAgenda: Ziele für die Entwicklung der Kulturellen Bildung“ (UNESCO 2010). Diese Seoul-Agenda fußt auf drei Säulen: − − −
Zugang zur Kulturellen Bildung ermöglichen Qualität der Kulturellen Bildung sichern Durch Kulturelle Bildung einen Beitrag zur Lösung heutiger gesellschaftlicher Herausforderungen leisten
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Fünf Jahre später, 2015, verabschiedete die Generalversammlung der United Nations (UN) – die UNESCO-Mutterorganisation – die „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ (Sustainable Development Goals – SDG) als Grundlage für ihre zukünftige Arbeit. Der darin genutzte Begriff Nachhaltigkeit beruht auf der Definition im Brundtland-Bericht „Our Common Future“ von 1987: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, zu gefährden.“ (UN 1987: o. S.)
Die Umweltdimension – obwohl nicht ausdrücklich genannt – steht dabei sicher im Mittelpunkt, die „Bedürfnisse“, von denen der Bericht spricht, sind jedoch nicht auf diesen Aspekt eingrenzend. In diesem Dokument
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finden sich 17 große Ziele (siehe Abb. 1). Ein erster Blick bestätigt die Rolle der Ökologie als wichtigster, jedoch nicht alleiniger Aspekt; soziopolitische Dimensionen, Wirtschaft, Kultur und Bildung sind gleichfalls berücksichtigt. Abb. 1: Die Sustainable Development Goals
© Foto: UN Aus der Perspektive der Kulturellen Bildung betrachtet finden sich im UNDokument auf Anhieb Ziele, die gut mit Kultur und Bildung verbunden werden können, ja, die für die Kulturelle Bildung sogar eine herausragende Rolle spielen können. Darüber hinaus wird ebenso deutlich, dass die SDG gut zur Seoul-Agenda der UNESCO passen. Alle möglichen, dort erwähnten „heutigen Herausforderungen“ lassen sich schließlich unter der Überschrift „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zusammenfassen. Vor diesem Hintergrund können wir eine enge Beziehung zwischen den übergreifenden Zielen der UN und den Diskursen der Kulturellen Bildung, zumindest im Kontext der UNESCO, feststellen.
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SDG
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Wie dies konkret aussehen kann, zeigt der hier vorgeschlagene Rahmen (siehe Abb. 2). Für die Kulturelle Bildung unterscheidet dieser zwischen einer sozialen, einer ökonomischen und einer kunstspezifischen bzw. kulturellen Dimension (vgl. OʼFarrell/Ortiz/Wagner 2016: 43). Zwei dieser Dimensionen finden sich auch bei den Dimensionen der BNE: die soziale und die wirtschaftliche Dimension (vgl. z. B. UNESCO 2014: 33, 5.a). Interessant ist, dass die kulturelle Dimension in den meisten BNE-Dokumenten fehlt, dafür findet sich – erwartungsgemäß – eine zusätzliche Dimension: die ökologische. Auf der anderen Seite fehlt eben diese bei der Kulturellen Bildung (siehe Abb. 2). Viele der 17 SDG können mit diesen Dimensionen in Beziehung gesetzt werden, wobei jedes dieser SDG dann ein charakteristisches Profil im Hinblick auf diese vier Dimensionen entwickelt. So haben z. B. die SDG „Nachhaltiger Konsum“, „Produktion“ und „Siedlungen“ einen starken Bezug insbesondere zur Umweltdimension. Die SDG „Inklusion“, „Gleichheit“ und „Frieden“ können insbesondere auf die soziale Dimension bezogen werden. Dann gibt es vorrangig „kulturelle SDG“, wie z. B. „Bildung“, „kulturelle Vielfalt“, „Erbe“ und „Lebensstil“. Schließlich verweisen „Arbeit“, „Tourismus“ und „Innovation“ vor allem auf die wirtschaftliche Dimension (siehe Abb. 3). Abb. 2 und 3: Dimensionen in der Kulturellen Bildung und BNE; SDG mit der größten Relevanz für die Kulturelle Bildung
© Grafiken: Ernst Wagner
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B EISPIELE Diese Hintergründe zeigen, dass es – zumindest theoretisch – starke Brücken zwischen Kultureller Bildung und BNE gibt. Aber wie sieht die Praxis aus? Im Folgenden soll daher der vorgestellte Rahmen anhand von Beispielen kritisch untersucht werden. Dazu wurden 2016 Akteur*innen der Kulturellen Bildung aus verschiedenen Teilen der Welt, die meisten Mitglieder des INRAE, gebeten, Beispiele guter Praxis an der Schnittstelle Kultureller Bildung und BNE zu benennen. Beispiele: Zwischen Kontemplation und Agitation Indien Mousumi De, eine Kunstpädagogin aus Neu-Delhi, schildert das Beispiel von Jinan KB, einem Pädagogen aus Thrissur in Indien: „Nachdem er an einem der angesehensten Designinstitute Indiens studiert hatte, bevorzugte Jinan später alternative Ansätze. […] So moderiert er heute Workshops in ländlicher bzw. natürlicher Umgebung, bei denen Kinder ermutigt werden, auf freie, künstlerische Art selbstverantwortlich zu spielen und zu lernen. Durch solche Ansätze werden sie für die Natur sensibilisiert, indem sie sie beobachten, mit ihr spielen und Kunst aus ihr schaffen. Die Kinder nutzen dabei eine Vielzahl von Naturelementen, die sie in der Umgebung finden, wie z. B. Blumen, Blätter, Steine, Schlamm.“
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Abb. 4: Freies Spiel in und mit der Natur
© Foto: Jinan KB, Videostandbild (https://www.youtube.com/watch?v=BuEuSQ _m6o4)
Jinan hat mehrere Videos zu diesen Workshops veröffentlicht. Eines dieser Videos (siehe Abb. 4) zeigt einen Jungen, der im Regen steht und mehrere Minuten lang nichts anderes tut, als zu beobachten, was in einer Pfütze passiert. Es ist ein sehr ruhiges, ja stilles Video. Das wohl wichtigste Thema in dem kurzen Film ist, dass außer der Beobachtung von Regen „nichts passiert“, was unsere eigene Imagination in Gang setzt. Wir können uns sofort vorstellen, welche Erfahrungen dieser Junge macht. Es sind Erfahrungen mit der Natur, der Natur als ästhetischem Raum. Zusätzlich fällt in diesem Clip auf, dass es keine Interventionen von Erwachsenen gibt. Deren Aufgabe besteht ausschließlich darin, einen freien und sicheren Raum für das sinnliche Erleben der Kinder zu schaffen. Auf Jinans Website finden sich viele solcher Beispiele: Spielen mit Schuhen, Arrangieren von Farben, Gestalten mit getrockneten Blättern. Der Kerngedanke all dieser Ansätze ist, wie De erklärt, dass eine Lernumgebung geboten wird, die es ermöglicht, Natur zu beobachten, zu erleben, mit ihr zu interagieren und in sie einzutauchen und so eine Beziehung zu ihr, Respekt vor ihr zu entwickeln.
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Bei dem Versuch, dieses Beispiel mit dem vorgeschlagenen Rahmen der SDG in Verbindung (siehe Abb. 3) zu bringen, lässt sich zum einen ein klarer Bezug zur kulturellen Dimension (4.7 und 12.8 Lifestyle) herstellen, da es eine bestimmte Lebensweise auf der Grundlage einer bestimmten Wahrnehmung der Umwelt betont. Daneben gibt es keine „Beherrschung von Natur“ und keinen Abfall. Vielmehr öffnet die Natur/die Umgebung einen Raum für sinnliche Erfahrung. Damit wird Natur zu einem respektierten Resonanzraum. Demnach können wir das Beispiel auch der Umweltdimension (12 Consumption) zuordnen. Neuseeland Im Vergleich dazu hat das nun folgende Beispiel aus Neuseeland eine sehr klare, eindeutige und direkt adressierte Botschaft. Ralph Buck, vom Fachbereich Tanzpädagogik an der Universität von Auckland, schreibt dazu: „Mark Harvey, ein Tänzer, entwickelte diese Aufführung als Teil seiner MaledivenExodus-Karawan-Show. (Die Malediven stehen im Mittelpunkt, da Klimafragen vor allem tief liegende Länder wie die Malediven betreffen.) ‚Political Climate Wrestle‘, so der Name seines Projekts, war eine Live-Tanzperformance. Der ‚Wrestle‘ wurde von dem professionellen Tänzer aufgeführt. Er definierte zunächst einen Raum in einem Park und lud dann die Öffentlichkeit ein, mit ihm über Klimafragen körperlich zu ringen. Mark erklärte den Teilnehmern, dass er während des Ringens Fragen stellen und Fakten über den Klimawandel darlegen würde. Er lud den jeweiligen Mit-Ringer ein, mit seinem Körper und seiner Stimme zu antworten, um zuzustimmen oder abzulehnen. Jedes Ringen dauerte mehrere Minuten und zog Publikum an, das sich zum Teil in die Auseinandersetzung einmischte. Mark choreografierte den physischen Austausch und stellte sicher, dass es beim Ringen um Ideen ging und nicht um die andere Person.“
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Abb. 5: Der Ringkampf bei der 55. Biennale Venedig 2013
© Foto: Mark Harvey, Videostandbild (http://www.youtube.com/watch?v=ks9eK FgXX8o)
Ralph Buck sieht die Verbindung zwischen Kunst und BNE folgendermaßen: „Der Schwerpunkt liegt auf dem Klimawandel und darauf, wie Menschen mit dem Wissen über den Klimawandel und ihren Konsum, über Produktion von Gütern und Lebensstil interagieren. Die Veranstaltung nimmt den Begriff ‚Kampf gegen den Klimawandel‘ wörtlich und schärft so das Bewusstsein für den tatsächlichen Kampf, der erforderlich ist. Dabei geht die ‚Tanzaufführung‘ auch der Frage nach, was Frieden in diesem Zusammenhang bedeutet.“
Im Vergleich zum ersten Beispiel verschiebt sich hier die Zielgruppe von Kindern zu Erwachsenen und damit ändert sich auch die Methode der pädagogischen „Intervention“: Die Umweltdimension wird auf sehr direkte Weise angesprochen (siehe Abb. 3, SDG 4 und 12 Lifestyle). In beiden Fällen taucht das Publikum in spezifische Erfahrungen ein, jedoch in ganz unterschiedlicher Form, einmal in Natur, das andere Mal in eine avantgardistische Kunstform, die auch noch den Konflikt, nicht die Harmonie, im nun ungeschützten, offenen Raum thematisiert (siehe auch Abb. 3, SDG 16 Peace).
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Beispiele: Einzelpersonen und Gemeinschaften Israel Zwei weitere Beispiele bestätigen nochmals die Variationsbreite möglicher Brücken zwischen Kultureller Bildung und den SDG. Shifra Schonmann aus Israel schildert ein Beispiel, das sich auf ein einziges Mädchen konzentriert: Aliza, ein nach Israel eingewandertes, äthiopisches Mädchen. Dieses Mädchen hatte einen Brief an ihre Schauspiellehrerin Ruth geschrieben: „Liebe Lehrerin, mein Traum ist es, dass alle weißen Mädchen mich so nett behandeln, wie sie den Rest ihrer weißen Freunde behandeln […] mein Traum ist es, einen weißen Teint, blonde Haare und blaue Augen zu haben, damit alle weißen Kinder mit mir spielen […]. Mein Traum ist, dass jeder schwarze Äthiopier, der nach Israel kommt, weiß wird.“
Shifra Schonmann schreibt weiter: „Aus Alizas Brief erhob sich ein bitterer Schrei. Tief bewegt beschloss die Lehrerin, mit den Kindern gemeinsam ein Theaterstück zu schreiben. Dabei diente ‚Das hässliche Entlein‘, das Märchen von Andersen, als Ausgangspunkt. Das Ergebnis war ein bewegendes Dokument. Bei der Aufführung des Stücks übernahm dann Aliza die Rolle der Tante Clara, die eine dominierende Figur ist. Nach der Uraufführung führte Ruth ein Gespräch mit Aliza und fragte, wie sie sich fühlte. Aliza antwortete: ‚Ich stand vor dem Spiegel und schaute auf mein Spiegelbild, und dann wusste ich, dass Schwarz schön ist.‘ Theaterarbeit gilt als wirksames Mittel für kulturelle Begegnungen, bei der soziale und persönliche Themen inszeniert werden können. Die israelische Gesellschaft zeichnet sich durch ihre Multi-Ethnizität aus und beschäftigt sich deshalb mit Problemen von Akzeptanz und Toleranz zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen. Performatives Agieren ist immer ein physischer und konkreter Ausdruck einer Rolle, die Umsetzung von Gedanken und Gefühlen in symbolische Form. Die ‚Alsob‘-Situation ist nicht nur eine Frage des Versetzens in die Lage eines anderen, sie erfordert auch die Vermeidung von Stereotypen. Wenn Schüler*innen Theater spielen, sind sie aktiv daran beteiligt, neue Denk- und Handlungsweisen zu erlernen. Das Hauptpotenzial des Schultheaters liegt in dieser Begegnung zwischen persönlichen
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und sozialen Bedürfnissen, zwischen Logik und Ästhetik, zwischen harter Arbeit und Vergnügen.“
Dieses Beispiel befasst sich vor allem mit der sozialen und kulturellen Dimension (siehe Abb. 3, SDG 10 und 16 Inclusion sowie 4.7 Diversity). Es nutzt die Kulturelle Bildung als Instrument, das jeder*m Einzelnen hilft, Selbstvertrauen zu entwickeln – eine Voraussetzung für eine integrative, inklusive Entwicklung in Gruppen. Die Lernenden erwerben diese Fähigkeiten, die die Basis für die Förderung von Inklusion, einer Kultur der Gewaltlosigkeit sowie kulturelle Vielfalt bilden. Korea Um vom Empowerment eines einzelnen Mädchens zum Empowerment eines ganzen Dorfs zu gelangen, genügt ein Blick zu einem Beispiel aus Korea, das Serin Kim Hong lieferte: „Im Jahr 2011 gab es eine Schule auf der kleinen koreanischen Insel Kajo-do mit etwa 1200 Einwohner*innen. Die Schule hatte nur 36 Schüler*innen und stand kurz vor der Schließung. Aber die Gemeinde bemühte sich, die Schule zu erhalten. Dafür nahm sie am ‚Kunst-Blumen-Samen-Schulprojekt‘ teil, das kleinen Schulen in ländlichen Gegenden die Mittel an die Hand gibt, Kunst und kulturelle Aktivitäten zu ‚pflanzen‘. Die Schule konnte damit zwei Künstler*innen einstellen, die Flöte, Klarinette, Saxophon, Keyboard und Gitarre unterrichteten und schließlich ein einzigartiges Ensemble, das ‚Dream Notes Ensemble‘, aufbauten. Durch Musikunterricht, Übung und Geduld konnten die Schüler*innen schöne Harmonien schaffen und lernen, wie man ein*e wahre*r Musikliebhaber*in wird.“
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Abb. 6: Eine Musikstunde in Kajo-do
© Foto: Serin Kim Hong
Das Dream Notes Ensemble trat regelmäßig in einem lokalen Gemeindezentrum auf. Es wurde auch zu Festivals eingeladen, was schließlich dazu führte, dass es bald Familien gab, die auf die Insel zogen, nur um ihre Kinder in diese Schule zu schicken. Die Zahl der Schüler*innen stieg auf über 80, die Insel ist nicht mehr isoliert und nicht nur die Zahl der Bewohner*innen, sondern auch die der Besucher*innen ist gestiegen. Serin Kim Hong: „Die Kinder zu inspirieren, war durch die Unterstützung und die Hingabe der Musiklehrer, der Verwaltungsangestellten und der Gemeinde möglich. Ihre harte Arbeit zeugt von Widerstandsfähigkeit und nachhaltiger Entwicklung für ihre Gemeinde. Die Nutznießer*innen des Projekts waren nicht nur die Schüler*innen des Ensembles, sondern die ganze Gemeinde.“
Der Exodus von der Insel stoppte, die Gemeinschaft gewann kollektives Vertrauen und ein Bewusstsein von Selbstwirksamkeit. Damit sind in diesem Projekt alle Dimensionen des SDG-Rasters angesprochen (vor allem jedoch 11 Settlement, 9.6 Work, 8.9 Tourism und 4.7 Heritage, siehe Abb. 3).
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Beispiele: Von Erfahrungen über Fähigkeiten und Kenntnissen zu Einstellungen Kanada Ben Bolden, der an der Queens University in Kingston, Ontario/Kanada, lehrt, stellt das Beispiel der HʼArt School in seiner Stadt vor. Die Schule wurde 1998 als gemeinnütziges Kunstzentrum gegründet, das Menschen mit Behinderung und Menschen, die mit Hindernissen konfrontiert sind, die Möglichkeit bietet, gemeinsam kreativ zu werden. Professionelle Künstler*innen und Pädagog*innen arbeiten mit den Teilnehmer*innen zusammen, um Kunst, Musik, Theater und Tanzaufführungen zu produzieren. Das Programm bietet den Schüler*innen aber auch die Möglichkeit, ihre Leseund Schreibfähigkeiten sowie soziale Fähigkeiten zu entwickeln, während sie Kunst ausüben und genießen. Abb. 7 bis 9: Gelebte Inklusion an der HʼArt School mit Kunst und Kultur
© Fotos: HʼArt School, Screenshot (https://www.hartcentre.ca)
Mit den Schwerpunkten Inklusion und öffentliches Engagement hat die Schule in der Zwischenzeit mehr als 15 000 Menschen mit Behinderung an ihre kreativen Fähigkeiten herangeführt. Die Teilnehmer*innen der HʼArt School haben Ausstellungen mit ihren Kunstwerken organisiert, Musicals aufgeführt, ihre sozialen Fähigkeiten und ihre Fitness durch Tanz verbessert, Musik und Theaterstücke mitgeschrieben, digitale Tools erlernt und Kinderbücher geschrieben sowie illustriert. Ben Bolden: „Menschen mit Behinderung haben das Recht, sich auszudrücken, ihr Leben zu genießen, zusammenzuleben und gemeinsam etwas zu schaffen – aber sie haben oft nur begrenzte Möglichkeiten. So hat unsere Gemeinde einen Raum geschaffen, in dem diese Menschen ihre kreativen Fähigkeiten entwickeln und mit allen anderen aus der Gemeinde interagieren und Kunst genießen können. Alle sollen in der Lage sein, Inklusion und Vielfalt als Reichtum zu sehen.“
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Die HʼArt-Programme vermitteln marginalisierten Mitgliedern der Gesellschaft Erfahrungen, die ihrem Leben und dem Leben derer, die mit ihnen arbeiten, Freude und Sinn verleihen, so Ben Bolden. Dementsprechend fördert die HʼArt-Schule das Wohlergehen aller durch eine inklusive und lebenslange Bildung auf hohem Niveau, womit vor allem die SDG 16 Inclusion und 4.7 Diversity angesprochen sind. Australien Susan Davis, Senior Lecturer an der Central Queensland University in Australien, macht wiederum auf einen ganz anderen Schwerpunkt eines Projekts aufmerksam: Grundschulen arbeiteten hier mit dem Kunst- und Umweltprogramm „TreeLine“ zusammen. Dabei erfuhren die Schüler*innen über das Sammeln von Informationen über wichtige Bäume ihrer Gegend (siehe Abb. 10) vor allem auch lokale Geschichten der Ureinwohner*innen. Auf dieser Grundlage erstellten sie Zeichnungen, Fotos, Videoclips, Theaterstücke sowie eine interaktive Karte (siehe Abb. 11 und 12). Die Schüler*innen setzten sich so intensiv und multimedial mit ihrer Umwelt auseinander, wobei sie ihre Ergebnisse über das Internet austauschten. Abb. 10 bis 11: Ergebnisse der Beobachtungen von Grundschüler*innen
© Fotos: Susan Davis
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Susan Davis schreibt: „Der Umgang mit Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen wie dem Klimawandel kann für Kinder zu komplex oder zu abstrakt sein. Daher ermutigen wir Schüler*innen, sich mit einem bestimmten Ort zu ‚verbinden‘. Die Konzentration auf Bäume in unserem Fall ist ein einfacher, aber effektiver Weg, dies zu tun. Andererseits ist es wichtig, dass die Schüler*innen Interaktionen mit ihrer lokalen Umgebung haben sowie Möglichkeiten, selbst Geschichten über ihren jeweiligen Baum erzählen. […] Einige Schüler*innen signalisierten dann in unserer Begleituntersuchung tatsächlich deutliche Veränderungen in ihren Einstellungen. Und was die Untersuchung auch gezeigt hat, ist der Wert kunstbasierter Aktivitäten, um einen guten Rahmen für die Auseinandersetzung mit Umweltthemen zu schaffen. Die Konzentration auf lokale Bäume, künstlerische Prozesse und Erfahrungen im Freien boten den Schüler*innen so die Möglichkeit, sich wirklich zu engagieren.“
Dieses Beispiel zeigt, wie ein Bewusstsein für Phänomene in der Natur geweckt werden kann – für alltägliche Phänomene wie z. B. Bäume. Die Bäume in der durch den Klimawandel bedrohten Region Australiens werden hier auf ihre ökologische Bedeutung, ihr ästhetisches Erscheinungsbild und vor allem auch auf ihre kulturelle Funktion für die indigene Bevölkerung sowie die heutige Gesellschaft untersucht. Als Teil des lokalen Kulturund Naturerbes sind sie damit Beispiele für kulturelle und natürliche Vielfalt. Die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken, zielt auch darauf ab, sie zu schützen, wodurch vor allem die ökologische und die kulturelle Dimension der SDG angesprochen sind (siehe Abb. 3). Beispiele: Zwischen kulturellem Erbe und zeitgenössischer Kunst Brasilien Ailtom Gobira, Schriftsteller und Aktivist aus Brasilien, schildert ein Beispiel aus Belo Horizonte. Dort kommen Kinder und ältere Menschen in Kulturzentren, die über die ganze Stadt verteilt sind und die oft in Favelas (Slums) leben, in einem sicheren, gewaltfreien Raum zusammen. Die Teilnehmer*innen, Laien und Profis, sind zwischen zwölf und 80 Jahre alt. Hier teilen sie ihr Wissen, ihre Fähigkeiten, ihre Kultur miteinander und werden gemeinsam gestalterisch tätig.
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Abb. 12 und 13: Im Kulturzentrum in Belo Horizonte/Brasilien bauen Jung und Alt ihre zerstörten Häuser als Modelle nach
© Fotos: Ailtom Gobira, Ernst Wagner Die beiden Bilder zeigen Menschen aus einer der Favelas in Belo Horizonte, die durch einen Immobilienboom zerstört wurde (siehe Abb. 13). Die aus ihrer Siedlung Vertriebenen erstellten in diesem Projekt Modelle ihrer ehemaligen Häuser, wobei sie dafür den Lehm vom selben Ort verwendeten. Dabei rekonstruierten sie sinnlich den verlorenen Kontext (und somit ihre verlorene Lebensweise) in gemeinsamer, kreativer Aktion, begleitet von Erzählungen. Wir können uns die Geschichten vorstellen, die die Beteiligten während ihrer Zusammenarbeit austauschten, und den Stolz, als sie ihr Modell auf einer großen öffentlichen Tagung in der Stadt präsentierten (siehe Abb. 14). In den Kulturzentren der Stadt gibt es ganz unterschiedliche Kurse, etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – auch zu Capoeira, einer brasilianischen Kampfkunst, die von westafrikanischen Sklaven ab dem 16. Jahrhundert entwickelt wurde und eine Verbindung von Tanz, Akrobatik und Musik ist. Auch hier beziehen sich also die Aktivitäten auf das kulturelle Gedächtnis, das – wieder generationenübergreifend – wertgeschätzt und weitergegeben wird, wobei das Erbe hier als hybrides, transkulturelles Erbe verstanden wird. Damit ist in diesem Beispiel die kulturelle Dimension (siehe Abb. 3, SDG 11.4 Heritage und 4.7 Diversity) sicherlich die stärkste, aber nicht die einzige Dimension. Der Ansatz kann sicher auch als Beitrag zu Inklusion (SDG 16) und zu nachhaltigen Siedlungen (SDG 11) verstanden werden, insbesondere wenn z. B. die Teilnehmer*innen ihre Ergebnisse im öffentlichen, das heißt im politischen Raum zeigen.
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Ägypten Samia Elsheikh, Professorin für Kunstpädagogik an der Helwan-Universität, präsentiert ein ähnliches und zugleich ganz anderes Projekt. Initiiert vom Künstler Abd Elmohsin vor sechs Jahren, bringt dieser seitdem jährlich eine kleine Gemeinde in Ägypten mit Künstler*innen aus der ganzen Welt zusammen. Das Projekt findet in einer armen Fischergemeinde am BurullusSee, einem Brackwassersee im Nildelta, statt. Abd Elmohsen lädt internationale Künstler*innen dorthin ein, Wandgemälde im öffentlichen Raum zu realisieren. Doch auch die Kinder und Frauen der Gemeinde werden bei dieser Gelegenheit eingeladen, ihre eigenen Häuser zu gestalten. Abb. 14 und 15: Frauen und Kinder aus Burullus/Ägypten verleihen ihren Häusern einen künstlerischen „Anstrich“
© Fotos: Samia Elsheikh
Samia Elsheikh erklärt, wie wichtig es für die Menschen aus dieser Gemeinde ist, Künstler*innen aus unterschiedlichen Kulturen zu treffen und so ein Verständnis für Kunst aus anderen Teilen der Welt zu gewinnen. Dabei übertragen sie ihre Erfahrungen in die eigene kreative Tätigkeit, sie lernen zu malen und sie treffen sich, um gemeinsam Kunst zu machen (siehe Abb. 15 und 16). Mit diesen Fähigkeiten verwandeln sie den öffentlichen Raum ihres Dorfs in attraktive, schöne Orte. Sie übernehmen aber auch Verantwortung für ihre eigene Umgebung, was den Lebensstil in ihrer Gemeinschaft
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und ihrer Siedlung beeinflusst. Das führt schließlich auch zu wirtschaftlichen Vorteilen, indem etwa Tourist*innen angezogen werden, womit über die SDG 11 Settlement und 4.7 Lifestyle auch die ökonomische Dimension (8.9 Tourism) angesprochen ist. Kolumbien Nach dem brasilianischen Beispiel, mit dem Fokus auf Erbe, Erinnerung und kollektive Identität, sowie dem ägyptischen Projekt, das künstlerische Interventionen in den öffentlichen Raum bringt, konzentriert sich das folgende Projekt auf zeitgenössischen Avantgarde-Tanz. Gloria Zapata Restrepo, Musikpädagogin an der Juan-N.-Corpas-Universität in Bogotá, berichtet von „The College of the Body“ („el Colegio del Cuerpo“ – eCdC). Abb. 16: Tanzperformance
© Foto: eCdC
Die Schule arbeitet z. B. in öffentlichen Schulen mit dem Programm „My Body – My House“, in dem der Umgang mit dem eigenen Körper als wichtiger Beitrag zur Friedenserziehung gesehen wird. Selbstverantwortung, Selbstvertrauen, Selbstwert und Disziplin gelten dabei als wichtige Voraussetzungen. „Das Projekt wurde schon 1997 gegründet, damit Jugendliche sich den expressiven und künstlerischen Dimensionen des menschlichen Körpers durch zeitgenössischen Tanz annähern können. Das eröffnet die Möglichkeit zur Entwicklung einer neuen Ethik des menschlichen Körpers, die unlösbar mit ästhetischer und künstlerischer Suche und gleichzeitig mit den aktuellen kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragen verbunden ist.“ (eCdC o. J.: o. S.)
Auf diese Weise betont das Programm vor allem die soziale Dimension (SDG 10 und 16 Inclusion und Peace). Die Schaffung eines friedlichen
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Raums für künstlerische Erfahrungen mit Studierenden aus verschiedenen sozialen Schichten findet in einem Land statt, das im Global Peace Index 2016 auf Platz 147 von 163 rangierte. Deshalb betont Gloria Zapata Restrepo auch diesen Aspekt besonders. Darüber hinaus kann die Tanzausbildung aber auch Chancen für Jobs in einer Kunstform eröffnen, die sich als Teil des kulturellen Erbes versteht (SDG 11.4 Heritage und 8.6 Work). Beispiele: Zwischen ökonomischem Empowerment und nachhaltigen Konsum Kenia Zwei letzte Projekte eröffnen nochmals eine ganz andere Dimension. Dabei weist eines davon, nominiert von Emily Akuno, Musikpädagogin von der Technischen Universität von Nairobi/Kenia, durchaus noch einige Ähnlichkeiten mit dem zuvor genannten aus Kolumbien auf: „‚Ghetto Classics‘ bietet jungen Menschen Musikunterricht in Korogocho, einem Slum in Nairobi. Die Kinder und Jugendlichen lernen westliche klassische Musikinstrumente und führen dann Musik z. B. von Beethoven oder Mozart für ein Publikum in ganz verschiedenen Kontexten auf.“
Dies, so Emily Akuno, führe nicht nur zu persönlichen Erfolgserlebnissen, sondern eröffne auch echte Beschäftigungschancen, da die Teilnehmer*innen Selbstverantwortung, Selbstvertrauen, Selbstwert und persönliche Disziplin entwickeln.
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Abb. 17: Mozart im Slum von Nairobi/Kenia eröffnet neue Perspektiven
© Foto: Emily Akuno
In diesem Projekt lernen die Jugendlichen eine für sie fremde (westliche klassische) Musik, die als Teil eines globalen kulturellen Erbes verstanden wird. Ihre Ausbildung zu Musiker*innen macht den sozio-ökonomischen Schwerpunkt neben dem kulturellen deutlich: Das Projekt eröffnet den Jugendlichen nicht nur Zugangsmöglichkeiten zu Jobs, sondern auch eine gewaltfreie, friedliche Zusammenarbeit in einem Slum – gerade auch zwischen den Geschlechtern. Deutschland Dagegen setzt das von Karola Braun-Wanke von der Freien Universität Berlin vorgestellte Projekt „ART TO STAY – Have a break. Genießen Sie Ihren Kaffee“ auf die Frage des Konsumverhaltens. Dieses Projekt greift den Trend des Coffee to go auf, der riesige Mengen an Abfall produziert. In 150 Interviews und teilnehmenden Beobachtungen fanden die Teilnehmer*innen ein spezifisches Muster der Selbststilisierung der „To-goKonsument*innen“: Sie benötigen einen bestimmten Habitus, um sich als modern, hip, aktiv, jung und wichtig darzustellen. Im Projekt wurde dies
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nun auf den Kopf gestellt, um Verweilen und „Genuss in vollen Zügen“ zu fördern: von „Kaffee zum Mitnehmen“ zu „Kunst zum Verweilen“. Vor der Kantine der Uni entstanden drei Installationen: ein Fotostudio, ein Museum für Porzellantassen und eine große Skulptur aus Einwegbechern. Die Student*innen, die vorbeikamen, wurden eingeladen, eine Porzellantasse aus dem Tassenmuseum zu wählen, im Fotoatelier damit einen Kaffee zu trinken und sich als „Kaffeeliebhaber*innen“ fotografieren zu lassen. Abb. 18 bis 20: Bilder der Kaffeeliebhaber*innen im Kontrast zum Tassenmüllberg
© Fotos: Susanne Wehr, SUSTAIN IT!, Freie Universität Berlin
Auf diese Weise wird ein verbreitetes Verhalten mit negativen Umweltfolgen angesprochen, ohne jedoch moralisierend oder fordernd aufzutreten. Vielmehr werden die Teilnehmer*innen zu einer lustvollen, alternativen Erfahrung eingeladen, in der Hoffnung auf eine Änderung ihres Lebensstils.
S CHLUSSFOLGERUNG Die soeben vorgestellten Beispiele wurden von internationalen Expert*innen nominiert, da es sich aus deren Sicht und Überzeugung um besonders gute, modellhafte Beispiele von BNE in der Kulturellen Bildung handelt. Die oben geführte Untersuchung auf die jeweilige Beziehung zu den SDG hin lässt eine erste Systematisierung im Hinblick auf den Input wie den Outcome zu.
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Inhalt/Input Abb. 21: Vergleich von vier ausgewählten Projekten im Hinblick auf die Dimensionen der SDG
© Grafik: Ernst Wagner
Der Vergleich dieser Bezüge, exemplarisch hier an vier Beispielen aus Brasilien, Indien, Kenia und Neuseeland veranschaulicht, zeigt klare Unterschiede des jeweiligen inhaltlichen Profils. Die brasilianischen, breit aufgestellten Kulturzentren z. B. decken viele Dimensionen ab, während ein fokussiertes Projekt wie das indische selektiver ist. Andererseits können auch künstlerisch komplexe Interventionen wie das „Ringen“ aus Neuseeland viele verschiedene Dimensionen ansprechen. Wichtig ist, dass jedes Profil von einer spezifischen Kombination verschiedener Dimensionen bestimmt wird – ein Hinweis auf die Komplexität, Hybridität, aber auch auf die „Unschärfe“ der Vorhaben, die vermutlich typisch für Ansätze der Kulturellen Bildung sind – im Gegensatz etwa zu wissenschaftlichen Ansätzen. Die zweite Beobachtung ist, dass fast alle Dimensionen, die zu Beginn aus rein theoretischen Überlegungen festgelegt wurden, bereits in diesen vier Beispielen angesprochen werden. Nur das Thema Tourismus ist hier
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nicht vertreten (jedoch indirekt in Korea und Ägypten), eine Dimension, die wir in der Kulturellen Bildung (zumindest im deutschsprachigen Raum) auch sonst meist vernachlässigen. Ergebnis/Outcome Um die Frage nach den intendierten Ergebnissen der Vorhaben zu klären, ist die Anwendung eines Kompetenzmodells mit vier Kompetenzdimensionen, basierend auf einer Analyse von Kunstlehrplänen weltweit (vgl. Kirchner/Haanstra 2016), hilfreich. Diese Analyse hat gezeigt, dass nahezu alle Curricula mit vier Kompetenzdimensionen arbeiten: Verstehen, Kommunizieren, Gestalten und Beurteilen. Mit diesem Modell können wir auch die genannten Beispiele genauer untersuchen. Abb. 22: Vier Kompetenzdimensionen zur Einschätzung von Projekten der Kulturellen Bildung
© Grafik: Ernst Wagner
In dem brasilianischen Projekt geht es offensichtlich vor allem um Gestalten und Kommunizieren, während das Beispiel aus Kenia wiederum das künstlerische Schaffen fokussiert. Auf der anderen Seite adressiert das Beispiel aus Indien vor allem das Verstehen und im neuseeländischen Beispiel
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geht es hauptsächlich um Kritisieren und Kommunizieren. Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Material könnte zu einem begründeten und ausdifferenzierten Kompetenzmodell führen, was hier nicht geleistet werden kann. Wichtig erscheint, dass auf alle Fälle bestimmte Formen des Wissens und charakteristische Einstellungen (wie z. B. die Bereitschaft zum Handeln) ergänzt werden müssten. Ein solches Kompetenzmodell wäre für eine systematische Entwicklung der Kulturellen Bildung – auch in Deutschland – von großer Bedeutung.
L ITERATUR eCdC (el Colegio del Cuerpo) (o. J.): Das Progamm el Colegio del Cuerpo. http://elcolegiodelcuerpo.org [Zugriff: 20. März 2017]. Kirchner, Constanze/Haanstra, Folkert (2016): Expertenbefragung zu Lehrplänen in Europa. In: Wagner, Ernst/Schönau, Diederik (Hrsg.) (2016): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für visuelle Kompetenz – Prototyp. Münster/New York: Waxmann, S. 191-203. Lindström, Lars (2012): Ästhetisches Lernen über, in, mit und durch die Künste: Eine Lehrplanstudie. In: Internationale Zeitschrift für Kunstund Designausbildung 31 (2). DOI: 10.1111/j.1476-8070.2012.01737.x, S. 7-16. OʼFarrell, Larry/Ortiz, Leonardo Garzon/Wagner, Ernst (2016): Die Erfahrung von Bogotá: Vorprüfung vorgeschlagener Dimensionen für die Evaluation von Kunsterziehung. In: Internationales Jahrbuch für Forschung in Kultureller Bildung, Bd. 4. Münster/New York: Waxmann, S. 41-53. UN (Vereinte Nationen) (1987): Unsere gemeinsame Zukunft. Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. http://www.un-docu ments.net/our-common-future.pdf [Zugriff: 05.06.2020]. UN (Vereinte Nationen) (2015): Unsere Welt verändern: die Agenda für nachhaltige Entwicklung bis 2030. http://www.un.org/sustainable development/sustainable-development-goals [Zugriff: 05.06.2020]. UNESCO (2010): Die Agenda von Seoul: Ziele für die Entwicklung der Kunsterziehung. http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/creativity/ arts-education/official-texts/development-goals [Zugriff: 05.06.2020].
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UNESCO (2014): Fahrplan für die Umsetzung des Globalen Aktionsprogramms zur Bildung für nachhaltige Entwicklung. Paris: Eigenverlag. Wagner, Ernst/Schönau, Diederik (Hrsg.) (2016): Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für visuelle Kompetenz – Prototyp. Münster/New York: Waxmann.
Kulturelle Bildung für den sozialen Zusammenhalt? Zur Funktionalisierung der Ästhetik in einer Gesellschaft der Gegensätze P ETER T IEDEKEN
S YSTEMRELEVANTE K ULTUR ALS SOZIALER K ITT FÜR EINE KRISENHAFTE G ESELLSCHAFT . O DER : D AS KULTURELLE P REKARIAT FORDERT DIE A NERKENNUNG IHRER D IENSTE 2020 ist gekennzeichnet durch eine globale, alles erschütternde Krise. Das, was vor einem Jahr noch der Plot eines Katastrophenfilms hätte sein können, ist nun wirklich eingetreten. Das hochinfektiöse und nicht selten tödlich verlaufende Virus Covid-19 hat sich weltweit ausgebreitet und veranlasst die Regierungen zu einem noch nie dagewesenen Shutdown. Die damit einhergehende Beschränkung der Sozialkontakte soll den Risiken einer volksgesundheitlichen Gefährdung bestmöglich entgegenwirken. Doch ohne weitreichende Konsequenzen sind die staatlich dekretierten Sicherheitsmaßnahmen nicht zu haben: Nicht bloß das alltägliche Zusammenleben ist massiv beeinträchtigt, besonders zu schaffen macht den Menschen die weitreichende Stilllegung des wirtschaftlichen Sektors. Für einen erheblichen Anteil der Bevölkerung entfällt infolge der Beschränkungen die Gelegenheit zum Geldverdienen. Diese Situation belastet insbesondere den Kulturbetrieb, der mit seinen Dienstleistungen nicht einfach auf digitale Formate
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umstellen kann, sondern überwiegend auf ein präsentes Publikum angewiesen bleibt. Vor dem Hintergrund dieser existenzbedrohenden Notlage wenden sich die Kulturschaffenden nun verstärkt an die Politik und fordern den Staat dazu auf, kompensatorisch einzuspringen und finanzielle Unterstützung zu leisten. Dabei fällt auf, dass die Kulturschaffenden in den veröffentlichten Petitionen zwar immer auf ihre prekäre Lage hinweisen, ihre Forderungen damit jedoch gar nicht begründet sein sollen – selbstbewusst stellen sie sich in den Dienst höherer Werte und betonen den gesamtgesellschaftlichen Nutzen ihrer kreativen Leistungen. „Kultur ist systemrelevant“ (von Dobschütz 2020: o. S.) lautet z. B. die übergeordnete Begründung der Petition „Kulturprämie – für das Überleben von Kunst und Kultur nach der Corona-Krise“. Auch die Petition „Hilfen für Freiberufler und Künstler während des #Corona-Shutdowns“ bekräftigt das gesellschaftliche Interesse an Kunst und Kultur und sieht „die Überlebensfähigkeit derjenigen in akuter Gefahr, die diesen geistigen Boden für die innere Überlebensfähigkeit tagtäglich beackern und bereiten!“ (Erler 2020: o. S.). Auf diese Hilferufe reagiert der Staat mit länderspezifischen Soforthilfeprogrammen, welche die Nöte der Kulturschaffenden zwar nur kurzfristig abmildern, wohl aber die Kultur als einen erhaltungswürdigen Funktionsträger auszeichnen. Spiegelbildlich zu den Forderungen der Kulturschaffenden äußert sich auch die Politik zur gesellschaftlichen Bedeutung von Kunst und Kultur. Gerade in Zeiten der Krise sei die „Kultur […] der Kitt unserer Gesellschaft“ (Streichert-Clivot 2020: o. S.) und „die Kunst eine unverzichtbare Stimme im gesellschaftlichen Miteinander“ (Pfeiffer-Poensgen 2020: o. S.). Doch wieso ist das „gesellschaftliche Miteinander“ eigentlich auf einen Kulturbetrieb angewiesen, der kontinuierlich den sozialen Zusammenhalt heraufbeschwört und diesen auch entsprechend betreut? Und wie stellt sich die Kulturelle Bildung zu einer solchen Politisierung der Kunst?
