Gesellschaft in Angst?: Zur theoretisch-empirischen Kritik einer populären Zeitdiagnose 9783839448472

Zeitdiagnosen einer verängstigten Gesellschaft sind populär. Doch welche Rolle spielt Angst im Alltag der Menschen wirkl

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German Pages 436 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Dank
1. Gesellschaft in Angst?
2. Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty
3. Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen
4. Methodische Umsetzung
5. Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten
6. Emotion, Positionierung, Argument
7. Welche Ängste (k)eine Rolle spielen
8. Konsequenzen der Differenzierungen
9. Soziologie der Angst?
Anhang
Literaturverzeichnis
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Gesellschaft in Angst?: Zur theoretisch-empirischen Kritik einer populären Zeitdiagnose
 9783839448472

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Judith Eckert Gesellschaft in Angst?

Gesellschaft der Unterschiede  | Band 56

Judith Eckert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik der Universität Duisburg-Essen. Die Soziologin promovierte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und war Gastwissenschaftlerin an der University of Georgia, Athens, und an der University of California, Berkeley.

Judith Eckert

Gesellschaft in Angst? Zur theoretisch-empirischen Kritik einer populären Zeitdiagnose

Dissertation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2017 eingereicht, 2018 verteidigt. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg im Breisgau.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4847-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4847-2 https://doi.org/10.14361/9783839448472 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Dank .................................................................................................... 9 1 1.1 1.2 1.3 1.4

Gesellschaft in Angst? Einleitung............................................................. 11 Die Diagnose .................................................................................................. 11 Die »Gretchenfragen«..................................................................................... 13 (Un-)Sicherheit und Angst: Begriffs- und Gegenstandsverständnis ........................... 17 Aufbau der Arbeit.......................................................................................... 23

2

Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty...................................................... 29 Sociology of Risk and Uncertainty als zentrales Diskussionsfeld .............................. 29 Gesellschaftstheorien .................................................................................... 36 2.2.1 Beck: Risikogesellschaft ........................................................................ 37 2.2.2 Douglas: Kulturtheorie des Riskos ...........................................................46 Lebensweltlich orientierte, themenoffene Ansätze ................................................55 2.3.1 Lupton: soziokultureller Ansatz................................................................55 2.3.2 Olofsson und Kolleginnen: Doing Risk-Ansatz..............................................60 Reflexive Ansätze........................................................................................... 67 2.4.1 Henwood und Kolleg*innen: methodenreflexiver, interpretativer Ansatz .......... 67 2.4.2 Wilkinson: humanistisch-reflexiver Ansatz ................................................ 75 Bilanz: Stärken der Ansätze und Fragen der Integration ........................................ 80

2.1 2.2

2.3

2.4

2.5 3 3.1

Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen. Eine qualitative Programmatik ............................................................. 83 Sozialtheorie: eine praxeologische Konzeption der Lebenswelt und von Angst .............................................................................................. 85 3.1.1 Die Logik der Praxis ............................................................................. 86 3.1.2 Angst in der Logik der Praxis .................................................................. 94

3.2 Erkenntnistheorie: eine soziologische Konzeption und ihre forschungspraktischen Folgen ..............................................................96 3.2.1 Bruch statt Präkonstruktionen ................................................................96 3.2.2 Reflexion der eigenen Konstruktionen.......................................................98 3.3 Interviewtheorie: das Interaktive, Performative und Implizite berücksichtigen.......................................................................... 101 3.3.1 Qualitative, praxeologische Interviewforschung ......................................... 101 3.3.2 Das Interaktive, Performative und Implizite im Interview ............................ 103 3.4 Auswertungsmethodologie: das Interaktive, Performative und Implizite rekonstruieren ...........................................................................109 3.4.1 Analyse des Interaktiven und Performativen..............................................109 3.4.2 Analyse des Impliziten: Praxeologische (Emotions-)Analyse..........................109 3.5 Bilanz: ein neuer Blick auf Angst ...................................................................... 113 4 4.1 4.2 4.3 4.4

Methodische Umsetzung...................................................................... 115 Die Interviews .............................................................................................. 116 Sampling, Sample und Repräsentation............................................................... 124 Die Auswertung mit dem integrativen Basisverfahren .......................................... 130 Bilanz: Methodik im Lichte der Programmatik ..................................................... 137

5

Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion..................................................................... 139 Methodendiskussion und -reflexion: Bedarf erkannt .............................................140 Methodische Fokussierung: Material, Analyseheuristiken und Erkenntnismöglichkeiten von »gescheiterten« Interviews ............................... 146 Sicherheit als enger Begriff in einem unpersönlichen Interview .............................. 151 5.3.1 Sicherheit als enger Begriff ................................................................... 151 5.3.2 Modi des unpersönlichen Interviews ........................................................ 171 5.3.3 Zwischendiskussion ............................................................................ 183 Angst als alltagssprachlicher, tendenziell offener Begriff in einem persönlichen Interview ......................................................................186 5.4.1 Alltagssprachliche (Un-)Sicherheitssemantiken..........................................186 5.4.2 Modi des persönlichen Interviews............................................................ 192 5.4.3 Zwischendiskussion .............................................................................198 Methodische Entscheidungen sind politisch – Bilanz, Interpretation und Ausblick ................................................................... 199

5.1 5.2 5.3

5.4

5.5

6

Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet ............................... 207

6.1

Bisherige Forschungen: spezifische Nutzungsweisen und spezifische Themen................................................................................ 208 Methodische Fokussierung: Material, Analyseheuristiken und Angst/Ärger-Differenzierung ..................................................................... 212 Emotion: unterschiedliche Erlebnisqualitäten von Angst ....................................... 216 6.3.1 K(l)eine Ängste: Entproblematisierungen und Normalisierungen .................... 217 6.3.2 Große Ängste: Problematisierungen und ungewollte Normalität .................... 228 6.3.3 Zwischendiskussion ............................................................................ 234 Positionierung: die ›Ängste‹ der Anständigen .................................................... 236 6.4.1 Furchtlose Männer, schützenswerte Frauen, verantwortungsbewusste Eltern............................................................. 237 6.4.2 Rechtschaffene Gesellschaftsmitglieder.................................................. 240 6.4.3 Zwischendiskussion ............................................................................ 244 Argument: Angst und (Un-)Sicherheit als wirkmächtiger Topos ............................. 246 6.5.1 Politisierungen: die ›Bedrohlichen‹ ausschließen, responsibilisieren, strafen .................................................................... 247 6.5.2 Gegenpolitisierungen: Sicherheit als beängstigend und Sicherheitsrisiken ......................................................................... 253 6.5.3 Zwischendiskussion zur Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit ................... 256 Angst ist nicht gleich Angst – Bilanz und Ausblick ............................................... 260

6.2 6.3

6.4

6.5

6.6 7

Welche Ängste (k)eine Rolle spielen. Rekonstruktion des Impliziten und Rekontextualisierung im Lebensverlauf.........265 7.1 Bisherige empirische Studien: Mangel an themenoffenen und rekonstruktiven Studien .......................................................................... 266 7.2 Methodische Fokussierung: Material, Fallauswahl, Analyseheuristiken und -einstellungen .............................................................. 271 7.3 Sicherheit und Angst im Lebensverlauf als neue Perspektive ................................ 274 7.4 Postadoleszenz: Orientierung und Etablierung ................................................... 279 7.4.1 Orientierung: Nutzung von Kriminalitäts- und anderen Moralgeschichten ................................................................... 280 7.4.2 Etablierung: Zukunfts- und Versagensängste ........................................... 286 7.5 Erwachsenenalter: Entwicklung, Stabilität oder Existenzsicherung ........................ 292 7.5.1 Entwicklung: Scheiternsangst sowie Rollenund Handlungsunsicherheiten ............................................................... 293 7.5.2 Stabilität: körperliche Einschränkungen und Wegbrechen von Beziehungen ............................................................................... 301 7.5.3 Existenzsicherung: Abstiegsangst in materieller und symbolischer Hinsicht.....................................................................313

7.6

7.7

Rentenalter: Ruhe und Ordnung....................................................................... 328 7.6.1 Ruhe: körperliche Einschränkungen und ihre Folgen .................................. 330 7.6.2 Ordnung: Devianz als Infragestellung eigener Werte und eigenen Werts ......... 336 Themenbezogene Bündelung, Diskussion und Ausblick ........................................ 346

8 8.1 8.2 8.3

Konsequenzen der Differenzierungen .................................................... 355 Paradox der Doxa statt Sicherheitsparadox?...................................................... 355 Kriminalitätsfurcht: weder Kriminalität noch Furcht?............................................361 Rassismus (und Klassismus): welche Angst, wessen Angst? .................................. 366

9

Soziologie der Angst? Rückblick und Ausblick........................................... 373

Anhang ............................................................................................... 381 Transkriptionsregeln .............................................................................................381 Kurzvorstellung der Interviewpartner*innen.............................................................. 382 Literaturverzeichnis ............................................................................... 389

Dank

Diese Arbeit habe ich im Sommersemester 2017 als Dissertation an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg eingereicht und formulierte im Untertitel mein Anliegen mit »Ein empirischer Beitrag zur Verkomplizierung der Debatte«. Ausgangspunkt war die verbreitete Diagnose, dass wir in einer Gesellschaft in Angst leben – eine Diagnose, die ich anfangs faszinierend und nach meiner empirischen Analyse simplifizierend fand, da sie der Komplexität des Phänomens nicht gerecht wird. In diesem Sinne wollte ich die Debatte verkomplizieren. Doch da der Begriff »Verkomplizierung« für manche nicht nach angemessener Differenzierung, sondern nach unnötigen Gedankenspielen klingt, heißt die Arbeit nun anders. Für die Veröffentlichung habe ich sie auch leicht überarbeitet und soweit möglich mit neu erschienener Literatur ergänzt. Mein Dank gilt allen, die mich mit diesem Feedback, anderen Rückmeldungen und Ermunterungen unterstützt haben. Einige Personen und Kontexte will ich namentlich nennen. Zuallererst danke ich meinen früheren Vorgesetzten und späteren Doktorvätern Baldo Blinkert und Hans Hoch. Ohne sie wäre diese Arbeit niemals zustande gekommen, denn sie beruht auf Methodenmix-Interviews, die aus dem von ihnen geleiteten und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten« (2010-2013) stammen. Die Mitarbeit im Projekt hat mir erlaubt, mich zunächst noch ohne Promotionsgedanken mit dem Thema zu beschäftigen und einige Auswertungsideen zu verfolgen. Für das entgegengebrachte Vertrauen danke ich Baldo Blinkert und Hans Hoch, für die inspirierenden Diskussionen darüber hinaus dem ganzen Projektteam bestehend aus Jürgen Spiegel, Marina Otosa, Diana Cichecki und Daniel Langenegger und für das reichhaltige Interviewmaterial auch den Interviewpartner*innen und Interviewer*innen. Durch die Mitarbeit im Projekt war mein Interesse geweckt, mich mit diesen für mich methodisch ungewöhnlichen und herausfordernden Daten weiter zu beschäftigen. Ein Promotionsstipendium der Heinrich-Böll-Stiftung (2013-2016) hat mir dabei nicht nur finanzielle Sorglosigkeit und gedankliche Freiheit, sondern auch Austausch und Freundschaften mit anderen Stipendiat*innen ermöglicht.

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Gesellschaft in Angst?

Danken möchte ich in diesem Kontext auch der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg im Breisgau, die die Veröffentlichung meiner Arbeit mit einem Druckkostenzuschuss unterstützt hat. Baldo Blinkert und Hans Hoch haben mich als Doktorväter in einer Weise begleitet, die mir sehr entgegenkam: Ich hatte freie Hand beim Zuschnitt der Arbeit und konnte mir gleichzeitig ihrer Unterstützung immer gewiss sein ‒ sie waren an der Diskussion meiner Arbeit interessiert, gaben mir hierfür zentrale Impulse und wussten Schwächen konstruktiv zu kommentieren. Das alles hat mich sehr motiviert und vorangebracht. Umso trauriger stimmt mich, dass Baldo Blinkert Ende 2017 überraschend verstarb und wir nicht gemeinsam zu Ende diskutieren konnten, was in einem gemeinsamen Projekt begann. Dass ich mein Promotionsverfahren dennoch ohne größere Komplikationen zu Ende bringen konnte, habe ich Stefan Kaufmann zu verdanken, der ohne zu Zögern die Rolle des Erstgutachters übernahm. Ebenso herzlich will ich Cornelia Brink danken, die gleichermaßen umstandslos als Drittgutachterin fungierte. Für mikrosprachliche Präzision und große Interpretationsideen, für praktische ebenso wie für moralische Unterstützung danke ich ganz herzlich meinen Mitstreiter*innen in den Promotions-Analysegruppen (in alphabetischer Reihenfolge): Caroline Janz, Christian Müller, Debora Niermann, Diana Cichecki, Florian Mayer, Sandra Lang, Steffen Ehrhardt und Stephanie Haug. Für Austausch und Anregungen danke ich ferner allen, die mit mir auf Konferenzen, Workshops und in Kolloquien über meine Arbeit gesprochen haben. Hervorheben will ich folgende Kontexte: Stefan Kaufmanns Kolloquium zur Sicherheitsforschung, das iqs (Institut für qualitative Sozialforschung, Freiburg) und den Workshop »Selbstreflexive Wissenschaft« im Februar 2016 in Tübingen. Sind dies die Höhepunkte der fachlichen Auseinandersetzung, so ist der Arbeitsalltag ebenso wichtig. Für Diskussionen, Interesse an meiner Arbeit, Zuspruch und Unterstützung in verschiedener Form danke ich v.a. Nicolai Growe, Diana Cichecki, Eva-Maria Bub, Marlen Löffler und Stephanie Haug. Auch Eva Kahmann, Ilka Sommer, Friedrich Gabel, Julia Wiesinger, Paula Bleckmann, Rolf Eckert und Gisela Kist-Eckert, Dietrich Growe und Margareta Schneider-Growe sowie Božidar Löffler und Manda Löffler haben mich auf ihre je eigene Art und Weise unterstützt. Nicht zuletzt gilt mein Dank und Gedenken Jan Kruse. Er hat mich für qualitative Forschung begeistert, mir erste Forschungserfahrungen ermöglicht und frühe Dissertationsideen kommentiert. Gerne würde ich mich weiter mit ihm austauschen können.

1

Gesellschaft in Angst? Einleitung Interviewerin: Haben Sie erst nochmal irgendwie Fragen jetzt? Allgemein zu der Studie oder so, bevor wir anfangen noch irgendwas, was Sie klären möchten? Wilhelm Krause: Ich bin verwundert über diese Fragestellung, dass wir zweitausendelf hier sowas machen, […] und wissen aber (2) außer außer ihrer Institution, aber jeder weiß, wie es mit der Sicherheit bestellt is.

In diesem Buch stelle ich Fragen, auf die der Common Sense schon längst eine Antwort hat: »Wie es mit der Sicherheit bestellt is«, steht dem Interviewpartner mit dem Pseudonym Wilhelm Krause zufolge außer Frage. Mit dieser Einschätzung ist er nicht alleine. Auch in Medien, Politik und westlichen Zeitdiagnosen ist die Annahme unsicherer Zeiten und einer Gesellschaft in Angst1 seit einigen Jahrzehnten populär. Jüngst avancierte Angst gar zum »gegenwartsdiagnostischen Kernbegriff« (Dehne 2017: 13). Bei so viel Gewissheit ist Zweifel angebracht, wie meine theoretisch-empirische Kritik dieser Diagnose zeigt.

1.1

Die Diagnose

Die Diagnose selbst ist zugleich mehrstimmig und in ihrem Kern einstimmig. Bereits 1986 sprach Ulrich Beck von einer »Risikogesellschaft«, später von der »Weltrisikogesellschaft« (2007a). Seiner Analyse zufolge sind es paradoxerweise gerade moderne Errungenschaften wie Wissen und Technik, die zu mehr Wohlstand und Sicherheit beitragen sollten, zugleich aber neue Risiken unvorstellbaren Ausmaßes 1 Johano Strasser hat 2013 eine Diagnose mit dem gleichen Titel veröffentlicht: »Gesellschaft in Angst. Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit«.

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Gesellschaft in Angst?

erzeugen. Dass es im Jahr des Ersterscheinens der »Risikogesellschaft« zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl kam, deren Folgen auch in Deutschland spürbar waren, konnte nur als Beleg für die Richtigkeit von Becks Analyse gelesen werden. Für Beck markieren diese neue Risiken den Übergang von der Industrie- zur Risikogesellschaft, was Folgen für die Erfahrungswelt der Individuen hat: »Ich habe Angst!« (1986: 66) wird zur typischen Aussage der Zeit, Angst zum allgemein geteilten »Lebensgefühl« (2007a: 28) und somit zum zentralen sozialen Problem der risikogesellschaftlichen Moderne. Die jüngste prominente Diagnose einer Gesellschaft in Angst stammt von Heinz Bude, der in seiner »Gesellschaft der Angst« (2014) analysiert, wie sich im Vergleich zur Nachkriegszeit Ängste vervielfacht haben, insbesondere aufgrund der Transformation des Wohlfahrsstaates. Das meritokratische Credo der Wirtschaftswunderzeit, dass sich Leistung lohnt, sozialen Aufstieg ermöglicht und sozialen Status verlässlich macht, wurde desillusioniert. An die Stelle vom »Aufstiegsversprechen« ist laut Bude die »Exklusionsdrohung« (2019: 217) getreten, was zusammen mit der Orientierungslosigkeit und Zurückgeworfenheit der Individuen auf sich selbst in die Gesellschaft der Angst führt. Besonders prominent unter den zahlreichen von ihm angesprochenen Ängsten sind Status- und Abstiegsängste, die sich unterschiedlich äußern, etwa in Bildungspanik oder der Angst, falsche Entscheidungen zu treffen, z.B. in Bezug auf Bildung, Beruf und Partnerschaft. Obwohl sich die Angstdiagnosen dieser und anderer Autor*innen (wie Bauman 2000, 2005, 2006 und Strasser 2013) durchaus unterscheiden, etwa bezüglich des Grads der theoretischen Ausarbeitung oder der konkreten Schwerpunktsetzung, zeichnen sie im Kern das gleiche Bild der zeitgenössischen Gesellschaft: Sie machen einen grundlegenden sozialen Wandel innerhalb der vergangenen Jahrzehnte aus, in dessen Zuge der hoffnungsvolle Zukunftsoptimismus der Nachkriegszeit ab den 1970er Jahren zunehmend durch eine angstfokussierte Negativerwartung verdrängt wurde. Angst wurde so zum zentralen Charakteristikum westlicher Gesellschaften und in verschiedener Hinsicht allgegenwärtig. Erstens wird angenommen, dass Angst zum allgemeinen »Lebensgefühl« (Beck 2007a: 28) wurde, das alle betrifft. Angst kenne kaum soziale Schranken und habe nun auch die bislang als sicher geltende Mittelschicht erreicht (Beck 1986: 48, Bude 2014: 11). Zweitens beziehe sich Angst auf verschiedenste Thematiken: von Abstiegsängsten hin zur Terrorangst. Die Ängste erscheinen damit zahllos. Angesichts dieser Omnipräsenz von Angst verwundert es nicht, dass diese, drittens, als Explanans für unzählige Sachverhalte herangezogen wird (vgl. bereits Hunt 1999). So wird bspw. die Abwertung vermeintlich ›Anderer‹ durch Verunsicherung erklärt, wenn diese ›Anderen‹ als »Blitzableiter« (Beck 1989: 9) für Ängste bzw. als Projektionsfläche für eine diffuse und ansonsten nur schwer greifbare Verunsicherung dienen. In dieser argumentativen Logik stehen auch einige Erklärungen des ge-

1 Gesellschaft in Angst? Einleitung

genwärtigen Rechtspopulismus und Rassismus (vgl. z.B. Heitmeyer 2012, Nachtwey 2016, Sommer 2010). Diese oftmals rein theoretischen Diagnosen einer Gesellschaft in Angst spiegeln so sehr den Zeitgeist, dass sie eine hohe Plausibilität für sich beanspruchen können. Darüber hinaus scheinen sie auf den ersten Blick empirisch gut gestützt, wie die jährlich durchgeführte repräsentative Studie »Die Ängste der Deutschen« der R+V-Versicherung suggeriert: Wurden 2016 »Spitzenwerte […] durch sprunghaften Anstieg bei fast allen Sorgen« verzeichnet (R+V-Infocenter 2016), sind 2017 und 2018 viele Ängste weiterhin »überdurchschnittlich hoch« (R+V-Infocenter 2017 und 2018), etwa die Angst vor den Folgen von Donald Trumps Politik, vor Spannungen durch den Zuzug von Ausländer*innen und vor Terrorismus. Vor dem Hintergrund unsicherer Zeiten und einer Gesellschaft in Angst ist es nur konsequent, dass Sicherheit in den letzten Jahrzehnten zur gesellschaftlichen »Wertidee« (Kaufmann 1970) und zum »Goldstandard des Politischen« (Daase 2011a: 139) wurde. Dabei scheint die politische Sensibilität nicht nur für ›objektive‹ Bedrohungen gestiegen zu sein, sondern auch für Unsicherheitsgefühle. So ist in der letzten Zeit von Politiker*innen und Repräsentant*innen von Institutionen wieder vermehrt zu hören, dass die Sorgen und Ängste der Bürger*innen ernst zu nehmen seien (vgl. Foroutan 2016, Keller/Berger 2017, Kulaçatan 2016). Sollten wir Forschende unsere begrenzten finanziellen Ressourcen daher nicht besser in die praktische Lösung von Sicherheitsproblemen investieren und damit der Angst beikommen, wie Wilhelm Krause im weiteren Interviewverlauf fordert, statt das bereits Bekannte zu beforschen?

1.2

Die »Gretchenfragen«

Wie Osrecki (2018) feststellt, sind Zeitdiagnosen wie die der Gesellschaft in Angst als Genre notwendigerweise überpointiert, denn sie haben eine wichtige Funktion: Indem sie einzelne Beobachtungen zu einer zentralen Aussage zur Lage der Gegenwartsgesellschaft verdichten, bieten sie einen »roten Faden […] der Weltbesichtigung« (Prisching 2015: 579), der verschiedene Phänomene, Bereiche und Felder interpretativ verbindet. Dieser rote Faden ist weit über Fachdebatten hinaus relevant, da er soziologische Erkenntnisse gerade durch die Zuspitzungen und einen oft essayistischen Stil so kommuniziert, dass sie anschlussfähig für die interessierte Öffentlichkeit sind (Osrecki 2018). Doch diese Stärke ist notwendigerweise auch die Schwäche von Zeitdiagnosen, zeichnen sie doch ein spekulatives Bild der Gesellschaft mit großer »Vereinseitigung« (Schimank 2007: 19), das seine Überzeugungskraft mehr aus »theoretischen Plausibilisierungen und Extrapolationen« (ebd.: 17) als aus methodisch-empirischer Fundierung bezieht.

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Gesellschaft in Angst?

Auch die Diagnose der Gesellschaft in Angst steht, obwohl sie so zutreffend erscheinen mag, auf empirisch unsicherem Boden. Beck selbst bezeichnete seine Analysen in der »Risikogesellschaft« als »ein Stück empirisch orientierter, projektiver Gesellschaftstheorie ‒ ohne alle methodischen Sicherungen« (1986: 13, Herv. i. Orig.) und initiierte in der Folge empirische Untersuchungen zu seinen Thesen. Die Kritik der unzureichenden empirischen Fundierung trifft auch andere Varianten dieser Zeitdiagnose. So kommentierte Gertrud Nunner-Winkler (2016), dass Budes Analyse »stärker auf dichte Eindrücke – aus Film, Musik, Literatur – als auf statistische Daten gestützt« ist. Sie stellt daher die »Gretchenfrage: ›Wie hast du’s mit der Empirie?‹«. Diese Frage trifft ins Schwarze: Zu oft werden makrosoziologische Analysen oder Diskursphänomene als Blaupause für Annahmen über die lebensweltliche Relevanz von Angst genommen (kritisch dazu Lupton 2013b, Schwell 2015). Und zu oft wird ungeachtet aller Kontingenz Verunsicherung als einzige Reaktion auf sozialen Wandel, etwa durch Modernisierung, angenommen, ohne andere Emotionen in Betracht zu ziehen (kritisch dazu Dehne 2017: 103f., Jackson/Watson/Piper 2012). Die These, dass sich Angst zur zentralen Befindlichkeit entwickelt hat, beruht demnach auf vielen fragwürdigen Annahmen, die aber implizit bleiben. Im Ergebnis stellt Angst eine bloße spekulative Ableitung aus makroanalytischen Überlegungen dar; sie wird in ihrer Existenz und Beschaffenheit vorausgesetzt, aber nicht näher definiert und untersucht. Die Diagnose einer Gesellschaft in Angst hat weder einen Begriff von Angst noch fundierte Empirie dazu. Vielmehr scheint es, dass Angst lediglich als »catchword« (Ahrens 2018: 52) fungiert und von den »affektiven Assoziationen« (ebd.) lebt, die der ungeklärte Angstbegriff bietet. Dass das keine Grundlage für weitreichende zeitdiagnostische Behauptungen ist, liegt auf der Hand.

Die empirischen »Gretchenfragen« Empirische und theoretisch-konzeptuelle Anliegen stehen hingegen im Fokus meiner Arbeit. Zentral widme ich mich zwei empirischen »Gretchenfragen«: Angesichts der behaupteten Omnipräsenz von Angst, die alle betreffe und das gegenwärtige Lebensgefühl sei, ist meine erste Leitfrage, welche Rolle das Thema Angst lebensweltlich spielt (Kap. 6). Mit Blick auf die verschiedenen Ängste, die als relevant bezeichnet werden, ist meine zweite Leitfrage, welche Ängste lebensweltlich eine Rolle spielen, was also relevante Angstthemen sind. Das impliziert auch die Frage, welche Ängste keine Rolle spielen (Kap. 7). Damit hinterfrage ich die als selbstverständlich geltende Annahme einer Gesellschaft in Angst und stelle sie empirisch zur Diskussion. Während Nunner-Winkler hierfür die Statistik in die Pflicht ruft und in den letzten Jahren tatsächlich schon einige quantitative Beiträge erschienen sind (z.B. Dehne 2017: Kap. 8, Hummelsheim 2015a und 2015b, Beiträge in Lübke/Delhey

1 Gesellschaft in Angst? Einleitung

2019), beantworte ich diese »Gretchenfragen« mit einer qualitativ-rekonstruktiven Herangehensweise. Eine ihrer Stärken liegt in einem offenen, differenzierenden Blick auf das Phänomen. Empirische Basis meiner Analysen sind 39 Interviews aus dem Projekt »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten« (2010-2013), die ich sekundäranalytisch genutzt habe.2 Die methodische Besonderheit der Studie liegt in ihrer Themenoffenheit: Während das Gros der bisher vorliegenden Studien entweder auf spezifische Ängste wie Kriminalitätsfurcht fokussiert oder den Interviewpartner*innen eine Reihe von Angstthemen vorlegt, die die Forschenden als wichtig erachten, konnten hier die Interviewpartner*innen selbst und ohne Vorgaben die für sie wichtigen Angstthemen einbringen. Wie die Datengewinnung gestaltet sich meine Datenauswertung möglichst offen gegenüber fremden, überraschenden und impliziten Sinnstrukturen, die es zu rekonstruieren und explizieren gilt. Eine solche rekonstruktive Herangehensweise ist entscheidend. Denn wie Wendy Hollway in Bezug auf Interviewforschung generell formuliert, ist das Interview keine transparente Ressource, das der Logik »you ask, they answer and then you know« folgt (2005: 312). Die Antworten der Interviewpartner*innen als Auskünfte zu betrachten, die einen Einblick in ihre Befindlichkeiten und in ihr Alltagsleben gewähren und die es analytisch bloß zu verdichten gilt, würde dem Gegenstand nicht gerecht und würde ihn, schlimmer noch, verfehlen. Im Falle von Angst und Sicherheit, die gesellschaftlich und politisch viel diskutiert und hoch umstritten sind, ist das besonders relevant. Umso wichtiger war mir daher, ein methodisches Instrumentarium zu entwickeln, das sensibel ist für das Interaktive, Performative und Implizite im Interview. Da »eine Äußerung nie nur dem ›gehört‹, der sie produziert« (Ayaß 2008: 348), muss die interaktive Konstitution der Interviewdaten analysiert werden, was zugleich einen reflexiven Blick auf die eigene Forschung ermöglicht (Kap. 5). Da Sprechen kein Bericht über Emotionen und Handlungen ist, sondern selbst eine Handlung darstellt, müssen auch die performativen Dimensionen des Sprechens untersucht werden (Kap. 6.4 und 6.5). Und da im Sprechen vieles implizit bleibt, braucht es sowohl eine Rekonstruktion der Emotion Angst (Kap. 6.3) als auch der Angstthemen (Kap. 7). Bisherige Forschungen haben nämlich zum einen gezeigt, dass sich explizit benannte Emotionen und empfundene Emotionen unterscheiden können, u.a. da Emotionskommunikation in rhetorischer, strategischer Weise gebraucht werden kann (vgl. bspw. Bröckling 2016, Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 38-40). So kann eine kommunizierte Angst ohne die Emotion Angst auskommen und eine gefühlte Angst muss nicht als solche explizit benannt werden. Zum anderen hat 2 Das Projekt war Teil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundprojektes »Barometer Sicherheit in Deutschland« (BaSiD).

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Gesellschaft in Angst?

die Kriminalitätsfurchtforschung verdeutlicht, dass von den Interviewpartner*innen angesprochene bzw. in quantifizierenden Studien ermittelte Angstthemen mit analytischer Vorsicht zu betrachten sind. Wie die sogenannte Generalisierungsthese der Kriminalitätsfurcht zeigt, eignet sich gerade das Thema Kriminalität gut als Stellvertreter für andere und die eigentlichen Ängste, etwa hinsichtlich sozialer Sicherheit, die allerdings als schwerer greifbar und thematisierbar gelten und daher auf ein konkretes, greifbares Thema projiziert werden (z.B. Hirtenlehner 2009, s. ausführlicher Kap. 8.2). Folglich gilt es, implizite Bedeutungen von Thematisierungen und implizite Ängste zu explizieren. Diese drei methodischen Herausforderungen dürfen nicht ignoriert werden, will man nicht die Komplexität sowohl von Interviewforschung als auch des Phänomens Angst vernachlässigen. Sie lassen sich aber mittels einer qualitativ-rekonstruktiven Herangehensweise adäquat adressieren.

Die theoretisch-methodologische »Gretchenfrage« Um meine empirischen »Gretchenfragen« methodisch gesichert beantworten zu können, bedarf es einer Theorie des Gegenstandes und einer dazu passenden Methodologie im Sinne eines »Theorie-Methoden-Pakets« (Clarke 2005: 2). Die theoretisch-methodologische und methodische »Gretchenfrage« und dritte Leitfrage meiner Arbeit lautet daher, wie Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen angemessen gefasst und wie dazu mittels Interviews geforscht werden kann. Mit anderen Worten geht es mir um eine theoretisch fundierte empirische Soziologie der Angst. Der Hintergrund dieser Frage ist, dass sich eine solche Soziologie der Angst bislang kaum entwickelt hat (vgl. auch Ahrens 2018) und sich auf wenige Beiträge beschränkt (Dehne 2017, Schmitz/Flemmen/Rosenlund 2018 und Schmitz/Gengnagel 2018, Wilkinson 2001a). Diese haben ihren Schwerpunkt zudem in der theoretischen und konzeptionellen Fassung des Gegenstandes und behandeln methodisch-empirische Fragen nachrangig. Entsprechend haben bezüglich Angst bisher nur wenige Methodendiskussionen und -entwicklungen stattgefunden, auch in der Emotionssoziologie nicht. Statt Methoden der Interviewforschung anzuwenden, musste ich sie daher erst entwickeln bzw. bekannte Methoden weiterentwickeln. Meine theoretisch-methodologische »Gretchenfrage« betrifft daher drei Aspekte: Erstens geht es um die grundlegende theoretisch-konzeptuelle Fassung des Gegenstandes und der Entwicklung einer dazu kohärenten Methodologie (Kap. 1.3, 2 und 3). Zweitens geht es in methodischer Hinsicht um die Art und Weise der Datengewinnung: Mit welchem Interviewdesign können wir den Interviewpartner*innen verdeutlichen, dass das Interview themenoffen ist? Konkret geht es hier bspw. um die Wahl der Unsicherheitssemantiken in der Frageformulierung, d.h. ob wir nach Risiken, Unsicherheiten, Ängsten, Sorgen etc. fragen (Kap. 5). Drit-

1 Gesellschaft in Angst? Einleitung

tens geht es ‒ ebenfalls in methodischer Hinsicht ‒ um die Datenauswertung, z.B. um die Frage, wie Angst als Emotion rekonstruiert und von anderen Emotionen unterschieden werden kann (Kap. 6). Meine Theorie- und Methodenentwicklung war dabei von Anfang an empirisch geleitet und vollzog sich der Forschungslogik der Grounded-Theory-Methodologie folgend als Wechselspiel zwischen der Analyse des eigenen empirischen Materials und der Auseinandersetzung mit Forschungsliteratur (Strauss 1987, Strauss/Corbin 1990). Auf die Sociology of Risk and Uncertainty (Kap. 2) wurde ich bspw. erst 2014 bzw. 2015 aufmerksam; hier fand ich Anknüpfungspunkte für manche empirischen Beobachtungen, die ich dadurch schärfen ausdifferenzieren konnte. Bourdieu und Mannheim waren mir als Autoren zwar bekannt; sie spielen in meiner Arbeit aber erst seit 2016 eine metatheoretische und methodologische Schlüsselrolle (Kap. 3). Diese theoretisch-methodologischen Überlegungen und die Entwicklung eines »Theorie-Methodologie-Pakets« stellen einerseits einen eigenständigen Beitrag zu einer Soziologie der Angst und andererseits die notwendige Vorarbeit für die Beantwortung der empirischen »Gretchenfragen« dar. Daraus resultiert eine theoretisch-empirische Kritik an der populären Zeitdiagnose einer Gesellschaft in Angst, die eine konstruktive Kritik ist: Gerade durch ihre Überpointiertheit regen Zeitdiagnosen empirische Forschungen an und provozieren sie manchmal geradezu. Diese wiederum können zu differenzierteren Auseinandersetzungen mit dem Phänomen beitragen, sei es durch eine präzisierte theoretisch-konzeptuelle Gegenstandsbestimmung, wie ich sie im Rahmen dieser Arbeit verfolge, oder durch eine Weiter- oder Neuentwicklung von Zeitdiagnosen mit methodischer Sicherung und empirischer Fundierung, worauf ich abschließend kurz eingehe (Kap. 9, vgl. Eckert i.E. und Wohlrab-Sahr 2015).

1.3

(Un-)Sicherheit und Angst: Begriffs- und Gegenstandsverständnis

Ein erster Schritt der Konzeptualisierung des Gegenstands ist es, die zentralen Begrifflichkeiten zu definieren. Eine solche Klärung ist vonnöten: Während »(Un-)Sicherheit« ein so un(ter)bestimmter wie vieldeutiger Begriff ist (vgl. Stampnitzky 2013, van Dyk/Lessenich 2008), kann »Angst« individualisierend und psychologisierend anmuten (vgl. Dehne 2017: 11ff.). Daher expliziere ich im Folgenden mein genuin soziologisches Verständnis. Ich beginne mit dem (Un-)Sicherheitsbegriff, der in der bisherigen soziologischen Debatte neben dem Risikobegriff zentral ist.

(Un-)Sicherheit Erstens kann (Un-)Sicherheit hinsichtlich einer Zeitdimension charakterisiert werden, was Bonß (2011: 47) prägnant zusammenfasst: »Grundsätzlich bezeichnet Unsicherheit das Nicht-Wissen über zukünftige Ereignisse bei gleichzeitigem

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Wissen um die Möglichkeit zukünftiger Negativ-Ereignisse.« Unsicherheit meint demnach gegenwärtige Ungewissheit bezüglich der Zukunft im Sinne einer Nicht-Erwartbarkeit. Doch ist der Blick auch in die Vergangenheit zu richten: Was man in Bezug auf die Zukunft erwartet bzw. befürchtet, ist auch abhängig von gegenwärtigen Selbstverständlichkeiten, (Sicherheits-)Gewohnheiten und Standards, die ihre jeweilige soziale Vorgeschichte haben (Blinkert 2009, Klimke 2008: Kap. 5). Erwartungen bezüglich der Zukunft sind demnach auch vor dem Hintergrund von bisherigen Erfahrungen zu verstehen. Unsicherheit kann also auch daraus resultieren, dass bisherige Gewissheiten schwinden. Dies erweitert Bonß’ zuvor vorgestellte Kurzdefinition von Unsicherheit in dem Sinne, dass nicht nur das zukünftige Eintreten von negativ bewerteten Ereignissen, sondern auch Verunsicherung als der Prozess des Verlusts alter Sicherheiten berücksichtigt wird.3 Zweitens weist (Un-)Sicherheit eine Moraldimension auf. Denn was als ein mögliches Negativereignis gewertet wird, hängt vom jeweiligen soziokulturellen und entsprechend moralischen Kontext ab. Die Benennung von Sicherheitsbedrohungen ist daher nie alternativlos, wie bisweilen suggeriert wird, sondern stets kontingent und sozial konstruiert, wie verschiedene sozialkonstruktivistische Ansätze herausarbeiten. Die vorrangig politikwissenschaftlichen Versicherheitlichungstheorien bspw. betonen den Konstruktionsprozess von (Un-)Sicherheit und grenzen sich von der Annahme ab, dass Sicherheit und Sicherheitsbedrohungen objektiv existierten und bestenfalls neutral bestimmt werden könnten (z.B. Buzan/Wæver/Wilde 1998, Büger/Stritzel 2005, Daase 2011a und 2011b, Jarvis/Holland 2015, Wæver 2004). Ähnlich argumentieren auch einige soziologische Beiträge. Stephen Hilgartner etwa schreibt: »Neglecting the social construction of risk objects restricts the power of social science approaches to risk analysis. To assume that objects are simply waiting in the world to be perceived or defined as risky is fundamentally unsociological.« (1992: 41, vgl. auch Douglas/Wildavsky 1982 und Tierney 1999) Demgegenüber wird in den verschiedenen sozialkonstruktivistischen Ansätzen angenommen, dass die Konstruktion von Unsicherheit auf Basis bestimmter Moralvorstellungen erfolgt (Lupton 2013a: 10). Diese Moral ist als kollektive und sozialgruppenspezifische zu verstehen und beinhaltet Vorstellungen eines guten Lebens respektive Normen, die eingrenzen, was als positiv bzw. normal und was als negativ bzw. abweichend gilt (Giritli Nygren/Öhman/Olofsson 2016 und 2017). 3 Bonß’ Fokussierung auf Ereignisse kann als Feldspezifik gedeutet werden: Während sein Forschungsfeld, die Sicherheits- und Risikoforschung, auf Ereignisse fokussiert, betont die Prekarisierungsforschung das Prozesshafte und spricht daher auch von Verunsicherung. Zu diesen unterschiedlichen Forschungsfeldern Kap. 2.1.

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Drittens und mit der Moraldimension verbunden ist die Sachdimension von (Un-)Sicherheit, d.h. in meinem Fall die Frage, welche (Un-)Sicherheitsthemen ich berücksichtige. Im Sinne der Offenheit gegenüber den Relevanzen der Interviewpartner*innen lege ich Zygmunt Bauman folgend einen weiten (Un-)Sicherheitsbegriff zugrunde. Für ihn bündelt der deutsche Begriff der (Un-)Sicherheit das, wofür die englische Sprache drei Begriffe kennt: (Un-)Safety, (In-)Security und (Un-)Certainty (Bauman 1999: 5, vgl. auch Kaufmann 1970: 149, 344). Baumans Unterscheidung aufgreifend übersetzt Christoph Reinprecht (2010: 29) (Un-)Safety mit (Un-)Geschütztheit, was sich auf den physischen Schutz von Leib, Leben und Eigentum bezieht. (In-)Security bezeichnet er als (Un-)Gesichertheit, was die Verlässlichkeit z.B. der eigenen sozialen Position und der Welt meint und auch die soziale und sozialpolitische Dimension von Unsicherheit impliziert. (Un-)Certainty verweist auf (Un-)Gewissheit etwa in Bezug auf moralische Unterscheidungen oder den Verlauf von Interaktionen.4 , 5 Während Bauman den Vorteil des deutschen Sicherheitsbegriffs darin sieht, dass er sich als Oberbegriff eignet, haben für mich die englischsprachigen Begriffe den Vorteil, den Sicherheitsbegriff auszudifferenzieren und Sicherheit thematisch umfassend zu konzeptualisieren. Dabei werden sowohl materielle als auch symbolische Sicherheitsbedrohungen (vgl. van Dyk/Lessenich 2008) berücksichtigt.6 Viertens lässt sich (Un-)Sicherheit auch in Bezug auf die Handlungs- bzw. Entscheidungsdimension spezifizieren bzw. genauer: die Zuschreibung von Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Mit Bonß (1995) und Luhmann (1990, 1991) lassen sich entscheidungsabhängige Risiken, die man im Sinne eines Wagnisses eingeht, von entscheidungsunabhängigen Gefahren unterscheiden, denen man ausgesetzt ist. Eine Fassung als Risiko erlaubt dabei spezifisches 4 Für eine andere Verwendung dieser drei Begriffe s. Bonß (2011: 44ff.). 5 Es liegen also deutsche Termini vor, die Baumans Oberbegriff der (Un-)Sicherheit ausdifferenzieren. Allerdings erscheinen sie mir wenig gebräuchlich, sodass ich die englischen verwende. Gleiches gilt im Folgenden für weitere englische Begriffe, auch für den Fall, dass keine passende Übersetzung vorliegt oder sich der englische Begriff in der deutschsprachigen Forschung durchgesetzt hat. 6 Um zu verdeutlichen, was ich mit thematisch umfassend meine, stelle ich zwei engere Sicherheitsverständnisse vor. Zum einen lassen sich mit Robert Castel (2000) zivile bzw. bürgerliche Sicherheit (als Schutz vor Kriminalität und Devianz) und soziale Sicherheit (als soziale Rechte von Staatsbürger*innen) unterscheiden. Darauf wird gelegentlich in der Kriminalitätsfurchtforschung Bezug genommen. Zum anderen lässt aber auch die in der BMBF-Sicherheitsforschung relevante Unterscheidung zwischen Safety und Security einen engeren Fokus erkennen, der für mein Interesse nicht geeignet ist. Die Unterscheidung wird entlang der Frage der Intentionalität getroffen: »Safety behandelt die Verhinderung von durch Unfälle verursachten Schadens [sic!], bei Security geht es um die Verhinderung böswillig zugefügten Schadens; bei Security geht es um Missbrauch, bei Safety um misslungenen Gebrauch.« (Wissenschaftlicher Programmausschuss Sicherheitsforschung 2010: 6)

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Handeln, etwa im Sinne gezielter Vorsorge, während laut Luhmann (1991: 38) insbesondere für den Gefahrenfall nur eine unspezifische Prävention möglich ist. Diese (antizipierten) Handlungs- und Umgangsmöglichkeiten haben wiederum einen Einfluss darauf, was wie sehr als Unsicherheit bewertet wird (vgl. Kap. 6.3). Dieser (Un-)Sicherheitsbegriff kann nun auf drei Kontexte angewandt werden (Blinkert 2009): (a) auf Strukturen als »objektivierbare Gefährdungslagen« sowie »Sicherheitsarchitekturen von Aggregaten« (ebd.: 7 und 6), (b) auf Konstruktionen als die sich in öffentlichen Diskursen manifestierenden Vorstellungen von (Un-)Sicherheit und (c) auf die Lebenswelt im Sinne von (Un-)Sicherheitskonzeptionen im alltäglichen Leben der Akteur*innen. Wie bereits deutlich wurde, ist diese Unterscheidung wichtig, um nicht etwa lebensweltliche (Un-)Sicherheiten mit medialen oder literarischen Darstellungen gleichzusetzen. Die lebensweltlichen (Un-)Sicherheiten stehen im Zentrum meiner Arbeit. In der Forschungsliteratur werden sie auch als subjektive (Un-)Sicherheit oder »subjektive Befindlichkeit« (Kaufmann 1970: 297) bezeichnet. Aus verschiedenen Gründen schließe ich mich diesen Bezeichnungen nicht an, sondern präferiere den Begriff der Angst. Gegen den Begriff subjektiver (Un-)Sicherheit spricht aus meiner Sicht erstens, dass in der Sicherheits- und Kriminalitätsfurchtforschung, teils aber auch in der Prekarisierungsforschung die subjektive einer objektiven Unsicherheit gegenübergestellt wird. Diese Differenzierung ist allerdings gemäß der hier verfolgten sozialkonstruktivistischen Perspektive kritisch zu sehen, da Unsicherheit nicht objektiv bestimmt werden kann, auch nicht von wissenschaftlichen Expert*innen (vgl. auch Bonß 1995: 43). Mit anderen Worten: Das Problem bei der Benennung objektiver Unsicherheiten ist, dass »in erkenntnistheoretischer Hinsicht unklar bleibt, von welcher Beobachterposition aus die ›tatsächlichen Gefahren‹ zu bestimmen wären« (van Dyk/Lessenich 2008: 21). Vielmehr ist jegliches Wissen über (Un-)Sicherheit, auch das von Expert*innen, sozial konstruiert und bestimmten sozialen Produktionslogiken unterworfen (Lupton 2013a: 48). Der Begriff der »objektivierten (Un-)Sicherheit« erkennt dies zwar in gewisser Weise an, da nicht davon ausgegangen wird, dass Wissenschaftler*innen Wirklichkeit abbilden können, behält aber die grundlegende, m.E. irreführende Dichotomie zur subjektiven (Un-)Sicherheit bei.7 Zweitens ist der Begriff der subjektiven Unsicherheit im Kontext einer soziologischen Arbeit unter Umständen missverständlich, da es mir nicht um das Subjektive im Sinne des Individuellen geht, sondern um das Soziale der Subjekte (ausführlicher dazu Kap. 2 und 3). Drittens ist subjektive Unsicherheit als Konzept zu vage. Unklar ist, worum es genau geht: um Unsicherheitsbewusstsein, -wahrnehmungen, -einschätzungen, -befindlichkeiten, -empfinden oder noch etwas anderes? In dieser Arbeit zeige ich, wie wichtig es ist zu differenzieren. Aus all 7 Ausführlicher zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen insbesondere Kap. 2.2.2 und 2.3.1.

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diesen Gründen werde im Folgenden auf den Begriff der subjektiven Unsicherheit weitgehend verzichten und stattdessen synonym von lebensweltlichen (Un-)Sicherheiten, Verunsicherung und insbesondere von Angst sprechen. Dass ich dennoch manchmal von subjektiver Unsicherheit spreche, hat v.a. damit zu tun, dass dies der zentrale Begriff des Projekts ist, aus dem die Interviews stammen. Entsprechend verwende ich auch die Begriffe Unsicherheitsthemen und Angstthemen in synonymer Weise.

Angst Für Angst als zentralen Begriff spricht erstens in begrifflicher Hinsicht, dass er in eindeutiger, prägnanter Weise mein Forschungsinteresse an (Un-)Sicherheiten im lebensweltlichen Kontext ausdrückt. So bezeichnet Angst einen eigenständigen Phänomenbereich, sodass die problematische Gegenüberstellung zu objektiv(iert)er (Un-)Sicherheit nicht in dem Maße assoziiert wird wie beim Begriff der subjektiven (Un-)Sicherheit (vgl. auch Lupton 2013b und Wilkinson 2001a). Zweitens ist Angst in empirischer Hinsicht der zentrale Begriff der Interviewpartner*innen, der dem oben definierten breiten Unsicherheitsbegriff alltagssprachlich entspricht (dazu Kap. 5). Meine Erwartung ist daher, dass mit diesem Begriff mein Forschungsanliegen besser kommuniziert wird als mit dem Sicherheitsbegriff, der in einer engen Weise – als physische oder innere Sicherheit – verstanden werden kann. Drittens lässt sich über Angst unmittelbar an die Diagnosen einer Gesellschaft in Angst und jüngere Auseinandersetzungen zu einer Soziologie der Angst anschließen. Viertens wird mit dem Angstbegriff deutlich, dass sich subjektive Unsicherheit nicht in kognitiven Aspekten wie Wahrnehmungen erschöpft, sondern als lebensweltliches Phänomen gerade hinsichtlich seiner emotionalen Qualität relevant ist (dazu insbesondere Kap. 6.3).8 Wie verstehe ich nun Angst als Emotion? Prinzipiell lassen sich die o.g. Dimensionen von (Un-)Sicherheit übertragen. Angst und Furcht sind Franz-Xaver Kaufmann folgend entsprechend »als durch negative Erwartungen gesteuerte Gefühlslagen zu definieren« (1970: 301, vgl. auch Rackow/Schupp/Scheve 2012).9 Dar8 Emotionalität darf dabei nicht als irrationales Gegenstück zu emotionsfreier Rationalität verstanden werden; dieser Dualismus gilt inzwischen nicht nur in der Emotionssoziologie als obsolet (vgl. Zinn 2011). 9 Ich folge hier nicht der von Kaufmann aufgegriffenen Unterscheidung von bestimmter, objektbezogener Furcht und unbestimmter, objektloser Angst, wie sie in philosophischen und psychologischen Kontexten begründet wurde (vgl. Dehne 2017: Kap. 1.1. und 1.2). Ähnlich dem sozialkonstruktivistischen Zweifel an der objektiven (Un-)Sicherheit stellt sich hier die Frage, wer darüber befinden sollte, was ein ausreichend objekthaftes Objekt ist und gewissermaßen als rationale Furcht gelten kann (vgl. Jackson/Everts 2010). Die Generalisierungsthese der Kriminalitätsfurcht, derzufolge die konkrete, objektbezogene ›Kriminalitätsfurcht‹ ein Verdichtungssymbol für diffuse soziale Ängste darstellt (dazu Kap. 8.2), macht die Schwierigkeit dieser Unterscheidung wei-

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auf aufbauend ist zu fragen, was die spezifische emotionale Qualität ausmacht und wie dazu empirisch geforscht werden kann. In den für mich einschlägigen thematischen Diskussionsfeldern ‒ der Sociology of Risk and Uncertainty, der Sicherheits-, Kriminalitätsfurcht- und Prekarisierungsforschung (Kap. 2.1) ‒ wurde von wenigen Ausnahmen abgesehen (Dehne 2017, Gray/Jackson/Farrall 2008, Lupton 2013b, Wilkinson 2001a) bislang kaum versucht, den Emotionsbegriff näher zu bestimmen. Daher ist ein Blick in die Emotionssoziologie hilfreich. Emotionen werden dort hinsichtlich ihrer sozialen und kulturellen Dimensionen analysiert, d.h. gerade nicht in individualisierender und naturalisierender Weise, etwa als innere psychische und/oder physische Reaktion auf äußere Stimuli.10 Bei der genauen Bestimmung der interessierenden sozialen und kulturellen Dimensionen herrscht allerdings kaum Einigkeit. Verschiedene Emotionskonzepte konkurrieren und betonen jeweils verschiedene Aspekte von Emotionen, etwa ihren Charakter als wertgebundene, d.h. nicht rein kognitive Form der Deutung von Wirklichkeit, ihre Abhängigkeit von der sozialen Position der Fühlenden und ihre Leibgebundenheit (vgl. z.B. Flam 2002, Neckel 2006, Schützeichel 2008). Wegweisend scheinen mir neuere Ansätze zu sein, die sich als integrativ bezeichnen lassen, da sie diese verschiedenen Aspekte verbinden (Neckel/Pritz 2016: 6f.). Hierbei ist für mich der Ansatz von Monique Scheer (2012, 2016, 2017) anschlussfähig, wie sich im Laufe der empirischen Analysen gezeigt hat (vgl. Kap. 6.3). Scheer versteht im Anschluss an Pierre Bourdieus Sozialtheorie Emotionen als Teil habitueller Dispositionen: Emotionen werden vom Habitus produziert und umgekehrt produzieren sie diesen. Auf diese Weise lassen sich Emotionen konsequent soziologisch denken, da sie »aus der sozialstrukturellen, kulturellen und historisch stets spezifischen gesellschaftlichen Einbettung von Akteuren« resultieren (Neckel/Pritz 2016: 7). Dabei wird auch die leibliche Dimension von Emotionalität berücksichtigt, da Bourdieu davon ausgeht, dass das Soziale inkorporiert ist. Gemäß dieser Konzeption ist das Soziale nichts, was dem Empfinden der Akteur*innen äußerlich ist, denn es existiert nur durch sie. Emotionen wiederum sind weder vor-soziale, unbewusste Reflexe noch können sie willentlich gesteuert werden: Sie sind Teil des impliziten, praktischen Wissens ter deutlich. Spreche ich in dieser Arbeit ausnahmsweise von Furcht oder sich fürchten, dann als Synonym zu Angst (haben). Kurz: Furcht stellt für mich keinen Gegenbegriff zu Angst dar. Der Gegenbegriff zu Angst ist vielmehr Hoffnung, die sich durch positive Zukunftserwartungen auszeichnet (Pain/Smith 2008, Rackow/Schupp/Scheve 2012, Thamm 2006). 10 Daher spreche ich von Emotionen und ‒ im Anschluss an Autor*innen wie Monique Scheer (2012) und Sighard Neckel (2006) ‒ synonym dazu von Gefühlen. Den Affekt-Begriff meide ich hingegen, da Affekt in der Regel als eine sich evolutionär ausgebildete, automatisch ablaufende physiologische Reaktion auf einen externen Stimulus (etwa eine Gefahr) verstanden und ausschließlich der vor-sozialen ›Hardware‹ des Körpers zugerechnet wird (vgl. Leys 2011, Scheer 2016).