H EITMEYERS K ONZEPT ZUM SOZIALEN Z USAMMENHALT . O DER : F UNKTIONSANLEITUNG FÜR EINE G ESELLSCHAFT DER G EGENSÄTZE Die Frage nach dem sozialen Zusammenhalt wurde in den 1990er Jahren verstärkt von der Wissenschaft aufgegriffen und in einen eigenständigen soziologischen Diskurs überführt. Als prominentester Vertreter ist hier
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sicherlich Wilhelm Heitmeyer zu nennen, der mit seinen Standardwerken „Was treibt die Gesellschaft auseinander“ (1997a) und „Was hält die Gesellschaft zusammen“ (1997b) eine theoretische Konzeption des Begriffs vorgelegt hat. In diesen Arbeiten bezieht sich Heitmeyer immer wieder auf das Individualisierungstheorem von Ulrich Beck (vgl. 1986). Während Beck jedoch die Individualisierung zuallererst als ein gesellschaftliches Anforderungsprofil bespricht, das den Subjekten im Zuge ihrer gewonnenen Freiheit einiges an Selbsthervorbringung, Flexibilität und Frustrationstoleranz abverlangt, um sich so vor dem eigenverantwortlichen Scheitern zu schützen (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1994: 14f.), tauchen bei Heitmeyer diese individuellen Zumutungen nur noch in sehr abstrakter Form auf. Becks Kritik am „Individualisierungszwang“ (ebd.) übersetzt er in eine Art soziales Bindungsproblem, das die kapitalistische Gesellschaft aufgrund expandierender Freiräume zunehmend mit ihren Individuen bekommt. Sorgeobjekt ist damit nicht länger das überforderte Subjekt, sondern die gesellschaftliche Funktion, die seinem freien Willen zugesprochen wird. „Die Individualisierung ermöglicht Entscheidungsfreiräume, die sich u. a. als Subjektivierung von Werten und Normen, Enttraditionalisierung etc. ausweisen; die strukturell im Kapitalismus verankerte Konkurrenz- und Verwertungslogik hingegen erzwingt zunehmend utilitaristisch-kalkulatives Verhalten, sodass die Möglichkeitsräume ungebremst ausgefüllt werden. […] Die durch Individualisierung erworbenen neuen Verhaltensweisen kollidieren mit den durch die reaktualisierten alten sozialen Fragen notwendig gewordenen Verhaltensweisen kollektiven Handelns und der Solidarität.“ (Heitmeyer 1997c: 11)
Den hier beschriebenen Werteverfall betrachtet Heitmeyer als große Gefahr für die bestehende Gesellschaft. Kritisiert wird die Freiheit des Individuums hier vom Standpunkt der gemeinschaftsstiftenden Funktion. Dabei werden vor allem die selbstbezüglichen, egoistischen Verhaltensweisen der Menschen problematisiert, die sich im Kontext einer kapitalistischen Vergleichsund Konkurrenzlogik einstellen würden. Heitmeyer kritisiert die Verhältnisse also vor allem dafür, dass sie nolens volens zu einem moralischen Verfall der Subjekte führen würden. Diese These verwundert, da er die Notwendigkeit der höheren Werte (Solidarität) ebenfalls aus den Verhältnissen ableitet. Damit leistet sich Heitmeyer den Widerspruch, die Entwicklung
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utilitaristischer Werte als einen strukturellen Sachzwang zu bestimmen, aber zugleich für solidarische Werte zu werben, deren Bedarf er gerade den kritisierten Verhältnissen entnimmt. Dies lässt ihn jedoch weder an den Werten noch an den problematischen Verhältnissen zweifeln. Im Gegenteil: Heitmeyers negative Zeitdiagnose, die er als eine Art Verschlimmerungsspirale bis hin zur „Auflösung des Sozialen“ (ebd.) entwirft, hebt ab vom Standpunkt der Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. „Das krisendurchschüttelte 19. Jahrhundert drängte den Gründervätern der Sozialwissenschaften die Einsicht auf, dass gesellschaftliche Umbrüche und Strukturwandlungen den Zusammenhalt einer Gesellschaft in hohem Maße gefährden können.“ (Ebd.: 9)
Die damit angesprochenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse fasst Heitmeyer dabei als „Desintegrationsbewegungen“ (ebd.: 11) zusammen. „Desintegration“ als eine rein negativ gefasste Ordnungskategorie integriert bei ihm verschiedene gesellschaftliche Phänomene unter einem übergeordneten Gesichtspunkt: Es handelt sich um Vorgänge, die die gesellschaftliche Stabilität bedrohen. So entdeckt er fortlaufend die Gefahr, die Subjekte könnten außer Kontrolle geraten, wenn sie mit den Anforderungen eines „entfesselten Kapitalismus“ (ebd.) oder „der Konkurrenz“ (ebd.) nicht mehr zurechtkommen: „Das Bedrohliche an diesen Krisenerscheinungen ist die Zunahme von politischen, sozialen und individuellen Zerstörungen, die angesichts des Wandlungsdrucks irreparabel werden, mithin die Aggressions- und Gewaltraten in unkalkulierbaren Schüben vergrößern lassen.“ (Ebd.: 12)
Die beobachteten Anomien lassen Heitmeyer an der Verlässlichkeit der gesellschaftlichen Bindungsinstrumente zweifeln. Mit den Belastungen der Individualisierung, denen die Subjekte zunehmend ausgesetzt sind, würden auch die Ansprüche an die institutionelle Aufsicht wachsen: „Es bedarf vielmehr institutionalisierter, gefestigter assoziierender Bedingungen, d. h., es bedarf intermediärer, konkreter: sozialstruktureller Verhältnisse, die die praktische Umsetzung von Werten und Normen sichern. Solche Bedingungen und unterstützende Instanzen auf der gesellschaftlichen Ebene können aus Organisationen,
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Institutionen, oder aus sozialen Formationen (Milieus, feste Gruppenbeziehungen) etc. bestehen. Ihre kohäsive Funktion erfüllen sie, indem sie die Entfaltung und Realisierung von normativen Standards (Solidarität, Berücksichtigung von Interessen anderer, Befolgung rechtsstaatlicher Übereinkünfte etc.) sichern und einigermaßen absehbar machen.“ (Heitmeyer et al. 1997: 49)
So richtig gesichert wäre der soziale Zusammenhalt also erst, wenn die Entfaltung gesellschaftlicher Bindungskräfte institutionell betreut und entsprechend verwaltet wird. Heitmeyer idealisiert damit eine Gesellschaft, die über die notwendigen Hebel verfügt, das Subjekt mit den richtigen Werten auszustatten, damit es den wachsenden gesellschaftlichen Anforderungen verantwortungsbewusst gegenübertritt. Die institutionalisierte Wertevermittlung soll das Subjekt also systematisch zu „normativen Standards“ erziehen, damit es aus eigener Einsicht seine Interessen an den konkurrierenden Interessen der anderen relativiert. Der Ertrag dieser Wertevermittlung geht schlussendlich darin auf, die beklagten gesellschaftlichen Missstände – Massenarbeitslosigkeit und Armut werden genannt – um eine falsche Deutung ihrer selbst zu ergänzen: Normative Standards werden als Mittel gegen die beschädigten Interessen angepriesen, womit ausgerechnet das „ungezügelte Interesse“ der Beschädigten zum Problemfall erklärt wird. Das Konzept zum sozialen Zusammenhalt entfaltet sich damit als defizitorientierte Affirmation von Herrschaftsstrukturen. Dialektisch ausgedrückt: Das Subjekt ist demnach angewiesen auf eine übergeordnete Instanz, die ihm bei der Internalisierung eines verzichtsbereiten Gemeinschaftsideals behilflich ist. Heitmeyer selbst möchte sein Konzept jedoch keineswegs als Beitrag zur Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen verstanden wissen, sondern kritisiert zugleich ein gesellschaftliches System, das auf „staatlicher Gewalt und Repression, Konformitätsdruck, Rigidität, Ritualismus etc. basiert“ (Heitmeyer 1997d: 26). Er vertritt also keinen botmäßigen Unterordnungsstandpunkt, sondern erklärt den Mangel an Einbindung in die Gesellschaft zur eigentlichen Belastung der Subjekte. Deren Schädigungen fasst er als „kollektive Desorientierung“ (ebd. 1997a: 11) zusammen; ein Zustand, der die Subjekte in eine Art Sinnkrise stürzen würde. Die institutionelle Vermittlung gesellschaftlich notwendiger Werte wird so zu einem Dienst am Subjekt, sodass in der Theorie Individuum und Herrschaft versöhnt bleiben:
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„Damit das Individuum nicht ruhelosem Streben und ständiger Unzufriedenheit ausgesetzt wird und zu einem Teil der Gesellschaft wird, müssen zum einen seine Leidenschaften gezähmt werden, und zum anderen muss es zu sozialen Werten und Zielen geleitet werden.“ (Heitmeyer et al. 1997: 47)
D IE K ULTURELLE B ILDUNG STIFTET FUNKTIONALES W ISSEN IN IHREM D IENST AM SOZIALEN Z USAMMENHALT Auch die Kulturelle Bildung hat den Diskurs zum sozialen Zusammenhalt wieder aufgegriffen – eine Entwicklung, die wohl primär auf die rechtspopulistischen Bewegungen der Gegenwart zurückzuführen ist. Analog zur theoretischen Konzeption von Heitmeyer sorgt auch sie sich um das zukünftige Funktionieren der bestehenden Gesellschaft und verengt so ihren wissenschaftlichen Blick auf die „Analyse negativer Einflussfaktoren“ (Keuchel 2019: o. S.). Damit stellt sich auch die Kulturelle Bildung in den Dienst eines harmonischen Gemeinschaftsideals, das sie zwar dieser Gesellschaft entnimmt, aber in der Wirklichkeit immerzu bestritten und deshalb auch gefährdet sieht. Um ihrer gesellschaftlichen Verantwortung als Wissenschaft nachzukommen, will die Kulturelle Bildung nützliches Wissen für den Zusammenhalt produzieren und fragt sich, wie sie sich „künftig aufstellen müsste, um den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen als Kitt und/oder Korrektiv für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt gerecht zu werden“ (ebd.). Dieser funktionalistischen Perspektive schließt sich auch Roy Sommer (2019) an und fragt: „Kann Kulturelle Bildung zu gesellschaftlichem Zusammenhalt beitragen, und wenn ja wie?“ Die Kulturelle Bildung tritt dementsprechend parteilich an ihre Gegenstände heran und problematisiert an ihnen primär die negativen Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt: „‚Die Expertokratie ersetzt hier zunehmend die Demokratie.‘ (Böcher 2007: 17) Diese Negierung demokratischer Prozesse können den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden, wird doch vielfach ein enger Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Zusammenhalt und ‚einem durch unsere freiheitlich demokratische Grundordnung geprägten Werteverständnis‘ (Jaschke 2009: o. S.) gesehen. Das zunehmende Gefühl, auf der einen Seite selbst für das eigene Schicksal verantwortlich
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zu sein und auf der anderen Seite wenig politischen Einfluss auf gesellschaftliche Entscheidungen nehmen zu können, da Expert*innen ‚alternativlose‘ Lösungswege für selbige entwickeln, führt zu kritischen Haltungen gegenüber dem bestehenden Gesellschaftssystem.“ (Keuchel 2019: o. S.)
Abgesehen davon, dass die konstatierte Tendenz zur Entdemokratisierung nicht an den politischen Verfahren selbst nachgewiesen wird, wäre doch zu fragen, wie sich die „alternativen Lösungswege“ inhaltlich gestalten und welchen politischen Zwecksetzungen sie folgen, das heißt, es wäre dem nachzugehen, was den Bürger*innen hier politisch konkret zugemutet wird und für welche Probleme eigentlich Lösungen angeboten werden. Die hier artikulierte Kritik problematisiert die politischen Prozesse jedoch primär für ihre negative Wirkung auf den Bürgerwillen. Sommer (vgl. 2019) stört sich an diesem defizitären Bezug auf kritische Haltungen und betont stattdessen ihren gesellschaftlichen Nutzen: „Selbstkritik und Gesellschaftskritik in diesem Sinne sind nicht destruktiv, sondern konstruktiv und gerade in einer pluralistischen Gesellschaft unbedingt erforderlich, da auch Grundsätzliches – Werte, Rechte, Freiheiten – immer wieder neu verhandelt, erklärt und begründet werden muss. […] Wir müssen versuchen, insbesondere Jugendliche und Heranwachsende für eine kritische, differenzierte und engagierte Haltung zu gesellschaftlichen Herausforderungen zu begeistern und sie zur aktiven Teilhabe und politischen und kulturellen Partizipation ermutigen.“ (Ebd.: o. S.)
Unter Absehung von jedem konkreten Inhalt wird Kritik hier in eine gesellschaftsnotwendige Haltung überführt, die schon deshalb als Beitrag zum sozialen Zusammenhalt zu werten sei, weil sie von einem konstruktiven Verbesserungswillen zeugen würde. Damit ist Auskunft darüber erteilt, dass sich die erwünschte Kritik an den geltenden Maßstäben der Wirklichkeit bewähren muss und zugleich wird der konstruktiv-kritische Geist in den Rang eines Erziehungsziels erhoben. Die Kulturelle Bildung erklärt also den positiven Willen zu den Verhältnissen zu ihrem Bearbeitungsgegenstand und blickt selbstkritisch auf die eigenen Konzepte. Dies gilt insbesondere für den Ansatz der Subjektorientierung, bei dem die individuellen Interessen der Adressat*innen handlungsleitend sein sollen. Mit Bezug auf Beck wird eine zu starke Orientierung am Subjekt als problematisch angesehen, da die Entwicklung kommunitaristischer Werte dabei verhältnismäßig
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wenig Berücksichtigung erfahre. Interessant ist an dieser Argumentation, wie sich dabei auf Beck bezogen wird: Zwar wird die Individualisierung als eine Zumutung der Moderne besprochen, da der einzelne Mensch „im Zuge der Wahlfreiheit für das Gelingen der eigenen Biografie selbst verantwortlich gemacht wird“ (Keuchel 2019: o. S.). Dabei werden die materiellen und sozialen Konsequenzen eines möglichen Scheiterns jedoch gar nicht weiter in den Blick genommen. Zentral ist vielmehr, dass das Subjekt bei all den Anforderungen seine Verantwortung für das Gemeinwesen nicht vernachlässigt: „Diese Selbstzuschreibungen des Gelingens von Biografien können durchaus einen negativen Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben. So kann der*die Einzelne die berechtigte Frage stellen, warum er*sie sich für das Wohl Dritter in der Gesellschaft engagieren soll, wenn er*sie selbst für das eigene Scheitern verantwortlich gemacht wird.“ (Ebd.)
Die gesellschaftliche Verpflichtung des Individuums auf die Freiheit und das daran geknüpfte Anforderungsprofil, die herrschenden Verhältnisse als Geschäftsgrundlage für das Konkurrieren um Lebenschancen anzuerkennen, wird hier als schlechte Bedingung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt thematisiert: „Die als Lebensqualität eingeforderte Selbstgestaltung von Lebensentwürfen kann aber, wie vorausgehend am Beispiel des Modells der Risikogesellschaft von Beck diskutiert (Beck 1986), einen negativen Einfluss auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben.“ (Ebd.) Daran erscheint widersprüchlich, dass das Streben nach Individualisierung bzw. das Gelingen der individuellen Biografie ja gerade kritisch aus der „Konkurrenz um begrenzte Ressourcen“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 12) abgeleitet wurde, nun aber mit dem sozialen Zusammenhalt ein Wert vermittelt werden soll, der sich gerade produktiv auf Verhältnisse bezieht, die zuvor als Ursache des konstatierten Mangels bestimmt wurden. Mit ihrer Kritik an zügelloser Selbstgestaltung behauptet die Kulturelle Bildung umgekehrt eine gesellschaftlich notwendige Form von Identität und hält damit zugleich einen Korrekturbedarf an abweichenden Verläufen fest. Damit wird die freie Stellung des Subjekts zur Welt, das seine Vorhaben von eigenen Interessen und Urteilen leiten lässt auch als potenzielle Gefahr identifiziert. Eine so verstandene kulturpädagogische Programmatik idealisiert das Subjekt, das seine Interessen selbstbewusst einem Dienst an
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der Gemeinschaft unterordnet und nur wollen kann, was es soll. Die „Selbstbestimmtheit von Lebensentwürfen“ (Keuchel 2019: o. S.) ist damit gar nicht angezweifelt – schließlich vollzieht sich Identitätsbildung über den affirmativen Willensbezug auf die Freiheit. Der Kulturellen Bildung geht es primär darum, das Subjekt mit seiner Freiheit zu identifizieren (Selbstbestimmung), wozu eben auch die Beschränkung seiner Interessen (Einsicht in höhere Werte) gehört. Im Diskurs selbst werden Selbstgestaltung und ein gesellschaftsadäquates Wertebewusstsein jedoch als eine Art gegensätzliches „Spannungsfeld“ verhandelt (ebd.) – dabei ist doch die Internalisierung gesellschaftlich verbindlicher Werte elementarer Bestandteil von Selbstgestaltung und steht in keinem Widerspruch zur ihr.
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ZUR
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Innerhalb der Kulturellen Bildung herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Künste ein geeignetes Mittel zur Stiftung des sozialen Zusammenhalts sind. Susanne Keuchel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die gemeinschaftsstiftende Funktion der Kunst gegenwärtig viel zu wenig Beachtung erfahre, was sie auf eine zunehmende Ökonomisierung und Technokratisierung der Gesellschaft zurückführt. Dabei werde die Kunst zwar als Transformationskraft der Kreativwirtschaft geschätzt, erfahre jedoch vergleichsweise wenig Anerkennung für ihren gesellschaftspolitischen Nutzen: „Mit dem in den Künsten angelegten Regelbruch, der richtige oder falsche Lösungsansätze negiert, kann Kulturelle Bildung vielfältige Perspektivwechsel für zukünftige alternative Gesellschaftsgestaltung anregen und neue Wege aufzeigen, die gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.“ (Ebd.)
Max Fuchs (vgl. 2019) stimmt dieser Idee zwar grundsätzlich zu, sieht jedoch die politische Nutzbarmachung der Kunst auch kritisch. Mit dem Verweis auf den Einsatz ästhetischer Mittel zu Propagandazwecken im Nationalsozialismus zieht Fuchs eine Trennlinie zwischen einer instrumentalisierten Kunst für falsche politische Zwecke und einer Verwendung „zugunsten positiver Werte“ (ebd.: o. S.). Ihm zufolge komme es also ganz auf
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die künstlerisch verfolgten Ziele an: „Das Ästhetische wirkt also in sozialer Hinsicht und es stellt durchaus einen sozialen Zusammenhalt her, doch muss man die Ziele einer solchen Gemeinschaftsbildung mit reflektieren.“ (Ebd.) Georg W. F. Hegel (vgl. 1986: 82) kritisiert diesen funktionalistischen Gedanken grundsätzlich und trennt die Identität des Ästhetischen von jeder äußeren Indienstnahme. Ihm zufolge liegt Endzweck der Kunst nicht in der „moralischen Besserung“ (ebd.), sondern in der Kunst selbst: „Denn andere Zwecke, wie Belehrung, Reinigung, Besserung, Gelderwerb, Streben nach Ruhm und Ehre gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben.“ (Ebd.) Diesen Gedanken greift Theodor W. Adorno (vgl. 2003) auf und führt ihn an der Musikpädagogik weiter aus: Eine Musik, die ihr „Ziel nicht in sich selbst habe, sondern in ihrer pädagogischen, kultischen, kollektiven Verwendbarkeit“ (ebd.: 72), gehe „unmittelbar ins Amusische über“ (ebd.: 74). Auf den Inhalt der außermusikalischen Zwecke käme es dabei gar nicht an: „Es kann die Gemeinschaft als solche sein, der Kultus, die Erziehung, oder irgendwelche Aufgaben der Sozialfürsorge. Die innere Zusammensetzung einer Musik aber, die nur noch freut, dass sie dienen darf, gerät dadurch in einen Bann.“ (Ebd.: 75)
Eine inhaltliche Bestimmung dessen, was eigentlich eine Kultur auszeichnet, die dienen will, um so ihren produktiven Beitrag zum sozialen Zusammenhalt zu leisten, liefert Adorno in seinen Ausführungen zur „Kulturindustrie“. Demnach seien die Leistungen des Kulturbetriebs der bürgerlichen Ideologiebildung zuzuordnen: „Indem sie [die Kulturindustrie] alle Zweige der geistigen Produktion in gleicher Weise dem einen Zweck unterstellt, die Sinne der Menschen vom Ausgang aus der Fabrik am Abend bis zur Ankunft bei der Stechuhr am nächsten Morgen mit den Siegeln jenes Arbeitsganges zu besetzen, den sie den Tag über selbst unterhalten müssen, erfüllt sie höhnisch den Begriff der einheitlichen Kultur, den die Persönlichkeitsphilosophen der Vermassung entgegenhielten.“ (Adorno/Horkheimer 2020: 139)
Was Adorno hier treffend aufspießt, ist die ideologische Versorgung der bürgerlichen Subjekte durch einen Kulturbetrieb, der sie kontinuierlich mit den Gegensätzen einer kapitalistisch organisierten Klassengesellschaft versöhnt. Mit ihren künstlerischen Produkten reproduziert und überhöht die
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kulturelle Sphäre die (enttäuschten) Ideale der bürgerlichen Gesellschaft und überführt sie ins „Amusement“ (ebd.: 152). Die Kulturindustrie leistet somit ihren spezifischen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt, indem sie die immerzu bestrittenen Ideale ästhetisch zur Anschauung bringt und so den Glauben an ein mögliches Glück heraufbeschwört, das doch eigentlich allen zustünde. Die Realisierung des Guten, Wahren und Schönen findet in der Kunst ihren Zufluchtsort, solange die Verwirklichung in der Welt noch nicht erreicht ist.
R EFLEXION STATT D IENST : P LÄDOYER FÜR K ULTURELLE B ILDUNG DER A UFKLÄRUNG
EINE
Der Artikel geht nicht der Frage nach, ob Angebote der Kulturellen Bildung einen konstruktiven Beitrag zum sozialen Zusammenhalt leisten können und wenn ja, was dafür zu tun ist. Vielmehr soll dafür sensibilisiert werden, dass eine Kulturelle Bildung, die sich diesem gesellschaftlichen Gemeinschaftsideal andient, mit einer parteilichen Perspektive auf die Probleme der Menschen blickt und diese fortan als Probleme der Gesellschaft mit ihren Subjekten bespricht. Folglich thematisiert die Kulturelle Bildung die Freiheit der Subjekte zwar noch als anspruchsvolles Anforderungsprofil, das den Menschen auch einiges an Alltagsbewältigung und Identitätsarbeit abverlangt, hält an ihr jedoch primär den sozialen Bedrohungscharakter fest, weil das verschärfte Individualisierungsstreben der Subjekte die Verbindlichkeit gemeinschaftsfähiger Werte gefährde. Einerseits macht die Kulturelle Bildung also die mit der Freiheit einhergehende Individualisierung für einen fortschreitenden Werteverfall verantwortlich, anderseits wird sie genau deshalb zum Agitator der Freiheit, weil sie mit dem sozialen Zusammenhalt das Funktionieren dieser freiheitlichen Gesellschaft absichern will. Folgerichtig stellt sich die Kulturelle Bildung besorgt die Frage, ob sich eine zu stark ausgeprägte Subjektorientierung negativ auf den sozialen Zusammenhalt auswirken könnte und bestimmt damit zugleich ihren ideellen Maßstab für ein gesellschaftsfähiges Wertebewusstsein: Auf eine ausgeglichene Balance von Selbstgestaltung und Gemeinschaftssinn komme es an. Adressat*innen, die nicht willens oder fähig sind, ein entsprechendes Wertebewusstsein an sich herzustellen, werden damit zum pädagogischen Problemfall erklärt. Vor dem Hintergrund dieser Argumentation gilt es
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zukünftig, das Verhältnis einer individualisierten Wertevermittlung und gesellschaftlich verursachte Problemlagen weiter zu theoretisieren. Auseinandersetzen muss sich die Kulturelle Bildung zudem mit ihrem funktionalistischen Kunstbegriff, der das Wesen der Kunst gar nicht in sich sucht, sondern deren besondere Qualität in ihrem politischen Nutzen verortet. Dass gerade Akteur*innen der Kulturellen Bildung und andere Kulturschaffende schlecht beraten sind, sich diesem höheren Ideal unhinterfragt anzuschließen, lässt sich am Beispiel der Covid-19-Krise gut aufzeigen. Wenn die Kulturproduzierenden gegenwärtig zwar auf ihre prekäre Lage hinweisen, diese jedoch selbst gar nicht als Begründung ihres Hilfegesuches gelten lassen, sondern dabei immerzu auf ihren unverzichtbaren Dienst an der Gemeinschaft verweisen („Wir liefern den sozialen Kitt“), dann entgeht ihnen, dass sie sich so für Verhältnisse einspannen lassen, die ein solches Kulturprekariat überhaupt erst ermöglichen. Schließlich leiden zumindest gegenwärtig nur die wenigsten unter dem Virus – es ist die Verpflichtung auf das Geld, das ihnen zu schaffen macht. Aufklärung über das damit angesprochene Abhängigkeitsverhältnis verschafft Karl Marx, der im Geld auch die Objektivität des sozialen Zusammenhalts entdeckt: „Das Geld ist damit unmittelbar zugleich das reale Gemeinwesen, insofern es die allgemeine Substanz des Bestehens für alle ist und zugleich das gemeinschaftliche Produkt aller.“ (Marx 1983: 152) Der soziale Zusammenhalt ist für Marx also explizit nicht Ausdruck einer „solidarischen Wertegemeinschaft“, sondern besteht realiter in dem gesellschaftlichen Zwang zum Tausch: „Die wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegeneinander gleichgültigen Individuen bildet ihren gesellschaftlichen Zusammenhang. Dieser gesellschaftliche Zusammenhang ist ausgedrückt im Tauschwert, worin für jedes Individuum seine eigne Tätigkeit oder sein Produkt erst eine Tätigkeit und ein Produkt für es wird; es muss ein allgemeines Produkt produzieren – den Tauschwert oder, diesen für sich isoliert, individualisiert, Geld.“ (Ebd.: 90)
Damit liefert Marx den gesellschaftlichen Grund für das „eigensüchtige“ Zusammenwirken der Subjekte, eine ökonomische Faktizität, die es zu berücksichtigen gilt, bevor die Kulturelle Bildung sich auf eine reine Wertevermittlung beschränkt.
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Heitmeyer, Wilhelm (1997c): Einleitung: Auf dem Weg in eine desintegrierte Gesellschaft. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 9-29. Heitmeyer, Wilhelm (1997d): Gibt es eine Radikalisierung des Integrationsproblems? In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 23-66. Heitmeyer, Wilhelm/Bohle, Hans-Hartwig/Kühnel, Wolfgang/Sander, Uwe (1997): Anomie in der modernen Gesellschaft: Bestandsaufnahme und Kritik eines klassischen Ansatzes soziologischer Analyse. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 29-69. Jaschke, Hans-Gerd (2009): Bedingungsfaktoren des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums des Innern. Keuchel, Susanne (2019): Kulturelle Bildung und gesellschaftlicher Zusammenhalt – Kitt oder Korrektiv? In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online. https://www.kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-gesell schaftlicher-zusammenhalt-kitt-oder-korrektiv [Zugriff: 25.07.2020]. Marx, Karl (1983): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx-Engels-Werke, Band 42. Berlin: Dietz. Pfeiffer-Poensgen, Isabel (2020): Nordrhein-Westfalen. In: Deutscher Kulturrat: Lageeinschätzungen Kulturbereiche. Fortsetzung: Wie unterstützen die Bundesländer jetzt die Kultur. https://www.kulturrat.de/coronapandemie/lageeinschaetzungen-kulturbereiche/fortsetzung-ii-wie-unter stuetzen-die-bundeslaender-jetzt-die-kultur/?print=pdf [Zugriff: 25.07. 2020]. Sommer, Roy (2019): Häme für Gutmenschen, Verständnis für Wutbürger? Über Diskursabnutzungen, neue Narrative und Potenziale Kultureller Bildung. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online. https://www. kubi-online.de/index.php/artikel/haeme-gutmenschen-verstaendnis-wut buerger-ueber-diskursabnutzungen-neue-narrative [Zugriff: 25.07.2020].
K ULTURELLE B ILDUNG
FÜR DEN SOZIALEN
Z USAMMENHALT ?
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Streichert-Clivot, Christine (2020): Saarland. In: Deutscher Kulturrat: Lageeinschätzungen Kulturbereiche. Fortsetzung: Wie unterstützen die Bundesländer jetzt die Kultur. https://www.kulturrat.de/coronapandemie/lageeinschaetzungen-kulturbereiche/fortsetzung-ii-wie-unter stuetzen-die-bundeslaender-jetzt-die-kultur/?print=pdf [Zugriff: 25.07. 2020].
Teil II Gesellschaftspolitische Dimensionen in Forschung, Modellvorhaben und Projekten
Gesellschaftspolitische Dimensionen Kultureller Bildung auf Digitalisierung S USANNE K EUCHEL UND S TEFFEN R ISKE
Teils euphorisch feierten Intellektuelle, Kreative und Künstler*innen in seinen Anfangszeiten das Internet. So prägte der Musiker und politische Aktivist Jello Biafra den Slogan „Don’t hate the media, become the media“ (Biafra 2000: o. S.) und noch heute lautet das vierte Gebot des GoogleManifests „Ten things we know to be true“ (Google 2020: o. S.): „Die Demokratie im Internet funktioniert.“ Denn mit dem Internet existierte erstmals die technische Plattform für ein Medium, das sowohl senden als auch empfangen konnte und als Individual-, Gruppen- und Massenmedium die zeitgleiche wie zeitversetzte Kommunikation ermöglichte. Damit wurde nach Meinung vieler, Kommunikation demokratisiert und zwar erstmals dezentral, ohne Hierarchie, mit der Perspektive der nominellen Gleichheit aller Nutzer*innen. Seit Etablierung des Internets haben sich jedoch digitale Räume und Technik deutlich weiterentwickelt, in Form von Robotik, Künstlicher Intelligenz (KI) und Smartphones. Das Internet hat sich vom Experimentierraum professionalisiert zu kommerziellen (Kommunikations-)Plattformen, Angeboten bezahlter (Online-)Dienstleistungen und sozialen Netzwerkmedien. Der NSA-Skandal im Jahr 2013 machte deutlich, dass die Nutzung von Daten zu Überwachungszwecken gängige Praxis ist und das Imperium Google wächst stetig mit dem Geschäft „Aufmerksamkeit“. Kaum ein Klick ist heute nicht kommerzialisiert und durch Sales-Funnels und AdSense gelenkt.
136 | S USANNE K EUCHEL UND S TEFFEN R ISKE
Im sogenannten postdigitalen Zeitalter (vgl. Negroponte 1998) ist die Trennung von Analogem und Digitalem obsolet geworden, in Form von fahrerlosen Autos, in den Körper implementierten Chips zum bargeldlosen Bezahlen oder Augmented Reality Gaming. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass jüngere Generationen gar nicht mehr unterscheiden zwischen virtuellen und reellen Welten (vgl. Keuchel 2020), da sich die Ebenen zunehmend überlagern. Dies hat nicht nur gesellschaftliche Auswirkungen, sondern führt auch zu neuen ästhetischen Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen sowie veränderten Bedingungen kultureller Teilhabe und Bildung. Daher führte die Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW zusammen mit der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg und dem Institut für Bildung und Kultur (ibk) e. V. anhand eines Mixed-Methods-Designs von November 2016 bis Oktober 2019 ein dreijähriges vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Forschungsprojekt „Postdigitale kulturelle Jugendwelten“ durch, zur Frage des Einflusses des digitalen Wandels auf die aktuelle künstlerisch-kreative Praxis junger Menschen. Im Folgenden werden einzelne Forschungsergebnisse (vgl. Keuchel 2020) vorgestellt, die sich spezifisch mit den gesellschaftspolitischen Herausforderungen von Digitalität und Hybridisierung auseinandersetzen. Diese werden systematisch betrachtet unter der Fragestellung: Welche gesellschaftspolitischen Dimensionen kann Kulturelle Bildung im Kontext von Digitalität leisten?
H YBRIDITÄT – ANALOG - DIGITALE N EUORDNUNG VON L EBENSWELTEN UND KULTURELLEN T ECHNIKEN Der Zustand der Postdigitalität beschreibt, dass das Digitale tief in bestehende Strukturen verwoben ist und diese durchdringt. Entgegen dem Glauben mancher, löst Postdigitalität analoge Techniken oder das Analoge nicht ab. Vielmehr findet eine Vermischung oder binäre Koexistenz statt – dieser Zustand wird auch Hybridität genannt. Die Ergebnisse der Studie veranschaulichen, dass das Digitale in die ästhetischen Praktiken gegenwärtiger Jugendkulturen eingebettet ist. Kulturrezeption erfolgt heute analogdigital, dies gilt auch für viele künstlerisch-kreative Praktiken der 14- bis 24-Jährigen.
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Abb. 1: Kulturproduktion und -rezeption, differenziert nach analogen und digitalen Räumen1 Kulturrezeption
Kulturproduktion Nur in analogen Räumen
0%
4
1%
3 digitalen
4
30 %
Nur in Räumen
2
98 %
Ohne
1 Aktivität
1% 100%
80%
60%
40%
20%
Sowohl als auch
0%
3
0%
2
48 %
1
22 % 0%
20%
40%
60%
80%
100%
Quelle: GfK
Die obige Abbildung verdeutlicht, dass die Rezeption von kulturellen Angeboten nach aktueller Datenlage inzwischen fast ausschließlich hybrid erfolgt. Das heißt Live-Kultur wird ebenso genutzt wie Online-Medien.
1
Der analog-digitale Raum ist ein abstrakter Begriff und wurde nachträglich aus abgefragten Items konstruiert.
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Abb. 2: Wichtigste Orte für Kulturrezeption (bis zu drei Nennungen möglich)
Onlineplattformen
77%
Streaming-Dienste
66%
Rundfunk
65%
Datenträger/Medien
42%
Live an nichtkulturellen Orten (z.B. Kneipen, OpenAir)
35%
Live in kulturellen Einrichtungen
31% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
Quelle: GfK
Die vorausgehende Abbildung verdeutlicht dabei, dass Kulturrezeption inzwischen vor allem – nach persönlicher Priorisierung der Befragten – online stattfindet. Die Befragten sollten die drei für sie wichtigsten Orte, an denen sie kulturelle Angebote wahrnehmen, nennen. Für über drei Viertel der 14bis 24-Jährigen zählen darunter Online-Dienste wie die Videoplattform YouTube. Abb. 3: Künstlerische Produktion in analog-digitalen Räumen, differenziert nach Bildung 31% 31% 32% 29%
Nur in analogen Räumen
0% 0% 0% 0%
Nur in digitalen Räumen
48% Sowohl als auch 35% 22% 17% 19%
Ohne Aktivität
0%
10%
20%
30%
14- bis 24-Jährige
Quelle: GfK
53% 50%
36% 40% Hoch
50% Mittel
60%
70%
Niedrig
80%
90%
100%
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Im Bereich künstlerisch-kreativer Aktivitäten und kultureller Produktion sieht dies wiederum anders aus. Überwiegend erfolgt diese, wie dies Abbildung 3 verdeutlicht, inzwischen auf hybridem Wege, jedoch bei fast einem Drittel der Befragten sogar noch ausschließlich analog. Ein verschwindend geringer Prozentanteil produziert dabei ausschließlich digital. Ein Beispiel hierfür wäre die komplett digitale Produktion und das Abmischen von Musik. Denn in der Regel baut künstlerisch-kreative Produktion immer auf analoge Praktiken, die ins Digitale eingebunden werden, auf. Das gemeinsame digitale Musikproduzieren erfolgt vielfach auf analogen Instrumenten, die in den digitalen Raum eingespielt werden. YouTube-Beiträge werden ebenfalls in Teilen immer noch in analogen Räumen produziert und dann digital aufgezeichnet bzw. weiterverarbeitet. Der vergleichsweise noch hohe Anteil von einem Drittel Jugendlicher, die ausschließlich analog künstlerisch-kreativ aktiv sind, ist möglicherweise auch auf fehlende existierende kulturelle Bildungsangebote zurückzuführen, die vielfach noch analog stattfinden. Diese Vermutung wird bei einer bildungsspezifischen Differenzierung der Gruppe, die analog-digital künstlerisch-kreativ aktiv ist, unterstützt: Unter den Befragten, die eine mittlere oder hohe formale Bildung besitzen, waren je etwa die Hälfte schon einmal künstlerisch-kreativ im analog-digitalen Raum aktiv, unter denen niedriger Bildung jedoch nur etwa ein Drittel. Im Analogen ist dieser Unterschied in den Daten nicht ersichtlich. Offenbar bedarf es des digitalen und künstlerischen Kapitals des eigenen sozialen Umfelds und der Familie, um beide Ebenen – analog und digital – bedienen zu können, so lange analog-digitale kulturelle Bildungspraxis noch nicht innerhalb formaler und non-formaler Bildung angeleitet wird. Im Kontext der Einbeziehung digitaler Technik in der künstlerischen Produktion haben sich auch neue künstlerische Ausdrucksformen entwickelt. Im Rahmen des Forschungsprojekts, vor allem auch durch Explorationen im qualitativen Forschungsteil, konnten u. a. folgende neue künstlerische Gestaltungsformen identifiziert werden: −
Neuverwertung bestehender künstlerischer Materialien Die umfassende Verfügbarkeit von künstlerischen Werken im Digitalen animiert dazu, aus bestehenden künstlerischen Materialien etwas Neues zu gestalten, beispielsweise Ausschnitte aus Lieblingsfilmen zu einem selbst gewählten Musikstück neu
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zusammenzuschneiden oder für YouTube Musikvideos zu produzieren, die auch künstlerisch performativ inszeniert werden. − Modifizieren von Spielregeln Spielregeln nach gemeinsamer oder auch eigener Interessenslage anzupassen wurde ebenfalls als Ausdrucksform identifiziert. Als Beispiel darf hier die Modding-Szene in der PC- und Videospielindustrie gelten, wo (Hobby-)Programmierer*innen bestehende Spiele weiterentwickeln, weil ihnen beispielsweise die aktuelle Spielbalance nicht gefällt. −
Interdisziplinär performative statt handwerklich spartenspezifische Fertigkeiten Durch die Verwendung digitaler Techniken eröffnen sich künstlerische Gestaltungsprozesse, ohne die Notwendigkeit des Erwerbs handwerklicher Fähigkeiten, wie das Erlernen eines Musikinstruments. Ganze Orchester lassen sich beispielsweise über die Bedienung einer App simulieren, wie das Forschungsprojekt „app2music e. V.“ an Berliner Schulen beweist: Hier musizieren junge Menschen im Verbund, wobei statt eines Instruments von den Teilnehmer*innen eine App bedient wird, die jeweils ein Instrument oder eine Instrumentengruppe steuert. Damit wächst das Interesse junger Menschen an künstlerischen Gestaltungsprozessen wie Performance, Improvisation oder Komposition.
−
Experimente mit analog-digitalen Schnittstellen Durch die kontinuierliche digitale Erweiterung analoger Lebenswelten und die Weiterentwicklung digitaler Technik und KI verlagern sich kulturelle Aktivitäten zunehmend in digitale Kontexte, ohne dass darüber reflektiert wird, ob dies in dieser Form tatsächlich wünschenswert ist. Möglicherweise ist das ein Grund, warum junge Bevölkerungsgruppen aktuell künstlerisch-ästhetisch mit der Schnittstelle analog-digital spielen, wie das Transformieren ästhetischer Erfahrungen aus dem Digitalen ins Analoge und umgekehrt; beispielsweise bei den mittlerweile sehr bekannten LiveEscape-Games, die von den Text-Adventure-PC-Spielen der 1980er Jahre inspiriert wurden.
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−
Alte Technik in neue Zusammenhänge stellen Alte Technik bekommt durch die neuen digitalen Möglichkeiten einen musealen Charakter, der auf junge Leute eine Faszination ausübt und zu neuen Anwendungsmethoden inspiriert. Dies verdeutlichen z. B. Verfahren in der Musikproduktion, indem durch die Methode des Samplings alte Aufnahmen digitalisiert und für neue Produktionen wiederverwertet werden. Im Sinne der Nachhaltigkeit kann auch eine Neuverwertung bestehender Materialien im Analogen beobachtet werden, beispielsweise die Maker-Szene, die aus nicht mehr gebrauchten analogen Materialien oder verjährter Technik, z. B. Holzpaletten oder Plastik oder auch alten Handys oder Computer, neue Dinge, beispielsweise Möbel oder Kleider, gestaltet.