1 Gesellschaft in Angst? Einleitung

der Akteur*innen (vgl. auch Adloff 2013), das im Alltag nicht expliziert werden muss. Diese Konzeptualisierung bedeutet für die Erforschung von Emotionen, dass es nicht ausreicht, Emotionsbenennungen der Akteur*innen zu analysieren. Bestenfalls wird hierdurch nur die offensichtlichste Emotionsschicht berücksichtigt, schlechtestenfalls wird die rhetorische Nutzung der Sprache der Angst als Emotion missverstanden (vgl. Kap. 6.4 und 6.5). Angemessen ist vielmehr eine rekonstruktive, genauer praxeologische Forschung, die das implizite, praktische Wissen zu explizieren weiß. Analysierbar wird dieses Wissen, weil es sich unweigerlich im (Sprach-)Handeln der Akteur*innen dokumentiert (vgl. auch Scheer 2017: 263), d.h. auch im Interview. Etwas scheinbar so ›Innerliches‹ wie Emotionen – eine im Übrigen historisch relativ junge gesellschaftliche Erfindung (Winkel 2006: 287) – zeigt sich also im ›Äußeren‹. Dies macht bestimmte Methoden qualitativer Analyse prinzipiell anschlussfähig an die Emotionsforschung (vgl. etwa Kleres 2011 und 2015; Kap. 3 und 4), was insofern positiv ist, als die Methodologiediskussion in der Emotionssoziologie selbst erst im Entstehen begriffen ist: »Während theoretische Debatten in der Emotionssoziologie stets recht ausführlich geführt worden sind, sind methodologische Reflexionen erst in den letzten Jahren zu konstatieren.« (Neckel/Pritz 2016: 7, vgl. auch Lively 2015, s. aber Flam/Kleres 2015) Allerdings sind auch gegenstandsbezogene Anpassungen notwendig, die ich in dieser Arbeit leiste (Kap. 6.2). Gleichwohl gilt, dass der sprachbasierte Zugang der qualitativen Interviewforschung zu Emotionalität nie das Phänomen als Ganzes fassen kann; die leibliche Dimension bleibt – von ihrem parasprachlichen Niederschlag abgesehen (z.B. in besonderen Stimmlagen, Weinen etc.) – ausgeklammert. Dieses oder andere Defizite treffen aber auch für andere Konzeptualisierungen von Emotion und andere methodische Zugänge zu, die ihre je eigenen Unzulänglichkeiten haben (Scheer 2016). Für eine interviewbasierte Emotionsforschung spricht allerdings, dass sie die kulturellen Dimensionen von Emotionalität wie Wertvorstellungen gut fassen kann, wie Kapitel 7 demonstriert.

1.4

Aufbau der Arbeit

Eine Arbeit zu schreiben bedeutet, die Denkprozesse in ein Produkt zu fassen und vernetzte und eigentlich zusammengehörende Inhalte linear darzustellen. Dies ist bei Studien, die weder rein deduktiv noch rein induktiv sind, sondern der abduktiven Forschungslogik der Grounded-Theory-Methodologie folgend das Wechselspiel von Empirie und Theorie betonen, eine besondere Herausforderung, die ich wie folgt gelöst habe: In Kapitel 2 stelle ich dar, an welche Forschungen ich in dieser Arbeit in theoretischer und methodologischer Hinsicht anknüpfe. Zwar existiert wie bereits festge-

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stellt keine theoretisch fundierte empirische Soziologie der Angst als lebensweltlichem Phänomen, sondern allenfalls erste Ansätze. Dennoch werden mit Bezug auf Sicherheit und Risiko für mich wichtige Diskussionen geführt, nämlich in der Sicherheits- und Risikoforschung, der Kriminalitätsfurcht- und Prekarisierungsforschung, den Critical Security Studies und v.a. der Sociology of Risk and Uncertainty. Letztere bietet für mich die zentralen Bezugspunkte, da es sich um ein genuin soziologisches Feld handelt, verschiedene Unsicherheitsthemen behandelt werden und wichtige theoretische, epistemologische, methodologische und methodische Debatten geführt werden, wie ich anhand von sechs exemplarischen Ansätzen zeige. Als Beispiel für eine Zeitdiagnose der Gesellschaft in Angst gehe ich auf Becks »Risikogesellschaft« (1986) und seine daran anschließenden Überlegungen ein, die für die Sociology of Risk and Uncertainty einen wichtigen theoretischen Ausgangspunkt darstellen. Obwohl Becks Analyse v.a. auf die systemische Ebene zielt und Angst begrifflich nicht zentral ist, lese ich seine Diagnose als erste systematisch ausgearbeitete Angstdiagnose (vgl. auch Ahrens 2018, Aksoy 2018). Mit Mary Douglas’ Kulturtheorie des Risikos stelle ich eine zweite bedeutende Makrotheorie vor. Wie sich Risiken bzw. Verunsicherung lebensweltlich in ihren Komplexitäten und Dynamiken gestalten, bleibt bei Beck und Douglas allerdings weitgehend offen. Daher stelle ich im Anschluss zwei lebensweltliche Ansätze vor: den von Deborah Lupton sowie den von Anna Olofsson und Kolleg*innen. Schließlich geht es in den reflexiven Ansätzen von Karen Henwood und Kolleg*innen sowie Iain Wilkinson um methodologische und epistemologische, aber auch forschungspolitische Fragen. Da die meisten der vorgestellten Ansätze im deutschsprachigen Raum bisher kaum bzw. nicht rezipiert sind, räume ich der Darstellung den entsprechenden Raum ein. Doch trotz der vielen wertvollen Anknüpfungspunkte schien mir keiner der vorliegenden Ansätze geeignet, einen konsistenten (meta-)theoretischen und methodologischen Rahmen für meine eigene Forschung zu liefern. In Kapitel 3 entwerfe ich daher als Brücke zu meiner empirischen Arbeit eine eigene qualitative Programmatik im Sinne eines »Theorie-Methodologie-Pakets«, um Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen zu fassen und empirisch dazu forschen zu können. Hierfür greife ich auf Pierre Bourdieus und Karl Mannheims Soziologie ebenso wie auf erzähltheoretische und interviewtheoretische Beiträge zurück. Dies ermöglicht u.a., das Soziale der Angst auch in Einzelinterviews zu fassen. Das Einzelinterview selbst ist dabei als soziale Praxis und Interaktion zwischen Interviewpartner*in und Interviewer*in zu theoretisieren, was eine Reflexion der Beiträge der Forschenden umso wichtiger macht. Darauf aufbauend stelle ich in Kapitel 4 meine Umsetzung dieses Forschungsprogramms in Bezug auf die Datengewinnung, das Sampling und Sample und die Datenauswertung vor. Insgesamt zeichnet sich mein Vorgehen durch eine doppelte Varianzsteigerung aus: einerseits in Bezug auf die themenoffene bzw. -übergreifende Interviewgestaltung, andererseits in Bezug auf das Sample, das sich durch maximale inhaltliche Kon-

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traste auszeichnet, womit auch unterschiedliche soziale Positionen berücksichtigt werden. Die mit diesem Vorgehen erzielten empirischen Ergebnisse sind in den Kapiteln 5, 6 und 7 dargestellt. Da diese Kapitel eigenständige Fragestellungen bearbeiten, habe ich mich für eine ungewöhnliche Form der Darstellung entschieden: Jedes dieser Kapitel ist in sich geschlossen, d.h. es enthält neben den empirischen Ergebnissen einen eigenen, spezifischen Forschungsstand, die jeweilige methodische Fokussierung, eine eigene Diskussion und einen eigenen Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten. Gleichwohl sind diese drei Kapitel durch einen roten Faden verbunden: Kapitel 5 und 6 behandeln die methodischen »Gretchenfragen«. Darauf aufbauend lassen sich ebenfalls in Kapitel 6 sowie in Kapitel 7 die empirischen »Gretchenfragen« beantworten. In Kapitel 5 gebe ich eine empirisch gestützte Antwort auf die Frage, wie in der Datengewinnung offen zu Unsicherheit geforscht werden kann: Wie vermitteln wir als Forschende den Interviewpartner*innen, dass wir uns gemäß Baumans weitem Sicherheitsbegriff für all die Ängste interessieren, die in ihrem gegenwärtigen Leben relevant sind? Zwei methodische Dimensionen erscheinen mir hierfür relevant: zum einen die Wahl der Unsicherheitssemantik, zum anderen die Art und Weise, wie die Interviewpartner*innen adressiert werden und wie die Beziehungsgestaltung im Interview erfolgt. Insbesondere letzteres wurde in der bisherigen Methodendiskussion und -reflexion vernachlässigt. Im Ergebnis scheint mir für ein themenoffenes, lebensweltliches Interesse eine methodische Umsetzung über die Semantik der Angst und die Gestaltung einer persönlichen Beziehung sinnvoll, in der die Interviewpartner*innen u.a. als Individuen und nicht als Repräsentant*innen eines Kollektivs angesprochen werden. Mit diesen Ergebnissen trage ich auch zur geforderten und längst überfälligen Methodendiskussion und -reflexion in der Sicherheitsforschung und der Sociology of Risk and Uncertainty bei, indem ich Anregungen für die weitere empirische Forschung zu Angst gebe und die bisher disparaten Ergebnisse anderer empirischer Studien mit Blick auf ihre jeweiligen methodischen Entscheidungen verständlicher mache. Deutlich wird in diesem Kapitel auch, dass Methodenwahlen politisch sind. In Kapitel 6 geht es in methodischer Hinsicht um die Frage, wie in der Datenauswertung Angst als Emotion rekonstruiert werden kann, genauer: wie sie von anderen Emotionen abgegrenzt werden kann und wie die verschiedenen »Erlebnisqualitäten« (Blinkert/Eckert/Hoch 2015) von Angst im Sinne unterschiedlicher Intensität herausgearbeitet werden können. Thematisch gewendet gibt dieses Kapitel Antwort auf die Frage, welche Rolle Angst lebensweltlich spielt. Ich nähere mich dieser Frage an, indem ich rekonstruiere, was es bedeutet, über Angst zu sprechen. Dies geschieht mit Blick auf drei Bedeutungsdimensionen: Erstens dokumentiert sich in den Interviewthematisierungen Angst als Emotion, wobei ich unterschiedliche Erlebnisqualitäten ‒ konkret: k(l)eine und große Ängste ‒ heraus-

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arbeite und in Bezug zu den jeweiligen sozialen Erfahrungs- und Deutungshintergründen setze. Zweitens finden über Angst- und (Un-)Sicherheitskommunikation Positionierungen statt: Indem die Interviewpartner*innen die ›Ängste‹ für sich in Anspruch nehmen, die ein anständiges, rechtschaffenes Gesellschaftsmitglied zu haben hat, präsentieren sie sich als moralisches Selbst. Drittens wird Angst bzw. (Un-)Sicherheit als Argument verwendet, um eigenen Anliegen Ausdruck zu verleihen. Mit dieser Verwendungsweise von Angst- bzw. (Un-)Sicherheitskommunikation ist allerdings weniger die Emotion Angst verbunden als vielmehr Ungerechtigkeitsempfinden. Die in Kapitel 5 und 6 gewonnenen Erkenntnisse informieren die Fallauswahl und Analysestrategie, anhand derer in Kapitel 7 die Frage beantwortet wird, welche Ängste lebensweltlich (k)eine Rolle spielen. Hierfür entwickle ich empirisch begründet ein Modell, das miterklärt, wer sich wovor fürchtet (vgl. Wildavsky/Dake 1990). Meiner Analyse nach ist die Position im Lebensverlauf (nach Kohli 1985 und 2003), d.h. die Lebensphase, entscheidend dafür, was ein gutes Leben bedeutet und was sich die Interviewpartner*innen von ihrer Zukunft erwarten. Das impliziert eine bestimmte Bedeutung von Sicherheit, die wiederum prägt, was typische Ängste sind. In die Lebenslauflogik eingebettet sind auch sozioökonomische Unterschiede und Geschlechterunterschiede relevant. Die Ergebnisdarstellung erfolgt entlang der Lebenslauflogik von der Lebensphase der Postadoleszenz hin zum Rentenalter, um den bedeutungsgebenden Kontext von Ängsten ins Zentrum zu rücken. Deutlich wird dabei, dass ein scheinbar gleiches Angstthema, etwa Kriminalität, je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungen hat. Diese Kontextgebundenheit von Bedeutungen herauszuarbeiten stellt in empirischer Hinsicht einen Mehrwert dieser Arbeit dar, da bisherige Forschungen die Angstthemen an und für sich in den Vordergrund stellen und den bedeutungsgebenden Kontext oft vernachlässigen. Eine weitere Stärke meines Ansatzes zeigt sich darin, dass über ein themenoffenes und rekonstruktives Vorgehen auch symbolische und implizite Ängste rekonstruierbar werden, während sich viele andere Studien weitgehend auf die materiellen und expliziten Dimensionen beschränken. Insgesamt wird deutlich, und darin stimmt meine Studie mit anderen qualitativen Studien überein, dass medial präsente Themen wie Terrorismus nicht die alltagsweltlich relevanten sind. In der Zusammenschau der drei empirischen Kapitel nähren meine Ergebnisse Zweifel daran, dass wir in einer Gesellschaft in Angst leben, und machen deutlich, dass in verschiedener Hinsicht zu differenzieren ist. Die Konsequenzen dieser Differenzierungen stelle ich in Kapitel 8 vor: Hier bündle ich die empirischen Ergebnisse der drei vorangegangenen Kapitel, indem ich sie kursorisch auf drei Diskursfelder beziehe, die in der wissenschaftlichen, aber auch gesellschaftspolitischen Diskussion rund um Angst und (Un-)Sicherheit relevant sind. Erstens geht es dabei um das Sicherheitsparadox, d.h. den scheinbaren Widerspruch zwischen den Sachverhalten, dass wir in westlichen Gesellschaften objektiv betrachtet so si-

1 Gesellschaft in Angst? Einleitung

cher wie nie zuvor leben, aber in besonderem Maße Unsicherheiten wahrnehmen, empfinden und/oder thematisieren. Als Gegenthese zum Sicherheitsparadox stelle ich in Anlehnung an Bourdieu (2005: 7) ein »Paradox der Doxa« zur Diskussion. Die zentrale Frage lautet dann, warum wir in sicheren westlichen Gesellschaften, in denen sich viele Menschen sicher fühlen, so sehr glauben, in unsicheren Zeiten zu leben. Zweitens geht es um die sogenannte Kriminalitätsfurcht. Meinen Ergebnissen nach gilt es beide Wortbestandteile kritisch zu beleuchten: Weder geht es in Kriminalitätserzählungen immer um Kriminalität, noch kommt darin immer Furcht zum Ausdruck. Drittens geht es um die Frage, inwiefern Rassismus und Klassismus mit Angst zusammenhängen. Können diese Phänomene als Ausdruck einer Gesellschaft in Angst erklärt werden, etwa indem konstruierte Andere als »Blitzableiter« für eine allgemeine, diffuse Verunsicherung dienen (Beck 1989: 9)? Aus meiner Sicht gilt es hier zu differenzieren, um welche Bedeutung von Angstkommunikation (s. Kap. 6) und um wessen Ängste es geht. Zentral ist meiner Auswertung nach im Kontext von Abwertungen ›Anderer‹ weniger Angst als Emotion, sondern Angst als Argument (vgl. auch Bröckling 2016, Keller/Berger 2017). Gleichzeitig ist zu fragen, wer in seinen (vermeintlichen) Ängsten von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft gehört wird. Hierfür schlage ich angesichts von Forderungen, die Ängste und Sorgen der Menschen ernst zu nehmen, einen Blickwechsel vor, nämlich weniger die Angst vor den ›Anderen‹, sondern vielmehr die Angst der ›Anderen‹ zu beachten, die von Rassismus und Klassismus betroffen sind. Im abschließenden Kapitel 9 blicke ich zurück und nach vorne: Der Ausgangspunkt dieser Arbeit war die populäre Diagnose einer Gesellschaft in Angst, die ich in den verschiedenen Kapiteln einer theoretisch-empirischen Kritik unterzogen habe. Angesichts der relativierten Bedeutung von Angst stellt sich am Ende die Frage, ob es eine Soziologie der Angst braucht und wenn ja, in welcher Form. Ich plädiere hier trotz verschiedener Fallstricke für eine theoretisch fundierte empirische Soziologie der Angst, die zugleich kritisch und reflexiv ist: Solange es simplifizierende, pauschalisierende Angst- und Unsicherheitsdiskurse gibt, braucht es eine Soziologie der Angst, die Gewissheiten in Frage stellt und zumindest zunächst zu einer »Verunsicherungswissenschaft« (Degele 2008: 24ff.) wird.11 Dafür muss die Komplexität des Gegenstandes angemessen berücksichtigt werden, indem differenziert wird. In konzeptuell-methodologischer Weise rückblickend resümiere ich daher die Differenzierungen, die sich in meiner Arbeit als zentral erwiesen haben. Als Ausblick skizziere ich zudem einige Möglichkeiten, wie eine Soziologie der Angst darüber hinaus beschaffen sein könnte.

11 Entsprechend behandle ich in dieser Arbeit nicht die unterkomplexe Annahme einer German Angst (vgl. auch Schildt 2004). Im Gegenteil lässt sich eher annehmen, dass sich Menschen in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern aufgrund des Niveaus sozialstaatlicher Sicherung im Allgemeinen relativ sicher fühlen (Blinkert 2010, Hirtenlehner/Hummelsheim 2011).

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2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

Auch wenn bislang nur wenige Vorschläge zu einer Soziologie der Angst vorliegen, kann eine Forschung zu (Un-)Sicherheit bzw. Angst in produktiver Weise an viele Forschungsfelder anknüpfen. Im Folgenden werde ich zunächst diejenigen Forschungsfelder kurz vorstellen, die mein Verständnis des Phänomens und seiner Erforschung informieren und an unterschiedlichen Stellen dieser Arbeit eine Rolle spielen. Dabei werde ich erläutern, warum die Sociology of Risk and Uncertainty mein zentrales Diskussionsfeld ist (Kap. 2.1), um anschließend deren für mich einschlägigen theoretischen und methodologischen Beiträge zu präsentieren und kritisch zu würdigen (Kap. 2.2.-2.4). In der Bilanz (Kap. 2.5) fasse ich die Stärken dieser Beiträge für meine Forschung zusammen und frage nach ihrer Integration, wofür ich im nachfolgenden Kapitel meine eigene programmatische Klammer formuliere (Kap. 3). Wie andere Diskussionsfelder hat die Sociology of Risk and Uncertainty eine bestimmte begriffliche und konzeptuelle Präferenz, nämlich zugunsten von Risiko, was wohl aus Vorläufern in der technisch und psychologisch orientierten Risikoforschung resultiert. Zunehmend rückt aber auch Ungewissheit in den Fokus (Zinn 2009: 512). Auch wenn die jeweiligen Präferenzen nicht die meinen sind, werde ich sie bei der Darstellung der jeweiligen Diskussionsfelder übernehmen.

2.1

Sociology of Risk and Uncertainty als zentrales Diskussionsfeld

Sicherheits- und Risikoforschung Ein naheliegender Anknüpfungspunkt für meine Arbeit ergibt sich aus ihrem Entstehungskontext, nämlich der deutschsprachigen Sicherheitsforschung. Das Projekt »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten«, dessen Interviews die Datengrundlage meiner Arbeit bilden, war Teil eines größeren Verbundprojektes im Rahmen der vom BMBF geförderten Sicherheits-

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Gesellschaft in Angst?

forschung.1 Die deutsche Bundesregierung hat wie viele andere westliche Regierungen im Nachgang zum 11. September 2001, der hierfür mehr Katalysator als Ursache ist, ein umfangreiches Sicherheitsforschungsprogramm entworfen. 2007 startete das deutsche Rahmenprogramm »Forschung für die zivile Sicherheit«, das zu einem wichtigen Drittmittelgeber für sozialwissenschaftliche Forschung im Bereich (Un-)Sicherheit wurde und den wissenschaftlichen Austausch über Institutsgrenzen hinaus ermöglicht. Davon habe ich sehr profitiert und finde in diesem Kontext auch einige zentrale Publikationen, die sich empirisch mit den subjektiven und sozialen Dimensionen von (Un-)Sicherheit beschäften und dabei auch Aspekte ihrer methodischen Zugänglichkeit und sozialtheoretischen Fassung behandeln (z.B. Krasmann et al. 2014, Voss/Seidelsohn/Krüger 2017). Gleichwohl ist dieser Forschungskontext strukturell bedingt für meine soziologische Arbeit nur teils hilfreich. Denn erstens handelt es sich bei diesem Forschungsförderprogramm um ein Wirtschaftsförderprogramm, da es in die Hightech-Strategie der Bundesregierung eingebettet ist. Daher zeichnete sich das Programm von Anfang an durch eine Technik- und Lösungsorientierung aus, die methodologische und theoretische Auseinandersetzungen nicht unbedingt erfordert. Zweitens wird mit Naturkatastrophen, technischen Großunglücken, Terrorismus und Kriminalität nur ein spezifisches Spektrum an Unsicherheitsthemen adressiert, nämlich Safety-Themen in Baumans Konzeption (Kap. 1.3). Diese Bedrohungen interessieren zudem v.a. in ihrer objektiv katastrophenhaften Ausprägung, wenn sie etwa die kritischen Infrastrukturen einer Gesellschaft bedrohen, und weniger in ihrer subjektiven, lebensweltlichen Bedeutung.2 Drittens wird Interdisziplinarität zwar betont, aber im Ergebnis ist die Rolle der Geistesund Sozialwissenschaften oft auf Begleitforschung beschränkt, sodass diese ihr Potenzial nicht ausschöpfen können (dazu Eichler 2017, Kolliarakis 2014). Dennoch stellt die BMBF-geförderte Sicherheitsforschung schlussendlich den einschlägigen deutschsprachigen Forschungskontext für mich dar. Ähnlich aufgestellt ist m.E. die auch deutschsprachige Risikoforschung, die eine Quelle für die BMBF-geförderte Sicherheitsforschung darstellt. Hier werden Risiken und Risikomanagement, Risikowahrnehmungen und Risikokommunikation 1 Das Verbundprojekt trägt den Titel »Barometer Sicherheit in Deutschland« (Akronym: BaSiD). Weitere Informationen dazu auf der Website: https://basid.mpicc.de. Auf www.sifo.de/ wird das BMBF-Rahmenprogramm »Forschung für die zivile Sicherheit« vorgestellt (beides zuletzt am 10.04.2019 geprüft). 2 Dabei handelt es sich um Einrichtungen bzw. Netze wie Wasser- und Energieversorgung, IT und Telekommunikation, die auch untereinander oft eng vernetzt sind. Im Falle einer Störung oder Schädigung würde es zu erheblichen Versorgungsengpässen kommen. In nationalen und europäischen Sicherheits(forschungs)programmen steht daher der Schutz kritischer Infrastrukturen im Zentrum.

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

untersucht, wobei sich diese Forschungsrichtung als Folge von Umwelt- und technologischen Risiken (chemische und atomare Unfälle) ausbildete und auf einem technisch-rationalen, objektivistischen Risiko- bzw. Unsicherheitsbegriff aufbaut. Das Interessensspektrum hat sich inzwischen geweitet und auch Beiträge auf den Plan gerufen, die eigenständige soziologische Perspektiven auf Risiken entwickeln (z.B. Bechmann 1993, Bonß 1995, Hilgartner 1992, Krohn/Krücken 1993, Krücken 1996, Luhmann 1990, Tierney 1999, Tudor 2003; s. dazu auch Douglas’ Ansatz, der in Kap. 2.2.2 vorgestellt wird). Diese glichen die bis dato vorherrschende technikzentrierte Haltung in der Risikoforschung aus und rücken die soziale Bedeutungsgebung in den Fokus. Speziell im deutschsprachigen Raum hat dies zu wichtigen theoretischen Beiträgen geführt (im Überblick: Bonß/Zinn 2016) und darüber hinaus empirische Forschungen hervorgebracht (z.B. Bonß et al. 2004, Bonß/Zinn 2005), die auch für meine Arbeit wichtig sind. Gleichwohl ist in Beiträgen der Risikoforschung der Ausgangspunkt oft ein objektives Risiko, auf das subjektiv reagiert wird, sodass hier wie in der Sicherheitsforschung ein Risiko-Objektivismus mit einem psychologisch orientierten methodologischen Individualismus einhergeht (z.B. Renn et al. 2007, Zwick 2005). Auch neuere Entwicklungen wie das Social Amplification of Risk Framework (kurz: SARF, s. Kasperson et al. 1988), welches in der interdisziplinären Sicherheits- und Risikoforschung einflussreich ist und eine Weiterentwicklung des psychometrischen Paradigmas darstellt, sind aus soziologischer Sicht nicht zufriedenstellend, da sie das Soziale bzw. Kulturelle auf eine Wahrnehmungsverzerrung objektiver Risiken reduzieren und die Aufgabe der Soziologie darin sehen, diese zu analysieren (vgl. etwa Bonß 1995: 43). Will eine solche Forschung, die an der Dualität von objektiven Risiken und subjektiver Risikowahrnehmung festhält, die Individuen über die wirklich relevanten Risiken aufklären und damit deren ggf. verzerrte Wahrnehmung anpassen (z.B. Krämer 2011, Renn 2014), geht es mir in dieser Arbeit um einen Perspektivwechsel: Wissenschaft muss sich selbst über die Logik der lebensweltlichen Praxis aufklären, über die sie zu wenig weiß. In dieser Arbeit finden sich entsprechend Anregungen für eine lebensweltliche – und zudem reflexive – Sicherheitsforschung.

Kriminalitätsfurcht- und Prekarisierungsforschung Eine empirische Hinwendung zu dieser subjektiven, lebensweltlichen Dimension findet sich hingegen in den Forschungsfeldern der Kriminalitätsfurchtforschung und der Prekarisierungsforschung. Zwar gibt es zwischen diesen beiden Bereichen wenig Verbindung und auch mit der Sicherheits- und Risikoforschung stehen sie kaum in Beziehung.3 Dennoch stelle ich sie hier gebündelt vor, da beide 3 Eine Ausnahme stellt Jackson (2006) dar. Verbindungen bieten außerdem Forschungen, die Kriminalitätsfurcht als Ausdruck diffuser sozialer Unsicherheiten verstehen (Generalisierungsthese

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Gesellschaft in Angst?

Forschungsfelder sich dadurch auszeichnen, dass sie sich der Untersuchung eines spezifischen Unsicherheitsthemas widmen und dabei teils ähnliche Diskussionen wie die Sicherheits- und Risikoforschung führen, etwa wenn es um das Verhältnis von objektiver und subjektiver Unsicherheit sowie um das hierbei beobachtete Paradox geht, wonach sich diejenigen, die statistisch betrachtet objektiv wenig betroffen sind, sich besonders fürchten (Sicherheits- bzw. Kriminalitätsfurchtparadox). Jedoch haben beide Diskussionsstränge auch jeweils eigene Diskussionen hervorgebracht, die für diese Arbeit wichtig sind. Die Kriminalitätsfurchtforschung hat als vergleichsweise traditionsreicher Forschungsbereich einige für meine Arbeit zentrale Gedanken und Ergebnisse hervorgebracht, darunter theoretische und konzeptuelle Überlegungen (z.B. Farrall et al. 1997, Klimke 2008, Stehr 1998, 2002, 2004 und 2016), methodologische und methodische Diskussionen (z.B. Ditton/Bannister et al. 1999 und Ditton/Farrall et al. 1999, Gray/Jackson/Farrall 2008 und 2011, Hollway/Jefferson 1997, 2000 und 2008, Lee 2011) und Reflexionen zum Zusammenhang von Forschungsagenden, Politik und Medien generell (z.B. Lee 2001, 2010, 2011). Dadurch gibt es in den verschiedenen Kapiteln meiner Arbeit Anschlüsse und Referenzen zur Kriminalitätsfurchtsforschung, v.a. aber in Kapitel 8.2. Im Vergleich zur interdisziplinären Kriminalitätsfurchtforschung ist die stärker soziologisch verortete Prekarisierungsforschung vergleichsweise jung: Sie hat in den 2000er Jahren ihren Aufschwung erfahren. In der gegenwärtigen deutschsprachigen Soziologie stellt sie einen der wenigen Bereiche dar, in dem (Un-)Sicherheit explizit thematisiert und im Vergleich zur Sicherheitsforschung ein anderes thematisches Feld von (Un-)Sicherheit beleuchtet wird. Standen zunächst im Anschluss an die grundlegenden Arbeiten von Robert Castel (2000, 2005), aber auch Pierre Bourdieu (2000, 2004, Bourdieu et al. 1997) arbeits- und industriesoziologische Perspektiven zum Wandel des Normalarbeitsverhältnisses im Zentrum der Debatte (z.B. Brinkmann et al. 2006, Burzan/Kohrs/Küsters 2014, Castel/Dörre 2009), so sind inzwischen und auch als Kritik daran geschlechtersoziologische Beiträge entstanden. Diese kritisieren u.a. einen androzentrischen Blick der arbeits- und industriesoziologischen Studien, der das männliche Normalarbeitsverhältnis fokussiert und dabei übersieht, dass Erwerbsarbeit von Frauen und ebenso von Migrant*innen schon zuvor prekär war (im Überblick: Motakef 2015). Darüber hinaus weist die geschlechtersoziologische Prekarisierungsforschung darauf hin, dass Prekarisierung auch eine Irritation oder gar Destabilisierung der herrschenden, etwa vergeschlechtlichten Ordnung bedeutet und damit die prekarisierten Akteur*innen nicht nur bezüglich einer materiellen, sondern auch einer der Kriminalitätsfurcht), wie sie von der Prekarisierungsforschung analysiert werden. Kriminalitätsfurchtforschung ist darüber hinaus insofern in der BMBF-geförderten Sicherheitsforschung eingebunden, als letztere auch Terrorismus und Kriminalität umfasst.

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

symbolischen Ebene zu verunsichern vermag (Egert et al. 2010, Wimbauer/Motakef/ Teschlade 2015). Je nach normativem Standpunkt kann dann die Verunsicherung der einen ein begrüßenswertes Signal des angestrebten Wandels für die anderen sein. Bedeutsam ist die arbeits- und industrie- sowie geschlechtersoziologische Prekarisierungsforschung für mich u.a. deshalb, weil sie ‒ anders als die stark quantitativ ausgerichtete Kriminalitätsfurchtforschung ‒ viele, auch qualitative, Studien hervorgebracht hat, die Prekarisierung im Lebenszusammenhang (z.B. Brinkmann et al. 2006, Burzan/Kohrs/Küsters 2014, Klenner et al. 2011, Koppetsch/Speck 2015, Sander 2012) und im biographischen bzw. Lebenslaufkontext betrachten (z.B. Schiek 2011). Trotz der Fokussierung des Interesses auf das Unsicherheitsthema Prekarisierung wird dabei ein Ereignis nicht per se, sondern nur in einem konkreten Kontext als bedeutsam betrachtet. Deutlich wird zudem in den geschlechtersoziologischen Studien, dass nicht nur sich wandelnde Strukturen relevant sind wie der Wandel von Arbeit und Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern auch kulturelle und symbolische Dimensionen wie Männlichkeitsvorstellungen mitanalysiert werden müssen (exemplarisch: Koppetsch/Speck 2015).

Sociology of Risk and Uncertainty und Critical Security Studies Trotz ihres hohen Anregungspotenzials sind Kriminalitätsfurchts- sowie Prekarisierungsforschung thematisch fokussiert. Für mein themenoffenes Forschungsinteresse stellt daher die Sociology of Risk and Uncertainty das zentrale disziplinäre Diskussionsfeld dar, weil hier verschiedene Unsicherheitsthemen bearbeitet werden, die Baumans Dimensionen von Sicherheit abdecken. Zwar hat auch die Sociology of Risk and Uncertainty ihren Ausgangspunkt in der Risikoforschung, sodass anfangs Umwelt- und technische Risiken im Fokus standen. Inzwischen hat sich das Themenspektrum aber geweitet, wie sich in den unten vorgestellten Ansätzen und in zentralen Publikationen dieses Forschungskontexts zeigt (s. z.B. die Überblickswerke von Lupton 2013a und Zinn 2008b sowie die in der Zeitschrift »Health, Risk and Society« erschienenen Beiträge). Zudem gibt es Bemühungen, den starken Individuums- und engen Rationalitätsbezug der Risikoforschung hinter sich zu lassen, um zu soziologisch adäquateren Konzeptionen zu gelangen (vgl. etwa Brown 2016 und Zinn 2016). Darüber hinaus werden einschlägige soziologische Perspektiven und theoretische, epistemologische, methodologische und methodische Fragen zusammengeführt und diskutiert – auch im Rahmen der Forschungsnetzwerke innerhalb der Europäischen und Internationalen Gesellschaften für So-

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Gesellschaft in Angst?

ziologie. Eine vergleichbare Institutionalisierung eines thematisch einschlägigen Diskussionskontextes gibt es im deutschsprachigen Raum bislang nicht.4 Trotz dieser hohen Passung zu meinem Interesse müssen konzeptuelle Unterschiede berücksichtigt werden: Während ich von Angst und (Un-)Sicherheit spreche, liegt in der Sociology of Risk and Uncertainty der konzeptuelle Fokus auf Risiko und zunehmend Ungewissheit (vgl. Zinn 2009). Erste Ansätze einer englischsprachigen Sociology of Security lassen sich zwar beobachten (z.B. Clements 1990, Stampnitzky 2013, Stampnitzky/Mattson 2015) und werden in der Sociology of Risk and Uncertainty rezipiert, konnten sich aber konzeptuell bisher kaum durchsetzen. Bis auf wenige Ausnahmen (Ekholm/Olofsson 2017, Furedi 2007, Lupton 2013b, Tudor 2003, Wilkinson 2001a) finden sich auch nur wenige Bezugnahmen zum Konzept der Angst und zur Emotionsforschung. In den letzten Jahren wurde in der Sociology of Risk and Uncertainty der Ruf nach dezidiert kritischen Perspektiven laut. Diese lassen sich in einem weiteren und vom soziologischen Diskurs weitgehend abgekoppelten Forschungsfeld finden: den politikwissenschaftlichen Critical Security Studies, die staatliche Sicherheitspolitik kritisch analysieren (z.B. Buzan/Wæver/Wilde 1998, Daase 2011b, Hagmann/Dunn Cavelty 2012, Jarvis/Holland 2015, Wæver 2004). Dies ist insofern eine relevante Ergänzung für mich, als die Datengrundlage dieser Arbeit aus dem Kontext der BMBF-geförderten Sicherheitsforschung stammt. Besonders interessant sind hierbei die Studien, die sich nicht nur in den Critical Security Studies verorten, sondern auch dem sogenannten »vernacular turn« und/oder »everyday turn« gefolgt sind. Damit ist gemeint, dass das klassisch politikwissenschaftliche staatsbzw. elitenfokussierte Interesse an Sicherheit durch ein empirisches, subjektzentriertes bzw. gesellschaftliches ergänzt wird und Alltagssprache und -welten in den Blick rücken. Auch werden die Ergebnisse dieser Studien zur alltagssprachlichen und alltäglichen Relevanz von (Un-)Sicherheit in Bezug auf staatliche Sicherheitspolitik diskutiert (z.B. Jarvis/Lister 2013, Stevens/Vaughan-Williams 2016).

Sociology of Risk and Uncertainty als zentrales Diskussionsfeld: Zwischenfazit und Vorausschau Dieser Überblick zeigt, an welche Diskussionsfelder ich in dieser Arbeit anschließe. Meist nehmen diese kaum aufeinander Bezug, obwohl sie Überschneidungen

4 Zwar firmierte bspw. der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2008 unter dem Titel »Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen«, doch gibt es bisher keine Sektion oder Arbeitsgemeinschaft zum Thema Risiko, Sicherheit und Angst. 2018 gab es allerdings im Rahmen der Adhoc-Gruppe »Zivile (Un)Sicherheit. Aspekte einer Soziologie der Unsicherheit« erste Anzeichen, dass sich das ändern könnte.

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

haben und voneinander lernen könnten. Ihre Zusammenführung im Kontext dieser Arbeit verspricht daher Erkenntnisgewinn.5 Zugleich wurde deutlich, dass die Sociology of Risk and Uncertainty mein zentrales Diskussionsfeld darstellt. Im Folgenden stelle ich daher diejenigen Ansätze aus der Sociology of Risk and Uncertainty genauer vor, die für meine Arbeit in theoretischer und methodologischer Hinsicht zentral sind, aber bisher u.a. aufgrund fehlender Übersetzungen nur in Teilen im deutschsprachigen Kontext rezipiert sind. Die insgesamt sechs Ansätze werde ich in theoretisch und methodologisch klassifizierender Weise vorstellen. Die damit konkret erzielten empirischen Ergebnisse finden sich aus Gründen der Redundanzvermeidung und Übersichtlichkeit v.a. in den jeweiligen empirischen Kapiteln dieser Arbeit. Im ersten Schritt (Kap. 2.2) werden als grundlegende Ansätze die auch hierzulande bekannten gesellschaftstheoretischen Arbeiten von Ulrich Beck und Mary Douglas in Erinnerung gerufen. Allerdings haben diese Ansätze eine Leerstelle darin, dass sie Angst als lebensweltliches Phänomen konzeptuell und empirisch nicht greifen. Daher stelle ich in einem zweiten Schritt (Kap. 2.3) die lebensweltlich orientierten und darüber hinaus themenoffenen Forschungen von Deborah Lupton sowie Anna Olofsson und Kolleg*innen vor, die für mich auch konzeptuell und methodologisch relevant sind. In einem dritten Schritt (Kap. 2.4) stehen die reflexiven Ansätze von Karen Henwood und Kolleg*innen sowie Iain Wilkinson im Vordergrund, die zwei unterschiedliche und für mich gleichermaßen anschlussfähige Vorschläge machen, wie die oft artikulierte Reflexivitätsforderung in meinem Forschungskontext umgesetzt werden kann. Mein Interesse gilt in dieser Vorstellung folgenden Aspekten, die für meine Forschungsfragestellung und nach meinen ersten empirischen Analysen zentral wurden: •

Welcher Risiko-, aber auch (Un-)Sicherheits- und ggf. Angstbegriff liegt dem jeweiligen Ansatz zugrunde, explizit oder zumindest implizit? Und wie werden objektive und subjektive Dimensionen zusammengedacht? Wie bereits deutlich wurde, steht der Risikobegriff im Zentrum der Diskussion, weswegen ich mich v.a. damit befasse. In der Debatte um Risikokonzeptionen wird zwischen zwei Polen eines Kontinuums unterschieden (z.B. Lupton 2013a: Kap. 2, Rosa 1998). Risiko-objektivistische Positionen betonen die Realität von Risiken, um Gefährdungen für Leib und Leben sowie Leiden und Sterben von Menschen nicht zu

5 Ähnliches stellen Daniel Stevens und Nick Vaughan-Williams (2016) fest und verbinden in ihrer Studie die Forschungsfelder der Internationalen Beziehungen, genauer der Security Studies, sowie der politischen und Verhaltenspsychologie. Allerdings übersehen sie die Sociology of Risk and Uncertainty und unterliegen dadurch einer Illusion der Innovation: Die Autoren behaupten, dass ihre Studie die erste ist, die mehr die Breite verschiedener Bedrohungen im lebensweltlichen Kontext anstelle spezifischer Bedrohungen untersucht (ebd.: 7). Zu themenoffenen bzw. -übergreifenden Studien Kap. 2.3 und Kap. 7.1.

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Gesellschaft in Angst?

• •



leugnen oder zu relativieren (Renn et al. 2007: v.a. 62 und 135) – was risikokonstruktivistische Positionen in aller Regel allerdings auch nicht tun. Sie betonen vielmehr die soziale Konstruktion und Selektion dessen, was als Risiko gilt, sowie deren Funktionen und Folgen auch für Macht- und Herrschaftsverhältnisse.6 Wie wird das Soziale des Risikos bzw. von (Un-)Sicherheit und Angst gefasst? Wie werden soziale Ungleichheiten konzipiert? In meinen ersten empirischen Analysen fand ich nicht nur Hinweise für die Relevanz sozialer Ungleichheiten für die lebensweltliche Relevanz von Angst, sondern auch für Othering im Kontext der Konstruktion von Gefährlichem und Gefährdetem. Welche methodologischen und methodischen Hinweise werden gegeben, um gegenstandsangemessen zu forschen?

Die diesbezüglichen Ideen bieten für mich Elemente für eine Soziologie der Angst als lebensweltlichem Phänomen, die es in Kapitel 3 zu integrieren gilt.

2.2

Gesellschaftstheorien

Die Sociology of Risk and Uncertainty kennt drei zentrale Gesellschaftstheorien, die in Zeiten, in denen Risiko vornehmlich ein naturwissenschaftliches, technisches und psychologisches Thema war, sozialwissenschaftliche Perspektiven auf dieses Phänomen eröffneten und damit einer sozialwissenschaftlichen Risiko- bzw. Sicherheitsforschung den Weg bereiteten (vgl. Bonß/Zinn 2016). Es handelt sich dabei um Becks Risikogesellschaft, Douglas’ Kulturtheorie und gouvernementalitätstheoretische Ansätze im Anschluss an Foucault, die im Feld der Sociology of Risk and Uncertainty kanonisiert erscheinen und fast schon orthodoxen Charakter haben (Horlick-Jones in Heyman/Brown 2013, s. auch Zinn 2015b). Diese makrosozialen Beiträge bieten wichtige Grundlagen dafür, die interessierenden Phänomene Risiko, (Un-)Sicherheit und Angst soziologisch zu fassen, und liefern einen Denkrahmen und Interpretationsmöglichkeiten für empirische Forschungen. Dies gilt für meine Forschung ebenso wie für die in den folgenden Unterkapiteln vorgestellten lebensweltlichen und reflexiven Forschungen, die darauf Bezug nehmen. Auch um diese Grundlagen explizit zu machen, stelle ich die zwei für die weitere Arbeit zentralen gesellschaftstheoretischen Ansätze vor, die in 6 Genau genommen müsste man zwischen Risiko- bzw. Sicherheitsontologie (was ist Risiko bzw. Sicherheit?) und -epistemologie (was können wir darüber wissen?) unterscheiden (Jarvis/Lister 2013, Rosa 1998). Das ist aber nicht möglich, da die Autor*innen ihren Ansatz nicht immer präzise einordnen.

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

der Sociology of Risk and Uncertainty auch als Großtheorien bezeichnet werden7 : zum einen Ulrich Becks einleitend genannte Zeitdiagnose der Risikogesellschaft, die er später zur Weltrisikogesellschaft erweiterte und theoretisch in der Reflexiven Modernisierung verortete, zum anderen Mary Douglas’ Kulturtheorie des Risikos, die auf ihren vorigen kulturanthropologischen Arbeiten über Reinheit und Gefährdung aufbaut. Die beiden Ansätze gelten als weithin gegenläufig und eignen sich somit, die Spannweite des Diskurses zu repräsentieren (vgl. Krohn/Krücken 1993). Obwohl beide Ansätze zum Kanon des Forschungsfeldes gehören (z.B. Bonß 1995, Lupton 2013a, Zinn 2004, 2008a, 2015b), bietet eine Re-Lektüre die Chance, bisher wenig beachtete Aspekte zu Tage zu fördern. Insgesamt werde ich in dieser Arbeit mehr an Douglas als an Beck anknüpfen, stelle Becks Theorie aber dennoch vor. Neben den genannten Gründen ist es mir wichtig, exemplarisch eine Zeitdiagnose der Gesellschaft in Angst umfassender als in der Einleitung (Kap. 1.1) vorzustellen.8

2.2.1

Beck: Risikogesellschaft

Auch drei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen ist Ulrich Becks Buch »Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne« (1986) ein Standardwerk soziologischer Risiko- und Sicherheitsforschung und in der englischsprachigen Forschung für einen bestimmten theoretischen Ansatz namensgebend geworden.9 Entsprechend stellt die Theorie der Risikogesellschaft den vermutlich bekanntesten theoretischen Ansatz der soziologischen Risiko- bzw. Sicherheitsforschung nicht nur im deutschsprachigen Raum dar (Zinn 2004, Bonß/Zinn 2016). Das heißt jedoch 7 Außen vor bleiben hier gouvernementalitätstheoretische Ansätze im Anschluss an Foucault, da sie zu meinem »Theorie-Methoden-Paket« nicht wesentlich beitragen. Zur Klärung bestimmter Aspekte sind sie aber hilfreich (s. Kap. 7.7, 8.1). 8 Dass Becks Diagnose der Risikogesellschaft zugleich eine Diagnose der Angstgesellschaft ist, wird im Folgenden deutlich. Denn mit dem systemischen Wandel, der bei Beck im Vordergrund steht, geht ein Wandel der Rahmenbedingungen alltäglicher Lebensführung und damit des Lebensgefühls der Individuen einher. Dabei weist Beck der Angst eine zentrale Bedeutung zu: Sie erscheint als typisches Gefühl unserer Zeit, dem in Bezug auf gesellschaftlichen Zusammenhalt eine tragende Rolle zukommt (vgl. Ahrens 2018: 54). Darüber hinaus spricht für Becks Analyse als Beispieldiagnose, dass sie – gerade auch im Vergleich zu Budes Ausführungen – insgesamt sehr elaboriert ist, nicht zuletzt durch die Einbettung in die Theorie der Reflexiven Modernisierung. 9 Unter den Ansatz der Risikogesellschaft wird auch Anthony Giddens (z.B. 1990 und 1991) gezählt (Lupton 2013a: Kap. 4), der von Beck inspiriert wurde (Burgess 2014: 62). Ähnlich argumentiert zudem Zygmunt Bauman in seiner Theorie der Flüchtigen Moderne (z.B. 2000, 2005, 2006), wenn auch mit stärkerem Gewicht auf der Dimension Uncertainty und geringerer Rezeption in der Sociology of Risk and Uncertainty. Aufgrund von Baumans und Giddens Nähe zu Becks Argumentation und trotz Differenzen in manchen Aspekten gehe ich nicht näher auf diese beiden Autoren ein, da eine modernisierungstheoretische Perspektive des Wandels und die Individualisierungsthese bei Beck ausreichend deutlich werden.

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nicht, dass die darin entfalteten Überlegungen ausschließlich Zustimmung fanden. Zwar traf Beck mit seiner kurz nach der Katastrophe von Tschernobyl veröffentlichten Diagnose einen Zeitgeist, dem er die passenden Begriffe lieferte. Doch soziologisch wurde und wird seine Analyse aus ganz verschiedenen Richtungen kritisch diskutiert, was Jens Zinn (2004) zu der Feststellung veranlasste, dass Beck eher zur Abgrenzung als zustimmend zitiert werde. Jedoch hat Beck diese Kritiken aufgenommen und bei seinen weiteren Arbeiten beherzigt (z.B. Beck 2007a: 9ff.). Es wäre daher nachlässig, bei der »Risikogesellschaft« oder gar nur ihrem ersten Kapitel stehen zu bleiben, wie es teils geschieht, und seine Ausführungen zur »Weltrisikogesellschaft« (Beck 2007a und 2007b) sowie die sozialtheoretische Verortung in der Reflexiven Modernisierung (Beck/Bonß/Lau 2004) außen vor zu lassen.

Zäsur durch Kontinuität: Risikogesellschaft durch Modernisierungserfolge Becks Ansatz lässt sich der Modernisierungstheorie zuordnen: Er beschreibt einen Wandel westlicher Gesellschaften, gar einen sich abzeichnenden Epochenbruch, wobei sich aktuell die alte wie die neue Epoche überlagern (vgl. auch Beck 1989). Ihm geht es entsprechend darum, »gegen die noch vorherrschende Vergangenheit die sich heute schon abzeichnende Zukunft ins Blickfeld zu heben.« (Beck 1986: 12) Die historische Besonderheit dieses Wandels liegt nun in der fortschreitenden und sich beschleunigenden Modernisierung, d.h. es ist die Kontinuität, die für Beck zu einem Metawandel und zu einer Zäsur zwischen erster und zweiter Moderne führt: »Die Transformation von der Ersten Moderne ‒ definiert durch kollektive Lebensmuster, Vollbeschäftigung, National- und Sozialstaat, ausgeblendete und ausgebeutete Natur ‒ zur Zweiten Moderne ‒ definiert durch ökologische Krisen, zurückgehende Erwerbsarbeit, Individualisierung, Globalisierung und Geschlechterrevolution ‒ ist in doppelter Weise problematisch.« (Beck 1999: 23) Problematisch ist dieser Metawandel erstens, weil er die Gesellschaft mit den unvorhergesehenen Folgen der Erfolge der Moderne konfrontiert.10 So wurde das Kühlmittel FCKW ursprünglich als ›Wunderstoff‹ gesehen, bevor sein Einfluss auf den Klimawandel erkannt wurde. In ähnlicher Weise ist technologischer Fortschritt im Paradigma der Moderne positiv besetzt, befördert jedoch auch das Ende der Arbeit und unterminiert damit das (männliche) Normalarbeitsverhältnis, das der industriegesellschaftlichen Moderne zugrunde liegt (Beck 1999: 20, Beck 2007a: 54). 10 Daher auch der Begriff Reflexive Modernisierung, der nicht im Sinne einer Selbstreflexion verstanden werden darf: »In der Zweiten Moderne wird der Modernisierungsprozeß insofern reflexiv, als er zunehmend mit den gewollten und ungewollten Folgen seiner Erfolge konfrontiert ist.« (Beck 1999: 25)

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Die Risiken der Risikogesellschaft resultieren also gerade nicht aus einem zivilisatorischen Versagen, im Gegenteil: Eine erfolgreiche Modernisierung verringert nicht, sondern erzeugt Risiken, die Beck entsprechend als »fabrizierte Unsicherheit« (1994b: 469) charakterisiert und als neue Risiken bezeichnet. Damit geht es ihm um eine neue Qualität von Risiken, die die neuen von den alten Risiken, z.B. Armut, unterscheidet. Die neuen Risiken sind nämlich erstens mit menschlicher Verantwortung verbunden, wenn auch nicht intendiert, zweitens in ihrer Wirkung in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht entgrenzt und drittens nicht kalkulierbar, vorhersehbar, kompensier- und versicherbar. Zweitens führt dieser Metawandel auch dazu, dass die institutionalisierten Antworten der ersten Moderne, nämlich »mehr und bessere Technik, mehr und besseres wirtschaftliches Wachstum, mehr und bessere Wissenschaft, mehr und bessere funktionale Differenzierung« (Beck 1986: 26) nicht mehr greifen. Der Fortschrittsoptimismus der ersten Moderne schwindet. Nun gilt: »mehr Wissen, weniger Kontrolle« (Beck 1994b: 469, Herv. i. Orig.). Dadurch nährt sich die Erwartung an das Eintreten des Unerwarteten.11 Kurzum: Das bislang Selbstverständliche, die Leitideen der Gesellschaft stehen zur Disposition; das »Risikoregime« (Beck 1999: 73) hält in allen Feldern Einzug und ersetzt die Sicherheit, Gewissheit und klaren Grenzen der ersten, industriegesellschaftlichen Moderne durch Unsicherheit, Ungewissheit und Entgrenzung der zweiten, risikogesellschaftlichen Moderne (ebd.). Was macht die Risiken der Risikogesellschaft nun in thematischer Hinsicht aus?

Strukturell bedingte Unsicherheit und Angst als Lebensgefühl Beispiele für neue Risiken sind ökologische, technologische und ökonomische Nebenfolgen-Katastrophen, die von niemandem intendiert waren. Paradebeispiele dürften Reaktorkatastrophen sowie der Klimawandel sein; hierunter fällt aber auch die globale Finanzkrise. Als weiteren Typus eines neuen Risikos hat Beck ferner in seinen jüngeren Publikationen Terrorismus identifiziert, der allerdings keine Nebenfolgen-, sondern eine intendierte Katastrophe darstellt (2007a: 49). Diese neuen Risiken, die in katastrophenförmiger Weise auftreten und in ihrer Gefährdung von Leib und Leben dem Bereich Unsafety zuzuordnen sind, sind zentral für die Rezeption von Becks Werk, auch in der Sociology of Risk and Uncertainty ‒ sicherlich auch, weil Beck selbst sie im ersten Teil der »Risikogesellschaft« (1986) und in der »Weltrisikogesellschaft« (2007a) in den Vordergrund 11 Bonß hat mit Rekurs auf Parsons die Perspektive der ersten Moderne im Umgang mit den alten Risiken als »Standardposition der Moderne« bezeichnet: Unsicherheit wird als grundlegende und negative menschliche Erfahrung gesehen, die aber gemäß dem modernen Fortschrittsglauben überwunden werden kann: »frei nach der Devise: Zeit und Geld vorausgesetzt, lässt sich alles sicher machen« (Bonß 2011: 55). In der reflexiven Moderne ändert sich dies angesichts der neuen Risiken.

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rückt.12 Allerdings zeigt eine systematische Durchsicht seiner Publikationen, auch schon der »Risikogesellschaft« (1986), dass die Risikogesellschaft auch durch Unsicherheiten charakterisiert ist, die ich den Dimensionen Uncertainty und Insecurity zuordne (vgl. auch Beck 2007a: 37, Bonß/Zinn 2016, Zinn 2011). Uncertainty als Verunsicherung von Orientierungsmustern verweist meiner Lesart nach auf das, was Beck als Entselbstverständlichung bezeichnete: Im Metawandel der Reflexiven Modernisierung werden die alten Leitlinien der Gesellschaft selbst brüchig und zweifelhaft, und dies betrifft so verschiedene Aspekte wie das bereits erwähnte Veralten moderner Glaubenssätze an die Beherrschbarkeit von Zukunft, aber auch das Brüchigwerden von Selbstverständlichkeiten der alltäglichen Lebensführung wie die Orientierung an Normalbiographien, an männlicher Beschäftigung in einem Normalarbeitsverhältnis und an traditionellen Geschlechterrollen.13 Diese Entwicklungen hat Beck, auch in Zusammenarbeit mit Elisabeth Beck-Gernsheim, als »Individualisierung« gefasst (Beck 1986: zweiter Teil, Beck/Beck-Gernsheim 1994b). Mit Individualisierung ist nicht gemeint, dass es zu einem Mehr an Befreiung, Autonomie und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten käme. Beck und Beck-Gernsheim geht es um Individualisierung als Teil eines Strukturwandels: einerseits um die Tendenz der »Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen« (Beck/Beck-Gernsheim 1994a: 11), also eine Enttraditionalisierung, die die alten Orientierungsrahmen und Leitbilder obsolet macht und die Individuen freisetzt (Beck 1994a). Andererseits entsteht dadurch aber auch kein Anything Goes, denn die Menschen sehen sich neuen institutionellen Anforderungen gegenüber, die sie nicht mehr als Familie etc. adressieren, sondern als Individuen, die ein eigenes Leben zu führen haben (Beck/Beck-Gernsheim 1994a: 12, Beck 2010: 27). Beck (ebd.) spricht daher im Nachhinein davon, dass der Begriff »institutionalisierte Individualisierung« der wohl treffendere Begriff ist. Neu ist an diesem Individualisierungsschub, dass die Aufforderung, ein eigenes Leben zu führen, nicht mehr nur wenigen zugemutet wird (ebd.: 21). Denn vom Individuum der zweiten Moderne wird die aktive und eigenverantwortliche Gestaltung der Biographie bzw. »Bastelbiographie« (Beck/Beck-Gernsheim 1993) gefordert ‒ obgleich souveräne Entscheidungen beinahe unmöglich sind. Das Brüchigwerden von Biographien speist sich auch aus der »Brasilianisierung« von Erwerbsarbeit (Beck 1999: Kap. I), die ich der Dimension Insecurity zu12 Anschlussfähig an diese Themen und zudem paradigmatisch hierfür ist die Betrachtung sogenannter kritischer Infrastrukturen in der BMBF- und EU-geförderten Sicherheitsforschung. 13 Becks Analyse lässt sich weiter pointieren: Nicht nur ist es die Modernisierung der ersten Moderne, die Unsicherheiten bringt. Auch und vielleicht noch mehr sind es die Sicherheitsgewohnheiten und -erwartungen der ersten Moderne, die die implizite Bewertungsfolie dafür bieten, dass die zweite Moderne als unsichere Moderne erscheint. Gäbe es die Sicherheit(skonstruktion) der ersten Moderne nicht, so würde die zweite nicht als neuartig unsicher, sondern als gewöhnlich (un-)sicher erscheinen und wäre keine Zeitdiagnose wert.