−
Interaktive künstlerische Gemeinschaftsproduktionen Digitale Techniken als zeitgleiches und zeitversetztes Kommunikationsmedium ermöglichen die Produktion gemeinsamer Kunstwerke über unterschiedliche Entfernungen. Entsprechende Möglichkeiten werden z. B. im gemeinsamen Storytelling verwendet, wobei mehrere Autor*innen auf einer Online-Plattform zusammen an einer Geschichte schreiben oder Menschen aus unterschiedlichen Ländern durch digitale Übertragung gemeinsam zu demselben Musikstück singen oder tanzen.
Dabei zeigt sich, dass das Experimentieren mit neuen künstlerischkreativen digitalen Formen anteilig eher einer kleineren Gruppe von 14- bis 24-Jährigen zuzuordnen ist. So geben 21 Prozent der 14- bis 24-Jährigen an, mindestens selten eine der eben skizzierten neuen künstlerischkreativen Ausdrucksformen zu praktizieren. Allgemein ist der Anteil derjenigen, die künstlerisch-kreativ digital aus sich heraus regelmäßig aktiv im Internet sind, beispielsweise Podcasts oder Tutorials aufnehmen, mit neun Prozent überschaubar. Noch bescheidener ist mit sieben Prozent der Anteil derjenigen, die sowohl regelmäßig digital im Internet aktiv sind als auch regelmäßig mindestens einer künstlerisch-kreativen Tätigkeit nachgehen. Unter dieser Gruppe der künstlerisch-kreativen als auch digital Aktiven ist dann jedoch der Anteil derjenigen, die mindestens eine der eben skizzierten neuen künstlerisch-kreativen
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Techniken zumindest manchmal anwenden, mit 70 Prozent wesentlich höher, wie dies auch nachfolgende Abbildung verdeutlicht. Abb. 4: Kreativ-gestalterische Techniken (trifft zu) Ich … ändere Spielregeln im Spiel nach gemeinsamer oder auch nach meiner Interessenslage.
8%
nutze gerne bestehende künstlerische Materialien, um etwas Neues daraus zu gestalten.
8%
übertrage Erfahrungen aus digitalen in analoge Kontexte und umgekehrt. stelle alte Technik in neue Funktionszusammenhänge.
nutze mindestens manchmal eine der genannten künstlerisch-kreativen Techniken
27%
34%
24%
4%
4%
22%
70%
21%
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Sowohl künstlerisch-kreativ als auch digital aktiv
14- bis 24-Jährige
Quelle: GfK
Mit dem Wissen um diese Entwicklungen könnte Kulturelle Bildung einen gesellschaftspolitischen Beitrag leisten, durch eine bewusste und konsequente Verantwortungsübernahme, nicht nur für analoge, sondern auch für analog-digitale kulturelle Teilhabe. Der Einbezug dieser hybriden Logik sollte dann folgerichtig in kulturelle Bildungsprogramme übersetzt und dabei ein Fokus darauf gerichtet werden, die aktuell bestehenden Bildungsunterschiede, bezogen auf analog-digitale kulturelle Teilhabe, auszugleichen.
I NTRANSPARENZ –
WEM GEHÖRT DAS WER BESTIMMT DIE R EGELN ?
D IGITALE
UND
„Und die Frage stellt sich schon mit Blick auf das Thema Meinungsmache, was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich und welche Regeln gelten eigentlich für den digitalen Bereich, ja oder nein“ – fragt Annegret Kramp-Karrenbauer in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ online 2019: o. S.).
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Innerhalb des Forschungsprojekts wurden auch allgemeine Einstellungen der befragten 14- bis 24-Jährigen zum Digitalen thematisiert. Dabei zeigte sich überraschend, selbst bei intensiver Nutzung des Digitalen vonseiten junger Bevölkerungsgruppen, ein deutliches Unbehagen. Trotz aktueller politischer Debatten zum EU-Urheberrecht, die sich innerhalb des kritischen Diskurses vor allem an einem Einzelaspekt, den Upload-Filtern, festmachten – ein Diskurs, der erst nach der Durchführung der Befragung im Dezember 2018 medial sehr intensiv geführt wurde – geben hier 52 Prozent der 14- bis 24-Jährigen an, dass sie eine strengere EU-Datenschutz-Grundverordnung befürworten. Abb. 5: Forderungen für den digitalen Raum Unternehmen dürfen persönliche Daten nicht benutzen
81%
Sexuelle Belästigung online wie offline bestrafen
80%
Gesetzliche Regelungen zur Verhindung von Mobbing im Netz
71%
Zugriff auf digitale Bücher im Netz öffentlich fördern
62%
Internet braucht internationale Gesetzgebung
59%
Strenge EU-Datenschutz-Grundverordnung ist gut
52%
Regulierungsfreies Internet ist gut
39%
Staatliche Suchmaschinen im Netz
34%
Keine Algorithmen zur Informationssteuerung
32% 0%
10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
Stimme voll und ganz zu/ stimme eher zu
Quelle: GfK
Eine überwiegende Mehrheit von 80 Prozent fordert letztlich die gleichen Regeln für das Miteinander in digitalen Welten, wie Online-Spiele oder Foren, die auch im normalen gesellschaftlichen Leben gelten: Respekt und Toleranz. Sexuelle Belästigung solle demnach „genauso“ geahndet werden wie auch in Offline-Szenarien. Hierbei lassen sich keine entscheidenden Unterschiede in Altersgruppen oder formaler Bildung ausmachen, das Anliegen ist allen Befragten wichtig. Insgesamt steht dies alles in einem kohärenten Bild einer gewünschten stärker regulierten digitalen Welt, die ihren Nutzer*innen (mehr) Regeln und Datensicherheit bietet.
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Neben dem Wunsch nach mehr Sicherheit und Regeln im Digitalen wird in der bundesweiten Repräsentativbefragung auch deutlich, dass sich ein Gros mehr öffentlich gefördertes und relevantes Wissen und Kultur im Internet wünscht. So plädieren beispielsweise 62 Prozent für eine öffentliche Förderung des digitalen Zugriffs auf Bücher. Bei der Frage nach der digitalen Präsenz von Diensten und Inhalten von Kultureinrichtungen oder Einrichtungen der Kulturellen Bildung erachten es 65 Prozent der 14- bis 24-Jährigen am ehesten für „wichtig“ oder „sehr wichtig“, dass die inhaltlichen Angebote der Einrichtungen allgemein digital zugänglich gemacht werden, wie dies die folgende Abbildung 6 verdeutlicht. Abb. 6: Forderungen an Kultureinrichtungen Kultureinrichtungen... …sollen inhaltliche Angebote auch digital im Internet zugänglich machen.
65%
…sollen digitale Technik bei der pädagogischen Arbeit einsetzen, z.B. Virtual Reality bei Rekonstruktion von Geschichten. …sollen digitale Technik vor Ort in die künstlerische Präsentation integrieren, (z.B. Gestaltung von Kulissen, interaktive Mitgestaltung, VR-Brillen etc.). …sollen digitale Serviceangebote (bspw. Kartenerwerb, Kartenabriss, Aufgabenstellung, Sprechstunden etc.) deutlich ausbauen.
52%
50%
49%
…sollen künftig stärker auch mit Tutorials im Internet arbeiten.
48%
…sollen analog bleiben und neue digitale Techniken vernachlässigen.
20% 0%
10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
Sehr wichtig/ wichtig
Quelle: GfK
Trotz einer Mehrheit, die sich mehr Partizipation und Demokratie im Internet wünscht, sind interessanterweise den digitalen Raum beherrschende technische Steuerungsmechanismen, z. B. Social Bots, Filter Bubbles oder Step-Tracking, etwa zwei Dritteln der 14- bis 24-Jährigen unbekannt. Algorithmen, die maßgeblich für eine Lenkung des Online-Erlebnisses verantwortlich sind, sind nach eigener Aussage immerhin etwa der Hälfte der Befragten bekannt. Bei der Kenntnis dieser technischen Steuerungsmechanismen können bildungsspezifische Unterschiede beobachtet werden, Befragte mit höherer formaler Bildung (40 %) zeigen auch höhere Werte in der Kenntnis von
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digitalen Techniken und Anwendungen. Aber auch in dieser Gruppe gibt es eine höhere Zahl an Befragten, die mit diesen Steuerungstechniken nicht vertraut ist. Vordergründig wird zudem keine besonders kritische Einstellung derer, die eingesetzte Techniken und Praktiken „kennen“, zu selbigen erkennbar. Obwohl beispielsweise 51 Prozent der 14- bis 24-Jährigen nach eigener Angabe Algorithmen „kennen“, sehen nur 14 Prozent diese Technik „eher kritisch“, ähnlich verhält es sich mit Social Bots und Filter Bubbles. Zudem sehen gerade einmal 17 Prozent aller jungen Befragten tendenziell eher kritische Aspekte bei den Nutzungsbedingungen von Facebook, wie die Regelung der Bildrechte. Abb. 7: Kenntnis von digitalen Praktiken und Techniken 99% 95%
WhatsApp
98% 97%
Suchmaschinen Standortbestimmung via GPS
83%
88%
74% 78%
Nutzungsbedingungen bei Facebook (z.B. Bildrechte) Telegram
58%
Algorithmen
57% 51%
Tagging auf Facebook & Co 39%
Open-Source-Programme
38%
Social Bots 33%
Filter Bubbles 25%
Step-Tracking (Quantified Self) 0% 14- bis 24-Jährige
10%
20%
30%
65% 62% 64%
57% 50%
40%
35% 40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Sowohl künstlerisch-kreativ als auch digital aktiv
Quelle: GfK
Spannenderweise gibt es deutlich mehr Kenntnisse bezüglich digitaler Techniken und Praktiken unter der Gruppe der jungen Leute, die sowohl regelmäßig digital selbst aktiv sind als auch selbst künstlerisch aktiv sind. Vor diesen Kontexten wird deutlich, dass Kulturelle Bildung den eigenen Bildungsauftrag auf verschiedenen Ebenen ausweiten sollte. So sollten kulturelle Inhalte wie auch kulturelle Bildungsinhalte konsequent analog-digital
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gedacht werden und öffentlich zur Verfügung gestellt werden – auf beiden Ebenen. Weiterhin wird eine Perspektive der Verantwortung notwendig, in dem nicht nur didaktische Vermittlung stattfindet, sondern Fürsorge im Sinne einer Anwaltschaft für Kinder und Jugendliche notwendig wird. Diese müssen vor Missbrauch, sowohl der eigenen Daten wie auch der eigenen Person, in analog-digitalen Welten geschützt werden und in ihrer Wahrnehmung hierfür geschult werden. Hier bedarf es neben der Medienpädagogik (als Teildisziplin der Kulturellen Bildung) auch einer kulturellen Medienbildung, die Kinder und Jugendliche in einem medienemanzipatorischen gestalterischen Umgang unterstützt. Die Herausforderung besteht hier darin, künstlerischgestalterische Umgänge mit analog-digitalen Schnittstellen und medienkritisches Wissen um Digitales zu verbinden. All dies wird ohne eine regulatorische, politische Ebene jedoch nicht ausreichen: Die Einstellungen und das Nutzungsverhalten der 14- bis 24Jährigen innerhalb digitaler Räume legen nahe, dass Jugendliche sich zum einen mehr Schutz und demokratische Rechte innerhalb digitaler Welten wünschen, signalisieren zugleich aber auch ein deutliches Unbehagen bezüglich einer indirekten Verhaltensbeeinflussung durch soziale Netzwerke, ohne dabei wirkliche Kenntnisse über entsprechende technische Steuerungsprozesse wie Algorithmen oder Social Bots zu besitzen. Angesichts der täglichen Online-Verweildauer, beispielsweise der 16- bis 17-Jährigen von mittlerweile durchschnittlich etwa vier Stunden am Tag (vgl. MPFS 2017) – die in frei regulierten Räumen mit Suchmaschinen und Steuerungsmechanismen als Wegweiser verbracht werden, die vor allem kommerziellen Interessen dienen –, sollte über entsprechende gesetzliche Schutzmechanismen nachgedacht werden. Ein wichtiger und notwendiger Schritt zu einer gleichberechtigten Teilhabe liegt dabei auch in der barrierefreien Bereitstellung von Wissen und Zugängen zu Kulturangeboten auf digitalen Plattformen, deren Zugänge nicht von kommerziellen Interessen gelenkt werden. Damit findet ein wichtiger Anstoß statt, kommerzialisierte digitale Räume um öffentliche Räume der Kulturpartizipation zu ergänzen oder gar zu transformieren.
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E INFLUSS DIGITALER T ECHNIK D ENKEN UND H ANDELN
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AUF HUMANES
In einer Zeit, in der wir über KI sprechen, die den Menschen ersetzen oder verdrängen könnte, wird zugleich an einer Technologie gearbeitet, die dem Menschen dienen kann – Alexa, Siri und das selbstfahrende Auto können unser Leben angenehmer machen. Intelligente Roboter könnten die Welt irgendwann sogar einmal retten. Erste Überlegungen zu dieser Dialektik stellte Sherry Turkle bereits 1984 in ihrem Buch „The Second Self: Computers and the Human Spirit“ auf: Dort definiert sie den Computer als Teil unseres persönlichen und geistigen Lebens und behauptet, dass Technologie die Art und Weise bestimmt, wie wir denken und handeln (vgl. Turkle 1984: 240ff.). Ähnlich argumentiert Felix Stalder, wenn er von einer Kultur der Digitalität spricht (vgl. Stalder 2017): Soziale, politische und ökonomische Bedürfnisse, vor allem aber der Wunsch nach Effizienz und geringer Komplexität führen zu einem Kreislauf der fortwährenden Digitalisierung durch Technologie. Zu beobachten ist dies beispielsweise beim Phänomen digitaler Stress: Immer mehr Menschen fühlen sich durch die übermäßige Nutzung von digitalen Geräten gestresst und das Interesse an „Digital-Detox“-Angeboten nimmt zu. Diese Entwicklung macht auch vor Jugendlichen nicht halt (vgl. saferinternet.at 2019). Digitaler Stress und Druck durch soziale Medien sind vorherrschende Phänomene in Deutschland. Dies bestätigen auch die Ergebnisse der Studie „Postdigitale kulturelle Jugendwelten“: 51 Prozent der befragten Jugendlichen stimmen der Aussage „Verhaltensweisen und -regeln werden heute viel stärker und indirekt durch Social Media und ‚Likes‘ bzw. ‚Unlikes‘ bestimmt“ zu. Wahrgenommener Stress durch digitale Medien gehört, ebenso wie sozialer Druck, der verstärkt durch digitale Netzwerkmedien ausgelöst wird, zum Alltag und zur Lebenswelt vieler Jugendlicher.
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Alter
Formale Bildung
52%
54%
Sowohl künstlerisch-kreativ als auch digital aktiv
51%
Regelmäßig künstlerisch-kreativ aktiv
50%
14- bis 24-Jährige
54%
Hoch
50%
Mittel
53%
Niedrig
53%
17 - 19 Jahre
48%
14 - 16 Jahre
100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
20 - 24 Jahre
Abb. 8: Wahrgenommene Verhaltensbeeinflussung durch Social Media bei den 14- bis 24-Jährigen, differenziert nach Alter, Bildung und künstlerischkreativer Aktivität
Gruppen
Quelle: GfK
Der Vergleich verschiedener Gruppen der 14- bis 24-Jährigen zeigt, dass der wahrgenommene Druck unabhängig von Faktoren wie Alter, formaler Bildung oder eben auch der eigenen künstlerisch-kreativen digitalen Affinität von allen Befragten gleichsam wahrgenommen wird. Dies führt u. a. auch dazu, dass soziale Vergleichsprozesse verstärkt werden und das Thema Selbstoptimierung einen großen Stellenwert im Leben – sowohl Jugendlicher wie auch Erwachsener – gewinnt. Das digitale Effizienzbestreben besteht auch dort, wo es nach subjektiver Wahrnehmung den Menschen nicht unterstützt. Selbstoptimierung meint dabei nicht nur körperliche Erwartungen, sondern auch das Ziel, in allen Lebensbereichen Maximales zu leisten und Perfektion anzustreben – meist, um andere von sich zu überzeugen und diese zu beeindrucken. Die Vermessung des eigenen Selbst, beliebt sind Step-Tracking und Herzfrequenzüberwachung im Lager der Quantified-Self-Bewegung, nimmt dort bedenkliche Ausmaße an, wo Jugendliche sich von einem Armband vorschreiben lassen, wie sie zu leben haben und somit früh in stark zwanghaftes Verhalten verfallen können.
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Eine Marktforschung aus dem Jahr 2019 konnte aufzeigen, dass etwa ein Viertel aller Deutschen eine Smartwatch oder einen Fitnesstracker benutzt. Ein Drittel hiervon ist unter 30 Jahre alt, während die ältere Bevölkerung beidem zu einem großen Teil ablehnend gegenübersteht (vgl. Spendlid Research 2019). Letztendlich liegt eine moderne Perspektive der eigenen Selbstbestimmung darin, Kontrollverlust zuzulassen und Nichtmessbares in das eigene Leben zu lassen. Ein Kontrollverlust findet dabei auch auf der Ebene kultureller Praktiken statt: Dass eine Ablösung stattfindet, ist bereits an eher gewöhnlichen analogen Praktiken zu beobachten: Fähigkeiten, die vormals als Alltagspraktiken galten, werden nun immer weniger benötigt oder gar abgelöst. Dies betrifft z. B. handschriftliches Schreiben und auch das Navigieren und Lesen von Landkarten – hierfür gibt es digitale Entsprechungen, die sich zumeist durchgesetzt haben. Anders wiederum verhält es sich beim Thema Musizieren: Hier hat eine starke Hybridisierung Einzug gehalten. So sind inzwischen viele klassische Instrumente elektronisch verstärkt (E-Geige, E-Dudelsack) oder werden durch digitale Techniken angereichert (LoopMaschine, Samples, E-Drum-Pads). Die Sichtweise des humanen Digitalismus muss sich ihrer posthumanen Entsprechung stellen: Welche Technik bleibt dem Menschen? Durch die konsequente Auslagerung von Techniken und Praktiken an die KI wird das Leben einfacher und weniger komplex. Spannend wird es, wenn es um Grenzbereiche geht, die lange unser kulturelles Selbstverständnis geprägt haben: Kulturelle Vielfalt durch Sprache könnte abgelöst werden, da automatische Übersetzer jegliche Kommunikationshürden abbauen können. Das Lernen von Fremdsprachen gehört damit der Vergangenheit an. Ebenso das Lesen: Komplette auditive Leseerlebnisse ermöglicht nicht nur der wachsende Markt für Hörbücher in Deutschland, Piktogramme und Emojis vermitteln inzwischen für viele Menschen mehr Informationen als das geschriebene Wort. Am Ende werden also nicht die technischen Möglichkeiten die Grenzen bestimmen, sondern der Mensch muss sich fragen, ob er diesen Zustand zulassen möchte. Digitale Technik fordert also Entscheidungen heraus: Wollen wir uns dominieren und unter Druck setzen lassen oder selbst gestalten und bestimmen? Bei diesen Fragen kann Kulturelle Bildung eine entscheidende Rolle spielen: So kann Kulturelle Bildung einen Reflexions- und Diskursraum für den digitalen Wandel in Bildung und Gesellschaft liefern: Sie eröffnet
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künstlerische Zugänge zu neuen Technologien und ihren Ästhetiken und aktiviert zugleich Kreativität. So ist bereits seit Längerem deutlich, dass klassisch ausgebildete IT-ler*innen oftmals nicht die besseren Coder*innen sind. Ebenso verhält es sich z. B. auch im Bereich der Suchmaschinenoptimierung. Kreativität und Einfallsreichtum werden ebenso benötigt wie linguistische Fertigkeiten und sachlogisches Denken. Kulturelle Bildung kann helfen, hier die spielerischen und gestalterischen Zugänge zu schaffen, die eine Gesellschaft, die sich lange Zeit alleinig auf den Ausbau der MINTDisziplinen verlassen hat, vernachlässigt. Dem stärkenorientierten Ansatz Kultureller Bildung folgend gilt es, kulturelle Praktiken junger Menschen im Umgang mit neuen Medien und Digitalität zu fördern und zu respektieren. Neben einer kritisch-emanzipatorischen Sichtweise ist dafür besonders eine Haltung erforderlich, die die Chancen der Digitalität für die Gestaltung besserer Lebensmodelle begreift. Aus dieser Sichtweise ergibt sich konsequenterweise eine humanistische kulturelle Perspektive auf Digitalisierung, in welcher der Mensch entscheidet, wie Technik eingesetzt wird und ihm künftig dienen kann.
F AZIT – P OTENZIAL DER K ULTURELLEN B ILDUNG FÜR D IGITALISIERUNG Kulturelle Bildung hat das Potenzial, die fortschreitende digitale Transformation mitzugestalten. Dies bedingt jedoch eine Transformation sowie aktive Auseinandersetzung der eigenen Fachstrukturen mit Digitalität. Der vorausgehende Beitrag verdeutlicht, dass viele zentrale Fragen des postdigitalen und posthumanen Zeitalters innerhalb der Kulturellen Bildung noch gar nicht aufgegriffen worden sind. Zu lange hat sich Kulturelle Bildung jenseits der Medienbildung auf analoge kulturelle Teilhabe konzentriert. Erst in jüngster Zeit hat es einen intensiveren Diskurs zu einer stärkeren Digitalität innerhalb der Kulturellen Bildung gegeben. Die Corona-Pandemie im Jahr 2020 hat hier einen Schub in zweierlei Richtung gegeben: Auf der einen Seite hat die Notwendigkeit, Kinder und Jugendliche in der Krise zu erreichen, dazu geführt, dass sich eine Vielzahl an neuen digitalen Angeboten entwickelte. Auf der anderen Seite wurde die Dringlichkeit des Bedürfnisses nach analogen kulturellen Bildungserfahrungen innerhalb des Fachdiskurses wieder stärker betont. Doch genau dieses Ausspielen und Gegenüberstellen von analoger und
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digitaler Praxis ist nicht zielführend, das haben die vorausgehenden Ergebnisse veranschaulicht: Welten sind virulent geworden, analoge und digitale Ebenen verlagern sich, sind nicht mehr trennbar. Entscheidende gesellschaftspolitische, postdigitale und posthumane Fragen für die Kulturelle Bildung sind vielmehr: Wie verändert das Leben in analog-digitalen Lebenswelten unsere Wahrnehmung und unsere Kultur? Führen die digitale Transparenz und Effizienz zu einem veränderten menschlichen Verhalten? Wie ist es mit der Selbstoptimierung der Menschen? Beginnt ein Wettkampf des Menschen mit digitaler Technik? Oder erfordert das posthumane Zeitalter eine neue Definition des Menschseins? Welche kulturellen Techniken werden in digitale Technik übertragen? Und welche nicht? Digitaler Wandel ist human gestaltbar und damit nicht nur eine technische und ökomische, sondern auch eine kulturelle Bildungsaufgabe. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, könnte Kulturelle Bildung auf den folgenden Ebenen einen gesellschaftspolitischen Beitrag leisten: − − − − −
Verantwortungsübernahme für analog-digitale kulturelle Teilhabe Anwaltschaft für Kinder und Jugendliche bei der gesellschaftspolitischen und rechtlichen Ausgestaltung digitaler Räume Analog-digitale Transformation der eigenen kulturellen Bildungspraxis ReExperimentierraum schaffen für neue analog-digitale künstlerische Ausdrucksformen innerhalb der kulturellen Bildungspraxis Eröffnung eines ästhetischen Diskursraums zur Ausgestaltung analog-digitaler Lebenswelten
L ITERATUR Biafra, Jello (2000): Become the Media: Alternative Tentacles. https:// www.piccadillyrecords.com/counter/product.php?pid=1050 [Zugriff: 30.07. 2020]. FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) online (2019): Neue Regeln für YouTuber? Scharfe Kritik an CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/regeln-fuer-youtuber-im-wahl kampf-akk-loest-heftige-debatte-aus-16210007.html [Zugriff: 14. 07.2020].
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Google (2020): Unsere zehn Grundsätze. https://www.google.com/about/ philosophy.html [Zugriff: 23.07.2020]. Keuchel, Susanne (2020): Gesellschaftspolitische Dimensionen Kultureller Bildung. Im Spannungsfeld emanzipatorischer und gestalterischer Prozesse. In: Jörissen, Benjamin/Keuchel, Susanne (Hrsg.): (Post-)digitale kulturelle Jugendwelten und Kulturelle Bildung: Einsichten und Herausforderungen. München: kopaed (im Erscheinen). Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2017): Jugend, Information, (Multi-)Media. https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/ JIM/2017/JIM_2017.pdf [Zugriff: 22.10.2019]. Negroponte, Nicholas (1998): Beyond Digital. http://archive.wired.com/ wired/archive/6.12/negroponte.html [Zugriff: 26.08. 2019]. saferinternet.at (2019): Studie: Immer mehr Jugendliche im digitalen Zeitstress. Pressemitteilung, 01.02.2019. https://www.saferinternet.at/pressedetail/studie-immer-mehr-jugendliche-im-digitalen-zeitstress [Zugriff: 24. 08.2020]. Splended Research (2019): Studie Optimized Self Monitor 2019. https:// www.splendid-research.com/de/studie-optimized-self.html [Zugriff: 24. 07.2020]. Stalder, Felix (2017): Kultur der Digitalität. 3. Aufl. Berlin: Suhrkamp. Turkle, Sherry (1984): The Second Self. Computers and the Human Spirit. New York: Simon and Schuster.
Wand in Sicht, Brett vor dem Kopf Gesellschaftspolitische Dimensionen der Kulturellen Bildung am Beispiel einiger Streetart-Projekte D OLORES S MITH
Z UR K UNST VERURTEILT ? K ULTURELLE B ILDUNG UND F REIWILLIGKEIT Es ist Sommer 2017 und in der örtlichen Presse werden die von einem Verein sozialpädagogisch begleiteten Graffiti-Projekte aus mehreren Kommunen vorgestellt. Jeweils unter Anleitung von Künstler*innen gestalten dabei straffällig gewordene Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsam mit freiwillig teilnehmenden Schüler*innen der gleichen Kommunen „unansehnliche und mit Schmierereien verunstaltete“ Betonflächen und Fassaden der beteiligten Städte (Tewes 2017: o. S.). In der „Rheinischen Post“ heißt es, das Graffiti-Projekt solle „[…] Heranwachsende, die bei Ladendiebstahl, Beleidigung oder beispielsweise leichter Körperverletzung straffällig geworden sind, zum Umdenken bringen“ (ebd.). Zitiert wird auch ein Jugendgerichtshelfer, der von der Wirkung des Projekts überzeugt ist: „Jugendliche, die bei einem solchen Projekt mitmachen, sehen wir selten wieder.“ Und seine Kollegin erklärt, es sei etwas anderes, den ganzen Tag mit den Jugendlichen „[…] bei einer kreativen Aktion zu verbringen und ihnen Handlungsalternativen zu verdeutlichen, als im Büro ein einstündiges Gespräch zu führen“ (ebd.). Ob die „kreative Aktion“ hier wirklich dafür sorgt, dass die Jugendlichen nicht mehr straffällig werden, kann anhand der Zeitungsberichterstattung
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nicht beurteilt werden, da die Projektvorstellung aus der Perspektive des Lokaljournalisten erfolgt. Welche im Konzept vorgesehenen Projektbausteine aus Sicht von Jugendgerichtshilfe und Künstler*in positiv wirken sollen, lässt sich daher ebenfalls nur vermuten: die Gelegenheit in eine unter Jugendlichen bekannte und häufig auch anerkannte Kunstform wie Graffiti eingeführt zu werden; gemeinsam mit Gleichaltrigen etwas zu gestalten; die Kommunikation mit Jugendlichen aus anderen Szenen; die Interaktion und Kommunikation, nicht nur mit Pädagog*innen, sondern auch mit Künstler*innen und die gestalterische Tätigkeit, an deren Ende ein Ergebnis steht, auf das die Jugendlichen im besten Fall stolz sind. Abschreckend soll sicher die Tatsache wirken, erwischt worden zu sein – in diesem Fall mit der Konsequenz, pädagogisch begleitet an einem Kunstprojekt teilnehmen zu müssen. Eine 15-Jährige, die laut Zeitungsbericht „bereits mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist und für die die Teilnahme nicht freiwillig ist“ wird folgendermaßen zitiert: „Das ist besser als Müll aufsammeln.“ (Ebd.) Vertreter*innen aus Kunst und Kultureller Bildung (oder einer unsichtbar anwesenden Streetart-Szene) hätten vermutlich eine kritischere Sicht auf das Projekt als die Jugendgerichtshelfer*innen – vor allem, was die kaum vorhandene Wahlfreiheit in Bezug auf die Teilnahme betrifft. Doch auch wenn der Zeitungsbericht eine etwas skurrile Sicht darauf vermittelt, könnte die Beurteilung des offensichtlich zu „Erziehungszwecken“ ins Leben gerufenen Kunstprojekts aus der Perspektive der Kulturellen Bildung nicht ganz so einfach sein, wie es auf den ersten Blick erscheint. Offenbar setzen hier Pädagog*innen für Gespräche mit den Jugendlichen auf ein anderes Setting als üblich, was erst einmal mit mehr Aufwand und Kosten verbunden ist als ein Gespräch im Büro. Den Mehraufwand scheint es ihnen aber wert zu sein, weil sie sich davon versprechen, die Jugendlichen auf diese Weise anders und besser zu erreichen. Außerdem scheinen sie mit Vorläufer-Projekten bereits gute Erfahrungen gemacht zu haben. Sie haben sich einen Künstler ins Boot geholt, mit dem sie in den Vorjahren schon ähnliche Projekte geplant und durchgeführt haben. Dieser hat zwar damit umzugehen, dass die Teilnahme am Projekt für einen Teil der Jugendlichen nur bedingt freiwillig ist, doch scheint im Hinblick auf den Arbeitsprozess die Möglichkeit zu bestehen, auch künstlerische Maßstäbe wie Ergebnisoffenheit einfordern zu können. Und auch die Jugendlichen sind natürlich nicht ohne Wahlmöglichkeiten: So können sie sich
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mehr oder weniger intensiv in das Projekt einbringen, vom Künstler mehr oder weniger Anregung und gestalterisches Know-how abrufen, eigenes Wissen und Erfahrungen mit anderen Jugendlichen teilen und neue Freundschaften schließen. Selbstbildungsmöglichkeiten gäbe es also auch in einem Projekt wie diesem viele. Kann also aufgrund der wenig wünschenswerten Vorbedingungen davon ausgegangen werden, dass die Bildungsmöglichkeiten der Jugendlichen im Projekt notwendig schlechter ausfallen als im Rahmen frei geplanter kultureller Bildungsangebote bei freigestellter Teilnahme? Ist Freiwilligkeit der Teilnahme eine unerlässliche Vorbedingung für die Erfahrung der eigenen Gestaltungsfähigkeit in einem Kunst- bzw. Kulturellen Bildungsprojekt? Oder kann ein gutes Konzept, an dessen Entwicklung die Jugendlichen ja auch in diesem Kontext hätten beteiligt werden können, die nur eingeschränkt freiwillige Teilnahme ausgleichen, weil Elementares vermittelt und erfahrbar wird? Kann es – anders gefragt – ein subjektstärkendes, kreativitätsförderndes, fantasieanregendes, zu Analyse- und Urteilsfähigkeit befähigendes und die Persönlichkeitsentwicklung unterstützendes, aufbauendes, ermutigendes, horizonterweiterndes kulturelles Bildungsprojekt geben, bei dem die Freiwilligkeit der Teilnahme nicht gegeben ist?
K ÜNSTLERISCHE PÄDAGOGISCHER
STATT A RGUMENTE
Das Prinzip der Freiwilligkeit besagt, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene selbst darüber entscheiden sollten, welche Angebote sie wahrnehmen, worauf sie sich einlassen und wie lange sie dies tun möchten – und diese Zielsetzungen sollen hier selbstverständlich nicht infrage gestellt werden. Freiwilligkeit ist unverzichtbar für die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit, das Erkennen eigener Bedürfnisse und die Entwicklung intrinsischer Motivation. Doch als Beschreibungsmerkmal kultureller Bildungsprojekte bzw. Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderen Bildungsbereichen taugt das Prinzip der Freiwilligkeit nicht. Die Forderung nach Freiwilligkeit der Teilnahme ist im außerschulischen Bereich kein Alleinstellungsmerkmal der Kulturellen Bildung; weiteste Teile der Jugendarbeit und Erwachsenenbildung arbeiten nach diesem Prinzip. Auch viele der weiter oben beschreibend
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aufgeführten Bildungsziele, wie z. B. Subjektstärkung, Mündigkeit usw., teilt die kulturelle mit anderen Zweigen der Bildung. Dennoch wird „Freiwilligkeit“ häufig als Besonderheit der Kulturellen Bildung ins Feld geführt, womit nicht nur die Freiwilligkeit der Teilnahme betont wird, sondern auch Vereinnahmungsansprüche durch andere Bildungsbereiche (wie z. B. Schule) und damit verbundene gesellschaftspolitische oder pädagogische Aufgabenzuweisungen abgewehrt werden sollen. Das Unbehagen von Künstler*innen und Kulturpädagog*innen gegenüber Projekten wie dem geschilderten wird damit begründet, dass die damit verbundenen pädagogischen oder gesellschaftspolitischen Zielstellungen die Prozesse behindern, die die Stärke der Künste und Kulturellen Bildung ausmachen. Tatsächlich aber müsste sich das Unbehagen der Künstler*innen und Kulturpädagog*innen nicht auf die Aufgabenstellung oder die erschwerten Bedingungen richten, sondern nach innen – auf Kunst und Kulturelle Bildung, die ihrem Instrumentarium offensichtlich zu wenig zutrauen. Wenn das zutrifft, was den Künsten und auch der Kulturellen Bildung unterstellt wird – habitualisierte Wahrnehmung irritieren, Wirklichkeitsdeutungen hinterfragen und Verdecktes sichtbar machen zu können oder auf widrige Umstände mit Gestaltung und Gegenentwürfen zu antworten und dabei kreative Formen von Widerständigkeit einzuüben – dann sollten ihre Vertreter*innen selbst Herausforderungen wie die oben geschilderte durchaus annehmen.
„G RAFFITI
IS ONE OF THE FEW TOOLS YOU HAVE IF YOU HAVE ALMOST NOTHING “ – B ANKSY Im vorliegenden Projekt hätte eine Auseinandersetzung mit Streetart, die eben nicht „Betonkosmetik“ sein will, den beteiligten Jugendlichen die oben skizzierten Erfahrungen mit Kunst ermöglichen können. Streetart bietet viele Möglichkeiten, Kunst als Medium der Kommunikation und Interaktion und der Herstellung von Öffentlichkeit erfahrbar zu machen, die Wahrnehmung scheinbar vertrauter Räume zu schärfen, raumbezogen alternative Handlungsmöglichkeiten sichtbar zu machen und je nach Alter der Zielgruppe auch kritische Fragen bezüglich privater und öffentlicher Raumnutzung und eigener kultureller Teilhabemöglichkeiten zu integrieren. Werden allerdings
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den Jugendlichen solche Auseinandersetzungen vorenthalten und wird ihnen nur die Möglichkeit überlassen, die Tags anderer Jugendlicher mit etwas Gefälligem zu übersprayen, dann wird genau das verschenkt, was Kunst und Kulturelle Bildung für sie als Individuen und auch als politische Subjekte leisten könnten. Um solche Bildungsprozesse zu ermöglichen, braucht es entsprechend ausgebildete Vermittler*innen. Jede neue Generation von Praktiker*innen der Kulturellen Bildung steht vor der Aufgabe, sich in Bezug auf ihr Arbeitsfeld zu verorten, um für sich herauszufinden und gegenüber anderen präzisieren zu können, welche Funktionen Kunst, welche Kulturelle Bildung in der Gesellschaft erfüllen soll und kann und welche Haltungen, welches Rollenverständnis, welche Arbeitsprinzipien, welche Settings nötig sind, um diesem selbst gestellten Auftrag besonders gut gerecht werden zu können. Aufgabe der ausbildenden Institutionen ist es, für solche Erfahrungsprozesse, reflektierte Suchbewegungen und Positionierungen ausreichend Zeit und Raum zu geben. An einem weiteren Praxisbeispiel soll dieser Frage weiter nachgegangen werden.