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rechne. Diese ist ebenfalls als Nebenfolge von Modernisierungserfolgen zu verstehen, z.B. als Folge der Globalisierung des Kapitalismus und technologischer Neuerungen, die menschliche Arbeit ersetzen. Arbeit wird nicht nur weniger, sie wird auch atypisch: »Es ist der Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft. Damit breitet sich im Zentrum des Westens der sozialstrukturelle Flickenteppich aus, will sagen: die Vielfalt, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit von Arbeits-, Biographieund Lebensformen des Südens.« (Ebd.: 8) Der Fahrstuhl fährt nun nicht mehr alle eine Etage nach oben, sondern nach unten. Die Verunsicherung multipliziert sich, weil das Lebensmodell der ersten Moderne zur Disposition steht. Denn Arbeit ist darin »zum fast alternativlosen Wert- und Integrationskern moderner Gesellschaften geworden« (ebd.: 17) und damit zum Kern von Identität. Insgesamt entwickelt Beck also in seiner (Welt-)Risikogesellschaft eine Zeitdiagnose der strukturell bedingten generalisierten Unsicherheit, die die ontologische Sicherheit der ersten Moderne konterkariert (2007a: 93). Die aus all diesen verschiedenen Entwicklungen resultierende planetarische Unsicherheit trifft laut Beck das Individuum mit voller Wucht: »Der Restrisikoempfänger der Weltrisikogesellschaft ist das Individuum«. Auf dieses wird von Politik und Märkten »die ultimative Verantwortung des Entscheidens« abgewälzt (Beck 2007a: 347). Aus diesen veränderten Rahmenbedingungen leitet Beck nun ein bestimmtes subjektives Erleben ab, wenn er etwa konstatiert: »Angst bestimmt das Lebensgefühl« (ebd.: 28). Im Gegensatz zur industriegesellschaftlichen Moderne, in der die treibende Kraft »Ich habe Hunger!« war und in der es zunächst um die Linderung von Not und dann um die gerechte Verteilung der erwirtschafteten Güter ging, geht es in der risikogesellschaftlichen Moderne mit ihrer Stimmung des »Ich habe Angst!« um die Verteilung der Gefahren (Beck 1986: 66). Damit verändern sich sowohl der Vergemeinschaftungsmodus – die Vergemeinschaftung aus Not wird abgelöst durch diejenige aus Angst – und die Werteordnung der Gesellschaft: An die Stelle von Gleichheit und Freiheit als zentralen Werten tritt Sicherheit (ebd.). Dies führt laut Beck auch zu einer neuen politischen Logik, die sich mit »Safety First« bilanzieren lässt und die Tür für eine politische Instrumentalisierung öffnet (2007b: 62, 66).

Soziale Ungleichheiten in der Risikogesellschaft: Demokratisierung vs. Verschärfung Becks stellte in der »Risikogesellschaft« die These auf, dass Not hierarchisch und Smog demokratisch sei (1986: 48), dass aus der geteilten Angst vielleicht sogar eine Solidarität aus Angst werden könne (ebd.: 65f.) und ein »Ende der anderen« bringen könnte (1989: 4). Diese These zur soziologischen Grundfrage, wie soziale Kohäsion möglich ist, wurde kritisch diskutiert ‒ auch von Beck selbst. So spekuliert er selbst an anderer Stelle, dass konstruierte Andere auch als »Blitzableiter«

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für Verunsicherung dienen könnten (1989: 9; vgl. auch 2007a: 348), und betont somit das Ungleichheiten verschärfende Potenzial von Unsicherheit. Trotz mancher Uneindeutigkeit lässt sich im Ergebnis festhalten, dass er seine anfängliche These einer egalisierenden Wirkung von entgrenzten Risiken revidiert hat. Denn zum einen betont er später, dass soziale Ungleichheiten nicht verschwinden, wohl aber im Zuge der Individualisierung sozialer Ungleichheit unsichtbar werden, da die altbekannten Formen von Klasse und Stand wegschmelzen (1994a). Zum anderen hat er das Konzept der sozialen Verwundbarkeit eingeführt, mit dem unterschiedliche Betroffenheiten von entgrenzten Risiken gefasst werden können ‒ und damit auch die weltweite Verschärfung sozialer Ungleichheit, die u.a. durch den Klimawandel bedingt ist: »Soziale Verwundbarkeit ist ein Sammelbegriff für die Mittel und Möglichkeiten, die Individuen, kleineren und größeren Gemeinschaften oder sogar ganzen Bevölkerungen fehlen, um mit den Klimagefahren ebenso wie mit den Finanzrisiken fertig zu werden.« (Beck/Poferl 2010: 15, s. auch Beck 2008) Die jeweiligen Mittel und Möglichkeiten sind dabei Ausdruck von Machtbeziehungen, also sozialen Verhältnissen und Prozessen. Anders herum argumentiert kommt den Mächtigen die Möglichkeit zu, die Nebenfolgen ihres Tuns zu externalisieren und damit etwa Bewohner*innen ärmerer Länder aufzubürden. Diese Praxis kommt allerdings in Zeiten wachsender Gleichheitsforderungen (Stichwort: Menschenrechte) nicht ohne rhetorische Begleitstrategie aus. Beck benennt diese wie folgt: »Das Leistungsprinzip legitimiert nationale Ungleichheit, das Nationalstaatsprinzip legitimiert globale Ungleichheit (in anderer Form).« (2008: 13, Herv. i. Orig.) Mit letzterem ist außerdem ein »institutionalisiertes Wegsehen« (Beck/Poferl 2010: 12) verbunden, welches das Elend der Welt aus dem Blick rückt. Und dafür ist die Soziologie mitverantwortlich, wenn sie mit einem methodologischen Nationalismus als Beobachtungsperspektive die historisch kontingente, aber naturalisiert erscheinende nationalstaatliche Akteursperspektive unreflektiert reproduziert (ebd.: 13ff.). Um die Weltrisikogesellschaft angemessen fassen zu können, ist entsprechend eine kosmopolitische Soziologie notwendig (dazu auch Beck 2008).

Risikobegriff: ein »konstruktivistischer Realismus« Eng verbunden mit der Einführung der Machtfrage in Becks Werk ist auch die Frage, wie Beck Risiken genau fasst. Die »Risikogesellschaft« von 1986 ebenso wie die »Gegengifte« von 1988 fokussieren einen Risiko-Objektivismus (vgl. auch Krohn/Krücken 1993). Auch stellt Beck in späteren Publikationen nochmals klar, dass Gefährdungen für Leib und Leben sowie Leiden und Sterben von Menschen nicht zu leugnen und zu relativieren sind (2007a: 166). Gleichzeitig betont er bereits in der »Risikogesellschaft« die sozialen Dimensionen, wenn er zum einen die neuen Risiken als Nebenfolgen der Modernisierung, d.h. als menschgemacht, sieht

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und zum anderen feststellt, dass die neuen Risiken wie radioaktive Strahlung nicht unmittelbar wahrnehmbar sein müssen, sondern umso stärker wissensabhängig sind. Jedoch gilt Expert*innenwissen nicht mehr als eindeutig und unbezweifelbar (1986: 70), womit Beck implizit seine Risiko-Epistemologie offenbart. Gleichzeitig entdifferenziert Beck aber auch zwischen der Realität und ihrer Repräsentation. So schreibt er in der englischen Version der »Risikogesellschaft« in Abwandlung des Thomas-Theorems: »if people experience risks as real, they are real as a consequence.« (1992: 77) Diese sozialkonstruktivistischen Anteile stärkt er meiner Lesart nach in seiner weiteren Arbeit: In der »Weltrisikogesellschaft« fasst Beck seine Position unter das Stichwort des »sozialkonstruktivistischen Realismus« (2007a: 167). Damit bezweckt er, die radikalen Versionen von Risikorealismus und Risikokonstruktivismus zu meiden und beides anzuerkennen: einerseits, dass wir in einer Gesellschaft leben, die mit entgrenzten und irreversiblen Zerstörungen und Schädigungen konfrontiert ist, und andererseits, dass gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert ist (ebd.: 166). Hierfür ruft er u.a. Bruno Latour in Erinnerung, der ebenfalls auf den falschen Dualismus von Natur und Gesellschaft hingewiesen hatte (ebd.: 170). Bezüglich dieser Konstruktion von Wirklichkeit spricht Beck insbesondere im Zusammenhang mit der Kommunikation über mögliche Terroranschläge von der »Inszenierung« (Beck 2007a: 30) und betont zudem, dass es sich hierbei nicht nur um die diskursive, symbolische Herstellung sozialer Wirklichkeit handle, sondern auch um die materiale, produzierende bzw. die Natur zerstörende (ebd.: 169f.). Mit diesem Einbezug der sozialen Konstruktion von Risikowirklichkeiten stellt sich auch die Frage, wer auf welche Weise wirksam ein Risiko definieren kann. Zwar grenzt sich Beck von Douglas’ weiter unten skizzierten Position ab, dass Risikodefinitionen immer der Seite der Macht zuspielten (2007b: 70). Doch insgesamt thematisiert er in der Weltrisikogesellschaft (2007a: 347) die Definitionsfrage auch als eine Frage von Konflikten und Macht (ausführlich: ebd., Kapitel II). Damit gelangt Beck von einer ursprünglich stark risiko-objektivistischen Position zu einer Position des Sowohl-als-auch ‒ was teils als unentschieden kritisiert wurde (Burgess 2014: 62).

Kritische Würdigung Becks Werk fand viel Aufmerksamkeit, Zuspruch wie Kritik ‒ auch über die genannte Diskussion um sein Risikoverständnis hinaus. Ich stelle hier die für meine Arbeit zentralen Aspekte vor, die Beck v.a. als Ideengeber würdigen. Erstens bietet Becks Theorie der (Welt-)Risikogesellschaft einen soziologischen Zugang zum Phänomen Risiko und daher viel Inspiration für das Forschungsfeld (für einen Überblick: Bonß/Zinn 2016), was auch die nachfolgend vorgestellten Ansätze demonstrieren. Zugleich habe ich Becks Werk hier als Beispiel für eine Zeit-

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diagnose der Unsicherheit und Angst analysiert. Auch wenn Beck in seinen Ausführungen zur (Welt-)Risikogesellschaft stark auf Safety-Themen fokussiert, bietet er in der Gesamtschau doch eine umfassende Perspektive auf Unsicherheit, die mit den Konzepten der Individualisierung und Brasilianisierung auch die Dimensionen Uncertainty und Insecurity umfasst. Und obwohl diese Beck’schen Begriffe nur teils bzw. nicht in gegenwärtige Debatten zu (Un-)Sicherheit und Angst Eingang gefunden haben, bezeichnen sie Phänomene, die nach wie vor diskutiert werden, wenn auch unter anderen Stichworten, nämlich Responsibilisierung, Prekarisierung und biographische Unsicherheit.14 In Bezug auf Prekarisierung kommt Beck das Verdienst zu, dass er nicht wie die frühe Prekarisierungsdebatte im Anschluss an Robert Castels (2000) These der Wiederkehr der sozialen Unsicherheit und der sozialen Frage einem androzentrischen Bias folgt, sondern geschlechtersoziologisch informiert ist. Zweitens ist allerdings zu monieren, dass Beck begrifflich unklar bleibt. Neben seiner Risikoontologie wurde auch sein Risikobegriff kritisch diskutiert. So schreibt Luhmann über soziologische Zeitdiagnosen, die mit der Semantik des Risikos arbeiten, dass dies »wenig begriffsgenau und mehr in der Art eines formulierten Unbehagens geschieht« (Luhmann 1990: 138). Tatsächlich wird der Begriff in der »Risikogesellschaft« (1986) recht undefiniert verwendet: Risiko erscheint als die Antizipation der Katastrophe. Entsprechend wurde kritisiert, dass dieser Risikobegriff kaum soziologisch ist, da in dessen Zentrum bspw. technische Gefährdungen stehen, die allein hinsichtlich ihrer sozialen Auswirkungen betrachtet werden; Risiken selbst werden hingegen nicht soziologisch konzipiert, etwa handlungstheoretisch (Bonß 1995: 16f.). Auf Luhmanns (1990, 1991) und Bonß’ (1995) Ausarbeitungen, die Risiko von Gefahr differenzieren und dabei Risiko u.a. als entscheidungsabhängig und zurechenbar, Gefahr als entscheidungsunabhängig und nicht zurechenbar bestimmen, geht Beck immerhin teilweise ein. So betont er in seinen neueren Publikationen, dass die neuen Risiken menschgemacht, wenn auch nicht (als Nebenfolgen) intendiert sind (2007b: 63). Daneben arbeitet er heraus, wie die neuen Risiken von den Mächtigen verursacht werden, denen demnach eine Entscheidungsmacht zukommt. Diese Risiken werden zudem räumlich und zeitlich als Gefahren an andere exportiert (2008: 36). Auch der Angstbegriff bleibt relativ unklar. Angst erscheint als subjektive Reaktion auf Risiken, das heißt als Folge eines makrosozialen Wandels. Das Phänomen selbst wird allerdings nicht näher bestimmt und bleibt damit eine bloße Ableitung »top down« und eine Behauptung – die allerdings große Resonanz erfuhr, wie Ahrens (2018: 55) in seinem Überblick zu soziologischen Perspektiven auf 14 Zum Konzept der Responsibilisierung z.B. O’Malley 2016 aus gouvernementalitätstheoretischer Perspektive, Arnoldi 2009: 65 und Olofsson et al. 2014, zu Prekarisierung z.B. Castel 2000 und Motakef 2015, zu biographischer Unsicherheit z.B. Wohlrab-Sahr 1993.

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Angst feststellt: »Der Begriff [Angst, J.E.] und auch seine intellektuelle Wirkung leben auch bei Beck offenbar von affektiven Assoziationen, die daran angeschlossen werden können und die sie beim Leser offenbar ganz unmittelbar auslösen.« Insofern kann man sagen, dass Beck mit seiner »Risikogesellschaft«, die zugleich eine Angstgesellschaft ist (vgl. auch ebd.: 53), den Zeitgeist getroffen hat. Drittens und trotz dieser spontanen Plausibilität von Becks Thesen blieb die empirische Frage offen, was Beck auch selbst im Blick hatte. So formuliert er als Anspruch im Vorwort der »Risikogesellschaft«, dass es sich um »ein Stück empirisch orientierter, projektiver Gesellschaftstheorie ‒ ohne alle methodischen Sicherungen« handle (1986: 13, Herv. i. Orig.), und vermerkt in der »Weltrisikogesellschaft«, dass die praktischen, lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen empirisch noch zu erforschen seien (2007a: 362, 367). Dem ist unbedingt zuzustimmen, und dieser Kritikpunkt trifft nicht nur Becks Zeitdiagnose. Vielmehr sehen sich Zeitdiagnosen im Allgemeinen mit der empirischen »Gretchenfrage« (Nunner-Winkler 2016) konfrontiert, wie ich einleitend dargestellt habe (Kap. 1.2). Entsprechend setzten sich einige Studien zum Ziel, die empirische Wirklichkeit der Zeitdiagnose auszuleuchten, darunter der von Beck selbst geleitete Sonderforschungsbereich Reflexive Modernisierung in München, aber auch die lebensweltlichen Studien, die in Kapitel. 2.3 vorgestellt werden. Die Kritik der mangelnden empirischen Fundierung lässt sich daher auch positiv wenden: Beck regte zahlreiche empirische Studien an. Viertens gilt es, wie empirische Studien zeigen, das Verhältnis individueller Entscheidungen und sozialer Routinen zu überdenken. Denn von Becks Entstandardisierungs- und Individualisierungsthese angeregt sind auch einige Forschungen zum Thema biographische Sicherheit in Zeiten der Reflexiven Moderne entstanden (z.B. Bonß/Zinn 2003 und 2005) ‒ eine Perspektive, die in Kapitel 7 dieser Arbeit wichtig wird, die Sicherheit im Lebensverlauf untersucht. Zentral ist für mich in diesem Kontext die Kritik Günter Burkarts (1993a, 1993b, 1994). In seinen lebenslauftheoretischen, beziehungs- und familiensoziologischen Studien setzte er sich mit der Annahme auseinander, dass im Zuge der Enttraditionalisierung biographische Entscheidungen nun allen Individuen abverlangt würden. Seine qualitativen Untersuchungen der ›Entscheidung‹ zur Elternschaft zeigen jedoch, dass die Annahme der Omnipräsenz individueller Entscheidungen nicht nur Individuelles, Kognitives und Reflexives überbetont, sondern auch sozialstrukturelle und -kulturelle Differenzen vernachlässigt. Darüber hinaus kann der Normallebenslauf weiterhin hohe Gültigkeit beanspruchen (s. Kap. 7). Es gilt daher einen Rahmen zu finden, der Individualisierung im Sinne von Responsibilisierung und soziale Institutionen, Routinen und Präreflexives als Normalfall sozialer Wirklichkeit zusammendenkt und dabei soziale Ungleichheiten konsequent empirisch berücksichtigt. Hierfür liefert Beck mit seiner Forderung, den methodologischen Nationalismus zu überwinden, gleichwohl eine wichtige Anregung.

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Fünftens ist Becks konstruktivistischer Realismus als pragmatische Perspektive prinzipiell einleuchtend; ich sehe aber noch Bedarf, die konstruktivistischen Anteile zu stärken. Denn trotz seiner sozialkonstruktivistischen Anleihen steht meinem Verständnis nach im Fokus seines Interesses herauszuarbeiten, dass Risiken strukturell bedingt relevant sind. Betont man jedoch stärker als Beck die sozialkonstruktivistische Komponente, so lautet der Kern einer Zeitdiagnose der Angst nicht, dass Risiken omnirelevant sind, sondern als solche erst konstruiert, relevant gemacht und ggf. wahrgenommen werden. Diese Idee steht im Zentrum von Barry Glassners (1999) und Frank Furedis (2007) Arbeiten zur »Culture of Fear«. Mary Douglas betont das Kulturelle in Verbindung mit einer strukturalistischen Perspektive.

2.2.2

Douglas: Kulturtheorie des Riskos

Mit Mary Douglas’ kulturtheoretischem Ansatz soll nun derjenige sozialkonstruktivistische Ansatz vorgestellt werden, der für die Begründung sozialkonstruktivistischer Perspektiven in der Risikoforschung zentral war (Burgess 2014). Douglas selbst als britische Anthropologin hatte schon in ihren vorigen religionsanthropologischen Untersuchungen afrikanischer Stammesgesellschaften zu »Reinheit und Gefährdung« (1985 [1966]) das Thema Risikowahrnehmung behandelt. Fraglich war, ob sich die dabei gewonnenen Erkenntnisse auch auf westliche Gesellschaften übertragen ließen (vgl. Douglas 1992: 10f.). Dieser Frage ging sie zusammen mit dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Aaron Wildavsky nach (Douglas/Wildavsky 1982 und 1993). Dabei standen sie vor einer ähnlichen Ausgangslage wie Beck, nämlich dass in einer Gesellschaft, die eigentlich so sicher wie keine vorige Gesellschaft ist, Unsicherheit zu einem relevanten Thema wird: »Was macht den Amerikanern angst [sic!]? Nicht viel eigentlich, bis auf die Nahrung, die sie essen, das Wasser, das sie trinken, die Luft, die sie atmen, der Boden, auf dem sie leben, und die Energie, die sie verbrauchen. In dem erstaunlich kurzen Zeitraum von 15-20 Jahren hat sich die Zuversicht in die physische Welt in Zweifel verwandelt. Wissenschaft und Technologie, einst die Quelle von Sicherheit, sind zu einer Quelle von Risiko geworden. Was kann in so kurzer Zeit passiert sein, um eine so scharfe Reaktion auszulösen?« (Douglas/Wildavsky 1993: 123) Trotz einem ähnlichen diskursiven Bezugspunkt wie Beck kommen Douglas und Wildavsky zu anderen Antworten auf das Sicherheitsparadox. Wäre ihr Buch nicht schon vier Jahre vor Becks »Risikogesellschaft« erschienen, ließe es sich als gezielter Gegenentwurf dazu lesen (insbesondere Douglas/Wildavsky 1982: Kap. 1). Diese andere Perspektive liegt im unterschiedlichen theoretischen Hintergrund begründet: Während Beck modernisierungstheoretisch verortet ist, schließen Douglas und Wildavsky an Douglas‘ kulturanthropologische, genauer strukturfunktionalistische und u.a. von Durkheim inspirierte Perspektive an. Ihnen zufolge lässt

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

sich die gegenwärtige gesellschaftliche Beschäftigung mit Risiken nicht als Ausdruck neuer Risiken verstehen, sondern als neues Gewand für den alten funktionalen Kern der Aufrechterhaltung sozialmoralischer Ordnung.

Kontinuität in der Funktion, Wandel in der Semantik Die soziale Konstruktion von Risiko Eine zentrale Erkenntnis von Douglas und Wildavsky, für die sie auch im deutschsprachigen Kontext bekannt sind und rezipiert werden (z.B. Bonß 2011), ist ihre sozialkonstruktivistische Perspektive auf die Selektion von und den Umgang mit Risiken, die sie der damaligen Risikoforschung gegenüberstellten. Letztere war stark naturwissenschaftlich, technisch, aktuarisch und statistisch orientiert ‒ mit einem entsprechenden Risikobegriff als Produkt des Schadens und seiner Eintrittswahrscheinlichkeit (Adams 2016). Einem solchen objektiven bzw. objektivierten Risikobegriff der ›Expert*innen‹ wurde ‒ und wird auch noch immer ‒ die (mehr oder weniger defizitäre) subjektive, individuelle Sicht der ›Laien‹ gegenübergestellt, die es zugunsten einer rationaleren Risikowahrnehmung zu korrigieren gelte, etwa durch eine angemessene Risikokommunikation. Douglas bzw. Douglas und Wildavsky sahen diesen Ansatz in verschiedener Hinsicht kritisch. Erstens vermochten es ihrer Meinung nach die bisherigen Ansätze zur Risikowahrnehmung bzw. -akzeptanz nicht, eine überzeugende Verbindung zwischen dem physischen Risiko ›da draußen‹ und der psychischen Wahrnehmung ›da drinnen‹ herzustellen (Douglas/Wildavsky 1982: 9f.). Auch erschienen ihnen die wahrnehmenden Individuen in diesem Ansatz als zu passiv. Douglas und Wildavsky argumentieren, dass die Betrachtung kultureller Aspekte hier weiterhelfen könne. Zweitens und daran anschließend beklagen sie eine Überintellektualisierung und Individualisierung der wissenschaftlichen Diskussion um Risikowahrnehmung bzw. -akzeptanz. Damit kritisieren sie nicht nur, dass die ›Expert*innendefinitionen‹ von Risiko als Ausgangspunkt genommen und das Wissen der ›Laien‹ bestenfalls daran angepasst werden sollte. Sie stellen auch fest, dass dieser Ansatz die soziale Rationalität und lebensweltliche Routinisierung von ›riskantem Verhalten‹ außer Acht lasse ‒ und damit die Anpassungsfähigkeit von Individuen an Expert*innenratschläge überschätze: »The satisfactions in smoking and drinking and driving are not private pleasures. Even if they were, habits would still be hard to change because they are locked into life styles. But most habits, good and bad, are social, rooted in community life.« (Ebd.: 84) Drittens werde das Objekt selbst, also das Risiko, in bisherigen Ansätzen nicht als erklärungsbedürftig betrachtet. Dort werde angenommen, dass Risiken von allen wahrgenommen werden, wenn auch von manchen weniger rational bzw. mit einer geringeren Orientierung an Wahrscheinlichkeiten. In der Kulturtheorie des Risikos hingegen wird die Objektauswahl selbst erklärungsbedürftig (ebd.: 9ff.).

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Ausgangspunkt von Douglas’ und Wildavskys Argumentation ist daher, dass die Risikowahrnehmung ein grundlegend sozialer Prozess ist und jede Gesellschaft ihr eigenes »Risikoportfolio« hat (Douglas/Wildavsky 1982: 8), d.h. ihre eigene Definition dessen, was als relevantes Risiko betrachtet wird. Dieser soziale Prozess ist wesentlich kulturell geprägt. Als Veranschaulichung dient das Beispiel des Volks der Lele im heutigen Kongo, zu dem Douglas bereits in den 1950er Jahren geforscht hatte (z.B. Douglas 1963). Die Lele wurden von vielerlei Ungemach heimgesucht, das die westliche Beobachterin unter die Kategorie der »üblichen verheerenden Tropenkrankheiten« fasste (Douglas/Wildavsky 1993: 119). Die Lele selbst konzentrierten sich jedoch auf drei bestimmte Gefahren, die sie als relevant erachteten: vom Blitz getroffen zu werden, Unfruchtbarkeit und Bronchitis. Deutlich wird dabei, dass weder Merkmale der Gefahren für die Einschätzung als relevantes Risiko noch individuelle Vorstellungen von Risiken zentral sind, die etwa von einer risikoaversen oder risikoaffinen Persönlichkeitsstruktur geprägt wären (Wildavsky 1993). Vielmehr geht es hier um Kultur als zentralen Faktor, wobei Kultur im Sinne geteilter Werte und Überzeugungen verstanden wird. Jede Kultur definiert so ihr spezifisches Risikoportfolio. Funktionalismus: moralische Prinzipien und latente Funktionen Diese Konstruktionsleistung geschieht jedoch nicht willkürlich. Douglas kann nämlich klären, welche Gruppen welches Risikoportfolio aus welchen Gründen konstruieren ‒ und genau darin besteht m.E. die zweite zentrale Erkenntnis von Douglas. Ihr zufolge sind in heutigen westlichen Gesellschaften Risiken funktional für den moralischen Erhalt der jeweiligen Gemeinschaft. In strukturfunktionalistischer Tradition geht es dabei um die Herstellung und Bewahrung einer gemeinsamen Kultur als der Instanz sozialer Integration, um Institutionenbildung und -erhalt. Damit sind untrennbar jeweils spezifische normative Prinzipien verbunden, in die die Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft hineinsozialisiert werden: Wenn ein Mensch lange ausschließlich in einer dieser Umwelten lebt, wird er ihre Werte internalisieren und sie werden zum Teil seiner Persönlichkeit. Gleichwohl stehen bestimmte Werte und Institutionen aber auch immer zur Aushandlung und bedürfen der Herstellung von Übereinstimmung (Douglas 1985: 55), indem etwa die Nichtbeachtung von Regeln Folgen zeitigt (Douglas 1996: 35). Entsprechend geht es immer auch um die Definition von Normalität und Abweichung, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Verantwortung und Schuld (ebd.: 174, Douglas 1992). Dabei kann in manchen Fällen »blaming the victim« eine angemessene Strategie sein, um internale soziale Kontrolle zu erwirken; wenn es um die Stärkung von Loyalität geht, ist aber auch die Schuldzuweisung an einen äußeren Feind dienlich. Beides, so Douglas (1985: 59), fördert letztlich die Gemeinschaft.

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

Für diese Herstellung von sozialer Kohäsion erweisen sich in heutigen westlichen Gesellschaften Risikokonstruktionen als zentral. Als Risiko wird betrachtet, was die jeweilige sozial-moralische Ordnung und damit einen bestimmten Lebensstil bedroht: »Gemeinsame Werte führen zu gemeinsamen Ängsten (und implizieren eine Übereinkunft, sich vor anderen Dingen nicht zu ängstigen).« (Douglas/Wildavsky 1993: 121) Auseinandersetzungen um Risiken ‒ etwa um die Frage, ob Umweltrisiken existieren oder nicht oder wer gefährdet und wer gefährlich sei ‒ sind daher, im wahrsten Sinne des Wortes, Geschmacksfragen, wie Douglas in ihrem neueren Buch zu Denkstilen (1996) herausarbeitet. Denn Teil einer Kultur sind bestimmte Denk- und Lebensstile, die Geschmacksfragen beinhalten, wofür sie auch Bourdieu zitiert. Was Douglas also interessiert, ist weniger das Offensichtliche wie physische Gefährdungen, Schmutz und mangelnde Hygiene (1985 [1966]), sondern die latenten symbolischen bzw. kulturellen Klassifikationssysteme, die mittels bestimmter (Risiko-)Konstruktionen aufrechterhalten werden. So geht es ihr zufolge in all den Diskussionen um (akzeptable) Risiken im Kern nicht um physische Gefahren, sondern um die Gefährdung für bestimmte sozial-moralische Ordnungen und damit einhergehende Lebensstile. Kontinuität trotz Wandel Die (latente) sozial-moralische Funktion, die kulturelle Konstruktionen wie Risiko haben, ist nun auch die verbindende Linie zwischen den Lele und westlichen Gesellschaften. Unterschiedlich sind lediglich die konkreten Gegenstände bzw. Semantiken, anhand derer moralische Prinzipien hochgehalten werden: Sind es in früheren Gesellschaften Sünde und Verschmutzung, so ist es in heutigen säkularisierten westlichen Gesellschaften ein bestimmtes Risikoportfolio (Lupton 2013a: 67). Entsprechend kritisiert Douglas einen Modernisierungs- und Rationalisierungsglauben, der die westliche Moderne als gänzlich unterschiedlich von sogenannten vormodernen oder primitiven Kulturen behauptet und für sich selbst einen nahezu unverstellten Blick auf die ›wahren‹ Risiken in Anspruch nimmt. Es werde demzufolge von westlichen Kulturen zwar angenommen, dass sie die Natur wissenschaftlich entzaubert und dadurch weniger mystifiziert und neutraler sehen, doch weiterhin sei Natur politisch und moralisch eingebunden und auch der westliche Mensch habe keine privilegierte Sicht (Douglas/Wildavsky 1982: 30, 56f.). Neu ist für Douglas daher die Semantik des Risikos, nicht aber deren Funktion. Auch mögen auf einer physischen Ebene die Umwelt- und technologischen Gefahren neu sein, aber nicht, wie sie sozial genutzt werden (ebd.: 33; vgl. auch Douglas 1985: 54). Anders als Beck ist Douglas also nicht am technologischen Wandel selbst und seinen Nebenfolgen interessiert, sondern am kulturellen Wandel. Worin besteht dieser nun aber genau? Für den US-amerikanischen Diskurs um

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Umwelt- und technologische Gefahren fassen Douglas und Wildavsky (1993: 123) ihre Analyse wie folgt zusammen: »Unser Argument lautet, daß ein komplexes historisches Muster sozialer Veränderungen zu Werten geführt hat, die, obwohl wir sie als sektiererisch identifizieren, allgemeiner vertreten werden. Die sektiererische Einstellung hat drei positive Verpflichtungen: menschliche Güte, Gleichheit, Reinheit von Herz und Geist.« In diesem »sektiererischen« ‒ teils auch als egalitär orientiert bezeichneten ‒ Wertesystem, das dem Autorenteam zufolge für freiwillige Organisationen ohne offensichtliche Führung charakteristisch ist, erscheinen große Organisationen, Großkapital und eine hohe Marktorientierung als bedrohlich. Denn sie gefährden die soziale Gleichheit und ›Ursprünglichkeit‹, die sich auch als Hochhalten einer ursprünglichen, wilden Natur ausdrückt. Ein typisches Risikoportfolio umfasst daher für solche gesellschaftlichen Gruppen Umweltverschmutzung durch technologische Neuerungen. Zudem beobachtet Douglas einen politischen und öffentlichen Aufstieg des Risikodiskurses, sodass sich die Risikosemantik für die Artikulation moralischer Prinzipien anbietet (Douglas 1992: 15ff.)15

Soziale Ungleichheiten: der Kampf um die Hegemonie von Lebensstilen In Douglas’ Theorie geht es nicht alleine darum aufzuzeigen, dass Risiken sozial konstruiert sind. Vielmehr liefert sie auch eine Antwort auf die Frage »Who Fears What and Why?« (Wildavsky/Dake 1990), indem sie die unterschiedlichen Risikokonstruktionen bzw. Wertesysteme wie erwähnt unterschiedlichen sozialen Gruppen zuordnet bzw. sozialen Organisationsformen, Institutionen bzw. Typen sozialer Beziehungen, wie sie es nennt (Douglas 1996: X). Diese Gruppen streben nicht nur danach, gruppenintern ihre Wertvorstellungen bzw. Vorstellungen legitimer Lebensstile fortzuführen; in Auseinandersetzung mit anderen Gruppen kann es auch zu einem Konflikt um die kulturelle Hegemonie kommen, der sich in Risikodebatten niederschlägt (Douglas/Wildavsky 1982: 89f.). Die Benennung von Risiken ist somit kein neutraler Akt aus einer unabhängigen Perspektive heraus, sondern immer moralisch und politisch, da sie im Kontext bestimmter Lebensstile bzw. Werthaltungen zu verstehen ist. Idealtypisch unterscheidet Douglas zunächst zwei, später dann vier Gruppen mit spezifischen Werthaltungen. Diese charakterisiert sie entlang der Dimension »group« als Stärke des Gruppenethos, der Einbindung der Mitglieder ins Kollektiv und der Unterscheidung von »uns« und »denen«, und der Dimension »grid« als 15 Offen bleibt leider, wie sich dieser Aufstieg der Risikosemantik zu einer sozial und politisch wirkmächtigen Semantik genau gestaltete (vgl. auch Metzner 2002: 163). Hier können andere Beiträge mehr Aufschluss geben (z.B. Bonß 1995, Daase 2011a und 2011b, Kaufmann 1970, Luhmann 1990 und 1991), insbesondere gouvernementalitätstheoretische.

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

Ausmaß der sozialen Regulierung bzw. Autonomie individuellen Handelns (Douglas 1992: 196f.). Kombiniert man diese beiden Dimensionen, so ergibt sich eine Vier-Felder-Matrix der sozialen Organisationsformen. Vermittelt über die jeweiligen Wertesysteme ergeben sich spezifische Risikoportfolios und bestimmte Umgangsweisen damit. Drei dieser sozialen Organisationsformen wurden von Douglas und Wildavsky in Bezug auf Risiko empirisch näher beschrieben: Die bereits angesprochene »sektiererische« Gruppe zeichnet sich durch ein hohes Maß an Gruppenethos und an individueller Autonomie sowie ein niedriges Maß an sozialer Regulierung aus, verfolgt Egalität als Leitvorstellung und fürchtet die Gefährdung der Natur und durch Technologien. Hierarchische Gruppen mit einem hohen Maß an Gruppenethos und Regulierung sehen als herausragendes Risiko Devianz, etwa in Form von Kriminalität, da diese den Kontrollverlust des Gemeinwesens versinnbildlicht. Individualistische Gruppen, die ein geringes Maß an Gruppenethos und Regulierung aufweisen, fürchten eine Störung von Märkten am meisten, etwa durch Kriege (s. auch Wildavsky/Dake 1990). Diese Differenzierung in verschiedene Gruppen wird wiederum strukturfunktionalistisch gewendet: Während die »sektiererische« Gruppe der gesellschaftlichen Peripherie zugerechnet wird, die die Werte des Zentrums infrage stellt und hierüber soziokulturellen Wandel zu generieren versucht, stehen die anderen drei Gruppen im Zentrum und sorgen für institutionelle Stabilität. Douglas und Wildavsky verorten sich politisch dabei selbst im Zentrum (vgl. Metzner 2002: 125f.). Die jeweiligen Risikoverständnisse sind also Teil eines größeren Wertesystems und daher immer im »Gesamtzusammenhang der Klassifikationsstruktur der betreffenden Gesellschaft« (Douglas 1985 [1966]: 7) zu verstehen und nie an und für sich. Entsprechend dieser Klassifikationsstruktur gestaltet sich auch das Verhältnis von der als moralisch gut und harmlos definierten Eigengruppe zu den unmoralisch agierenden und gefährlichen ›Anderen‹. Risikokonstruktionen können also beides zugleich: vergemeinschaften und spalten. Aber auch auf einer anderen, ›realistischeren‹ Ebene diskutiert Douglas die Frage sozialer Ungleichheiten: Ebenso wie Beck geht sie davon aus, dass Arme von Risiken mehr betroffen sind als Reiche, da ihnen die Mittel der Wahl fehlen (Douglas/Wildavsky 1982: 18). Daher entspricht die Risikoverteilung der allgemeinen Verteilung von Macht und Status (Douglas 1985: 10). Diese Ebene interessiert Douglas allerdings weniger.

Risikobegriff: ein realistischer Konstruktivismus Denn die Kulturtheorie des Risikos untersucht nicht Leiden und Sterben als physisches Faktum, sondern die jeweiligen kulturellen Bedeutungsgebungen und deren Funktion. Jedoch beruhen solche Konstruktionen auf tatsächlichen Gefahren, deren Objektivität nicht geleugnet wird, die für ein angemessenes Verständnis des Phänomens aber auch nicht ausreicht:

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»It does not ignore the reality of the dangers around. Plenty of real dangers are always present. No doubt the water in the fourteenth century Europe was a persistent health hazard, but a cultural theory of perception would point out that it became a public preoccupation only when it seemed plausible to accuse Jews of poisoning the wells.« (Douglas/Wildavsky 1982: 7) Ferner wird angenommen, dass sich Gefahren umso besser für Moralisierungen eignen, je gravierender ihre Folgen sind (ebd.: 40). Gemäß diesem sozialkonstruktivistischen Interesse gestaltet sich Douglas’ Risikodefinition: Risiko ist keine Sache, sondern eine Art zu denken (Douglas 1992: 46). Diese Rückbindung sowohl an reale Gefahren wie an die moralische Funktionalität entkräftet auch den Vorwurf des kulturellen Relativismus, wie er etwa von Arnoldi (2009: 40, 65) geäußert wurde. Risikowahrnehmung ist zwar im kulturellen und historischen Vergleich betrachtet nicht absolut, sondern relativ, aber auch nicht willkürlich und relativistisch. Entsprechend grenzt sich Douglas wiederholt von Vorwürfen des Relativismus ab, da sie eben ›lediglich‹ interessiere, wie aus tatsächlichen Gefahren Risiken ausgewählt und priorisiert, d.h. sozial konstruiert und politisiert werden (Douglas/Wildavsky 1982: 30). In Anlehnung an Beck, der einen konstruktivistischen Risikorealismus pflegt, würde ich für Douglas daher sagen, dass sie von einem realistischen Konstruktivismus ausgeht. Beide vertreten keine Extremposition auf dem Kontinuum der Risikoverständnisse, setzen aber ihre Schwerpunkte anders (vgl. auch Lupton 1999b: 5). Mit dieser sozialen Funktionalität geht ferner einher, dass Risiken nicht isoliert, sondern relational zu betrachten sind, da ihre Bedeutung nur mit Blick auf das jeweilige Wertesystem bestimmt werden kann. So schreiben Douglas und Wildavsky (1982: 6) in Bezug auf die Angst vor Sterben und Tod, dass es dabei nicht um diese Ereignisse an und für sich geht: »Perhaps people are not so much afraid of dying as afraid of death without honor. In addressing questions of acceptable risk without considering their social aspects, we could be speaking to the wrong problems.« Zudem sind auch in lebensweltlichen Kontexten Risikoentscheidungen nicht isoliert zu betrachten: Zwar mag es hinsichtlich der schlechten Luft ungesund sein, in Los Angeles zu leben, doch bietet diese Stadt auch Vorteile wie gute berufliche Möglichkeiten oder ein warmes Klima. Entsprechend grenzen sich Douglas und Wildavsky von der Vorstellung ab, von den Individuen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse ein rationales Risikoverhalten einzufordern, zumal ein Risiko-Eklektizismus praktisch kaum möglich ist: »No doubt there are risks that we would rather not run but that we undertake in order to gain other benefits. […] Life’s choices, after all, often come in bundles of goods and bads, which have to be taken whole.« (Ebd.: 18) Ein solches soziales, sozialkonstruktivistisches und relationales Risikoverständnis erfordert eine entsprechende Methodologie: Douglas plädiert für einen

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holistischen Ansatz und grenzt sich vom methodologischen Individualismus ab, da diesem oft ein Rational Choice-Ansatz zugrunde liegt, der das Verstehen sozialer Zusammenhänge verhindert (Douglas 1992: 12f., 40, 50). Ebenso gilt es, auch latente Funktionen von Risikokonstruktionen analysieren zu können.

Kritische Würdigung Douglas’ strukturalistisch fundierte Kulturtheorie des Risikos kontrastiert mit Becks modernisierungstheoretischem Ansatz in verschiedener Hinsicht. Dadurch werden theoretische Stärken, aber auch Schwächen für mein Forschungsinteresse deutlich. Drei Aspekte will ich hervorheben. Ein erstes und zentrales Verdienst ist, dass Douglas das Soziale bzw. Kulturelle in das Zentrum ihrer Überlegungen rückt und zum Explanans für Risikokonstruktionen macht. Damit meidet sie aus meiner Sicht drei Fallstricke soziologischer Forschungen in diesem Themenfeld: einen Objektivismus, der das objektiv(iert)e Risiko zum Ausgangspunkt der Überlegungen macht, als unabhängige Variable für subjektive bzw. soziale Risikowahrnehmungen akzeptiert und die Angemessenheit letzterer teils an ersterem misst (kritisch dazu auch Hilgartner 1992, Tierney 1999); einen Subjektivismus, der oft mit einem methodologischen Individualismus einhergeht und das Soziale nicht anders verstehen kann als die Aggregation von Individualdaten, d.h. von individuellen Risikowahrnehmungen; und schließlich eine isolierende Ereignisorientierung, die Risiken an und für sich betrachtet, d.h. von ihrem bedeutungsgebenden Kontext abtrennt. Entsprechend lässt sich von Douglas’ relationaler Perspektive lernen, dass erst der soziokulturelle Zusammenhang Auskunft über die ‒ auch und gerade latente sowie zutiefst moralische und politische ‒ Bedeutung von Risiken gibt. Für die wissenschaftliche Analyse lässt sich daraus folgern, dass es nicht darum gehen kann, sich ein klareres Bild der Bedrohung zu verschaffen, sondern ein klareres Bild dessen, welche Rolle Risiko als Teil von sozialen bzw. kulturellen Logiken spielt (Lupton 2013a: Kap. 2 und 3). Dabei ist der Versuch einer neutralen, objektiven Risikobestimmung weder möglich noch sinnvoll, sondern eine kontextualisierende, rekonstruktive Herangehensweise nötig. Diese Stärke von Douglas, das genuin Soziale bzw. Kulturelle zu betonen, birgt aber auch Schwächen, wie insbesondere im Vergleich mit Becks Ansatz deutlich wird: Zum einen hat Douglas keine Handlungstheorie und dezentriert das Individuum so stark, dass ihr ein Kulturdeterminismus vorgeworfen wird, der zu wenig Raum für Interaktion und Eigensinnigkeit lässt (Zinn 2004: 9). Damit stellt sie die Gegenposition zu Becks und Beck-Gernsheims (1994a) individualisierungstheoretisch basierter Forderung nach einer subjektorientierten Soziologie dar. Zum anderen wird ihr Ansatz als zu statisch gelesen: Für Wandel und neue Risikoqualitäten, wie sie Beck analysiert hat, ist zu wenig Platz; auch die Vier-Felder-Matrix sozia-

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ler Organisationsformen erscheint zu rigide (z.B. Krohn/Krücken 1993: 12, Lupton 2013a: 70, Plapp 2003: 48f., Wilkinson 2001b: 11). Douglas selbst hat diesen Kritiken zwar widersprochen, indem sie etwa betont, dass der Ansatz Konflikt und Bewegung immer mitdenke (z.B. Douglas und Wildavsky 1982: 191, Douglas 1999). Sie hat auch ihre Matrix als Idealtypik charakterisiert und diese dynamisiert (Douglas 1986). Jedoch bleiben die Prämissen des Strukturfunktionalismus die Basis ihrer Theorie und bestimmen den Denkrahmen. Sinnvoll erscheint mir daher ein Mittelweg zwischen Beck und Douglas, der die Stärken beider Ansätze integriert und ihre Schwächen dadurch ausgleicht: eine Dezentrierung des Individuums, ohne aber dessen Handlungsmacht auszuklammern, und eine Betonung von Kontinuität bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit für Wandel ‒ auf lebensweltlicher Ebene als Wandel im Lebensverlauf, wie ich vorschlage (Kap. 7). Ein zweites m.E. wichtiges Verdienst betrifft Douglas’ Fassung des Sozialen als sozial differenziert. Hierfür hat sie die erwähnte Vier-Felder-Matrix entworfen, mit der sie die soziale Logik hinter Risikobewertungen und Abwertungen ›Anderer‹ aufzeigt und damit erklären kann, wer sich wovor fürchtet. Anders als Beck hat sie also eine stringentere Theorie zu Risiko im Kontext von sozialen Ungleichheiten und Abwertungen. Allerdings ist die Vier-Felder-Matrix als Modell auch kritisch zu sehen: Erstens hat das »grid/group«-Schema zahlreiche empirische Studien angeregt, allerdings ohne eindeutiges Ergebnis (für einen Überblick s. Plapp 2003: 47ff.). Zweitens stellt es auch aus theoretischer Sicht keine zwingende Einteilung des Sozialen dar, denn multiple soziale Zugehörigkeiten ebenso wie der Wechsel der Zugehörigkeit sind möglich (s. wiederum Krohn/Krücken 1993: 12, Lupton 2013a: 70, Plapp 2003: 48f., Wilkinson 2001b: 11). Drittens bleibt offen, wie der Anschluss an den gegenwärtigen Forschungsstand zu sozialer Differenzierung und sozialem Ausschluss, Dominanz und Macht hergestellt werden kann: Hängen die von Douglas identifizierten kulturellen Differenzen mit aktuell relevanten und auch strukturellen Ungleichheitsregimes wie bspw. Geschlecht, ›Rasse‹ und Klasse zusammen und wenn ja: wie? Wenn Douglas unterschiedliche Risikoportfolios anhand unterschiedlicher Organisationsstrukturen erklärt – wie sieht es mit der Sozialstruktur aus? Im Ergebnis sollte Douglas’ Fassung des Sozialen also dynamisiert, ›modernisiert‹ und stärker soziologisiert werden. Ich folge daher Burgess’ (2014: 62) Vorschlag, Douglas’ Schema lediglich als Inspiration in dem Sinne zu nutzen, nach sozial differenzierten Logiken zu suchen, die mit jeweils typischen Weltbildern, Risikoportfolios und Abwertungen einhergehen. Ein dritter Kritikpunkt bzw. offener Punkt betrifft die Frage nach der genauen Konzeptualisierung von Angst. Zentrales Konzept ist Risiko, doch spricht Douglas auch von Ängsten (z.B. Douglas/Wildavsky 1993: 123). Unklar bleibt, in welchem Verhältnis diese Konzepte zueinander stehen und was mit Angst genau meint ist: ein emotionales Erleben, eine bloße Semantik oder beides?

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

2.3

Lebensweltlich orientierte, themenoffene Ansätze

Was Becks und Douglas’ Perspektiven jedoch bei allem Anregungspotenzial und trotz aller Differenzen teilen, ist ihr makrosozialer und recht theoretischer Ansatz. Wie sich Risiken bzw. Verunsicherung lebensweltlich in ihren Komplexitäten und Dynamiken gestalten, bleibt offen. Im Folgenden werden daher zwei Ansätze vorgestellt, die sich als empirische Antwort auf diese Forschungslücke verstehen, qualitativ und themenoffen forschen: Deborah Luptons soziokulturellen Ansatz und den Doing Risk-Ansatz von Anna Olofsson und Kolleginnen.16 Beide Ansätze schließen theoretisch v.a. an Douglas an, ohne aber den Strukturfunktionalismus zu übernehmen, und sind für mich in theoretischer, konzeptioneller und method(olog)ischer Hinsicht hilfreich.

2.3.1

Lupton: soziokultureller Ansatz

Deborah Lupton ist eine australische Kultursoziologin, die bereits in den 1990er Jahren zu Risiko geforscht hat: zunächst im Kontext von Gesundheit und Public Health (z.B. Lupton 1993), dann, auch zusammen mit dem britisch-australischen Medien- und Kulturwissenschaftler John Tulloch, zu Kriminalitätsfurcht (Lupton 1999a und Lupton/Tulloch 1999) und schließlich zu Risiko generell (s. insbesondere Tulloch/Lupton 2003). Zusätzlich veröffentlichte Lupton Überblickswerke und -artikel zur Risikosoziologie (Lupton 1999c, 2006 und 2013a) und bemühte sich in den letzten Jahren um eine Verbindung von Risiko- und Emotionssoziologie (Lupton 2012 und 2013b), ohne aber Angst als Phänomen zu konzeptualisieren. In diesem Kapitel interessieren v.a. ihr theoretischer Zugang und das Forschungsdesign der empirischen, themenoffenen Forschung.

Soziokultureller Ansatz und themenoffenes Forschungsdesign Lupton selbst verortet ihren theoretischen Ansatz als soziokulturellen (z.B. Lupton 1999c, Tulloch/Lupton 2003: Kap. 1) bzw. sozialkonstruktivistischen (Tulloch/Lupton 2003: 12). Damit ist gemeint, dass sowohl das ›Expertenwissen‹ als auch das 16 Empirische Ansätze, die sich für lebensweltliche Bedeutungen von (Un-)Sicherheit interessieren und daher qualitativ forschen, gibt es einige. Allerdings ist das Gros dieser Ansätze themenfokussiert und betrachtet die Relevanz von und den Umgang mit ausgewählten vorab definierten Sicherheitsthemen. Themenübergreifende bzw. -offene Studien, die es erlauben, die Relevanz verschiedener Themen in ihrem Vergleich sowie möglicherweise zugrunde liegende Muster zu rekonstruieren, gibt es deutschlandweit wie international sehr wenige (dazu ausführlicher Kap. 7.1). In ihrem 2008 erschienenen Überblicksartikel zu englischsprachigen qualitativen Studien zur Risikowahrnehmung identifizieren Gillian Hawkes und Gene Rowe nur drei themenoffene bzw. zumindest themenübergreifende Studien.

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›Laienwissen‹ als gleichermaßen konstruiert angesehen und daher nicht das erstere höher und als ›rational(er)‹ gewertet und zweiteres nicht in Bezug auf ersteres bewertet werden darf. Deutlich wird hier die theoretische Nähe zu Douglas, von der Lupton auch die Idee übernimmt, dass Risikowahrnehmungen hinsichtlich ihrer symbolischen, kulturellen und damit moralischen Bedeutung zu verstehen sind (und nicht einfach aus einem objektiven Stimulus abgeleitet werden können) und somit auch in ihrer Bedeutung für die Konstruktion von ›Eigengruppe‹ und ›den Anderen‹ (Lupton 2013a: Kap. 7). Anders als Douglas jedoch interessiert sich Lupton für die lebensweltliche Dimension von (Un-)Sicherheit und damit für die Subjekte selbst (Lupton 1999b und 2013b). Damit verlässt sie Douglas’ strukturfunktionalistischen Rahmen und gesteht den Individuen trotz aller sozialen und kulturellen Einbettung und Prägung mehr Agency zu. Ferner greift Lupton zwar Douglas’ Idee auf, dass unterschiedliche soziale Bedingungen unterschiedliche Perspektiven auf Risiko nahelegen, löst sich jedoch auch in dieser Hinsicht vom strukturfunktionalistischen Denken, indem sie soziale Positionen wesentlich dynamischer denkt, z.B. als sich im Lebensverlauf wandelnd, und als anders zusammengesetzt: Sie interessiert sich zentral für soziologisch relevante Ungleichheitsdimensionen wie etwa Alter und Geschlecht (Tulloch/Lupton 2003). Dieser theoretischen Perspektive folgend gestaltet sich die empirische Forschung. Aus ihrer soziokulturellen Perspektive schrieben Tulloch und Lupton ihr Buch »Risk and everyday life« (2003), das sie weithin als »Dialog mit Ulrich Becks Ideen« beschreiben (ebd.: 132), was meint, dass sie aus einer an Douglas geschulten Perspektive eine kritische empirische Auseinandersetzung mit Becks Thesen in der »Risikogesellschaft« suchen. In diesem Buch stellen sie ihre qualitative Studie vor, die sie von 1997 bis 2000 durchführten und für die sie insgesamt 134 semistrukturierte Interviews in Großbritannien und Australien durchführten (s. auch Lupton/Tulloch 2002a und 2002b). Eine Besonderheit ihrer Studie stellt die Themenoffenheit dar. Wie weiter oben bereits thematisiert, fokussiert die Mehrheit der empirischen Studien bestimmte Unsicherheitsthemen. Hiervon grenzen Tulloch und Lupton ihren eigenen Ansatz ab (2003: 16); ein themenoffener Ansatz erlaubt es stattdessen, Muster hinsichtlich wiederkehrender Themen, aber auch möglicher sozialer Unterschiede zu erkennen (ebd.: 17). Eine zweite Besonderheit ihres Ansatzes besteht m.E. darin, dass sie nicht nur lebensweltlich relevante Unsicherheitsthemen erfragen, sondern die Bedeutung von (Un-)Sicherheit selbst bzw. bei ihnen von Risiko zum Gegenstand machen, indem sie die Interviewpartner*innen um Assoziationen zu Risiko bitten (ebd.: 17ff.). Diese Risikoverständnisse bezeichnen Tulloch und Lupton als »Risiko-Epistemologien« (z.B. Lupton/Tulloch 2002b). Mit diesem Forschungsdesign kommen Tulloch und Lupton zu Ergebnissen, die angesichts zentraler Diskurse um (Un-)Sicherheiten überraschen und somit gängige Annahmen kritisch hinterfragen. Auf die konkre-

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ten Ergebnisse werde ich in den jeweiligen empirischen Kapiteln näher eingehen. Hier skizziere und bewerte ich zentrale Dimensionen ihres Ansatzes.

Risiko-Epistemologien und relevante Risiken Hinsichtlich der Risiko-Epistemologien der Interviewpartner*innen stellen Tulloch und Lupton u.a. fest, dass eine technisch orientierte Risikodefinition, die sich an Wahrscheinlichkeiten orientiert, nur selten anzutreffen ist und dass zwar die Mehrheit der Interviewten Risiko negativ assoziiert, aber gleichzeitig als lebensweltliche Normalität ansieht und in einigen Fällen Risiko sogar positiv assoziiert ist (Tulloch/Lupton 2003: Kap. 2, s. auch Lupton/Tulloch 2002a und 2002b). In Bezug auf das freiwillige Eingehen von Risiken, etwa was sogenannte Risikosportarten angeht, arbeiten sie nicht nur drei verschiedene Motivlagen heraus, sondern machen auch deutlich, wie die lebensweltliche Erfahrung von Risiken emotional geprägt ist. Daran ist eine entschiedene Abwehr gegenüber der klassischen Gegenüberstellung von emotionsfreier Rationalität und irrationaler Emotionalität geknüpft (Lupton 2012). Damit kritisiert das Autorenduo pyschologische Ansätze, die die ›Laien‹ angesichts ihrer im Vergleich zu ›Expertinnen‹ weniger ausgeprägten Rationalität in defizitärem Licht erscheinen ließen und eine negative Bedeutung von Risiken unterstellten (Tulloch/Lupton 2003: 7f.). Ferner betonen sie gegenüber solchen und anderen stark individuumszentrierten Ansätzen, dass diese die verschiedenen sozialen und kulturellen Bedeutungszusammenhänge von Risiken nicht fassen. Auf der Ebene der Risiko-Epistemologie betonen sie die geteilten Risiken, etwa die Ängste um Partner*innen oder die Ängste von Eltern um ihre Kinder (ebd.: 20). Diese geteilten Risiken berühren auch den Aspekt der Unsicherheitsthemen, die bei Tulloch und Lupton offen erfragt wurden. Hier berücksichtigten Tulloch und Lupton auch die Differenzierung zwischen persönlichen und allgemeinen bzw. sozialen Risiken, die in aktuellen themenübergreifenden Studien und besonders in der Kriminalitätsfurchtforschung als relevant erachtet wird (z.B. Blinkert/Eckert/Hoch 2015, Hummelsheim 2015a; bereits Furstenberg 1971). Zwar wird, so Tulloch und Lupton, die Risikosemantik von einigen ihrer Interviewpartner*innen in Bezug auf physische Gefahren verstanden, jedoch werden auch andere Bereiche von alltagsweltlich relevanten Unsicherheiten genannt (2003: 25, 102). Entsprechend grenzen sie sich von Becks These der lebensweltlichen Relevanz neuer Risiken ab: »Importantly, people’s concerns about risk were far from the acid rain, Chernobyl effects and ›mad cow‹ disease which have been preoccupied the Europeans on whose behalf writers like Beck speak.« (Ebd.: 39)17 17 Anders als hier anklingt, sollte Beck jedoch nicht als Chronist europäischer Ängste missverstanden werden (vgl. Kap. 7).

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Kritik: Mangel (der konsequenten Umsetzung) einer expliziten Methodologie So inspirierend Tullochs und Luptons themenoffener methodischer Ansatz ist, so wirft er allerdings auch Fragen auf: Zwar geht Lupton theoretisch und in anderen Publikationen auf Risiko als Teil von Moraldiskursen im Kontext von Gesundheit ein (Lupton 1993). Doch diese Perspektive geht in der themenoffenen Studie unter, obwohl interessant wäre, ob sich auch andere Unsicherheitsthemen für Moralisierungen eignen. Dies mag auch an einer fehlenden expliziten methodologischen Verortung bzw. deren konsequenten Umsetzung liegen. So nehmen Tulloch und Lupton einen sozialkonstruktivistischen Blick für sich in Anspruch und stellen auch fest, dass unterschiedliche Arten, nach der Risikowahrnehmung zu fragen, unterschiedliche Antworten hervorbringen (Tulloch/Lupton 2003: 36f.). Doch von diesen Bekundungen abgesehen bleibt deren praktische Umsetzung für mich nicht ersichtlich: Das Forschungsdesign wird v.a. im Hinblick auf die Gestaltung des Samples und des Leitfadens vorgestellt, wobei trotz der Betonung von Offenheit gegenüber subjektiven Relevanzen allen Interviewpartner*innen die gleichen Fragen in der gleichen Abfolge gestellt wurden (2003: 14). Dies entspricht m.E. nicht der gängigen Vorstellung qualitativer Sozialforschung, subjektiven Relevanzsystemen mittels der Strukturierung des Interviews durch die interviewten Subjekte näher zu kommen. Entsprechend fehlt mir eine Theorie des Interviews, was mit diesem genau bezweckt wird. Ferner thematisieren Tulloch und Lupton nicht, wie genau sie methodisch die Auswertung gestalteten und inwiefern dies dem Gegenstand angemessen ist: Sie stellen zwar die verwendeten Analyseheuristiken vor (Tulloch/Lupton 2003: 14f.). In welche Analysemethode diese eingebettet sind, bleibt für mich allerdings offen. Wenn Ängste zwar nicht immer latent sein müssen, aber dies sein können, und Risiken eine symbolische Bedeutung haben (vgl. Lupton/Tulloch 1999), wäre dann nicht eine hermeneutische Auswertungsmethode angemessen? Insgesamt erscheint mir die nicht näher vorgestellte Auswertungsmethodik jedoch eine inhaltsanalytische zu sein, die die von den Interviewten genannten Risiken zugespitzt ausgedrückt interpretationslos übernimmt. Nicht deutlich wird außerdem, was Tulloch und Lupton mit der Andeutung, dass die Methodik Auswirkungen auf die Ergebnisse hat, genau meinen und was dies für ihre eigene Studie bedeutet. Durch mehr methodische Transparenz in diesem Punkt und besser noch eine explizite methodische Reflexion hätte ihr Buch in dieser Hinsicht viel hinzugewonnen.18 Aber man kann von einer Pionierarbeit auch nicht verlangen, alles zu Ende 18 Smith und Kolleg*innen gehen in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der Studie von Tulloch und Lupton noch einen Schritt weiter, wenn sie kritisieren, dass sie ‒ wie andere Forschungen auch ‒ die Annahme der lebensweltlichen Relevanz von Risiko in die Studie hineintragen, d.h. Risiko als gegebenes Phänomen annehmen und diese Annahme durch die Forschung reifizieren und verstärken (Smith et al. 2006: §15). Tulloch zumindest grenzt sich allerdings in einer späteren Publikation (2008) von einem naiven Empirismus ab und fordert die Selbstreflexion der Forschenden. Hierbei nimmt er aber auf einen anderen Diskurs Bezug (den ich als Krise

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durchgearbeitet zu haben; entscheidend ist v.a. ihr Anregungspotenzial für weitere Studien.

Würdigung: Anregungen in Bezug auf die Rolle von Emotion und soziale Ungleichheiten Dies betrifft auch die systematische Berücksichtigung von Emotionen sowie sozialen Ungleichheiten. In Bezug auf Emotionen stellt Deborah Lupton (2012, 2013b) fest, dass es zwischen Risiko- und Emotionssoziologie bisher kaum Verbindungen gibt, betont die Affinität von soziokulturellen Risikotheorien und Emotionstheorien, da beide nicht von fixen Risiko-Objekten ausgingen, und macht einen eigenen konzeptuellen Vorschlag, nämlich die »emotion-risk assemblage«. Damit betont sie den sozialen, dynamischen und moralischen Charakter von Emotionen, der sich nicht in Kognitionen erschöpft. Weiterführende Hinweise für mein Projekt oder gar eine explizite Konzeptualisierung von Angst kann ich dem aber nicht entnehmen und verstehe ihren Ansatz als wichtige Initiative, über die Verbindung zur Emotionssoziologie weiter nachzudenken. Ähnliches gilt für die Berücksichtigung sozialer Ungleichheiten. Positiv ist hier hervorzuheben, dass Tulloch und Lupton überhaupt die Bedeutung verschiedener sozialer Ungleichheiten analysieren und sie somit als Forschungsperspektive relevant machen ‒ in einem Forschungsgebiet, das tendenziell von einem abstrakten Durchschnittsindividuum ausgeht, wie Wilkinson (2010) kritisiert.19 Auch thematisieren sie die Rolle von Biographie und Lebenslauf, was in diesem Forschungsfeld selten geschieht (Zinn 2010a), und eröffnen damit den Blick auf eine andere soziale Logik jenseits der Ungleichheitssoziologie. Entsprechend ist der Beitrag zu würdigen, in Einzelfallstudien und teils auch als übergreifende Muster zu zeigen, dass und teils wie verschiedene soziale Unterschiede und unterschiedliche Positionen im Lebensverlauf eine Rolle spielen, was Tulloch und Lupton auch als Kritik an Beck in Anschlag bringen. Sie selbst verweisen am Ende ihres Buches aber auch darauf, dass dies nur ein Anfang sein könne und weiterer Forschungsbedarf bestehe (Tulloch/Lupton 2003: 133f.). Dem ist zuzustimmen und eine systematischere Analyse zu wünschen. Dies betrifft auch Luptons Analysen zu gegenwärtigen Konstruktionen des ›Selbst‹ und der ›Anderen‹; diese erscheinen bislang, vermutlich wegen des Anschlusses an Douglas, recht anthropologisch, sodass aus sozioder Repräsentation bezeichnen würde), da er die Machtposition von Forschenden gegenüber Untersuchten thematisiert, die ihnen durch die Analyse und Darstellung der Daten zukommt. Die Rolle der Forschenden bereits bei der Datengewinnung wird nicht behandelt. 19 Bislang wird in den verschiedenen einschlägigen Forschungskontexten (Kap. 2.1) ein Mangel an sozialwissenschaftlicher Forschung zu sozialen Ungleichheiten beklagt. Erste umfassendere Studien liegen allerdings vor: für die Sociology of Risk and Uncertainty s. etwa Curran 2016, für die Prekarisierungsforschung s. etwa Koppetsch und Speck 2015 und für die Kriminalitätsfurchtforschung s. etwa Klimke 2008.

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logischer Sicht interessant wäre, inwiefern in diesem Denkrahmen Rassismus und Klassismus analysiert werden können. Auf diese Desiderate bietet der Ansatz von Anna Olofsson und Kolleg*innen teilweise Antworten.

2.3.2

Olofsson und Kolleginnen: Doing Risk-Ansatz

Seit den 2000er Jahren hat sich an der schwedischen Mittuniversitetet am und um das Risk and Crisis Research Centre eine Gruppe von (weitgehend weiblichen) Forscherinnen versammelt, die zunächst wie Tulloch und Lupton von Becks Zeitdiagnose der Risikogesellschaft inspiriert qualitative, teils themenoffene und -übergreifende Studien vorlegten, um Becks Thesen kritisch zu diskutieren (z.B. Olofsson/Öhman 2007, Wall/Olofsson 2008). Einen Aspekt ihrer Kritik, nämlich Fragen sozialer Ungleichheit, vertiefen die Forscherinnen seitdem in der Auseinandersetzung mit eigenen quantitativen wie qualitativen Studien und der Beschäftigung mit den sogenannten Großtheorien der Sociology of Risk and Uncertainty sowie weiteren Theorien. Im Laufe dieser Forschungen arbeiteten die Forscherinnen um Anna Olofsson eine eigene theoretische Perspektive aus, in der Risiko als Doing Risk verstanden wird, und entwickelten konzeptuelle Ideen hinsichtlich der Relevanz sozialer Ungleichheiten. Auch haben sie in den letzten Jahren Luptons Arbeit zu Risiko und Emotion in empirischem Interesse aufgegriffen und unterscheiden in einer quantitativen Studie zwischen kognitiven und emotionalen Dimensionen (Ekholm/Olofsson 2017). Dies ist eine zentrale Unterscheidung (s. Kap. 5 und 6), jedoch ergeben sich aus dem zitierten Artikel keine wesentlichen neuen Erkentnisse für mich, sodass ich im Folgenden nicht weiter darauf eingehe. Es ist zu vermuten, dass Olofsson und Kolleginnen selbst hieran sowie an weiteren der vorgestellten Ideen weiterarbeiten werden, sodass im Folgenden Work in Progress vorgestellt wird.

Methodologie eines themen- und gruppenübergreifenden Forschungsdesigns Ähnlich wie Tulloch und Lupton fragten Olofsson und Kolleginnen zu Beginn ihrer Forschungen zu Risiko nach der Empirie zu Becks Risikogesellschaft. Konkret ging es ihnen u.a. um die Fragen, ob Menschen zwischen den alten und neuen Risiken unterscheiden und ob unterschiedliche Gruppen die neuen Risiken in unterschiedlicher Weise wahrnehmen (Olofsson/Öhman 2007: 178). Für ihre Studie wählten die Forscherinnen mit Verweis auf eine deutschsprachige qualitative und themenoffene Studie (Zwick 2005) ein qualitatives Forschungsdesign, um nicht wie quantitative Studien Gefahr zu laufen, alltagsweltlich irrelevante Themenvorgaben zu machen. Wie Zwick und auch Tulloch und Lupton fragten sie dabei zunächst offen nach Assoziationen zum Risikobegriff. Danach sprachen sie verschiedene Themen an, über die die Fokusgruppenteilnehmenden sprechen sollten und die sie schließlich hinsichtlich der persönlichen und allgemeinen Relevanz sortieren soll-

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ten. Dieses Verfahren begründeten sie auch damit, dass die Gruppe in der Dynamik der Diskussion beim Forschungsthema bleibt und dass sie auch Risiken kommentiert wissen wollen, die die Gruppe nicht von selbst anspricht. Für die Zusammenstellung der Gruppen wurde entsprechend der Frage nach sozialen Unterschieden ein kontrastives Design verfolgt. Fokusgruppen (»focus groups«) durchzuführen, stellt eine gemessen an der dominanten Methode des Einzelinterviews bemerkenswerte Entscheidung dar, die die Forscherinnen damit begründen, dass sie dadurch das Soziale als interaktiven Prozess der kollektiven Bedeutungsgebung bereits methodisch fassen (Olofsson/Öhman 2007: 183, Wall/Olofsson 2008: 436; vgl. auch Bethmann 2013). Entsprechend muss die Auswertung dann auch die Analyse von Interaktionen berücksichtigen. Damit zusammenhängend konzeptualisieren sie auch das interessierende Phänomen als grundlegend sozial: Als Begriff führen sie hierfür Sense-making of Risk ein und meinen damit, dass die Bedeutung von Risiken interaktiv ausgehandelt wird sowie von der jeweiligen sozialen Eingebundenheit und den jeweiligen Normen, Werten und allgemeinen Weltsichten abhängt (Wall/Olofsson 2008: 432, s. auch Wall 2014). Deutlich wird hier die Passung zu Douglas’ Konzeptualisierung. So wollen die Autorinnen Soziales und Kulturelles zusammendenken und zwischen einer Akteurs- und Strukturperspektive vermitteln. Während Bedeutungsgebungen (Sense-making) dabei die soziale Dimension bezeichnet, fokussiert der Begriff der Risikowahrnehmung (Risk Perception) die individuellen und kognitiven Dimensionen. Beides zusammen fassen die Autorinnen mit dem Oberbegriff der Risikoverständnisse (Understanding of Risk) (Wall/Olofsson 2008: 432). Mit diesem Forschungsdesign und dieser Konzeptualisierung des Sozialen ‒ die sich in der Regel auch in ihren folgenden Studien finden ‒ kommen die Forscherinnen ebenso wie Tulloch und Lupton und Zwick zum Ergebnis, dass Becks neue Risiken lebensweltlich nicht relevant sind (Olofsson/Öhman 2007: 192).20 Zudem stellen die Forscherinnen soziale Unterschiede fest, die in der bisherigen soziologischen Forschung nicht ausreichend berücksichtigt worden sind; diese fokussiert ihnen zufolge auf die neue Qualität von einzelnen Risiken anstatt die Bedeutung sozialer Faktoren zu untersuchen (Olofsson et al. 2014: 419).

Soziale Ungleichheiten empirisch: Vulnerabilität und Werte Die Forschung zu sozialen Unterschieden in empirischer und konzeptueller Hinsicht steht seitdem im Fokus von Olofsson und Kolleginnen. Dabei grenzen sich die Forscherinnen davon ab, soziodemographische Variablen als individuelle Merkmale zu sehen, die per se Unterschiede im Risikoverständnis bedingten. In Bezug 20 Hierbei muss allerdings einschränkend erwähnt werden, dass sie sich auf die von Beck betonten neuen Risiken im Bereich Unsafety konzentrieren und die von ihm ebenfalls thematisierten Dimensionen von Insecurity und Uncertainty außer Acht lassen.

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auf Studien zum White Male Effect, wonach sich weiße Männer weniger fürchteten als Frauen und nicht-weiße Männer (dazu bereits Flynn/Slovic/Mertz 1994 und Finucane et al. 2000), plädieren Olofsson und Rashid (2011a, 2011b) in ihrer quantitativen Studie entsprechend dafür, Merkmale wie Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit nicht als eigenständige Erklärungen zu fassen und damit als persönliches Wesensmerkmal zu essentialisieren. Vielmehr gilt es zu fragen, welche sozialen und kulturellen Mechanismen in ihnen Ausdruck finden (vgl. auch Gustafson 1998 und Klimke 2008). So erweist sich der im US-amerikanischen Kontext festgestellte White Male Effect im geschlechteregalitäreren Schweden lediglich als White Effect (Olofsson/Rashid 2011b). Olofsson und Rashid (2011a, 2011b) fokussieren somit zunächst auf den Einfluss der unterschiedlichen Lebenschancen und Vulnerabilitäten, die sich aus der jeweiligen Position in der konkreten Sozialstruktur ergeben und sich bspw. in der ökonomischen Situation, dem gesellschaftlichen Inklusionsgrad bzw. der Diskriminierung zeigen. Olofsson und Öhman betonen später aufgrund ihrer quantitativen Studie, dass nicht nur soziale Vulnerabilität, sondern auch Werte den Einfluss soziodemographischer Merkmale miterklären können: »With other words, adding values and vulnerability reduces the association between heterogeneity and risk perception as well as risk behaviour.« (Olofsson/Öhman 2015: 16) Damit lässt sich sowohl die Relevanz von Becks Konzept der sozialen Verwundbarkeit aufzeigen, was die Autorinnen allerdings selbst nicht tun, als auch die von Douglas’ Konzept der Weltsichten, an das sie explizit anknüpfen. Beide Ideen verbinden Olofsson und Kolleginnen in ihrer weiteren, v.a. konzeptuellen Arbeit, bei der sie auch an Lupton anschließen: Sie zeigen nicht nur, dass sozial ungleiche Positionen unterschiedliche Risikoverständnisse und Betroffenheiten hervorbringen. Sie arbeiten auch heraus, dass Risiken soziale Ungleichheiten (re-)produzieren, sodass ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis anzunehmen ist (Olofsson et al. 2014, Giritli Nygren/Öhman/Olofsson 2017). Diesen Zusammenhang von Risiko und sozialen Differenz(ierung)en systematisieren die Forscherinnen auf theoretischer Ebene als Doing Risk, Doing Difference, Doing Identity und zeigen in diesem Kontext auch auf, dass sozialmoralische Normen, die Normalität und Abweichung definieren, für die ›Abweichenden‹ zu Risiko-Objekten werden können. Dabei führen sie auch das Intersektionalitätskonzept in ihre ungleichheitstheoretischen Überlegungen ein. Diese bislang v.a. konzeptuellen Ideen sind für mich insofern wertvoll, als sie soziale Ungleichheiten im Kontext von Risiko im Unterschied zu Douglas lebensweltlich fassen und im Unterschied zu Douglas’ und Luptons anthropologisch anmutenden Studien zu Eigen- und Fremdgruppe gegenwärtig zentrale Ungleichheitsdimensionen in den Vordergrund rücken. Daher gehe ich im Folgenden genauer darauf ein.

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Soziale Ungleichheiten konzeptuell I: Doing Risk, Doing Difference, Doing Identity Wie gestaltet sich nun auf lebensweltlicher Ebene der Zusammenhang von Risiko und sozialen Ungleichheiten? Die Autorinnen knüpfen wie erwähnt an Douglas’ und Luptons Arbeiten zu Risiko und Moral an, betten diese aber konsequent lebensweltlich ein, indem sie die Aktivität der Sprechenden und den interaktiven Charakter von Risiko- und Moralkonstruktionen betonen. Dies bringen sie auf die Kurzformel »Doing risk while performing morality« (Montelius/Giritli Nygren 2014: 433). Jede Äußerung zu Risiko ist demnach eine moralische Äußerung. Deutlich wird auch der Bezug zum ethnomethodologischen Doing Gender- (West/Zimmerman 1987) bzw. Doing Difference-Ansatz (West/Fenstermaker 1995), womit die Autorinnen Douglas’ Ansatz dynamisiereren und betonen, dass über moralische Äußerungen soziale Unterschiede her- und dargestellt werden.21 Die ›Anderen‹ werden abgewertet, man selbst wertet sich auf und schreibt sich eine eigene positive Identität zu. Doing Risk und Doing Difference bedeutet daher auch Doing Identity. Theoretisch ist dies auch insofern relevant, als die Autorinnen damit eine Theorie zu Sprechen als Handlung selbst und nicht nur als Bericht über Handlungen, Emotionen etc. implizieren. Montelius und Giritli Nygren (2014) illustrieren diese theoretische Idee anhand von Ernährungsdiskursen. Damit knüpfen sie an ein klassisches Thema an, da Ernährung und Gesundheit schon immer als Marker für eine bestimmte soziale Herkunft (Klasse) genutzt wurden (ebd.: 432). Allerdings gewinnen Ernährungsdiskurse in ihrer Überlappung mit Risikodiskursen auch eine neue Bedeutung: Was in welcher Menge als gesundheitsfördernd oder -schädlich gilt, gibt sich zwar den Anschein einer neutralen Risikobestimmung. Jedoch handelt es sich um hochgradig moralische Konstruktionen, die nur aus mächtigen Positionen heraus getroffen werden können und somit Teil des symbolischen Kampfes um legitime Lebensformen sind. Nicht jede*r hat also die Macht, Moral- und Risikokonstruktionen wirksam durchzusetzen. Gleichwohl trifft dieser moralische Imperativ alle, da die Verantwortung individualisiert zugeschrieben wird22 , auch wenn nicht alle den passenden Habitus und das richtige Kapital haben, sich normkonform zu verhalten und z.B. als gesundheitsförderlich geltende Lebensmittel zu konsumieren. Entsprechend (re-)produzieren Moral- und Risikokonstruktionen Klassismus als eine Dimension sozialer Ungleichheit, etwa wenn über angeblich ungesunde 21 Die Ethnomethodologie geht davon aus, dass das Soziale nichts Statisches und Gegebenes ist, sondern in einem fortwährenden, interaktiven Herstellungsprozess erzeugt wird. Daher ist soziale Ordnung auch nur über ihre ›Vollzugswirklichkeit‹ (Garfinkel, Bergmann) erforschbar und für genau dieses Doing, also für »die alltäglichen Methoden dieser Wirklichkeitserzeugung (eben die Ethno-Methoden)« (Ayaß 2008: 346), interessiert sich die Ethnomethodologie. 22 Vgl. hierzu Becks Individualisierungsthese, die ich als Responsibilisierung verstehe.

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Ernährungsgewohnheiten und unkontrolliertes Essverhalten der Unterschicht diskutiert und dies mit der zivilisierten Mittelschicht verglichen wird, die die Norm setzt. Im Ergebnis werden über die ernährungsbezogene Risikokommunikation (Doing Risk) soziale Differenz(ierung)en aufrechterhalten (Doing Difference). Die einschlägigen moralischen Konstruktionen erlauben es der Mittelschicht zudem, sich selbst als gesund essend, da gebildet und zivilisiert, zu positionieren und so Distinktionsgewinne zu erzielen (Doing Identity).23

Soziale Ungleichheiten konzeptuell II: Normen als Risiko-Objekte In diesem Zusammenhang von Risiko-, Moral-, Differenzierungs- und Identitätsarbeit spielt auch Macht eine bedeutsame Rolle, wofür Olofsson und Kolleginnen an Pierre Bourdieus und Judith Butlers Performativitätsdenken anschließen: Wie Moral, Geschlecht und die anderen Ungleichheitsdimensionen sind Risiken keine fixen, objektiven Gegebenheiten, die durch Sprache lediglich ausgedrückt würden, sondern werden fortwährend sprachlich und interaktiv hergestellt. Sprache wirkt somit performativ und wirklichkeitsschaffend. Mit der Zeit schreiben sich diese Konstruktionen in die Sprache, Köpfe und Körper ein. Theoretisch interessant und innovativ ist diese Idee, weil sich hieraus eine dezidiert sozialkonstruktivistische Risiko-Ontologie ableiten lässt: Sozialmoralische Vorstellungen, die sich im Kampf um legitime Lebensweisen durchsetzen, gerinnen zu Normen, die Normalität und Abweichung definieren ‒ und für die ›Abweichenden‹ Risiken schaffen. Normen werden dadurch zu Risiko-Objekten für diejenigen, die von der hegemonialen Norm abweichen. Dadurch wird ihre soziale Position als ›Andere‹ der Ordnung reproduziert. Dies verdeutlichen Giritly Nygren, Öhman und Olofsson (2015, 2016) in einer empirischen Studie, in der sie LGBT-Personen befragten, also als lesbisch, schwul, bi- und transsexuell oder transgeschlechtlich verortete Menschen. Deutlich wurde dabei, wie eng die erlebten Bedrohungen und befürchteten Risiken mit ihrer geschlechtlichen Identität bzw. sexuellen Orientierung zusammenhingen, seien es Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt, eine unzureichende medizinische Versorgung oder Hassverbrechen, wenn sie in der Öffentlichkeit Hand in Hand mit dem*der Partner*in gehen. In diesem Fall stellt also Heteronormativität die fragliche Norm und das Risiko-Objekt dar, d.h. die Vorstellung, derzufolge es genau zwei biologische Geschlechter gibt, mit denen das soziale Geschlecht kongruent ist, und derzufolge Liebesbeziehungen aus genau zwei gegengeschlechtlichen Personen bestehen. Performen LGBT-Personen ihre jeweilige geschlechtliche Identität 23 Die Autorinnen erwähnen auch Undoing oder Redoing und dass die Möglichkeit dazu sozial ungleich verteilt ist und eine gewisse Machtposition erfordert (Giritli Nygren/Öhman/Olofsson 2015: 11).

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oder sexuelle Orientierung (Doing Gender bzw. Doing Sexuality), geht damit ein Risiko einher (Doing Risk).

Soziale Ungleichheiten konzeptuell III: Intersektionalität Wie bisher schon deutlich wurde, beschränken sich Olofsson und Kolleginnen nicht darauf, einzelne Ungleichheitsdimensionen mit Blick auf Risikokonstruktionen, -wahrnehmungen und -betroffenheiten zu analysieren, sondern denken verschiedene Ungleichheitsdimensionen zusammen. Dabei sind sie meines Wissens nach die ersten, die ein intersektionales Denken in der Sociology of Risk and Uncertainty vorantreiben (Giritli Nygren/Olofsson 2014, Olofsson et al. 2014, Olofsson/Öhman/Giritli Nygren 2016). Intersektionalität meint im Anschluss an das Bild einer Verkehrskreuzung (»Intersection«), dass sich verschiedene Dimensionen von Macht und Ungleichheit überlagen und überschneiden können (Crenshaw 1989). Eine intersektionale Perspektive analysiert Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse jenseits einer additiven Denkweise, indem sie deren Zusammenspiel, also die Verwobenheiten und wechselseitigen Verstärkungen, Veränderungen, aber auch Aufhebungen fasst. Auch gilt es, unmarkierte Kategorien wie Heterosexualität oder Weißsein und damit verbundene Privilegien mitzuanalysieren. Konkret beziehen Olofsson und Kolleginnen Klasse, Geschlecht, ›Rasse‹ und sexuelle Orientierung in ihre Überlegungen ein, die bislang allerdings primär konzeptuell und theoretisch sind.

Kritische Würdigung Bilanzierend bietet der Ansatz von Olofsson und Kolleginnen für mich viele Anknüpfungspunkte, da die Forscherinnen eine genuin soziologische Perspektive auf lebensweltliche Bedeutungen von Risiko entwickeln, hierfür viel stärker als Lupton ausgearbeitete theoretisch-konzeptuelle sowie methodologische und methodische Vorschläge unterbreiten ‒ gerade in Bezug auf soziale Ungleichheiten ‒ und dadurch hohes Anregungspotenzial für weitere Studien haben. In theoretischer Hinsicht schätze ich als ersten wichtigen Beitrag, dass Olofsson und Kolleginnen neben den drei Großtheorien der Sociology of Risk and Uncertainty ‒ Risikogesellschaft, Kulturtheorie und Gouvernementalität ‒ weitere theoretische Ansätze für die Risikoforschung fruchtbar machen, z.B. den Doing Gender- bzw. Doing Difference-Ansatz und Bourdieus Soziologie. Letztere gälte es m.E. aber noch zu stärken, um nicht nur den interaktiven Vollzug sozialer Differenzierungen, sondern auch die Persistenz sozialer Differenzen in den Blick zu bekommen. Denn die Kenntnis dessen, dass und wie ein Phänomen sozial konstruiert wird, »entbindet nicht von der Aufgabe zu zeigen, wie das Gemachte zu einem Gegebenen wird und als solches die Möglichkeiten des Machbaren begrenzt. Das bringt die Dimension der Sozialstruktur und den Aspekt der Historizität ins Spiel.

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Beides bleibt in der ethnomethodologischen Analyse unterbelichtet.« (Meuser 1999: 129) Zweitens legen sie eine dezidiert sozialkonstruktivistische Risiko-Ontologie vor: Mit dem Verständnis von Normen als potenziellen Risiko-Objekten stellen sie die soziale Genese von Risiken in den Vordergrund und argumentieren dadurch sozialkonstruktivistischer als Douglas, da letztere meiner Lesart nach eine reale Gefahrenbasis im Bereich Unsafety annimmt, auf die soziale Konstruktionen aufbauen. Mit dem Doing Risk-Ansatz wird zudem die Vorstellung einer fixen, dem Sozialen vorgängigen Objekthaftigkeit und Äußerlichkeit von Risiken obsolet zugunsten eines Prozessdenkens, welches die soziale, interaktive und symbolische Dimension von Risikokonstruktionen betont. In methodologischer Hinsicht werte ich den Ansatz von Olofsson und Kolleginnen positiv, da sie diese theoretischen Überlegungen in eine entsprechende Methodologie transformieren und damit das Soziale nicht nur theoretisch, sondern auch methodologisch fassen: erstens mit dem Konzept des Sense-making of Risk, das kollektive gegenüber individuellen Bedeutungsgebungen betont; zweitens mit dem Doing Gender- bzw. Doing Difference-Ansatz, wonach Ungleichheiten nicht als individuelle Persönlichkeitsmerkmale, sondern als soziale her- und dargestellte Differenzen verstanden werden; drittens mit der Methodik der Fokusgruppen, die das Soziale bereits in der Datengewinnung fasst. Wie von Douglas gefordert wird damit ein methodologischer Individualismus vermieden und das Individuum dezentriert.24 Zugleich wird dessen Handlungsfähigkeit nicht negiert, sondern Handlung und Struktur zusammengedacht und damit Mikro- und Makro-Ebene verbunden. In methodischer Hinsicht finde ich den Ansatz von Olofsson und Kolleginnen in Bezug auf die Datengewinnung überzeugend: Ihrem Interesse an einer umfassenden Empirie zur Zeitdiagnose der Risikogesellschaft folgend kombinieren sie Offenheit gegenüber Relevanzsetzungen der Beforschten mit Themenvorgaben der Forschenden, die ggf. von den Fokusgruppenteilnehmenden nicht angesprochene Risikothemen abdecken. Allerdings fehlt mir wie bei Lupton eine dezidierte Auswertungsmethodik, die auch Implizites fassen kann und die zudem die Rolle der Forschenden als Interviewende bzw. Fokusgruppenleitende reflektiert. Eine solche methodologische und methodische Erweiterung würde m.E. die Überlegungen von Olofsson und Kolleginnen konsequent fortführen, denn sie verstehen (zumindest implizit) Sprechen als Handeln, z.B. hinsichtlich sozialmoralischer Positionierungen, und nicht nur als Bericht über Handlungen oder Ausdruck von Ängsten etc. 24 Das mag banal klingen, ist aber angesichts des in der Risikoforschung vorherrschenden Fokus auf das Individuum von großer Bedeutung, wie die einflussreiche (sozial-)psychologische Risikowahrnehmungsforschung, an die auch in der Soziologie angeknüpft wird (z.B. Zwick 2005), und ebenso die Popularität von Becks Theorie der (Welt-)Risikogesellschaft, die das Individuum in den Mittelpunkt rückt, belegen.

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Allerdings bleibt der interaktive Kontext der Sprachhandlung als bedeutungsgebender Kontext ‒ hier die Fokusgruppen- bzw. Interviewsituation und die Beiträge der Interviewenden ‒ aus der Betrachtung ausgeklammert (zur Bedeutung der Interviewenden Scholz 2003 und Steinert 1984), das Interview als »Doing Interview« (Lee/Roth 2004) bleibt untertheoretisiert. Die Autorinnen selbst erwähnen zwar, dass berücksichtigt werden müsse, welche kulturellen Ressourcen jemand bei der Erzählung über sich selbst zur Verfügung habe, und erklären, dass ihre Auswertung neben einer qualitativen Inhaltsanalyse die Analyse von Interaktionen beinhaltet. Wie genau diese umgesetzt wird und welche Interagierenden berücksichtigt werden, wird jedoch nicht deutlich. Soweit ersichtlich, wird das Sprachhandeln der Interviewenden nicht berücksichtigt und damit der Einfluss der Forschenden auf die Forschungssituation nicht reflektiert. Hier führt der Ansatz von Karen Henwood und Kolleg*innen weiter, der im Folgenden vorgestellt wird.

2.4

Reflexive Ansätze

Bei der Würdigung der zuvor vorgestellten Ansätze habe ich u.a. kritisiert, dass diese nicht reflexiv arbeiten bzw. eine eventuell existierende Praxis der Reflexivität zumindest nicht erkennbar darstellen. Doch was ist mit Reflexivität genau gemeint in Zeiten, in denen dieser ein so unumstrittener wie vieldeutiger Wert in den Sozialwissenschaften zukommt (Maton 2003, Rieger-Ladich 2009)? Hierauf geben die Ansätze von Karen Henwood und Kolleg*innen (Kap. 2.4.1) sowie Iain Wilkinson (Kap. 2.4.2), die beide lebensweltlich orientiert sind, unterschiedliche Antworten. Karen Henwood und Kolleg*innen verbinden ihr Interesse an lebensweltlichen Bedeutungen von Risiken mit einem ausgeprägten epistemologischen und methodologischen Interesse, sodass in diesem Ansatz Reflexivität v.a. als epistemische bzw. methodologische zu verstehen ist. Während sich dieser Ansatz also auf die Auseinandersetzung mit dem empirischen Material konzentriert, wirft Iain Wilkinsons humanistischer Ansatz darüber hinaus daran anknüpfende (forschungs-)politische Fragen einer auf Risiko spezialisierten Soziologie auf. Reflexivität in diesem Sinne meint bei ihm daher die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Forschung und ihren (gesellschafts-)politischen Konsequenzen. Beide Ansätze sind für diese Arbeit in gleichem Maße bedeutsam, da sie die forschungspraktisch wie gesellschaftspolitisch relevante Frage, wie eine kritische und reflexive Sicherheitsforschung beschaffen sein kann, beantworten.

2.4.1

Henwood und Kolleg*innen: methodenreflexiver, interpretativer Ansatz

Auf verschiedenen Ebenen knüpft der Ansatz von Karen Henwood und ihren Kolleg*innen am interdisziplinären Forschungszentrum Understanding Risk an der

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britischen Cardiff University an die bereits vorgestellten lebensweltlichen Ansätze an. So verorten sich Henwood und Kolleg*innen ebenfalls in einer soziokulturellen Perspektive auf Risiko, wonach die Bedeutungen von Risiken diskursiv ausgehandelt werden, dynamisch und Teil eines größeren Bündels an sozialen Beziehungen sind (z.B. Henwood 2008, Henwood et al. 2008). Auch interessieren sie sich für die Bedeutung sozialer Ungleichheiten, v.a. Geschlecht, und betonen deren soziale Konstruiertheit anstelle von Essentialisierungen (z.B. Henwood/Parkhill/Pidgeon 2008, Henwood/Pidgeon 2015). Diese Thematik klammere ich aber im Folgenden aus, um darauf zu fokussieren, was sie im Vergleich zu den bisher vorgestellten Ansätzen hervorhebt. Zum einen wird nämlich ihr thematisches Interesse an Risiken von einem ausgeprägten methodologischen Interesse begleitet – Henwood und Kolleg*innen bieten eine Theorie des (Einzel-)Interviews als soziales Ereignis und eine Auswertungsstrategie, mit der auch das Implizite gefasst werden kann. Zum anderen findet sich hier eine dezidiert reflexive Forschungslogik, die nicht nur über eine Sozialtheorie verfügt, sondern auch erkenntnistheoretisch fundiert ist und die geforderte epistemische durch methodologische Reflexion umsetzt: Nicht nur die Risiko-Epistemologien der Beforschten interessieren (um Luptons und Tullochs Konzept aufzugreifen), sondern auch die der Forschenden; in der empirischen Forschung treffen also möglicherweise unterschiedliche Wissenssysteme bezüglich Risiko aufeinander, was es zu reflektieren gilt.25 Diese Perspektive gründet auf einer spezifischen epistemologischen Verortung der Autor*innen, die ich im Folgenden zuerst vorstelle.

Epistemologische Verortung und Theorie des Interviews Erstens beziehen sich Henwood und Kolleg*innen auf die feministische Wissenschaftstheorie (s. bereits Henwood/Pidgeon 1995, Henwood 2008). Im Anschluss u.a. an Sandra Hardings Standpunkttheorie und Donna Haraways Konzept des situierten Wissens kritisieren sie Annahmen wissenschaftlicher Neutralität, Objektivität und Universalität und betonen stattdessen die Standortgebundenheit bzw. die soziale Situiertheit allen Wissens, auch des wissenschaftlichen ‒ und damit dessen Partikularität. Daraus folgt jedoch gerade kein relativistisches Plädoyer dafür, dass Wissenschaft jeglichen Anspruch auf Objektivität fallen lassen sollte. Harding folgend geht es vielmehr darum, den eigenen sozialen Standpunkt, darunter die Kernannahmen und Werte, und damit die Bedingungen der Wissensproduktion zu 25 Es mag überraschen, dass ich diesen Ansatz hier und nicht im methodologischen Kapitel 3 oder im methodischen Kapitel 4 vorstelle. Da ich in dieser Arbeit nicht nur empirische, sondern auch theoretische, konzeptuelle und methodologische Fragen stelle, gehören auch methodologische bzw. methodische Beiträge zum Forschungsstand. Zudem ist der hier vorgestellte Ansatz Teil des Diskurszusammenhangs der Sociology of Risk and Uncertainty, die in diesem Kapitel im Vordergrund steht.

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

reflektieren. Eine entsprechend selbstreflexive Forschung kann dann größere Objektivität beanspruchen als eine nicht-reflexive (Henwood/Pidgeon 1995: 17, Henwood 2008: 49). Haraway zufolge ist das Wissen der Wissensschaffenden durch ihre eigene, in der Regel mächtige(re) Position gegenüber (marginalisierten) Beforschten gekennzeichnet. Zu fragen ist daher, was aus dieser Position gesehen wird und was nicht und inwiefern eine angemessene Repräsentation marginalisierter Perspektiven möglich ist (Pidgeon et al. 2008: 324). Auf jeden Fall sollten bewusst marginalisierte Perspektiven in die Forschung einbezogen werden, um verschiedene Perspektiven auf Risiko (im Sinne unterschiedlicher Risiko-Epistemologien) sichtbar zu machen. Zweitens und im Ergebnis kompatibel mit feministischer Wissenschaftstheorie beziehen sich Henwood und Kolleg*innen auf eine sozialkonstruktivistische Epistemologie qualitativer Sozialforschung, auch in Zusammenarbeit mit Kathy Charmaz (Charmaz/Henwood 2008), die eine sozialkonstruktivistische Version der Grounded-Theory-Methodologie entworfen hat (s. insbesondere Charmaz 2006). Anders als klassische Versionen der Grounded-Theory-Methodologie, z.B. die von Glaser und Strauss (1979), bezieht Charmaz sozialkonstruktivistische Ideen nicht nur auf die soziale Welt der Beforschten, sondern auch auf die soziale Welt der Forschung: »20th-century constructionism treated research worlds as social constructions, but not research practices« (Charmaz 2008: 398). Entsprechend emergiert die Theorie nicht aus den Daten, sondern wird von den Forschenden auf Basis der Daten aktiv konstruiert. Dabei sind soziale Konstruktionen, gleich in welchem Feld, nicht willkürlich: »people make their worlds but do not make them as they please. Rather, worlds are constructed under particular historical and social conditions that shape our views, actions, and collective practices« (Charmaz 2008: Fußnote 2, mit Bezug zu Marx). Was bedeutet es nun, gemäß dieser epistemologischen Verortung zu forschen, und wie kann dieser gleichsam doppelte Sozialkonstruktivismus berücksichtigt werden? Auf der Ebene des Forschungsgegenstandes fällt die Antwort in der Tradition des soziokulturellen Ansatzes leicht: »Hazards in the world may be real enough, but risk is inevitably socially conditioned.« (Pidgeon et al. 2008: 322) Entsprechend stehen die sozialen Konstruktionen, die Bedeutungsgebungen der untersuchten Subjekte im Fokus. Darauf werde ich im nächsten Abschnitt zur Methodologie einer qualitativen Forschung näher eingehen. Auf der Ebene der Fassung des Forschungsprozesses sowie insbesondere des Interviews als ›Erhebungsinstrument‹ fällt die Antwort schwerer. Jedoch zeichnen sich Henwood und Kolleg*innen dadurch aus, dass sie das Interview nicht als scheinbar selbstverständliche Ressource der Datengewinnung nutzen, sondern das Interview theoretisch, genauer sozialkonstruktivistisch fassen. Ich werde später darauf ausführlicher eingehen (Kap. 3.3), umreiße hier aber die Grundidee: Auch im noch so offenen Interview kommt den Interviewenden weder idealer- noch re-

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alerweise eine neutrale, vermeintlich passive Rolle zu, denn sie können in verschiedener Hinsicht nicht nicht strukturieren (Henwood et al. 2010: §15). Das Interview bietet daher keinen ›Spiegel‹ für die Befindlichkeiten und Ansichten der Interviewpartner*innen (Henwood/Pidgeon 1995: 15), sondern ist als Interaktion und als ›KoKonstruktion der Erzählungen‹ zu fassen, weswegen auch der gängige Begriff der ›Datenerhebung‹ (im Original: »collection of data«) nicht passt (Henwood et al. 2008: 425). Entsprechend wird hier nicht nur wie bei Olofsson und Kolleginnen angenommen, dass das ›Erhebungsinstrument‹ – dort der Fokusgruppen – Soziales als Prozess fasst, sondern das ›Erhebungsinstrument‹ selbst wird als Teil dieses sozialen Prozesses aufgefasst. Trotzdem bzw. genauer deswegen plädieren Henwood und Kolleg*innen für eine offene Forschung. Deren methodologische Begründung und methodische Umsetzung skizziere ich im Folgenden.

Methodologie und Methodik einer offenen Forschung In der methodologischen Begründung einer offenen Datengewinnung spielen zwei Begriffe eine zentrale Rolle: erstens das Interesse an emischen Konzepten und damit verbunden zweitens das Anliegen, wissenschaftliche Vorab-Konzepte nicht zu reifizieren. Mit der Kontrastierung emischer und etischer Konzepte greifen Henwood und Kolleg*innen auf ethnographische Begriffe zurück (vgl. auch Desmond 2015). Im Interesse der Forschung steht die Rekonstruktion emischer Konzepte, die als Konzepte der Subjekte im untersuchten Feld und als deren kontextgebundenes Wissen verstanden werden. Etische Konzepte sind demgegenüber externe, bereits vor der Feldforschung generierte Konzepte der Wissenschaftler*innen, die einen abstrakteren, dekontextualisierten und allgemeingültigeren Anspruch haben. Wissenschaftliche Konzepte werden dabei nicht per se problematisiert ‒ sie sind sogar nötig. Heikel sind sie aber, wenn sie unreflektiert in die Datengewinnungssituation importiert werden und damit die Offenheit gegenüber den Konzepten des Feldes reduzieren, z.B. gegenüber dessen Risiko-Epistemologien (Henwood 2008: 47). Denn dann besteht das Risiko, diese wissenschaftlichen epistemischen Konzepte ungeachtet anderer empirischer Wirklichkeiten zu reproduzieren, d.h. zu reifizieren, sodass am Ende das herauskommt, was als Annahme in die Forschung hineingetragen wurde. Als Beispiel nennen Henwood und Kolleg*innen (2010: §3) ebenso wie Desmond (2015) westlich-modern geprägte technische, rationalistische Risikokonzeptionen, die, wenn sie empirischen Studien (zumal standardisierten Studien) zugrunde liegen, andere Bedeutungen von Risiko nicht fassen könnten, etwa soziale, kulturelle und politische. Damit werden nicht nur soziale Wirklichkeiten nicht angemessen beforscht, sondern auch wissenschaftliche Vorabkonstruktionen keiner kritischen Diskussion unterzogen. Das Thema Reifizierung ist daher auch method(olog)isch unmittelbar relevant: Welche Konzepte und Begriffe

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werden in Studien gewählt, und wie verstehen die Beforschten diese? (Henwood et al. 2010: §3) Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei das Framing ein, das Henwood und Kolleg*innen in Anschluss an Goffman als Prozess der Rahmung von Situationen etc. fassen, in dem bestimmte Interpretationsschemata bzw. Deutungsrahmen (Frames) Anwendung finden. Für die Risikoforschung stellt sich im Kontext von Reifizierung die Frage, inwiefern Risiko nicht nur ein analytischer, sondern auch ein alltagsweltlich relevanter Deutungsrahmen ist: »More importantly, though, research participants may well not ordinarily frame as ›risky‹ aspects of their daily lives, such as living near to a chemical plant, using a routine medication, making a career change or contemplating marriage, even though some others (risk analysts, clinicians, social work professionals etc.) clearly might. Accordingly, sociocultural investigations often stress a need to elicit, at least initially, participants’ own frames of reference and understandings of the problems under investigation, while simultaneously aiming not to construct the object of inquiry (as ›risk‹) simply by enquiring about it« (Pidgeon et al. 2008: 322). Methodisch präferieren Henwood und Kolleg*innen demnach eine offene Form der Datengewinnung, die der Entfaltung und damit dem angemessenen Verstehen emischer Konzepte viel Raum lässt. Die beforschten Subjekte sollen demnach zum Erzählen darüber angeregt werden, inwiefern für sie persönlich ‒ auch biographisch betrachtet ‒ Risiko bedeutsam ist. Das Interview soll daher auf alltagsweltliches Erfahrungswissen zielen. Konkret wird dafür Flicks episodisches Interview vorgeschlagen, in dem anstelle großer Erzählungen episodische Erzählungen zum Thema Risiko fokussiert werden, d.h. durchaus kurze, aber ebenfalls biographisch relevante Geschichten (Henwood et al. 2010: § 19ff.; s. auch Parkhill et al. 2011). Die Frage, wie die methodologische Forderung nach Offenheit und Verstehen methodisch konkret umgesetzt werden kann, stellt sich auch für die Auswertung der Daten. Wie lassen sich das bisweilen Implizite und das Unbeschreibbare fassen? Das Feld der Risikoforschung gibt hierauf kaum Antwort: »Typically, in the field of risk studies, research methods have been insensitive to the more intangible meanings and values that are a crucial part of public sensibilities and orientations to matters of environmental risk and controversy.« (Henwood 2008: 51, vgl. auch Henwood et al. 2010: §24) Henwood und Kolleg*innen schlagen eine, wie sie es nennen, narrative, interpretative Auswertungsmethodik vor (Henwood et al. 2010, Henwood/Pidgeon 2016), die ich als rekonstruktiv im Anliegen und mikrosprachlich im Vorgehen fassen würde: Ihre Analyse bezieht sich nicht nur darauf, was gesagt wird, sondern auch wie es gesagt wird und was in einem bestimmten Kontext unsagbar ist. Denn auch das Nicht-Explizite trägt Bedeutung: »Frames are constructed not only around ›facts‹ but also signs, symbols and metaphors« (Henwood et al. 2008: 431). Entsprechend interessieren in der Analyse bspw. Bilder und Metaphern, wiederkehrende Redefiguren (Tropen), Selbstpositionierungen, inter-

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aktive Dynamiken und nonverbale Marker wie Lachen (Henwood et al. 2010: §23, Parkhill et al. 2011). Eine so ausgerichtete Methodik vermag es den Forscher*innen zufolge, Risiko im alltagsweltlichen Kontext angemessen zu beforschen – indem implizite Ängste fassbar werden, die sich z.B. als Humor ›tarnen‹, und indem auch der explizite Bezug auf das Label Risiko nicht umstandslos als Ausdruck von Verunsicherung genommen wird: »arguments about ›risk‹ can often stand as a proxy for wider values-based conflicts between competing groups« (Pidgeon et al. 2008: 327).

Epistemische und methodologische Reflexion statt Reifikation Was Henwood und Kolleg*innen neben dieser expliziteren method(olog)ischen Diskussion noch von Tulloch und Lupton unterscheidet, ist ihre epistemische Reflexion, die in der praktischen Umsetzung eine methodologische Reflexion ist. Während in Tullochs und Luptons Buch »Risk and everyday life« lediglich der kurze Hinweis zu lesen ist, dass unterschiedliche Arten, nach der Risikowahrnehmung zu fragen, unterschiedliche Antworten hervorbringen (2003: 36f.), gehen Henwood und Kolleg*innen explizit darauf ein, v.a. in ihrem Aufsatz mit dem Titel »Risk, framing and everyday life: Epistemological and methodological reflections from three socio-cultural projects« (2008). Wie schon beschrieben gehen die Autor*innen davon aus, dass die Forschenden auch in offenen Forschungen strukturieren. Daran schließt sich die Frage an, wie diese Strukturierung erfolgt, welche Folgen sie hat, inwiefern dies transparent gemacht und reflektiert wird. Diese Überlegungen veranschaulichen Henwood und Kolleg*innen anhand dreier eigener Projekte zu Risiken hinsichtlich Partnerschaften, Berufsbiographien und des Lebens in der Nähe eines Atomkraftwerks (Henwood et al. 2008: 424ff.). Hierbei werden verschiedene Strategien des Framings in Bezug darauf, ob und wie Risiko oder verwandte Begriffe seitens der Forscher*innen eingeführt werden, verglichen und diskutiert. Einige der Überlegungen stelle ich hier kurz vor (ausführlicher: ebd.: 425ff.). Für die explizite Einführung des Risiko-Framings sprechen neben forschungsethischen Überlegungen (Stichwort Informed Consent; Pidgeon et al. 2008: 322f.) auch forschungspraktische Gründe, etwa wenn die Bedeutung von Risiko von den Beforschten expliziert werden soll. Auch kann es dadurch den Interviewpartner*innen erleichtert werden, Risiko als Deutungsrahmen zu verwenden, wenn dies andernfalls nicht opportun erscheint, etwa weil ein anderer Diskurs in diesem Lebensbereich vorherrscht. Möglich ist aber auch, dass Risiko als Framing alltagsweltlich nicht relevant ist. Wird dieses von den Forschenden eingeführt, kann es sein, dass die Befragten es nicht aufgreifen, sich gar davon distanzieren (z.B. weil für sie Risiko ein zu dramatischer Begriff ist) oder das Framing der Forschenden herausfordern. Risikodiskurse können außerdem genau hierüber reifiziert, d.h. reproduziert werden, wenn im Alltag

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andere Diskurse dominant sind als der Risikodiskurs und manche Aspekte nicht unter dem Thema Risiko gefasst werden. Dies betrifft bspw. die eigene Beziehung, während Beziehungen im Allgemeinen mittels des Deutungsrahmens Risiko (Stichwort Trennungs- und Scheidungsrisiko) gefasst werden. Grundlegend und bilanzierend verweisen die Autor*innen dabei auf die mögliche Vielfalt, Variabilität und Inkongruenz der Framings von Forschenden und Beforschten (Henwood et al. 2008: 421), was umso mehr die Bedeutung eines offenen, reflexiven Ansatzes betont, um die Relevanzen und relevanten Deutungsrahmen der Untersuchungsteilnehmer*innen sichtbar zu machen. Ebenso gilt es (anders als Douglas dies tut), zwischen der persönlichen Relevanz von Risiko als Deutungsrahmen und der des gesellschaftlichen Diskurses zu unterscheiden. Zu bedenken ist daher auch, welche Themen im gesellschaftlichen Diskurs als Risiko gerahmt werden (Henwood et al. 2008: 435). Das hat Konsequenzen für die epistemische bzw. methodologische Reflexion in Interviewstudien. Erstens sollen drei Framing-Ebenen berücksichtigt werden: der gesellschaftliche Diskurs, biographische bzw. lebensweltliche sowie wissenschaftliche Deutungsrahmen. Zweitens verdeutlichen Henwood und Kolleg*innen, dass der zu analysierende Einfluss des wissenschaftlichen Framings sich nicht nur auf die konkrete Interviewdurchführung bezieht: Schon bei der Konstruktion des Forschungsthemas werden Entscheidungen getroffen, und schon bei der Ansprache der potenziellen Interviewpartner*innen wird das Forschungsthema in einer gewissen Weise präsentiert, sodass die Interviewten Erwartungen ausbilden, was für die Forschenden (nicht) relevant sein könnte. Ferner spielen wissenschaftliche Framings auch in der Datenauswertung eine Rolle: Was wird wissenschaftlich als Risiko gefasst, was nicht? (Henwood et al. 2008: 422, Henwood et al. 2010: §15) Damit ist auch der bereits angesprochene Aspekt der Macht der Darstellung angesprochen. Drittens heben Henwood und Kolleg*innen hervor, dass qualitative Forschung es nicht nur ermöglicht, jenseits von Vorabkonstruktionen epistemische Differenzen überhaupt erst thematisierbar und damit sichtbar zu machen (Henwood et al. 2010: §43). Auch stellen sie klar, dass solche Differenzen im Interview einen besonderen Erkenntnisgewinn erlauben und daher im Auswertungsfokus stehen sollten (Henwood et al. 2008: 435). Viertens sollten Forschende in der Darstellung ihrer Ergebnisse das Ge(macht)wordensein der eigenen Forschung transparent machen, indem ausführlich dargestellt wird, wie die Ergebnisse gewonnen wurden. Das ist nicht in einem technischen Sinne gemeint. Vielmehr umfasst diese Forderung, all das zu reflektieren und transparent zu machen, was die Wissensproduktion zentral beeinflusst, etwa die Deutungsrahmen, Werte und Annahmen, die der Forschung zugrunde liegen, die eigene Positioniertheit der Forschenden, die soziale Einbettung des Forschungsprozesses, die Interviewdynamik und die Beziehung zwischen Forschenden und Beforschten (Henwood 2008: 45). Wird all dies im

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Rahmen der epistemischen und methodologischen Reflexion beachtet, so wird Reifikationen entgegengewirkt und ein wichtiges Gütekriterium von Forschung erfüllt (Henwood 2008: 54). Entsprechend dieser Perspektive fordern Henwood und Kolleg*innen die Schaffung eines entsprechenden Bewusstseins für solche reflexiven Anliegen sowie eine explizite Methodendiskussion und -reflexion in der Sicherheitsforschung, wobei diese nur projektspezifisch, d.h. auf Basis konkreter Forschungserfahrungen erfolgen könne (Henwood et al. 2010: §7). Allerdings sei keine endgültige Lösung hinsichtlich der besten methodischen Herangehensweise zu erwarten: »It may not be possible to work through these issues to a resolution, but it is at least possible to work with them in a reflective and constructive way.« (Henwood et al. 2008: 436, Herv. i. Orig.)