K UNST ODER K ULTURELLE B ILDUNG ? Z WECKFREIHEIT ODER GESELLSCHAFTLICHE R ELEVANZ ? Es ist Frühjahr 2019 und der Bürgerverein einer Stadt hat die Idee, in einem Viertel, dem ein wenig frische Farbe guttun würde, einige der grauen Kabelverteilerschränke verschönern zu lassen. Das Material würde die Bezirksvertretung stellen. Ein Mitglied des Bürgervereins fragt bei Schulen und Jugendeinrichtungen nach, ob dort jemand Lust hätte, die Stromkästen zu gestalten. Die Suche bleibt lange erfolglos, bis sich die Kunstlehrer*innen zweier Gymnasien, die zusammengelegt werden sollen, melden. Eine von ihnen gibt dem Bürgerverein gegenüber zu, dass es schwierig war, unter den Schüler*innen Freiwillige zu finden, obwohl es doch – wie die andere befindet – schön sei, dass Kunst so öffentlich ausgestellt würde, statt in einem Ordner zu verschwinden. In der Zwischenzeit hat eine Vertretung des Bürgervereins die Genehmigung zur Bemalung der Stromkästen eingeholt. Die Schüler*innen haben bereits erste Entwürfe gemacht und erfahren, dass die Motive, mit denen die Kästen bemalt
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werden dürfen, nicht zu politisch sein sollen; das Motiv eines VW-Bullis mit einem Anti-Atomkraft-Zeichen wird nicht genehmigt. Darauf treten einige der Schüler*innen vom Projekt zurück. Diejenigen, die letztlich teilnehmen, erzählen, dass sie anfangs von Anwohner*innen gefragt wurden, ob sie eine Strafarbeit verrichten müssten. Doch nach Abschluss der Malaktion berichten sie, diese habe sie näher zusammengebracht und sie würden „[…] so etwas jederzeit nochmal machen und auch andere Klassen und Schulen dazu ermutigen […]“ (Westdeutsche Zeitung 2019: o. S.). Unter Künstler*innen und Kulturpädagog*innen gefragt, ob sie selbst dieses Projekt mit Jugendlichen durchgeführt hätten, fielen die Antworten unterschiedlich aus. Von einigen kam ein entschiedenes „Nein!“. Gründe für die Ablehnung: „zu viel Einmischung und Verbote“; „zu wenig Gestaltungsspielraum“; „Instrumentalisierung der Jugendlichen und der Kunst“; „ein langer Vorlauf und dann zu wenig Zeit für das eigentliche Kunstprojekt“. Zwei Personen hätten sich jedoch für die Durchführung entschieden, die eine, weil Jugendlichen so gezeigt werden könne, dass jede Fläche auch als Leinwand genutzt werden könne, die Jugendlichen später stolz auf ihr Kunstwerk an einem öffentlichen Ort sein könnten und – weil sie „jung sei und das Geld brauche“. Die zweite Person, die das Kunstprojekt durchgeführt hätte, gab an, sie würde zunächst einmal versucht haben, die Jugendlichen, deren Entwurf abgelehnt worden war, zurück ins Projekt zu holen. Mit ihnen und den anderen Schüler*innen hätten sie sich dann den abgelehnten Entwurf mit dem Anti-Atomkraft-Zeichen noch einmal vornehmen und neue künstlerische Strategien zu dessen Umsetzung entwickeln können. Vorbilder aus der aktuellen Kunst gebe es genug. Angeregt durch möglichst viele verschiedene Beispiele würden Jugendliche eigentlich immer eigene gestalterische Antworten finden. Das Projekt bedeutet eine Chance, Jugendlichen Erfahrungen mit Kunst bzw. Kultureller Bildung zu ermöglichen. Eine Chance, die genutzt wird oder nicht. Eine Gelegenheit, im Folgenden zu fragen, woran es liegt, dass Künstler*innen bzw. Kulturpädagog*innen so unterschiedlich mit dieser Chance umgehen würden. Eine große Herausforderung für die Kulturelle Bildung wird im Vorwort zu diesem Band damit umrissen, Selbstbildungsprozesse anzustoßen, die die gesellschaftspolitische Dimension berücksichtigen, ohne dabei normative Bildungsziele zu setzen, die von vornherein prädisponierend auf diese Prozesse einwirken würden. Dass diese Herausforderung gesehen und
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zum Thema gemacht wird, lässt darauf schließen, dass es sich um eine Frage handelt, auf die in den Kulturwissenschaften befriedigende Antworten noch ausstehen. Eine Grundsatzdebatte flammt in diesem Zusammenhang immer wieder neu auf. Sie wird geführt zwischen denen, die die Künste und damit auch die Kulturelle Bildung frei halten möchten von Zielen, die außerhalb ihrer selbst liegen und denen, die gerade das emanzipatorische Potenzial der Künste für geeignet halten, in den Dienst gesellschaftsrelevanter (Bildungs-)Ziele gestellt zu werden. In besonderer Weise dazu beigetragen, die Debatte zu etablieren, hat die Lʼart-pour-lʼart-Bewegung, die sich im 19. Jahrhundert von Frankreich aus verbreitete und für ästhetischen Rigorismus eintrat. Der Slogan „Lʼart pour lʼart“ – „Kunst um der Kunst willen“ war Programm: Künstler*innen sollten sich allein der künstlerischen Form und ästhetischen Gestaltung widmen und die Kunst frei halten von jeglichem Gedanken an Anwendung, Verwertbarkeit und Nutzen. Die Lʼart-pour-lʼart-Bewegung verstand sich als radikale Gegenposition zu Kunstauffassungen mit zweckbestimmter, politisch, gesellschaftlich, pädagogisch oder anderweitig engagierter Zielrichtung (vgl. Wilde 1997). Das hallt auch in den Antworten der Künstler*innen und Kulturpädagog*innen zu dem oben geschilderten Projekt nach, die die „Auftragsarbeit“ auf keinen Fall annehmen möchten und darin eine Instrumentalisierung der Kunst und der Jugendlichen sehen. Die Idee, etwa das Einholen von Genehmigungen für die Gestaltung der Stromverteilerkästen, den Umgang mit den Einschränkungen und Verboten in das Kunstprojekt zu integrieren, kommt dieser Gruppe nicht. Das Gleiche gilt für die Kulturpädagogin, die daran erinnert, dass solche Projekte auch dazu dienen, den Lebensunterhalt zu sichern und unter diesen Voraussetzungen versuchen würde, für die Jugendlichen das Beste aus dem Projekt herauszuholen. Beiden Reaktionen liegt ein Kunstverständnis zugrunde, das ästhetische Erfahrungen im Bereich der klassischen Kunstsparten ansiedelt und Ort und Rahmenbedingungen des Projekts mehr oder weniger ausklammert. Das „Kunstprojekt im öffentlichen Raum“ wird konzipiert als Transfer von Atelierkursen in Malerei, Druck, Collage in den Stadtraum. Zumindest für dieses Projekt scheint ein traditioneller Werkbegriff zugrunde gelegt zu werden. Dieses Kunstverständnis bringt die Kulturpädagogin, die das Projekt mit den Jugendlichen als reine „Stadtmöbelbemalung“ durchgeführt hätte, um ein erweitertes Repertoire an konzeptionellen Möglichkeiten. Immerhin
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aber würde sie die Herausforderungen des Projekts annehmen und versuchen, den Jugendlichen zu einem Ergebnis zu verhelfen, auf das sie stolz sein können. Anders die Gruppe der Künstler*innen und Kulturpädagog*innen, die sich verpflichtet sehen würden, ein solches Projektangebot von vornherein abzulehnen. Indem sie dies tun, werten sie jedoch den Schutz der „Autonomie der Kunst“ höher als die Chance, Jugendlichen die Erfahrung von Autonomie im Rahmen eines Kunstprojekts zu vermitteln. Hier sind Künstler*innen und Kulturpädagog*innen allerdings auch in verschiedenen Rollen. Wie intensiv diese in den jeweiligen Ausbildungsgängen reflektiert werden, hängt sicher auch von Schwerpunktsetzungen der ausbildenden Institutionen ab. Da viele Künstler*innen in der Kulturellen Bildung tätig sind, ist es jedoch eine wichtige Aufgabe, dafür ausreichend Raum zu geben. Doch nicht nur Rollenklarheit, sondern auch die Reflexion des eigenen Kunstbegriffs führt zu erweiterten Handlungsoptionen. Das zeigt das Beispiel des Künstlers, der nicht nur die Gestaltung der Stromkästen, sondern auch die Vorbedingungen des Gestaltungsprozesses in das Kunstprojekt einbeziehen würde. Gemeinsam mit den Jugendlichen sollen Alternativem zum Rückzug aus dem Projekt entwickelt werden, die das Bestehen der Jugendlichen auf einem eigenständigen Entwurf ernst nehmen. Nicht lediglich das jeweilige künstlerische Ziel, sondern auch die Bedingungen, die dessen Umsetzung behindern oder fördern, sollen von den Jugendlichen als gestaltbare und zu gestaltende erfahren werden können. Damit sind sie gefordert, für einen eigenständigen künstlerischen Entwurf einzustehen und werden in Verantwortung für den Prozess seiner Realisierung auch als politische Subjekte angesprochen. Die Mittel, die eingesetzt werden, bleiben aber künstlerische.
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UND K ULTURELLE B ILDUNG ZWISCHEN A UTONOMIE UND GESELLSCHAFTLICHEM E NGAGEMENT Das Beispiel widerlegt die Behauptung der Unvereinbarkeit von gesellschaftspolitischen Zielsetzungen mit der Eigengesetzlichkeit künstlerischer Prozesse, mit der sich bisweilen Vertreter*innen von Lʼart-pour-
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lʼart-Positionen und gesellschaftspolitisch engagierter Kunst die Legitimation streitig machen möchten. Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno ging im Rahmen seines dialektischen Ansatzes vom Doppelcharakter der Kunst aus. Kunst sei gesellschaftlich erzeugt, eingebunden in die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und Produkt gesellschaftlicher Arbeit. Gleichzeitig aber sei sie autonom, funktionslos und gehorche allein ihren eigenen Formgesetzen. Ihre Autonomie sei aber eine sozial determinierte, die „mühsam der Gesellschaft abgezwungen“ wurde (Adorno 1970: 353). Nach Adorno wäre es unsinnig, wenn sich Verfechter*innen einer gesellschaftspolitisch engagierten oder einer zweckfreien Kunst gegenseitig bekämpften. Damit, dass jede der beiden Richtungen der anderen abspricht, Kunst zu sein, negiert sie nach Adorno mit der anderen auch sich selbst, die „[…] engagierte Kunst, weil sie – als Kunst notwendig von der Realität abgesetzt – die Differenz zu dieser durchstreicht; die des Lʼart pour lʼart, weil sie durch ihre Verabsolutierung auch jene unauslöschliche Beziehung mit der Realität leugnet“ (Ebd. 1990: 410). Das führt zurück zu der Frage, welche Funktionen Kunst in der Gesellschaft erfüllt und für welche darüber hinausgehenden Aufgaben sich Kulturelle Bildung in Verantwortung sieht. Gegen die „Funktionslosigkeit“ der Kunst spricht, dass die Kunstfreiheit zu den am stärksten geschützten Grundrechten des deutschen Grundrechte-Katalogs gehört. Hätte die Kunst keine andere Funktion außer der Unterhaltung (vgl. Plumpe 1993), bedürfte es dieser Form des Schutzes sicher nicht. Doch nicht erst seit Friedrich Schillers auf Bildung und Erziehung gerichteten ästhetischen Theorie vertrauen Menschen darauf, dass Kunst, indem sie unterhält, auch bildet. Sie bildet nach Schiller vor allem dadurch, dass sie Menschen im „ästhetischen Spiel“ zumindest temporär Erfahrungen von psychischer Totalität und Freiheit machen lässt. Indem sie eine Gegenwelt, ein Ideal erfahrbar werden lässt, ist sie gleichzeitig Aufklärung über eine entfremdete Praxis. Diesen utopischen Charakter der Kunst sah allerdings auch Adorno, der Kunst als die „gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft“ (Adorno 1970: 19) und eine Negation der gegebenen Wirklichkeit bezeichnete: „Indem sie sich als Eigenes in sich kristallisiert, statt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren und als ‚gesellschaftlich nützlich‘ sich zu qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft, durch ihr bloßes Dasein.“ (Ebd.: 337) Ihm zufolge macht authentische Kunst die Widersprüche in der Gesellschaft sichtbar und rückt die Möglichkeit von Veränderungen ins Bewusstsein.
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Darin unterscheidet sich Kunst nach Adorno von der „Kulturindustrie“, die Menschen zwar unterhält, aber ihr kritisches Bewusstsein, ihr Verlangen nach Freiheit, Selbstbestimmung und ihr Bewusstsein von der Gestaltungsfähigkeit ihrer Lebensumstände einschläfert. Dass der Kunst in Bezug auf Bildung sehr viel zugetraut wird, zeigt sich nicht zuletzt auch in Gesellschaften, in denen versucht wird, ihre unbequem kritische Bildungsfunktion zu unterdrücken, die Freiheiten der Künste massiv einzuschränken und Kunst den Vorgaben der Machtapparate, die deren Bildungswirkungen in ihrem eigenen Sinne zu lenken suchen, zu unterwerfen (vgl. Golomstock 1990). Kunst ist also keinesfalls funktionslos noch ist sie autark. Sie ist aber dennoch autonom. Niklas Luhmann hat das in seiner Systemtheorie aufgegriffen und versucht zu präzisieren. Aus systemtheoretischer Sicht geht die Eigengesetzlichkeit der Kunst nicht mit Funktionslosigkeit einher. Dem Medienwissenschaftler Thomas Küpper zufolge hat vielmehr das „Kunstsystem“ als gesellschaftliches Teilsystem wie alle anderen Teilsysteme eine spezifische Funktion: „Die Teilsysteme dieser Gesellschaft erlangen dadurch Autonomie, dass sie sich jeweils eine spezifische, an keiner anderen Stelle erfüllte Funktion zu eigen machen.“ (Küpper 2008: 11) Keines der Teilsysteme ist jedoch autark: „Betrachtet man Kunst entsprechend im gesellschaftlichen Funktionskontext, lässt sich ihre Autonomie im wörtlichen Sinn als Eigengesetzlichkeit auffassen, jedoch nicht als völlige Unabhängigkeit gegenüber anderen Systemen.“ (Ebd.: 12) In Luhmanns systemtheoretischer Perspektive ist im Gegenteil jedes gesellschaftliche Teilsystem darauf angewiesen, dass die anderen Systeme Funktionen erfüllen, die es selbst nicht erfüllt. Das „Kunstsystem“ teilt mit allen anderen Teilsystemen, dass seine „spezifische Unabhängigkeit auf hohen Abhängigkeiten beruht“ (Luhmann zitiert nach Küpper 2008: 12). Dass Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind in ihren Schaffens- und Wirkungsbereichen nach eigenen Maßgaben tätig zu sein, erlegt ihnen auch eine besondere Verantwortung für das demokratische System auf, das ihre Freiheitsrechte so besonders gut schützt. Da es in der Bundesrepublik die durch das Grundgesetz garantierte Kunstfreiheit verbietet, den künstlerischen Schaffensprozess einzuengen, für Inhalte und Methoden allgemein verbindliche Regeln vorzuschreiben, auf Tendenzen einzuwirken oder anderweitig in den Wirkungsbereich der Künste einzugreifen, sind Vereinnahmungsansprüche aus anderen Funktionsbereichen außerhalb der Künste überwiegend auf der Basis ökonomischer Abhängigkeiten der
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Künstler*innen zu erwarten. Es ist dann egal, ob solche Vereinnahmungsversuche aus pädagogischen, politischen oder wirtschaftlichen Kontexten kommen. Wirksam werden können sie nur dann, wenn Künstler*innen und Kulturpädagog*innen ökonomisch von derartigen Aufträgen abhängen. Um die Freiheit der Künste und Wissenschaften zu erhalten, bedarf also auch dieser Aspekt der Unabhängigkeit permanenter Aufmerksamkeit und Förderung.
„D IE T HEORIE BESTIMMT , WAS KÖNNEN “ – A LBERT E INSTEIN
WIR BEOBACHTEN
Überall da, wo ökonomische Unabhängigkeit nicht gegeben ist und vorerst nicht erreicht werden kann, ist es umso wichtiger, dass Künstler*innen und Kulturpädagog*innen ihre künstlerische Freiheit nutzen und analytischkonzeptionell und gestalterisch unabhängige Antworten auf an sie herangetragene Aufgaben geben können. Denn wie zu sehen war, können Vereinnahmungsversuche auch dadurch wirksam werden, dass sich Künstler*innen oder Kulturpädagog*innen der Bandbreite ihrer konzeptionellen Möglichkeiten nicht bewusst sind. Neben einer breit gefächerten Ausbildung in künstlerischen Medien und Pädagogik scheint dem vor allem eine grundlegende Auseinandersetzung mit Theorie entgegenwirken zu können. Da wir uns der Welt niemals theoriefrei nähern, da Erkenntnis immer standortgebunden ist, können Theorien als Erkenntnismittel die Wahrnehmung für Handlungsoptionen schärfen. Theorien können jedoch auch die Sicht auf Naheliegendes verhindern und zum sprichwörtlichen Brett vor dem Kopf werden, wenn sie unreflektiert bleiben oder nicht im Sinne einer Analysekategorie, zu der es Alternativen gibt, begriffen werden. Am Beispiel eines Schüler*innen-Berichts über ein Kunstprojekt im Stadtraum soll im Folgenden zunächst der potenzielle Einfluss theoretischer Vorannahmen auf Konzeptentscheidungen illustriert werden: „Unser Kunstlehrer kam gut gelaunt in die Klasse und erzählte uns, dass der Kunstunterricht in den nächsten Wochen in der Stadt stattfinden würde. Eine der vielen Kirchen der Stadt müsse umfangreich restauriert und daher ein Bauzaun um das Kirchengelände gezogen werden. Diesen Bauzaun sollten wir bemalen. Wir zogen in die Stadt, beobachteten Alltagsszenen, nahmen Skizzen, sprachen mit Bürger*innen
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jeden Alters und bemalten in den folgenden Wochen den Bauzaun rund um die Kirche mit den so gewonnen Motiven. Wir hatten viel Spaß und interessante Begegnungen. Wir lernten, wie man grundiert, Farben mischt und Skizzen auf große Flächen überträgt. Wir lernten etwas über sauren Regen und wie er Seen, Wälder und eben auch Gebäude – insbesondere die aus Sand- und Kalkstein – schädigt. Und wir lernten, dass auch jahrtausendealte Sakralbauten bröckeln, wenn man Umweltfragen keine Beachtung schenkt. Der von uns bemalte Bauzaun steht noch immer auf dem Kirchengelände, aber wir wissen, dass unsere Stadtszenen mit ihm bald wieder verschwinden werden. Was aber bleiben wird, ist das, was wir von den Menschen, mit denen wir gesprochen haben, über die Stadt erfahren konnten. Wenn ich jetzt durch die Straßen gehe, erwarte und sehe ich an vielen Orten andere Dinge als vorher. Am lustigsten fand ich die Geschichte mit den Babyschnullern, die man so oft auf dem Marktplatz vor der Eisdiele finden kann, dass das Personal der Eisdiele angefangen hat, sie in großen Bonbongläsern zu sammeln. Als ich gestern dort war, habe ich selbst einen gefunden […].“
Für Menschen, die Kunst im Wesentlichen im Bereich der klassischen Sparten Malerei und Bildhauerei und im Gegenständlichen verorten, unterscheidet sich das hier geschilderte Projekt nur in der Qualität der Durchführung von der weiter oben beschriebenen Aktion, bei der im Stadtgebiet Kabelverteilerschränke bemalt wurden. In den Fokus der Wahrnehmung rückt die Bemalung einer Freifläche im Stadtraum. Die Selbstbildungsmöglichkeiten der beteiligten Jugendlichen werden dann vor allem in der Bearbeitung der visuellen Gestaltungsaufgabe gesehen. Gelernt werden kann gemäß dieser Sicht auf das Projekt neben der Entwicklung einer Gestaltungsidee auch alles, was mit deren Umsetzung zu tun hat: Grundieren, Skizzieren, Umgang mit Farben und Texturen, ggf. Herstellung und/oder Mischen von Farben, Skizzen auf große Flächen übertragen, Kunsthistorisches … Wer dagegen – wie der Kunstlehrer – im Rahmen des Bauzaunprojekts einem erweiterten Kunstbegriff folgt und künstlerisches Tun als Arbeit an der „Sozialen Plastik“ versteht, sieht ein anderes Konzept, in dem die Bearbeitung der Gestaltungsaufgabe „Bauzaunbemalung“ nur einen kleinen Teil der Selbstbildungsmöglichkeiten der Jugendlichen ausmacht. Neben der visuellen Gestaltungsaufgabe und dem offensichtlich ebenfalls bearbeiteten Umweltthema spielen auch im weitesten Sinne stadtsoziologische Fragestellungen – und damit einhergehend Exploration, Kommunikation, Interaktionen –eine wesentliche Rolle. Diese sind nicht zufällige
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Begleiterscheinung, sondern konzeptioneller Bestandteil des Kunstprojekts, in dessen Rahmen weniger mittels zeichnerischer, sondern über soziale Perspektiven etwas über Wahrnehmungsvorgänge erfahren werden kann. Ähnliches lässt sich auch anhand von Raumtheorien illustrieren. Auf der Basis einer territorialen Raumauffassung, in der Raum als gebaute Umwelt verstanden wird und unter „öffentlichem Raum“ Liegenschaften in öffentlicher Hand, ist es naheliegend, dass Projektkonzepte entstehen, die sich auf Nutzung und/oder Gestaltung dieses physischen Raums beziehen. Wird dagegen Raum als das Ergebnis sozialer Praxen und im Sinne Henri Lefebvres (vgl. 1974/2001) als „produzierter“ und zu produzierender Raum verstanden, verlässt man also die Vorstellung von Raum als „Container“, dann rücken nicht nur die Bedürfnisse, Interessen und das Handeln der jungen und älteren Bewohner*innen und Nutzer*innen des Stadtraums ins Blickfeld, sondern auch die Co-Entwicklung von Gesellschaft und Raum – oder eben das Fehlen einer solchen (vgl. Reiß-Schmidt 2015: 2f.). Daraus lässt sich folgern, dass bestimmte theoretische Ansätze – wie sie beispielsweise im Zuge des „performative turn“ (vgl. Fischer-Lichte 2004), „spatial turn“ (vgl. Döring/Thielmann 2009) oder „postcolonial turn“ (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015) in den Kulturwissenschaften formuliert wurden – die Bearbeitung gesellschaftspolitischer Fragestellungen in kulturellen Bildungsprojekten näherlegen als andere. Der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick zufolge sind die diversen „cultural turns“ als Fundus von systematischen Fokussierungen zu verstehen, deren jeweilige Analysekategorien neue, bisher vernachlässigte Perspektiven auf Kultur und Gesellschaft erlauben. Voraussetzung dafür, dass sie eine Wende begründen, ist nach Bachmann-Medick jedoch, dass die Analysekategorien von lediglich beschreibenden zu operativen Begriffen, zu Erkenntnismitteln und -medien werden (vgl. Bachmann-Medick 2006: 26).
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SHOULD COMFORT THE DISTURBED AND DISTURB THE COMFORTABLE “ – B ANKSY Dass die Gesellschaft wahrnehmungsverändernde Analysen und auf ihnen basierende perspektiverweiternde kulturelle Bildungskonzepte braucht, dass sie Kunst braucht, die habitualisierte Wahrnehmungen irritiert und unhinterfragten inhumanen Handlungsweisen entgegenarbeitet – dass sie in diesem Sinne also gesellschaftspolitisch engagierte Kunst und Kulturelle Bildung braucht, sollen abschließend noch einmal zwei Blicke auf Kunst und den öffentlichen Raum illustrieren. Der dominante Blick auf den immer kleiner werdenden öffentlichen Raum in Großstädten ist durch und durch an ökonomischer Verwertungslogik orientiert. Vormals öffentliche Wohnungsbestände wurden an profitorientierte Unternehmen verkauft, ihre Bedeutung als Wohn- und Lebensort wird immer weiter von einer Deutung als Sachkapital, Rendite- und Spekulationsobjekte verdrängt. Auch andere, ehemals allgemein nutzbare, vielfältig anzueignende Flächen im Stadtraum wurden privatisiert, kommerzialisiert, ihre freie Zugänglichkeit auf Kund*innen und Konsument*innen beschränkt. (vgl. Reiß-Schmidt 2015: 4f.). Zudem werden immer größere öffentliche und privatisierte Flächen im Stadtraum von internationalen Konzernen für ihre Werbebotschaften beansprucht. In den Raum eingeschrieben werden die Interessen der Einkommensstarken. Nicht „frei verfügbare“ (Butler 2018: 20), nicht kaufkräftige Personengruppen stören in dieser Raumnutzungslogik – unautorisierte kommunikative Eingriffe in den Stadtraum durch Streetart auch. Graffiti und andere Formen von Streetart gelten als Ausdrucksform überwiegend sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen, sie werden in der skizzierten Raumnutzungslogik nicht als eine Form der Selbstrepräsentation und Kommunikation dieser Stadtbewohner*innen gelesen, sondern als Sachbeschädigung klassifiziert. Als Kunst gelten sie in der allgemeinen Wahrnehmung erst recht nicht. In der oben skizzierten Waren- und Verwertungslogik muss Kunst objekthaft sein, handelbar, käuflich, sie muss besessen werden können. Das ist möglicherweise auch eine Erklärung dafür, warum traditionelle Werkbegriffe noch immer die allgemeine Vorstellung von dem, was Kunst ist und Kunst sein soll, dominieren. 2002 sprühte der*die Streetart Künstler*in Banksy im Osten Londons mit Schablonen in Rot und Schwarz ein Mädchen, das einen Ballon in
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Herzform davonfliegen lässt auf eine Hauswand. „Balloon Girl“ wurde aus der Hauswand des betreffenden Geschäftslokals herausgetrennt und erzielte – gerahmt(!) – bei einer Versteigerung 500 000 Pfund. Hier sprach niemand von Sachbeschädigung. Die ökonomistische Perspektive auf alles – Leben, Arbeit, Bildung, Kultur, Umwelt, den Wert des Menschen – ist derzeit unser dickstes Brett vor dem Kopf. Aber: die Kulturelle Bildung „kann“ Holzbearbeitung – dünne und auch dicke Bretter. Fürs Bearbeiten der dicken Bretter muss sie nur von Zeit zu Zeit ihre Werkzeuge schärfen.
L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1990): Engagement. In: Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur III. Gesammelte Schriften, Bd. 11. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 409-430. Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie. In: Adorno, Gretel, Tiedemann, Rolf (Hrsg.) Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, 1. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt. Butler, Judith (2018): Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Berlin: Suhrkamp. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hrsg.) (2009): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: transcript. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Golomstock, Igor (1990): Totalitarian Art in the Soviet Union, the Third Reich, Fascist Italy, and the Peopleʼs Republic of China. London: Collins Harvill. Küpper, Thomas (2008): Autonomie „Das Kreuz mit der Kunst“ – systemtheoretisch betrachtet. In: kritische berichte: Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, 36 (4): Niklas Luhmann.
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Lefebvre, Henri (1974/2001): La production de lʼespace. Collection „Idées“. 4. Aufl. Paris: Anthropos. Plumpe, Gerhard (1993): Probleme der Theorie ästhetischer Kommunikation. In: Plumpe, Gerhard: Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd. 2. Opladen: Westdeutscher Verlag S. 292-304. Reiß-Schmidt, Stephan (2015): Der öffentliche Raum: Traum, Wirklichkeit, Perspektiven. http://www.urbanauten.de/reiss_schmidt.pdf [Zugriff: 29. 04.2015]. Tewes, Günter (2017): Heiligenhaus: Graffiti-Kunst sprüht vor Ideen. In: Rheinische Post online, 19. Juli 2017. https://rp-online.de/nrw/staedte/ ratingen/graffiti-kunst-sprueht-vor-ideen_aid-19492923 [Zugriff: 07.04. 2020]. Westdeutsche Zeitung Online (2019): Stadtbild: Die Stromkästen der Stadt werden mit Bildern beklebt oder bemalt. https://www.wz.de/nrw/ krefeld/krefeld-die-stromkaesten-der-stadt-werden-mit-bildern-beklebtoder-bemalt_aid-44651767 [Zugriff: 05.04.2020]. Wilde, Oscar (1997): Intentions. In: Wilde, Oscar (Hrsg.): Collected Works of Oscar Wilde: The Plays, the Poems, the Stories and the Essays Including De Profundi. Hertfordshire; Wordsworth, S. 919-1037.
„Ich bin die Wahl“ – ein Projekt zur Bundestagswahl 2017 K A J AHN UND D ETLEF R OTH
Alle vier Jahre wird in Deutschland der Bundestag gewählt. Ein paar Monate vor dem Wahltag häufen sich Wahlveranstaltungen, in den Straßen werden die Werbeplakate der konkurrierenden Parteien platziert. Mit der Plakatwerbung sollen die Botschaften schnell von der Bevölkerung aufgenommen und positiv rezipiert werden können, um ihre Stimmen für die entsprechende Partei zu gewinnen. Eine schwierige Situation, denn ganze Programme werden auf knappe Punkte reduziert, um griffig und ansprechend komplexe politische Absichtserklärungen zu vermitteln. Und das in „plakativer“ Abgrenzung zu den anderen Parteien. Obwohl die Wirkung der wahlkampfbetriebenen Plakatierung umstritten ist, setzen sämtliche Parteien auf diese Art der Be-Werbung – mangels Alternativen im Außenraum und angesichts der allgegenwärtigen Werbewirklichkeit in unserer konsumorientierten Gesellschaft. Das Wahlplakat zählt zu den eher veralteten analogen Medien – selbst mit Hashtags und QR-Codes. Besonders umworben sind Jugendliche und junge Erwachsene, denn sie repräsentieren die Zukunft und lassen noch dynamische Entwicklungen zu. Parteien betonen dabei vor allem ihre Verantwortung für die nachkommenden Generationen. Sie wollen der Jugend zeigen, dass die Partei ihre Themen versteht, befördert und ihre Fragen beantwortet. So entwickeln Agenturen Wahlkampagnen, in denen sich die Parteien mit ihrem „Werbe-Personal“ – Kandidat*innen oder auch Schauspieler*innen – an die Bürger*innen wenden: mit Slogans, mit rhetorischen Fragen, mit Abgrenzungen, mit Forderungen und mit personifizierten Botschaften.
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WÜRDEST DU VERSPRECHEN , UM GEWÄHLT ZU WERDEN ? Was passiert, wenn junge Menschen ihre eigenen politischen Aussagen aus ihren Ideen und ihren Einschätzungen heraus entwickeln? Und wenn sie diese in den Rollen von Wahlwerber*innen herausgeben, quasi als gespiegelte Botschaft an die Parteien und an Politiker*innen? Die Umkehrung der Botschaft – die Adressat*innen werden zu Absender*innen – bedeutet auch, die Analyse der Mittel und Vorgehensweisen von WahlkampfAgenturen aus Wahlplakaten der Parteien abzuleiten. Das Wahlplakat bringt Inszenierung und Reduzierung auf die Spitze: ein Slogan, eine Person, ein Layout repräsentieren eine Partei, der Bürger*innen ihre Stimme geben sollen, um das Land zu regieren. Was wären Inhalte, für die Jugendliche und junge Erwachsene eintreten würden? Was würden sie versprechen, um gewählt zu werden? Diese Überlegungen waren Ausgangspunkt für das Projekt „Ich bin die Wahl“. Grundlegend war eine partizipatorische Ausrichtung des Projekts, das heißt, die Jugendlichen sollten in den Projektverlauf aktiv eingebunden werden. Diese Form der Beteiligung bedeutet eine zeit- und kostenaufwendige, aber lohnenswerte Arbeit, die prozessund nicht ergebnisorientiert ausgerichtet sein sollte. Das Projekt wollte nicht als Kampagnenauftrag mit Qualitätsversprechen verstanden werden oder die messbare Steigerung der Wahlbeteiligung junger Menschen anstreben, sondern Kulturelle Bildung und die Förderung kreativer Aktivität fokussieren. Ästhetische Grundsätze und Ansätze aus der Kommunikationspsychologie sollten helfen, die Botschaften der Jugendlichen in die Sprache der Gestaltung, der Bilder und des Körpers zu übersetzen.
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Abb. 1: Plakat „Ich bin die Wahl“
© Foto: KUBO
Das Projekt eröffnete durch das Medium Kunst eine neue Form der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen. Die Beschäftigung der Teilnehmer*innen mit den Fragen „Für was/Gegen was will ich mich einsetzen?“ oder auch „Was ist meine Utopie für die Gesellschaft, in der ich lebe?“ Das Projekt wollte die Auseinandersetzung junger Menschen mit Politik, Beteiligung und demokratischen Grundprinzipien in der Gesellschaft, in der sie leben, vor dem Hintergrund ihrer Lebensvorstellungen und Ziele fokussieren – weg von abstrakten Allgemeinplätzen. Hinter „Ich bin die Wahl!“ – steckt: „Ich bin das Subjekt, für und in dessen Namen Ihr Aussagen macht“ oder „Schaut, wenn Ihr in meinem Namen Aussagen macht, müssten die eigentlich so aussehen“ und „Hier sind unsere politischen Aussagen“.
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H ETEROGENE K ONSTELLATIONEN Das bedeutet, die Teilnehmer*innen ins Zentrum des Projekts zu rücken, sie als Expert*innen ihrer Lebenswelt anzuerkennen und ergebnisoffen zu arbeiten. Diese Form der Arbeit ist sehr ressourcenaufwendig, sodass Projektmittel für die Umsetzung akquiriert werden mussten. Um Kompetenzen zu bündeln und eine heterogene Teilnehmer*innen-Gruppe zu erreichen, wurde das Projekt im Bündnis dreier Partner in Zusammenarbeit mit einer Stadtteilschule umgesetzt: KUBO e. V. im Bündnis mit creaclic GbR, Schlachthof Bremen e. V. in Zusammenarbeit mit der Oberschule am Leibnizplatz. Zeitlich orientierte sich das Projekt in der Umsetzung an der Bundestagswahl 2017, gefördert wurde es durch das Projekt „Jugend ins Zentrum!“ des Bundesverbands Soziokultur e. V. im Rahmen von „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Die Arbeit mit heterogenen Gruppen setzt ein heterogenes Team voraus. Das Team aus Künstler*innen und Pädagog*innen war strukturell divers (bezüglich Alter, Geschlecht und kultureller Herkunft). Die meisten hatten langjährige Erfahrungen in Projekten Kultureller Bildung. Für didaktische Hilfestellungen wurden Künstler*innen pädagogisch begleitet. Über niedrigschwellige Einstiegsworkshops an unterschiedlichen Bildungseinrichtungen, u. a. einer Schule und einem Übergangswohnheim für Geflüchtete sowie über die Bündnispartner*innen konnte die Projektgruppe aufgebaut werden, die 39 junge Menschen im Projekt „Ich bin die Wahl“ vereinte. Der jüngste Teilnehmer war acht Jahre als, die Ältesten 18 Jahre alt. Der Großteil der Jugendlichen hatte noch nie an einem Projekt der Kulturellen Bildung teilgenommen. Es waren geflüchtete Teilnehmer*innen involviert, die erst vor wenigen Monaten in Bremen angekommen waren. Sie arbeiteten mit kunstinteressierten Berufsschüler*innen und politikinteressierten Gymnasiast*innen zusammen im Projekt.
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Das Projekt bestand aus ein- und mehrtägigen Workshops, die inhaltlich aufeinander aufbauten und methodisch vielfältig angelegt waren. Gestartet wurde mit klassischer Werkbetrachtung der vergangenen Landtagswahl:
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Wie wirken Wahlplakate? Wie werden Politiker*innen inszeniert? Wodurch wird ein Plakat plakativ? Klar war, dass ein Slogan eine Erklärung braucht, um verstanden zu werden. Über die QR-Codes auf den Plakaten gelangen Rezipient*innen per Smartphone zu den die Botschaften erklärenden Videos. So erfahren sie, dass sich der Slogan „Wir verdienen mehr“, den eine junge Frau auf ihrem Plakat postuliert, auf den Gender-Pay-Gap bezieht, also den Lohnunterschied von Männern und Frauen, der in zahlreichen Branchen weiterhin besteht. Die Frage „Sind Lehrer Zukunftskiller?“ wird im Video mit einem klaren „Nicht alle, aber einer reicht“ beantwortet. Ein Exkurs führte die Jugendlichen in das deutsche Wahlsystem und die Parteienlandschaft ein: Klar wurde spätestens jetzt, dass manche der Teilnehmer*innen nie die deutsche Bundesregierung werden wählen können – etwa als nicht in Deutschland Geborene oder als von einzelnen Parteien nicht Geduldete. Gesprächsrunden waren in allen Projektschritten wichtig. Jede*r wollte und sollte verstanden werden, notfalls per Übersetzungsfunktion über das Handy. Einen besonderen Perspektivwechsel bot ein Ausflug in den Bremer Landtag. Die Teilnehmer*innen waren eingeladen, führende Politiker*innen der Parteien zu befragen: Wer hat entschieden, wie das Wahlplakat aussehen wird? Wer hat entschieden, was sie darauf für Kleidung tragen und wohin sie gucken? Was kostet eine Wahlkampagne zur Landtagswahl? Den Politiker*innen fiel es schwer, den eigenen Wahlkampf aus dem Gespräch mit Jugendlichen zu eliminieren – nach der Wahl ist bekanntlich immer auch vor der Wahl.
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Ein Performanceworkshop fokussierte die großen Gesten, einstudierte Rhetorik und inszenierten Stimmen von Politiker*innen: über Imitation und Übertreibung hin zu eigenen Moves. Auch die Übersetzung von Parteiprogrammen in jugendgerechte Sprache wurde inszeniert. Und nein, das bedeutete nicht, englische Vokabeln zu nutzen, in ein Grundschul-Vokabular zu fallen oder ein „i bims“ einzubauen. Es ging um die Forderung der Jugendlichen, politische Beteiligung auch durch den gewählten Sprachgebrauch zu ermöglichen. Der politische Handschlag, eine sogenannte MannequinChallenge der großen Gesten und ein Chor typischer Politiker*innen-Mimik
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wurden erprobt, um ein Feeling für die repräsentative Körperhaltung und die eigene Stimme zu finden. Im Workshop „Kreatives Schreiben“ wurde der Sprachgebrauch genauer unter die Lupe genommen – wie hängt Sprache mit Status zusammen? Gibt es einfache Antworten auf schwierige Fragen? Jetzt war auch die Zeit, sich mit dem eigenen Slogan auseinanderzusetzen: Lächerlich, wer denkt, das sei einfach. Es können keine allgemeingültigen Vokabeln abgefragt werden – es geht um die Wahrnehmung jedes*r Einzelnen: „Was hat es mit dir zu tun, wenn du sagst, du bist gegen Rassismus, Sexismus und für Feminismus? Wo begegnen dir diese Themen in deinem Leben?“
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Der inhaltliche Knoten platzte im Workshop in den Ferien. In alten Industriehallen am Künstlerhaus Güterbahnhof konnte sich die Projektgruppe ausbreiten und die Atmosphäre eines gewachsenen Orts für Kunst, Kultur und Subkultur kennenlernen. Die Erzählung einer Teilnehmerin über das Mobbing durch eine Lehrerin mündete in der Idee, ein provokantes Plakat dazu zu gestalten. Eine Kleingruppe schrieb den Text für den Videospot, es wurde verhandelt, wer auf dem Plakat abgebildet sein wird, wer die Technik übernimmt und wer die Gestaltung der Location verantwortet. Gesagt, getan – jeweils begleitet von Künstler*innen aus den Sparten Mode, Fotografie und Film. Diese Arbeitsweise wurde für die Entwicklung weiterer Themen beibehalten: Aus dem im Gespräch in der Gruppe herausgefilterten Thema wurden Storyboards für Plakat und Video entwickelt. Sowohl die Themenauswahl als auch die Umsetzung lag dabei möglichst in der Hand der Jugendlichen. Sie haben selbst fotografiert, gefilmt, beleuchtet, geschnitten. Ein aufwendiger Anspruch, der allein durch die Künstler*innen, Honorarkräfte und die finanziellen Rahmenbedingungen gehalten werden konnte. So entstand ein breites Themenfeld von Drogenpolitik, Diskriminierung und Gleichbehandlung bis zu Konsumkritik und naturnaher Architektur – nicht radikal reduziert, sondern nachvollziehbar und persönlich. Während des gesamten Projektverlaufs wurde den Jugendlichen klar, dass Politik etwas mit ihnen direkt, mit ihrem Leben und ihren privaten Entscheidungen zu tun hat.
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Abb. 2 und 3: Plakate „Ich bin die Wahl“
© Fotos: KUBO
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Trifft Kulturelle Bildung auf den Anspruch von politischer Bildung – benennen wir diesen mit rational, aufklärerisch, zielorientiert, handlungsbewertend – dann ergibt sich ein Spannungsverhältnis. Sinnliche Reflexion gegenüber diskursiver Reflexion – beides zu kombinieren oder gegenseitig fruchtbar zu machen, war ein Fundament des Projekts. Für eine gelungene Kombination sprechen die Ergebnisse, ohne Dominanz des Politischen über das Ästhetische und umgekehrt. Politik versteht sich als grundlegend und schiebt der Ästhetik gern die Rolle der Oberfläche zu. Diese Haltung von Politik ist zu kurz gedacht. Politische Aussagen haben auch nur eine Halbwertzeit, die nicht größer als die von ästhetischen Aussagen sein muss. Und: „In ästhetischen Erfahrungen wird uns bewusst, dass die Wirklichkeiten, in denen wir leben, in gewisser Weise nur ‚Bilder mit Rahmen‘ sind, die jederzeit durch andere ‚Bilder‘ mit anderen ‚Rahmen‘ ersetzt werden können.“ (Brandstätter 2012: o. S.) In diesem Sinne haben die Beteiligten, einschließlich der Künstler*innen von „Ich bin die Wahl“, eine intensive Arbeit am Rahmen des politischen und gesellschaftlichen Lebens vollbracht.
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Kulturelle Bildung unterscheidet sich von schulischer, politischer, sozialer oder allgemeiner Bildung. Kulturelle Bildung versteht sich umfassender, nicht auf erster Ebene wissensbezogen, alltäglicher, vor allem auf dem Kreativen und Ästhetischen basierend. Sie schöpft aus der Gewissheit, dass Kultur das gesamte gestaltete Leben abbildet und dass sie mit dieser Voraussetzung immer Anknüpfung an jede Lebenswelt findet. Nah an den Erfahrungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, persönlichkeitsfördernd und zugleich über jede*n Einzelne*n hinausweisend eröffnet Kulturelle Bildung die Möglichkeit zu sinnlicher und ästhetischer Erfahrung. Begegnung mit Kunst und Gestaltung entfaltet Kreativität. Wesentliche Voraussetzung ist allerdings, den Freiraum der künstlerischen Produktion zu beachten und Zweckfreiheit nicht gleich in zielgerichtete Bahnen zu lenken. Versuch, Scheitern und Erfolg sind Bausteine der Kreativität. Jugendliche nutzen das Medium Fotografie, um damit in Sozialen Netzwerken miteinander zu kommunizieren. Dass Fotos nicht nur Schnappschüsse sein können, sondern Inszenierungen, die gezielt eine Wirkung transportieren sollen, ist also mittlerweile im Jugendzimmer angekommen. YouTuber*in und Influencer*in sind aktuelle Berufswünsche. Die genutzten Medien sind über Selbstdarstellung, konsumorientierte Videos (sogenannte hauls) und spaßorientierte Tutorials hinaus nutzbar und bieten einen Anknüpfungspunkt zur Lebenswelt der Jugendlichen für die Kulturelle Bildung.
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Abb. 3: Plakatpräsentation in der Bremischen Bürgerschaft
© Foto: Lukas Klose
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Zur Präsentation der Ergebnisse kehrten die Teilnehmer*innen zurück in die Räume der Bremischen Bürgerschaft. Es sind zwölf Plakatmotive und Videos als Gemeinschaftsarbeiten entstanden, die großformatig im Festsaal präsentiert wurden. Teilergebnisse aus den Workshops wurden live performt und auch der damalige Bürgerschaftspräsident Christian Weber stimmte beim Gestenballett mit ein. Bei weiteren Präsentationen und nicht zuletzt durch die Einladung, das Projekt beim Antrittsbesuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Zuge dessen Inauguration vorzustellen, haben die Teilnehmer*innen eine besondere Wertschätzung erfahren. Sie diskutierten mit ihm über das Engagement von Jugendlichen und konnten Präsident Steinmeier und sein Frau Elke Büdenbender die Projektergebnisse im Gespräch näherbringen. Auch über Auszeichnungen können sich die Projektteilnehmer*innen freuen: „Ich bin die Wahl“ wurde mit dem Bremer „Förderpreis für beispielhafte Kinder- und Jugendarbeit“ und im Rahmen des Bundeswettbewerbs „Rauskommen! – Der Jugendkunstschuleffekt“ des Bundesverbands der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen
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Einrichtungen e. V. (bjke) prämiert! „Von wegen politikverdrossen. Mit ‚Ich bin die Wahl‘ ist es gelungen, kulturelle, politische und Medienbildung auf beispielhafte und innovative Weise zu verbinden. […] Es lohnt sich, jungen Menschen, ihren Ansichten, Talenten und Ideen eine hörbare Stimme zu geben“ – so die Jurybewertung.
L ITERATUR Brandstätter, Ursula (2012): Ästhetische Erfahrung. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online. https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetischeerfahrung [Zugriff: 06.04.2020].
W EITERE I NFORMATIONEN Die Projektdokumentation, Ergebnisse sowie die namentliche Aufführung der beteiligten Künstler*innen, Pädagog*innen, Bündnispartner*innen, Kooperationspartner*innen und Förderer*innen unter KUBO: http:// www.kubo.de sowie unter: https://www.jugend-ins-zentrum.de. Das Video auf dem YouTube-Kanal von „Creaclic – Medien. Produzieren. Vermitteln“ ist abrufbar unter: https://www.youtube.com/playlist?list =PL2jRDT1CCjZs0276U-NxcM6do2yY9YQDN.
Teil III Gesellschaftspolitische Dimensionen in Fortbildung und Methodik
Potenziale der Kulturellen Bildung in der Rechtsextremismusprävention Die Fortbildung „Veränderungsimpulse setzen bei rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen (VIR)“ B ÜNYAMIN W ERKER 1
Der Rechtsextremismus hat ein modernes und gefährliches Gesicht bekommen. Es sind nicht mehr die „Ewiggestrigen“, die den gesellschaftlichpolitischen Diskurs um den Umgang mit den Flüchtlings- und Migrationsbewegungen nach Deutschland und Europa bestimmen wollen. Durch den Einzug der Alternative für Deutschland (AfD) in alle Landtage haben rechtspopulistische und rechtsextreme Positionen und Haltungen eine teils auch bürgerliche Form erhalten. Neben den zumindest zum Anschein bürgerlich wirkenden Politiker*innen der AfD gibt es eine sehr heterogene rechtsextreme Szene, die ihre Hassbotschaften von Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie insbesondere über die sozialen Medien verbreitet. In ihren Aktionen folgen viele Akteur*innen der Szene einer rechtsextremen Ästhetik, die Anleihen aus dem eher linkspolitischen Spektrum aufweist. Rechtsextreme Bewegungen wie z. B. die „Identitären“ verstehen es, sich real und virtuell modern und hip zu inszenieren. Bei öffentlichen Aktionen wie
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Der Autor hat die „VIR“-Trainerausbildung 2017 durchlaufen und bietet auch VIR-Fortbildungen für Multiplikator*innen in der schulischen und außerschulischen Jugendbildung an.
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z. B. bei der Besetzung des Brandenburger Tors in Berlin 2016 agierte die Gruppe ähnlich wie Gruppen von Greenpeace oder Amnesty International, nur dass sich die Identitären nicht für die Umwelt oder die Menschrechte einsetzen, sondern für ein „sicheres Europa“ ohne Flüchtlinge. Damit verpacken sie ihren rassistischen Ethnopluralismus in eine vermeintlich harmlose Botschaft als Sorge um Europa. Für die rechtsextreme Szene sind Jugendliche die Zielgruppe Nummer eins. Videos auf YouTube, die Inszenierung von Flashmobs, rechtsextreme Lifestyleprodukte, Events wie Konzerte oder Demos sind das Lockmittel für Jugendliche, die in den meisten Fällen noch kein stabiles Weltbild entwickelt haben. Die rechtsextreme Szene inszeniert sich zeitgemäß, dynamisch, cool, teils subversiv und provokant (vgl. Glaser/Pfeiffer 2017: 14). Rechtsextremismusprävention versucht, dem entgegenzuarbeiten. Dabei geht es nicht nur um Aufklärung, um die modernen Strategien der rechtsextremen Szene zu entschlüsseln. Es geht auch um die Verhinderung des Abdriftens von Jugendlichen in die rechtsextreme Szene und um die Hilfe beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene. Angebote Kultureller Bildung arbeiten vor allem mit Jugendlichen, die im Sinne des EmpowermentAnsatzes gestärkt werden sollen, um gegen Rechtsextremismus einzutreten. Selten gibt es Projekte, die mit Jugendlichen arbeiten, die rechtsextreme Orientierungen aufweisen. Am Beispiel der Fortbildung „VIR“ möchte dieser Beitrag die Potenziale Kultureller Bildung in der Rechtsextremismusprävention ausloten.
R ECHTSEXTREMISMUS – EINE BEGRIFFLICHE A NNÄHERUNG Eine eindeutige gesetzlich abgesicherte Definition des Begriffs Rechtsextremismus existiert bislang nicht (vgl. Stöss 2007: 14; zur kritischen Betrachtung des Rechtsextremismusbegriffs vgl. Salzborn 2018). Wahrscheinlich liegt dieser Sachverhalt auch darin begründet, dass es sich beim Rechtsextremismus nicht um ein einheitliches, ideologisch geschlossenes Phänomen handelt. Rechtsextremismus umfasst unterschiedliche Strömungen, Ideologierichtungen und Organisationsformen (vgl. Grumke 2017: 22). Auf diese Mehrdimensionalität nimmt der politikwissenschaftliche Rechtsextremismusbegriff nach Richard Stöss (2000; 2007) Bezug. Demnach
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unterscheidet Stöss zwischen rechtsextremen Einstellungsmustern und rechtsextremem Verhalten. Zu den Bestandteilen rechtsextremer Einstellungsmuster zählen z. B. Autoritarismus, Nationalismus, Ethnozentrismus, Rassismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Pro-Nazismus, Befürwortung einer Rechts-Diktatur und Sexismus (vgl. ebd. 2000: 25f.). Beim rechtsextremen Verhalten wird zwischen politisch zielgerichtetem, einem Programm verpflichteten Verhalten, und zwischen Protestverhalten, das primär der Provokation und/oder dem Ausleben von aggressiven Persönlichkeitsmerkmalen dient, unterschieden (vgl. ebd. 2007: 27f.). Rechtsextremes Verhalten manifestiert sich u. a. im Wählen rechtsextremer Parteien, in rechtsextrem motivierten und/oder begründeten Strafund Gewalttaten, in der Zugehörigkeit zu rechtsextrem orientierten bzw. handelnden Parteien, Kameradschaften, subkulturellen Gruppen und rechten Cliquen (vgl. Frank/Glaser 2018). Stöss verweist zudem darauf, dass rechtsextremes Verhalten in der Regel auf rechtsextreme Einstellungsmuster zurückzuführen sei. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass aber nicht jede Person, die solche Einstellungsmuster aufweist, rechtsextremes Verhalten zeigt oder gar Gewalttaten vollzieht. Insofern lässt sich dem Gesamtphänomen Rechtsextremismus nur gerecht werden, wenn beide Dimensionen Berücksichtigung finden. Es ist nicht zulässig, von nur einer Dimension auf das Gesamtphänomen zu schließen. Oft zeigt sich dies z. B. in der allzu schnellen Gleichsetzung von fremdenfeindlichen Einstellungen und Rechtsextremismus (vgl. Stöss 2007: 29). Mit der mehrdimensionalen Perspektive auf Einstellungsmuster und Verhalten grenzt sich der hier referierte erweiterte Rechtsextremismusbegriff von dem eher engen Verständnis des „amtlichen“ Begriffs ab. Staatliche Institutionen wie der Verfassungsschutz bezeichnen so ausschließlich Gruppierungen, die im Sinne eines „politischen Extremismus“ Bestrebungen folgen, die sich gegen die Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten. Dieses Verständnis berücksichtigt aber nicht gesellschaftliche Bewegungen, die wohl rechtsgerichtet agieren, die demokratische Ordnung aber nicht unbedingt infrage stellen, sondern eher eine Revision einzelner Normen anstreben (vgl. Grumke 2017: 22). Für die pädagogische Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die Unterscheidung zwischen Einstellungsmustern und Verhalten unerlässlich. Darüber hinaus ist es wichtig zu wissen, wie Jugendliche in die rechtsextremistische Szene geraten können. Studien zu
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biografischen Verläufen ehemaliger Rechtsextremist*innen zeigen, dass es vielfältige (Risiko-)Faktoren sind, die zu einer rechtsextremen „Karriere“ führen können. Zu den wesentlichen Faktoren zählen (vgl. Frank/Glaser 2018; Hohnstein/Greuel 2015; Koch/Pfeiffer 2009; Sigl 2018; Wiezorek 2006): −
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Belastende Familien- und Bindungserfahrungen, die sich u. a. äußern in biografischen Brüchen (Trennung der Eltern, Wohnortwechsel), in Gewalterfahrungen durch Familienmitglieder oder in rechtsextremen oder fremdenfeindlichen Haltungen innerhalb der Familie, machen eine Annäherung an die rechtsextreme Szene wahrscheinlicher. Erfahrung oder subjektiv wahrgenommene soziale Desintegration, mangelnde soziale Sicherheit, Enttäuschungen bei der Erfüllung sozialer und wirtschaftlicher Vorstellungen und Ziele sowie Perspektivlosigkeit, gefühlte Benachteiligung im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen und auch daraus resultierender Vertrauensverlust in die Funktion des politischen Systems können rechtsextreme Orientierungen bedingen. Mit dem Versprechen von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Orientierung scheinen daher rechtsextreme Gruppierungen diese Erfahrungen zu kompensieren und Bedürfnisse der Anerkennung und Zugehörigkeit betroffener Jugendlicher zu befriedigen. Im zunehmenden Maße wird die rechtsextreme Gruppe quasi zur Ersatzfamilie. Das Gruppenerlebnis wird durch den Eventcharakter der „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ unterstützt und verstärkt. Bei den Freizeitaktivitäten, wie der gemeinsame Besuch von RechtsrockKonzerten, Demonstrationen, politischen Aktionen, „Kameradschaftsabenden“ mit Lagerfeuer und Gitarrenmusik handelt es sich mal um informelle Treffen, bei denen Alkoholkonsum und der Umgang mit NS-Devotionalien im Vordergrund stehen, mal sind die Treffen symbolträchtig und emotionsgeladen. Die Aktivitäten in der Gruppe sind von Tabubrüchen und Provokationen begleitet und bewegen sich in vielen Fällen an der Grenze der Legalität, wodurch das Gruppenerlebnis und der Zusammenhalt in der Gruppe noch deutlicher vertieft werden.
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Für die präventive Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen ist es daher unerlässlich, die individuellen Lebenssituationen und den Grad ihrer Szenezugehörigkeit zu kennen und zu analysieren.
P RÄVENTION IN DER A RBEIT MIT RECHTSORIENTIERTEN J UGENDLICHEN Spätestens seit dem 8. Kinder- und Jugendbericht gilt der Begriff der Prävention als zentrales Strukturmaxim in der lebensweltorientierten Kinderund Jugendhilfe. Dabei unterliegt diesem Strukturmaxim der Grundgedanke, ein Problem nicht erst aufkommen zu lassen, sondern über präventive Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass ein Problem erst gar nicht entsteht (vgl. BMFSFJ 1990: 85; Scherr 2018: 1013f.). Dies bedeutet zugleich, dass das Prinzip der Prävention nicht nur vorbeugende Maßnahmen beinhaltet, sondern auch als Intervention in bestehende soziale Ordnungen der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zu verstehen ist. In der Prävention im Rahmen von Radikalisierungsprozessen von Jugendlichen lassen sich, in Anlehnung an das medizinische Modell der Sucht- und Gesundheitsprävention von George Caplan (1964), Rauf Ceylan und Michael Kiefer, drei Präventionsformen unterscheiden (vgl. Ceylan/ Kiefer 2013: 111-114): 1)
2)
Im Kontext der primären Prävention geht es um Maßnahmen, die keine besondere gesellschaftliche Gruppe betreffen. Die Maßnahmen sind an alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen gerichtet und zielen auf lebenswerte sowie stabile Verhältnisse in der Lebenswelt der Jugendlichen ab. Im Rahmen der sekundären Prävention beziehen sich Maßnahmen auf Personen, die sich in einer belasteten Lebenssituation befinden oder auch durch bestimmte Risikofaktoren definiert sind. Im Kontext von Radikalisierungsprozessen gehören hierzu beratende Angebote für Eltern, Angehörige, Schulsozialarbeit und/oder Lehrkräfte bzw. auch für die betroffenen Jugendlichen selbst. Zu den Einrichtungen, die solche Beratungen und Angebote bereitstellen, zählen z. B. das bundesweite Programm „Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus“ (hier gibt es in NRW insge-
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samt fünf, für jeden Regierungsbezirk jeweils eine Beratungsstelle), die Landeskoordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus (angesiedelt beim Ministerium Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen), NinA NRW mit Sitz in Recklinghausen oder aber auch das „Violence Prevention Network“ in Berlin (vgl. Glaser/Pfeiffer 2017: 326ff.). Im Bereich der tertiären Prävention fokussieren Maßnahmen Menschen, die sich in manifesten Problemlagen befinden und einen Ausweg aus der Radikalisierung, Gewalttätigkeit und Kriminalität suchen. Dieser Präventionsbereich gestaltet sich ganz besonders in radikalisierten Szenen als ein schwieriger und langandauernder Weg (vgl. Koch/Pfeiffer 2009). Die vielleicht bekannteste Einrichtung, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die aus der rechtsextremen Szene aussteigen wollen, hilft, ist das Projekt „Exit Deutschland“.
Der Sozialwissenschaftler Kemal Bozay schreibt der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere im Rahmen der primären und sekundären Prävention von Radikalisierungsprozessen einen gewichtigen Beitrag zu. Dabei sieht er drei besondere Handlungsfelder: 1)
2) 3)
Ressourcenorientierte Projekte, die auf die Förderung und Entwicklung von Ambiguitätstoleranz und Dialogfähigkeit ausgerichtet sind und damit auch in einem Kontext von Empowerment zu sehen sind. Eine intervenierende Präventionsarbeit, die unterstützend das soziale Umfeld und die Familie der betroffenen Jugendlichen einbezieht. Eine intensive Beratungsarbeit, die sich an Eltern, Lehrkräfte in Schulen und/oder Mitarbeiter*innen in sozialen Einrichtungen sowie stattlichen Institutionen richtet (vgl. Bozay 2017: 143).
Die Multiplikator*innen-Fortbildung „VIR“ setzt insbesondere im Handlungsfeld 3 der sekundären Prävention ein.
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D IE M ULTIPLIKATOR * INNEN -F ORTBILDUNG „VIR“ Bei der Multiplikator*innen-Fortbildung „VIR“ handelt es sich um ein Kooperationsprojekt des Arbeitskreises der Ruhrgebietsstädte gegen rechtsextreme Tendenzen bei Jugendlichen (AK-Ruhr) mit der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW e. V. (Kath. LAG NRW) und dem Ministerium für Inneres und Kommunales (MIK) NRW – Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten. Fachlich begleitet wird das Projekt vom LWL-Landesjugendamt Westfalen. Die dreitägige Fortbildung ist an Personen gerichtet, die beruflich oder im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit mit rechtsorientierten Jugendlichen oder jungen Erwachsenen in Berührung kommen. Mit „rechtsorientiert“ sind in erster Linie Personen gemeint, die eher als Sympathisant*innen zu bezeichnen sind, also noch nicht selbst aktiv in der rechtsextremen Szene agieren. Es handelt sich um Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in einer Annäherungsphase zur rechtsextremistischen Szene befinden (vgl. Kath. LAG 2020: 9). Dementsprechend hat die Fortbildung das Ziel, Mitarbeiter*innen der Schulsozialarbeit, der Offenen Kinder- und Jugendhilfe, Beschäftigten in Justizvollzugsanstalten (JVA), Ehrenamtlichen in Vereinen und Lehrkräften in Schulen Möglichkeiten aufzuzeigen, in Alltagssituationen im Rahmen sogenannter Tür- und Angelgespräche bei betroffenen Jugendlichen Impulse zu setzen, die zu Veränderungen problematischen Verhaltens motivieren sollen. Unter „Tür- und Angelgespräche“ werden Gesprächssituationen verstanden, die zwischen 10 und 60 Minuten andauern. Darunter fallen z. B. Pausengespräche mit Lehrkräften oder Schulsozialarbeiter*innen, Gespräche im Jugendzentrum oder zwischen Strafgefangenen und Beschäftigten in einer JVA (vgl. Reuter/Schwengers 2017: 268f.). Die Veränderung problematischen Verhaltens wird im Rahmen des „VIR“-Konzepts als ein länger andauernder Prozess verstanden. Auch die Motivation, etwas verändern zu wollen, entwickelt sich in der Regel prozesshaft. Insofern müssen Gespräche in unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Veränderung gestaltet werden. Die Fortbildung „VIR“ bietet Teilnehmer*innen das Handwerkszeug, die unterschiedlichen Stadien im Veränderungsprozess der betroffenen Jugendlichen zu erkennen und daraufhin solche Gesprächssituationen angemessen zu gestalten (vgl. Kath. LAG 2020: 9).
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In der Vermittlung des Handwerkzeugs stützt sich die Fortbildung auf drei wesentliche Säulen: Grundlagen und Hintergründe zu Themen wie Vorurteile, Rassismus und Rechtsextremismus Die Fortbildung „VIR“ vermittelt Grundlagenwissen zu Rechtsfragen im Kampf gegen Rechtsextremismus, zu der Struktur, den kulturellen Ausdrucksformen und Strategien der rechtsextremen Szene sowie zu Radikalisierungsprozessen und den Ursachen und Motivationen von Jugendlichen, der rechtsextremen Szene beizutreten (vgl. Reuter/Schwengers 2017: 269). Rechtsextreme Einstellungen sind kein gesellschaftliches Randphänomen mehr. Rechtsextreme und antidemokratische Positionen nehmen im alltäglichen Zusammenleben und in den politischen Debatten deutlich mehr Raum ein. Zudem besteht in Deutschland eine rechtsextreme Bewegung, die, trotz der Heterogenität der Szene, eine starke kollektive Identität entwickelt hat und über eine erhebliche Mobilisierungsstärke verfügt (vgl. Grumke 2017: 35). Die mit Prozessen der Globalisierung verbundenen sozialen und ökonomischen Veränderungen führen zu gesellschaftlichen Umbruchsituationen, die bei vielen Menschen Erfahrungen von Ungewissheiten erzeugen, die über einen längeren Sozialisationsprozess in extremistische Haltungen münden können. Jugendliche und junge Erwachsene sind Teil dieser Umbruchsituationen. Die Wege, in die rechtsextreme Szene abzudriften, sind dabei vielfältig und weisen unterschiedliche Faktoren auf, die in den meisten Fällen individuell, sozial und/oder biografisch geprägt sind (vgl. Rieker 2015: 8f.; Frank/Glaser 2018: 358ff.). Neben biografischen und sozialen Aspekten stellt die „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ ein attraktives Betätigungsfeld dar, das über kulturelle Ausdrucksformen und Medien verfügt, die Bedürfnisse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ansprechen (vgl. Koch/Pfeiffer 2009: 88ff.; Pfeiffer 2017: 61f.). Das Transtheoretische Modell (TTM) Beim Transtheoretischen Modell handelt es sich ursprünglich um ein Analysemodell, anhand dessen intentionale Verhaltensänderungen insbesondere im Suchtbereich identifiziert, beschrieben, erklärt, vorhergesagt und beeinflusst werden sollen (vgl. Prochaska/Diclemente 1984). Das von James O. Prochaska von der University of Rhode Island und seinen Kolleg*innen entwickelte Modell basiert auf der Annahme, dass Änderungsprozesse
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mehrere qualitativ unterschiedliche und sukzessive aufeinander aufbauende Stufen durchlaufen. Deshalb wird das Transtheoretische Modell auch als Stufenmodell der Verhaltensänderung bezeichnet („Stages of Change“). Für die „VIR“-Fortbildung leitet sich eine zentrale Frage daraus ab: „Was bringt Menschen dazu, sich zu verändern?“ (Reuter/Schwengers 2017: 269) Dabei bilden die sogenannten Stages of Change den roten Faden zur Strukturierung von Beratungsgesprächen. Die unterschiedlichen Phasen des Veränderungsprozesses stellen sich wie folgt dar: 1)
2)
3)
4)
Absichtslosigkeit (Precontemplation): In dieser Phase besteht seitens der Jugendlichen kein oder kaum Interesse, das Verhalten zu ändern. Hier sind kleine Denkanstöße oft viel wirksamer als große Interventionen. Interventionen, wie z. B. eine klare Haltung einnehmen, die den Ausstieg aus einem Verhalten fordert, kann in vielen Fällen eher zu widerständigem Verhalten bei den Betroffenen führen. Absichtsbildung (Contemplation): In der Phase der Absichtsbildung zeigen die Betroffenen wohl Interesse für eine Verhaltensänderung, formulieren diese aber noch nicht eindeutig. Den Jugendlichen sind oft die Nachteile ihres Verhaltens bewusst. Sie schwanken jedoch zwischen Vorteilen einer Veränderung und den Vorteilen ihrer bisherigen Position. Unter Umständen verharren die Betroffenen in dieser Phase sehr lange, sind aber für Einflüsse von außen sehr empfänglich. In dieser Phase ist es durchaus möglich, dass Jugendliche zwar erklären, sich zu ändern, aber daraufhin nichts Sichtbares geschieht. Vorbereitung (Preparation): In diesem Stadium zeigen Jugendliche eine hohe Motivation, unmittelbar mit der Veränderung des eigenen Verhaltens zu beginnen. Die Entschlossenheit zur Veränderung wird auch als solche benannt. In der Beratungssituation sind nun erste Schritte zu vereinbaren. Aktion (Action): In dieser Handlungsphase werden konkrete, von außen deutlich offene und sichtbare Veränderungen unternommen. Dies bedeutet zugleich, dass die Veränderungen nicht mehr nur gedacht werden, sondern auch auf Reaktionen der Umwelt treffen. Diese können gerade im Umfeld des Rechtsextremismus sehr drastisch ausfallen.
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Aufrechterhaltung (Maintenance): In dieser Phase ist es den Jugendlichen bereits gelungen, Veränderungen über einen längeren Zeitraum durchzuhalten. In vielen Fällen brauchen die Betroffenen für die Beibehaltung der Veränderung eine ständige Begleitung. Trotzdem kann es durchaus zu Misserfolgen oder Rückschritten kommen. Dies bedeutet aber nicht, dass der Veränderungsprozess abgebrochen wird. Vielmehr sollten eventuelle Rückschritte im Vorfeld mitgedacht werden und als ein möglicher Schritt innerhalb des Veränderungsprozesses bewertet werden (vgl. ebd.: 270; AK-Ruhr/Kath. LAG/MSI NRW 2017).
Im Rahmen des TTM-Modells, das als Spiralmodell zu verstehen ist, beginnen die Jugendlichen bei einem Rückschritt nicht wieder bei null, sondern können auf das bisher Erreichte aufbauen. Die folgenden Formulierungsbeispiele sollen aufzeigen, wie ein Algorithmus zur Definition der Stufen des TTM-Modells in Bezug auf die Zugehörigkeit zur rechtsextremen Szene aussehen kann (vgl. AK-Ruhr/Kath. LAG/MSI NRW 2017): Frage: Sind Sie Mitglied in einer freien Kameradschaft? 1) 2) 3) 4) 5)
Antwort Absichtslosigkeit: „Ja, und ich habe auch nicht vor, in den nächsten sechs Monaten diese zu verlassen.“ Antwort Absichtsbildung: „Ja, aber ich habe vor, diese in absehbarer Zeit zu verlassen.“ Antwort Vorbereitung: „Ja, aber ich habe vor, noch in diesem Monat auszusteigen.“ Antwort Aktion: „Nein, ich bin ausgestiegen und habe gestern das Aussteiger-Programm kontaktiert.“ Antwort Aufrechterhaltung: „Nein, es besteht seit sechs Monaten kein Kontakt zur Szene.“
Motivierende Gesprächsführung MOVE Um Veränderungsprozesse anzustoßen und zu begleiten, vermittelt die Fortbildung „VIR“ Gesprächstechniken, die an das erfolgreiche Fortbildungskonzept „MOVE“ („Motivierende Kurzintervention“) angelehnt ist, das aus der Suchtprävention stammt und von der Landeskoordinierungsstelle
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für Suchtvorbeugung – der ginko Stiftung für Prävention in Mülheim an der Ruhr – entwickelt wurde (vgl. Kath. LAG 2020: 10). Das Konzept „MOVE“ erfordert eine Grundhaltung gegenüber den betroffenen Jugendlichen, die sich an vier Leitkriterien orientiert: 1) 2) 3) 4)
Empathie ausdrücken. Diskrepanzen aufzeigen. Widerstand aufgreifen bzw. umlenken. Selbstwirksamkeit fördern (vgl. Naar-King/Suarez 2012: 34).
Aktives Zuhören und offenes Fragen sind grundlegende Kompetenzen, die in der „VIR“-Fortbildung entwickelt werden, um Veränderungsprozesse zu fördern. Die Teilnehmenden werden darauf vorbereitet, in Gesprächen Ambivalenzen und Widersprüche herauszuarbeiten, die sich aus den Äußerungen und der Lebenswelt der Jugendlichen ergeben. Auftretender Widerstand wird dabei als Schwierigkeit in der Interaktion und nicht als Charaktereigenschaft der zu beratenden Jugendlichen verstanden (vgl. Reuter/Schwengers 2017: 270). Ausgehend von den drei geschilderten Säulen umfasst das Training in der „VIR“-Fortbildung folgende Bausteine: 1) 2)
Im Vorfeld des Rechtsextremismus – Vorurteile und Rassismus. Veränderung ist ein Prozess: Das TTM (Transtheoretisches Modell). 3) Grundlagen der Motivierenden Gesprächsführung MOVE. 4) Rechtliche Grundlagen. 5) Ein- und Ausstiegsprozesse. 6) Mit Widerstand umgehen. 7) Umgang mit Ambivalenzen und Widersprüchen. 8) Erlebniswelt Rechtsextremismus – Musik, Symbolik, Internet. 9) „Change talk“ – Veränderung in Gang setzen. 10) Entscheidungen treffen – Ziele klären (vgl. ebd.). Abschließend bleibt darauf zu verweisen, dass das „VIR“-Konzept in Gesprächstechniken einführt, die Teilnehmende dazu befähigen sollen, ein Beratungsangebot für Jugendliche zu stellen. Es kann aber keine professionelle Therapie oder Ausstiegsbegleitung ersetzen.
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P OTENZIALE FÜR DIE K ULTURELLE B ILDUNG IN DER P RÄVENTIONSARBEIT MIT RECHTSORIENTIERTEN J UGENDLICHEN Die vorgestellte Fortbildung „VIR“ zeigt unterschiedliche Bausteine auf, die auch auf Themen- und Handlungsfelder der Kulturellen Bildung verweisen. In diesem Zusammenhang können Angebote der Kulturellen Bildung fruchtbar sein für die Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus. Ein erstes Feld ist die Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Rassismus und Stereotypen. Auf dieser Ebene der primären und sekundären Präventionsarbeit können künstlerische Methoden ein besonders hilfreiches Mittel darstellen, eigene Vorurteile zu erkennen und sich konstruktiv damit auseinanderzusetzen. Am Ende gilt es, eine diversitätsbewusste Haltung zu entwickeln, die hilft, nicht nur Differenzkategorien und die damit verbundenen Diskriminierungsgefahren und ihre Ursachen zu identifizieren, sondern auch damit konstruktiv und produktiv im pädagogischen Alltag umzugehen. Die Erfahrungen mit Fortbildungen wie z. B. „DiKuBi“ („Diversitätsbewusste Kulturelle Bildung“)2 zeigen auf, dass die kreativ-künstlerische Auseinandersetzung mit Diversität Impulse und Freiräume für individuelles Schaffen und Erleben ermöglichen und damit ästhetische Perspektivwechsel initiiert werden. Dies betrifft nicht nur außereuropäische Perspektiven, sondern auch jugendkulturelle Ausdrucksformen (vgl. Keuchel/Dunz 2015: 193f.). Ein zweites Feld, das sich auch noch auf der Ebene der primären und sekundären Prävention befindet, bildet die Auseinandersetzung mit kulturellen und medialen Ausdrucksformen der rechtsextremen Szene. Rechtsextreme Organisationen wie z. B. die „Identitäre Bewegung“ agieren auf einer sehr
2
Bei „DiKuBi“ handelt es sich um ein Weiterbildungsprogramm der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Es soll Multiplikator*innen in der Kulturellen Bildung stärken, die eigene Haltung zu Diversität zu reflektieren und in der Vermittlungsarbeit bewusster damit umzugehen. Zugleich werden auch Ausgangspunkte für die Praxis gegeben, das Thema Diversität mit künstlerischen und ästhetischen Mitteln erfahrbar zu machen. Das Projekt wurde 2017 abgeschlossen und mündete in der Gründung des Netzwerks Diversitätsbewusste Kulturelle Bildung, das sich jährlich an der Akademie trifft (siehe https://kulturellebildung.de/dikubi-diversitaetsbewusste-kulturelle-bildung).
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modernen Art und Weise in den sozialen Medien, um ihre rassistischen und islamfeindlichen Botschaften zu verbreiten. Dabei inszenieren sich die Protagonist*innen als hip und fortschrittlich, um eine junge und akademisch geprägte Klientel für ihre Botschaften und Verschwörungstheorien (der große „Austausch“) zu gewinnen. Die „Identitären“ bedienen sich dabei einer rechtsorientierten Ästhetik, die auf den ersten Blick nicht gleich zu entschlüsseln ist (vgl. Speit 2018). Angebote der Kulturellen Bildung wie die Programmreihe „Kunst-Medien-Manipulation“, die ein fester Bestandteil des Weiterbildungsprogramms der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW darstellt, beleuchten die professionelle Nutzung künstlerischer Mittel durch Akteur*innen extremistischer Szenen mit einer medienkritischen Perspektive. Im Rahmen dieser Weiterbildung steht insbesondere die Konstruktion von Wirklichkeiten mit visuellen und sprachlichen Mitteln im Fokus der Arbeit (vgl. Smith 2017: 242f.). Dies soll pädagogischen Fachkräften in Feldern der Extremismusprävention und der politischen Bildung helfen, für die vielfältigen Strategien und Formen extremistischer Szenen im Bereich der sozialen Medien zu sensibilisieren und gegebenenfalls auch (künstlerische) Gegenstrategien zu entwickeln. Ein drittes Feld lässt sich in der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenswelt verorten. Künstlerische Methoden bilden hierbei den Schlüssel, um eigene Talente zu entdecken und weiterzuentwickeln. Die betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben oft verborgene Talente, die es zu bergen gilt. Hier bietet sich der Ansatz der Kulturellen Bildung an, um sich über die Beschäftigung mit Kunst und kulturellen Ausdrucksformen von den rechtsorientierten Weltbildern, in denen die Betroffenen Gefahr laufen abzudriften, zu emanzipieren. Dabei ist das Ziel zu verfolgen, alternative Lebensmodelle und Sichtweisen durch das künstlerische Tun zu entwickeln. Zugleich wird mit diesem Ansatz ein Bereich angesprochen, der dem Feld der akzeptierenden Jugendarbeit zuzuordnen wäre (vgl. Krafeld 1996), das sich nicht nur auf der Ebene der sekundären, sondern auch auf der Ebene der tertiären Prävention befinden kann. Dies verweist auch auf ein Spannungsfeld in der Rechtsextremismusprävention im Kontext Kultureller Bildung. Dabei steht insbesondere der Sachverhalt im Mittelpunkt, dass auf der einen Seite im Sinne der akzeptierenden Jugendarbeit alle Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft, kulturellen und politischen Orientierung menschliche Zuwendung erfahren sollen. Dies begründet sich allein schon aus dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. In § 1 Abs. 1 SGB VIII heißt es:
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„Jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ (SGB VIII 2012: o. S.) Akzeptierende Jugendarbeit heißt in diesem Zusammenhang, rechtsorientierte Jugendliche als Personen und Menschen mit Bedürfnissen, Träumen, Lebenszielen usw. anzuerkennen. Im Umkehrschluss darf dies aber nicht bedeuten, die menschenverachtenden, rassistischen Weltbilder des Rechtsextremismus zu akzeptieren. Um an der Lebenssituation von rechtsorientierten Jugendlichen ausgerichtete, angemessene Projekte Kultureller Bildung anzubieten, vollziehen Künstler*innen und Pädagog*innen, die mit der rechtsorientierten Klientel arbeiten, eine Gradwanderung. Sie müssen eine pädagogische Haltung aufweisen, die die Jugendlichen als Menschen anerkennt, ohne ihre rechtsorientierten Einstellungen zu billigen. Dies bedeutet, die (künstlerischen) Potenziale der Jugendlichen entdecken und fördern zu wollen, dabei aber nicht Gefahr zu laufen, rechtsextreme Ausdrucksformen durch künstlerische Aktivitäten noch zu befördern. Auf der Ebene der tertiären Prävention sind die Möglichkeiten der künstlerischen Arbeit im Kontext der Kulturellen Bildung daher sehr begrenzt, insbesondere dann, wenn die betroffenen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen schon fest in der rechtsextremen Szene verhaftet sind und sich damit rechtsextreme Weltbilder derart verfestigt haben, dass diese nicht mehr aufgebrochen werden können. Projekte Kultureller Bildung würden in diesem Stadium große Gefahr laufen, als Plattform für eine rechtsextreme Ästhetik und eine menschenverachtende kulturelle Praxis instrumentalisiert zu werden. Die tertiäre Prävention setzt dann ein, wenn die betroffenen Personen selbst den Entschluss gefasst haben, aus der rechtsextremen Szene auszusteigen. An dieser Stelle wäre es zumindest denkbar, dass Kulturelle Bildung neue Lebensperspektiven eröffnen kann und damit den Ausstiegsprozess begleitet. Hierfür braucht es allerdings gut ausgebildetes Fachpersonal, das sowohl pädagogisch-künstlerisch arbeiten kann als sich auch in den unterschiedlichen Thematiken der Rechtsextremismusprävention (Wissen um Ein- und Ausstiegsprozesse, politische und kulturelle Ausdruckformen, Informationen zu Beratungsstellen) auskennt. Dies stellt einen hohen Anspruch an die Qualifikation des künstlerisch-pädagogischen Personals dar und spricht am Ende doch sehr dafür, solche Projekte mit multiprofessionellen Teams durchzuführen.
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Algorithmen? – War das nicht ein altes Volk in Griechenland? Big Data als Thema in der Kinder-, Jugendund Kulturarbeit H ORST P OHLMANN
Big Data und Algorithmus – beides technische Begriffe, die im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung unserer Gesellschaft immer häufiger fallen. Manche sind der Meinung, das habe wohl eher was mit Informatik zu tun und überlassen die Auseinandersetzung getrost den technikaffinen Computerfreaks. Dass die Sammlung und computergestützte Auswertung von Daten aber alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft und in der Kulturellen Bildung sogar eine Schlüsselrolle in der Vermittlungsarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zuteilwird, denken die wenigsten. Dazu eine Erläuterung aus Sicht der kulturellen Medienbildung.
V ON KLEINEN UND GROSSEN D ATEN – B IG D ATA UND DIE A USWERTUNG DURCH A LGORITHMEN „Haben Sie eine Payback-Karte?“ – diese Frage haben sicherlich die meisten Menschen an den Kassen von Supermarktketten oder Tankstellen schon häufiger gehört. Ganz gleich, ob diese dann mit Ja oder mit Nein beantwortet wird, hier lohnt ein Blick auf die moderne Form eines Rabattsystems oder „Bonusprogramms“, wie Payback selbst es nennt: An der Kasse werden die
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eingekauften Waren erfasst. Die Einkaufssumme bestimmt, wie viele Punkte für den Einkauf gutgeschrieben werden. Einkaufssumme, gesammelte Punkte und auch gekaufte Waren werden elektronisch gespeichert und dem jeweiligen Unternehmen bzw. „Payback-Partner“ nicht anonymisiert übermittelt. Die Punkte können dann gegen mehr oder weniger attraktive Produkte online eingetauscht werden. Hintergedanke des Payback-Systems – und auch jeder anderen Form von Rabattsystemen wie Stempelkarten bei Kaffeehausketten oder Sammelheftchen für Aufkleber, die an der Supermarktkasse erhältlich sind – ist zunächst reine Kundenbindung. Ausgangsbasis ist, dass Personen, die eine Payback- oder Rabattkarte besitzen, eher in Geschäften einkaufen, die dem Bonusprogramm angeschlossen sind. Auswertungen zeigen, dass dies auch der Fall ist. Die gesammelten Informationen bei Payback zum Kaufverhalten ermöglichen es den PartnerUnternehmen Rückschlüsse auf Kaufvorlieben der einzelnen Kund*innen herzustellen und dienen dann in einem nächsten Schritt der personalisierten Werbung. Eine Weitergabe der gesammelten Daten an Dritte geschieht nicht bzw. nur in anonymisierter Form. Mit der Einführung von Payback im Jahr 2000 erfolgte erstmals eine elektronische Auswertung des individuellen Kaufverhaltens. Vorherige Rabatt- oder Punkte-Systeme blieben analog und weitgehend anonym. Aus dem Lebensalltag lassen sich sicherlich viele Beispiele nennen, wie hilfreich es sein kann, wenn andere persönliche Vorlieben kennen. Ist es nicht angenehm, wenn Friseur*innen um den Haarschnitt ihrer Kund*innen wissen, Zahnärzt*innen mit dem Zustand der Zähne ihrer Patient*innen bestens vertraut sind? Worin liegt denn dann der Unterschied, wenn Google auch die Vorlieben seiner Nutzer*innen kennt, ihre Lieblingsmusik oder ihre Lieblingsthemen in der Zeitung? Der Unterschied ist: Die analoge Welt ist dem Menschen vertraut. Sie ist durchschaubar, die Personen und ihre Motive sind persönlich bekannt, es geht um „kleine Daten“. Im Fall der großen Hightech-Unternehmen sieht das anders aus: Sie wissen alles über die Nutzer*innen, aber die Nutzer*innen wissen nichts über die Unternehmen. Der Hauptunterschied zwischen den analogen Beispielen von Datensammlung und -auswertung und den computer-gestützten Herangehensweisen ist vor allem die schiere Anzahl der miteinander in Beziehung gesetzten Informationen – den „Big Data“. Schon ein herkömmlicher Computer zu Hause oder bei der Arbeit ist in der Lage, zahlreiche Daten auszuwerten und mühsame Sortier- und Rechenarbeit abzunehmen – und das schneller,
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als ein Mensch dazu in der Lage wäre. Großcomputer in Rechensystemen verfügen über eine viel höhere Rechenkapazität und führen unzählige Daten in kurzer Zeit zusammen und werten sie aus, wofür der Mensch Jahre oder Jahrzehnte benötigen würde. Und mit Blick auf die Entwicklung der Quantencomputer, die noch schnellere Berechnungen durchführen können als die schnellsten Supercomputer, wird sich die Rechengeschwindigkeit in den kommenden Jahren noch weiter vervielfachen. Im Versuch bearbeitete Googles neu entwickelter Quantencomputer im September 2019 eine Datenberechnung in 200 Sekunden im Gegensatz zu geschätzten 10 000 Jahren benötigter Rechenzeit eines Supercomputers (vgl. Jaeger 2019). Waren in der Vergangenheit Supercomputer hauptsächlich das Ergebnis weltweit (teil-)staatlich geförderter Forschungen an Universitäten und Rechenzentren,1 sind nun Großkonzerne auf dem Vormarsch. Google bzw. sein Mutterkonzern Alphabet zählt zu den sogenannten Big Five der ITUnternehmen, zu denen auch Amazon, Apple, Facebook und Microsoft gehören. Eine Darstellung zu den damals noch „Großen Vier“ und ihren Verknüpfungen durch Firmenübernahmen und Marktaktivitäten hat 2012 die Landesmedienanstalt (lfm) NRW in einem Videoclip zusammengestellt (vgl. lfm NRW 2012). Microsoft ist als Platzhirsch bei den DesktopBetriebssystemen und webbasierten Dienstleistungen wie OneDrive-Cloud oder Office 365 inzwischen mit in die Liste aufgenommen worden. Diesen Großkonzernen ist gemein, dass sie Daten über das Verhalten von Nutzer*innen ihrer Produkte und Dienstleistungen sammeln und auswerten (können). Hinzu kommt, dass etwa beim Sozialen Netzwerk facebook der Verkauf von Nutzer*innen-Daten an dritte Unternehmen zur Finanzierung des Dienstes explizit in den AGBs verankert ist. Jede*r Nutzer*in stimmt also der Verwendung persönlicher Daten ausdrücklich zu. Es ist facebook sogar möglich, Informationen durch die Posts und Verknüpfungen unterschiedlicher Datenbestände über Personen zu erhalten, die selbst gar keine Kund*innen oder Mitglieder des Netzwerks sind (z. B. über FotoAuswertungen und Gesichtserkennung oder eine reine textliche Erwähnung von Personen in Posts). Ähnlich verfährt Google mit der Zusammenführung von Daten aus Suchmaschine, Android-Betriebssystem und Apps auf Smartphones, über YouTube, Google-Chrome-Browser sowie andere
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Siehe (Rang-)Liste der Supercomputer: https://www.top500.org/lists [Zugriff: 01.04.2020].