Kritische Würdigung Mit ihrem Ansatz bringen Henwood und Kolleg*innen meiner Bewertung nach wichtige, aber bislang unterbeleuchtete Punkte in die Risikoforschung ein. Zwar ist Vieles von dem, was sie schreiben, für qualitative Forschung allgemein bzw. für bestimmte Versionen qualitativer Forschung nicht neu; doch es ist neu für die Risikoforschung, wie sie auch selbst schreiben und was sie auf deren quantitative Prägung zurückführen (Henwood et al. 2008: 431). Dem ist auch für den deutschsprachigen Forschungskontext zuzustimmen. Erstens schätze ich ihren Ansatz, da er m.E. theoretisch fundiert sowie in seiner sozialkonstruktivistischen Epistemologie und einer entsprechenden Interviewtheorie konsistent und methodisch konsequent umgesetzt ist. Damit gehen die Autor*innen nicht nur über die bisher vorgestellten lebensweltlichen Ansätze hinaus, da sie epistemologische und methodologische Fragen expliziter diskutieren. Sie bieten damit auch wichtige und bislang in diesem Forschungskontext weithin fehlende Hinweise zur Interviewauswertung, die weder bei einer inhaltsanalytischen Ebene des Bewussten und explizit Gesagten stehenbleiben noch den interaktiven Charakter der Datengewinnung vernachlässigen. Ebenso bietet ihre sozialkonstruktivistische Methodologie eine wichtige Ergänzung zu Methodendiskussionen in der deutschsprachigen Sicherheitsforschung, der m.E. nicht nur oft eine explizite Theorie des Interviews fehlt, sondern die auch oft eine objektivistische Tendenz aufzuweisen scheint (Ausnahme: Kreissl 2015b). Doch hinsichtlich der Methodenreflexion könnte man noch etwas genauer sein als Henwood und Kolleg*innen: Sie sprechen v.a. von Risiko als Framing, erwähnen aber an einer Stelle, dass auch die Verwendung von verwandten Begriffen zentral zu untersuchen sei (Henwood et al. 2008: 434). Entsprechend ließe sich m.E. differenzieren, ob Risiko bzw. im deutschsprachigen Kontext (Un-)Sicherheit überhaupt ein relevanter Deutungsrahmen ist, und wenn ja: mit welchen konkreten Semantiken dieser konkre-

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tisiert wird und welche Konnotationen diese genau haben (dazu Kap. 5).26 Kritisch einwenden lässt sich auch, dass das Konzept von Framing stark kognitiv ist und daher keine Aussage zu Angst als Emotion treffen kann. Zweitens zeichnet den Ansatz von Henwood und Kolleg*innen aus, dass sie nicht nur eine explizite Methodologie einer offenen Forschung zu Verunsicherung vorlegen, sondern dabei auch eine m.E. kaum adressierte, aber zentrale Frage ansprechen: Was bedeutet es für Interviewpartner*innen, zum Erzählen über Risiken, Unsicherheiten und Ängste aufgefordert zu werden? Was sind passende und legitime – da gesellschaftlich vorgeformte und verfügbare – Erzählgegenstände, was nicht? Was sind also die Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen und Grenzen von qualitativen, sprachbasierten Studien? Henwood und Kolleg*innen unterscheiden hierbei persönliche und diskursive Deutungsrahmen. Doch inwiefern hängen diese zusammen? Hierüber gilt es m.E. weiterzudenken. Hinweise gibt es dazu aus der Kriminalitätsfurchtforschung: Während weithin die personale und soziale Dimension unterschieden wird und die Differenz betont wird (so bereits Furstenberg 1971), deuten etwa Stehrs Arbeiten (z.B. 1998, 2016) darauf hin, dass die Abgrenzung der Thematisierung von lebensweltlich Relevantem und des Aufgreifens von gesellschaftlichen Diskursen keine trennscharfe ist. So kann auf Kriminalitätsgeschichten in Form von Sagen oder urbanen Legenden zurückgegriffen werden, um persönliche Anliegen zu bearbeiten. Drittens: Gemäß ihrer epistemologischen Verortung und gelegentlichen Hinweisen zur Macht der Auswertenden sollten Henwood und Kolleg*innen auch an Macht- und politischen Fragen interessiert sein. Doch bleibt eine größere Diskussion der (forschungs-)politischen Konsequenzen ihrer epistemischen und methodologischen Reflexion m.E. aus. Was bedeutet es aber, mit Risiko als wissenschaftlicher Heuristik zu arbeiten, wenn Risiko lebensweltlich jedoch nicht unbedingt der zentrale Interpretationsrahmen ist? Diese Frage beantwortet Iain Wilkinson.

2.4.2

Wilkinson: humanistisch-reflexiver Ansatz

Auch dieser britische Soziologe knüpft an einiges an, was bisher vorgestellt wurde: eine kritische Haltung gegenüber Großtheorien, damit verbunden ein lebensweltliches Interesse und die Frage nach einer Methodologie des Sozialen (Wilkinson 1999, 2001a, 2001b, 2006b, 2010). Doch liegen hier die Differenzen zu den bisher vorgestellten Ansätzen nicht im Detail, denn Wilkinson plädiert für die Dezentrierung von Risiko als analytischem Konzept. Stattdessen zentriert er zunächst Angst 26 Eine ähnliche Unterscheidung findet sich in der Emotionssoziologie. So unterscheidet Kleres (2015: 274) die Emotionskategorie (z.B. Angst) und Begriffe, die darauf verweisen (z.B. Angst, Furcht, Sorge).

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(Wilkinson 2001a) und später Leid, das er als relevantes Konzept einer humanistischen Soziologie auffasst (Wilkinson 2006a, Wilkinson/Kleinman 2016). Damit erweist sich Wilkinsons Ansatz als der radikalste der bisher vorgestellten Ansätze, denn die von ihm geforderte kritische Reflexivität bezieht er nicht nur auf methodenreflexive Fragen, sondern auch auf einen größeren (forschungs-)politischen Kontext. Hieran werden zentrale Fragen deutlich, die sich eine auf (Un-)Sicherheit bzw. Angst fokussierte Soziologie stellen muss, sofern sie sich als kritisch und reflexiv versteht.

Dezentrierung von Risiko Wie manche bereits vorgestellte Autor*innen begegnet Wilkinson den soziologischen Großtheorien des Risikos von Becks und Douglas, die ihm zufolge zum Common Sense der unsicheren Zeiten beigetragen haben, mit empirischer Skepsis hinsichtlich deren lebensweltlicher Übertragbarkeit: »However, although social commentators have undoubtedly identified many potential causes of anxiety, it is quite another thing to presume that these necessarily arouse widespread feelings of anxiety in society.« (Wilkinson 1999: 449)27 Wilkinson führt zwar keine eigene empirische Studie durch, stellt aber auf Basis anderer empirischer Studien konzeptuelle und methodologische Überlegungen an. Zunächst rückt er dabei mit seinem subjekt- und lebensweltlich orientierten Interesse Ängste (»anxiety«) als Konzept ins Zentrum der Betrachtung (Wilkinson 2001a). Diese werden damit nicht lediglich als subjektive Wahrnehmung objektivierbarer und wahrscheinlichkeitstheoretisch bestimmbarer Risiken gefasst, sondern als per se interessantes Phänomen. Meiner Lesart nach präferiert er den Begriff der Angst (»anxiety«) gegenüber dem der Furcht (»fear«) u.a. deshalb, weil sich die objektbezogene Furcht stark auf physische Gefahren bezieht und damit einer objektivistischen Fassung und Verengung des Phänomens Vorschub leistet. Eine objektlose Angst hingegen umfasst auch die Beziehung zu anderen und zur Welt (Wilkinson 2001a: 15ff.). Angst ist entsprechend einer soziologischen Konzeption zudem nicht als Persönlichkeitseigenschaft, sondern als sozial und kulturell bestimmt, d.h. auch als Frage sozialer Ungleichheiten und Macht, zu sehen. An diese Konzeptualisierung knüpfen sich methodologische Fragen an, wie das Phänomen angemessen erforscht werden kann (dazu v.a. Wilkinson 2001a, 2001b und 2010). Einige zentrale Gedanken stelle ich im Folgenden vor. Erstens kritisiert Wilkinson an psychologischen Studien, dass sie aufgrund ihres methodologischen Individualismus zu oft ein abstraktes Durchschnittsindividuum beschrieben, das es in der sozialen Welt nicht gibt, da diese von sozialen Ungleichheiten geprägt ist. Allgemein wird im Mainstream der Risikoforschung 27 Vgl. dazu auch die gleichlautende Kritik an der Diagnose der Gesellschaft in Angst, die ich in der Einleitung formuliert habe (Kap. 1.2).

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zu selten über Fragen von Macht und Ungleichheit nachgedacht (Wilkinson 2010: 72). Laborexperimente senken die externe Validität der Ergebnisse zusätzlich. Zweitens stellt Wilkinson fest, dass auch standardisierte Fragebogenstudien nicht viel zum Verständnis von Ängsten beitragen können. Sie reproduzieren im Wesentlichen die in den Medien relevanten Themen, indem sie das Bewusstsein darüber erfassen ‒ das aber nicht mit persönlicher Relevanz zu verwechseln ist (Wilkinson 2001a: 121f., 2001b: 12ff.). Mit Bezug zu einer Studie von Sjöberg (1998) argumentiert Wilkinson (2001b: 9) diesbezüglich außerdem, dass das Ausfüllen eines Fragebogens erst Themen bewusst und relevant macht, die außerhalb des Forschungssettings weder bewusst noch relevant sind. Vielmehr geht er von Folgendem aus: »[M]ost regard issues relating to risk as not worth worrying about as a day-to-day concern. It may be the case that it is only at the point where experts cue people to offer their opinions on risk that they actually give this matter their fleeting attention. In many instances, it may be only on rare occasions when individuals engaged as respondents in a survey or interview setting that risk per se is called to mind.« (Wilkinson 2010: 71f.) Um die Bedeutung der geäußerten Ängste bzw. Risiken dennoch besser erforschen zu können, präferiert er ein qualitatives Forschungsdesign (Wilkinson 2001a: 63). Dabei sollte auch beachtet werden, wie die Untersuchungspartner*innen die Sprache des Risikos verwenden, im Interview wie in den sozialen Kontexten des alltäglichen Lebens (Wilkinson 2010: 77). Drittens wird dadurch die Perspektive auf Risiko bzw. Ängste notwendigerweise prozessualisiert, was auch grundlegend die Frage nach ihrer angemessenen Erforschbarkeit stellt. Hierfür bezieht sich Wilkinson auf eine Studie von Irwin und Kollegen, die in Fokusgruppen Anwohner*innen einer großen Chemiefabrik interviewten und sich dabei u.a. für die Themen der durch die Fabrik verursachten Verschmutzung und Gefahren interessierten. Die Forscher schreiben in ihrer Zusammenfassung der Studie: »One conclusion that we draw from the evidence is that an important characteristic of lay understandings and responses (at least in this case) is that they do not exist in some neatly packaged form for researchers to collect and take away. Instead of serving as knowledge repositories, local people actively create forms of understanding as they negotiate the conditions of everyday life.« (Irwin/Simmons/Walker 1999: 1322) So kann in der Alltagsinteraktion mit Kolleg*innen eine andere Sicht auf die Chemiefabrik thematisiert werden als im Gespräch mit der Familie. Dieser grundlegend interaktive und prozessuale Charakter von Ängsten bzw. Risikokonstruktionen muss in der Forschung berücksichtigt werden.

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Auf Basis dieser Überlegungen betont Wilkinson, dass Angst als alltagsweltliches Phänomen in weiteren empirischen Forschungen zu untersuchen ist, auch da die soziologische Forschung bisher nur bestimmte Themen untersucht hat (2010: 69). Darüber hinaus ist Wilkinson zufolge die analytische Komplexität des Phänomens stärker zu berücksichtigen (1999: 463, 2001a: 134). In Bezug auf den bisherigen empirischen Forschungsstand entpuppten sich die Theorien, die eine Allbedeutung von Risiko propagierten, zudem als ›Luftschlösser‹ (2010: 59). Deshalb stellt Wilkinson die Frage, inwiefern das Konzept Risiko tatsächlich einen angemessenen theoretischen Rahmen bietet, um das Unbehagen der Moderne zu fassen, das er zweifellos sieht (dazu die Einleitung in Wilkinson 2001a), oder ob es nicht einen anderen Rahmen bräuchte. Mit dieser Argumentation knüpft Wilkinson an den Diskurs um die Krise der Repräsentation an, wenn er fragt, ob eine analytische Beschränkung auf Risiko nicht den soziologischen Blick auf die Welt trübt, da Traurigkeit, Ärger usw. nicht gefasst werden (2010: 70f.).

Plädoyer für eine humanistische Soziologie: Zentrierung von Leid Mit diesem Plädoyer für eine Dezentrierung von Risiko geht ein Plädoyer für eine humanistische Soziologie einher, die Leid als wissenschaftliches Konzept favorisiert. Ziel von Wissenschaft ist Wilkinson zufolge, zur Reduzierung sozialen Leidens und damit zu einer humaneren Form von Gesellschaft beizutragen (2010: 97). Hierfür eignet sich für ihn das Konzept des Leidens analytisch wie auch moralisch besser als das Konzept des Risikos, sodass er einen Übergang von einer Soziologie des Risikos hin zu einer Soziologie des Leidens befürwortet (Wilkinson 2006a, Wilkinson/Kleinman 2016). Im Anschluss an Bourdieu, v.a. an seine Publikation »Das Elend der Welt« (Bourdieu et al. 1997), meint er mit Leiden nicht nur ein wissenschaftliches Konzept, sondern auch eine alltäglich gelebte und verkörperte Erfahrung, die Ungleichheiten und Macht berücksichtigt. Der humanistische Grundsatz gilt auch für die Methodik, die den Leidenden nicht weitere symbolische Gewalt zufügen und die Forschenden nicht zu Komplizen der Mächtigen machen sollte. Die genannten Argumente sprechen für Wilkinson nicht nur für eine Soziologie des Leidens, sondern auch gegen eine Soziologie des Risikos, zumindest unter den gegenwärtigen Forschungsbedingungen, in denen Risikothemen im Zentrum der Förderung stehen: »It brings the debate to the possibility that where problems of risk occupy the centre of inter-disciplinary debate, then this may be more because of willingness on the part of social scientists to analyse the world in terms of risk than a proportionate response to the ways in which risk has become a common currency of exchange in everyday life.« (Wilkinson 2010: 78)

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In diesem Zusammenhang ist eine eher technokratische Version von Soziologie angesprochen (ebd.: 80), deren Risikokonzeption und -fokussierung Wilkinson zufolge mit bestimmten Gefahren einhergeht: Erstens blendet die in diesen Kontexten gängige, scheinbar neutrale und rationale Risikokonzeption den grundlegend politischen und moralischen Charakter von Risikokonstruktionen und damit Fragen sozialer Ungleichheit und Macht aus (ebd.: 82ff.). Eine solche Soziologie läuft Gefahr, sich einem policy-orientierten und managerialen Ethos unterzuordnen (ebd.: 72) und damit ihr kritisches und reflexives Potenzial zu verlieren. Zweitens befürchtet Wilkinson für eine derart ausgerichtete Soziologie, dass sie die durch den Risikodiskurs forcierte Individualisierung weiter fördert und somit die basale soziologische Idee verloren geht, dass menschliches Denken und Handeln immer sozial geprägt sind. Hierfür bezieht er sich auf Nicolas Roses Kritik, der in der zunehmenden politischen Orientierung am Risikokonzept eine neoliberale Responsibilisierung der Individuen sieht und dadurch einen Tod des Sozialen. Teil davon ist auch der Aufstieg und die zunehmende Deutungshoheit der ›Psy-Disziplinen‹, die das Bild des autonomen, sich selbst verwirklichenden Individuums weiter verstärken und dadurch die Sprache des Risikos nicht als die Sprache der Macht identifizieren können (ebd.: 85ff.).28 Drittens geht mit dem Fokus auf Risiko eine doppelte Beschränkung einher, die für Wilkinson dem alltäglichen Leben und Leiden nicht gerecht wird: zum einen eine Beschränkung der relevanten Fragen auf was-wäre-wenn-Fragen, zum anderen eine Beschränkung der Themen auf solche, die für die Geldgeber*innen der Forschung, nicht aber für einen Großteil der Menschen wichtig sind (2010: 93). So fallen etwa die Themen Liebe und Arbeit, Wohnsituation und die Erziehung der Kinder aus dem Blick heraus. Ferner wird auch nur ein bestimmter Teil der Welt betrachtet, nämlich die industrialisierte Welt mit ihren Risiken und ihrem Leiden (ebd.: 96). Dadurch droht die Soziologie für große Teile der Welt irrelevant zu werden. Auch wegen dieser Gefahren, die aus den gegenwärtigen Rahmenbedingungen einer Soziologie des Risikos resultieren, plädiert Wilkinson für eine Perspektivverschiebung zugunsten einer Soziologie des Leidens.

Kritische Würdigung Wilkinsons Ansatz ist in zweierlei Hinsicht besonders interessant für mich. Zum einen verschiebt er (zunächst) den konzeptuellen Fokus von Risiko auf Angst, womit er m.E. das Phänomen eindeutig lebensweltlich verankert, auf dessen Kom28 Ein Beispiel, das auch in den zuvor angesprochenen Ansätzen eine Rolle spielt, ist die soziale Regulierung der Gesundheitsversorgung. Wird diese als Risikoproblem verstanden, so folgt daraus nicht nur die machtvolle Konstruktion von bedrohlichen und bedrohten Gruppen bzw. Individuen (›risky‹ und ›at risk‹), sondern auch die individuelle Zurechnung von Verantwortung, die soziale Unterschiede etwa hinsichtlich der Ressourcen, die ein gesundheitsförderliches Verhalten erlauben, nicht genügend zur Kenntnis nimmt (Petersen/Wilkinson 2007, Wilkinson 2001a).

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plexität hinweist und es weniger kognitiv, sondern vielmehr emotional fasst. Auch bietet Wilkinson einige Hinweise, wie Angst verstanden werden kann, wobei er allerdings zentral auf psychologische Literatur aus der Stressforschung zurückgreift. Hier wären stärker soziologische, gerade auch emotionssoziologische Anschlüsse vonnöten; ebenso sollte die Lebenswelt an sich explizit konzeptualisiert werden. Zum anderen ist Wilkinsons Ansatz insofern relevant und für meine Auseinandersetzung mit ihm zentral, als er Herausforderungen einer kritischen und reflexiven Soziologie aufwirft, die sich mit Risiko bzw. Angst beschäftigt. Wie Henwood und Kolleg*innen verfolgt Wilkinson einen methoden- wie epistemisch reflexiven Ansatz, wenn es ihm um die Frage des angemessenen Framings von Alltagserfahrungen bzw. in den Worten von Pain und Smith (2008) v.a. um die Gefahr des Misnamings geht. Eine reflexive Forschung sollte daher nicht nur genau hinschauen, worum es in den Erzählungen der Interviewpartner*innen geht: um Angst oder um ein anders besser zu bezeichnendes Leiden. Wilkinson geht noch einen forschungspolitischen Schritt weiter, indem er grundlegend anzweifelt, ob sich Risiko angesichts der bisherigen empirischen Forschungen und angesichts der damit verbundenen Gefahren als angemessenes soziologisches Konzept eignet. Wilkinson vertritt mit dem Plädoyer zugunsten einer Abwendung von Risiko bzw. Angst eine radikale Position (ähnlich Green 2009, Neocleous/Rigakos 2011 und Rigakos 2012). Auch wenn man ihm in seiner Schlussfolgerung nicht folgt ‒ und Leid als wenig differenziertes Konzept kritisieren kann ‒, so kommt ihm das Verdienst zu, die Frage nach einer kritischen und reflexiven Soziologie des Risikos bzw. der Angst aufgeworfen zu haben. Diese Frage durchzieht meine ganze Arbeit; in Kapitel 9 positioniere ich mich bilanzierend dazu.

2.5

Bilanz: Stärken der Ansätze und Fragen der Integration

Von Beck bis Wilkinson sind nun verschiedene Ansätze der Sociology of Risk and Uncertainty vorgestellt, die als genuin sozialwissenschaftliche Ansätze dem Sozialen bzw. Kulturellen in Theorie und Methodologie eine zentrale Rolle einräumen. Ich fasse nun entlang der anfangs skizzierten Fragestellungen (Kap. 2.1) zentrale Stärken zusammen, die ich für meine Arbeit fruchtbar machen kann, frage, wie sie sich integrieren lassen und was für ein soziologisches Verständnis von Angst als lebensweltlichem Phänomen und seine empirische Erforschung ergänzt werden muss. In Bezug auf die gewählten Begriffe wird in der Regel auf Risiko Bezug genommen. In der Gesamtschau der Ansätze lässt sich eine Risiko-Ontologie extrahieren, die materielle ebenso wie sozial generierte und symbolische Risiken umfasst (Stichwort: Normen als Risiko-Objekte). In Bezug auf die soziale Wahrnehmung bzw. Konstruktion dieser Risiken gilt es deren Kontextabhängigkeit zu be-

2 Theoretische und methodologische Bezugspunkte der Sociology of Risk and Uncertainty

achten: Ein Risiko ist nicht an und für sich relevant, sondern erst in einem spezifischen Kontext. Von Douglas wird dieser Kontext als kultureller Kontext gefasst, er kann aber auch sozialstrukturell gedacht werden kann, worauf Becks Konzept der sozialen Verwundbarkeit verweist. Idealerweise ließe sich beides integrieren. Trotz dieser wichtigen Beiträge bleibt leider weithin ungeklärt, wie Angst konzipiert werden kann ‒ auch in den lebensweltlichen Ansätzen. Insgesamt scheinen mir kognitivistische Ansätze zu überwiegen; so wird bspw. vom Risiko-Framing gesprochen. Nur Wilkinson geht explizit, wenn auch eher psychologisch fundiert, auf Angst ein, die er m.E. sinnvollerweise ins Zentrum seiner Überlegungen rückt, um seinem subjekt- und lebensweltlich orientierten Interesse gegenüber einem objektiviert wirkenden Risikobegriff terminologisch Ausdruck zu verleihen. Dennoch bleibt insgesamt unklar, was Angst, aber auch Risiko als lebensweltliche Konzepte genau meinen: Geht es z.B. um ein entsprechendes emotionales Erleben, das kommuniziert wird, oder bedeutet Angst- bzw. Risikokommunikation, dass im Kampf der Lebensstile (Douglas) oder bei der Moral- und Identitätsarbeit (Olofsson und Kolleg*innen) auf die Semantik von Angst bzw. Risiko zurückgegriffen wird, ohne dass Angst notwendigerweise gefühlt wird? Letzteres würde bedeuten, dass Sprechen nicht nur ein ›Bericht‹ über Emotionen und Handlungen ist, sondern auch als Handlung an sich konzipiert werden muss. Neben dieser Konzeptualisierung von Angst bleibt in den lebensweltlichen Ansätzen auch unklar, was die Lebenswelt genau auszeichnet. In Bezug auf die Frage nach der Bedeutung sozialer Ungleichheiten lässt sich wie für die Risiko-Ontologie in der Gesamtschau der Ansätze positiv hervorheben, dass verschiedene Denkmöglichkeiten aufgezeigt werden. Zum einen werden wie erwähnt sozialstrukturelle und kulturelle Unterschiede thematisiert, die für die Betroffenheit von Risiken, deren Wahrnehmung und Konstruktion relevant sind. Zum anderen wird v.a. von Olofsson und Kolleg*innen in ihrem Doing Risk-Ansatz aufgezeigt, wie Risikokonstruktionen soziale Unterscheidungen (re-)produzieren (Doing Difference), sodass insgesamt ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis anzunehmen ist. Fraglich ist nun, wie diese Perspektiven auf soziale Unterschiede und Unterscheidungen integriert werden können. Dies impliziert auch die Frage, wie Handlung und Struktur zusammengedacht werden können: Während Douglas letztere fokussiert, dominiert bei Olofsson und Kolleg*innen erstere. Hinsichtlich methodologischer und methodischer Anregungen stellt eine Stärke der lebensweltlichen bzw. reflexiven Ansätze dar, dass Offenheit betont wird gegenüber emischen Konzepten von Risiko, d.h. Konzepten der Interviewpartner*innen. Methodisch werden in den vorgestellten Ansätzen daher themenoffene bzw. -übergreifende Forschungsdesigns präferiert. Dies entspricht meinem Interesse, die lebensweltliche Relevanz von Angst bestmöglich zu explorieren. In Bezug auf die Datengewinnung ist insbesondere die Idee von Olofsson und Kolleg*innen interessant, über Fokusgruppen das Soziale von Anfang an zu berücksichtigen. Im

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Anschluss daran lässt sich fragen, inwiefern ein methodologischer Individualismus bei Einzelinterviews überwindbar ist. Diese stellen nicht nur generell das zentrale sozialwissenschaftliche Befragungsverfahren dar ‒ auch in der Sociology of Risk and Uncertainty ‒, sondern auch die Datenbasis meiner Untersuchung. Hinweise auf die Konzeption des Interviews als soziales Ereignis finden sich bei Henwood und Kolleg*innen, die dezidiert die Rolle der Forschenden bei der Datengenerierung berücksichtigen; hierauf lässt sich aufbauen. Ebenso finden sich bei Henwood und Kolleg*innen im Gegensatz zu den anderen Ansätzen hilfreiche Überlegungen zu interpretativen, mikrosprachlichen Auswertungsmethoden, die auch implizite Bedeutungen zu rekonstruieren vermögen ‒ was mit Blick auf die symbolischen Dimensionen von Risiken angemessen und notwendig ist. Allerdings sollte m.E. ihre Auswertungsmethodik noch stärker ›soziologisiert‹ werden, um mit Einzelinterviews nicht nur subjektive, individuumsbezogene Ergebnisse erzielen zu können. Eine weitere und große method(olog)ische Stärke stellt für mich die methodologische und epistemische Reflexivität dar, wie sie von Henwood und Wilkinson betont wird: Trotz eines offenen Vorgehens, das sich in Datenerzeugung wie -auswertung auf die Erzählungen und Erfahrungen der Beforschten einlässt, besteht das Risiko der Reifizierung etischer Konzepte, d.h. vorgängiger (theoretischer) Konzepte der Forschenden. Gemäß einer sozialkonstruktivistischen Epistemologie ist daher die Rolle der Forschenden bei der Wissensproduktion zu berücksichtigen. Diese Stärken gilt es nun (meta-)theoretisch und methodologisch zu integrieren und mit Blick auf Angst als Emotion weiterzudenken ‒ nur wie? In der Risikoforschung liegen einige Ansätze vor, die sich als integrativ verstehen (z.B. Kasperson et al. 1988, Krohn/Krücken 1993, Metzner 2002: 199ff., Renn et al. 2007: 61, Rosa 1998). Jedoch erfolgt hier die Integration mit Ausnahme von Krohn und Krücken aus einer metarealistischen Perspektive heraus, die sozialkonstruktivistische Dimensionen zu sehr vernachlässigt. Auch steht hier mehr die Dualität von objektiven Risiken und subjektiver Wahrnehmung im Fokus als Angst als eigenständiges soziales und lebensweltliches Phänomen. Meine Art der Integration erfolgt daher zum einen metatheoretisch aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive heraus, die es konsequent umzusetzen gilt, d.h. nicht nur als Perspektive auf die soziale Welt der Beforschten, sondern auch auf die Welt der Sozialforschung. Zum anderen gilt es, das Soziale der Angst zu fokussieren.

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen Eine qualitative Programmatik

Bisherige Ausführungen zu Angst bewegen sich entweder, wie im Fall der Zeitdiagnosen, auf makrosozialer Ebene oder auf individualpsychologischer Ebene (vgl. auch Schmitz/Flemmen/Rosenlund 2018). Wie demgegenüber Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen gefasst und wie dazu geforscht werden kann, ist meine theoretisch-methodologische »Gretchenfrage« und Thema dieses Kapitels. Im Folgenden entwerfe ich eine Programmatik, die in Anlehnung an die Formulierung des »Theorie-Methoden-Paket[s]« (Clarke 2005: 2) ein »Theorie-MethodologiePaket« darstellt, mit dem sich gegenstandsangemessen forschen lässt. Ungefähr zeitgleich zu mir haben sich auch andere Forschende aus dem deutschsprachigen Raum um eine solche soziologische Fassung von Angst bemüht: Max Dehne hat 2017 seine Monographie mit dem einschlägigen Titel »Soziologie der Angst. Konzeptuelle Grundlagen, soziale Bedingungen und empirische Analysen« veröffentlicht, Andreas Schmitz hat 2018 zusammen mit Kolleg*innen zwei theoretisch-empirische Artikel zu Angst publiziert (Schmitz/Flemmen/Rosenlund 2018, Schmitz/Gengnagel 2018). Beide stellen die theoretische und konzeptuelle Arbeit vor die empirische: Dehne rückt seine theoretisch-konzeptuellen Überlegungen in den Vordergrund (Kap. 1-6 seiner Arbeit), wobei er sich u.a. auf soziologische Klassiker, emotionssoziologische Ansätze, philosophische und psychologische Literatur stützt, und wendet diese Überlegungen abschließend empirisch auf ausgewählte Beispiele an (Kap. 7-8). Schmitz und Kolleg*innen verfolgen eine stark an Bourdieus Klassentheorie geschulte Perspektive, die im Rahmen einer quantitativen Untersuchung auch empirisch realisiert wird (Schmitz/Flemmen/Rosenlund 2018). Im Unterschied dazu waren meine theoretisch-methodologischen Überlegungen von Anfang an empirisch geleitet, um im Zuge einer permanenten Neujustierung die Gegenstandsangemessenheit meiner Programmatik zu sichern (vgl. Strübing et al. 2018: 86ff.). Meine qualitative Programmatik stand also nicht vor meiner empirischen Analyse fest, sondern stellt im Rahmen meines an der GroundedTheory-Methodologie orientierten Forschungsprozesses ein Ergebnis meiner Aus-

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Gesellschaft in Angst?

einandersetzungen mit dem Thema zwischen Empirie und Literatur dar.1 Bezüglich der Literatur knüpfe ich v.a. an die im vorigen Kapitel herausgearbeiteten Stärken verschiedener Ansätze der Sociology of Risk and Uncertainty an und integriere sie. Diese Integration erfolgt anhand vierer Bezüge: Pierre Bourdieus Soziologie, Karl Mannheims Wissenssoziologie, interviewtheoretischer sowie erzähltheoretischer Beiträge. Diese Bezüge verstehe ich als weithin kongruent und ansonsten komplementär (vgl. auch Bohnsack 2013a und 2017, Meuser 2013, Sommer 2015). Mit dieser Programmatik kann ich die Debatte in den für mich einschlägigen Forschungsfeldern um bislang wenig beachtete Perspektiven ergänzen.2 Im Folgenden geht es im ersten Unterkapitel mit Bourdieu und Mannheim um eine praxeologische Fassung der Lebenswelt und von Angst (Kap. 3.1). Anstelle einer umfassenden Werkexegese stelle ich dabei die für meine Arbeit zentralen Aspekte vor (Kap. 3.1.1) und integriere Angst in diesen theoretischen Rahmen (Kap. 3.1.2). Die drei folgenden Unterkapitel beinhalten die stärker methodologische Seite des »Theorie-Methodologie-Pakets«: eine forschungspraktisch gewendete Erkenntnistheorie (Kap. 3.2), eine differenzierende Interviewtheorie, die das Interaktive, Performative und Implizite berücksichtigt (Kap. 3.3), und schließlich eine Auswertungsmethodologie, deren Novum in der praxeologischen Emotionsanalyse liegt (Kap. 3.4). Zum Schluss bilanziere ich meine Überlegungen (Kap. 3.5).

1 Erste empirische Analysen haben bspw. die Frage aufgeworfen, welche Rolle soziale Ungleichheiten und Macht spielen. Auch stand Angst als zentraler Begriff nicht von Anfang an fest, sondern gewann v.a. durch die in Kap. 5.4 und 6.3 dargestellten empirischen Analysen an Bedeutung. Diese empirischen Beobachtungen galt es dann konzeptuell zu fassen, wobei die konzeptuelle Fassung wiederum die weiteren empirischen Analysen beeinflusste. 2 Insbesondere dass Bourdieu in der Sociology of Risk and Uncertainty kaum rezipiert wird, mag angesichts seiner allgemeinen soziologischen Prominenz überraschen. Dies liegt zum einen sicherlich daran, dass Bourdieu von wenigen Verweisen und seinem Spätwerk zu Prekarisierung abgesehen nicht explizit zu (Un-)Sicherheit gearbeitet hat. Zum anderen liegt dies aber auch am allgemeinen Theorie- bzw. Konzeptmangel der Sociology of Risk and Uncertainty und der damit einhergehenden Kanonisierung der vorhandenen drei Großtheorien (Becks Risikogesellschaft, Douglas’ Kulturtheorie und gouvernementalitätstheoretische Ansätze im Anschluss an Foucault). Die Potenziale von Bourdieus Soziologie sind demnach noch nicht ausgeschöpft, wurden aber erkannt (Crawshaw 2004, Crawshaw/Bunton 2009) und in verschiedener Hinsicht als theoretische Weiterentwicklungsmöglichkeit des Forschungsfeldes benannt (z.B. Alaszewski 2016 und Brown 2013). Mannheims Soziologie spielt, soweit ich es sehe, keine Rolle. Interviewtheoretische sowie erzähltheoretische Ansätze sind wie in Kap. 2 dargestellt teilweise rezipiert.

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

3.1

Sozialtheorie: eine praxeologische Konzeption der Lebenswelt und von Angst

Da die Begriffe Alltags- und Lebenswelt »en vogue« und vieldeutig sind, wie Hitzler und Honer vor drei Jahrzehnten (1984: 57) diagnostizierten, expliziere ich meine Gebrauchsweise. Bezugnehmend auf Husserls Phänomenologie ist die alltägliche Lebenswelt bzw. Alltagswelt Alfred Schütz zufolge der »vornehmlichste Wirklichkeitsbereich«, da er »jene Wirklichkeit« bezeichnet, »die der wache, normale Erwachsene in der natürlichen Einstellung als schlicht gegeben vorfindet.« (Schütz/Luckmann 2017: 53) Die alltägliche Lebenswelt bzw. Alltagswelt stellt entsprechend denjenigen Bereich dar, der für die Menschen in ihrem Denken und Handeln fraglos und selbstverständlich gegeben ist. Dabei ist die alltägliche Lebenswelt zugleich Bewusstseinsstruktur – im Sinne eines subjektiven und intersubjektiven Wissensvorrats, der die Teilhabe an dieser Alltagswelt ermöglicht – und Handlungsraum bzw. Ort der Praxis. Neben dieser Alltagswelt umfasst die Lebenswelt auch andere Sphären außerhalb der natürlichen Einstellung, etwa Traumwelten. Diese Begrifflichkeit Schütz’scher Herkunft bette ich im Folgenden aber in einen Bourdieu’schen und Mannheim’schen Theorie-Rahmen ein und verwende die Begriffe Alltags- und Lebenswelt in synonymer Weise. Erstens scheint mir eine trennscharfe Unterscheidung zwischen alltäglichen und sonstigen Lebenwelten schwierig und wenig sinnvoll, zweitens treffen Bourdieu und Mannheim diese Unterscheidung nicht. Stattdessen rücken sie andere Unterscheidungen in den Fokus, die es erlauben, die Schütz’sche Konzeption des Alltagswissens bzw. Common Sense in seinem Charakter und seiner Genese zu ›sozialisieren‹3 und zwei unterschiedliche Wissensdimensionen zu differenzieren – eine Differenzierung, die folgenreich ist für das Verständnis von Angst und auf die ich in den folgenden Abschnitten genauer eingehe. Denn Schütz fokussiert im Anschluss an Husserl weitgehend die egologische Bewusstseinsebene inklusive subjektiver Intentionalität, während Mannheim und Bourdieu das einzelne Subjekt als Sinnträger transzendieren und sich für genuin soziale Sinndimensionen interessieren. Dabei lassen sich insbesondere mit Mannheim zwei Sinn- bzw. Wissensdimensionen unterscheiden: das theoretische, kommunikative und explizierbare Wissen einerseits und das praktische, konjunktive und oft implizite Wissen andererseits. Entsprechend bezieht sich bei Schütz die wissenschaftliche Rekonstruktion des alltagsweltlichen Common Sense lediglich auf die bewussten Eigentheorien der Subjekte, während mit Bourdieu und v.a. Mannheim das praktische Wissen im 3 Für einen anderen Ansatz, das Lebensweltkonzept von Schütz zu ›sozialisieren‹, s. Brown 2016. Er greift dafür auf Habermas zurück.

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Vordergrund steht, das im Gegensatz zum theoretischen Wissen als stärker handlungsleitend gilt. Damit rückt die theoretische Verortung von der Schütz’schen Handlungs- mehr zur Praxistheorie (vgl. Bohnsack 2017: 15, 19f.). Diese stelle ich im Folgenden kurz vor, wobei ich mich in Bezug auf die sozialtheoretischen Ausführungen stark auf Bourdieu und bezüglich der methodologischen Erläuterungen mehr auf Mannheim sowie Ralf Bohnsacks Ausführungen zur praxeologischen Wissenssoziologie im Anschluss an Mannheim stütze.

3.1.1

Die Logik der Praxis

Die Logik der Praxis Während seines Militärdiensts in Algerien wurde aus dem Philosophen Bourdieu ein empirischer Sozialforscher: Als Kritiker des französischen Kolonialismus und den damit verbundenen Ansichten über eine angeblich vorlogische, ökonomisch irrationale und nicht modernisierbare Haltung der algerischen Bevölkerung war es ihm ein Anliegen, »den Franzosen daheim, und nicht zuletzt den Intellektuellen dort, ein wenig näherzubringen, was ›Algerien‹ eigentlich bedeutete« (Bourdieu/Schultheis 2007: 135). Diese Hinwendung zur lebensweltlichen Praxis, die den Bezugspunkt für Bourdieus Theorie bildet, macht seine Soziologie zu einer Praxeologie. In einem Interview, in dem er seine Forschung Revue passieren lässt, fasst er dies wie folgt zusammen: »Ein Gutteil meiner Arbeit, Der soziale Sinn zum Beispiel, wendet sich radikal gegen diesen Ethnozentrismus von Wissenschaftlern, die meinen, sie wüßten besser über die Wahrheit der Leute Bescheid als die Leute selber, und müßten sie zu ihrem Glück zwingen […]: Begriffe wie Habitus, Praxis usw. hatten unter anderem die Funktion daran zu erinnern, daß es ein praktisches Wissen gibt, eine praktische Erkenntnis, die ihre eigene Logik hat, nicht reduzierbar auf die Logik der theoretischen Erkenntnis; daß in gewissem Sinne die Akteure besser über die soziale Welt Bescheid wissen als die Theoretiker; und dennoch daran festzuhalten, daß sie nicht wirklich Bescheid wissen und daß die Arbeit des Wissenschaftlers darin besteht, dieses praktische Wissen explizit zu machen.« (Bourdieu 1991: 275, Herv. i. Orig.) Bourdieus hier angedeutete Abgrenzung von individualistischen Rational ChoiceAnsätzen (ausführlicher Bourdieu 1987b: 79ff.) mag aus heutiger soziologischer Sicht ein historisches Dokument einer inzwischen weithin ausdiskutierten Frage darstellen. Doch weiterhin wird in einigen Ansätzen der Risiko- bzw. Sicherheitsforschung Bezug genommen auf ein von (wissenschaftlichen) Expert*innen aufzuklärendes, noch zu irrational entscheidendes und handelndes Individuum, um es zum risikomündigen Bürger mit ausgeprägtem Risikobewusstsein und zum informierten Risikoentscheider zu machen (z.B. Krämer 2011, Renn 2014; kritisch dazu:

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

Brown 2016, Gerhold 2012). Wie in Kapitel 2.1 erwähnt, ist auch die Sociology of Risk and Uncertainty noch damit beschäftigt, sich vom Modell des zweckrational entscheidenden Individuums und dem damit einhergehenden methodologischen Individualismus abzulösen (vgl. Brown 2016, Zinn 2016). Bourdieu und Mannheim erlauben einen aussichtsreichen Blickwechsel (vgl. auch Crawshaw 2004, Crawshaw/Bunton 2009): Wissenschaft muss sich selbst zuerst über die soziale Logik der Praxis aufklären ‒ ohne diese zu folklorisieren ‒, bevor sie soziologische Aufklärung betreiben kann. Was macht diese Logik der Praxis genau aus? Erstens betont Bourdieu eine spezifische Ökonomie der Praktiken: Die Praktiken sind vernünftig, ohne notwendigerweise einer bewussten Kalkulation und einem durchdachten Plan zu folgen. Sie sind aber auch nicht durch äußerliche und übergeordnete Mechanismen determiniert (Bourdieu 1987b: 95). Diese Perspektive zwischen Handlung und Struktur drückt sich in Bourdieus Begriff für den Menschen aus: Der Mensch ist in seiner Soziologie ein Akteur ‒ bzw. im Französischen »agent« ‒, der aktiv handelt, aber nie gänzlich autonom ist, sondern immer auch ein ›Agent‹ seiner Gesellschaft (dazu Krais/Gebauer 2002: 84 und Krais 2004: 177). Entsprechend dieser Vermittlung zwischen subjektorientierten Handlungstheorien bzw. dem Konstruktivismus, wie Bourdieu es nennt, und der Bedeutung struktureller Dimensionen lässt sich von »strukturalistischem Konstruktivismus oder von konstruktivistischem Strukturalismus sprechen« (Bourdieu 1992: 135).4 Die Akteur*innen handeln entsprechend strategisch in dem Sinne, dass sie ihrem »Sinn« für das jeweilige »Spiel« folgen (Bourdieu 1986: 156). Dieser Sinn wird als praktischer Sinn konzipiert, der ein sozialer Sinn ist und sich als »Doxa« präsentiert, d.h. als selbstverständlich und fraglos gegeben.5 In seinen Feldforschungen in Algerien 4 Mit Konstruktivismus, von Bourdieu auch »Sozialphänomenologie« genannt, meint er eine subjektivistische und voluntaristische Perspektive, die den freien Willen und individuelle Bewusstheit zum Ausgangspunkt nimmt und dabei den sozialen Kontext und die Bedingungsmöglichkeiten von Handeln vergisst, denn »diese Konstruktion geschieht unter strukturellen Zwängen.« (Bourdieu 1992: 143, s. auch Bourdieu 1987b: 50) Der Strukturalismus, von Bourdieu auch als »Sozialphysik« bezeichnet, fokussiert die vom individuellen Willen und Bewusstsein unabhängigen objektiven Strukturen, verfolgt aber ein mechanistisches, deterministisches Weltbild, welches die Akteure zu »Epiphänomenen der Struktur« (Bourdieu 1992: 28) degradiert und die Zusammenhänge von Strukturen und subjektivem Sinn vernachlässigt (Bourdieu 1987b: 52). Bourdieu will diesen Dualismus (ebenso wie andere Dualismen) überwinden. Dennoch wurde Kritik laut, die bei ihm eine Überbetonung des Strukturalismus und damit einen Determinismus sieht. Ich schließe mich Markus Rieger-Ladichs (2005) Kritik an dieser Kritik an und sehe dies zudem im Kontext dieser Arbeit als wenig problematisch, da ich u.a. mit Einbezug der gesellschaftstheoretischen Perspektive des Doing (Kap. 2.3.2) und der unten präsentierten Fassung des Interviews u.a. als Interaktionsereignis (Kap. 3.3) die situative Eigenlogik und Aktivität der Akteur*innen dezidiert berücksichtige. 5 In der Risikoforschung ist diese Perspektive unter dem Stichwort »soziale Rationalität« bekannt (dazu insbesondere Perrow 1992 und Wynne 1982).

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Gesellschaft in Angst?

identifizierte Bourdieu etwa die Frage der Ehre als zentrales und handlungsleitendes Prinzip der dortigen Ökonomie der Praxis. Zweitens ist die Logik der Praxis durch diesen doxischen Charater oft eine präreflexive Logik. Handelt man im Modus des Selbstverständlichen und Routinisierten, so ist eine Bewusstmachung der Logik nicht nötig ‒ und im Handlungsdruck des Alltags auch nicht immer möglich. Drittens ist die Logik der Praxis immer in Bezug auf die jeweiligen sozialen Kontexte und damit relational zu verstehen: Sie kann nicht im luftleeren Raum des Labors bestimmt werden (Bourdieu 1987b: 166) und folgt nicht einer Logik der Logik, derzufolge sich einzelne Faktoren sauber trennen ließen, sondern sie hat eine Geschichte und einen Kontext, aus denen heraus einzelne Handlungen erst ihre Bedeutung gewinnen. Nichts ist an sich bedeutsam. Diese Idee bezeichnet Bourdieu auch als »strukturelle Methode«, die er einem »substantialistischen Denken« gegenüberstellt (Bourdieu 1987b: 12). Dies spannt den Bogen zu Douglas’ relationalem Verständnis von Risiko als Teil bestimmter kultureller Präferenzen (Kap. 2.2.2). Was ein solches Verständnis in Bezug auf hiesige zeitgenössische Gesellschaften und mein Forschungsthema bedeutet, lässt sich u.a. in der Studie von Paul Crawshaw (2004) bzw. Paul Crawshaw und Robin Bunton (2009) erkennen. Die britischen Autoren interessieren sich für die Logik der Praxis von Gewalt- und Drogenerfahrungen junger Männer in einer Arbeitersiedlung in Nordengland ‒ also für Verhaltensweisen, die einem offiziellen Diskurs zufolge als deviant und gefährlich gelten. Im Unterschied zu bisherigen Beiträgen kommen Crawshaw und Bunton aber zum Schluss, dass die jungen Männer nicht aktiv diese Risiken aufsuchen, sondern dass sie habituell und damit sozial bedingt diese Risiken als gewöhnliche Ereignisse und daher nicht als gravierend bewerten. Denn aus ihrer Perspektive sind die durch Schlägereien verursachten Gefahren weniger bedeutsam als diejenigen, die durch Abweichungen von akzeptierten Normen und Praktiken entstehen. Letztere wiederum sind durch einen bestimmten Habitus definiert, den die Autoren als soziohistorisch konstituierten männlichen Arbeiterklassehabitus fassen, für den eine gewisse Abgebrühtheit und Aggressivität typisch seien. In der Logik der Befragten sind Gewalt und Drogenkonsum demnach nicht deviant, sondern normal und gar positiv zu bewerten. Negativ bewertet werden hingegen die ›wahren‹ Junkies, von denen sie sich abgrenzen. In der deutschsprachigen Forschungslandschaft kommt Daniela Klimke (2008) das Verdienst zu, Bourdieus Überlegungen für die Kriminalitätsfurcht- und Sicherheitsforschung fruchtbar gemacht zu haben. U.a. mit Rekurs auf Bourdieus Habitus-Begriff schlägt sie das Konzept der »Sicherheitsmentalitäten« vor, das sowohl die Risiko-Objekte (d.h. in ihrem Fall Kriminalitätsereignisse) als auch die Risikosubjekte dezentriert und das Soziale bzw. Soziokulturelle in den Fokus der

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

Aufmerksamkeit rückt.6 Das ist in wissenschaftlichen Feldern, die weithin der Unterscheidung von individueller bzw. subjektiver und objektiv(iert)er Unsicherheit folgen, bemerkenswert.

Die Seinsgebundenheit des Wissens Mit dem bereits erwähnten Habitus-Begriff bezeichnet Bourdieu ›eingefleischte‹ »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata« (Bourdieu 1987b: 98). Dies entspricht weitgehend Mannheims Konzeption des konjunktiven Wissens, das ebenfalls ein praktisches, handlungsleitendes und oft implizites Wissen ist (z.B. Corsten 2010, Meuser 2013).7 Habitus bzw. konjunktives Wissen zeichnen sich durch ihre Seinsgebundenheit, d.h. Standort- und Erfahrungsgebundenheit aus: Bourdieu nimmt an, dass strukturgleiche Lebenslagen bzw. Existenzbedingungen – insbesondere im Rahmen von Klassenverhältnissen – homologe Habitusformen erzeugen, ohne sie zu determinieren (Bourdieu 1987b). Mannheim geht davon aus, dass geteilte, konjunktive Erfahrungsräume ‒ etwa generations- oder geschlechtsspezifische ‒ mit einem gemeinsamen, konjunktiven Wissen verbunden sind (Mannheim 1980, 2004; zur Differenzierung Bohnsack 2014: 69). Diese Seinsgebundenheit hat zwei Implikationen. Erstens ist praktisches Wissen immer ein sozial geteiltes Wissen, was Bourdieu (1998: 17) mit dem Dreiklang der »sozialen Position«, den entsprechenden »Dispositionen« (Habitus) und der »Position, die jemand bezieht«, zum Ausdruck bringt. Für Akteur*innen in der gleichen sozialen Position dürfte aufgrund ihrer strukturgleichen Erfahrungen und Dispositionen eine »Abgestimmtheit ohne Abstimmung« (Barlösius 2011: Kap. 4) zutreffen – ohne dass sie sich persönlich kennen. Da Menschen aber stets in verschiedener Hinsicht sozial positioniert sind bzw. an unterschiedlichen Erfahrungsräumen teilhaben, überlagern sich im Habitus einer Person verschiedene Erfahrungsdimensionen, die nur analytisch getrennt werden können (vgl. Bourdieu 1997a: 222). Diese Mehrdimensionalität des Sozialen lässt sich besonders gut im Anschluss an Mannheim denken (Bohnsack 2017: 117ff.), während sich mit Bourdieu die soziale Position ungleichheitstheoretisch im Sinne der 6 S. dazu auch das im Rahmen der BMBF-Sicherheitsforschung geförderte Projekt »Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum« (SIMENTA; 2012-2015). URL: www.simenta.de/ (zuletzt geprüft am 13.05.2019). 7 Auch Mannheim nutzt den Habitusbegriff, allerdings eher beiläufig (Neun 2015). Doch nicht nur begrifflich, sondern auch ideengeschichtlich findet sich eine Parallele zu Bourdieu: Mannheim pflegte einen Austausch mit dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky, der sich an zentraler Stelle auf Mannheim und dessen dokumentarische Methode bezieht (Bohnsack 2017: Kap. 9.1.). Bourdieu wiederum hat das Habituskonzept über Panofsky rezipiert und in Folge dessen ausgearbeitet (Bourdieu 1991b: Kap. IV, s. auch Bourdieu 1992: 30).

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Kapitalausstattung der Akteur*innen (dazu unten) fassen lässt. Beide Perspektiven sind für meine Arbeit wichtig (vgl. insbesondere Kap. 6.3 und 7.). Zweitens sind Habitustransformationen möglich, wenn sich Rahmenbedingungen (etwa die Struktur eines Feldes) ändern und neue Erfahrungen gemacht werden. Insgesamt neigt der Habitus Bourdieu zufolge allerdings mehr zur Beständigkeit als zum Wandel: Das zur zweiten Natur gewordene Soziale ist somatisiert und eingefleischt (Bourdieu 2002). Aus dem eigenen Körper mit all seinen praktischen, routinisierten und präreflexiven Wissensbeständen kann man nicht so einfach wie aus einer sozialen Rolle schlüpfen (Krais 2007, Krais/Gebauer 2002).

Praktisches, implizites und theoretisches, explizites Wissen Bisher habe ich auf das praktische Wissen fokussiert und die andere Wissensart des theoretischen Wissens nur erwähnt. Die Differenzierung dieser Wissensarten ist bei Bourdieu zwar angelegt, aber nicht ausreichend diskutiert. Daher ist es sinnvoll, sich Karl Mannheim zuzuwenden (vgl. auch Meuser 2013: 224). Mannheim (1980, 2004) unterscheidet insgesamt drei Formen von Wissen bzw. Sinn. Der in Bezug auf Schütz schon erwähnte »intendierte Ausdruckssinn« als subjektiv gemeinter Sinn ist eine Sinnform, die aufgrund ihrer Subjektförmigkeit und Bewusstheitszentrierung nicht in Mannheims soziologischem Interesse liegt (Mannheim 1980: 101ff.). Zentral ist für ihn vielmehr die Unterscheidung von zwei weiteren, genuin sozialen Wissens- bzw. Sinnarten, die auch im Fokus meiner Arbeit stehen: das kommunikative als theoretisches, explizites bzw. explizierbares Wissen und das konjunktive als praktisches, implizites Wissen.8 Kommunikatives Wissen meint explizierbares, theoretisches Wissen (wissen was) und verweist z.B. auf lexikalische Wortbedeutungen, die Common Sense- und Eigentheorien der Akteur*innen, ihr Norm- und Regelwissen sowie Rollenerwartungen und Identitätsnormen im Sinne Goffmans (Bohnsack 2017: 54ff.). Bohnsack zufolge geht es bei der Identitätsdarstellung gemäß dieser Normen v.a. um die Frage, wie man von anderen identifiziert werden will, und nicht darum, wie man habituell ist (ebd.: 303ff.). Die Dimension des kommunikativen Wissens eröffnet daher keinen adäquaten Zugang zur Praxis. Die damit verbundene Sinndimension wird auch als objektiver Sinn bezeichnet: Zwar ist dieser Sinn sozial konstituiert, aber inzwischen (ver-)objektiviert. Dadurch eröffnet sich ein denksoziologischer Zugang zum Sozialen, der mit diskurstheoretischen Ansätzen kompatibel ist (Kruse 2015: 33f.). Diese Wissensart steht in Kapitel 5 im Vordergrund, wenn ich frage, 8 Eine ähnliche Unterscheidung findet sich bei Flick und Giddens. Flick (1996: 149) unterscheidet aus einer psychologischen Sicht mit Blick auf das Gedächtnis zwischen dem abstrakt-begrifflichen und dem konkret-episodischen Wissen. Giddens (1997: 431) unterscheidet diskursives und praktisches Bewusstsein.