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Google-Dienste, wie Webservices und Marketing-Instrumente. Die Sprachassistenten von Amazon im „Internet der Dinge“ zur Steuerung von Licht, Heizung oder Waschmaschine, aber auch zur Informationsbeschaffung oder der Smalltalk mit „Alexa“ waren vor Kurzem in der Kritik, permanent durch das eingebaute Mikrofon Gespräche überwachen, aufzeichnen und an den Hersteller übermitteln zu können. Andere Firmen bringen gar vernetztes Spielzeug ins Kinderzimmer, wie Mattel mit der Spielzeugpuppe „Hello Barbie“, die gleiches im Kinderzimmer anstellt und die 2015 mit dem „Big Brother Award“ ausgezeichnet wurde (vgl. Neumann 2015). Problematisch ist vor allen Dingen die Tatsache, dass die im Hintergrund laufende Zusammenführung und Auswertung von Daten intransparent bleibt. Dies ist der zentrale Diskussionspunkt im Sinne des Daten- und Verbraucherschutzes, denn niemand weiß, welche Daten gesammelt und wozu sie verwendet werden. Die Rede ist von einer „Blackbox“, die beschreibt, dass Nutzer*innen keinen Einblick in die Programmierung oder gar die dahintersteckenden Algorithmen haben, die Programmierer*innen dem Computer zur Berechnung vorgegeben haben. Ein tieferer Einblick in die Verarbeitung ihrer Daten bleibt der Bevölkerung verwehrt, da die Konzerne ihre Big Data Analytics und die dahinter ablaufenden Algorithmen als Firmengeheimnis einstufen und nicht veröffentlichen. Diese Algorithmen benötigt ein Computer ähnlich einer Schritt-für-Schritt-Anleitung, um zu wissen, was er mit den Daten denn überhaupt anstellen soll. Heikel wird es, wenn der Algorithmus Fehler aufweist oder Daten miteinander in Verbindung gebracht werden, die nichts miteinander zu tun haben. Dazu ein einfaches Beispiel: Eine Mehrzahl von Personen in einem bestimmten Stadtteil trägt laut statistischer Auswertung eines Computers Schuhgröße 46. Die Verknüpfung dieser zwei Informationen könnte Stadtplaner*innen dazu anregen, die Gehwege in diesem Viertel zu vergrößern. Macht das Sinn? Ein Computer denkt darüber nicht nach. Sinnvoller und spannender wird es natürlich, wenn durch Reise- und Bewegungsprofile Epidemien vorhergesagt und eingedämmt werden können oder wenn unzählige Daten von Krankheitsverläufen von Krebspatient*innen zu neuen Behandlungsmethoden und Medikamenten führen. Qualität und Nutzen der computergestützten Berechnungen sind also stets vom menschlichen Input abhängig. Vor allen Dingen auch dann, wenn es zunehmend um lernende Künstliche Intelligenz (KI) geht, sprich um Computerprogramme, die aus Datenanalysen lernen und neue Verknüpfungen selbsttätig herstellen, um
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die eigene Leistung zu verbessern. Am Anfang steht grundsätzlich der menschliche Input. Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, dass erhobene Daten zu anderen Zwecken verwendet werden können, als ursprünglich geplant. Um bei den Beispielen zu bleiben: Mit Big Data Analytics lassen sich Epidemien vorhersagen, Zusammenhänge in der medizinischen Diagnostik erkennen, Krankheiten feststellen, individuelles Verhalten vorhersagen und Krankheitsverläufe prognostizieren. So weit, so sinnvoll. Aber lässt sich auch das Sterbedatum eines Menschen vorhersagen? Lässt sich das Fahrverhalten analysieren, das Einkaufsverhalten berechnen, Freizeitverhalten erkennen, Bildungsverhalten abschätzen, Arbeitsverhalten vorhersagen oder das Wahlverhalten berechnen? Wird damit das gesamte Verhalten jeder*s Einzelnen und der gesamten Bevölkerung vorhersagbar? Der Skandal um die aktive Manipulation (das sogenannte Microtargeting, bei dem etwa politische Botschaften über Social Media an individualisierte Zielgruppen gerichtet werden) von Wähler*innen im US-Wahlkampf durch die Auswertung von Daten durch Cambridge Analytica wäre ein Beispiel für Big Data Analytics. Spätestens hier stellt sich die Frage nach ethischen und moralischen Gesichtspunkten im Gegensatz zum technisch Machbaren.
D IE DUNKLE S EITE DER M ACHT – S TAAT VS . K ONZERN Historisch betrachtet ist die Sammlung und Auswertung von Personendaten absolut nichts Neues. Schon im Römischen Reich erfolgte ein „census“, bei dem alle Bürger*innen des Reichs erfasst wurden (wie der Weihnachtsgeschichte entnommen werden kann) und auch im jungen Deutschen Reich fanden schon im 19. Jahrhundert entsprechende Zählungen statt. Die letzte staatlich geplante Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland sollte 1987 durchgeführt werden, wurde aber aufgrund massiver Proteste gesellschaftlicher und politischer Gruppierungen sowie großer Teile der Bevölkerung per Gerichtsbeschluss gekippt. Das Bundesverfassungsgericht entwickelte sogar ein neues Grundrecht: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. An einem EU-weiten Zensus 2011 beteiligte sich Deutschland durch Registerauswertungen, nicht aber in Form einer direkten Befragung
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der Einwohner*innen. Dieses Verfahren soll auch 2021 beim nächsten geplanten EU-Zensus wieder umgesetzt werden. Gut 30 Jahre nach der gescheiterten Volkszählung scheint der Drang auf informationelle Selbstbestimmung ein wenig verblasst zu sein: Heute stellen viele Menschen absolut freiwillig ihre Daten Konzernen zur Verfügung. Gar nicht begeistert sind sie allerdings, wenn staatliche Behörden und nachgeordnete Institutionen ihre Daten ohne Mitspracherecht erhalten – wenn etwa Einwohnermeldedaten an den Beitragsservice des Öffentlichen Rundfunks (vormals Gebühreneinzugszentrale – GEZ) bereitgestellt werden. Auch die Enthüllungen von Edward Snowden zu den Aktivitäten der US-Geheimdienste und den Verstrickungen alliierter Geheimdienste, darunter auch des Bundesnachrichtendienstes BND, sorgte für Empörung. Menschen unterscheiden also zwischen staatlichen Aktivitäten, die in den Augen vieler Orwellsches Ausmaß annehmen könnten, und kapitalistischausgerichteten Firmen, die bei ihren Nutzer*innen einen guten Ruf genießen. Oder um in einer Film-Analogie zu sprechen: Sie unterscheiden zwischen der dunklen und der guten Seite der Macht. Als Beispiel für die Risiken einer staatlich umgesetzten Volkszählung wird häufig ein Beispiel aus den Niederlanden angeführt. Dort wurde 1936 eine Zählung u. a. zur Religionszugehörigkeit durchgeführt. Die Personendaten fielen den Nationalsozialist*innen in die Hände, sodass sie Juden eindeutig identifizieren konnten. Hier stellt sich grundsätzlich die Frage, wie verhindert werden kann, dass Daten in die falschen Hände geraten oder dass sie zu fragwürdigen Auswertungen und Verknüpfungen missbraucht werden können. Fakt ist, dass der Staat die Aufgabe hat, die Grundrechte seiner Bevölkerung zu schützen. Das betrifft die eigenen Handlungen ebenso wie die von Dritten. Die Frage ist allerdings, ob ein Staat dies in nötigem Maße tut oder nicht. Aber ist es tatsächlich sinnvoller, Daten eher den Konzernen als dem Staat anzuvertrauen? Wohl kaum, denn Ähnliches wie in den Niederlanden könnte sich jederzeit wiederholen. Es ist auch zu berücksichtigen, dass kein Computersystem vollends gegen Hackerangriffe zu schützen ist – schon gar nicht angesichts der zu erwartenden Rechenkapazitäten von Quantencomputern, die noch so vermeintlich sichere Kennwörter innerhalb von Sekunden werden knacken können. Die Plattform Amazon etwa, bei der tolle Dinge bestellt werden können, sie bequem bis an die Wohnungstür geliefert werden und dabei sogar noch ein Schnäppchen – im Gegensatz zum Einkauf beim lokalen Einzelhandel – gemacht werden kann, genießt auch mit
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den meist unbürokratisch abgewickelten Retouren und Kaufpreiserstattungen schlicht einen guten Ruf als der „nette Online-Laden“. Und diesen Ruf will Amazon auf jeden Fall aufrechterhalten. Auch bei der Nutzung von facebook überwiegt die positive Nutzungserfahrung: sich mit Freund*innen vernetzen, jederzeit austauschen und mitbekommen, was die anderen gerade tun. Darüber hinaus bietet die Plattform die Möglichkeit, sich mit Interessengruppen zu vernetzen und vom Knowhow anderer zu profitieren. Eine gepostete Frage in der MedienpädagogikGruppe mit inzwischen über 11 500 Mitgliedern aus dem deutschsprachigen Raum wird meist innerhalb weniger Minuten beantwortet. Außerdem – und hier wird es durchaus kontrovers – zeigt eine Anzeige am Rand der personalisierten facebook-Seite ein von Nutzer*innen gesuchtes Produkt – in der Regel zu einem super Preis. Personalisierte Werbung, die ankommt und funktioniert. Dass das nur möglich ist, weil facebook die gesamten OnlineNutzungsaktivitäten auswertet, ist in den Augen vieler Menschen tolerierbar, solange sich ein persönlicher Vorteil dadurch ergibt. Andere wiederum kritisieren diese Auswertung von persönlichen Daten und setzen alles daran, so wenig Informationen zu liefern wie möglich oder sind gar nicht erst Kund*innen des Sozialen Netzwerks. Was würden die Menschen ohne Google machen? Die Suchmaschine liefert mehr und bessere Treffer als die Konkurrenz. Durch die Verknüpfung interner Suchanfragen mit der aufgekauften und konzerneigenen Video-Plattform YouTube können Suchanfragen – vor allem von jüngeren Nutzer*innen – generiert werden. Auf Smartphones mit dem AndroidBetriebssystem sind die Google-Apps fest installiert. Es erfordert eine gewisse Bereitschaft, sich mit der Technik auseinandersetzen, um alternative Programme aufzuspielen, was mit dem nächsten Android-Update aber auch schon wieder Geschichte sein kann. Ähnlich proprietär halten es Apple und auch Microsoft mit ihren Betriebssystemen und Programmen. Bei Smartphones gibt es im Grunde keine Alternative zu Google und Apple, bei den Desktop-Betriebssystemen keine zu iOS und Windows. Linux etwa erfordert rudimentäre Programmierkenntnisse. Darüber hinaus funktionieren gewohnte Programme – wie die meisten Computerspiele – unter Linux gar nicht erst. Mit anderen Worten: Die Big Five sind Platzhirsche mit ihren Angeboten und Produkten und haben es geschafft, die Konkurrenz zu übertreffen, aufzukaufen oder gänzlich auszuschalten. An ihnen führt im Grunde kein Weg mehr vorbei. Das macht es schwer, ernsthaft über alternative
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Lösungen nachzudenken, wenn Aufwand, Umgewöhnung oder Einschränkungen zu groß sind.
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KURZER
B LICK
IN DIE NÄHERE
Z UKUNFT
Microsoft wird sein Office-Paket zukünftig nur noch online als CloudLösung anbieten. Nutzer*innen schreiben ihre Texte folglich online auf einem Server von Microsoft. Abgerechnet werden soll dann über eine pauschale Gebühr für ein Abonnement sowie über zeitliche und umfängliche Gebühren, etwa über Zeichenzahlen. Wenn Worte gezählt werden können, können sie sicherlich auch mit- oder ausgelesen werden. Google führt mit Stadia einen Streamingdienst für Games ein. Nutzer*innen benötigen dann keine kostspielige Gaming-Hardware mehr zuhause, da die Rechenarbeit die Server des Konzerns leisten. Damit ließen sich nicht nur Nutzungszeiten von Games auslesen oder Genre-Vorlieben feststellen – wozu auch andere Games-Plattformen, die permanenten OnlineZwang erfordern, wie Playstation-Network (Sony), Steam (Valve), Uplay (Ubisoft) oder Origin (Electronic Arts) auch schon zu in der Lage sind –, sondern auch strategische Vorgehensweisen der Spieler*innen analysieren und vermeintliche Rückschlüsse auf den Charakter einer Person erschließen. Amazon wird seinen Streamingdienst gegenüber der Konkurrenz wie etwa Netflix weiter ausbauen. Schon jetzt verfügt der Konzern damit über Informationen von Sehgewohnheiten und Interessen, gepaart mit den KaufAktivitäten von bei Amazon bestellten Waren. Sobald Amazon über eine Logistik zur Einhaltung von Kühlketten verfügt, wird der Konzern ins Lebensmittelgeschäft einsteigen und den Einzelhandel massiv unter Druck setzen: „Kunden, die Star Wars geschaut haben, haben auch diese Milchtüte gekauft …“ Facebook schließlich hat den Ruf, erfolgreiche Unternehmen einfach aufzukaufen, um die Konkurrenz aus dem Weg zu räumen und sich dadurch neue Geschäftsfelder zu eröffnen. So geschehen mit Oculus als VR-Brillen-
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Hersteller2 oder mit WhatsApp als Messenger. Das jüngste Vorhaben, eine eigene digitale Währung zu etablieren und damit auch auf dem Finanzsektor aktiv zu werden, wurde vorerst ausgesetzt, da der Widerstand aus dem Banken-Sektor zu groß war. Hand aufs Herz: Hat Ihnen der Staat in der Vergangenheit denn positive Kundenerfahrungen gebracht? Vermutlich nicht. Um einen kleinen Ausflug in die Welt der Verschwörungstheorien und rechter Gesinnungen einzuschieben, steht auf den Ausweisen deutscher Bundesbürger*innen, dass sie „Personal“ der Bundesrepublik sind, folglich keine Kunden. Dementsprechend muss sich der Staat auch nicht um die Kundenzufriedenheit kümmern. Immerhin tönt aus öffentlichen Verwaltungsstrukturen inzwischen häufiger das Wort Dienstleistungsorientierung – das lässt hoffen. In Sachen Datenschutz allerdings sind die europäischen Staaten seit Kurzem sehr auf das Wohl ihrer Bürger*innen bedacht und mit der 2018 eingeführten Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) (vgl. European Commission o. J.) sind die Rechte zum Schutz personenbezogener Daten zugunsten des Verbraucher- und Datenschutzes gestärkt worden. Dazu zählt auch eine Transparenzpflicht über die Sammlung und Auswertung individueller Daten und vereinfachte Möglichkeiten, Bürgerrechte auch durchzusetzen. Somit verdienen die europäischen Staaten zumindest beim Datenschutz nicht das schlechte Image, das ihnen die Menschen zuteilwerden lassen – unbehelligt von der Dauer der Umsetzung. Was der Staat aber nicht beeinflussen kann, ist das bereitwillige Zurverfügungstellen von Daten an Unternehmen durch die Bürger*innen selbst. Hier bedarf es intensiver Informations- und Aufklärungsarbeit. Eine simple Frage, die sich jede Person stellen sollte: „Würde ich die Daten, die die Big Five über mich gesammelt haben, auch dem Staat zur Verfügung stellen? Warum nicht? Und warum gebe ich sie dann einem Unternehmen?“
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Oculus war ursprünglich crowdfinanziert, also durch Gelder von interessierten Nutzer*innen vorfinanziert, um eine quelloffene Software-Architektur für VirtualReality-Anwendungen ohne Patentansprüche zu entwickeln, was mit der Übernahme natürlich hinfällig ist. Proteste der Crowdfunder*innen verliefen erfolglos.
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V ON 1984 INS J AHR 2020 – S OCIAL -S CORING C HINA UND Ü BERWACHUNG HIERZULANDE
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Der Roman „1984“ von George Orwell (vgl. Wikipedia 2020) gilt als abschreckendes Paradebeispiel einer dystopischen Gesellschaft, in der Bürger*innen von einem totalitären Staat überwacht werden. Dass das gar nicht so abwegig und inzwischen technisch gut umsetzbar ist, belegt ein Blick nach China. Die Regierung plant, schon 2020 ein flächendeckendes SocialScoring-System einzuführen, in dem Online- und Offline-Informationen über Bürger*innen gesammelt und algorithmisch ausgewertet werden sollen. Über 600 Millionen Kameras landesweit ermöglichen eine Echtzeitüberwachung inklusive Gesichtserkennung. Online-Aktivitäten, Käufe und Interaktionen mit anderen Internet-Nutzer*innen werden ebenso erfasst wie die Zahlungsbereitschaft von Steuern, der Status des Strafkatalogs oder von Verkehrsverstößen. Mit entsprechenden Auswirkungen: Wer bei Rot über die Ampel geht, sammelt nicht nur Minuspunkte auf seinem Punktekonto, sondern wird für alle Menschen sichtbar auf Großleinwänden und Monitoren an der betreffenden Kreuzung an den Pranger gestellt. In kleineren Gemeinden und Stadtteilen sind Schaukästen aufgestellt, in denen die Fotos von Personen veröffentlicht werden, die gegen Regeln verstoßen haben, wie etwa das Bild einer Frau, deren Hund seine Notdurft auf einer öffentlichen Wiese verrichtet. Die Überwachung per Kamera und Gesichtserkennung treibt Stilblüten. So könnten auch Tourist*innen im Himmelstempel in Peking auf Herausforderungen stoßen: „Das Toilettenpapier gibt es im kaiserlichen Himmelstempel nur noch via Gesichtserkennung. Direkt neben den Waschbecken hängt an der Wand ein kleiner dunkler Metallkasten mit eingebauter Kamera. Sekundenschnell wird das Gesicht gescannt und überprüft. Bei positiver Auswertung erhält man tatsächlich ein paar Blatt Papier. Kommt das Hightechgerät hingegen zu einem negativen Bescheid, etwa wenn man innerhalb von neun Minuten ein zweites Mal Toilettenpapier haben möchte, geht man leer aus. Die Behörden versichern, dass es sich keineswegs um Schikane handle, sondern vielmehr um eine intelligente Form der Verbrechensbekämpfung. Die Kameras würden gegen Klopapierdiebe eingesetzt, von denen der Himmelstempel seit Jahren heimgesucht werde. So mancher Rentner habe auf seinen
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Beutezügen immerhin bis zu zehn Meter Papier auf einmal mitgenommen.“ (Radunski 2018: o. S.)
Aber auch in Schulen kommen Kameras zum Einsatz, um Schüler*innen im Unterricht zu überwachen und Lehrer*innen zu alarmieren, wenn die Aufmerksamkeit sinkt. Ein schlechter Punktestand bedeutet Reiseverbot ins Ausland, schlechte Hotelqualität, Ausschluss von Millionen staatlicher Arbeitsplätze, keine Kreditvergabe, keine Sozialleistungen. Hohe Punktestände hingegen führen zu besseren Versicherungskonditionen, Schulzugängen für die Kinder, Sozialleistungen, Nutzung von Hochgeschwindigkeitszügen und Flugzeugen sowie Zugang zum Internet. Diese Liste zeigt, dass das Social-Scoring nicht auf staatliche Dienste und Leistungen beschränkt bleibt, sondern Auswirkungen auf viele verschiedene alltägliche Lebensbereiche hat, darunter nicht zuletzt auch die Internetnutzung. Interessant ist, dass Social-Scoring nicht nur auf die Prinzipien Belohnung und Bestrafung setzt, sondern auch spielerische Elemente – sogenannte Gamification3 beinhaltet. Ebenso wie beim Drang, neue Punkte mit der Payback-Karte zu sammeln, ist auch das Sammeln von Belohnungen für ihr „gutes Verhalten“ zentral für viele Menschen – ganz im Sinne von Fleißkärtchen. Das Punktesystem regt die chinesischen Bürger*innen dazu an, als Mustermensch mit anderen in Konkurrenz zu treten. Ob es wie geplant 2020 im ganzen Land eingeführt werden kann, wie die einzelnen Maßnahmen konkret aussehen, ob es überhaupt wie geplant funktioniert und vor allem welche Auswirkungen es auf das gesellschaftliche Miteinander und das Leben Einzelner haben wird, bleibt abzuwarten. Für Sozialforscher*innen ergibt sich jedenfalls ein Mekka für Beobachtungen und Studien. Und mancher europäische Staat hat schon Interesse an
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Gamification beschreibt, wie spielerische Elemente das Alltagsverhalten beeinflussen können. Pionier auf dem Gebiet der Gamification-Forschung ist Autor Yu-kai Chou. Er hat Spielelemente untersucht, die bei der Gamification für Motivation sorgen und sie in seinem „Octalysis-Framework“ zusammengestellt. Was Menschen motiviert und wie das Octalysis funktioniert, erklärt er in einem kurzweiligen Vortrag auf einer TEDx-Konferenz in Lausanne (vgl. Chou 2012). Auf seiner Internetseite wird das Octalysis-Framework detailliert anhand von Beispielen beschrieben (vgl. ebd. o. J.: o. S.).
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den eingesetzten Software-Lösungen angemeldet – zweckfrei, was die Manipulation der Bürger*innen in der Demokratie betrifft, versteht sich? Im Zuge der Terrorbekämpfung haben auch EU-Länder ihre Initiativen zur Überwachung „verdächtiger Personen“ deutlich ausgeweitet. Kameras im öffentlichen Raum, wie auf der Kölner Domplatte als Antwort auf die Vorfälle in der Silvesternacht 2015, gehören inzwischen zum selbstverständlichen Bild in Großstädten und an neuralgischen Orten. Das Verfahren der Gesichtserkennung hat sich allerdings nach einem erfolglosen Akzeptanztest am Berliner Bahnhof Südkreuz nicht durchgesetzt. In Nachbarländern sieht dies anders aus. Dass sich Überwachung aber auch durch Hintertüren einschleichen kann, zeigen die Dieselfahrverbote in deutschen Innenstädten. Um die Verbote überwachen zu können, setzen die Städte auf eine Kennzeichenüberprüfung per Kamera in Abgleich zum Flensburger Zentralregister. Personen, die mit ihrem nicht zugelassenen Fahrzeug in den Verbotszonen unterwegs sind, können so ermittelt und bestraft werden. Dass damit gleichzeitig auch Bewegungsprofile von einzelnen Individuen erstellt werden können, ist ein kaum diskutierter Nebeneffekt. Auch ein Mautsystem wie auf österreichischen oder schweizerischen Autobahnen setzt auf Kennzeichenermittlung per Kamera und algorithmische Auswertung. Nach dem Beschluss mit Mehrheit der rechten Regierungspartei für die Umsetzung des sogenannten Sicherheitspakets hat die Polizei in Österreich seit Juni 2018 Zugriff auf sämtliche Videokameras (öffentliche und private), kann IT-Systeme überwachen und einen in Deutschland wegdiskutierten Bundestrojaner zur Handy-Überwachung einsetzen – ohne richterlichen Beschluss. Anderthalb Jahre später hat Anfang Dezember 2019 das oberste österreichische Gericht Teile des Pakets für verfassungswidrig erklärt, wie den Einsatz des Bundestrojaners. Andere Maßnahmen wurden ebenfalls richterlich kritisiert und deren Verhältnismäßigkeit angemahnt. Das Gericht bezog sich vor allem auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Einen Versuch war es wohl aber wert. Auch in Deutschland bieten die ersten Krankenkassen ihren Kund*innen vergünstigte Verträge oder Zusatzleistungen an, wenn sie die aufgezeichneten Daten ihrer Fitness-Armbänder zur Verfügung stellen. So hat die Krankenkasse Zugriff auf die persönlichen Sport- und Bewegungsgewohnheiten und die erfassten gesundheitlichen Daten, je nach Modell inklusive Herzschlag, Puls bis hin zu Blutzuckerwerten. Aber auch Tagesabläufe lassen sich so protokollieren und berechnen. Ist ein solches System
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erst einmal eingeführt und umgesetzt, ist zu erwarten, dass die Kassen einerseits weiterhin mit Belohnungssystemen für vermeintlich gesund lebende Menschen arbeiten, auf der anderen Seite aber auch mit Sanktionen für Leistungen drohen werden, wenn Personen nicht gesund leben oder ihre Daten nicht zur Verfügung stellen – ganz zum Schutz vor Missbrauch des Sozial- und Gesundheitssystems?
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EIN FREIES I NTERNET
Tim Berners-Lee, der als Erfinder des World Wide Web und damit des Internets gilt, wie wir es heute kennen, setzt sich seit Jahren für Netzneutralität und Internet für alle ein. Auf dem „Internet Governance Forum“ der UN in Berlin im November 2019 äußerte er: „Niemals zuvor war die gute Macht des Internets in größerer Gefahr. Wie auch in der Offline-Welt sehen wir, dass Mauern errichtet werden. […] Das Internet steht an einem Scheideweg. Wenn es eine Macht des Guten bleiben soll, müssen wir jetzt handeln. Wenn wir darin scheitern, die Bedrohungen, die wir aktuell beobachten, anzugehen, riskieren wir eine digitale Dystopie.“ (Berners-Lee 2019: o. S.)4
Entwicklungen wie das Social-Scoring in China oder staatliche Zensur in Russland sind ebenso Gründe für Berners-Lees Initiative, wie auch die Herausforderungen von Datenschutz und an die auf Gewinnmaximierung ausgerichteten kapitalistisch agierenden Großkonzerne. Schon vor dieser Rede forderte er, die Aktivitäten der großen Online-Konzerne zu beschränken und eine Machtkonzentration bei wenigen Unternehmen zu verhindern. Berners-Lee entwickelt zurzeit mit Solid eine quelloffene und dezentral organisierte Social-Media-Plattform, auf der die Datensouveränität der Nutzer*innen im Mittelpunkt steht: Jede*r kann selbst entscheiden, welche Informationen wer erhält. Berners-Lee spricht dabei von einem „persönlichen
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Eigene Übersetzung des Originalzitats: „But never before has the Webʼs power for good to be under more threat. Just as in the offline world weʼre seeing walls go up on the Web. The Web is at a tipping point. If it is to be a force for the good, we must act now. If we fail to tackle the threats that we face, we risk a digital dystopia.“
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Daten-Safe“. Darüber hinaus hat er mit „Contract for the Web“ (World Wide Web Foundation o. J.: o. S.) eine Initiative gestartet, in der sich die unterzeichnenden Regierungen, Unternehmen und Organisationen, aber auch Einzelpersonen verpflichten, freien Internetzugang für alle zu gewährleisten, die Daten-Souveränität Einzelner zu schützen und sich für ein freies Internet einzusetzen. Das Bundeskabinett hat sich bereits im November 2018 dazu verpflichtet, die Prinzipien des Vertrags einzuhalten. In einem Ende 2019 veröffentlichen Report von Amnesty International wirft die Menschenrechtsorganisation den beiden Unternehmen facebook und Google Verletzungen der Menschenrechte vor (vgl. Amnesty International 2019). Die auf Überwachung von Nutzer*innen basierenden Geschäftsmodelle werden im Report detailliert beschrieben, die Auswirkungen des „Angriffs auf die Privatheit“ der*s Einzelnen werden skizziert, die algorithmische Auswertung der gesammelten Daten transparent dargestellt und die Konzentration von Macht über Millionen Menschen weltweit offengelegt. Amnesty International fordert Politik und Regierungen dazu auf, dem „weltgrößten unregierten Raum“, wie es der ehemalige Geschäftsführer von Google, Eric Schmidt, formulierte, Regeln zu geben, sie zu überwachen, Konsequenzen umzusetzen und die Zeit der Selbstregulierung zu beenden. Das Ziel müsse sein, die Menschenrechte zu schützen und das Vertrauen in ein freiheitliches und demokratisch strukturiertes Internet wiederherzustellen. Die beiden Unternehmen und andere mit ähnlichen Geschäftsmodellen rufen sie auf, ihre auf Überwachung setzenden Strategien dahingehend umzuwandeln, dass Rechte jeder Person respektiert bleiben. Es tut sich also etwas und der Widerstand wird größer. Bleibt abzuwarten, wie Regulierungen in einer globalisierten Welt aussehen können, in der länderspezifische Gesetze kaum mehr greifen können. Ebenso spannend wird es zu sehen, auf welche anderen Strategien Unternehmen ausweichen werden. Grundsätzlich hat das Internet an sich ein Problem, denn seit den Anfängen herrscht bei den Nutzer*innen das Verständnis vor, Angebote kostenlos beanspruchen zu können, mit entsprechenden Konsequenzen: Im Sinne des Visionärs Berners-Lee schafft es das Internet, Wissen für alle zur Verfügung zu stellen und die globale Struktur und Vernetzung ist Voraussetzung dafür, dass keine Informationen bestimmten Menschen durch Zensur vorenthalten werden können. Allerdings sorgt dieser Anspruch aufseiten der Nutzer*innen dafür, dass herkömmliche Finanzierungsmöglichkeiten, wie z. B. ähnlich zum Abonnement einer Tageszeitung oder
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der Abrechnung eines Telefonats, nicht mehr funktionieren und Firmen ihre Dienste nicht mehr aufrechterhalten können. Hier braucht es auch ein Umdenken bei den Konsument*innen, denn umsonst bedeutet nicht kostenlos.
M EDIENPÄDAGOGISCHE UND KULTURELLE ZU B IG D ATA
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Die Digitalisierung dringt zunehmend in alle gesellschaftlichen Bereiche ein und bringt entsprechende Konsequenzen für das gegenwärtige Leben und erst recht für das der nachfolgenden Generationen mit sich. Dabei werden Entscheidungen immer komplexer und lassen sich nicht mehr singulär im fachbezogenen Diskurs betrachten. Digitalisierung tangiert Politik und Gesellschaft, Kultur und Pädagogik, Wissenschaft und Informatik, Medizin, Ethik und Sozialwissenschaften, aber auch die Wirtschaft gleichermaßen. Die Sammlung und Auswertung von Big Data ist nur ein Teilaspekt der Digitalisierung und damit ist auch klar, dass Big Data Analytics im Rahmen von medienkultureller, Kultureller und politischer Bildung thematisiert werden muss. Christiane Woopen, Professorin und Medizinethikerin an der Universität Köln, hat im Zuge der Tagung „Super-Scoring? – Data-driven societal technologies in China and Western-style democracies as a new challenge for education“ des Grimme-Instituts und der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Anfang Oktober 2019 in Köln (vgl. Grimme-Institut 2019a) als Antwort auf sieben Fragen formuliert: „Menschen müssen nicht nur lernen, digitale Technologien kompetent anwenden zu können, sondern auch, sie kritisch zu reflektieren. Dazu gehört auch die Anwendung eines Super-Scoring. Schon von frühester Kindheit an geht es um die praktische Vermittlung eines Bewusstseins, das den unbedingten Wert jedes Menschen deutlich macht – nicht durch theoretische Ausführungen, sondern im alltäglichen Leben und im respektvollen Umgang der Menschen miteinander. […] Wir brauchen meines Erachtens ein viel differenzierteres und kritischeres Bewusstsein für die Bedrohung unserer Privatheit, der Integrität unserer Persönlichkeit und damit letztlich unserer Freiheit.“ (Ebd. 2019b: o. S.)
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Felix G. Rebitschek vom Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam geht auf die Erfordernisse digitaler Bildung ein: „Ein bevölkerungsweites praxisbezogenes Verständnis von Algorithmen sollte das Ziel sein. Digitale Bildung kann eben gerade nicht auf Programmiersprachen abstellen, sondern muss die den Algorithmen zugrundeliegenden Funktionskonzepte in den Blick nehmen.“
Rebitschek benennt mit einem Fragenkatalog, dass der Einsatz von algorithmischen Auswertungsverfahren geprüft werden muss, bevor sie zum Einsatz kommen und schlägt vor, diese Fragen entsprechend in Bildungskontexten zu nutzen: „Algorithmensouveränität könnte auf diese Weise in Schulen, aber auch durch Bildungsangebote der Erwachsenenbildung angeregt werden.“ (Ebd. 2019c: o. S.) In den Äußerungen wird deutlich, dass die technischen Aspekte eine eher untergeordnete Rolle in der Bearbeitung einnehmen. Vielmehr ist jede*r Einzelne gefragt, im Sinne des gesunden Menschenverstands technische Abläufe zu hinterfragen und sie ethisch-moralisch, gesellschaftlich, politisch und kulturell zu bewerten. Im Sinne einer Medienkompetenzvermittlung geht es also primär um die beiden Bereiche Medienkunde – in der vermittelt wird, wie Algorithmen funktionieren – und um Medienkritik, um einschätzen zu können, zu welchem Zweck und mit welchen Auswirkungen auf die Menschen Big Data Analytics eingesetzt wird. In 2017 und 2019 entwickelten Teilnehmer*innen im „Big-Data-Labor“ an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW neue Vermittlungsmethoden zur Sensibilisierung Jugendlicher und Erwachsener. Grundprinzip war, nicht mit erhobenem Zeigefinger aus Pädagog*innen-Sicht das Thema anzugehen, sondern spielerisch und lebensweltbezogen zum Nachdenken und zur eigenen Meinungsbildung beizutragen. Parallel entwickelten im Auftrag der bpb Medienpädagog*innen vom Studio im Netz in München und dem jfc-Medienzentrum in Köln weitere Methoden zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Auch hier sollte den Methoden gemein sein, dass Spielspaß und Miteinander im Mittelpunkt stehen, aber die Auseinandersetzung mit Big Data Analytics zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Vermieden wurde eine schultypische Herangehensweise, wenngleich einigen der Methoden auch Arbeitsblätter zur Weiterbearbeitung beiliegen, die aber optional verwendet werden können. Alle
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Methoden wurden mehrfach mit Zielgruppen ausprobiert und umgesetzt und stehen inklusive Spielmaterialien, Arbeitsblättern und didaktischen Hinweisen im Big-Data-Dossier auf der Internetseite der bpb zur kostenlosen Nutzung in Bildungskontexten zur Verfügung (vgl. bpb o. J.). Zu den Spielmaterialen des ersten „Big-Data-Labor“ zählen: das „BigDataPoly“ – eine eingängige Abwandlung des Bettspiels Monopoly, in dem Daten das Geld und Institutionen und Unternehmen die Straßen ersetzen; „Meine Filterblase“ – eine spielerische Methode mit farbigen Luftballons zur Verdeutlichung einer Filterblase; „FreiTag“ – eine interaktive Erzählung über den Lebensalltag eines Jugendlichen, die offenlegt, wann Daten preisgegeben und übermittelt werden; „Analytica verkündet“ – eine Aufstellungsmethode für größere Gruppen, in der die Teilnehmer*innen selbst entscheiden, ob sie mit vorgeschlagenen Gesetzen einer KI in einer dystopischen Gesellschaft einverstanden sind oder nicht. Im Februar 2020 kamen weitere dazu: „DaTEN“ – ein witziges Kartenspiel auf Basis der Regeln von „Kuhhandel“, in dem Anteile von Hightech-Unternehmen ersteigert werden; „Kausal-Checker“ – ein unterhaltsames Quiz über die Unterscheidung zwischen Korrelation und Kausalität; „Speed-Dating in Scoryland“ – eine rasante Umsetzung einer Dating-Show, die sich auch für größere Gruppen nutzen lässt. In einem medienpädagogischen Projekt der SK-Stiftung Jugend und Medien zwischen November 2019 und Februar 2020 hatten Achtklässler*innen eines Kölner Gymnasiums die Aufgabe, ebenfalls neue Methoden zur Sensibilisierung Gleichaltriger für das Thema Big Data zu erarbeiten. Hintergedanke war, dass Jugendliche andere Aspekte für wichtig erachten und auf andere Ideen kommen als Erwachsene oder etwa Pädagog*innen. Den insgesamt drei Projekttagen für die konkrete Methodenumsetzung gingen über einen Zeitraum von zwei Monaten wöchentlich stattfindende Doppelstunden voraus, in denen den Schüler*innen Know-how zum Themenkomplex vermittelt wurde, z. B. in spielerischer Form mit den oben beschriebenen Methoden oder durch Inputs von Professor*innen aus Kölner Hochschulen sowie einer Journalistin aus Berlin.
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Drei Kleingruppen entschieden sich für die Umsetzung eines TextAdventures mit dem Editor Twine5 , in denen die Spieler*innen mit ihren Entscheidungen den Verlauf der Geschichte bestimmen. Die erdachten Geschichten spiegeln allesamt den Lebensalltag von Jugendlichen wider: der tägliche Weg zur Schule, die geplante Klassenfahrt oder die Freizeitgestaltung. In allen drei Geschichten wird deutlich, welchen Stellenwert soziale Medien bei der Zielgruppe haben und dass sie sich sehr wohl darüber im Klaren sind, dass sie die Dienste und Apps mit ihren persönlichen Daten bezahlen. Aber es wird auch deutlich, dass sie im Grunde nicht daran vorbeikommen und dass der „soziale Zwang“ dazuzugehören, oft eine höhere Gewichtung hat als der Schutz der eigenen persönlichen Daten. Hinzukommt, dass manche Dienste mit Blick auf die gebotenen Features und ihre Funktionalität so gut wie alternativlos sind. Die entwickelten Entscheidungsgeschichten der Schüler*innen belegen vor allem eines: Jugendliche leben heute in einem ständigen Balance-Akt zwischen on- und offline und permanenten Entscheidungen, wie sie mit ihren Daten umgehen sollen, was sie in den Post im Sozialen Netzwerk oder in die Nachricht an die Freund*innen schreiben. Sie machen sich Gedanken dazu, wer mitlesen könnte und welche Auswirkungen zu befürchten sind. In letzter Zeit wird der Ruf an die (Bildungs-)Politik laut, warum von staatlicher Seite keine alternativen und datenschutz-konformen Apps und CloudLösungen entwickelt und im Rahmen der Bildungsarbeit zur Verfügung gestellt werden. Diese könnten in der Tat eine Alternative zu kommerziellen Produkten sein und der Staat könnte seiner gesetzlich verankerten Fürsorgepflicht für die informationelle Selbstbestimmung damit einen Schritt näherkommen. Allerdings liegt der Fokus hier auf der durchaus wichtigen Zielgruppe der Heranwachsenden, nicht aber der Erwachsenen, der Eltern, Pädagog*innen und Entscheidungsträger*innen, die heute schon die Weichen für eine digitalisierte Gesellschaft stellen und somit vielleicht sogar eine noch wichtigere Zielgruppe in der Bildungskette darstellen. Es gilt, Aufklärung zu betreiben und dazu anzuregen, sich eine eigene Meinung
5
Das „open-source tool for telling interactive, nonlinear stories“ Twine ist kostenlos nutzbar und online sowie als Download auf der Seite http://twinery.org erhältlich. Eine Beschreibung der medienpädagogischen Einsatzmöglichkeiten hat Christoph Kaindel auf dem Medienpädagogik-Praxisblog veröffentlicht (vgl. Kaindel 2016).
A LGORITHMEN ? – W AR
DAS NICHT EIN ALTES
V OLK IN G RIECHENLAND ?
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aufgrund ethisch-moralischer Wertmaßstäbe zu bilden, eventuell persönliche Konsequenzen daraus zu ziehen, ein Gespür dafür zu vermitteln, welchen Stellenwert die Würde des einzelnen Menschen in der Gesellschaft und im Miteinander hat und damit eine Grundlage für gesellschaftliches Miteinander in einer globalisierten Welt zu schaffen, die lebenswert bleibt. Wer könnte das besser als die Kulturelle Bildung?