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

welche lexikalischen Bedeutungen die verschiedenen (Un-)Sicherheitssemantiken für die Interviewpartner*innen haben. Ebenfalls lassen sich die Positionierungsund Politisierungsaktivitäten der Interviewpartner*innen in den Kapiteln 6.4 und 6.5 schwerpunktmäßig als Beispiel für das kommunikative Wissen verstehen. Der Dokumentsinn hingegen, der Bourdieus Konzeption des praktischen, handlungsleitenden Sinns entspricht, ist mit dem konjunktiven und atheoretischen Wissen verbunden (wissen wie), das oft ein implizites, präreflexives Wissen ist (s. auch Bohnsack 2013a). Dessen Rekonstruktion ermöglicht einen praxeologischen Zugang zur sozialen Wirklichkeit, den ich in den Kapiteln 6.3 und 7 suche. Während es in Kapitel 6.3 um Angst als Emotion geht, beantwortet Kapitel 7 die Frage, welche Ängste lebensweltlich (k)eine Rolle spielen. Diese methodologische Perspektive auf den sozialen, insbesondere praktischen Sinn ist allerdings in der Risiko- und Sicherheitsforschung sowie Sociology of Risk and Uncertainty kaum vorzufinden. Hier scheint mir die Unterscheidung von praktischem und theoretischem Wissen und damit zusammenhängend die explizite Benennung des interessierenden Wissens bzw. Sinns bisher wenig rezipiert. Dies liegt sicherlich auch daran, dass dort wenig qualitativ geforscht wird und dabei methodologische Fragen wenig im Fokus stehen. Steht Sinnverstehen nicht im Fokus, so stellt sich auch die Frage nach dem Status des interessierenden Sinns bzw. Wissens nicht. Dies zeigt sich in der vorliegenden Forschungsliteratur auch in einer Miss-Konzeption dessen, was Interviewforschung vermag. So wird gelegentlich bemängelt, dass in Interviews lediglich Sicherheitsdiskurse reproduziert oder kurzlebige Meinungsbilder erhoben würden (z.B. Wilken 2014: 67). Dies mag zum einen erhebungsmethodisch darin begründet sein, dass nach kognitiven Dimensionen wie Meinungen gefragt wird, von denen man nicht weiß, wie handlungsleitend sie sind (Krohn/Krücken 1993: 28) – eher weniger, wie aus einer praxeologischen Perspektive zu vermuten ist. Zum anderen dokumentiert sich darin m.E. eine konzeptuelle und auswertungsmethodische Lücke: Zwar können Meinungen wechselhaft und nicht reliabel zu reproduzieren sein. Doch versteht man Meinungsäußerungen als Oberflächenphänomene und fragt nach dem tieferliegenden praktischen Sinn, lässt sich nach meiner Programmatik zu einer relativ stabilen geistig-moralischen, handlungsorientierenden Haltung kommen, die Bourdieu mit dem Habitus (s.o.) und Mannheim mit dem konjunktiven Wissen fasst (zur Auswertungsmethodologie s. Kap. 3.4.2, zu einschlägigen Ergebnissen s. Kap. 7.7).

Kapital, Konflikt und Macht So sehr konjunktive Erfahrungsräume bzw. konjunktives Wissen und Habitusverwandtschaften aufgrund einer »Abgestimmtheit ohne Abstimmung« (Barlösius 2011: Kap. 4) ein intuitives Verstehen ermöglichen, so sehr ergeben sich aus der gesellschaftlichen Pluralität der Positionen und Perspektiven Spannungen und

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Konflikte, was sich mit Bourdieu theoretisieren lässt. Denn ihm zufolge ist die soziale Praxis nicht nur durch soziale Ungleichheiten gekennzeichnet, sondern schafft und verstärkt als »klassifizierende Praxis« (Krais 2011: 37) soziale Unterscheidungen und Ungleichheiten. Dabei berücksichtigt Bourdieu materielle oder symbolische Dimensionen. Eine zentrale Rolle spielen im Rahmen seiner Konfliktsoziologie die Kapitalsorten. Wie erwähnt, versteht Bourdieu die Logik der Praxis als eine ökonomische Logik: Die eigenen Anstrengungen und Bemühungen sollen einen bestmöglichen Ertrag erzielen. Die Interessen, Strategien und Möglichkeiten der Akteure ergeben sich für Bourdieu zentral aus ihrer jeweiligen sozialen Position. Diese wiederum ist Ergebnis der jeweiligen Kapitalausstattung hinsichtlich ihrer Zusammensetzung, ihres Umfangs sowie der Geschichte ihres Erwerbs. Dabei sind je nach sozialem Feld unterschiedliche Kapitalsorten im Machtkampf relevant, jedoch lassen sich die Kapitalsorten auch feldübergreifend charakterisieren (Barlösius 2011: 105ff.).9 So unterschied Bourdieu (1983) zunächst v.a. drei Kapitalformen: erstens das ökonomische Kapital, das »unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar« ist (ebd.: 185); zweitens das soziale Kapital als beziehungsbasierte Ressource, deren Ausprägung »sowohl von der Ausdehnung des Netzes von Beziehungen« abhängt, die der Akteur mobilisieren kann, als auch »von dem Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigen besitzen, mit denen er in Beziehung steht« (ebd.: 191); drittens das kulturelle Kapital, das in verinnerlichter, inkorporierter Form auftreten kann (als Wissen oder Fähigkeit), in objektiviertem Zustand (etwa als Kunstwerk) oder in institutionalisierter Form (als Bildungstitel). Zwischen diesen Kapitalsorten gibt es bestimmte, feldspezifische Wechselkurse und Transformationsmöglichkeiten. Soziales und kulturelles Kapital sind bspw. »unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital konvertierbar« (ebd.: 185). Allerdings existieren diese Ressourcen bei Bourdieu nicht objektiv. Daher lassen sich die Positionen der sozialen Akteure nicht unmittelbar aus ihrer Kapitalausstattung ableiten. Vielmehr müssen Ressourcen als solche sozial anerkannt sein, was auf ihre symbolische Dimension verweist (Suderland 2014: 134). Sozialer Kampf ist daher immer auch und in zentraler Weise ein Klassifikations- und Bewertungskampf darum, wessen bzw. welches Kapital als relevant anerkannt oder verkannt wird und wie die Wechselkurse stehen. Entsprechend stellt symbolisches Kapital ein Meta-Kapital dar: »Symbolisches Kapital verleiht die Macht, die bestehenden Kräfteverhältnisse in den Feldern zu legitimieren.« (Barlösius 2011: 111) Symbolischer Kampf meint in diesem Sinne Bestrebungen, im Grunde partikulare und willkürliche Unterscheidungen zu als legitim und universell geltenden Weltsichten zu 9 Bourdieu versteht Gesellschaft nicht als einheitlichen Handlungsraum, sondern differenziert verschiedene (Sub-)Felder, die ihren eigenen Spielregeln bzw. Logiken folgen (Bourdieu/Wacquant 1996: 124ff.).

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erheben (Schultheis 2008: 43). Symbolische Macht als die Macht des symbolischen Kapitals meint entsprechend das »Vermögen des worldmaking« (Bourdieu 1992: 151), sodass die getroffenen Klassifikationen und die damit verbundenen Wertungen nicht mehr als willkürlich gelten, hinterfragt und umkämpft werden, sondern als selbstverständlich, moralisch gut und legitim anerkannt werden. Symbolische Gewalt zeichnet sich daher gerade durch die »Verkennung der Willkür« aus, »die den sozialen Trennlinien und Bedeutungen zu Grunde liegt« (Rehbein 2011: 191). Genau dies macht die symbolische Macht auch so subtil, wirkmächtig und perfide, da sie die Beherrschten an der eigenen Unterwerfung beteiligt und zu Kompliz*innen der symbolischen Gewalt macht (Schultheis 2008).10 Als paradigmatisches Beispiel für diese Form der Machtausübung sieht Bourdieu die männliche Herrschaft: Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden nicht als sozial gemachte und damit kritisierbare aufgefasst, sondern als ontologisch gegebene naturalisiert ‒ wobei der quasi-ontologische Charakter männlich oder weiblich geprägter Habitus ja überhaupt erst durch die zugrunde liegende soziale Klassifikation zustandekommt (Bourdieu 1997a, 2002; vgl. auch Jäger/König/Maihofer 2015, Krais 2007, 2011). In ähnlicher Weise benennt er Rassismus als machtvolle soziale Klassifikation, die sich den Anschein des Naturgegebenen gibt (Bourdieu 1993b: 252ff.). In seinen letzten Werken zur Prekarisierung (insbesondere Bourdieu 2004) hat sich Bourdieu außerdem mit der symbolischen Macht neoliberaler Rhetorik befasst, deren Propagierung von Meritokratie, also dem Leistungsund Eigenverantwortungsprinzip, bereits so stark verbreitet ist, dass sich kaum Widerstand regt. In der Folge werden soziale Ungleichheiten nicht nur reproduziert, sondern sogar als gerecht anerkannt und damit in ihrem machtvollen Kern verkannt. Die Frage ist nun, wem diese symbolische Macht zukommt, deren zentrales Medium die klassifizierende und performativ wirkende Sprache ist (Bourdieu 1990). Bourdieu geht zum einen davon aus, dass symbolisches Kapital mit der Verteilung des Gesamtkapitals in der Gesellschaft einhergeht: Die Herrschenden bestimmen tendenziell die herrschende Terminologie, objektive Machtbeziehungen übersetzen sich damit in symbolische (vgl. Rehbein 2011: 192). Zum anderen prägt aber auch die symbolische Ordnung die soziale: »Mehr und mehr drängt sich mir der Gedanke auf, ob die sozialen Strukturen von heute nicht die symbolischen Strukturen von gestern sind« (Bourdieu 1992: 32). Diese Wechselwirkung 10 Bourdieu selbst unterscheidet nicht trennscharf zwischen den Begriffen der Macht, Herrschaft und Gewalt (z.B. Bittlingmayer/Bauer 2014: 119, Krais 2008: 53). Plausibel ist es aber, Macht und Herrschaft als gesellschaftliches Strukturprinzip im Sinne von Herrschaftsverhältnissen zu verstehen und Gewalt als den unmittelbaren Vollzug der Herrschaftsausübung in der Interaktion (ebd., vgl. auch Krais 2011 und Peter 2011).

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von symbolischer und sozialer Ordnung begründet die Reproduktion sozialer Ungleichheit, für die Bourdieus Theorie so bekannt ist.

3.1.2

Angst in der Logik der Praxis

Nachdem ich zentrale Aspekte der Logik der Praxis vorgestellt und dabei teilweise Bezüge zu meinem Forschungsgegenstand hergestellt habe, werde ich Angst im Folgenden umfassender in dieser Logik der Praxis verorten. Zwar spielen sowohl bei Bourdieu als auch bei Mannheim Emotionen im Allgemeinen und Angst im Speziellen kaum eine Rolle, doch findet Angst hier dennoch einen adäquaten theoretischen Ort. Scheers (2012, 2016, 2017) Emotionskonzept folgend, das ich bereits in der Einleitung der Arbeit skizziert habe (Kap. 1.3), lassen sich Emotionen als Teil habitueller Dispositionen verstehen: Sie werden vom Habitus produziert und umgekehrt produzieren sie ihn. In Bourdieus Charakterisierung des Habitus als ›eingefleischte‹ »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata« (Bourdieu 1987b: 98) sind daher die Gefühlsschemata zu ergänzen. Dass Angst als eines dieser Gefühle gelten kann, hat jüngst auch Schmitz gezeigt (Schmitz/Flemmen/Rosenlund 2018). Mit Blick auf »Die feinen Unterschiede« (Bourdieu 1987a) versteht er Angst als Teil klassenspezifischer Wertvorstellungen, eines klassenspezifischen Geschmacks und entsprechender Distinktionsstrategien. Von Bourdieus Klassentheorie abstrahierend und auch auf Mannheim rekurrierend lässt sich damit ein allgemeines sozialtheoretisches Modell von Angst formulieren, das Objektivismus und Subjektivismus, Makro- und Mikroebene, Sozialstruktur und Kultur verbindet: Zentral dafür, inwiefern und welche Ängste relevant sind, ist zunächst die objektive Position im sozialen Raum im Sinne bestimmter Lebenslagen, Existenzbedingungen und konjunktiver Erfahrungsräume, die oft sozialstrukturell gefasst werden können. Mit dieser Position bzw. diesen Erfahrungen gehen typischerweise, wenn auch nicht in kausaler Weise, spezifische Dispositionen einher im Sinne homologer Wissensstrukturen und kultureller Wertvorstellungen. Diese Dispositionen beinhalten Vorstellungen eines guten Lebens (Stichwort Geschmack) samt Vorstellungen von Sicherheit. Mit Klimke (2008) formuliert geht es hierbei um Sicherheitsmentalitäten, mit Blinkert (2009) gesprochen um Sicherheitsgewohnheiten und -ansprüche. Diese sind als Teil des praktischen, habitualisierten Wissens den Akteur*innen nicht unbedingt bewusst. Zugleich sind sie aber die Deutungsfolie, anhand derer relevante Ängste im Sinne eines gruppenspezifischen Risikoportfolios bestimmt werden. Angst ist dabei sowohl ein individuell empfundenes Gefühl als auch grundlegend sozial verortet: »Insofern Menschen einen Erfahrungsvorrat sozialer Wirklichkeit teilen, bilden sich unter ihnen auch gemeinsame Gefühlsdispositionen heraus.« (Neckel 2006: 124)

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Solche gemeinsamen Angstdispositionen haben bereits Voss, Seidelsohn und Krüger (2017) mit Bezug zu Bourdieus Milieukonzept und Schmitz, Flemmen und Rosenlund (2018) in Rückgriff auf Bourdieus Klassentheorie analysiert. Schmitz und Kolleg*innen bestimmen in ihrer standardisierten Analyse norwegischer Daten soziale Klassen anhand des ökonomischen und kulturellen Kapitals und können zeigen, inwiefern die Ängste mit der Kapitalkomposition und dem Kapitalvolumen der Akteur*innen variieren. Die Angst vor Treibhausgasen und anderen Umweltproblemen bspw. nimmt mit der Menge kulturellen Kapitals zu. Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist v.a. bei niedrigem Gesamtkapital und insbesondere wenig ökonomischem Kapital ausgeprägt. Bei wenig Gesamtkapital und wenig kulturellem Kapital spielen u.a. Ängste vor Terrorismus und Betrugsdelikten eine zentrale Rolle. Ohne dass die Autor*innen dies wissen, erinnert ihre Analyse stark an Douglas’ Kulturtheorie des Risikos (Kap. 2.2.2), allerdings mit dem aus meiner Sicht begrüßenswerten Unterschied, dass die kulturellen Dimensionen soziologisch (hier: sozialstrukturell) rückgebunden werden. In zwei Aspekten erscheint es mir aber sinnvoll, von den Autor*innen abzuweichen. Einerseits kann eine Bourdieu’sche Klassen- und Milieuanalyse Sinn machen, allerdings dürfen andere möglicherweise relevante konjunktive Erfahrungsräume nicht aus dem Blick geraten. Um den Blick offenzuhalten, eignet sich die Vorstellung des Sozialen als mehrdimensional, wie Bohnsack (2017: Kap. 4.4) sie im Anschluss an Mannheim offeriert. Statt vorauszusetzen, dass bspw. Klasse relevant ist, gilt es empirisch zu rekonstruieren, auf welche konjunktiven Erfahrungsräume das praktische Wissen verweist. Andererseits wird in den Analysen nicht deutlich, was genau es bedeutet, wenn die Interviewpartner*innen angeben, vor bestimmten Dingen Angst zu haben. Dass bspw. hohes kulturelles Kapital mit der Angst vor Umweltproblemen einhergeht, überrascht nicht mit Blick auf das linksalternative, akademisch gebildete Milieu, das über dieses Kapital verfügt. Allerdings stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um eine Angstexpression gemäß milieuspezifischer (Identitäts-)Normen handelt oder um eine alltagspraktisch gefühlte Angst. Methodologisch betrifft dies die Unterscheidung zwischen dem theoretischen, kommunikativen Wissen und dem praktischen, konjunktiven Wissen. Diese Unterscheidung, die Bourdieu selbst nicht so dezidiert trifft, ist aber entscheidend für die empirische Analyse des Phänomens. Denn wenn Angst als Teil habitueller Dispositionen verstanden wird, ist es nur konsequent, Angst als ein praktisches Nicht-Wissen bezüglich der Zukunft zu definieren. Angst im Sinne eines theoretischen Wissens bedeutet dann etwas anderes, etwa die strategische Nutzung von Angst als Mittel im Konflikt (vgl. dazu Kap. 3.3.2 zum Performativen). So beschreiben auch Schmitz und Gengnagel (2018), dass es im Konflikt um die symbolische Ordnung der Gesellschaft auch um die Verhandlung legitimer und illegitimer Ängste geht. Wie ich später zeige (Kap. 3.4), kann eine qualitativ-re-

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konstruktive und genauer praxeologische Auswertungsmethodologie bestimmen, worum es jeweils geht, und so zu differenzierten Ergebnissen kommen (s. v.a. Kap. 6 und 8.3).

3.2

Erkenntnistheorie: eine soziologische Konzeption und ihre forschungspraktischen Folgen

Die nun aufgearbeitete Fassung des Sozialen ist für die soziologische Arbeit folgenreich, denn Bourdieus und Mannheims Theorie der Sozialwelt ist eng verbunden mit ihrer Theorie der soziologischen Erkenntnis: Auch das Wissen der Wissenschaftler*innen ist prinzipiell standortgebunden und wird unter Rekurs auf deren präreflexives soziales Wissen generiert. Und beide Autoren bleiben bei dieser Feststellung nicht stehen, sondern fordern vor diesem Hintergrund eine Soziologie der Soziologie (s. Neun 2015, auch für einen Vergleich zwischen Bourdieu und Mannheim). Im Folgenden werde ich im Rückgriff auf Bourdieu darlegen, was diese erkenntnistheoretische Verortung forschungspraktisch bedeutet. Zum einen geht es darum, mit den gesellschaftlichen Präkonstruktionen des Gegenstandes zu brechen (Kap. 3.3.1), zum anderen darum, die eigenen wissenschaftlichen Konstruktionen zu reflektieren (Kap. 3.3.2). Dies erinnert an die Überlegungen von Wilkinson (Kap. 2.4.2), aber v.a. von Henwood und Kolleg*innen (Kap. 2.4.1), sodass ich abschließend einen kurzen Vergleich vornehme und meine eigene Position zur Positionsgebundenheit von Wissen expliziere.11

3.2.1

Bruch statt Präkonstruktionen

Was macht nun gemäß Bourdieu soziologische Erkenntnis aus? Im Anschluss an die französische Wissenschaftsphilosophie v.a. Gaston Bachelards, dessen Schüler Bourdieu war, fordert er einen epistemologischen Bruch mit dem Common Sense. Soziologie sollte in diesem Sinne mit den gesellschaftlichen Präkonstruktionen des Forschungsgegenstandes brechen, um soziale Probleme nicht unmittelbar in 11 Auch hier scheint ein Unterschied zur Wissenssoziologie im Anschluss an Schütz zu bestehen. So unterscheiden Berger und Luckmann in ihrem Buch »Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« (1994 [1966]: 14) zwischen dem Busfahren (der Erforschung des Alltagswissens) und dem Busschieben (der Hinwendung zur eigenen Erkenntnisproduktion) und meinen, dass man nicht den Bus schieben könne, in dem man fahre. Für Bourdieu und Mannheim besteht hingegen eine Pflicht zur Selbstreflexivität, auch im ›laufenden Betrieb‹. Gottfried Pfeffer hat diese Gleichzeitigkeit der Erforschung des Gegenstandes und der erkenntnistheoretisch geschulten selbstreflexiven Forschung auf den Punkt gebracht: »Bourdieu schiebt lieber den Bus, in dem er fährt.« (1985: 294)

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

soziologische Probleme zu übersetzen (z.B. Bourdieu 1991a und 1996). Dies mag zunächst verwunderlich klingen, denn ist Soziologie nicht die Wissenschaft, die angetreten ist, soziale Probleme wie Angst zu analysieren und zu ihrer Lösung beizutragen? Insbesondere der späte Bourdieu (z.B. Bourdieu et al. 1997, Bourdieu 2004, vgl. auch Trebbin 2013) würde diese Frage nicht verneinen, aber die Notwendigkeit eines eigenständigen soziologischen Blicks betonen, der sich nicht managerialen oder staatlich-bürokratischen Anforderungen unterordnet, sondern sein reflexives und kritisches Potenzial entfaltet (ähnlich argumentiert Wilkinson, s. Kap. 2.4.2). Diesen wissenschaftlichen Blick zu erlangen stellt für Wissenschaften wie die Soziologie allerdings eine Herausforderung dar, da die Forschenden Teil der untersuchten Sozialwelt sind und diese Sozialwelt selbst schon voller Konstruktionen ist: »Überall ist Vorkonstruiertes.« (Bourdieu 1996: 269) Bourdieu betont nun, wie wichtig ist es, nicht die präkonstruierten Objekte des Common Sense, die oft auf bürokratischen und politischen Problem- und Objektdefinitionen beruhen, als wissenschaftliche Problemstellungen zu übernehmen, auch wenn man dadurch sicherlich auf breite Zustimmung stößt (Bourdieu 1991a: 272). Empirisch gewendet grenzt er sich in diesem Zusammenhang von der Figur des »Doxosophen« ab, wie sie bereits von Platon beschrieben wurde: eines Meinungstechnologen, der für die präkonstruierten Problemdefinitionen ‒ die Doxa ‒ die passenden Umfragedaten liefert und die Doxa damit bestätigt (Bourdieu 2004: 30, dazu auch Kap. 8.1). Demgegenüber plädiert Bourdieu mit Bachelard für eine »epistemologische Wachsamkeit«, die sich der »Illusion des unmittelbaren Wissens« entzieht (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 15) und das Augenscheinliche infrage stellt. Es geht ihm also um einen Bruch mit dem Common Sense bzw. der Doxa (s. auch Bourdieu 1996).12 Soziologie stellt diesem Verständnis nach eine »störende und verstörende Wissenschaft« (Bourdieu 1993b: 19) dar, die zu Erkenntnissen gelangt, nach denen unter Umständen niemand gefragt hat ‒ auch nicht diejenigen, die die Forschung finanziert haben (ebd.: 47). Wie kann dieser Bruch nun forschungspraktisch vollzogen werden? Wie schon deutlich wurde, sollte die Soziologie nicht die politischen, sozialen und bürokratischen Probleme zu ihren eigenen machen, sondern die »Begriffe oder Thesen, mit denen argumentiert wird, über die man aber nicht diskutiert«, zum Thema machen (Bourdieu 2004: 30, Herv. i. Orig.). Neben diesem Bereich der Fragestellungen und 12 Präziser ausgedrückt handelt es sich um einen doppelten Bruch: Der erste ist der mit dem alltäglichen Common Sense zugunsten einer wissenschaftlichen, nicht doxosophischen Aufarbeitung des Themas. Doch droht dadurch eine andere, ebenfalls zu meidende Gefahr, nämlich die des scholastischen Bias alltagsfern Forschender im berüchtigten Elfenbeinturm. Mit einer solchen Perspektive muss ebenfalls gebrochen werden, indem die alltägliche Sicht wieder eingeführt wird ‒ nun eben aus wissenschaftlicher Beobachtungsperspektive. In der Quintessenz des doppelten Bruchs geht es also darum, »die praktische Logik theoretisch zu rekonstruieren« (Krais 2004: 206).

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Begriffe ist ferner die Frage der Metatheorie des Sozialen relevant. Hier fordert Bourdieu, mit der substantialistischen Denkweise in Individuen und Gruppen zu brechen und das Soziale als Relationales zu denken (Bourdieu 1992: 138f.). Darüber hinaus sind Methodik und Empirie probate Mittel des Bruchs, denn sie ermöglichen die »statistische Überprüfung der falschen Gewißheiten« und die »entschiedene und methodische Infragestellung des äußeren Scheins« (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 17). An all diese Möglichkeiten des Bruchs schließe ich an, indem ich in Bezug auf die Annahme einer Gesellschaft in Angst verschiedene »Gretchenfragen« stelle ‒ nur präferiere ich für deren Beantwortung qualitative Methoden.

3.2.2

Reflexion der eigenen Konstruktionen

Wissenschaftlich betriebene Soziologie zeichnet sich für Bourdieu nicht nur dadurch aus, dass sie mit den sozialen Präkonstruktionen bricht, sondern bemüht sich auch um die Reflexion der eigenen Konstruktionen: Soziologische Forschung hat sich immer wieder selbst kritisch zu reflektieren, ob sie den Common Sense durch ihre Forschung reproduziert und reifiziert. Denn Wissenschaft kann nicht anders, als selbst zu konstruieren, will sie sich nicht einer »Illusion von ›Neutralität‹« hingeben, wonach die Interviewfragen »die Artefakte, die sie zu erheben glauben, eigentlich erst produzieren« (Bourdieu 1997b: 794). Entsprechend grenzt sich Bourdieu über seine Werke hinweg massiv vom Positivismus ab, bspw. wenn er betont, dass die »Objekte der Erkenntnis konstruiert und nicht passiv registriert werden« (Bourdieu 1987b: 97, Herv. i. Orig.).13 Dies gilt nicht nur für stark strukturierende Methoden, sondern auch für offene Verfahren. In Bezug auf das offene Interview, das als »paradigmatische Verwirklichung der Neutralität« gilt (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 47), stellt Bourdieu fest, dass es Artefakte hervorzubringen vermag, wenn etwa implizit unterstellt wird, dass alle Interviewpartner*innen gleichermaßen in der Lage sind, über sich selbst zu sprechen. Denn dies ignoriert, dass Sprache nicht nur ein Kommunikationsmittel ist, sondern auch in Herrschaftsbeziehungen eingelassen ist und somit das Sprachkapital unterschiedlich verteilt ist (Bourdieu 1990). Ferner gibt es keine neutrale Frage: Auch in so unverdächtig erscheinenden Fragen wie »Haben Sie heute gearbeitet?« sind Setzungen enthalten, wie Bourdieu am Beispiel seiner algerischen Studien aufzeigt, denn eine objektive, allgemein geteilte Definition von Arbeit gibt es nicht (vgl. auch Bourdieu/Schultheis 2007). Auch wenn man also 13 Der Grund dafür, dass Objekte nicht passiv registriert werden können, liegt auch in Bourdieus Fassung des Sozialen, wonach das Wesentliche präreflexiv, d.h. nicht direkt beobachtbar oder abfragbar ist (s. Kap. 3.1.1).

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

»meint, man mache gar keine Voraussetzungen, dann konstruiert man, ohne es zu wissen« (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991: 271). Mit diesem Konstruktionscharakter kann man unterschiedlich umgehen: Man kann ihn verneinen bzw. unsichtbar machen im Dienste einer angeblich neutralen Wissenschaft. Oder man macht diesen unausweichlichen Einfluss sichtbar und reflektiert ihn, wofür Bourdieu plädiert: »Denn der positivistische Traum von der perfekten epistemologischen Unschuld verschleiert die Tatsache, daß der wesentliche Unterschied nicht zwischen einer Wissenschaft, die eine Konstruktion vollzieht, und einer, die das nicht tut, besteht, sondern zwischen einer, die es tut, ohne es zu wissen, und einer, die darum weiß und sich deshalb bemüht, ihre unvermeidbaren Konstruktionsakte und die Effekte, die diese ebenso unvermeidbar hervorbringen, möglichst umfassend zu kennen und zu kontrollieren.« (Bourdieu 1997b: 781) Zwischenzeitlich gibt es in der qualitativen Forschung verschiedene Vorschläge, wie die allseits geforderte Reflexivität konkret gestaltet werden kann.14 Um Missverständnissen vorzubeugen, skizziere ich daher Bourdieus Verständnis, dem ich folge. Bourdieu geht es nicht darum, die Persönlichkeit der Forschenden zu fokussieren. Davon grenzt er sich vielmehr massiv ab, wenn er dies als »narzißtische Reflexivität« bezeichnet, die mit der ›Tagebuchkrankheit‹ einhergeht und die Untersuchung des Forschungsgegenstandes durch die Untersuchung des Selbst ersetzt (Bourdieu 1993a). Das eigene Forschenden-Selbst ist stattdessen entsprechend einer »wissenschaftlichen Reflexivität« (ebd.) zu dezentrieren und als ›objektivierendes Subjekt‹ zu ›objektivieren‹. Damit meint Bourdieu u.a., dass sich die Forschenden als Teil des wissenschaftlichen Feldes begreifen sollten: im Hinblick auf ihre Position im wissenschaftlichen Feld, aber auch hinsichtlich der Theorien, Methoden, Konzepte und Kategorien, die das gegenwärtige wissenschaftliche Feld auszeichnet. Denn diese stellen die »unbewußten Vor-Urteile« (Bourdieu 1993a: 366, Herv. i. Orig.) und sozialen Bedingungen der Erfahrungsmöglichkeiten dar. Auch Wissenschaftler*innen sind demnach Produkt gesellschaftlicher Bedingungen: Sie sind nicht nur Professionsangehörige, sondern bspw. auch Klassenangehörige. Vor diesem Hintergrund fordert Bourdieu, dass soziologisches Arbeiten selbst zu soziologisieren ist, um die sozialen und historischen Bedingtheiten des eigenen Wissens bzw. der eigenen Wissensproduktion zu kennen. Bourdieu spricht in diesem Kontext davon, »die Erkenntniswerkzeuge zum Erkenntnisgegenstand zu machen 14 Vgl. z.B. Breuer 2010: Kap. 3, Pillow 2003 und die beiden Themenhefte der Zeitschrift Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research zu »Subjektivität und Selbstreflexivität im qualitativen Forschungsprozess« (Jahrgang 3, Heft 3, 2002 und Jahrgang 4, Heft 2, 2003).

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und die mit den Erkenntniswerkzeugen gegebenen Grenzen der Erkenntnis zu erkennen« (1997a: 221). Forschungspraktisch gilt es, die eigenen Vorannahmen zu reflektieren, die der Forschung zugrunde liegen und die sich z.B. in der Ausgestaltung der ›Forschungsinstrumente‹ zeigen: »Man muß sich überhaupt immer die Fragebögen ansehen… Die Leute, die die Frage gestellt haben, haben unbewußte Denkkategorien hineingebracht […], und bei den Befragten haben sie damit ebenfalls Denkkategorien angesprochen, die so ziemlich dieselben sein dürften, und genauso unbewußt.« (Bourdieu 1991a: 280) Diese Form der Reflexivität ‒ die Soziologie der Soziologie ‒ stellt für Bourdieu ebenso wie für Mannheim alles andere als Luxus oder einen reinen Selbstzweck dar (Neun 2015). Denn im Ergebnis dient sie »einer besseren Kenntnis des Objekts selbst« (Bourdieu 1996: 288), indem die Forschenden versuchen, durch die Reflexion ihrer Prägungen »die Wirkungen dieser Determinierungen zu neutralisieren« (Bourdieu 1993a: 372). Obgleich Forschung ihren Gegenstand konstruiert, gar konstruieren muss, wenn sie nicht die präkonstruierten Objekte als die Wirklichkeit nehmen will, bedeutet dies nicht, dass damit eine rein konstruktivistische Erkenntnistheorie verbunden ist. Vielmehr werden Anleihen an realistische Positionen sichtbar, wenn Bourdieu z.B. betont, dass Reflexivität nicht bedeutet, »auf Objektivität zu verzichten« (ebd.: 373), und von der Notwendigkeit einer »realistische[n] Konstruktion« spricht (Bourdieu 1997b: 792ff.). Die Orientierung an einer objektiven Wahrheit, die es zu enthüllen gilt, ist für Bourdieu auch insofern relevant, als es ihm mit seiner kritischen Soziologie um soziologische Aufklärung, v.a. über die subtilen Formen der Macht, geht. Je wissenschaftlicher die Soziologie vorgeht, desto besser erkennt sie die soziale Welt und kann ihre Aufgabe erfüllen (z.B. Bourdieu 1993b: 19-48). Im Vergleich zum reflexiven Ansatz von Henwood und Kolleg*innen (Kap. 2.4.1) ergeben sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Eine zentrale Gemeinsamkeit ist die propagierte Notwendigkeit epistemologischer und methodischer Reflexion, ein zentraler Unterschied aber die erkenntnistheoretische Verortung im Hinblick darauf, ob durch Reflexion die eigene Standort- und Positionsgebundenheit partiell überwunden werden und ein realistischer(er) Blick erreicht werden kann. Feministische Standpunkttheorien, an die Henwood und Kolleg*innen anknüpfen, nehmen hierzu eine andere Position ein als Mannheim und Bourdieu: Einen Blick von Nirgendwo gibt es nicht; auch reflektierte Forschende können keine wissensmäßig privilegierte, über den Dingen schwebende ›Nicht-Position‹ einnehmen (vgl. auch Pillow 2003: 178). Die erlangte Objektivität kann somit nur eine partikulare sein, während Bourdieu und Mannheim die Partikularität der Perspektive reflexiv zumindest partiell zu überwinden versuchen.

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

Mir fällt es schwer, mich in diesem Spannungsfeld zu positionieren: So sehr ich mich bemühe und hoffe, mein eigenes Verstehen im Zuge des Forschens besser verstanden und mein Relevanzsystem reorganisiert zu haben ‒ u.a. durch die Arbeit in einer Analysegruppe (Kap. 4.3) ‒, so wenig wage ich mir anzumaßen, die objektive Wahrheit bezüglich subjektiver Unsicherheit gefunden zu haben. Mit beiden Ansätzen von Reflexivität stimme ich aber insofern überein, dass eine Forschung, die weiß, was sie tut, zu einer besseren Kenntnis des Untersuchungsgegenstandes beitragen kann. Dies wurde von Henwood und Kolleg*innen bereits explizit auf meinen Forschungsgegenstand bezogen. Im methodenreflexiv-empirischen Kapitel 5 wird zudem deutlich, dass auch in der deutschsprachigen Sicherheitsforschung eine intensivere Befassung mit methodischen Entscheidungen und ihren Folgen für die Ergebnisse gefordert wird und vonnöten ist.

3.3

Interviewtheorie: das Interaktive, Performative und Implizite berücksichtigen

Die nun vorgestellten sozialtheoretischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen gilt es in der konkreten Forschung – bei mir der Interviewforschung – zu realisieren. Im Folgenden begründe ich zunächst, inwiefern sich eine praxeologische Interviewforschung prinzipiell zur angemessenen Erforschung von Angst gemäß dem dargelegten praxeologischen Emotionsverständnis eignet (Kap. 3.3.1). Daran anschließend stelle ich eine Theorie des Interviews vor, die das Interaktive, Performative und Implizite des Phänomens Angst berücksichtigt und dabei erzähltheoretische Ideen aufgreift (Kap. 3.3.2). Im Rahmen dieser methodologischen Erwägungen beziehe ich mich auf verschiedene Autor*innen: Scheer (2012, 2016, 2017) hat zwar ein geeignetes Emotionskonzept entwickelt, doch finden sich bei ihr nur wenige forschungspraktische Hinweise, die für mich anschlussfähig sind, was an ihrer disziplinären Verortung (historische und Kulturanthropologie) liegen mag. In der Emotionssoziologie wird zwar ihr Emotionskonzept aufgegriffen, aber bislang eher unter theoretischen Gesichtspunkten; zudem sind dort method(olog)ische Diskussionen allgemein erst im Entstehen begriffen (vgl. Neckel/Pritz 2016, s. auch Flam/Kleres 2015, Lively 2015). Daher suche ich andere Anschlüsse auf, v.a. im Bereich der praxeologischen Interviewmethodologie.

3.3.1

Qualitative, praxeologische Interviewforschung

Interessiert man sich für die Praxis und ihre Logik, erscheint eine reine Interviewforschung auf den ersten Blick nicht als Methode der Wahl. Schließlich bieten Interviews v.a. Darstellungen der Praxis. Es ließe sich daher an ethnographische

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Gesellschaft in Angst?

Verfahren denken, in denen die Forschenden selbst die Praxis beobachten bzw. sogenannte natürliche Gesprächsdaten aufzeichnen. In meinem Forschungskontext sind mir allerdings von Eisch-Angus’ ethnographischer Studie (z.B. 2009, 2011a, 2011b, 2012) und konversationsanalytischen Studien zu Angst als klinischem Phänomen (z.B. Gülich/Couper-Kuhlen 2007, Lindemann 2012) abgesehen keine Realisierungen dieser Herangehensweise bekannt. Meist wird mit Interviews gearbeitet, was selten begründet wird. Vermutlich scheint in unserer »Interviewgesellschaft« (Atkinson/Silverman 1997, vgl. auch Gubrium/Holstein 2004) das Einzelinterview als bevorzugte sozialwissenschaftliche Forschungsmethode keiner weiteren Erklärung zu bedürfen. Jedoch ist die genaue Klärung der Interviewkonzeption folgenreich dafür, was in den Blick und was aus dem Blick rückt. Mir geht es hier um eine praxeologische Konzeption von Interviewforschung, die sich dafür eignet, die Logik der Praxis zu erkunden. Denn der Habitus bzw. das implizite, praktische Wissen dokumentieren sich handlungspraktisch, auch im Sprechen, da man unweigerlich in der eigenen Haut steckt. Diese (Sprach-) Handlungen stellen die konkreten Manifestationen dar (in Bourdieus Worten: das opus operatum), anhand derer der Habitus als erzeugendes Prinzip rekonstruiert werden kann: »Als handlungsleitendes Prinzip organisiert der Habitus die Praxis nach einem bestimmten Modus (modus operandi), der in den Praktiken der sozialen Akteure eine bestimmte Handschrift hinterlässt, die interpretativ entschlüsselt werden kann.« (Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2013: 156) Die konkreten Handlungen bzw. die Praxis sind demnach nicht Ziel und Endpunkt der Analyse, sondern ihr methodischer Ansatz- und Ausgangspunkt, um zum dahinterliegenden Muster des Habitus bzw. des impliziten Wissens zu gelangen. Um einen guten Ausgangspunkt zu haben, sollten folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen sollte das Interview so gestaltet sein, dass die Interviewpartner*innen zu Erzählungen und Berichten über ihre eigene Praxis motiviert werden (dazu ausführlicher Kap. 3.4.2). Zum anderen sollte eine Offenheit für ›fremde‹ Thematisierungsweisen und Relevanzsysteme gegeben sein. Wie u.a. Bourdieu (z.B. 1990, 1993b) festgestellt hat, ist das Vermögen des ›legitimen‹ Sprechens nicht gleich verteilt, was methodisch folgenreich ist: »Je größer dagegen die Kontrolle wird, desto mehr ist Performanz vom schulischen Kapital bedingt.« (Bourdieu 1993b: 123) Dies verstehe ich als Argument für eine weitgehende Offenheit des Interviews gegenüber der Sprache der Interviewpartner*innen. Gleiches gilt in Bezug auf ihr Relevanzsystem, das sie in ihren Versprachlichungen zum Ausdruck bringen. Wie Crawshaw und Bunton schreiben, laufen Studien im Bereich der Risikoforschung oft Gefahr, in unreflektierter Weise »offiziellen« Definitionen von riskantem und gefährlichem Verhalten zu folgen und dadurch die Logik des Feldes unsichtbar zu machen. Sie betonen daher die Bedeutung qualitativer Methoden, die die Risikokonzeptionen der Untersuchten – bei ihnen junge Männer in einer sogenannten »risk community« – in den Vordergrund

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

rücken: »researchers must therefore step down from their ›sovereign‹ viewpoint, to understand the lives of young people and recognise their complexity in the context of history and culture rather than individual choice and determination« (2009: 281).

3.3.2

Das Interaktive, Performative und Implizite im Interview

Im folgenden Abschnitt stelle ich meine Interviewkonzeption im engeren Sinne dar: Was geschieht im Interview, wie werden die Daten produziert, und worüber können sie Auskunft geben? Wie ich einleitend bereits erwähnt habe (Kap. 1.2), stellen sich mit den interaktiven, performativen und impliziten Dimensionen von Interviewthematisierungen drei Herausforderungen, auf die ich im Zuge der folgenden methodologischen Überlegungen genauer eingehe.

Das Interaktive: Interview als Interaktion unter Ungleichen Auch im Einzelinterview sind die Interviewten nicht alleine. Das Interview ist vielmehr als Interaktion zwischen Interviewer*in und Interviewpartner*in zu verstehen. Insofern stellt das Interview eine soziale Praxis dar, in der gemeinsam und interaktiv die Daten erzeugt werden. In der Sprache von Bourdieus Soziologie ließe sich diese Auffassung als methodologischer Relationalismus bezeichnen, da keine Äußerung an sich bedeutsam ist, sondern immer nur in ihren konkreten Beziehungen (vgl. Wacquant 1996: 52ff.). Bevor ich zu Bourdieu zurückkomme, stelle ich zunächst aktuelle methodologische Debatten vor, die diese Konzeption des Interviews begründen, und nehme dabei die von Henwood und Kolleg*innen skizzierte Theoretisierung des Interviews wieder auf (Kap. 2.4.1). Insbesondere beziehe ich mich dabei auf Kathryn Roulston, die verschiedene theoretische Konzeptionen des qualitativen Interviews systematisiert (zentral: Roulston 2010b, s. auch Deppermann 2013b, Talmy 2010), und greife die für mich zentralen Konzeptionen heraus: die neopositivistische und die konstruktivistische Interviewkonzeption. Beide sind als Idealtypen zu verstehen. Nach Roulston lässt sich eine Auffassung des Interviews gemäß der Logik »you ask, they answer and then you know« (Hollway 2005: 312) als neopositivistische Konzeption begreifen, die ‒ durchaus pragmatischerweise ‒ oft quantitativen Studien und Methodenmixstudien zugrunde liegt (Roulston 2010a: 217 und 2010b: 52ff.). Auf eine Kurzformel gebracht besagt eine solche Konzeption des Interviews, dass es fähige Interviewende braucht, die gute Fragen stellen; diese werden dann von beiden Interviewbeteiligten in gleicher Weise verstanden. Dabei nimmt die interviewende Person eine möglichst neutrale Rolle ein, wodurch Kontexteinflüsse und Biases minimiert und qualitativ hochwertige Daten und valide Ergebnisse produziert werden. Idealerweise wird dadurch die als unabhängig von der Forschung konzipierte Realität im Interview abgebildet (vgl. auch Gubrium/Holstein

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2004, Holstein/Gubrium 2002). Diese Auffassung scheint mir einigen Studien in meinem Forschungsfeld zugrunde zu liegen, wenn auch nicht in expliziter Weise.15 Dem stellt Roulston eine sozialkonstruktivistische Auffassung des Interviews gegenüber. Wenn soziale Wirklichkeit, wie Holstein und Gubrium schreiben, kontinuierlich »under construction« (2002: 121) ist, wenn sie sich also nur im konkreten Handeln verwirklicht und manifestiert, dann trifft dies auch für die Interviewsituation zu. Im Anschluss an ethnomethodologische, sozialkonstruktivistische und symbolisch-interaktionistische Annahmen begreife ich das Interview somit als eine bestimmte Art sozialer Interaktion, in der sprachlich-kommunikativ Wirklichkeit erzeugt wird. Arnulf Deppermann (2013b) hat diese Position prägnant mit »Interview als Interaktion« bezeichnet. Dieser Auffassung zufolge sind die Interviewer*innen keine ›neutralen‹ Fragestellenden und die Interviewpartner*innen sind »weder statische Auskunftsautomaten, die ihre Subjektivität unabhängig vom interaktiven Kontext sprachlich veräußerlichen, noch sind sie abhängige Variablen des InterviewerInnenhandelns bzw. durch dessen Vorgaben determiniert« (Deppermann 2013b: §60). Vielmehr schneiden sie im Rahmen des »recipient design« (Adressatenzuschnitt) ihre Äußerungen auf die Interviewenden zu und rekurrieren dabei auf soziale Kategorisierungen wie Alter und Geschlecht der je anderen Person (Steinert 1984); umgekehrt geschieht dies genauso. Interviewdaten werden damit als Resultat der Aktivität des »Doing Interview« gefasst (Lee/Roth 2004: §7). Die Idee, dass Interviewer*inneneinflüsse und Biases zu reduzieren sowie Irritationen und Störungen der Kommunikation ernsthafte Fehler seien, wird in der sozialkonstruktivistischen Auffassung des Interviews nicht geteilt: Interviewer*innen üben allein durch ihre Anwesenheit zwangsläufig Einflüsse aus, die man nicht wegstandardisieren oder ignorieren kann, sondern reflexiv mitführen sollte (vgl. auch Breuer 2010: 20f.). Auch können gerade vermeintliche Störungen und Fehler Erkenntnismittel darstellen (dazu Kap. 5.2.2). Analysepraktisch bedeutet diese Konzeption des Interviews, dass die Äußerungen der Interviewpartner*innen weder individualisiert noch isoliert betrachtet werden dürfen, da »eine Äußerung nie nur dem ›gehört‹, der sie produziert« (Ayaß 2008: 348). Daher sind auch die Äußerungen der Interviewenden mitzuanalysieren. Da also beide Interviewbeteiligte aktiv und produktiv sind, vermeide ich passivische Bezeichnungen wie »Interviewte« oder »Befragte« und spreche stattdessen von »Interviewpartner*innen«. Zudem präferiere ich die Begriffe »Datengewinnung« bzw. »-erzeugung«, die die Interaktivität und Ko-Konstruktion der 15 Beispielhaft habe ich dies für die qualitativen Studien von Lupton und Tulloch diskutiert (Kap. 2.3.1). Trotz sozialkonstruktivistischer Theorie-Verortung wird nicht expliziert, was dies methodologisch und methodisch bedeutet. Letztlich scheinen die Äußerungen der Interviewpartner*innen nicht im Hinblick auf die methodischen Entscheidungen sowie die Interviewbeiträge der Forschenden reflektiert zu werden.

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

Interviewsituation betonen, anstelle des Begriffs »Datenerhebung«, der impliziert, etwas bereits Vorhandenes lediglich ›einzusammeln‹.16 Diese methodologische Auffassung des Interviews als Interaktion scheint allerdings in den für mich einschlägigen Forschungsfeldern ‒ von Henwood und Kolleg*innen abgesehen ‒ nicht verbreitet zu sein. Lediglich in konversationsanalytischen Studien zu Angst als klinisch relevantem Phänomen findet sich diese Auffassung jenseits theoretischer Lippenbekenntnisse auch in der Forschungspraxis (Egbert/Bergmann 2004, Gülich/Couper-Kuhlen 2007, Lindemann 2012). Dezidiert wird in diesen Studien darauf hingewiesen, dass eine rein phänomenologische Perspektive, die das »Wesen von Gefühlen zu sezieren« (Egbert/Bergmann 2004: 11) beansprucht, erkenntnistheoretisch unhaltbar ist, da sie die kommunikative und interaktive Dimension des Phänomens und so die Rolle der Forschenden übersieht. Denn Erzählwürdigkeit ergibt sich nicht alleine aus der subjektiven wie sozialen Relevanz des Erzählgegenstandes, sondern wird auch interaktiv hergestellt (Gülich 2008, s. Fallanalyse Nicole Schütze in Kap. 5.3.1). Und diese Interaktion gestaltet sich in verschiedenen Interviewformen unterschiedlich.17 In der qualitativen Interviewforschung wird diese Beziehungsdimension auch als Rapport bezeichnet. Mit Christine Resch (1998) lassen sich die für bestimmte Interviewformen typischen Interaktionsformen als »Arbeitsbündnisse« fassen. An die geringe Praxisrelevanz der Perspektive auf das Interview als Interaktion bzw. soziale Praxis schließt sich ein weiteres Manko an. Denn wird das Interview nicht als Interaktion aufgefasst, so rückt auch aus dem Blick, dass es sich um eine Interaktion zwischen potenziell Ungleichen handelt. Darauf haben Bourdieu und andere kritische Forscher*innen (z.B. Steinert 1984) hingewiesen. Damit ist das Interview nicht nur praxeologisch und erkenntnislogisch zu theoretisieren, sondern auch ungleichheitssoziologisch: Auch ein noch so offenes Interview stellt keinen herrschaftsfreien Raum dar, in dem zwei Individuen losgelöst von ihren sozialen Positionen und unbeeindruckt von gesellschaftlichen Machtverhältnissen miteinander sprechen. Dies wird auch in der deutschsprachigen qualitativen Interviewforschung trotz ihrer hohen Reflexivität zu wenig beachtet (vgl. Sommer 2015: 24; 16 Dies fällt teils mit dem Vorschlag überein, von Interviewer*in und interviewten Personen als »(co)participants« zu sprechen (Gubrium/Holstein 2004: 20 mit Bezug zu Mishler). Um dennoch asymmetrische Rollen zu kennzeichnen, verwende ich hier den Begriff Interviewpartner*in lediglich für die interviewte Person. Für stärker narrative bzw. teilnarrative Interviewkonstellationen wurden u.a. die Begriffe »Zuhörende« und »Erzählende« bzw. »Erzählperson« vorgeschlagen (Helfferich 2011, Lucius-Hoene/Deppermann 2004b). Aufgrund der stärkeren Strukturierung der mir vorliegenden Interviews passen diese Begriffe aber nicht. 17 Ein Überblick über verschiedene Interviewformen, die sich z.B. nach dem Grad der Strukturierung durch die Forschenden unterscheiden, findet sich bspw. bei Helfferich (2011: Kap. 1.3) und Kruse (2015: Kap. II).

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s. aber auch Bohnsack 2017: Kap. 8, Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, Ploder 2009). In Anschluss an Bourdieu (Bourdieu/C hamboredon/Passeron 1991: 46ff.) und die »Interviewgesellschaft« (Atkinson/Silverman 1997, vgl. auch Gubrium/ Holstein 2004) stellt sich die Frage, ob alle gleichermaßen im Stande sind, die im Einzelinterview geforderte Erzählfähigkeit an den Tag zu legen. Wie Gubrium und Holstein herausarbeiten, beruht der Aufstieg des Interviews nicht nur auf einem soziokulturellen Wandel, der etwa die Demokratisierung der Meinung oder die Bedeutungszunahme von Individuen umfasst. Das Interview als Kulturtechnik produziert diese Subjektivierungsform des westlichen individualisierten Individuums gleichsam mit und stellt daher mehr als nur ein Forschungsinstrument dar. Mit Bourdieu ist dabei kritisch zu fragen, ob tatsächlich alle das entsprechende kulturelle und sprachliche Kapital haben, um das Forschungsinterview auf adäquate Weise zu bestreiten. Sprechen bedeutet darüber hinaus mehr als bloß zu kommunizieren; »das Kommunikationsverhältnis ist nicht einfach nur ein Kommunikationsverhältnis, es ist auch ein ökonomisches Verhältnis, bei dem es um den Wert dessen geht, der spricht« (Bourdieu 1993b: 94). Sprache kann daher ein Instrument der Gewalt und Unterwerfung sein (dazu insbesondere Bourdieu 1990). Für die Interviewführung bedeutet dies in forschungsethischer Hinsicht, dass die Interviewenden statt eine bürokratische Haltung einzunehmen eine Beziehung mit dem interviewten Menschen aufbauen sollten, um ihm Wertschätzung und das Gefühl zu vermitteln, »mit gutem Recht das zu sein, was er ist« (Bourdieu 1997b: 786). Ferner folgt daraus, dass symbolische Gewalt im Interview bestmöglich zu meiden ist. Dass es bei der Interviewkommunikation auch um den Wert der Sprechenden gilt, ist darüber hinaus für die Interviewauswertung zentral. Bei dieser gilt es analytisch zwischen zwei Dimensionen zu unterscheiden, die ich mit Lucius-Hoene und Deppermann (2004b: 41) als »Performanz« und »Repräsentanz« bezeichne: Mit Performanz bzw. dem Performativen ist die im Interview mit Blick auf bestimmte Darstellungsfunktionen erzeugte Wirklichkeit gemeint, während Repräsentanz sich auf die Wirklichkeitsspuren bezieht, die sich im Interview niederschlagen (vgl. auch Kruse 2015: 40; zu einer anderen Verwendung des Performanzbegriffs Bohnsack, s.u.). Ersteres steht m.E. in engem Bezug zum kommunikativen Wissen, zweiteres verweist stärker auf das konjunktive, implizite Wissen der Akteur*innen.

Das Performative: Identitätsdarstellungen und andere Sprachhandlungen Zur im Interview erzeugten Wirklichkeit gehören verschiedene Sprachhandlungen, die die Interviewbeteiligten vollziehen. Diese reichen weit über den Informationsaustausch hinaus, der üblicherweise mit Interviews bezweckt wird: »In-

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

terviewte rechtfertigen und klagen an mit ihren Aussagen, sie weisen Vorwürfe oder Annahmen, die sie bei den AdressatInnen vermuten, zurück, sie erheischen Zustimmung und Solidarität, sie belehren oder möchten belustigen usw. Damit einher gehen Selbst- und Fremdpositionierung« (Deppermann 2013b: §21). Diese Sichtweise auf Interviewdaten als Moment sozialer Praxis spiegelt Ansätze in der Erzähltheorie, die Erzählungen nicht oder weniger als Ausdruck vorgängiger Wirklichkeit betrachten, sondern vielmehr als Mittel, Identitäten her- und darzustellen. Im Zuge dieses Perspektivwechsels sind nicht mehr nur »große Geschichten« von Bedeutung wie in der klassischen Narrationsforschung, sondern auch »kleine«, scheinbar belanglose Geschichten: »We are interested in how people use small stories in their interactive engagements to construct a sense of who they are, while big story research analyzes the stories as representations of world and identities.« (Bamberg/Georgakopoulou 2008: 382, Herv. i. Orig.) All diese Handlungen, die die Interviewpartner*innen beim und durch ihr Sprechen vollziehen, bündle ich unter dem Begriff des Performativen bzw. der Performanz. Ein Blick in die Literatur zeigt, dass es sich bei solchen Performanzen um einen – wenn auch häufig ignorierten – Normalfall in der Interviewforschung handelt (vgl. z.B. Blakely/Moles 2017, Eckert/Bub/Koppetsch 2019) und damit wie im Zitat von Deppermann verdeutlicht eine Vielzahl an Handlungen und damit kommunikativen Funktionen relevant sein kann. Die Selbstpositionierung im Sinne der Dar- und Herstellung einer moralischen Identität scheint mir dabei zentral zu sein (ausführlich zur narrativen Identität und ihrer Rekonstruktion Lucius-Hoene/Deppermann 2004b) und wird in der Literatur meist als situativer Akt verstanden, sodass der spezifische Interaktionskontext zu berücksichtigen ist. In Bezug auf meinen Forschungsgegenstand haben wie erwähnt Anna Olofsson und Kolleg*innen in konzeptioneller Hinsicht auf den Zusammenhang von Doing Risk, Doing Difference und Doing Identity hingewiesen (Kap. 2.3.2). In allgemeiner Hinsicht haben u.a. Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann (2004b: 38-40) darauf hingewiesen, dass Emotionskommunikation in rhetorischer, strategischer Weise verwendet werden kann. Gemäß Ralf Bohnsacks (2017) Ausführungen zur praxeologischen Wissenssoziologie lassen sich diese Sprachhandlungen v.a. im Lichte des kommunikativen Wissens deuten, denn dieser Wissensart ordnet er, wie erwähnt, die Common Sense- und Eigentheorien der Akteur*innen, ihr Norm- und Regelwissen sowie Rollenerwartungen und Identitätsnormen im Sinne Goffmans zu (ebd.: 54ff.). Mit Bourdieu’scher Theoriebrille interpretiert geht es hier um den Wert der Sprechenden, der verhandelt wird. Wichtig ist dabei stets, den von den Interviewpartner*innen proponierten Gehalt nicht als direkte Auskunft über ihre lebensweltliche Praxis zu verstehen, sondern ihr Sprachhandeln als Handlung mit einer bestimmten Funktion einzuordnen.