L ITERATUR Amnesty International (2019): Surveillance Giants: How the Business Model of Google and Facebook Threatens Human Rights, 21. November 2019. https://www.amnesty.org/en/documents/pol30/1404/2019/en [Zugriff: 01.04.2020]. Berners-Lee, Tim (2019): Eröffnungsrede des IGF 2019 am 25.11.2019 in Berlin. http://www.intgovforum.org/multilingual/content/igf-2019-%E2 %80%93-day-0-%E2%80%93-saal-europa-%E2%80%93-launch-ofthe-contract-for-the-web-raw [Zugriff: 01.04.2019]. bpb (Bundeszentrale für politische Bildung) (o. J.): Big Data für die Kinder- und Jugendbildung. https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/ medienpaedagogik/bigdata/263379/big-data-fuer-die-kinder-und-jugend bildung [Zugriff: 01.04.2020]. Chou, Yu-kai (o. J.): Gamification & Behavioral Design. Learn How to Use Gamification to Make a Positive Impact on Your Work and Life. https://yukaichou.com/gamification-examples/octalysis-complete-gami fication-framework [Zugriff: 01.04.2020]. Chou, Yu-kai (2012): Gamification to Improve our World. Vortrag auf einer TEDx-Konferenz in Lausanne (engl.). In: YouTube. https://www. tedxlausanne.com/talks/yu-kai-chou [Zugriff: 01.04.2020]. European Commission (o. J.): EU Data Protection Rules. https://ec.europa.eu/ commission/priorities/justice-and-fundamental-rights/data-protection/2018reform-eu-data-protection-rules/eu-data-protection-rules_de [Zugriff: 01.04. 2020]. Grimme-Institut (2019a): Super-Scoring? Data-driven Societal Technologies in China and Western-style Democracies as a New Challenge for Education. Dokumentation der Interdisciplinary Conference, 11. Oktober
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2019, Köln. In: Super-Scoring. https://www.superscoring.de/documentation [Zugriff: 01.04.2020]. Grimme-Institut (2019b): 7 Fragen an Christiane Woopen. In: Super-Scoring. https://www.superscoring.de/2019/08/19/7-fragen-an-christiane-woopen [Zugriff: 01.04.2020]. Grimme-Institut (2019c): 7 Fragen an Dr. Felix G. Rebitschek. In: SuperScoring. https://www.superscoring.de/2019/09/16/7-fragen-an-felix-grebitschek [Zugriff: 01.04.2020]. Jaeger, Lars (2019): „Googles neuer Quantencomputer“. In: Telepolis, 30.09.2019. https://www.heise.de/tp/features/Googles-neuer-Quanten computer-4542581.html [Zugriff: 01.04.2020]. Kaindel, Christoph (2016): Choose Your Own Adventure, Teil 1. In: Medienpädagogik-Praxisblog, 11.10.2016. https://www.medienpaedagogik-praxis. de/2016/10/11/choose-your-own-adventure-teil-1 [Zugriff: 01.04.2020]. lfm (Landesanstalt für Medien) NRW (2012): AGfA – Apple, Google, facebook, Amazon. In: YouTube, 19.07.2012. https://youtu.be/7NEkAL keHdg [Zugriff: 01.04.2020]. Neumann, Linus (2015): Der BigBrotherAward 2015 in der Kategorie Technik geht an die „Hello Barbie“, vertreten durch die Herstellerfirmen Mattel und Toytalk. In: Digitalcourage e. V.: Big Brother Awars.de. https://bigbrotherawards.de/2015/technik-hello-barbie [Zugriff: 01.04.2020]. Radunski Michael (2018): „Du hast gerade das Gesetz gebrochen“. In: Fluter, 68. Hrsg. von der bpb (Bundeszentrale für politische Bildung). https://www.fluter.de/heft68 [Zugriff: 01.04.2020]. Wikipedia (2020): 1984 (Roman). https://de.wikipedia.org/wiki/1984_ (Roman) [Zugriff: 01.04.2020]. World Wide Web Foundation (o. J.): Contract for the Web. A Global Plan of Action to Make Our Online World Safe and Empowering for Everyone. https://contractfortheweb.org [Zugriff: 01.04.2020].
Diversität im Spiel – das Kaleidoskop der Spielkultur Eine diversitätsbewusste Perspektive in der Methodik und Fortbildung von Spielkulturpädagog*innen S USANNE E NDRES UND N ADINE R OUSSEAU
E INLEITUNG Spielen und Spiel sind seit Anbeginn im Wandel. So wie sich Spiel und Spielen den historischen Gegebenheiten anpasst, so ist auch die pädagogische Begleitung historischen Einflüssen unterlegen. Einerseits ist Spiel weder vor Ideologien noch vor Vereinnahmung für fremde Zwecke geschützt. Andererseits besitzt es aber auch die Kraft, reformerische, freiheitliche Prozesse anzustoßen, Kreativität und Gestaltungswillen zu fördern sowie Menschen zu verbinden (vgl. Heimlich 2015: 89-137). Die Spielpädagogik heute lebt in ihrem Wesen noch immer von der Kraft der 1968er-Revolution – einer Zeit, in der die ersten Spielmobile und Abenteuerspielplätze gegründet, Freiflächen in Städten für Kinder und Jugendliche beansprucht, eine Pädagogik entgegen der autoritären Erziehungsprinzipien einer Kriegs- und Nachkriegszeit erkämpft wurden. In dieser Zeit wurden „Kreativität und Selbstbestimmung […] zu Zauberwörtern und die Pädagogik suchte nach neuen Wegen, um die Fähigkeiten gerade auch beim Kind zu fördern“ (Burkhalter 2018: 25f.). Mit diesem Schatz – dem Willen für die Freiheit des Spiels zu kämpfen – begegnet
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die Spielpädagogik heute einer Welt, die sich rasant verändert und damit auch die Konzepte von Kindheit und besonders Jugend neu gestaltet: Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, Digitalisierung ist ein Teil aller Lebensbereiche, vor allem Teil der Kindheit und Jugend, der Milieus und damit der Konsumgewohnheiten. Familienkonzepte und Wertegerüste differenzieren sich stetig und zunehmend, Arm und Reich driften auseinander, extremistische Ideen, Rassismus und Rechtspopulismus finden immer mehr Anklang (vgl. Keuchel/Rousseau 2018: 230). Angesichts dieser Entwicklungen stellen sich gleich mehrere Fragen an die Spielpädagogik: Welche Potenziale besitzen das Spiel und das Spielen, Kinder und Jugendliche zu stärken, in einer teils unübersichtlichen, beschleunigten, pluralen Gesellschaft selbstbestimmt und selbstwirksam ihr Leben zu meistern? Wie hat sich die Spielkultur in den vergangenen Jahren verändert und welchen Stellenwert hat sie als Kulturgut? Wie können Spielund Kulturpädagog*innen Kinder und Jugendliche in den diversifizierten Spielwelten begleiten? Und – mit einem (selbst-)kritischen Blick – welche Bilder von Welt werden in Spielwelten vermittelt bzw. welche Bilder und Repräsentationen werden auch von der Spielpädagogik weitergetragen? Ist es somit nicht an der Zeit, die Begriffe Spielpädagogik und Kulturelle Bildung innerhalb dieser multiplen Schnittmengen mit dem Begriff Spielkultur künftig zusammen zu denken? Um Antworten zu finden, wird in einem ersten Komplex die Frage nach der Alltagsrelevanz von Spiel in der heutigen Zeit erörtert. Welche Spieltrends bilden sich ab, welchen Zuspruch und welche mediale Aufmerksamkeit erfahren sie? In welchen Bereichen ist Spiel heute zu finden und wie wird der kulturelle Wert von Spiel diskutiert? Über diese Betrachtung lässt sich ein Blick in Richtung unterschiedlicher Spielkulturen werfen: Was bedeutet spielpädagogisches Handeln in diesen von Diversität geprägten Spielwelten? In einem weiteren Komplex sollen Fragen nach den Potenzialen von Spiel als Teil der Kulturellen Bildung bearbeitet werden. Was sind die Potenziale „Diversitätsbewusster Kultureller Bildung“ („DiKuBi“) in der
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Fortbildung von Pädagog*innen1 und welche Spezifika besitzt Spiel in diesem Zusammenhang? Auf welchen Ebenen kann Diversität durch Spiel verhandelt werden?
A LLTAGSKULTURELLE R ELEVANZ VON S PIELKULTUR IN PLURALEN G ESELLSCHAFTSSTRUKTUREN Spiel und Spielen wird häufig als Teil der Kindheit und Jugend verstanden und erhält so auch in der Pädagogik seine Relevanz. Auch wenn Erwachsene über alle Zeiten hinweg spielten, scheint es, dass insbesondere in den vergangenen Jahren immer mehr Bereiche den Wert von Spiel als Motor für erwünschte Prozesse erkennen: Die Kreativwirtschaft nutzt das Innovationspotenzial von Spiel und setzt auf Teambuilding und kreative Produktentwicklung durch spielerische Methoden; die Stadtentwicklung nutzt Spielprinzipien für die Vernetzung im Quartier und das Herausbilden von bürgerschaftlichem Engagement; spielerische Methoden werden zur Vermittlung von Lerninhalten in Schule eingesetzt; und nicht nur die Eventindustrie baut komplexe Spielszenarien, wie etwa Escape Rooms, und vermarktet sie kommerziell, sondern auch die Pädagogik nutzt das Prinzip zur Vermittlung von Lerninhalten und für komplexe Spielerlebnisse. Es gibt große Life Action Role Play (LARP) Festivals, die mehrere Tausend Menschen anziehen. Überhaupt finden Spielfestivals und Spielfeste in vielen Ecken der Welt statt.2 Sie sollen Zusammenhalt schaffen, künstlerischspielerisch im Stadtraum intervenieren und mit ihren Inszenierungen Aufmerksamkeit zu unterschiedlichen Themen erzeugen.
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Das Weiterbildungskonzept „Diversitätsbewusste Kulturelle Bildung“ der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW soll helfen, mit Diversität in der Vermittlungsarbeit bewusster umzugehen und soll Ausgangspunkte für die eigene Praxis geben, das Thema Diversität mit künstlerischen und ästhetischen Mitteln erfahrbar zu machen (siehe https://kulturelle bildung.de/dikubi-diversitaetsbewusste-kulturelle-bildung).
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PLAY – Creative Gaming Festival; CounterPlay Aarhus; Playpublik Berlin; Next Level – Festival for Games; Tocatí – International Street Games Festival; Play Festival NL u. v. m.
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Ohne den direkten Bezug zu Games als digitale Spielwelten überhaupt zu nennen, zeigt sich, dass Spiel in vielfältige Lebensbereiche Einzug hält und nicht etwa nur den Kindern und Jugendlichen vorbehalten ist. Digitalisierung erscheint hier als Katalysator für eine Verknüpfung von analogen und digitalen Spielwelten, die eine unendliche Zahl von neuen Spielformen hervorbringt und ermöglicht. Das Videospiel Pacman gibt es heute nicht nur als Retro-Computer-Spiel der 1980er Jahre, sondern als Holz-Brettspiel und als Urban Game mit digitaler Unterstützung im Stadtraum. Digitales und Analoges sind im Spiel in eine fruchtbare Wechselwirkung getreten. Spiel unterliegt neben der Digitalisierung aber auch einer Ästhetisierung und einer damit einhergehenden Medialisierung. Viele Spiele finden im öffentlichen Raum statt, werden dafür inszeniert, natürlich dokumentiert und digital verbreitet. Insbesondere Urban Games, aber auch künstlerische Installationen, die sich (alter) Spielprinzipien bedienen, finden Einzug in spielerische Bildwelten.3 Spielwelten bzw. ihre ästhetischen Symbole und Zeichen sind Ausdruck bestimmter Lifestyles und folglich auch Teil von Identitätskonstruktionen (vgl. Barker 2003: 209f.). Durch die digitale Vernetzung von Spielwelten, auch derer, die vornehmlich in privaten Räumen, in eingeschworenen Gemeinschaften geteilt werden, sind die Symbolhaftigkeit und die Bildsprache nicht selten auch die tatsächliche Sprache. In Form von Codes ist sie das sowohl gemeinschaftsbildende als auch abgrenzende Element. Für digitale Spielwelten wurde diese Entwicklung vielfach beschrieben, wie etwa von Christoph Deeg, der als Berater und Speaker für Games Studies für die Anerkennung von Games als Kulturform eintritt: „Digitale Spielkulturen können heute nahezu jeden Inhalt darstellen und spielerisch erfahrbar machen. Ihre besondere Stärke liegt in der Möglichkeit, die Geschichte aktiv zu gestalten. SpielerInnen werden Teil des Ganzen. Die Spielfigur/der Avatar ist ein Teil von mir und zugleich Teil einer virtuellen Welt. […] Und die Teilhabe, das Erleben und Erschaffen endet nicht im Spiel. Das Spiel bzw. die Beschäftigung damit wird Teil der Realität. Manches Level lässt sich nicht alleine lösen. Man benötigt die Hilfe von anderen SpielerInnen. Hierfür trifft man sich zumeist online in Foren, auf Blogs oder Wikis. Einige SpielerInnen entwickeln eine Bindung zu ihrer virtuellen Identität, ihrem Avatar.“ (Deeg 2013: o. S.)
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Zum Beispiel Invisible playground; Lunatiks – LEGOtopia.
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Diese Identifikation, aber auch die digitale Vernetzung mit anderen Spieler*innen, greift auch bei übrigen vorerst analogen Spielkulturen, wie etwa bei vielen Tabletop Spielen. Die Strategiespiele mit Spielfiguren und Geländestücken bauen auf ein komplexes Regelwerk und hohes zeitliches Engagement der Spielenden auf. Trotz der Nischenhaftigkeit hat sich eine ganze Industrie darum entwickeln können – als Ausstatter und Ankerpunkt ist die Kette Games Workshop mittlerweile in den meisten europäischen Großstätten vertreten. Die Geschäfte sind Treffpunkt und ideeller Ort zugleich. Obwohl den Spielmitteln und den Spielen selbst das Etikett „Nerd“ anhaftet, hat die Vernetzung und die Zirkulation von Ideen und Bildern durch die Digitalisierung eine breite Community hervorgebracht, die sich über große Entfernungen austauscht und miteinander spielt, und greift somit auch wieder in die analogen Lebenswelten hinein. Für eine ganze Reihe neuer Spielformen wird aktiv die Verbindung von analogen Spielszenarien mit Unterstützung digitaler Werkzeuge genutzt. Insbesondere als Rallye-Formate wurden „mediale Spielformen etabliert, die neue leibliche Erfahrungen zwischen realen und digitalen Spielräumen eröffnet haben“ (Übler-Winter 2013: o. S.). Identität und Spiel sind eng miteinander verknüpft und so wird Spiel, wie auch andere kulturelle Ausdrucksformen, zum Gestaltungsmittel von Identität und Gruppenzugehörigkeit. Wir haben es mit vielen parallelen Spielkulturen zu tun, deren Vertreter*innen auf Codes, Symbole, Ästhetiken und Sprache zurückgreifen und so Zugehörigkeiten und Abgrenzungen leben. Dies geschieht in einem „kontinuierlichen und spielerischen Zusammenbasteln verschiedener Stile, [durch] Neukontextualisierung und die kreative Neuschöpfung und Hybridisierung. […] Szenen verschwinden nicht, es kommen neue hinzu; die Szenenvielfalt ist somit unübersichtlich.“ (Heinrich 2017: o. S.)
Was haben aber diese spielkulturellen Ausdrucksformen nun mit Diversität im pädagogischen Kontext zu tun? Spiele und Spielkulturen sind Teil von Identitätskonstruktionen und haben als solche Einfluss darauf, wie Menschen aufeinandertreffen, ihre Beziehungen miteinander gestalten oder die Welt lesen. Spielkulturen sind nicht frei von Machtverhältnissen, Millieuzuordnungen, Zuschreibungen, Repräsentationen, Gefahrendiskursen, Abgrenzungsmechanismen und Wertungen. Die Fähigkeit zur Dekonstruktion,
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also das Aufdecken von Grundannahmen und von Hierarchisierungen, die über Bilder und Texte im Spiel dargestellt werden, ist entscheidend für einen verantwortungsvollen Umgang mit Spielen im kulturellen Bildungskontext. Die Anerkennung verschiedener Spielkulturen sowie die Fähigkeit zu ihrer kritischen Betrachtung ist Teil einer (pädagogischen) Haltung, in der Sensibilität für soziale Konstrukte und Bewertungen, für Identitätsentwürfe und Lebenswirklichkeiten von Kindern und Jugendlichen gefragt ist. Weitergedacht bedeutet dies jedoch nicht zwangsläufig, Bewertungen von „guten“ und „schlechten“ Spielen vorzunehmen. Auch hier gilt es, im Sinne der Dekonstruktion „auf der Hut“ zu sein. So wie die Unterscheidung zwischen Hochkultur und Populärkultur Kontroversen beinhaltet, kennzeichnet eine Unterscheidung von guten und schlechten Spielen zunächst die Position der Bewertenden und gibt diesen die Macht, ein System aufzubauen, in dem die eine Seite als überlegen oder unterlegen gekennzeichnet wird. Vor dem Hintergrund, dass Spiele als Identitätsstifter fungieren, trägt diese Hierarchisierung zu einer Ausgrenzung von Gruppen Spielender bei. Zudem erscheint die Bewertung von Spielen nicht selten im Kontext von Gefahrendiskursen – also im Sinne von „schlechte Spiele führen zu unerwünschten Handlungen“. Die unterstellte Linearität dessen blendet zudem die aktive Rolle der Konsumierenden aus (vgl. Barker 2003: 67-71). Die Konsument*innen, in diesem Fall die Spieler*innen, sind als aktive Produzent*innen von Bedeutung. Sie eignen sich die Spiele an, verhandeln mit Mitspielenden Regelwerke, entscheiden über Räume und Zeiten des Spielens, verknüpfen ihre Spielerlebnisse mit anderen spielerischen oder künstlerischen Ausdrucksformen. Der Begriff Spielkultur verweist demnach auf die Anerkennung von Spiel als kulturelle Praktik, die Bedeutungen durch diskursive Prozesse der Spielenden hervorbringt und in sich stark diversifiziert ist. Sie weist Analogien, Verknüpfungen, Überlappungen, Bildreferenzen, Intertextualitäten und intermediale Verästelungen auf und ist damit im stetigen dynamischen Wandel. Diese Vielfalt und Wandelbarkeit macht es fast unmöglich, sich ein detailliertes Wissen über all diese Formen anzueignen. So sehr sich Spielkulturen ausdifferenzieren, so sehr finden die Spielenden individuelle Zugänge und Gestaltungsformen für ihre Spielwelten. Die Chancen einer pädagogischen Begleitung in diesem Zusammenhang bestehen dabei vor allem in einer Haltung, die Offenheit und Bewertungsfreiheit demonstriert, gepaart mit der Fähigkeit der kritischen Dekonstruktion dieser Spielwelten,
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Bildwelten, Dynamiken und Hierarchisierungen. Dies sind die Ansatzpunkte für eine kreative und thematische Auseinandersetzung mit (Lebens-)Welt über Spiele, zu denen Spielkulturpädagog*innen einladen können.
S PIEL IM K ONTEXT D IVERSITÄTSBEWUSSTER K ULTURELLER B ILDUNG Wie kann Spiel im Kontext von Kultureller Bildung dazu beitragen, einerseits die Haltung von pädagogischen Begleiter*innen, andererseits die Haltung von Spielenden für plurale Spielwelten und die hohe Diversität der Spielenden vorzubereiten? Das Verständnis von Diversität im Kontext der Kulturellen Bildung bezieht sich auf die Anerkennung der Vielfalt individueller Identitätskonstruktionen entlang sozialer Kategorien wie Geschlecht, Herkunft, Alter, Sexualität, Hautfarbe, Gesundheit, Klasse, Milieu etc. Die Multidimensionalität, die Verflechtungen und Überlappungen unterschiedlicher Identitätsaspekte sowie die Wertschätzung dieser Aspekte sind Grundprinzipien dieser Sichtweise. Abweichungen von einer vermeintlichen Norm werden als Normalität anerkannt und können als produktive Gestaltungsmerkmale genutzt werden. Voraussetzung dafür ist der Abbau von Zugangsbarrieren und Diskriminierungen, die Menschen aufgrund von Abweichungen von der Norm der Mehrheitsgesellschaft erfahren. Der Ansatz der „Diversitätsbewussten Kulturellen Bildung“ als Fortbildungskonzept stellt als primäres Ziel die Persönlichkeitsentwicklung der Fortzubildenden in den Fokus. Die „Stärkung der inneren Haltung und die eigene Positionierung im Kontext von Diversität […], Authentizität, Wertschätzung und Offenheit, die Fähigkeit Irritationen auszuhalten, die eigenen Handlungen und Bewertungen zu reflektieren, sind Fähigkeiten, die im Umgang mit heterogenen Gruppen als Schlüssel angesehen werden.“ (Keuchel/Rousseau 2018: 234)
Als zweite Ebene wird Diversität im künstlerischen/spielerischen Prozess adressiert. Prozesse der Kulturellen Bildung schaffen Erfahrungsräume, in denen ästhetische sowie spielerische Gestaltungsprozesse erlebt werden können: „Durch die Freiheit im Erleben und die gemeinsame Reflexion wird ein
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Bewusstsein künstlerischer und [kultureller] Vielfalt“ (ebd.: 239) geschaffen, das die eigene Perspektive erweitert und neue Sichtweisen zulässt. Die dritte Ebene fokussiert die pädagogische Planung und Vermittlung. Hier steht der Umgang mit unterschiedlichen Zielgruppen im Vordergrund: Was sind Lebenswirklichkeiten und Lebensweltbezüge, welche Bedarfe und Bedürfnisse entstehen in Gruppenkonstellationen und bei Einzelpersonen, welche Zugangsbarrieren oder sensiblen Punkte sollten in der Planung und Durchführung von Projekten oder Angeboten bedacht werden? Spiel im Kontext Kultureller Bildung weist auf allen drei Ebenen signifikante Potenziale auf.
E INE
DIVERSITÄTSBEWUSSTE SPIELERISCHE P ROZESSE
H ALTUNG
DURCH
In Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung wird Spiel und Spielen vielfach als konstituierende Größe in der sozialen Entwicklung von Kindern gesehen. Spiel gibt immerwährend die Möglichkeit, sich neu zu erfinden, unterschiedliche Identitäten anzunehmen, sich auszuprobieren, ohne unmittelbare gesellschaftliche Sanktionen erwarten zu müssen. Spiel findet aber auch im Rahmen eines gewissen Regelwerks statt. Dieser durch Regeln gesteckte Rahmen gibt den Spielenden Sicherheit, da er die Komplexität von möglichen Erfahrungen reduziert und einen handlungsleitenden roten Faden vorgibt. Dies ist insbesondere in Weiterbildungskontexten, in denen die eigene Haltung reflektiert wird, von besonderer Wichtigkeit. Spiel bedeutet, sich einlassen zu können, sich von der Spieldynamik – dem Flow – davontragen zu lassen, ohne über Konsequenzen nachzudenken. Wenn es darum geht, gesellschaftlich eingeschriebene Bilder, Zuschreibungen unterschiedlicher Personengruppen zu reflektieren, bedarf es gleichzeig eines Rahmens, in dem ich bereit bin, mich mit meinen eigenen Bildern zu konfrontieren und einem Flow hinzugeben, der die rationale Kontrolliertheit aussetzt. Das schnelle Assoziieren, körperliche Reaktionen auf Gesagtes oder Getanes zu zeigen, in verschiedene Rollen schlüpfen zu können, mich in einer Gruppendynamik mitreißen zu lassen, dies sind Mittel, um verborgene Bilder hervorzurufen. Mit diesen Methoden können im Spiel Prozesse in Gang gesetzt werden, die sonst nur an der Oberfläche beschrieben, nicht aber
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gefühlt und erlebt werden. Beim Aufdecken dieser Prozesse, Bilder und Zuschreibungen geht es jedoch nicht darum, den erhobenen Zeigefinger walten zu lassen, sondern zu verdeutlichen, welche Bilder und Bewertungen gesellschaftlich eingeschrieben sind, wie Gruppendynamiken wirken können und welche innerlichen Prozesse durch Spiele hervorgerufen werden können. Auf diesen Erfahrungen basierend kann eine tiefe innerliche Reflexion stattfinden, die auch Einfluss auf die grundsätzliche pädagogische Haltung und das pädagogische Handeln nimmt.
D IVERSITÄTSBEWUSSTSEIN IM KÜNSTLERISCHEN P ROZESS
SPIELERISCH -
Spiel ist Teil der Kulturellen Bildung und wird als eigenes Kulturgut oder sogar als Ausgangpunkt allen kulturellen Handelns gesehen. In der Methodik und seinen Spielarten besitzt das Spiel eine enge Verwandtschaft zu künstlerischem Handeln. Der vielfach zitierte Kulturhistoriker Johan Huizinga ist wohl der bekannteste Verfechter des Potenzials des Spiels als Substanz und konstituierender Charakter kultureller Ausdrucksformen (vgl. Huizinga 2018: 12-20). Ob im Funktionsspiel mit allen Sinnen gespielt, im Explorationsspiel erkundet und ausprobiert, im Symbolspiel Dinge als Zeichen für etwas begriffen werden, im Fantasiespiel erfunden, im Rollenspiel verwandelt, im Rezeptionsspiel innere Bilder und Fantasien aktiviert, im Konstruktionsspiel gebaut und konstruiert wird – dies sind alles sowohl spielerische als auch ästhetische Methoden, die eine Aneignung von Welt erlauben, in der eine individuelle Sichtweise im Zentrum steht (vgl. BKJ 2016). In der individuellen Aneignung erleben Spielende oder künstlerisch Schaffende die Möglichkeit der Umdeutung, der Gestaltbarkeit und der individuellen Bedeutungszuschreibung. Die ungewohnten Perspektiven auf den Alltag, die kein „Richtig“ oder „Falsch“ herausfordern, sind damit bereits Kern einer Haltung, die in einer von Diversität geprägten Gesellschaft wichtige Fähigkeiten sind, Begegnungen von Menschen und entsprechenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zu ermöglichen. Die Kulturelle Bildung schafft Räume, in denen die Angst vor falschem Verhalten relativiert wird, in denen Regelbrüche erlebt, eigene Irritationen ausgehalten und reflektiert werden können.
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Indem das eigene Erfahrungsrepertoire erweitert wird, können sich auch vielfältige Handlungsmuster herausbilden. Dies gilt auch für Spiel als Teil der Kulturellen Bildung. Der Pädagoge Ulrich Heimlich formuliert diese oben genannten Prinzipien in Bezug auf Spiel wie folgt: „Für Spiele gelten spezifische, für die Förderung sozialer Kompetenzen relevante Merkmale, die allgemein ‚offenen Beziehungssystemen‘ zugeordnet werden.“
Dazu zählen vor allem: „Ambivalenz in den Interpretations- und Handlungsmöglichkeiten, intrinsische Motivation der Beteiligten, Chance zur Behauptung als identisches Subjekt.“ (Heimlich 2015: 52)
Heimlich beschreibt hier soziale Fähigkeiten, die als Bestandteil für eine offene, empathische Haltung in Angesicht von Diversität besonders hilfreich sind. Die fachliche Besonderheit Kultureller Bildung – und hier im Spezifischen spielkultureller Bildung – ist es, klar abgesteckte Freiräume zu eröffnen, Gedanken und Erkundungen freien Lauf zu lassen, Perspektivwechsel zu ermöglichen, Handlungen zu vollziehen, die im realen Leben gesellschaftliche Konsequenzen bedeuten würden, in der Als-ob-Situation echte Gefühle zu durchleben und doch im Zurücktreten, im Aus-dem-SpielHeraustreten, das eigene Handeln betrachten und reflektieren zu können. Dieser Prozess des Im-Spiel-Seins und das Wieder-heraustreten-Können gilt sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene als wertvoller Erfahrungsraum.
D IVERSITÄTSBEWUSSTSEIN
IN DER SPIELKULTURPÄDAGOGISCHEN P RAXIS
In der Erwachsenenbildung werden Spiele gespielt, um die unterschiedlichen Spielarten am eigenen Leib zu erleben und aus der unmittelbaren Erfahrung heraus, individuell oder in der Gruppe, die unterschiedlichen Gefühle und Dynamiken zu analysieren. Diese Unmittelbarkeit ermöglicht es, nachzuvollziehen, welche Prozesse durch Spiel in Gang gesetzt werden können
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– nicht alle Spiele oder Spielanlässe sind so harmlos wie sie daherkommen. Eine ganze Reihe didaktischer Spiele baut etwa auf Gruppendynamiken auf, die zu Ausschlussmechanismen führen können und so den Spielenden ihr eigenes bzw. das Gruppenverhalten demonstrieren. Insbesondere im Kontext politischer Bildung werden diese genutzt, um etwa Themen wie Mobbing, Rassismus oder Überwachung zu bearbeiten.4 Hier gilt es, einen verantwortungsvollen Umgang und ein Setting zu finden, indem Erlebtes aufgefangen werden kann. Aber nicht nur Spiele, die explizit darauf abzielen, eine bestimmte Selbsterfahrung zu machen, bedürfen einer genauen Analyse. Nehmen wir etwa ein Spielvorhaben im Konstruktionsspiel. Es werden Holzklötzchen, Lego-Steine oder Ähnliches zur Verfügung gestellt, mit dem Auftrag an die Gruppe von Kindern im Alter von acht bis zehn Jahren, eine Idee von ihrem Traumhaus zu entwickeln. Welche Vorüberlegungen sollten bei diesem Spielanlass angestellt werden? Möglicherweise differieren die Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen der Kinder sehr stark. Wie geht etwa ein Kind mit dieser Aufgabe um, das noch nie in einem Privathaus war? Welche Gefühle kann diese Aufgabe auslösen bei Kindern, die ihr Zuhause verlassen mussten? Sich diese Fragen zu stellen, gehört zur Reflexionsebene von Weiterbildungsangeboten im Bereich Spiel und beschreibt die Möglichkeit, Ansätze diversitätsbewusst in die Planung und das pädagogische Handeln zu integrieren. Sensibel im Vorfeld zu überlegen, welche Zugänge die Kinder zu einem Thema haben oder welche Ausschlüsse möglicherweise damit generiert werden, ist Teil einer Gesamtperspektive, in der die eigene Position in der Gesellschaft als pädagogische Begleitung immer mitgedacht wird. Auch die eigenen Normvorstellungen zu analysieren und zu reflektieren, ist in diesen Kontexten Grundlage einer diversitätsbewussten Haltung. Auch wenn dies nicht unbedingt neue Ansprüche an eine reflektierte pädagogische Haltung sind, ist jedoch davon auszugehen, dass die Analyse von Wertgerüsten, Normativitätsstrukturen und Bildwelten vor dem Hintergrund der sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaftsstrukturen schwieriger, aber gleichzeitig notwendiger wird.
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Zum Beispiel Die Waldritter e. V. bieten Spielaktionen für die politische Jugendbildung an. Zum Einsatz kommen unterschiedliche Spielformate wie Alternate Reality Games, Drama Games oder Live-Rollenspiele.
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D EKONSTRUKTION VON B ILDWELTEN UND N ORMATIVITÄTSSTRUKTUREN IM K ONTEXT S PIEL Wie bereits zu Beginn dargestellt, sind Spielwelten Spiegel der Gesellschaft und vermitteln damit Bedeutungen und Bewertungen von kulturellen Symbolen. Viele Spiele basieren auf Bildwelten und Darstellungen und haben folglich hohe Repräsentationskraft. In der pädagogischen Begleitung von Spiel kann das gemeinsame Forschen nach diesen Repräsentationen, nach Identitätskonstruktionen, Wertvorstellungen und Geschlechterrollen über die Bildwelten von Spielen und deren medialer Verästelungen ein guter Ansatz sein, an den Lebenswirklichkeiten der Kinder und Jugendlichen anzuknüpfen. Ein guter Zugang kann beispielsweise das Arbeiten mit Held*innenFiguren sein. Viele Spielwelten leben von und durch ihre Held*innen und deren heroischen Eigenschaften, die gesellschaftliche Wertvorstellungen transportieren oder diese durch Antiheld*innen konterkarieren. Doch entspricht diese vordergründige Dichotomie von Gut und Böse der Held*innen-Figuren und Bösewichter überhaupt noch den heutigen transmedialen Bildwelten? Mit zunehmender Digitalisierung und Pluralisierung der Bildwelten und der fortwährenden Ausbildung von Nischenkulturen werden die Figuren vielschichtiger, haben multiple Identitäten, lassen sich nicht mehr in das Korsett von Gut und Böse zwängen. Heute wird nicht mehr nur von Held*innen und Antiheld*innen, sondern auch von AntiAntiheld*innen gesprochen. Das Wechselspiel zwischen den gegensätzlichen Polen ist der Reiz, den die Figuren heute mitbringen. Und auch das Konstrukt des männlichen Helden gerät ins Wanken, viele weibliche Heldinnen-Figuren betreten die Spielwelten – als Protagonistinnen und nicht mehr nur als den Helden untermalendes Beiwerk. In der Welt der Avatare sind teilweise geschlechtliche Zuordnungen komplett variabel, Identität und Sexualität nicht festgelegt. Wir haben es mit einer veränderten Welt der Repräsentationen zu tun – Diversität hat einerseits Einzug gehalten in die Bildwelten der Spielmittel, der Games und Medien. Die Parallelität der Veränderung der Held*innenFiguren kann als Spiegel gesellschaftlicher Diskurse identifiziert werden, in denen es um die Herausforderung normativer Gesellschaftskonstruktionen geht und insbesondere Geschlechterrollen stark infrage gestellt werden.
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Es wäre jedoch etwas zu kurz gedacht, bereits die Auflösung traditioneller Rollenbilder zu zelebrieren. Auf der anderen Seite spitzen sich die Mechanismen des Gender Marketing in Spielwelten zu, Rollenklischees sind allgegenwärtig. „Die Zweiteilung ist uns so geläufig, dass wir die allgegenwärtige Zuordnung und Betonung des Geschlechts gar nicht mehr wahrnehmen.“ (Schnerring/Verlan 2014: 12) Es gibt keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit. „Wer sich ein gerechtes Miteinander unabhängig vom Geschlecht wünscht, ist gefordert, sein eigenes Mitwirken an den Regeln unserer Welt aufzuspüren, eine Welt, die auf Zweigeschlechtlichkeit in allen Bereichen Wert legt und in der Heterosexualität als Norm gilt.“ (Ebd.: 13)
Und auch die Hierarchisierung von Personengruppen findet weiterhin, oder sogar verstärkt, parallel statt. Stereotype Darstellungen werden perpetuiert, Abgrenzungen vorgenommen, Identitätsmerkmale als Abweichung markiert und Personengruppen nicht repräsentiert. Es gibt eine Gleichzeitigkeit zweier konkurrierender Weltbilder, die einerseits die Vielschichtigkeit, andererseits Dichotomien von Norm und Abweichung bedienen. Wenn wir diese konkurrierenden Konstrukte in Spielwelten aufdecken wollen, uns dafür einsetzen möchten, in vorgegebenen Bildwelten gesellschaftliche Deutungsraster kritisch zu hinterfragen, dann bedarf es einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit diesen Bildern und unseren inneren Bildern.
P ERSPEKTIVWECHSEL D IVERSITÄT IM S PIEL – DAS K ALEIDOSKOP DER S PIELKULTUR Zusammenfassend liegt das Potenzial, Diversität als selbstverständlichen Teil von Spiel anzuerkennen, folglich in einem Perspektivwechsel. Diesen Perspektivwechsel beschreiben wir oft durch eine Brille, die, ist sie einmal aufgesetzt, zum Teil unserer Wahrnehmung wird. Diversität bedeutet die Anerkennung von Unterschieden und Multidimensionalität von Identitäten. Diversität bedeutet aber vor allem auch, sich seiner eigenen Position in der Gesellschaft und dem daraus resultierenden pädagogischen Handeln bewusst zu sein, sich als bedeutungsgebendes Subjekt wahrzunehmen, das
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Wirklichkeitskonstruktionen erzeugt. Identitätskonstruktionen sind historisch gewachsen, konstruiert und damit veränderbar. Ob ich im Alltag bestehende Verhältnisse stabilisiere oder verändere, hängt sowohl von meiner Fähigkeit ab, kritisch zu hinterfragen, als auch von der Macht, die ich habe, Verhältnisse oder zumindest Bilder zu verändern. Als spielkulturpädagogische Begleitung von jungen Menschen besitze ich Einfluss darauf, welche Lesart von Welt ich meiner Arbeit zugrunde lege und wie sich meine Haltung in die Welten meiner Umgebung im wahrsten Sinne: hineinspielt.
L ITERATUR Barker, Chris (2003): Cultural Studies: Theory and Practice. 2. Aufl. London: SAGE. BKJ (Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung) (2016): Spiel und Kunst von Anfang an: Kulturelle Bildung für junge und sehr junge Kinder. Remscheid: Eigenverlag. Burkhalter, Gabriele (2018): The Playground Project. Zürich: JRP/Ringier. Deeg, Christoph (2013): Digitale Spielkulturen. In: Wissenschaftsplattform Kulturelle Bildung Online. https://www.kubi-online.de/artikel/digitalespielkulturen [Zugriff: 25.09.2019]. Heimlich, Ulrich (2015): Einführung in die Spielpädagogik. 3. Aufl. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt. Heinrich, Bettina (2017): Das Problem mit der Komplexität der Diversität und ihrer Differenzkategorien – eine kursorische Spurensuche mit Fokus auf Gender. In: Wissenschaftsplattform Kulturelle Bildung Online. https://www.kubi-online.de/artikel/problem-komplexitaet-diversitaet-ihrerdifferenzkategorien-kursorische-spurensuche-fokus [Zugriff: 25.10.2019]. Huizinga, Johan (2017): Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 25. Aufl. Hamburg: Rowohlt. Keuchel, Susanne/Rousseau, Nadine (2018). „Diversitätsbewusste Kulturelle Bildung“: Kulturpädagogische Grundlagen für neue Herausforderungen in einer heterogenen Gesellschaft. In: Keuchel, Susanne/ Werker, Bünyamin (Hrsg.): Künstlerisch-pädagogische Weiterbildungen für Kunst- und Kulturschaffende. Wiesbaden: Springer VS. Schnerring, Almut/Verlan, Sascha (2014): Die Rosa-Hellblau-Falle: Für eine Kindheit ohne Rollenklischees. München: Kunstmann.
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Übler-Winter, Andrea (2013): Spiel zwischen leiblichen und digitalen Spielräumen. In: Wissenschaftsplattform Kulturelle Bildung Online. https://www.kubi-online.de/artikel/spiel-zwischen-leiblichen-digitalenspielraeumen [Zugriff: 25.09.2019].
Invitation to Dance Community-Dance-Praxis in der Kulturellen Bildung F ABIAN C HYLE -S ILVESTRI UND H EIKE C HYLE
„I think dance can be the medium, where we can use the diversity and the strength of being different!“
(S EPPE B AEYENS 2019)
E INLEITUNG Partizipation, Inklusion und Diversität sind seit mehreren Jahren zentrale Themenfelder der Gesellschaft, der Kultur und der Kulturellen Bildung. In der Auseinandersetzung mit diesen Themenfeldern werden nicht nur die Konstruktionen aktueller Gesellschaften und Gemeinschaften sichtbar, sondern auch die Prozesse ihrer Bildung, Entwicklung und eventuell ihrer Auflösung. Die Künste können einen besonderen Beitrag zu Prozessen der Vergemeinschaftung leisten, da sie Zeitgeschehen aufgreifen, dokumentieren, künstlerisch übersetzt in das Kollektiv zurückspielen und ihre Perspektiven und Visionen kinästhetisch, visuell, haptisch oder auditiv der Gemeinschaft wieder zur Verfügung stellen. Dem Tanz kommt hier eine besondere Bedeutung zu, da in den kulturellen und ästhetischen Praxen des Tanzes das Soziale und das Gemeinschaftliche eingeschrieben sind. Insofern stellt sich die Frage, welchen Beitrag
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der Tanz – insbesondere im Kontext der Kulturellen Bildung – leisten kann, Vergemeinschaftungsprozesse zu initiieren und zu stärken. Am Beispiel der Community-Dance-Praxis und einer Reflexion der aktuellen Produktion „Invited“ (2018) des belgischen Choreografen Seppe Baeyens beleuchten die Autor*innen Potenziale des zeitgenössischen Tanzes und insbesondere des Community Dance im Kontext von Vergemeinschaftung und Sozialität. Dabei greifen sie auf ein im September 2019 geführtes leitfadengestütztes Interview mit Baeyens und auf eine teilnehmende Beobachtung seiner Produktion „Invited“ zurück.
V ERGEMEINSCHAFTUNG –
EIN
E XKURS
Gemeinschaft und Vergemeinschaftung sind vielschichtige Begrifflichkeiten, die eng verbunden sind mit Themen wie z. B. Zusammengehörigkeit, Netzwerke, Interessensgruppierungen, Familie, Staatengemeinschaften, Teilhabe oder Ausgrenzung. Zumeist – und insbesondere, wenn eine Person sich als Teil einer Gemeinschaft wähnt – ist der Begriff positiv besetzt und wird mitunter zum Ideal erhöht. Das Konzept des Menschen als gemeinschaftliches Wesen geht schon zurück auf Schriften von Seneca (1 bis 65 n. Chr.), in denen der Mensch als soziales Wesen bezeichnet wird, das sich durch eine „natürliche Sozialität“ auszeichnet (Rosa et al. 2010: 21). Hier wird der Gemeinschaftsbegriff nicht per se mit Zugehörigkeit zu oder Partizipation an etwas in Verbindung gebracht, sondern mit einem basalen Gemeinschaftssinn des Menschen. Unterschiedliche Aspekte von Vergemeinschaftung werden auch in der jüngeren Vergangenheit z. B. vonseiten der Neurowissenschaften und angrenzenden Fachgebieten – wie der Embodiment-Forschung1 – diskutiert. Mit der Entdeckung der Spiegelneuronen (vgl. Gallese/Bertram/Buccina 2003: 323ff.) wurden hirnphysiologisch bedingte Synchronisationseffekte belegt, die den Boden für empathisches gemeinschaftliches Miteinander bereiten. Aktuell wird das Gehirn vermehrt als ein auf gemeinschaftliches
1
Embodiment-Forschung ist eine Forschungsrichtung, welche die wechselseitige Beeinflussung von Körper, Affekt und Kognition fokussiert. Sie geht davon aus, dass psychische und kognitive Prozesse immer im Körper eingebettet sind.
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Handeln, sozialen Zusammenhalt und Kooperation ausgerichtetes System gedacht (vgl. Bauer 2005, 2011). Auch wenn Vergemeinschaftungsprozesse als Grundlage menschlicher Koexistenz gesehen werden können, bleibt eine Grundlogik dieser Prozesse unübersehbar: Dort, wo sich Menschen zueinander stellen, entsteht eine Bewegung nach innen und somit ein Innenraum. Gleichzeitig bildet sich durch die gewollte oder ungewollte Grenzziehung ein Außenraum, der mit Ausgrenzung oder Abgrenzung vom anderen einhergeht (vgl. Rosa et al. 2010: 75ff.). Ein Spannungsfeld zwischen Vergemeinschaftung und konstruierten Gemeinschafts- oder Gesellschaftsformen entsteht, in welchem Ausgrenzung, soziale Schichtung, Ächtung, Verfolgung oder auch Genozide die Folge sein können. Moderne Gesellschaft ist längst zur „polyzentrischen Ordnung geworden, die in ihrer komplexen und intransparenten Gesamtheit kaum mehr zu verstehen und politisch fast nicht zu steuern ist“ (ebd.: 32). Angelehnt an aktuelle Lebensentwürfe öffnen Theorien zu posttraditionellen Gemeinschaften den Begriff der Gemeinschaft für flüchtigere und situative Vergemeinschaftungsprozesse (vgl. ebd.: 61). Posttraditionelle Gemeinschaften finden sich aufgrund von „ähnlichen Lebensstilen, geteilten Konsumpraktiken oder ästhetischen Ausdrucksweisen“ (ebd.: 62) zusammen und haben für eine bestimmte Zeit gemeinsamen Zugang zu Interaktionsräumen: Man denke hier an Sub- bzw. Partykulturen oder Internetforen. Jede*r Einzelne ist in dieser Art der Gemeinschaft nicht permanent eingebunden. Gemeinschaft ist nicht per se identitätsstiftend und kann jederzeit verlassen werden. Die Vergemeinschaftung basiert nicht unbedingt auf gemeinsamen Interessen, sondern wird – wie z. B innerhalb eines Flashmobs – durch das gemeinsame Handeln erzeugt. Posttraditionelle Vergemeinschaftungsprozesse sind temporäre Verbindungen, die jederzeit produziert, verweigert und auch beendet werden können (vgl. ebd.: 61ff.). Der Philosoph Jean-Luc Nancy stellt hingegen u. a. das „Mit-sein“ in das Zentrum seiner Überlegungen zu Gemeinschaft: „Wenn das Sein Mitsein ist, dann ist im Mit-sein das ‚Mit‘ das, was das Sein ausmacht, es wird diesem nicht hinzugefügt.“ (Nancy 2014: 59) Nancy positioniert hier Vergemeinschaftung als das zentrale Ausgangselement für das Sein, ohne von einer bestimmten Gemeinschaftsform zu sprechen. Da für Nancy das Miteinander von Mensch und Welt „die
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Ko-Präsenz aller Seienden“ (ebd. 2012: 22) bedeutet, ist das Mit-sein immer als verkörpertes Mit-sein zu denken. In diesem bewegten Feld von möglichen und unmöglichen Vergemeinschaftungsprozessen haben sich Themen wie Inklusion, Partizipation und Diversität in den vergangenen Jahren zu Schlagwörtern und zu politisch umkämpften bzw. instrumentalisierten Begrifflichkeiten der Kultur, der Kulturpolitik und den Sozial-/Gesellschaftswissenschaften entwickelt. Provokant beschreibt der Theaterwissenschaftler Markus Quent in seiner Abhandlung „Kon-Formismen“, wie im Streben nach politischer Korrektheit versucht wird, alles „Differierende zu repräsentieren“ (Quent 2018: 21) und damit allem, was als anders identifiziert wurde, eine Identität zu verleihen: „Weil man alles Differierende repräsentiert sehen will, schafft man einem Jeglichen eine Identität, schließt man ein Jegliches in eine Identität ein. Mit den besten Absichten weist man der Differenz ihren rechtmäßigen Platz in der Ordnung der Identitäten und der Repräsentation zu, die man alles in allem unangetastet lässt und bestätigt.“ (Ebd.: 21ff.)
Quent spricht hier von einem „Patchwork der Minderheiten“ und hinterfragt, ob dahinter vielmehr eine Strategie der Domestizierung der Differenzen steht, mit dem Ziel, konformistische Gesellschaften zu produzieren, als ein im besten Falle diversitätsbewusstes und konstruktives Verhandeln der Unterschiede (vgl. ebd.: 27ff.).
D AS G EMEINSCHAFTLICHE IM T ANZ Da der Begriff Tanz mehrheitlich Bilder von gemeinsamem Tanzen, ob als Paar, in Gruppen oder großen Gesellschaften evoziert, gibt es eine nicht übersehbare Nähe der Begrifflichkeiten Tanz und Vergemeinschaftung. Artefakte und Überlieferungen von gemeinschaftlichen Tänzen oder Tanzritualen sind quer durch alle Kontinente zu finden und lassen sich auf Jahrtausende vor Christus zurückdatieren. Tanzrituale und choreografische Abläufe entstanden im Kontext von religiösen Überzeugungen, im Umgang mit der direkten Umwelt oder aus gemeinsamen Arbeitsabläufen heraus (vgl. Fischer 2019: 16ff.). Im Tanz sucht(e) der Mensch Ekstase und Befreiung, Nähe zu Göttlichem, eine Verbindung zur Gemeinschaft oder einen
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unterstützenden Umgang mit Lebensherausforderungen, wie z. B. Sterben und Tod (vgl. Wosien 1985: 12ff.). Getanzt wurde überall: in der Natur, in sakralen Räumen, auf dem Dorfplatz oder in Festsälen. Und wenn es auch schon immer unterschiedliche Rollen im Tanz gab, die definierten, wer was tanzen durfte oder musste (wie z. B. die Tanzzwerge im alten Ägypten 2700 v. Chr., die als Sklav*innen zu Ehre der Gottheit Bes tanzen mussten, vgl. Fischer 2019: 22), nutzte und stabilisierte der Tanz die Gemeinschaft, in der er praktiziert wurde. Obwohl mit der Neuzeit in allen Kulturen ein Auseinanderdriften des Tanzes stattfand (nämlich der Tanz, den nur wenige tanzten, wie z. B. Ballett, die Peking Oper, das No Theater) und der Tanz, der als kulturelle Praxis von vielen ausgeübt wurde (z. B. Volkstänze), bleibt der Tanz an Prozesse der Vergemeinschaftung gebunden. An der Geburtsstunde des europäischen modernen Tanzes steht gleichfalls ein Ereignis der Vergemeinschaftung: Die Ausdruckstänzer*innen Rudolf von Laban und Mary Wigman entwickelten einen Teil ihrer Arbeit in einer alternativen Siedlungs- und Lebensgemeinschaft nahe Ascona (Schweiz) auf dem Berg Monte Verita, wo gemeinsames Leben und Arbeiten in der Natur und Kunst zusammengehörten. Das Interesse an gewaltigen Bewegungschören und Masseninszenierungen beider Choreograf*innen zeigt einen weiteren choreografischen Aspekt der Vergemeinschaftung (vgl. ebd.: 225). Selbst in der heutigen Popkultur scheint der Tanz Vergemeinschaftung zu ermöglichen: Fernsehformate wie „Let’s Dance“, mit einer Einschaltquote von 16,4 Prozent, finden ein Millionenpublikum: Durchschnittlich 4,21 Millionen Zuschauer*innen sahen 2019 eine Folge von „Let’s Dance“ (vgl. Heimberger 2019). Auch das ungebrochen große Interesse an Partys, Raves oder Festivals könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Gemeinsame im Tanz in der Gegenwart immer noch eine hohe Relevanz hat. In der Clubkultur wird Gemeinschaft nicht durch eine bestimmte Tanzform oder Choreografie hergestellt, sondern basiert auf wellenförmigen Übertragungen im Spiel zwischen den Körpern und der Musik (vgl. Mathias 2018: 191ff.). Im gemeinsamen Tanzen entsteht das Kollektiv über das „konstante Sich-Abgleichen oder Synchronisieren, Sich-Verschieben oder De-Synchronisieren innerhalb des gefühlten pulsierenden Verlaufs“ (ebd.: 191). In allen Epochen und bei der Mehrheit der Tanzformate ist der Tanz als kulturelle und künstlerische Praxis immer an Gemeinschaften und das Soziale gekoppelt – beides ist ihm sozusagen historisch eingeschrieben.
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C HOREOGRAFIE
ALS GEMEINSCHAFTLICHE
O RDNUNG
Im europäischen Raum ist der Tanzbegriff immer noch stark an den klassischen Bühnentanz gebunden, der nur Körpern zugänglich ist, die jahrelang trainiert und etliche Selektionsprozesse durchlebt haben, zumeist weiblich sind und ihre Körper der choreografischen Handschrift eines*r Einzelnen zur Verfügung stellen. Dieses Bild wurde insbesondere vom amerikanischen postmodernen Tanz aufgebrochen. Dort werden zunehmend andere Bewegungsformen integriert und insbesondere alltägliche Bewegungen – die jede*r macht bzw. machen kann – werden Teil des tänzerischen Ausdruckrepertoires (vgl. Klein 2015: 34): „Die Aufnahme von Alltagsbewegungen erzeugt eine kritische Perspektive auf die kulturelle Vorherrschaft des Tanzes als konventionelle Form sowie auf Choreografie als festgelegte Ordnung.“ (Ebd.: 36) Insbesondere Tanzformen wie die im postmodernen Tanz entwickelte Kontaktimprovisation öffneten die Vorstellungen von Tanz und etablierten einen Choreografie-Begriff, der Choreografie als Organisation des Körpers und Bewegung in Zeit und Raum begreift. Mit der Entwicklung dieses aktualisierten Choreografie-Begriffs wurden choreografische Ordnungen nicht nur innerhalb der Tanzkunst verortet, sondern innerhalb aller Lebensbereiche: z. B. im Verkehr, in öffentlichen Gebäuden oder in Sitzungssälen. Choreografie wird zunehmend hier als performatives Prinzip verstanden, das Ordnungen und Regelwerke nicht repräsentiert, sondern erzeugt, verkörpert und erfahrbar macht. Zeitgenössische Choreografie „als eine Weise der Herstellung temporärer Ordnungen“ (ebd. 2011: 74ff.) ist somit eng an das Soziale, das Gemeinschaftliche und Politische gebunden. Gabriele Klein hebt die Bedeutung des Konzepts der sozialen Choreografie insbesondere für die Kulturelle Bildung hervor: Soziale Choreografie wird hier als ein Konzept gesehen, das eine Verbindung von Sozialem und Ästhetischem herstellt, indem es dem Ästhetischen eine fundamentale Rolle bei der Formulierung des Sozialen zuschreibt (vgl. ebd. 2013).
C OMMUNITY D ANCE – G ESCHICHTE UND P RAXIS Wer Tanz und Prozesse der Vergemeinschaftung aktuell zusammendenkt, kommt am Community Dance nur schwerlich vorbei. In einer Google-
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Suche (November 2019) bekommt der Begriff Community Dance 2,27 Milliarden Aufrufe. So verwundert es auch nicht, dass es keine einheitlich scharf konturierte Definition des Begriffs Community Dance gibt. Eine Annäherung an eine Definition ermöglicht ein Blick in die Geschichte: Entstanden ist die Community-Dance-Praxis in den späten 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere in Großbritannien. Vergleichbar mit der Entwicklung der soziokulturellen Zentren in Deutschland entstand zeitgleich in Großbritannien die Community-Arts-Bewegung, mit dem Community Dance als Teil dessen (vgl. Foik 2008: 19ff.). Im Community Dance lassen sich unterschiedliche historische Wurzeln und kulturelle Praxen wiederfinden, wie z. B.: −
−
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gemeinschaftliche Formen des Tanzens bzw. Feierns, die sichtbar werden in traditionellen Volkstänzen oder Ritualen während Karneval oder Mardi Gras experimentelle Theater- und Tanzformen, wie der postmoderne Tanz, Formate der performativen Kunst, wie z. B. das Happening oder das Konzept der sozialen Plastik, die auf Joseph Beuys zurückgeht politische und aktivistische Bewegungen und deren Aktionsformen, wie z. B. das Theater der Unterdrückten nach Augusto Boal oder die Pädagogik der Unterdrückten nach Paulo Freire der zunehmende Einsatz von künstlerischen Methoden innerhalb des Gesundheits- und Sozialwesens, wie die Tanz-/Bewegungstherapie (vgl. Kuppers 2007: 15ff.)
Anders als in anderen europäischen Ländern hat sich der Community Dance in Großbritannien besonders entwickelt, da das British Arts Council bereits 1981 Community Arts fest in seine Förderrichtlinien aufnahm (vgl. Foik 2008: 19). Obwohl eine einheitliche Definition für den Community Dance fehlt, würden sich wohl die meisten Communtity Dance Practitioner unter der Forderung nach „Teilhabe am und durch Tanz!“ zusammenfinden. Frank Peppiatt (Choreograf und Tanzaktivist) versuchte im Jahr 1996, dem Community Dance ein theoretisches Fundament zu geben und verortete ihn in folgende vier Einsatzgebiete:
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1) 2) 3) 4)
Kunst – den Zugang zu Kunst über Partizipation und Beteiligung am künstlerischen Prozess schaffen. Bildung – sowohl den Tanz als auch durch Tanz lernen. Gesellschaft – das Wachstum des Individuums und der Gruppe fördern. Politik – Veränderung des*r Einzelnen, des Kollektivs, der Künste und der Mächtigen bewirken (vgl. Peppiatt 1996: 2ff.).
Ähnlich wie der zeitgenössische Tanz ist der Community Dance ebenfalls ein Format, das sich mit den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen erweitert und diversifiziert. Wichtige Eckpunkte des Community Dance sind allerdings nach wie vor, dass − − − − −
es sich um eine kollaborative Praxis handelt, die die Co-Autorenschaft der Teilnehmenden mitdenkt, der Fokus auf dem Prozess der Teilnehmenden liegt, inklusive künstlerische Methoden eingesetzt werden, positive Erfahrungen im gestalterischen Prozess ermöglicht werden, Diversität im Sinne der Tanzformen und Zugänglichkeit unabhängig von Alter, Hautfarbe, sexueller Identität/Orientierung, Gender oder sozialem Status etabliert wird (vgl. Amans 2008: 9ff.).
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EIN B EISPIEL AUS DER KÜNSTLERISCHEN P RAXIS Wie kann zeitgenössische aktuelle Community-Dance-Praxis aussehen? Was sind Potenziale und Gelingensbedingungen? Mit diesen Fragen begegnet der Autor und Choreograf Chyle-Silvestri im September 2019 dem belgischen Choreografen Seppe Baeyens. Der heute 38-jährige Baeyens kam im Alter von 16 Jahren über ein Schulprojekt zum Tanz. Über weitere Projekte innerhalb der gut entwickelten belgischen Kinder-/Jugendtheater-Tanzszene und Kompanien wie fABULEUZE und Kabinet K, entwickelte er sich autodidaktisch zum Performer und Choreografen. Seit 2011 arbeitet Baeyens unter dem Dach von Ultima Vez – der Tanzkompanie des seit Ende der 1980er Jahre internatio-
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nal agierenden Choreografen Wim Vandekeybus. Baeyens initiierte im Probenzentrum von Ultima Vez des Brüsseler Stadtteils Molenbeek zuerst offene Workshops für tanzinteressierte Bewohner*innen. Daraus entwickelte sich das „Atelier Quartier“ – ein regelmäßiges Tanztreffen für heterogene Zielgruppen, mit dem Ziel, den künstlerischen und sozialen Austausch im Viertel zu fördern. Aus der Arbeit im „Atelier Quartier“ entwickelt Baeyens seine Projekte mit inklusiven Ensembles, mit denen er in intensiven Proben und in gemeinsamer Autorschaft unterschiedliche Inszenierungen erarbeitet. Eine dieser Arbeiten ist „Invited“, die 2018 mit einem Ensemble aus Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, kultureller Verortungen und unterschiedlicher Fähigkeiten entwickelt wurde und derzeit international tourt (vgl. Ultima Vez 2019; Staatsschauspiel Dresden 2019). Nach einem Eindruck einer Aufführung von „Invited“ in der Orangerie in Köln im Oktober 2019 wird im Folgenden Baeyens Arbeit unter Einbeziehung von Material eines leitfadengestützten Experteninterviews, das Chyle-Silvestri im September 2019 während der Berliner Festspiele durchführte, näher beleuchtet. Die Reflexion der künstlerischen Praxis von Baeyens, der sich nicht explizit unter dem Label Community Dance verortet, erfolgt anhand des theoretischen Modells von Peppiatt mit seinen vier Einsatzgebieten des Community Dance.
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EIN
E INDRUCK
Wir kommen in den Theaterraum. In der Mitte liegt ein zur Spirale gelegtes 65 Meter langes Seil, auf dem die Zuschauer*innen Platz nehmen. Das Licht geht aus. Jemand intoniert eine Melodie. Andere stimmen ein – ein erster Moment der Gemeinsamkeit! Dann wird das Seil angehoben. Einzelne stehen ruhig auf, legen sich das Seil auf die Schulter und gehen in einer Prozession durch den Raum. Wir enden in einem Kreis und lassen uns wieder auf dem Seil nieder. Ein Kind bittet einen Anwesenden in den Kreis und lässt ihn dort stehen. Eine andere Person holt ihn wieder ab. Parallele Aktionen des Kommens und Gehens entstehen. Aus Gehen und Führen werden Aktionen des Berührens und BerührtWerdens. Eine Sprache entsteht, die sich in stets neuen körperlichen Interaktionen ausdifferenziert: berühren, sich durch den Raum tragen (lassen), Gruppenformationen bilden, fallen lassen, gefangen werden. Irgendwann wird das Seil wieder durch den Raum getragen und erneut zur Sitzgelegenheit, um der Musik der Musiker*innen zu lauschen. Dann wieder beginnt das muntere Treiben, Rennen, über Leute-Springen, die auf dem Boden liegen, das Impulse-Aufnehmen, das SichTreibenlassen. Bewegung als gemeinschaftliche Sprache! Als Lauf der Dinge! Am Ende ein Tanz der Hände, der sich auf die anwesenden Körper ausweitet. In „Invited“ wird „das Publikum während der Vorstellung unmerklich zu Ko-Autor*innen der Choreografie. Man kann aus- und einsteigen, wie und wann man möchte und fühlt sich im wahrsten Sinne des Wortes Invited – eingeladen! Die professionellen und nicht professionellen Performer*innen spiegeln in ihrer Diversität unsere Gesellschaft
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wider und suchen nach alternativen Formen der Begegnung.“ (Staatsschauspiel Dresden 2019: o. S.)
Kunst In seiner choreografischen Arbeit richtet sich Seppe Baeyes auf einen zentralen Aspekt im Tanz: dem kommunikativen Potenzial. Dazu äußert er sich wie folgt: „Through dance and through movement – you can tell a lot without words […] for me dance is more than only the skills – it is also the connection – the communication – and this is for me more important than the skills.“ (Interview SB 2019)
Mit dem Fokus auf Tanz als Kommunikation läuft der Tanz nicht Gefahr, abgehoben oder elitär zu werden – er wird zugänglich für jede*n. Der Tanz selbst wird Begegnungsraum: „[…] a space where, we meet people and connect with others and ‚dance is the language‘ – because it is also a very universal language.“ (Ebd.)
Ganz in der Tradition des zeitgenössischen Tanzes aus Belgien begegnen sich in „Invited“ nicht einstudierte Rollen oder Kunstschöpfungen – es begegnen sich Individuen mit ihren eigenen Geschichten: „Every participant has it’s own history […] I like the real people and I think – in the society when I meet people – they are not playing, they are just who they are […].“ (Ebd.)
Die Produktion „Invited“ zeichnet sich durch eine klare choreografische und räumliche Formsprache aus. Innerhalb dieser – also direkt innerhalb der künstlerischen Praxis – können sich in „Invited“ alle Anwesenden (Performer*innen und Zuschauer*innen) im Tanz begegnen. Bildung „To make dance and theater more accessible to people I think you have to teach them a bit the codes – like what is an audience? – what is theatrical tension? – what
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is a presentation on stage? – what is focus? – and when you get this things you will look in another way to a performance of others – I think if you never do a workshop then there is a distance – for me it is very important to destroy this distance and give the theater back to the people.“ (Ebd.)
Seppe Baeyens entwickelte und probte „Invited“ in mehreren Residenzen und innerhalb der wöchentlich stattfindenden offenen Tanzangebote. In seiner ästhetischen Praxis vermittelt er dabei zentrale Elemente des Bühnentanzes, wie z. B. die Relevanz von Präsenz, Spannung oder Fokus auf der Bühne: den Tanz lernen und durch Tanz lernen! Nicht nur die Performer*innen lernen, sondern auch das Publikum und die Menschen, die während der Probenprozesse in die Produktion involviert sind. Die, die sich im Theater treffen, sind sozusagen nur ein Teil der Gemeinschaft, die „Invited“ hervorgebracht hat. Baeyens geht es darum, das genuine Wissen und die Erfahrung des Tanzens an viele weiterzugeben: „[…] to bring them at least once in contact with the world of dance.“ (Ebd.)
Der Tanz, insbesondere wenn eingebettet in lange Produktionszyklen von ca. zwei Jahren – wie bei „Invited“ –, ermöglicht den Teilnehmenden ein längerfristiges Erfahren und Lernen der transdisziplinären Produktionsprozesse: „[…] in dance […] there is also scenografie, there is lightning, there is music – people can be attracted to other things – to all element of dance – there is more than the dance – but to bring them in contact with this world is really important – and then they can choose – it is really open.“ (Ebd.)
Das Lernen versteht Baeyens nicht als Einbahnstraße, sondern sieht sich als Teil eines gemeinsamen Lernprozesses: „I am teaching and I am also the choreographer – I like both – I am not only choreographer […] I am also teaching a lot and I think these two things together – every workshop for me is also feeding me in my work.“ (Ebd.)
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Gesellschaft Die Intention von Seppe Baeyens „Invited“ war es, die Welt in das Theater zu bringen. Darum war es klar, dass sein Ensemble ein Abbild dieser Gesellschaft in Bezug auf Alter, Hautfarbe, Fähigkeiten oder kultureller Herkunft sein sollte. So entstand sein heterogenes Ensemble von 13 Performer*innen. Seine Performer*innen findet er nicht über Castings. Er trifft sie bei Workshops oder bei seinen offenen Tanzangeboten in Molenbeek, wo immer ein Teil der Plätze für Menschen aus sozialen Einrichtungen des Stadtteils reserviert sind. In dieser Heterogenität der Teilnehmenden entwickeln sich die künstlerischen und sozialen Praxen: „I think everybody is attracted to the ‚Atelier Quartier‘ because everybody is different there – it is not like if you enter there are only disabled people or only kids – we have all ages and everybody is a bit different and that’s why they feel comfortable in the group – because they have their own status – I think a lot of people come for the movement for the dance but they come also for the social impact, or connections with people in another way – […] everybody is taking responsibilty in this ‚Atelier Quartier‘ – so they are taking care of other people of new people – there is immediately someone to assist – so it’s not only me, but it is also a group that is very open to other people.“ (Ebd.)
Im Tanz erlernen die Teilnehmenden andere und neue Formen des Umgangs mit dem Körper, mit sich und mit der Gemeinschaft. Individuelle, bisherige Wahrnehmungen über den Körper, sich selbst oder andere werden aufgebrochen. Besonders sichtbar wird dies, wenn Menschen teilnehmen, die z. B. von Lehrer*innen oder Betreuer*innen begleitet werden. Die Begleitpersonen bringen nicht selten ihre Skepsis zum Ausdruck und hinterfragen, ob die zu begleitende Person Lust hat, am Tanz teilzunehmen: „And then I say: ‚Ah ja but we are creating other kinds of relations – you think every day it is THIS guy – but for me this guy is a new beginning in a new group and he can discover other things‘ […] and we will start – and he is the best – he gets a new chance in a new context.“ (Ebd.)
Die Arbeit von Baeyens bricht nicht nur mit herkömmlichen Formen der künstlerischen Produktion, sondern auch mit herkömmlichen Formen im
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Umgang mit Inklusion, indem er die Unterschiede im Tanz aufeinandertreffen lässt und dabei neue Formen der Vergemeinschaftung entstehen: „I think there are a lot of closed communities […] and I think if we can open a bit all these communities – we can create a new community – for me a community means mixing different contexts – so you have the context of Zonnelied Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung in Molenbeek – you have the context of people with Parkinson – and if we bring them together we have a new context – and then we have a new community! […] I create a new community each time.“ (Ebd.)
Politik Seppe Baeyens verortet seine künstlerische Arbeit nicht nur unter dem Dach von Ultima Vez, sondern noch mehr im Brüsseler Stadtteil Molenbeek: „I was interested in how can we set up a dialogue between the neighborhood and the cast – and how can we try to do things with people from the neighborhood, but also how can the people from neighborhood can give an impulse to ‚Invited‘.“ (Ebd.)
Seine Angebote gestaltet Baeyens von Beginn an niedrigschwellig und möglichst zugänglich für alle: „[…] every Saturday the studio is open – it is with a free contribution – you can come later you can leave earlier – it is a bit like I work – you can come in and out – and we never made announcement on the website – it is only like mouth to mouth or we do it with an flyer on the big blue door at the studio: ‚Atelier Quartier every Saturday – free contribution‘ – it is very simple – in the beginning it was dance, theater and music to make it a little bit more open – but now it is just dance! Voilà.“ (Ebd.)
Die Arbeit von Baeyens ist Community plus Dance im wörtlichen Sinne, da hier Kunstproduktion und gesellschaftliches Engagement zusammengedacht werden. Wenn künstlerische Arbeitsprozesse in andere Felder der Gesellschaft, wie Bildung oder Fürsorge, implementiert werden, entstehen neue Möglichkeiten, gleichzeitig neue Bedingungen und Anforderungen:
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„If we want to develop it more – we need also community workers, we need people doing the communication, doing aftertalks with teachers – I think this is what I miss now – all the things I do is a bit too much – we are looking for how can more people carry these processes, evaluations and finances! I think when we invest more in community workers for dance we can also reach another level ! […] for example if we tour with disabled people we need an extra person – but the theaters don’t count them – the sector needs to invest more in this.“ (Ebd.)
Baeyens Arbeit ist ohne den klaren Bezug zum Stadtteil und den dort ansässigen Institutionen nicht denkbar. „Invited“ ist eine Einladung an eine heterogene Gesellschaft – eine Einladung zum kreativen Prozess und zur Vergemeinschaftung. Ganz im Sinne der Definition von Peppiatt zielt „Invited“ auf eine Veränderung des Individuums und der Gesellschaft ab. Ohne gewollten politischen Impetus bekommt hier der künstlerische Prozess dennoch eine politische Dimension.
F AZIT Produktionen wie „Invited“, aber auch künstlerische Praxen des Community Dance im Allgemeinen, zeigen, wie Tanz als universale Sprache eingesetzt werden kann. Eine Sprache, die alle mehr oder weniger verstehen – eine Sprache, die mit wenig, vielen oder keinen Worten auskommt. Ohne als Allheilmittel gegen soziale Missstände aller Art instrumentalisiert werden zu wollen, kann der Tanz und insbesondere der Community Dance in vielen gesellschaftlichen Bereichen seine Wirkung entfalten. Community-DanceProjekte in Gefängnissen, mit Geflüchteten, in Krisengebieten oder in Projekten, die als kollektive Akte der Vergemeinschaftung realisiert werden, zeugen davon. Politisches Potenzial entfaltet der Community Dance immer dann, wenn er Teilnehmenden eine Stimme gibt, die sonst nicht gehört werden oder wenn er gesellschaftliche Diskurse und Themen aufgreift, um diese künstlerisch zu verarbeiten. Mit Blick auf Prozesse der Vergemeinschaftung ist der Community Dance heute politisch und gelingt, wenn er sich Abgrenzungsmechanismen widersetzt und wenn er sich nicht in eine ästhetische, pädagogisch-didaktische oder kulturpolitische Schublade schieben lässt. Wenn er sich im Sinne der Vergemeinschaftung immer wieder neu
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erfindet und dabei stets neue Gemeinschaften konstruiert – frei nach dem Motto „Create a new community each time!“.
L ITERATUR Amans, Diane (2008): Community Dance – What’s That? In: Dies. (Hrsg.): An Introduction to Community Dance Practice. London: Palgrave, S. 3-11. Bauer, Joachim (2005): Warum ich fühle, was Du fühlst. München: Heyne. Bauer, Joachim (2011): Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. München: Karl Blessing. Fischer, Dagmar Ellen (2019): Eine kurze Geschichte des Tanzes. Leipzig: Henschel. Foik, Jovana (2008): Tanz zwischen Kultur und Vermittlung. München: kopaed. Gallese, Vittorio/Bertram, Wulf/Buccina, Giovanni (2003): Spiegelneurone, verkörperte Simulation, Intersubjekivität und Sprache. In: Schiepek, Günter (Hrsg.): Neurobiologie der Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer, S. 323-339. Heimberger, Karsten (2019): Wie viele Zuschauer sehen Let’s dance 2019? Die Einschaltquoten pro Sendung. https://www.salsa-und-tango.de/letsdance-2019-einschaltquoten-und-zuschauerzahlen/115565 [Zugriff: 08. 12.2019]. Klein, Gabriele (2011): Der choreografische Baukasten. Bielefeld: transcript. Klein, Gabriele (2013): Choreografien des Alltags. Bewegung und Tanz im Kontext von Kultureller Bildung. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online. https://www.kubi-online.de/artikel/choreografien-desalltags-bewegung-tanz-kontext-kultureller-bildung [Zugriff: 08.12.2019]. Klein, Gabriele (2015): Choreografischer Baukasten. Das Buch. Bielefeld: transcript. Kuppers, Petra (2007): Community Performance. An Introduction. New York: Routledge. Mathias, Sebastian (2018): Gefühlter Groove. Bielefeld: transcript. Nancy, Jean-Luc (2012): singulär plural sein. Zürich: Diaphanes. Nancy, Jean-Luc (2014): Der Sinn der Welt. Zürich: Diaphanes.
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Peppiatt, Anthony (1996): What is a Framework and Why Does it Matter? In: People Dancing.The Foundation of Community Dance (Hrsg.): Thinking Aloud. In Search of a Framework for Community Dance. Leicester: The Foundation of Community Dance, S. 2-3. Quent, Marcus (2018): Kon-Formismen. Leipzig: Merve. Rosa, Hartmut/Gertenbacher, Lars/Laux, Henning/Strecker, David (2010): Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Hamburg: Junius. Staatschauspiel Dresden (2019): Invited von Seppe Baeyens/Ultima Vez, 25.05.2029. https://www.staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/archive/ i/invited [Zugriff: 08.12.2019]. Ultima Vez (2018): Invited. World Premiere February, 23rd 2018. https://www.ultimavez.com/en/productions/invited [Zugriff: 08.12.2019]. Wosien, Maria-Gabriele (1985): Tanz im Angesicht der Götter. München: Kösel.
Verzeichnis der Autor*innen
Chyle, Heike, Diplom-Pädagogin, war u. a. als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Europa-Universität Flensburg mit dem Forschungsschwerpunkt Beratung am Übergang in Arbeit tätig und arbeitet heute als Erwachsenenbildnerin in der beruflichen Bildung. Chyle-Silvestri, Fabian, Dr. rer medic., ist Fachbereichsleiter Tanz an der Akademie der Kulturellen Bildung. Dort etabliert er seit 2019 schwerpunktmäßig Qualifizierungen in Community Dance und Interdisziplinärer Tanzvermittlung. Er studierte Tanz und Choreografie in Amsterdam, Tanz/Bewegungstherapie am Columbia College Chicago und promovierte zu Körper- und Bewegungsbasierten Interventionen mit männlichen Straftätern. El-Qasem, Kawthar, Dr.in phil., leitet den Fachbereich Baukultur an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Sie studierte Architektur an der Fachhochschule Düsseldorf und Baukunst an der Kunstakademie Düsseldorf. Sie promovierte an der BauhausUniversität Weimar zur Praxis palästinensischer mündlicher Überlieferung. Sie lehrt an der Hochschule Düsseldorf und ist Vorstandsmitglied der Occupational Science Europe. Endres, Susanne, ist Dozentin für Spielkulturpädagogik an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und Landes NRW. Sie studierte Sozialpädagogik (Diplom) sowie Sozialraumentwicklung und -organisation (M. A.). Außerdem ist sie Systemische Beraterin, Naturlehrerin und Vorsitzende des Vereins Playing Peas e. V. Sie hat den Kinderbauernhof Kassel
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e. V. gegründet und aufgebaut. Vor ihrer Tätigkeit an der Akademie war sie lange Koordinatorin beim Verein Spielmobil Rote Rübe für Spielmobilund Stadtteilprojekte, Ganztagsschule, Fortbildungen und Spielmobile an Flüchtlingsunterkünften. Fuchs, Max, Prof. Dr., war bis Ende 2013 Direktor der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW und Präsident des Deutschen Kulturrats (2001 – 2013). Er ist Ehrenvorsitzender der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) und des Instituts für Bildung und Kultur (ibk). Er lehrt Allgemeine Pädagogik und Kulturpädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Jahn, Ka, ist Projektleiterin des Förderprojekts „Jugend ins Zentrum!“ des Bundesverbands Soziokultur e. V. im Rahmen des Bundesprojekts „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Sie war bis 2018 operative Geschäftsleitung im KUBO in Bremen und hat diverse Projekte Kultureller Bildung umgesetzt. Keuchel, Susanne, Prof.in Dr.in, ist Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW und Honorarprofessorin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Sie ist Präsidentin des Deutschen Kulturrats und Vorsitzende der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ). Pohlmann, Horst, ist Sozialpädagoge, MedienSpielPädagoge, Dozent für Kulturelle Medienbildung und Leiter des Fachbereichs Medien/Medienpädagogik an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW in Remscheid. Riske, Steffen, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Baukultur und Nachhaltige Entwicklung an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW und forscht und publiziert im Bereich quantitative Methoden und Digitalisierung. Roth, Detlef, Dr., war 1981 Mitgründer des KUBO, dem Kultur- und Bildungsverein Ostertor in Bremen. Seit 1989 hat er die Geschäftsführung und Weiterentwicklung des KUBO zu einem Haus für Bildende Kunst mit den
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Standbeinen Kunstvermittlung und Galerie für Gegenwartskunst übernommen. Mittlerweile ist er ehrenamtliches Leitungsmitglied des KUBOKunsthauses. Rousseau, Nadine, ist Dozentin für Spielkulturpädagogik an der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und Landes NRW. Sie hat Literatur, Kultur- und Medienwissenschaften (B. A.) und Interkulturelle Europa- und Amerikastudien (M. A.) studiert. Seit 2010 führt sie unterschiedliche Projektarbeiten mit den Schwerpunkten Interkultur, Kulturelle Bildung, internationale Begegnung und Kulturentwicklungsplanung durch. Sie arbeitet an der Prozessgestaltung sowie als Koordinatorin und wissenschaftliche Begleitung in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Seit 2015 ist sie an der Akademie der Kulturellen Bildung im Bereich Diversität als wissenschaftliche Mitarbeiterin und in der Konzeption und Durchführung der Fortbildungen zur „Diversitätsbewussten Kulturellen Bildung“ tätig. Seifen, Barbara, Dr.-Ing., ab 1977 Architekturstudium/Promotion an der Universität Hannover, Volontariat im Landesamt für Denkmalpflege Münster, ab 1987 Bauforschung Kloster Bentlage, Rheine. Ab 1989 Gebietsreferentin im Landesamt, 2015 bis 2019 Leiterin des Referats Praktische Denkmalpflege. 2011 bis 2019 für die VDL in der Sektion Rat für Baukultur und Denkmalkultur, im Sprecherrat des Deutschen Kulturrats und Vorsitzende im Fachausschuss Kulturelles Erbe. Smith, Dolores, leitet den Programmbereich AkademieRegio bei der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Sie studierte Kreativitäts- und Innovationsforschung, Erziehungswissenschaften, Anglistik, Romanistik, Journalistisches und Kreatives Schreiben in Münster, England und den USA und hat eine Ausbildung in Dokumentar- und Kurzspielfilmproduktion. Tiedeken, Peter, Prof. Dr. phil., hat Soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg studiert und anschließend promoviert zum Thema „Musik und Inklusion“ an der Technischen Universität Dortmund. Praxiserfahrungen sammelte er als Musikpädagoge in der Hamburger Kultureinrichtung barner16, in dessen Rahmen er für die künstlerische Leitung der inklusiven Musikgruppe Station 17 zuständig war. Seit
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2018 bekleidet Peter Tiedeken die Professur für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Musik in medialen Kontexten an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Wagner, Ernst, Dr. phil., lehrt und forscht an der Akademie der Bildenden Künste München. Er studierte der Ludwigs-Maximilians-Universität München (Promotion Kunstgeschichte) sowie Kunst und Kunstpädagogik an der dortigen Kunstakademie. Als Mitglied im Fachausschuss Kultur der Dt. UNESCO-Kommission sowie Initiator, Koordinator und z. T. Sprecher verschiedener internationaler und nationaler UNSECO-bezogener Netzwerke ist er mit den nationalen und internationalen Diskursen vertraut. 2009 bis 2016 arbeitete er am UNESCO-Lehrstuhl für Kulturelle Bildung in Erlangen. Er ist auch Honorarprofessor an der University of Education in Hongkong. Er hat mehr als 300 Bücher und Artikel in sieben Sprachen veröffentlicht. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kunst und Lehrerbildung im Zeitalter der Globalisierung. Werker, Bünyamin, Dr. phil., studierte Erziehungswissenschaften, ist Studienrat im Hochschuldienst an der Universität zu Köln und wissenschaftlicher Mitarbeiter der wissenschaftlichen Leitung der Heliosschulen – inklusive Universitätsschulen der Stadt Köln. Er war Studienleiter der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW. Seine Lehr- und Forschungsgebiete umfassen die Themen Erinnerungskultur und Holocaust Education, Raum als pädagogische Kategorie, Anthropologische Grundlagen von Erziehung und Bildung, Disziplinierung und Macht in pädagogischen Beziehungen.
Kulturmanagement Andrea Hausmann, Antonia Liegel (Hg.)
Handbuch Förder- und Freundeskreise in der Kultur Rahmenbedingungen, Akteure und Management 2018, 326 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3912-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3912-8
Andrea Hausmann (Hg.)
Handbuch Kulturtourismus im ländlichen Raum Chancen – Akteure – Strategien Februar 2020, 164 S., kart., 3 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4561-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4561-7
Martin Tröndle (Hg.)
Das Konzert II Beiträge zum Forschungsfeld der Concert Studies 2018, 492 S., kart., 60 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4315-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4315-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturmanagement Martin Tröndle, Claudia Steigerwald (Hg.)
Anthologie Kulturpolitik Einführende Beiträge zu Geschichte, Funktionen und Diskursen der Kulturpolitikforschung 2019, 702 S., kart., 16 SW-Abbildungen, 1 Farbabbildung 49,99 € (DE), 978-3-8376-3732-8 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3732-2
Ulrike Blumenreich, Sabine Dengel, Wolfgang Hippe, Norbert Sievers (Hg.)
Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18 Welt. Kultur. Politik. – Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung 2018, 520 S., Hardcover 29,99 € (DE), 978-3-8376-4252-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4252-4
Steffen Höhne, Thomas Schmidt, Martin Tröndle (Hg.)
Zeitschrift für Kulturmanagement: Kunst, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Jg. 5, Heft 2: Theater – Politik – Management 2019, 224 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4466-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4466-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de