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Das Implizite: zur Versionenhaftigkeit von Wirklichkeit und ihrem konsistenten Kern Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass das Interview kein Abbild sozialer (Angst-)Wirklichkeiten liefert, da hier Interviewpartner*innen, die nicht ›erzählen, wie es ist‹, auf Interviewende treffen, die nicht ›neutral‹ sein können. Das Forschungsinterview stellt entsprechend grundlegend eine Intervention dar und schafft Artefakte in dem Sinne, dass die Daten ohne Anwesenheit und Aktivität der Forschenden nie so zustande gekommen wären. Wenn Interviews nun also »einmalige, nicht wiederholbare Situationen der gemeinsamen Verfertigung eines Textes« sind (Jensen 2000: §4), wenn also im Interview keine vorgängige Realität abgebildet wird ‒ worin liegt dann der Wert jenseits der Untersuchung von Interaktionen? Ich argumentiere im Folgenden, dass sich Interviews dennoch als Mittel eignen, um über soziale Wirklichkeiten außer des Interviews zu forschen – sofern eine spezifische, nämlich praxeologische Haltung eingenommen wird, die das Implizite zu explizieren weiß. Denn Äußerungen im Interview sind zwar situiert, doch haben sie zugleich eine Vorgeschichte: »meaning is not built ›from scratch‹ on each interpretive occasion« (Holstein/Gubrium 2002: 121). Sie sind zwar im Lichte ihrer lokalen Darstellungsfunktion (Performanz) zu betrachten, verweisen aber auch auf vorgängige Erfahrungen und Wirklichkeiten (Repräsentanz) (Kruse 2015: 40, Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 41). Zur Sprache kommt im Interview entsprechend eine spezifische Version der Wirklichkeit, die auf ihre Funktion hin zu befragen ist, aber auch Schlüsse über die konkrete Interaktion hinaus ermöglicht: »Die konstruktivistische Grundannahme der Versionenhaftigkeit von Wirklichkeit bedeutet aber nicht, wie ein häufiges Missverständnis verdeutlicht, dass die Realitätsdarstellungen in qualitativen Interviews subjektivistisch, willkürlich und zufällig sind: Erstens bleibt trotz der Versionenhaftigkeit von Wirklichkeit stets ein konsistenter Kern innerhalb der Wirklichkeitskonstruktionen bestehen. Und zweitens basieren die darüber hinausgehenden Variationen nicht auf willkürlichen, sondern auf sinnhaften Regeln und Relevanzen, die rekonstruiert werden können« (Kruse 2015: 40, Herv. i. Orig.). Aus einer praxeologischen Perspektive lässt sich der interessierende konsistente Kern von Interviewäußerungen als implizites, praktisches Wissen bzw. Habitus fassen. Auf dessen Basis sind geregelte Improvisationen möglich, so auch in der Interviewinteraktion.

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

3.4

Auswertungsmethodologie: das Interaktive, Performative und Implizite rekonstruieren

In diesem Kapitel schlage ich eine Auswertungsmethodologie vor, die die spezifische Versionenhaftigkeit von Interviewäußerungen versteht, aber auch darüber hinaus Erkenntnisse liefert. Für die Analyse des Interaktiven und Performativen eignen sich verschiedene sequenzielle, mikrosprachliche Verfahren (Kap. 3.4.1). Da zu diesen Verfahren bereits viel Literatur vorliegt, gehe ich ausführlicher auf das Neue ein: die praxeologische (Emotions-)Analyse (Kap. 3.4.2).

3.4.1

Analyse des Interaktiven und Performativen

Gemäß einer Fassung des Interviews als Interaktion und als Ort performativer Sprachhandlungen muss die Analyse von Interviews sequentiell erfolgen, um deren Konstitutionsweise zu entsprechen. Denn Äußerungen sind nicht ort- bzw. kontextlos, sondern im Lichte der vorigen Äußerungen ‒ auch der der Interviewer*innen ‒ zu verstehen. Vernachlässigt man letztere, so führt dies zu einem vermeintlich unmittelbaren Blick auf die individuellen, subjektiven Welten der Interviewpartner*innen und damit zu einer »Individualisierung, Kognitivierung und Entpragmatisierung der Handlungen der Interviewten« (Deppermann 2013b: § 22). Dieses textnahe, mikrosprachlich operierende Sequenzialitätsprinzip zollt dem interaktiven und prozessualen Entstehungscharakter von Interviewdaten Rechnung und ermöglicht es, die Genese der jeweils spezifisch produzierten Version von Wirklichkeit nachzuvollziehen und zu interpretieren. Gleichzeitig sind bei der Interpretation aber auch soziale Kontexte jenseits des konkreten Interviewsettings mitzudenken, etwa gesellschaftliche Diskurse, worauf auch Henwood und Kolleg*innen aufmerksam gemacht haben (Kap. 2.4.1). In der deutschsprachigen qualitativen Forschung liegen einige Analyseverfahren vor, die eine solche sequenzielle, mikrosprachliche und streng textbezogene Vorgehensweise praktizieren – wenn auch mit differierender methodologischer Begründung. Beispielhaft seien die Gesprächsanalyse (s. Deppermann 2013b für exemplarische Kurzanalysen) und die Objektive Hermeneutik (s. Jukschat 2018 für eine ausführliche Fallrekonstruktion) benannt. Für die Analyse von Sprachhandlungen ist insbesondere die Positionierungsanalyse hilfreich (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a, s. Kap. 5.2 und 6.2).

3.4.2

Analyse des Impliziten: Praxeologische (Emotions-)Analyse

Zwar ist das implizite, praktische Wissen in Bourdieus Soziologie zentral, doch hat er selbst kaum Werkzeuge entwickelt, wie es explizit gemacht werden kann (vgl. auch Meuser 2013). In den für mich thematisch einschlägigen Forschungs-

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feldern und in der Emotionssoziologie ist die Lage ähnlich: Zwar wird Angst verschiedentlich als etwas Nicht-Explizites verstanden.18 Wie dem in der qualitativen Forschung auswertungsmethodologisch genau entsprochen werden kann, wird jedoch vergleichsweise selten angesprochen. Hilfreich sind hier Ansätze der praxeologischen Wissenssoziologie. Ich beziehe mich im Folgenden v.a. auf die Methodologie der dokumentarischen Methode der Interpretation, die bei Mannheim angelegt ist, von Bohnsack (z.B. 2013a, 2017) ausgearbeitet wurde und große Überschneidungen mit der stärker an Bourdieu orientierten Habitushermeneutik aufweist (vgl. Bremer/Teiwes-Kügler 2013: 216). Mit dieser methodologischen Grundlage ist es nur ein kleiner Schritt zur praxeologischen Emotionsanalyse. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass die Akteur*innen zwar selbst Emotionen benennen, aber diese nicht notwendigerweise den rekonstruierten Emotionen entsprechen. Zum anderen finden in einem Interview spezifisch zum Thema (Un-)Sicherheit auch andere Emotionen ihren Niederschlag, sodass es zu differenzieren gilt (vgl. Kap. 6.2). Denn dem Unsicherheits-Framing von uns Forschenden steht in manchen Interviews ein allgemeineres Problem-Framing in verschiedenen Varianten gegenüber. Teils mit Rekurs auf Unsicherheit bzw. Angst, teils ohne äußern sich die Interviewpartner*innen bspw. dahingehend, dass sie etwas problematisch, nicht gut, nicht in Ordnung, schlimm oder furchtbar finden. Sie beschweren sich, klagen über Stress oder nutzen Kampf-Metaphern, um ihren mühevollen Alltag zu beschreiben. Entsprechend dokumentiert sich in den Äußerungen der Interviewpartner*innen ein breiteres Spektrum an Unwohlgefühlen.19 Dies illustriert die Notwendigkeit einer praxeologischen, rekonstruktiven Emotionsanalyse, die Angst, aber auch andere Emotionen aus diesen Thematisierungen herausarbeiten kann. Wie gestaltet sich diese nun? Ähnlich wie die bereits erwähnten Verfahren der Gesprächsanalyse und Objektiven Hermeneutik betont die dokumentarische Methode der Interpretation die strikte Textgebundenheit der sequenziellen Analyse: Zwar handelt es sich beim konjunktiven, praktischen Wissen oft um ein »Wissen ohne Bewusstsein« (Meuser 2013: 226), sodass es nicht explizit abgefragt werden kann. Doch dieses Wissen ist den Akteur*innen nicht äußerlich, sondern wissensmäßig bei ihnen repräsentiert, eben im impliziten Wissen, das sich in den Interviewäußerungen dokumentiert (Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2013: 12, s. auch Kap. 3.3.1). Es lässt sich, so Bohnsack (2017), daher durch eine Verschränkung der Analyse der sogenannten 18 In theoretischer Hinsicht ist bspw. Baumans Diagnose einer diffusen, flüchtigen Angst (2006) zu nennen, in empirischer Hinsicht diejenigen Bereiche der Kriminalitätsfurchtforschung, die Kriminalitätsfurcht als Ausdruck diffuser, genereller Ängste verstehen (vgl. dazu auch Kap. 1.2 und 8.2). 19 Diesen Begriff habe ich von dem Sammelband mit dem Titel »Un-Wohl-Gefühle. Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten« übernommen (Mixa et al. 2016).

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»proponierten Performanz« und der »performativen Performanz« rekonstruieren, wobei er den Performanzbegriff etwas anders verwendet als ich oben. Mit proponierter Performanz meint Bohnsack Darstellungen der Interviewpartner*innen, in denen sie ihre eigene Praxis und handlungspraktische Verläufe thematisieren, sei es in Form der Textsorte der Erzählung oder der Beschreibung (ebd.: z.B. Kap. 3.3 und 5.2). In Bezug auf Angst lässt sich bspw. fragen, inwiefern sich diese im alltäglichen Handeln niederschlägt (vgl. Kap. 6.3 dieser Arbeit). Mit performativer Performanz meint Bohnsack die Handlungsvollzüge der Interviewpartner*innen im Interview, die von den Forschenden direkt beobachtet werden können. Entscheidend ist dabei aber weniger der ›Inhalt‹ im Sinne des propositionalen Gehalts der Äußerungen, der wie gesagt v.a. über das kommunikative Wissen, d.h. über (Identitäts-)Normen etc. informiert, sondern die Art und Weise des Sprechens und Handelns, d.h. die Struktur des Handlungsvollzugs (ebd.: z.B. Kap. 3.3 und 5.1). Mit Blick auf die performative Performanz sind daher auch andere Textsorten jenseits von Erzählungen und Beschreibungen aufschlussreich, denn auch in Berichten, Argumentationen und in Klassifizierungen der Welt und des Sozialen (z.B. der Konstruktion von ›Anderen‹) schlägt sich der Habitus unweigerlich nieder. Dieses Interesse an der Praxis und an Handlungsvollzügen legt einen Wechsel der Analyseeinstellung vom »Was« zum »Wie« nahe (Bohnsack et al. 2013: 13f.). In Mannheims Worten: »Wenn ich den Ausdrucks- oder den Dokumentsinn der Rede meines Freundes verstehen will, so achte ich nicht so sehr auf den theoretischen Inhalt dessen, was er sagt, auf das ›Was‹, sondern von Bedeutung wird mir zunächst, daß er gerade dies sagt (und nicht etwa einen anderen theoretischen Gehalt) und wie er es sagt.« (Mannheim 2004: 137, Herv. i. Orig.) Erst die Verbindung der Analyse von »Was« und »Wie« erlaubt es also, den interessierenden Dokumentsinn, d.h. das implizite, atheoretische Wissen zu rekonstruieren. Dieses implizite Wissen realisiert sich nun (wie der Habitus als strukturierendes Prinzip) in den verschiedensten Äußerungen bzw. es dokumentiert sich darin, was mit der Bezeichnung des Dokumentsinns gemeint ist. In der Analyse gilt es entsprechend herausarbeiten, was regelmäßig und konsistent in den vielfältigen Äußerungen vorkommt im Sinne einer »Einheit in der Mannigfaltigkeit« (Mannheim 1980: 115). Diese Einheit hat Mannheim auch als »homologes Muster« bezeichnet (Mannheim 2004: 127, vgl. auch Garfinkel 1975: 199). Bei Bourdieu wäre es der Habitus. Dieses Prinzip des Rekonstruierens eines tief- bzw. ›hintersinnigen‹ Erlebniszusammenhangs bzw. Sinns aus verschiedenen ›oberflächlichen‹, ›mannigfaltigen‹ Sinnverwirklichungen wende ich zunächst auf das Einzelinterview als meine Datengrundlage an und rekonstruiere für die Einzelinterviews die jeweiligen homologen Muster. Genauer gesagt handelt es sich hierbei um einen mehrfach rekon-

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Gesellschaft in Angst?

struktiven Akt: Erstens sind die Emotionen zu rekonstruieren, die sich in den Interviewäußerungen dokumentieren. Erforderlich ist dafür, allgemein gesprochen, eine Bestimmung der interessierenden Emotionen hinsichtlich ihrer Merkmale, sodass untersucht werden kann, inwiefern sich diese Merkmale im Material dokumentieren bzw. auf welche Emotion die beobachteten Merkmale hinweisen. Die Emotionsbenennung der Interviewpartner*innen selbst ist dabei, wie erwähnt, unerheblich (vgl. auch Kap. 6.2). Zweitens geht es mir um das Thema bzw. Objekt, auf das sich Angst als Emotion bezieht. Auch hier gilt: Die Themennennung der Interviewpartner*innen selbst stellt nicht mehr als einen ersten Hinweis dar. Auf diese Weise komme ich zunächst zu einzelfallbezogenen Mustern. Folgt man der Idee, dass Ängste auf sozialgruppenspezifische Konzeptionen eines guten Lebens verweisen, stellt deren Rekonstruktion eine dritte relevante Ebene dar. Da es sich beim impliziten Wissen nicht um individuell-subjektives, sondern um sozial geteiltes Wissen handelt, werden durch Fallvergleiche diese sozialen homologen Muster rekonstruiert, die quer zu den Einzelfällen liegen.20 Diesen Schritt, die Rekonstruktion von Mustern hinter Mustern, veranschaulicht die folgende Graphik. Abbildung 1 Rekonstruktion von Mustern hinter Mustern

Quelle: Eigene Darstellung nach Kruse 2015: 644

In dieser Perspektivik, die die »Einheit in der Mannigfaltigkeit« sucht, macht auch die Varianzsteigerung durch die Themenoffenheit der Interviews Sinn: Durch sie wird es möglich, Muster und Muster hinter Mustern zu erkennen. Diesbezüglich lässt sich mit Ralf Bohnsack noch genauer zwischen einer sinngenetischen Rekonstruktion und einer soziogenetischen Rekonstruktion unterscheiden; letzte-

20 Die Verwendung von Einzelinterviews im Vergleich zu Gruppendiskussionen stellt gewissermaßen einen Umweg zum Sozialen dar, erlaubt es aber auch, subjektiven Eigensinn zu erkennen (vgl. auch Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2013).

3 Angst als soziales, lebensweltliches Phänomen

re fragt »nach der Genese der Sinngenese, also nach dem (Entstehungs-)Kontext des sinngenetischen Kontexts« (Bohnsack 2017: 81, Herv. i. Orig.).21 Damit ist die Aufgabe der Soziolog*innen umrissen und der Kreis zum Beginn dieses programmatischen Kapitels geschlossen, wo als Prinzip formuliert wurde, »daß in gewissem Sinne die Akteure besser über die soziale Welt Bescheid wissen als die Theoretiker; und dennoch daran festzuhalten, daß sie nicht wirklich Bescheid wissen und daß die Arbeit des Wissenschaftlers darin besteht, dieses praktische Wissen explizit zu machen.« (Bourdieu 1991a: 275)

3.5

Bilanz: ein neuer Blick auf Angst

In diesem Kapitel habe ich eine qualitative Programmatik entwickelt, die einen neuen theoretisch-methodologischen Blick auf Angst als lebensweltliches, soziales Phänomen ermöglicht. Erstens ging es mir um eine sozialtheoretische Einbettung von Angst als lebensweltlichem Phänomen. Hierbei habe ich v.a. auf Bourdieu, aber auch auf Mannheim Bezug genommen. Zentral ist, dass das Soziale praxeologisch gefasst wird, d.h. dass das präreflexive, praktische und inkorporierte Wissen als Normalfall alltäglichen Lebens gedacht wird und hierin Angst als Emotion verortet wird. Das praktische Wissen wird von beiden Autoren auch als grundlegend soziales, da standort- und erfahrungsgebundenes Wissen konzipiert. Dies ermöglicht es, Handlung und Struktur, Mikro- und Makroebene sowie strukturelle und kulturelle Dimensionen zusammenzudenken – was in der gegenwärtigen Forschungslandschaft, die sich mit Risiko, Sicherheit und Angst im lebensweltlichen Kontext beschäftigt, bislang kaum geschieht. Mit Bourdieu lässt sich das Soziale zudem konfliktsoziologisch mit Blick auf materielle und symbolische Dimensionen denken. Zweitens geht es mir um eine forschungspraktisch relevante Erkenntnistheorie. Bourdieu folgend kann Forschung nicht anders, als ihren Gegenstand zu konstruieren. Dabei sollte sie aber mit gesellschaftlich präkonstruierten Gegenständen ‒ dem Common Sense ‒ brechen und die eigenen Konstruktionen reflektieren, um zu einer besseren Kenntnis des Gegenstandes zu gelangen. Dieser Auffassung folgend hinterfrage ich die populäre Zeitdiagnose einer Gesellschaft in Angst und stelle verschiedene »Gretchenfragen«. Drittens habe ich aufbauend auf dieser Fassung von Angst eine Interviewtheorie und entsprechende Auswertungsmethodologie skizziert, die die interaktiven, perfor21 Meine empirisch begründete These, dass sich Ängste je nach Lebensphase unterscheiden und dies Ausdruck der wohlfahrtsstaatlichen Instititutionalisierung des Lebenslaufs ist (Kap. 7.3), stellt m.E. eine solche soziogenetische Rekonstruktion dar.

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mativen und impliziten Dimensionen von Interviewforschung und Angst adäquat adressiert. Neben gesprächsanalytischen Zugängen habe ich v.a. im Anschluss an Bohnsacks Weiterentwicklung von Mannheims dokumentarischer Methode der Interpretation eine praxeologische (Emotions-)Analyse vorgeschlagen, mittels derer das praktische, implizite Wissen und damit Angst als Emotion rekonstruiert und explizit gemacht werden kann. Mit diesem »Theorie-Methodologie-Paket« (in Anlehnung an Clarke 2005: 2) für die soziologische Angstforschung betrete ich Neuland. In Publikationen anderer Forschender finde ich zwar einzelne Aspekte (v.a. Schmitz/Flemmen/Rosenlund 2018), aber keine so umfassende Formulierung einer Programmatik. Methodisch kann diese Programmatik auf unterschiedliche Weise umgesetzt werden. Im folgenden Kapitel stelle ich den von mir realisierten Weg vor.

4 Methodische Umsetzung

Dieses methodische Kapitel informiert darüber, wie ich mein im vorigen Kapitel vorgestelltes Programm empirisch umsetze. Da der Methodikteil als eine »Art ›Herzstück‹« (Kruse 2015: 624, Herv. i. Orig.) in Bezug auf die Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses und als Leseanleitung für die Ergebnisse gelten kann, bin ich so explizit und konkret wie möglich ‒ auch um die mit meinem Forschungsdesign verbundenen und verhinderten Erkenntnismöglichkeiten sowie das Ge(macht)wordensein meiner Ergebnisse transparent zu machen. Zunächst (Kap. 4.1) stelle ich die Methodik der Interviews vor, die aus dem Methodenmixprojekt »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten« stammen. Bezüglich der Datengewinnung wird eine Nähe zu den lebensweltlichen Ansätzen von Lupton sowie Olofsson und Kolleg*innen deutlich (Kap. 2.3), allerdings sind die Interviews strukturierter, als ich es anvisiert hätte. Daher begründe ich, warum ich mich dennoch für diese Datengrundlage entschieden habe. Die Auswahl der Fälle (Kap. 4.2), die dieser Arbeit zugrunde liegen, orientiert sich daher zum einen daran, inwieweit Offenheit für Relevanzsetzungen und eigenstrukturierte Erzählungen seitens der Interviewpartner*innen geschaffen wurde. Zum anderen verfolge ich eine Samplingstrategie, die maximale inhaltliche (d.h. nicht soziodemographische) Kontraste sucht. Dabei verfolge ich die Idee des theoretischen Samplings und ziele auf eine konzeptuelle Repräsentation. In der Auswertung (Kap. 4.3) folge ich Jan Kruses (2015) integrativem Basisverfahren, das verschiedene methodologische und methodische Ansätze im Sinne eines bestmöglichen Fremd- und Selbstverstehens kombiniert. Es lässt sich den rekonstruktiv-hermeneutischen Verfahren zuordnen und eignet sich für praxeologische Analysen. Forschungslogisch verortet sich das Verfahren in der Grounded-TheoryMethodologie; anders formuliert stellt der Forschungsprozess im Sinne einer hermeneutischen Spirale einen sukzessiven Erkenntnisgewinn dar, der sich aus dem Wechselspiel von Theorie und Empirie speist (Kruse 2016).

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Gesellschaft in Angst?

4.1

Die Interviews

Ausgangspunkt und Ziel Das Projekt »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten« (2010-2013) war Teil eines größeren Verbundprojektes im Rahmen der vom BMBF geförderten Sicherheitsforschung1 und wurde unter Leitung von Baldo Blinkert und Co-Leitung von Hans Hoch in Zusammenarbeit des Instituts für Soziologie der Universität Freiburg und des Freiburger Instituts für angewandte Sozialwissenschaft e.V. (FIFAS) durchgeführt. Auch vor dem Hintergrund von Zeitdiagnosen der Unsicherheit und Angst wurde ein Methodenmixdesign entwickelt, um den lebensweltlichen Kontext von (Un-)Sicherheit zu erforschen. Diskutiert wurde anfangs, ob bei Sicherheiten oder Unsicherheiten anzusetzen sei; die Entscheidung fiel auf Unsicherheiten: »Als ›ereignislose‹, vorbewusste ›Normalität‹ lassen sich Vorstellungen eines sicheren Alltags nicht direkt etwa über Fragebögen oder gezielte Interviews erheben« (Eisch-Angus 2009: 73), entsprechend dürften Unsicherheiten eher thematisierbar und erfassbar sein. Ein weiterer zentraler Ausgangspunkt der methodischen Überlegungen war es aufgrund einer früheren Studie von Blinkert (1978), semistrukturierte, themenoffene Interviews durchzuführen. Dadurch sollte den Interviewpartner*innen die Möglichkeit gegeben werden, über die für sie relevanten Unsicherheitsthemen zu sprechen, statt bestimmte, von den Forschenden ausgewählte Themen vorab relevant zu setzen und dadurch ihre Relevanz ggf. zu reproduzieren (ausführlicher: Blinkert et al. 2015). Diese methodische Entscheidung für eine themenoffene Erhebung erschien angesichts des bisherigen Forschungsstandes angemessen und innovativ. Denn dieser ist zum einen durch quantitative, teils repräsentative Studien geprägt, die mit Themenvorgaben und damit auch Themenauslassungen arbeiten und so die Produktion »methodischer Artefakte« riskieren (Blinkert 1978, Blinkert et al. 2015). Ferner wird aus qualitativer Sicht bei solchen Studien die lebensweltliche Bedeutung der Antworten der Interviewpartner*innen nicht deutlich. Zum anderen gibt es einige qualitative Studien, die jedoch in der Regel einzelne Unsicherheitsthemen fokussieren, etwa biographische und sozioökonomische Unsicherheit oder Kriminalitätsfurcht. Beide Forschungszugänge geben daher nur begrenzt Antwort auf die Frage, welche Unsicherheiten lebensweltlich eine Rolle spielen. Diese Überlegungen kulminierten in der Idee, »offene Methoden in der Erhebung anzuwenden und gleichzeitig statistisch verallgemeinerbare Ergebnisse zu erhalten, die durch gleichzeitige qualitative Auswertungen in wichtigen Punkten validiert, vertieft und interpretiert werden können« (Blinkert et al. 2015: 155).2 Wäh1 Das Verbundprojekt trägt den Titel »Barometer Sicherheit in Deutschland« (Akronym: BaSiD). 2 Für ein ähnliches Vorgehen in der Sicherheitsforschung ‒ offene Erhebung plus Kategorisierung zwecks Quantifizierung ‒ s. Gerhold (2009: 95ff.).

4 Methodische Umsetzung

rend als Vorbereitung für die statistische Auswertung die Ausführungen der Interviewpartner*innen qualitativ-inhaltsanalytisch ausgewertet und kategorisiert wurden, wurden die genuin qualitativen Analysen eines Subsamples der Interviews mit rekonstruktiven Methoden durchgeführt. Letzteres war meine Aufgabe im Projektteam: Ich kam einige Monate nach Projektstart aufgrund meiner qualitativen Ausbildung ins Projektteam, zunächst als studentische Hilfskraft und dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Teilzeit. Während ich dadurch bei der Gestaltung des Leitfadens bzw. Fragebogens nur teilweise mitwirken konnte, hatte ich bei der rekonstruktiven Analyse große Freiheit – und die Gelegenheit, mich mit für mich herausfordernden Daten zu beschäftigen. Wie im Folgenden deutlich wird, waren die Interviews bereits auf den ersten Blick stärker von den Forschenden und ihren Präkonzepten strukturiert als aus einer qualitativen Methodensicht üblich und wünschenswert. Wie ich darüber hinaus in Kapitel 5 zeige, war es, auf den zweiten Blick, eine Tendenz der Studie, nicht gegenstandsangemessen zu forschen und – quantitativ ausgedrückt – dem Anspruch der Validität nicht gänzlich gerecht zu werden. Dennoch gibt es für mich gute Gründe für diese schwierigen, aus meiner Sicht teils »gescheiterten« Interviews (vgl. Garfinkel 1967), auf die ich in diesem und dem nächsten Kapitel ebenfalls noch eingehe.

Leitfaden und Fragebogen Das typische »problematische Verhältnis von Zeit und Informationsinteressen« (Hopf 1978: 101) stellte sich auch in der vorliegenden Studie ein, da es viele Anforderungen zu berücksichtigen galt. Um Beispiele zu nennen: Wie bereits beschrieben hatte die Studie zum Ziel, gleichermaßen qualitativ-rekonstruktive wie standardisierte Auswertungen zu ermöglichen. Die statistischen Ergebnisse wiederum sollten einigermaßen vergleichbar zu anderen quantitativen Studien sein. Außerdem bestand ein ebenfalls schon beschriebenes ausgeprägtes Interesse, keine thematischen Vorgaben zu machen; gleichzeitig wollten wir aber Aussagen zu denjenigen Themen treffen können, die im Zentrum der BMBF-geförderten Sicherheitsforschung stehen, insbesondere Kriminalität, Terrorismus, Naturkatastrophen und technische Großunglücke. Aus bisherigen Studien, z.B. zum Thema Kriminalitätsfurcht, war ferner bekannt, dass der Kontext einen Unterschied macht, sodass es wichtig erschien, persönliche Unsicherheiten von Einschätzungen der allgemeinen sozialen Situation zu trennen. Hinzu kam die konzeptuelle Fassung von (Un-)Sicherheitsbefindlichkeiten in der von Blinkert in Vorarbeiten zum Projekt entwickelten »Sequenzmatrix«, die zentrale Aspekte von (Un-)Sicherheit im Sinne eines »vollständigen Satzes« über (Un-)Sicherheit erfassen will (ursprünglich Blinkert 2009, s. auch Blinkert 2013: insbesondere 90ff.). Die Sequenzmatrix liegt dabei nicht nur der statistischen Auswertung als Analyseraster

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zugrunde, sondern strukturiert durch entsprechende Fragen auch das Interview selbst. Insofern ist sie auch für meine Arbeit wichtig und wird kurz vorgestellt. Für die Befragung sind zunächst Ereignisse ‒ in einem weiten Sinn: einschließlich Bedingungen, Situationen, Objekten ‒ zentral, die Gefühle des Bedrohtseins auslösen. In meinen Worten sind dies die Unsicherheits- bzw. Angstthemen. An die Ereignisse schließen sich die weiteren Dimensionen der Sequenzmatrix an: Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten der Ereignisse, wobei für die subjektive Perspektive »allenfalls ›kategoriale‹ Vorstellungen darüber« (ebd.: 91) zu erwarten sind, Schäden als negative Folgen von Ereignissen und für das Auftreten der Ereignisse verantwortliche Akteur*innen (Personen, Gruppen, Organisationen, Ursachen, Bedingungen). Darüber hinaus spielen Sicherheitsmanagements eine Rolle im Sinne von Möglichkeiten, präventiv, korrektiv und kompensatorisch den Ereignissen bzw. ihren Folgen zu begegnen. An die Sicherheitsmanagements anknüpfend interessieren auch deren Nebenfolgen als geplante oder ungeplante Folgen und die für das jeweilige Sicherheitsmanagement verantwortlichen Akteur*innen (wiederum in einem weiten Sinn). Sicherheitsansprüche, -gewohnheiten und -traditionen sind als wichtige Hintergrundfolie für die zuvor genannten Dimensionen zu sehen. Sie können aber in der Regel nicht direkt abgefragt werden, sondern sind Gegenstand einer Rekonstruktion und finden daher ausschließlich in der Analyse Verwendung. All diese Anforderungen galt es also, in einem Leitfaden zu vereinen. Nach einem Pretest (n=21) erschien schließlich ein dreiteiliges Interview am besten geeignet, das Leitfaden- und Fragebogenelemente umfasste und somit den Methodenmix bereits in der Datengewinnung realisierte (s. Tabelle 1). Der erste Leitfadenteil (A-Teil) griff die zentrale methodologische Überlegung auf, den Interviewpartner*innen einen Raum zu bieten, in dem sie ohne thematische Vorgaben die für sie relevanten Unsicherheiten zur Sprache bringen konnten ‒ getrennt nach persönlichen Unsicherheiten, die Allgemeinheit betreffende Unsicherheiten und Unsicherheiten am Wohnort. Die genannten Ereignisse wurden von den Interviewenden stichwortartig auf Kärtchen zusammengefasst. Für jedes der genannten Ereignisse wurden Nachfragen entlang der Sequenzmatrix gestellt.3 Da im Interview also Erzählräume spezifisch für Unsicherheitsthemen, aber nicht für allgemeine Äußerungen im Kontext von (Un-)Sicherheit geöffnet wurden, spre3 Die Methodik dieses ersten Interviewteils war von der Intention her lose an Andreas Witzels »Problemzentriertem Interview« (1985) orientiert. Dieses Interviewverfahren trägt »auf der Seite der Forschenden der notwendigen Vermittlung zwischen bestehendem und zu erwerbendem Wissen im Forschungsprozeß Rechnung« (Mey 2000: 6) und ermöglicht es auf der Seite der Interviewpartner*innen, ihre »Explikationsmöglichkeiten […] so zu optimieren, daß sie ihre Problemsicht auch gegen die Forscherinterpretation und in den Fragen implizit enthaltenen Unterstellungen zur Geltung bringen können« (Witzel 1985: 232).

4 Methodische Umsetzung

che ich nicht von offenen, sondern von semistrukturierten, themenoffenen Interviews ‒ zumindest, wenn es um die Intention der Forschenden geht.4 Der A-Teil schloss mit einem Ranking der Themen nach ihrer Relevanz (»Bedrohlichkeit«) ab, einmal für den persönlichen Bereich und einmal für den Kontext der Allgemeinheit. Dieses Ranking ist von der »Struktur-Lege-Technik« (Scheele/Groeben 1988) inspiriert und wurde mithilfe der Kärtchen durchgeführt, auf denen die Interviewer*innen die Ereignisse notierten. Konkret wurden die Interviewpartner*innen wurden aufgefordert, die Ereignis-Kärtchen auf dem Tisch nach ihrer Bedrohlichkeit zu sortieren und die gewählte Anordnung zu kommentieren. Im zweiten Leitfadenteil (B-Teil) wurden acht Themen vorgegeben. Dies war zum einen der Idee geschuldet, dass zugunsten der statistischen Auswertung Vergleichbarkeit notwendig ist, die durch den A-Teil aufgrund seines themenoffenen Charakters nicht gewährleistet werden kann. Zum anderen wollten wir Daten zu den Themen Kriminalität, Terrorismus, Naturkatastrophen und technische Großunglücke haben, auch wenn die Interviewpartner*innen im A-Teil nicht darauf zu sprechen kamen. Ergänzt wurden diese vier Themen durch vier weitere Themen ‒ wirtschaftliche Krisen, schwere Erkrankung und Pflegebedürftigkeit, Scheitern bzw. Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen sowie Unfälle ‒, die sich durch die Literaturaufbereitung und den Pretest als relevant erwiesen hatten. Die mögliche Doppelung von Themen wurde in der Hinführung zum B-Teil im Leitfaden aufgegriffen und begründet. Wie im A-Teil folgte ein Themen-Ranking. Abgeschlossen wurde der B-Teil mit Fragen zu Sicherheitstechniken, die für meine Analyseergebnisse keine Rolle spielen (s. wiederum Tabelle 1). Im als Fragebogen konzipierten C-Teil wurden verschiedene soziodemographische Merkmale sowie Einstellungen und Werte abgefragt. Ebenso wurden die Interviewpartner*innen um eine kurze Einschätzung des Interviews gebeten. Diese drei Interviewteile stellen zusammen einen umfangreichen Leitfaden bzw. Fragebogen dar, den ich in den für meine Arbeit relevanten Teilen in Kapitel 5 genauer vorstelle und analysiere.

4 In der Interviewpraxis hingegen zeigte sich, dass einige Interviewpartner*innen die Thematisierungsräume als nicht so (themen-)offen wahrnahmen (dazu Kap. 5).

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Tabelle 1 Struktur des Leitfadens bzw. Fragebogens A

Themenoffener Teil

Differenziert nach drei Kontexten: persönlich (P), Allgemeinheit (A), Wohnort (W). Je Kontext: Einstieg mit Skalenfrage zum (Un-)Sicherheitslevel, dann Erfragen von Themen (P, A) bzw. Orten (W). Für jedes Thema: Nachfragen entlang der Sequenzmatrix. Abschließend: Ranking der Themen differenziert nach P und A (Struktur-Lege-Technik).

B

Themenübergreifender Teil: Vorgabe von 8 Themen

Themen: Naturkatastrophen, Kriminalität, Terrorismus, technische Großunglücke, wirtschaftliche Krisen, schwere Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit, Verlust und Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen, Unfälle. Für jedes Thema: ausgewählte Fragen aus Sequenzmatrix, persönliche und allgemeine Betroffenheit. Abschließend: Ranking der 8 Themen differenziert nach P und A (Struktur-Lege-Technik).

Sicherheitstechniken

Allgemeine Frage nach Bekanntheit und Nutzung von Sicherheitstechniken. Fragen zu Bekanntheit und Bewertung von Videoüberwachung, Körperscannern und biometrischen Merkmalen in Personalausweisen.

Soziodemographische Merkmale, Einstellungen und Milieufragen sowie kurze Einschätzung des Interviews

z.B. Haushalt und Familienstand, Bewertung von z.B. Sicherheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Religiosität und Konfessionalität, Parteipräferenz, Mediennutzung, (Aus-)Bildung, Erwerbstätigkeit und berufliche Position, Einkommen, Staatsbürgerschaft, Geburtsland und ggf. Migrationszeitraum (auch der Eltern), Alter

C

Durchführung der Interviews und Sample Die Durchführung der insgesamt 405 Interviews erfolgte im Frühsommer und Sommer 2011 in vier Erhebungsorten in Deutschland, die sowohl ländliche als auch städtische Kontexte abdecken. Um die Voraussetzungen für eine statistische Auswertung zu erfüllen, sollten an jedem Ort 100 Interviews durchgeführt werden, wofür per Zufallsstichprobe aus den örtlichen Einwohnermelderegistern Personen ausgewählt wurden. Nachträgliche Selektionskriterien bei dieser Zufallsauswahl waren das Alter und die Wohnform, sodass unsere Zufallsstichprobe auf die Wohnbevölkerung über 18 Jahren zielte (Heimbewohner*innen wurden ausgeschlossen). Die so Ausgewählten wurden Mitte Mai 2011 per Anschreiben über die Studie informiert, wobei ihnen ein Incentive in Höhe von 30 Euro in Aussicht gestellt wurde. Die potenziellen Interviewteilnehmer*innen wurden danach von den Intervie-

4 Methodische Umsetzung

wenden kontaktiert, um die Teilnahmebereitschaft und ggf. Interviewtermine abzuklären. Die Interviews wurden üblicherweise bei den Interviewpartner*innen zu Hause durchgeführt und dauerten im Durchschnitt anderthalb Stunden. Nach dem Interview wurden die Interviewpartner*innen gebeten, die Einverständniserklärung zu unterschreiben, in der ihnen auch die vertrauliche und anonyme Behandlung ihrer Daten zugesichert wurde. Das daraus resultierende Sample von 405 Interviews kann hinsichtlich seiner sozialstrukturellen Merkmale wie Geschlecht, Bildung, Alter und Einkommen in aller Kürze als relativ durchmischt, jedoch mit Tendenz zum klassischen ›weißen‹ Mittelschichtsbias beschrieben werden (ausführlicher zur Stichprobe: Blinkert et al. 2015). Die potenziellen Interviewer*innen wurden über die örtlichen bzw. nahegelegenen Universitäten angesprochen und nach methodischen Vorkenntnissen ausgewählt. Sie erhielten eine halbtägige Schulung, die sie u.a. mit den Zielen, der Methodik und dem Leitfaden des Projekts sowie organisatorischen Aspekten vertraut machte, und zur Nachlese ein über 20-seitiges Manual. Oft übernahmen die Interviewer*innen auch die Transkription der von ihnen selbst geführten Interviews. Im Regelfall handelt es sich dabei um für die qualitativ-inhaltsanalytische Auswertung geeignete Basistranskripte ohne gesprächsanalytische Details. Für meine rekonstruktive und mikrosprachliche Auswertung habe ich daher bedarfsweise entlang der Transkriptionsregeln in Anhang A nachtranskribiert.

Nutzen und Nutzung der Interviews für mein Forschungsinteresse Diese Überarbeitung der Transkripte steht beispielhaft für eine generelle Herausforderung, die im Spannungsfeld zweier unterschiedlicher Forschungslogiken liegt und mit der ich mich folglich als qualitativ-rekonstruktive Forscherin im Methodenmixprojekt konfrontiert sah. Konkret geht es um die Frage der Strukturierung: wer im Rahmen der Forschung wann wie viel strukturiert. Zwar zielte das Interviewdesign, v.a. der A-Teil, auf Offenheit, doch wurde bereits hier u.a. mittels der Sequenzmatrix vorstrukturiert und dabei viel theoretisches Wissen er- bzw. manchmal auch abgefragt (dazu Kap. 5). Dies ist für bestimmte Forschungsanliegen, wie sie auch im Projekt intensiv verfolgt wurden, sinnvoll. Für mein rekonstruktives Interesse wäre hingegen ein offenerer und alltagsweltlicherer Fokus wünschenswert gewesen, sodass die Interviewpartner*innen auch über ihre unsicherheitsthematischen Relevanzen hinaus ihr Relevanzsystem in Bezug auf Angst stärker eigenstrukturiert zum Ausdruck bringen können. Damit bringen diese Interviews in Bezug auf mein Forschungsinteresse Nachteile mit sich, die den folgenden Vorzügen gegenüberstehen. Zum einen liegt der Nutzen der Interviews auf der Hand: Die zentrale Frage der Methodenmixstudie fällt mit meiner Frage nach lebensweltlich relevanten Ängsten weithin zusammen. Damit kann ich prinzipiell, wenn auch mit den genannten Ein-

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schränkungen und bestimmten Samplingstrategien (s. Kap. 4.2), relativ passende Daten erwarten. Dass ein dermaßen umfangreicher und vielfältiger ›Datenpool‹ in transkribierter Form bereits vorliegt, bot mir darüber hinaus erhebliche Vorteile: Erstens entfielen die Arbeiten der Interviewpartner*innengewinnung, Interviewdurchführung und Basistranskription. Dass die Interviewdaten in der Statistiksoftware SPSS aufbereitet sind ‒ auch die themenoffenen Teile, die inhaltsanalytisch auf Stichworte gemäß der Dimensionen der »Sequenzmatrix« kondensiert wurden ‒ bot mir zweitens Samplingmöglichkeiten, die im Rahmen einer Doktorarbeit mit eigener Interviewgewinnung nicht möglich wären. Diese Datenaufbereitung erlaubte mir nämlich ein informiertes theoretisches Sampling aus dem vorliegenden Datenpool in dem Sinne, dass bestimmte Merkmale von Fällen (auf soziodemographischer sowie v.a. auf Äußerungsebene) bereits beim Sampling und nicht erst nach der Interviewdurchführung und -auswertung bekannt waren (dazu in Kap. 4.2 mehr).5 Und drittens erleichterten diese Daten und ihre quantitative Auswertung (Blinkert 2013: Kap. II, Blinkert et al. 2015) eine Verschränkung mit qualitativen Analysen. So gaben mir die quantitativen Analysen Hinweise für relevante Fragen – etwa die nach der Bedeutung von »Kriminalitätsfurcht« (zusammenfassend Kap. 8.2) – und die qualitativ-rekonstruktiven Analysen können wiederum Interpretationsmöglichkeiten für quantitative Ergebnisse bieten. Zum anderen hängt der Nutzen der Daten auch von ihrer Nutzung ab. Daher war die Qualität der qualitativen Daten von zentraler Bedeutung für meine Fallauswahl, v.a. im Hinblick auf die Güte der Interviewführung aus Sicht einer rekonstruktiv-offenen Methodologie (s. auch Kap. 4.2). Entsprechend stehen die Teile des Interviews im Fokus meiner Auswertung, in denen erzählt wird bzw. in denen den Interviewpartner*innen größere Erzählräume zugestanden werden, denn ohne Text und ohne bedeutungsgebenden Kontext ist keine Rekonstruktion möglich.6 Die Interviewpassagen, die dieses Kriterium erfüllen, fallen allerdings nicht immer mit dem A-Teil des Interviews zusammen. Zwar hielt ich anfangs den B-Teil aufgrund seiner prinzipiell stärkeren Strukturierung für weniger bedeutungsvoll für meine Analysen. Allerdings stellte ich fest, dass erstens die jeweilige Eröffnungsfrage zu den acht Themen, bspw. in Bezug auf Naturkatastrophen: »Beginnen wir 5 Das halte ich auch vor dem Erfahrungshintergrund anderer Forschender für einen großen Vorteil. So beschreiben bspw. Burzan, Kohrs und Küster (2014), dass sie im qualitativen Teil ihrer Methodenmixstudie zu sozioökonomischen Unsicherheiten für ein theoretisches Sampling relevante Aspekte nicht vorab in Erfahrung bringen konnten. Die Autorinnen folgern daraus, »dass zu bestimmten tabubelegten Themen ein angestrebtes theoretisches Sampling […] nicht vollständig nach inhaltlich relevanten Kategorien steuerbar ist.« (ebd.: 170) Qualitative Sekundäranalysen bereits vorliegender Daten können demnach eine Antwort auf dieses Problem darstellen, auch wenn sie mit anderen Nachteilen einhergehen können. Für beides ist meine Arbeit ein Beispiel. 6 Den Begriff des Erzählens nutze ich in meiner Arbeit in der Regel im alltagssprachlichen Sinn, d.h. nicht nur bei Vorliegen der Textsorte der Erzählung.

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mit Naturkatastrophen. An was denken Sie dabei?«, erzählgenerierende Wirkung entfalten kann. Zweitens wurden im Zuge der Thematisierung der acht Themen auch einige biographische und lebensweltliche Hintergründe erzählt. Drittens war in manchen Fällen eine vertrautere oder aufgelockertere bzw. entspanntere Stimmung als im A-Teil zu beobachten, die sich positiv auf die Erzählbereitschaft auswirkte.7 Und viertens ermöglichte die Themenvorgabe, über das zu sprechen, was bis dahin als nicht relevant und erzählwürdig erachtet wurde. Auch die StrukturLege-Technik bot in manchen Fällen Anlass zu Erzählungen. So vertieften oder illustrierten Interviewpartner*innen manche Unsicherheitsthemen mit Episoden oder zeigten auf, inwiefern die Unsicherheitsthemen lebensweltlich in Zusammenhang stehen. Trotz dieser Anpassungsbemühungen konnte ich die methodischen Nachteile der vorliegenden Daten nicht gänzlich ausgleichen. Was mir anfangs als Ärgernis erschien, sehe ich nun als Reflexionsmöglichkeit. Ich kam zum Schluss, dass ich die ›Besonderheiten‹ der Daten weder in der Analyse ignorieren noch in der Ergebnisdarstellung unterschlagen kann, sondern ihre Bedeutung für die Ergebnisse reflektieren und explizieren muss. Die Reflexion dessen, wie im Methodenmixprojekt welcher Forschungsgegenstand konstituiert wurde, sehe ich entsprechend nicht als Nachteil bzw. als Manko (wie man es aus einer neo-positivistischen Sicht sehen könnte), sondern im Gegenteil: Zum einen stellt sie u.a. Bourdieu (1997) folgend eine Notwendigkeit jeglicher Forschung dar, da diese unausweichlich den Gegenstand konstitutiert, den sie beschreiben will. Zum anderen und damit verbunden halte ich eine (methoden-)reflexive Arbeit im Bereich der Sicherheitsforschung für eine Bereicherung des Diskurses. Denn eine reflexive Sicherheitsforschung, z.B. hinsichtlich der Fragen, mit welchem Framing und welchem Wording man was genau herausfindet und welche impliziten Annahmen der empirischen Forschung zugrunde liegen, wurde bislang zwar gefordert, jedoch wenig praktiziert (vgl. Henwood et al. 2008, s. Kap. 5). Mit meinem mikrosprachlich und rekonstruktiv orientierten Ansatz kann ich genau dies leisten ‒ und hierfür sind auch und gerade solche Interviews bzw. Interviewpassagen spannend, in denen nicht (nur) Fragen beantwortet werden, sondern (auch) intensive Aushandlungen der Fragestellung stattfinden.8

7 Vgl. dazu Nairn, Munro und Smith: »It may be idealistic for interviewers to expect to establish rapport before an interview begins; indeed we would argue that the emotional, and often invisible, work of establishing (or losing) rapport is a process that occurs throughout an interview« (2005: 231). 8 Diesen Punkt werde ich in Kap. 5.2.3 unter dem Stichwort »gescheiterte« Interviews weiterdiskutieren.

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4.2

Sampling, Sample und Repräsentation

Allgemeine Überlegungen: Samplingstrategie und Repräsentationsziel Gute Interviewführung als Auswahlkriterium Wie erwähnt stellt die Güte der Interviewführung ein erstes Auswahlkriterium beim Sampling dar. Gute Interviewführung verstehe ich zum einen als solche, die zwar den Leitfaden im Blick hat, aber Erzählräume öffnet, erzählen lässt, deindexikalisierende Fragen9 und Aufrechterhaltungsfragen stellt, sodass die Interviewpartner*innen auch jenseits der Fragen zur Sequenzmatrix Gelegenheit hatten, über das zu sprechen, was ihnen wichtig ist. Im besten Fall wurde so das semistrukturierte zu einem teilnarrativen Interview (Helfferich 2011). Zum anderen vermittelt gute Interviewführung dem interviewten Menschen Wertschätzung sowie das Gefühl, »mit gutem Recht das zu sein, was er ist« (Bourdieu 1997: 786). Eine solche Interviewführung drückt sich bspw. in der positiven Würdigung der Antworten bzw. Erzählungen der Interviewpartner*innen und sonstigen affirmativen Signalen wie »mhm«, »ja« etc. aus. Daraus müssen allerdings nicht unbedingt umfangreiche Monologe seitens der Interviewpartner*innen resultieren. So sind auch »kleine Geschichten« (Bamberg/Georgakopoulou 2008) für mein Forschungsinteresse aussagekräftig. Darüber hinaus gilt es den »Reichtum karger Interviews« (Kruse 2015: 283) hervorzuheben, d.h. wenn verbal »karge« Interviews dadurch zustande kommen, dass die Interviewpartner*innen Mustern der NichtDiskursivierung bzw. prägnanten Thematisierung folgen. Theoretisches Sampling und konzeptuelle Repräsentation bzw. Weiterentwicklung Das zweite zentrale Kriterium beim Sampling ist der inhaltliche Beitrag eines Interviews zu einer oder mehreren der drei empirischen Fragestellungen (Kap. 5, 6 und 7). Dabei orientiert sich meine Fallauswahl an der aus der Grounded-TheoryMethodologie stammenden Idee des theoretischen Samplings (z.B. Glaser/Strauss 1979, Strübing 2014). Theoretisches Sampling bedeutet, dass die Fallauswahl nicht wie in der standardisierten Forschung als Zufallsauswahl gestaltet wird und die Interviews aus Vergleichbarkeitsgründen möglichst zum gleichen Zeitpunkt durchgeführt werden, sondern dass eine bewusste und sukzessive Auswahl solcher Fälle stattfindet, die einen Beitrag zur empirisch begründeten und aus den Daten zu erarbeitenden Theorie versprechen. Während es, mit anderen Worten, in der standardisierten Sozialforschung darum geht, mittels geeigneter Stichprobenziehung eine an sozialstrukturellen Merkmalen gemessene Miniatur einer Gesamtpopulation zu untersuchen, um Aussagen über Häufigkeiten und Kausalitäten in der Ge9 »Deindexikalisieren« bedeutet, »die indexikalen Begriffe und Sprechhandlungen der Befragten aufzugreifen und weiter zu eröffnen« (Kruse 2015: 88), z.B. mit der Frage: »Was meinen Sie damit?«.

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samtpopulation zu treffen, geht es in qualitativen Forschung darum, »die Strukturiertheit des Phänomens und das Spektrum seiner Ausprägungen zu erfassen« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 176). Daher ist das Sampling weniger an formalen, soziodemographischen Merkmalen interessiert, sondern an der zu erwartenden Varianz im Hinblick auf das interessierende Phänomen, d.h. am inhaltlichen Beitrag eines Falles (vgl. ebd.: 178; Strübing 2002). Das Sample ist finalisiert, wenn theoretische Sättigung eintritt, d.h. wenn neue Fälle keine (wesentlich) neuen inhaltlichen Beiträge mehr liefern und die entwickelten Konzepte dicht sind. Mein Repräsentationsziel bezieht sich demnach auf die konzeptuelle Repräsentation. Da ich drei empirische Kapitel mit einer je eigenen Fragestellung habe, gibt es drei Punkte der theoretischen Sättigung. Neben dieser Spezifizierung der allgemeinen Idee des theoretischen Samplings und der konzeptuellen Repräsentation will ich noch auf drei weitere spezifische Nutzungsweisen in meiner Arbeit hinweisen. Erstens interessieren mich homologe Muster in Mannheims Sinne, d.h. ›hintersinnige‹ Muster, die quer zu den untersuchten Fällen liegen können und nicht in Einzelfällen aufgehen müssen. Dieser Orientierung an Mustern folgend gestalte ich die Darstellung der Forschungsergebnisse, in Kapitel 7 im Rahmen einer Typologie. Um jedoch auch die Menschen, die ›vor‹ diesen Mustern stehen, als bspw. verunsicherte, verärgerte und anderweitig involvierte Akteur*innen sichtbar zu machen und keine akteurslose Soziologie zu betreiben, nutze ich für die Ergebnisvorstellung auch Analysen von Fallbeispielen. Diese stehen entsprechend nicht für sich, sondern für ein Muster. Selbstverständlich tragen Fallbeispiele auch zur Anschaulichkeit der Darstellung bei. Zweitens leiste ich der Unterscheidung Mannheims bzw. der dokumentarischen Methode nach Bohnsack folgend dabei eine sinngenetische, aber nur bedingt soziogenetische Rekonstruktion von Mustern (Bohnsack 2013b). Das bedeutet, dass ich die rekonstruierten Muster nur teilweise, nämlich in Kapitel 7, an bestimmte konjunktive Erfahrungsräume rückkopple, für die sie typisch sind und aus denen sie sozial entstanden sind. Drittens stellen diese Konzepte bzw. Muster nicht immer Theorieneuschöpfungen dar, wie der in der Grounded-Theory-Methodologie übliche Begriff der Theorieentwicklung nahelegen könnte. Zwar erkennt auch die Grounded-TheoryMethodologie Strauss’scher Prägung theoretisches Vorwissen als wichtig an, nutzt es als sensibilisierende Konzepte und betont das forschungspraktische Wechselspiel zwischen Theorie und Empirie. Jedoch wurde die Grounded-TheoryMethodologie v.a. für Kontexte entwickelt, zu denen es wenig Theorie gibt, sodass hier tatsächlich neue Theorien entwickelt werden können. Die Frage, wozu es bereits relevante Theorien gibt, ist eine im Einzelfall zu beantwortende ‒ und die Antwort darauf sicherlich auch von einer gewissen Relativität in der Einschätzung und vom Rechercheumfang geprägt. Denn wozu gibt es noch keine Theorie, wenn man den Blick auf verschiedene Forschungs- und Diskussionsfelder weitet? Im

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Hinblick auf den Forschungsstand zum Thema (Un-)Sicherheit bzw. Angst scheint es mir trotz der Forschungslücken mehr als genug Theorien und Konzepte zu geben (Kap. 2). Daher bevorzuge ich für meine Arbeit den Begriff der Theorieweiterentwicklung (vgl. auch Scherr/Niermann 2014). Meine Analysen und Ergebnisse sind nicht nur stark durchdrungen von bisherigen Theorien, sondern arbeiten diese auch weiter aus. Dies entspricht Michael Burawoys Plädoyer, das er im Rahmen seiner »extended case method« in scharfer Abgrenzung zu bestimmten Varianten der Grounded-Theory-Methodologie formuliert: »Instead of discovering grounded theory we elaborate existing theory.« (1998: 16) Diese Arbeit mit und an bestehenden Theorien betrifft in meiner Arbeit zum einen die Auseinandersetzung mit Zeitdiagnosen der Angst, die ich empirisch befrage und damit entselbstverständliche. Hier steht die Theoriekritik im Fokus, die aber zugleich Ansatzpunkte für eine modifizierte Zeitdiagnose liefert (vgl. Kap. 9). Zum anderen geht es mir darum, eine theoretisch informierte empirische Soziologie der Angst zu formulieren, wobei ich auf erste Überlegungen anderer Forscher*innen zurückgreifen und diese in Auseinandersetzung mit meiner Empirie weiterentwickeln kann. Fallspezifische Abwägungen Oft konvergierte das Kriterium des inhaltlich gehaltvollen Interviews mit dem Kriterium der guten Interviewführung. In bestimmten Fällen habe ich letzteres allerdings hintenangestellt, etwa wenn sich aus einer problematischen Interaktion wichtige Erkenntnisse für die jeweilige Fragestellung ergaben (vgl. dazu Kap. 5.2.3). Daher gibt es kein fixes, striktes Vorgehen für die Fallauswahl, etwa dass ich erst gut geführte Interviews und aus dieser Auswahl wiederum inhaltlich erkenntnisversprechende Interviews auswähle oder umgekehrt. Solch statische Kriterien haben zwar den Vorteil, Forschungsentscheidungen unmittelbar evident und hierüber legitimierbar zu machen, allerdings werden sie den Besonderheiten der Fälle sowie meiner Erfahrung nicht gerecht, dass Interviewführung nicht binär als gut oder schlecht zu verstehen ist, sondern im konkreten interaktiven Kontext und in der Dynamik des Interviewverlaufs begriffen werden muss. Daher beruhen meine Fallauswahlentscheidungen auf einer fallspezifischen Abwägung.

Umsetzung dieser Ideen: Samplingprozess und Sample Im Fokus: maximale inhaltliche Kontraste Entsprechend meinem empirischen Interesse an pauschalisierenden (Un-)Sicherheitsdiskursen, die teils umstandslos Aussagen für die Gesellschaft treffen, habe ich mich für ein breites, kontrastreiches Sample entschieden, das Akteur*innen in unterschiedlichen sozialen Positionen und mit verschiedenen Perspektiven auf Angst umfasst. Damit knüpfe ich an die im vorigen Kapitel präsentierte methodologische Idee an, in einer Vielfalt an Äußerungen geteiltes Wissen zu rekonstru-

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ieren und dabei nach Möglichkeit genauer zu bestimmen, welches Wissen unter welchen sozialen Bedingungen auftritt. Mit Blick auf Mannheim und Bourdieu, die beide die Seinsgebundenheit allen Wissens betonen, ließe sich argumentieren, dass eine maximale (sozial-)strukturelle Variation als Samplingidee durchaus zu inhaltlichen Kontrasten führen sollte. Allerdings ist es – besonders Mannheim folgend (vgl. Bohnsack 2017: Kap. 9.2) – aufgrund der Komplexität des Sozialen nicht zwingend, von einer soziodemographischen Variation bestimmter Merkmale auf maximale inhaltliche Kontraste zu schließen. Daher steht im Zentrum meines theoretischen Samplings ein maximal inhaltlich kontrastierendes Sample. Konkret bin ich so vorgegangen, dass ich die ersten beiden Fälle rein nach vorab festgelegten kontrastierenden soziodemographischen Merkmalen ausgewählt habe (Alter, Geschlecht, eventuelle Migrationsgeschichte, Wohnort), sodass ich hier also noch der Idee der »maximalen strukturellen Variation« (Kleining 1982) gefolgt bin. Bei der Analyse dieser Fälle konnte ich erste theoretische Ideen entwickeln, sodass sich die weitere Fallauswahl zunehmend nach der Idee des Theoretical Samplings gestaltete. Wie Akremi (2014: 274) und Nohl (2013: 32f.) beschreiben, ist das Sampling dabei zunächst sehr offen, wird dann aber im Verlauf der Forschung und mit zunehmender Ausarbeitung der Konzepte zielgerichteter und fokussierter, sodass ich gegen Ende meines Samplingprozesses auch bewusst ähnliche Fälle suchte, um Thesen zu stärken oder zu korrigieren.10 Solche minimalen Kontraste ergaben sich aber auch ohnehin zwangsläufig aufgrund der Mehrdimensionalität der Fälle: War ein Fall im Vergleich zu einem vorangegangenen ein maximaler Kontrast hinsichtlich einer Dimension, so ähnelten sie sich mitunter in einer anderen. Im Hinterkopf: das Problem der Reifikation Anstelle meiner breiten Exploration wäre eine alternative Samplingidee, die Forschungsfrage anhand spezifischer Gruppen exemplarisch zu beantworten. Diese Idee setzen Cornelia Koppetsch und Sarah Speck in ihrer Studie »Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist« (2015) um, in der sie Wandel und Persistenz von Geschlechterordnungen in drei exemplarischen Milieus untersuchen, die zugleich Extreme des gesellschaftlichen Spektrums abdecken. Die Sinnhaftigkeit dieses Zuschnitts lässt sich mit einer vorangegangenen Studie begründen, in der diese Milieus samt ihren jeweiligen Vorstellungen bspw. von Paarbeziehungen, Männlichkeit und Weiblichkeit rekonstruiert wurden. Der Milieuzuschnitt war somit wohl begründet. Für mein Forschungsfeld habe ich keine solche Grundlage, auf 10 Um ein Beispiel zu geben: Bei der Analyse der Interviews mit Blick darauf, welche Ängste (k)eine Rolle spielen (Kap. 7), rekonstruierte ich verschiedene Sicherheitskonzeptionen und stellte dabei fest, dass sie vermutlich mit der Position im Lebensverlauf zusammenhängen. Entsprechend gestaltete ich die weitere Fallauswahl, indem ich verstärkt ähnliche Fälle hinzuzog, um die Lebensphasenspezifik der Sicherheitskonzeptionen zu prüfen und zu spezifizieren.

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der ich eine fundierte Auswahl bzw. Einschränkung der Interviewpartner*innen hätte treffen können ‒ meine Entscheidungen hätten nur auf Vorurteilen beruht, die ich dann schlechtestenfalls empirisch reifiziert hätte. Dies wollte ich mit einem breiten Sample vermeiden. Das Problem der Reifikation stellte sich mir auch in einer zweiten Hinsicht: Wie kann ich inhaltlich relevante Fälle erkennen, ohne Vorurteilen zu folgen? Wie bereits beschrieben, wählte ich meine ersten Fälle nach variierenden soziodemographischen Merkmalen aus in der Annahme, dass damit unterschiedliche Erfahrungswelten verbunden sind. Wie Forschungen zu sozialen Ungleichheiten zeigen, ist diese Annahme nicht unbegründet, greift aber m.E. dennoch wie erwähnt zu kurz, weil soziale Wirklichkeit nie nur nach wenigen Dimensionen, sondern komplex und intersektional organisiert ist, wobei die jeweiligen Bedeutungen aus dem Kontext zu bestimmen sind. Wie ein theoretisches Sampling ohne hellseherische Fähigkeiten zu erreichen ist, war mir daher rätselhaft: Wie sollte ich vor der Auswertung von Interviews wissen, welche Perspektive die Interviewpartner*innen einbringen ‒ zumal, wenn ich einem rekonstruktiven Ansatz folge, demzufolge das Offensichtliche nicht das Zentrale des Falles sein muss? Theoretical Sampling in der Sekundäranalyse: Chancen und Grenze Die stichwortartigen Zusammenfassungen der Beiträge der Interviewpartner*innen in SPSS gaben mir zwar erste Hinweise. Doch oft genug ließ sich erst nach einer Fallrekonstruktion bestimmen, inwiefern ein Fall den erwarteten inhaltlichen Beitrag beisteuerte ‒ oder einen ganz anderen ‒ und die (weiter) zu entwickelnde Theorie zufriedenstellend gesättigt hat. Das wirft die Frage auf, wie dennoch eine begründete Fallauswahl getroffen und und der Sampling-Prozess ebenso begründet beendet werden kann. Ich sehe hier einen großen Vorteil von Sekundäranalysen, bei denen aus einem bestehenden Datenkorpus ausgewählt werden kann. Mein Ausgangsdatenkorpus bot mir hierfür besondere Chancen und Möglichkeiten. Erstens lag mir mit den 405 Interviews aus dem Sicherheitsprojekt ein besonders umfangreicher Korpus vor. Zweitens gab mir der in SPSS aufbereitete C-Teil des Interviews nicht nur Auskunft über verschiedene soziodemographische Merkmale der Interviewpartner*innen, sondern auch über einige ihrer Einstellungen und Werte sowie ihre Kurzbewertung des Interviews. Drittens und für das inhaltlich interessierte Sampling relevant sind die in SPSS hinterlegten qualitativinhaltsanalytisch erstellten Kurzfassungen der offenen Interviewteile, die u.a. Kategorisierungen der Ereignisse bzw. Angstthemen umfassen (z.B. Kriminalitätsfurcht oder Unfälle). Auf diese Weise konnte ich mir einen ersten Eindruck von den Fällen verschaffen und eine erste Vorauswahl für die rekonstruktive Analyse treffen. Für die Endauswahl war, viertens, hilfreich, dass alle Interviews transkri-

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biert vorlagen, sodass ich mir einen zweiten Eindruck der vorausgewählten Fälle verschaffen konnte. Neben der Unterstützung von Samplingentscheidungen erlaubten mir diese Grundlagen auch, meine Ergebnisse der Einzelfallrekonstruktionen im Ausgangssample zu rekontextualisieren und dadurch den Eindruck der Sättigung zu untermauern. Angesichts des oben genannten erkenntnistheoretischen Problems stellt dies keine perfekte Lösung dar, aber eine aus pragmatischer Sicht gut informierte. Jedoch hat meine Sekundäranalyse gemessen am Programm der Grounded-TheoryMethodologie auch eine Grenze: Vom iterativ-zyklischen Verfahren bin ich insofern abgewichen, als ich die Erkenntnisse meiner Interviewauswertungen nicht in eine Anpassung des Forschungsdesigns (Ansprache potenzieller Interviewpartner*innen, Leitfadengestaltung, Interviewdurchführung) einfließen ließ. Allerdings waren sie für die weitere Fallauswahl und die weiteren Auswertungen als Analyseheuristiken und Vergleichshorizonte nutzbar (vgl. Strübing 2014: 465). Das daraus resultierende Sample Da ich drei empirische Kapitel bzw. Fragestellungen habe, gibt es drei unterschiedliche Punkte der theoretischen Sättigung. Neben einem »Kernsample«, das zu allen drei Fragestellungen beiträgt, tragen manche Fälle nur zu spezifischen Fragestellungen Neues bei ‒ auch weil sie sich nur zur Beantwortung bestimmter Fragestellungen eignen (vgl. dazu Kap. 5.3). Für die Auswertungen in Kapitel 5 habe ich 34 Interviews einbezogen und halte die Ergebnisse für gesättigt. In Kapitel 6 greife ich auf 30 Interviews zurück und halte die Ergebnisse in ihrer Grundstruktur für gesättigt (d.h. in der Unterscheidung von Emotion, Positionierung und Argument). Gleiches gilt für das in Kapitel 7 entwickelte Modell, das auf 33 Interviews basiert. Im dortigen Ausblick (Kap. 7.7) diskutiere ich aber auch im Sample nicht vertretene soziale Positionen und damit spezifische Perspektiven auf Sicherheit und Angst, deren Einbezug weitere Typen in der entworfenen Lebenslauftypologie ergänzen bzw. bisherige Typen weiter ausdifferenzieren könnte. Insgesamt habe ich 39 Interviews in die Analyse einbezogen, die ich im Anhang B hinsichtlich einiger zentraler soziodemographischer Merkmale jeweils einzeln kurz vorstelle und jeweils vermerke, zu welchen empirischen Fragestellungen der jeweilige Fall beigetragen hat. Hier beschränke ich mich auf die Darstellung ihrer Spannbreite: • •

Alter: Die Altersspanne reicht von Anfang 20 bis Mitte 80. Geschlecht: Von den 39 Interviewpartner*innen sind 20 männlich und 19 weiblich. Dabei handelt es sich um Cis-Männer und Cis-Frauen. Trans*-Personen waren auch im Ausgangssample nicht vertreten bzw. gaben sich zumindest nicht zu erkennen.

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Bildungsabschluss (der höchste, der erreicht wurde): Eine Person hat keine formale Bildungsqualifikation, zwei Personen die Mittlere Reife, fünf haben Abitur bzw. die Fachhochschulreife, 20 eine Berufsausbildung (Lehre, Fachschule oder Berufsfachschule), neun haben ein Studium absolviert und zwei haben promoviert. Beschäftigungssituation: Fünf Personen befinden sich zum Interviewzeitpunkt in einer Vollzeitausbildung bzw. in einem Vollzeitstudium, drei sind erwerbslos, sechs in Rente. Von den 25 Erwerbsarbeitenden sind fünf Personen hauptberuflich und eine Person nebenberuflich selbstständig, die anderen arbeiten als Angestellte oder sind verbeamtet. Eine dieser 25 Personen befindet sich in einem auslaufenden Beschäftigungsverhältnis und sucht eine neue Stelle, eine andere ist aufgrund einer chronischen Erkrankung krankgeschrieben. Migrationsgeschichte: Sieben Interviewpartner*innen haben eine Migrationsgeschichte (erste oder zweite Generation).

Personenbezogene Informationen habe ich so pseudonymisiert oder anonymisiert, dass sie einen Kompromiss aus Verfremdung und Authentizität darstellen. Interpretationsrelevante Details gebe ich in dieser Arbeit entsprechend an einschlägiger Stelle mit ausreichender Verfremdung an. Für meine Analyse bzw. Darstellung irrelevante Informationen gebe ich aus Gründen der Anonymitätssicherung nicht an. Das betrifft z.B. in den meisten Fällen die genaue berufliche Tätigkeit der Interviewpartner*innen und ihre Herkunfts- und Wohnorte. Daher habe ich in den zitierten Interviewpassagen zugunsten der Anonymitätssicherung dialektale Färbungen und Wendungen bestmöglich an die Hochsprache angeglichen.

4.3

Die Auswertung mit dem integrativen Basisverfahren

Die methodologischen Ausführungen im vorigen Programmatikkapitel legen ein rekonstruktives, praxeologisches und mikrosprachliches Auswertungsverfahren nahe, das nicht nur ein bestmögliches Fremdverstehen, sondern auch das selbstreflexive Verstehen des eigenen Verstehens bzw. der eigenen Konstruktionsakte ermöglicht. Diese Anforderungen erfüllt das integrative Basisverfahren (Kruse 2015), das ich in seinen methodologischen Bezügen, seiner methodischen Vorgehensweise und seiner Forschungspraxis vorstelle.11 11 Dieses Verfahren wurde in Freiburg im Rahmen von Forschungsprojekten vornehmlich an der Evangelischen (Fach-)Hochschule entwickelt (vgl. Helfferich/Kruse 2005 und 2007). Jan Kruses Verdienst ist es, die narrations- wie konversationsanalytisch fundierte Auswertungsmethodik, die er bei seinen »Lehrmeisterinnen« Cornelia Helfferich und Gabriele Lucius-Hoene kennengelernt hatte, soziologisch weiter methodologisiert und methodisch umfassend dargestellt zu haben (v.a. Kruse 2015, aber z.B. auch Kruse 2016 und Kruse/Biesel/Schmieder 2011).

4 Methodische Umsetzung

Methodologische Bezüge Zentrale methodologische Bezüge des integrativen Basisverfahrens liegen in Karl Mannheims Kultur- und Wissenssoziologie (Mannheim 1980, 2004) mit ihrem Interesse an sozialen Sinnfiguren, die sich in verschiedenen (auch sprachlichen) Ausdrucksgestalten dokumentieren. Dieser soziale Sinn muss den Akteur*innen jedoch nicht unbedingt bewusst zugänglich sein. Insofern ist die hermeneutische (Re-)Konstruktion solcher ›hintergründiger‹ Muster immer ein analytisches Wagnis. Diesem begegnet das integrative Basisverfahren mit verschiedenen methodischen Sicherungsstrategien, die unten näher beschrieben werden. Dazu zählen die intensive mikrosprachliche Deskription der Daten, die Konsistenzregel und der Einbezug einer Analysegruppe. Diese Anmerkung führt zur zweiten zentralen methodologischen Verortung des integrativen Basisverfahrens. Zwar zielt das integrative Basisverfahren mit Mannheim auf eine kollektive Sinnebene, die den subjektiven Sinn einzelner Subjekte transzendiert. Doch sind diese kollektive Sinnebene und damit verbundene soziale Ordnungen methodisch nicht direkt zugänglich. Zugänglich sind jedoch die konkreten Aktualisierungen dieser sozialen Ordnung, wie sie sich in Versprachlichungen und Interaktionen und somit im Interview zeigen. Um diese zu fassen, nimmt das integrative Basisverfahren Bezug auf die ethnomethodologische Konversationsanalyse mit ihrem Interesse an der situativen, interaktiven Herstellung und Aushandlung von Sinn. Wie Garfinkel gezeigt hat, vollzieht sich alltägliche Kommunikation zwar oft im Medium des Selbstverständlichen ‒ es wird von einer »Sinnübereinstimmung« ausgegangen (1975: 205) ‒, ist aber genau betrachtet angesichts der Indexikalität (d.h. Kontextgebundenheit) von Bedeutung und der Schwierigkeit von Fremdverstehen prekär, was in den sogenannten Krisenexperimenten (im Original: »breaching experiments«, Garfinkel 1963) offensichtlich wird. Daher richtet das integrative Basisverfahren sein analytisches Interesse auf das Fremdverstehen der ganz konkreten Interaktionen und Versprachlichungen, basierend auf der Annahme, dass diese nicht willkürlich sind, sondern sinnhaft für eine soziale Ordnung stehen, die über den Vollzug von (Sprach-)Handlungen angezeigt, aktualisiert oder modifiziert wird (Kruse 2015: 464f.). Methodisch wird das Programm des Fremdverstehens aufbauend auf Garfinkels Hinwendung zur detaillierten Analyse von Interaktionen durch ein gesprächsanalytisch und mikrosprachlich orientiertes sequenzielles Verfahren umgesetzt, das im Folgenden näher beschrieben wird.12 12 In Bezug auf die Erkenntnislogik und Organisation des Forschungsprozesses rekurriert das integrative Basisverfahren wie erwähnt auf die Grounded-Theory-Methodologie, die es als ur-qualitative Forschungsstrategie auffasst (Kruse 2016). Das umfasst zentral ein iterativ-zyklisches Vorgehen, das bspw. im sukzessiven theoretischen Sampling seinen Ausdruck findet.

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Methodische Vorgehensweise Der Analyseprozess »What the hell is going on?« (Clifford Geertz) ist das Motto, mit dem das integrative Basisverfahren in die Datenanalyse einsteigt. Nicht die Überprüfung vorheriger Annahmen und Ahnungen wird angestrebt, sondern die Offenheit gegenüber fremden Sinnstrukturen, sodass sich die Analysierenden Schritt für Schritt und Sequenz für Sequenz in die Welt des Interviews hineinsozialisieren, um herauszufinden, worum es hier überhaupt geht. Das genaue Hinschauen ist dabei folgendermaßen methodisiert: Was versprachlicht wird und in welcher Weise das geschieht, wird als zusammenhängend betrachtet. Analytisch können das »Was« und das »Wie« allerdings getrennt werden. Die Analyse des »Wie« vollzieht sich auf drei sprachlichen Aufmerksamkeitsebenen: der Pragmatik im Sinne von Interaktion, der Syntaktik als der ›Vertaktung‹ und der (Wort-)Semantik als Wortwahlen und semantische Felder. Um diese unterschiedlichen Facetten des Wie fassen zu können, benötigt man nicht nur entsprechend feine Transkriptionen, weshalb ich die aus dem Projekt vorliegenden Basistranskripte bei Bedarf nachtranskribiert habe.13 Auch bedarf es eines »analytischen Werkzeugkasten[s]« (Kruse et al. 2011: 48) mit einer Vielzahl an Instrumenten, die gemäß der Erfordernis des Textes auszuwählen sind. Das integrative Basisverfahren stellt einen solchen Werkzeugkasten dar, oder um eine andere Metapher zu wählen: einen »Schlüsselbund« (ebd.: 62), und je nach ›Text-Schloss‹ ist ein passender Schlüssel zu wählen. Mit dieser Vielzahl an Zugriffsmöglichkeiten auf die textuellen Daten soll zum einen gewährleistet werden, dass die ›Autonomie des Textes‹ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004) gewahrt wird, d.h. dass nicht die analytischen Mittel bestimmen, was überhaupt gesehen werden kann, sondern dass ausgehend von den Erfordernissen des Textes die analytischen Zugänge gewählt werden. Das Analyseverfahren sollte also fähig sein, in spiegelbildlicher Manier sprachliche Phänomene zu beschreiben. Dafür ist ein Verfahren, das nur einen Analysezugang kennt, nicht angemessen. Vielmehr ist hier ein integratives Verfahren gefragt (vgl. auch Kleres 2011, 2015). Zum anderen geht mit dieser intensiven, transkriptfixierten deskriptiven Arbeit eine Entschleunigung einher, wie sie auch die Konversationsanalyse auszeichnet (Hirschauer 2010: 219-221). Damit sollen nicht nur die für das alltägliche Verstehen üblichen und notwendigen (vor)schnellen Deutungen kontrolliert wer13 Die Transkriptionsregeln finden sich in Anhang A. Für die Ergebnisdarstellung habe ich die Interviewzitate so angepasst, dass sie die Lesbarkeit auch für nicht qualitativ Forschende erleichtern, ohne aber interpretationsrelevante Details aufzugeben und die Sprechenden völlig ›unauthentisch‹ wiederzugeben.

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den, sondern auch das eigene Relevanzsystem irritiert und befremdet werden, um gegenüber dem fremden Sinn offen zu sein (s. hierzu insbesondere Kruse 2009).14 Mit diesem Vorgehen sollen Schritt für Schritt Regelmäßigkeiten des fremden Sinns rekonstruiert werden, zunächst innerhalb eines Falles und dann über verschiedene Fälle hinweg. Unter Beachtung der Konsistenzregel, wonach nur solche Lesarten weiter mitgeführt werden, die sich über verschiedene thematische Zusammenhänge und Versprachlichungsebenen hinweg zeigen, führt die deskriptive Analyse von ersten Lesarten hin zu zentralen Motiven und Thematisierungsregeln, die mit Mannheim als homologe Muster gefasst werden können. Während sich zentrale Motive tendenziell auf das »Was« beziehen, verweisen die Thematisierungsregeln auf das »Wie«: was wie ausführlich thematisiert wird und worüber aufgrund von Thematisierungsgrenzen nicht gesprochen wird (Kruse 2015: 546ff.). Wie bereits beschrieben stellt der Schluss auf homologe Muster einen interpretativen Akt dar ‒ doch soll auch dieser weiterhin textnah und datenzentriert bleiben. Nachdem also im integrativen Basisverfahren Geertz’ »What the hell is going on?« das Motto des Einstiegs in die Analyse ist, lautet das Motto des Ausstiegs, das an Interpretationen zu stellen ist: »Wo steht das im Text?« (ebd.: 388). Die folgende Abbildung stellt den gesamten Analyseprozess dar. Auf die flankierend platzierten Analyseheuristiken sowie die alles umfassende Analysegruppe gehe ich im Folgenden genauer ein.

14 Mit Verfremdungshaltung ist eine Perspektive gemeint, die die Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Denkens ein- bzw. auszuklammern versucht und so das scheinbar Fraglose fragwürdig und der wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich macht. Während sich Alfred Schütz folgend Alltagskommunikation weitgehend im Medium des Selbstverständlichen vollzieht, die wechselseitigen Verstehensakte also als unproblematisch gelten, sollte eine Soziologie kultursoziologischer Orientierung, die das Implizite des Eigenen explizieren will, eine »Exotisierung des Eigenen« (Hirschauer 2010) anstreben. Hierzu gibt es verschiedene Mittel, die ich bereits kurz erwähnt habe, etwa Garfinkels Krisenexperimente (vgl. Kap. 5.2 zu »gescheiterten« Interviews) oder die konversationsanalytische Entschleunigung via Transkriptfixierung (Hirschauer 2010: 219-221).

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Abbildung 2 Übersicht über das integrative Basisverfahren

Quelle: Eigene Darstellung nach Kruse 2015: 466

Analyseheuristiken als ›Sehhilfen‹ In der bisherigen Darstellung des integrativen Basisverfahrens habe ich die offenen Anteile betont. Dies soll aber nicht als »induktivistisches Selbstmißverständnis« (Kelle 1994: 24) von qualitativer Forschung gelesen werden, das zudem ein erkenntnistheoretisch unmögliches Unterfangen darstellt: Einen unbefangenen Blick, eine Tabula rasa gibt es nicht. Denn jede Forschung ist in einer bestimmten Weise durch Vorannahmen und Vorwissen sowie durch bestimmte Erkenntnisinteressen strukturiert (vgl. Kap. 3.2). Diese gilt es offenzulegen und bewusst einzusetzen. In dieser Spannung von induktiver Offenheit und deduktiver Strukturierung nehmen Analyseheuristiken im Sinne von »sensitizing concepts« eine vermittelnde Rolle ein. Sie haben die Funktion, »tentativ Fragen und Untersuchungsperspektiven zu generieren, und dienen folglich nicht der Ableitung von Hypothesen« (Strübing 2004: 30). Sie fungieren vielmehr als ›Sehhilfen‹ – in Blumers Worten, der die »sensitizing concepts« von den »definitive concepts« abgrenzt: »Whereas definitive concepts provide prescriptions of what to see, sensitizing concepts merely suggest directions along which to look.« (1954: 7) Heuristisch lassen sich dabei die methodischen Analyseheuristiken von den forschungsgegenständlichen unterscheiden, die bspw. aus der bisherigen Forschungsliteratur relevante Konzepte aufgreifen. Beispiele für methodische Analyseheuristiken (die verschiedene »Schlüssel« des »Schlüsselbundes« dar-

4 Methodische Umsetzung

stellen) sind die Metaphern-, Agency- und Positioninganalyse; die Agency- und Positioninganalyse werde ich in den empirischen Kapiteln genauer vorstellen, in denen sie eine Rolle spielen. Die forschungsgegenständlichen Analyseheuristiken für dieses Projekt habe ich im Zuge eines iterativ-zyklischen Forschungsprozesses entwickelt, der ‒ im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie ‒ die Parallelität und somit wechselseitige Befruchtung von Daten-, Literatur- und Theoriearbeit betont. So fand, nachdem das Forschungsinteresse grob geklärt war, eine erste offene »eskalierende Analysephase« statt, in der ich »den Wald vor lauter Bäumen« (Kruse 2015: 641) erst einmal nicht mehr sah. Zugleich sichtete ich theoretische, method(olog)ische und empirische Literatur zu meinem Forschungsfeld. In diesem Prozess konnte ich mein Forschungsinteresse präzisieren und aus eigener Empirie und der gesichteten Literatur für jede der Fragestellungen entsprechende Analyseheuristiken entwickeln, die die weitere Analyse und Reanalyse der Interviews anleiteten. Auch diese Analyseheuristiken stelle ich in den jeweiligen empirischen Kapiteln vor. Analysegruppe als unverzichtbarer Bestandteil der Auswertungsarbeit Wie in anderen qualitativen Verfahren wird im integrativen Basisverfahren die Analysegruppe als ein wichtiges Mittel guter Forschung genannt. Wie Jo Reichertz ausführt, ist die Analysegruppe »in Deutschland eine weit verbreitete, jedoch relativ junge, historisch gewachsene Praktik innerhalb der qualitativen Sozialforschung« (2013: 13). Sie wurde in den späten 1970er Jahren im Zuge des Bedeutungszuwachses qualitativer Methoden und der Fallanalyse in Bielefeld, Frankfurt a.M. und Konstanz etabliert und fand Anfang der 1980er Jahre nahezu überall Anwendung, wo qualitative Forschung betrieben wurde. Schnell avancierte die Analysegruppe also zu einem oder sogar dem zentralen Verfahren von Qualitätsverbesserung bzw. -sicherung in der qualitativen Forschung. So wird sie bspw. als eine »ganz wichtige, ja fast unverzichtbare Ressource für textanalytisches Arbeiten« gesehen (Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 322) und als ein Standbein methodischer Kontrolle (Kruse 2015: 557ff.). Damit wirkt der Einsatz von Analysegruppen zunächst »schulenneutral« (Reichertz 2013: 34). Jedoch verweist Reichertz auf unterschiedliche Praktiken, die in verschiedenen Forschungstraditionen verankert sind (ebd.). Entsprechend dieser potenziellen Bedeutungsvielfalt stelle ich im Folgenden dar, wie Kruse die Analysegruppe versteht und wie ich sie nutzte. Meiner Lesart nach stellt Kruse (2015: Kap. VII.6.7) drei zentrale Funktionen von Analysegruppen heraus, obwohl er selbst nur von zwei spricht: erstens die Öffnungsfunktion hinsichtlich des eigenen Relevanzsystems, zweitens die Verlangsamungsfunktion in der Analysearbeit und drittens die Schärfungs- bzw. Validierungsfunktion von Interpretationen (s. auch Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 322f.). Die Öffnungsfunktion bezieht sich darauf, dass in einem möglichst hete-

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rogenen Analyseteam unterschiedliche Perspektiven auf die sprachlich-kommunikativen Phänomene geäußert werden. Damit können eigene Deutungsroutinen sichtbar gemacht und das eigene Relevanzsystem geöffnet, relativiert und reorganisiert werden. Dies trägt auch zur Selbstreflexion bzw. dem Verstehen des eigenen standortgebundenen Verstehens bei. Die Verlangsamungsfunktion in der deskriptiven Analyse ergibt sich aus Kruses mikrosprachlichem Ansatz, der viel Wert auf Deskription und textnahe Deutungen legt und somit insgesamt schon verlangsamend angelegt ist; eine Analysegruppe kann weiterhin zu einer positiv bewerteten Verlangsamung beitragen. Die dritte Funktion der Schärfung bzw. Validierung von Interpretationen schließt hieran unmittelbar an und wird eventuell daher von Kruse nicht explizit als eigenständige Funktion genannt, geht aber m.E. auch nicht in der Öffnungs- und Verlangsamungsfunktion auf. Die Analysegruppe fungiert als »Prüfstand der Ideen« (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 323): Interpretationen werden diskutiert, modifiziert, präzisiert etc. Als kollegiale Validierung stärkt dies die Interpretations-Intersubjektivität der Forschung. Analysegruppen habe ich für meine Arbeit regelmäßig und gerne genutzt. In den ca. ein- bis zweistündigen Datensitzungen haben wir zu Beginn meines Dissertationsprojektes weite Teile der ersten Interviews in öffnender Weise gemeinsam analysiert. Im weiteren Verlauf wurde der Einbezug der Analysegruppe in Bezug auf die Analyse und Interpretation eines Falles punktueller und von der Fragestellung her fokussierter. Dabei überwiegen rückblickend v.a. der Gewinn hinsichtlich der Öffnungs- sowie der Schärfungsfunktion. Die kollegiale Validierung und das Erreichen von Interpretations-Intersubjektivität erscheinen mir hingegen wesentlich voraussetzungsvoller, zumal angesichts der begrenzten Zeit, die für Interviewauszüge aus dem eigenen Projekt zur Verfügung stehen. Wie könnte ich da die Rekonstruktion eines ganzen Falles validieren? Auch Reichertz fragt grundsätzlich und mit Verweis auf die Unterschiedlichkeit der Interpretationshorizonte, ob nicht eher von einem Konfliktmodell statt von einem Konsensmodell auszugehen ist (2013: 15). Entsprechend formuliert auch Kruse ‒ für meine Erfahrungen realistisch ‒, dass »mehr oder weniger Einstimmigkeit hinsichtlich einer Lesart eines Texts bestehen muss bzw. dass die Lesart eines Texts durch andere nachvollzogen werden können muss.« (2015: 55) Im Ergebnis ist schon ein gewisses Maß an Einstimmigkeit hinsichtlich der Intersubjektivität der Deutung, die ein graduelles Phänomen ist, zu begrüßen.

Praxis Forschungspraktisch gewendet ist es offensichtlich, dass nicht alle Daten eines Projekts mit der gleichen intensiven mikrosprachlichen Aufmerksamkeit bearbeitet werden können. Ich habe es so gehandhabt, dass ich die ersten fünf Fälle in der Analysegruppe vollständig fein analysierte. Mit zunehmender Ausarbeitung

4 Methodische Umsetzung

meiner konkreten Forschungsfragen und der entsprechenden Analyseheuristiken konnte ich im weiteren Verlauf der Analysen die Passagen präziser definieren, die für eine mikrosprachliche Analyse und punktuelle Besprechung in der Analysegruppe relevant waren (zu dieser »Abkürzungsstrategie« s. Kruse 2015: Kap. VII.6.8). In jedem Fall stellten aber die Einstiegssequenzen zentrale Passagen dar, da diese »zentrale Positionierungen enthalten: zum einen in Hinblick auf die übergeordneten Forschungsfragestellungen, zum anderen gegenüber den Interviewern und Interviewerinnen im Sinne von Beziehungsdefinitionen, die i.d.R. hoch aufschlussreich sind« (Kruse/Biesel/Schmieder 2011: Fußnote 35). Das in der Einleitung der Arbeit zitierte Beispiel illustriert dies. Um mein analysepraktisches Vorgehen nachvollziehbar zu machen, finden sich insbesondere im nachfolgenden Kapitel ausführliche Hinweise zur Analyse; dieses Kapitel bietet sich nicht nur an, weil es das erste empirische Kapitel ist, sondern auch, weil hier eine Stärke qualitativ-mikrosprachlicher Analyse besonders deutlich wird, nämlich die interaktive Konstitution des Forschungsgegenstandes zu rekonstruieren.

4.4

Bilanz: Methodik im Lichte der Programmatik

Im Lichte der in Kapitel 3 entwickelten Programmatik einer qualitativen Sicherheitsforschung fasse ich nun kurz die Methodik zusammen und diskutiere sie. In Bezug auf die empirische Basis wurde deutlich, dass die insgesamt 405 Interviews aus dem Projekt »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten« strukturierter sind als dies gemessen am Anspruch der Offenheit, wie er im Programmatik-Kapitel formuliert wurde, ideal wäre. Hinzu kam, um vorzugreifen, im Verlauf der Auswertung der Eindruck, dass die Interviews auch in Bezug auf die Themenoffenheit und die Erfragung der Alltagspraxis nicht optimal sind (dazu Kap. 5). Diesen Herausforderungen begegne ich methodisch zum einen durch eine entsprechende Samplingstrategie, mit der ich aus diesem umfangreichen Datenpool solche Interviews ausgewählt habe, die methodisch für mein Vorhaben passend sind (dazu auch Kap. 4.1). Zum anderen begegne ich der für qualitative Verhältnisse starken Strukturiertheit der Daten mit einem umso offeneren Auswertungsverfahren, nämlich dem integrativen Basisverfahren, das mittels verschiedener methodischer Strategien, darunter der mikrosprachlichen Entschleunigung und dem Einbezug einer Analysegruppe, Fremd- wie Selbstverstehen bestmöglich fördern will. Dass das Verfahren neben der Logik des ›fremden Sinns‹ auch das Verstehen des eigenen Verstehens fokussiert, macht es zu einem reflexiven Verfahren. Hierzu analysiert es die Beiträge der Interviewenden mit der gleichen Akribie wie die der Interviewpartner*innen, wodurch es nicht nur die Theorie des Interviews als

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sozialer Praxis methodisch anerkennt, sondern auch der erkenntnistheoretischen Anforderung der Reflexivität der eigenen (Prä-)Konstruktionen Rechnung trägt. Über diese Reflexivität wird auch deutlich, wie unterschiedliche soziale Positionen und damit verbundene Perspektiven in der Forschung aufeinandertreffen können (Kruse 2009). Doch werden solche durchaus irritierenden Begegnungen im integrativen Basisverfahren nicht systematisch in Bezug auf Machtverhältnisse durchleuchtet, was daran liegen kann, dass sich Kruse v.a. auf Mannheim bezieht und nicht auf Bourdieu. Entsprechend gilt es bei der Auswertung, Machtverhältnisse mitzudenken. Die geforderte praxeologische Einstellung, die das implizite Wissen explizit macht und damit Emotionen rekonstruieren kann, wird mit dem integrativen Basisverfahren hingegen problemlos realisierbar.15 Im Anschluss an die Differenzierung der Wissensformen bei Mannheim lässt sich mit dem integrativen Basisverfahren darüber hinaus zwischen einer praxeologischen Perspektive, die auf die Rekonstruktion des konjunktiven Wissens zielt, und einer denksoziologischen Perspektive, die sich für das kommunikative Wissen interessiert, unterscheiden. Für beides eignet es sich gleichermaßen (Kruse 2015: z.B. 291f.). Dies ist umso wichtiger, als trotz meines Hauptinteresses am praktischen, konjunktiven Wissen das lexikalische, kommunikative Wissen nicht vernachlässigt werden darf, da es zumindest in meiner Studie für die Erforschung des ersteren notwendig ist. Das wird im folgenden ersten empirischen Kapitel deutlich.

15 In der konkreten Auswertungspraxis ähnelt das Verfahren dem interpretativen Ansatz von Henwood und Kolleg*innen (Kap. 2.4.1). Für die narrative Analyse von Emotionen hat Jochen Kleres (2011, 2015) ein auf methodischer Ebene ähnliches integratives Verfahren vorgeschlagen. Allerdings ist sein Verfahren auf methodologischer Ebene nicht praxeologisch orientiert.

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten Eine Methodenreflexion

Die Leitfrage dieses Kapitels ist, wie (themen-)offen zu Angst als lebensweltlichem Phänomen geforscht werden kann. Wie vermitteln wir als Forschende den Interviewpartner*innen, dass wir uns gemäß Baumans umfassender Sicherheitskonzeption – Sicherheit im Sinne von Safety, Security und Certainty (Kap. 1.3) – für all die Ängste interessieren, die in ihrem gegenwärtigen Leben relevant sind? Diese grundlagenmethodische Frage ist bisher noch nicht zufriedenstellend beantwortet. Damit in Zusammenhang steht, dass auch andere methodische Fragen bislang noch offen sind, was dazu führt, dass sich kaum verlässliche Aussagen über das Phänomen subjektiver (Un-)Sicherheit bzw. Angst machen lassen, schließlich weichen die Ergebnisse verschiedener Studien erheblich voneinander ab (Kap. 5.1). Vor diesem Hintergrund stellt das Projekt »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten« einen Versuch dar, bisherige methodische Grenzen zu überwinden, und in gewisser Hinsicht auch ein methodisches Experiment, da es zur Zeit der Leitfaden- bzw. Fragebogenerstellung kaum Vorarbeiten bzw. methodische Beiträge gab, auf die man sich bei den eigenen methodischen Überlegungen hätte stützen können. Seitdem ist die Methodendiskussion und -reflexion in der Sociology of Risk and Uncertainty sowie in der Sicherheitsforschung vorangeschritten (z.B. Ekholm/Olofsson 2017, Krasmann et al. 2014, Kreissl 2015b), ohne dass aber grundlegende Fragen wie die Leitfrage dieses Kapitels geklärt wurden. Um diese zu beantworten, unterziehe ich die mir vorliegenden Interviews einer Methodenreflexion. Die Bedeutung einer solchen Methodenreflexion und -diskussion reicht weit über die Aufarbeitung der eigenen Studie hinaus; sie hilft, bisherige Studien zu vergleichen und eine bessere Grundlage für methodische Designs zukünftiger Studien zu schaffen. Für diese Zwecke eignet sich meine Studie aufgrund des spezifischen Interviewdesigns und meiner in diesem Kapitel verfolgten analytischen Einstellung besonders: Ich analysiere das Interview als Interaktion und nutze die Erkenntnismöglichkeiten von »gescheiterten« Interviews (Kap. 5.2), um gelingensförderliche methodische Bedingungen für eine (themen-)offene Studie zu Angst herauszuarbeiten.

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Die Ergebnisse meiner Analysen präsentiere ich in Form zugespitzter Tendenzen und auf kontrastierende Weise. Dabei analysiere ich zwei zentrale Dimensionen in Bezug darauf, wie sie zur Erzählwürdigkeit von Unsicherheits- bzw. Angstthemen beitragen. Zum einen geht es um (Un-)Sicherheitssemantiken, d.h. um die sprachliche, semantische Dimension, zum anderen um den Rapport als soziale, interaktive Dimension. Eng mit dem Rapport ist die Frage verbunden, welche Art von Wissen abgefragt bzw. erfragt wird. Letzteres ist für das Thema Unsicherheit insofern zentral, als sich Unsicherheit grundlegend durch ein Nicht-Wissen über die Zukunft auszeichnet (Kap. 1.3), aber in der einschlägigen Forschung verschiedene Wissensarten (Kap. 3.1.1) nicht unterschieden werden. Während ich in einem ersten Schritt (Kap. 5.3) analysiere, unter welchen Bedingungen die Erzählaufgabe des Interviews nicht in einem offenen, breiten Sinn verstanden wurde, sondern einen spezifischen Unsicherheitsdiskurs rund um Unsafety reproduziert, stelle ich in einem zweiten Schritt (Kap. 5.4) gelingensförderliche Bedingungen eines offenen Verständnisses gemäß Baumans weitem Sicherheitsverständnis dar. Dabei diskutiere ich auch jeweils meine Analysen mit Blick auf andere Studien. Abschließend (Kap. 5.5) interpretiere ich die Ergebnisse und zeige, was diese für zukünftige Forschungen sowie diese Arbeit bedeuten. Thesenhaft zugespitzt lautet meine zentrale Schlussfolgerung, dass wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten ‒ und dass methodische Wahlen politisch sind. Noch zwei Lesehinweise vorweg: Wie die soeben vorgestellte Gliederung des Kapitels verdeutlicht, beinhaltet dieses Kapitel erstens (wie die beiden folgenden empirischen Kapitel) neben der Ergebnisdarstellung den für die Fragestellung einschlägigen Forschungsstand, die methodische Fokussierung sowie Diskussion und Ausblick und stellt entsprechend eine eigenständige Einheit dar, die weitgehend unabhängig vom Rest dieser Arbeit gelesen werden kann (zur Begründung Kap. 1.4). Zweitens verwende ich im Folgenden Begriffe aus der Erzähltheorie, da diese fruchtbare Konzepte bietet, obwohl es sich bei den Interviews nicht um narrative Interviews handelt. In diesem Kapitel steht die methodisch bedingte Erzählwürdigkeit von Angstthemen im Vordergrund.

5.1

Methodendiskussion und -reflexion: Bedarf erkannt

Die Forschungsfrage dieses Kapitels beantworte ich also anhand einer Methodenreflexion aus unserem Projekt. Diese allein stellt gemäß der dieser Arbeit zugrunde liegenden Erkenntnistheorie (Kap. 2.4.1 und v.a. Kap. 3.2) per se ein relevantes Anliegen war: Da es keine neutralen Daten geben kann, gilt es bei allen Daten, die ›Besonderheiten‹ mit Blick auf die damit erzielbaren und erzielten Ergebnisse zu berücksichtigen und zu einem Untersuchungsgegenstand zu machen (vgl. auch Reichertz 2000: §52 und Roulston 2011b). Mit Bourdieu (1991: 280) formuliert: »Man

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

muß sich überhaupt immer die Fragebögen ansehen«. Diese Reflexionspflicht trifft auf einen besonderen Bedarf an methodischer Diskussion in verschiedenen Forschungsfeldern, die für meine Arbeit relevant sind. In der Sicherheitsforschung wird die Methodenfrage bspw. anhand von Studien zum Thema Terrorismusangst diskutiert: »Mit Bevölkerungsbefragungen zur ›Angst vor Terrorismus‹ bewegt man sich auf schwierigem Terrain. Zum einen, weil die Bevölkerungsbefragungen an verschiedenen Dimensionen der (Un)Sicherheitswahrnehmungen ansetzen, zum anderen weil die Studien zu diesem Thema mit methodischen Schwierigkeiten kämpfen« (Fischer 2016: 252). Umfassend haben solche ›methodischen Schwierigkeiten‹ bei der ›Messung‹ von Terrorangst Susanne Krasmann und Kolleg*innen (2014: Kap. 2) herausgearbeitet (vgl. auch Fischer et al. 2014 und Gerhold 2012). Deutlich wird in ihrer Metaanalyse der verschiedenen vorliegenden, überwiegend quantitativen Studien zur Terrorangst, dass sich kein eindeutiges Ergebnis festhalten lässt, wie es nun um diese bestellt sei. Nicht einmal in die gleiche Richtung weisen die Ergebnisse. Als Grund hierfür analysieren und diskutieren Krasmann und Kolleg*innen divergierende methodische Entscheidungen und fragen schlussendlich, wie aussagekräftig die Ergebnisse sind und ob nicht vielmehr »methodische Artefakte geschaffen werden« (2014: 46). Daher stellt sich die Frage: »[I]nwieweit konstituiert Sicherheitsforschung ihren Gegenstand durch ihre eigene Praxis?« (Ebd.) Anhand der bislang vorliegenden Forschungsliteratur lassen sich verschiedene Dimensionen methodischer Entscheidungen herausarbeiten, auf die ich nun genauer eingehe.

Dimensionen der bisherigen Methodendiskussion Wie im Kapitel zur Sociology of Risk and Uncertainty bereits diskutiert wurde, wird dort die Methodendiskussion und -reflexion v.a. unter dem Stichwort des Framings betrieben, wobei der Risikobegriff im Zentrum steht (insbesondere Kap. 2.4). Dabei geht es, um kurz zu rekapitulieren, um die Frage, inwiefern Risiko nicht nur ein analytisches Konzept ist, sondern auch ein lebensweltlich relevantes. Wird nicht methodenreflexiv geforscht, droht die Reifizierung von Risiko als relevantem Konzept. Ähnlich dazu, aber mehr an alltagsweltlichen Bedeutungen von Risiko als an Methodenreflexion interessiert, forschten Deborah Lupton und John Tulloch zu lebensweltlichen »Risiko-Epistemologien«. Deutlich wurde in ihrer Forschung, dass entgegen der allgemeinen Annahme, dass Risiko ein negativ konnotierter Begriff sei, auch positive Konnotationen sichtbar wurden, oder wie eine interviewte Person meinte: »Life would be pretty dull without risk«, das Leben wäre ziemlich langweilig ohne Risiko (Lupton/Tulloch 2002a). Mit ähnlichem Ansinnen plädiert Desmond (2015) aus ethnographischer Sicht dafür, die emischen, d.h. die alltagsweltlichen und alltagssprachlichen Verständnisse von Risiko zu untersuchen

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gegenüber den etischen, d.h. wissenschaftlichen Verständnissen (zu dieser Unterscheidung s. auch Kap. 2.4.1): Welche Begriffe gibt es im Kontext von Risiko und welche Bereiche von Risiko meinen diese? Für die Beantwortung dieser Fragen bieten etymologische Studien lediglich erste Hinweise, während ideengeschichtliche Studien (wie Bonß 1995) besser geeignet wären, würden sie auch die jüngere Vergangenheit einbeziehen (vgl. Zinn 2010b). Zentral sind daher Studien, in denen die Alltagssprache analysiert wird, denn die Bedeutung eines Wortes liegt in seinem aktuellen Gebrauch und weniger in seiner Geschichte. Desmond (2015: 202) hat daher eine qualitative, ethnographische und methoden-, sprach- und kontextsensible Forschung vorgeschlagen, während bspw. Hamilton, Adolphs und Nerlich (2007) sowie Zinn (2010b) eine quantitative, korpuslinguistische Studie natürlicher Daten durchführen. Meines Wissens nach stehen entsprechende aktuelle Studien für den deutschsprachigen Kontext noch aus. In diesem Kontext ist mir ist nur Henning Bergenholtz’ 1980 publizierte soziolinguistische Studie zum »Wortfeld ›Angst‹« bekannt. Ansonsten wird v.a. anhand von eingesetzten Forschungsmethoden über methodenreflexive Fragen nachgedacht, so wie ich dies hier tue. Speziell in der deutschsprachigen Debatte steht auch weniger die Frage des Framings im Raum, d.h. ob Risiko bzw. hierzulande eher (Un-)Sicherheit prinzipiell ein relevanter Deutungsrahmen ist, sondern mehr die Frage des Wordings bzw. verschiedener (Un-)Sicherheitssemantiken, die auch Desmond anspricht. So stellt das Team um Klaus Sessar (Sessar et al. 2004: 8f.) in Bezug auf ein internationales Forschungsprojekt zu städtischen Unsicherheiten fest: »In view of research on what should be understood by security or insecurity, one was continuously coming up against the problem of a clean cut operationalisation of the relevant terms […] (in German referring to: Unsicherheit, Ungewissheit, Schutzlosigkeit, Beunruhigung, Unbehagen, Unwohlsein, Verunsicherung, Irritation, Betroffenheit, Vorsicht, Sorge, Angst, Furcht). […] We entered into a certain risk here, the extent of which we did not know and would not get to know since we lacked the possibility of a pre-test in order to clarify the terms internationally and adapt them to each other. Being very much aware of this, we often took recourse to the more neutral concept of ›social (here urban) problem‹ used in the social sciences.« Anders als Sessar und Kolleg*innen, die sich einer Entscheidung zugunsten einer Unsicherheitssemantik durch die Wahl eines anderen Deutungsrahmens entziehen, gibt es jedoch auch einige Forschungen, die sich für bestimmte Semantiken entscheiden. Im Ergebnis trägt dies zu ‒ aus standardisierter Sicht ‒ unvergleichbaren Forschungsergebnissen bei (vgl. auch Fischer et al. 2014: 26ff.). Für den Bereich der Terrorangst identifizieren Krasmann und Kolleg*innen (2014: 33ff.) in den untersuchten Studien die Semantiken der Angst, der Sorge, des Bedrohungsgefühls, der Beunruhigung und der Verunsicherung. Zur Vervollständigung sei-

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

en noch Studien jenseits der Fokussierung auf Terrorangst erwähnt, die mit dem Sicherheitsbegriff (Blinkert/Eckert/Hoch 2015, Kreissl 2015b bzw. Kohner/Kovanic 2016) und dem Risikobegriff arbeiten (Zwick 2002, 2005, Plapp 2003). Oft werden die jeweiligen semantischen Wahlen jedoch nicht begründet (Ausnahme: Hummelsheim 2015b). Noch seltener werden verschiedene Semantiken in Bezug darauf analysiert, was sie alltagssprachlich bedeuten, inwiefern sie mit anderen Semantiken synonym sind oder sich in ihrer Bedeutung unterscheiden (s. jedoch Hawkes/Rowe 2008 für den Vergleich der englischen Begriffe Risk und Worry). Bergenholtz (1980) hat ferner darauf hingewiesen, dass Substantive nicht gleichbedeutend mit ihren Adjektiven und Verben sein müssen; so bezeichne etwa »fürchterlich« kaum Angstgefühle (ebd.: 248). Mit den gewählten Semantiken verbunden ist auch die Frage, welche Dimensionen von (Un-)Sicherheit fokussiert werden. In der Kriminalitätsfurchtforschung etwa wird zwischen der affektiven (emotionalen), kognitiven (wahrscheinlichkeitsbezogenen) und konativen (handlungsbezogenen) Dimension unterschieden (z.B. Baier et al. 2011, Gerber/Hirtenlehner/Jackson 2010). In der Sociology of Risk and Uncertainty greifen Ekholm und Olofsson (2017) diese Frage in ihrer Studie zur Perspektive von Eltern auf den Klimawandel auf. Sie kommen zum Ergebnis, dass die in der Risikoforschung traditionell kognitiv orientierten Fragen, z.B. nach Wahrscheinlichkeiten, zu anderen Ergebnissen führen als auf Emotionen bezogene Fragen. Ähnlich wie Hummelsheim (2015b) präferieren sie die Ebene der Emotionen. Die v.a. in der Kriminalitätsfurchtforschung geführte Debatte zu diesen drei Dimensionen soll hier jedoch nicht neu aufgerollt werden, zumal die Differenzierung ohnehin nicht unkritisch zu sehen ist. Als Sensibilisierung für die Richtung der gestellten Fragen eignet sie sich hingegen. Gleiches gilt für die jeweiligen Kontexte. So hat sich die Unterscheidung zwischen persönlicher und allgemeiner (Un-)Sicherheit etabliert (z.B. Jackson 2006, Tulloch/Lupton 2003). In einer frühen Studie zur Kriminalitätsfurcht betont Frank F. Furstenberg die Relevanz dieser Unterscheidung: »It seems then that political opinions have little to do with personal fear of crime.« (1971: 607) Dieses Auseinanderfallen von Bewertungen der persönlichen Situation und der allgemeinen Lage, bei dem die persönliche Situation in der Regel als sicherer bewertet wird, hat v.a. in der psychologischen Risikowahrnehmungsforschung entsprechende Erklärungsversuche nach sich gezogen, etwa den »optimistic bias approach« und die »impersonal impact hypothesis« (Wilkinson 2010: 61ff.). Manche Studien differenzieren auch noch einen weiteren Kontext: den Wohnort. So wurde bei den mir vorliegenden Daten zwischen drei Kontexten unterschieden und zwar bereits im Leitfaden, nicht erst in der Auswertung (zur Begründung v.a. Blinkert 2015). Allerdings ist auch fraglich, ob eine solch klare Unterscheidung tatsächlich möglich ist. Stehr (2016) etwa betont in seiner Narrationsanalyse von Kriminalitätsgeschichten den Zusammenhang zwischen persönlichen Unsicherheiten und sozialen Diskur-

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sen (vgl. auch Eckert 2016). In der vorliegenden Studie hat die Differenzierung der drei Kontexte in einigen Fällen funktioniert (zumindest gab es keine offensichtlichen Probleme), während manch andere Interviewpartner*innen die Unterscheidung in ihren Thematisierungen nicht nachvollzogen oder sogar problematisierten. Daher nutze ich die Unterscheidung der drei Sicherheitskontexte lediglich als analytische Heuristik. Neben Framing, Wording, Dimensionen und Kontexten von (Un-)Sicherheit scheint weiterhin ergebnisrelevant, ob mittels geschlossener oder offener Methoden geforscht wird. Einige Studien haben inzwischen demonstriert, dass quantitative Studien mit Themenvorgaben zu höheren Angstwerten führen als qualitative Studien ohne Themenvorgaben, sei es in Bezug auf einzelne Sicherheitsthemen oder themenübergreifend (bereits Blinkert 1978, 2015, Farrall et al. 1997, Gaskell/Hohl/Gerber 2016, Gerhold/Eierdanz 2009, Klimke 2008, Krasmann et al. 2014 und Sessar 2008). Ein möglicher Grund für dieses Phänomen ist der sogenannte FramingEffekt, wobei der Framing-Begriff hier eine etwas andere Bedeutung hat als in der Sociology of Risk and Uncertainty: Auch wenn die Befragten bislang nichts über ein bestimmtes Risiko gehört haben, wird ihnen mit der Auflistung bei den Themenvorgaben dessen Existenz und Relevanz suggeriert, sodass sie annehmen können: »›I may not have come across X, but now you mention it, it is clearly something to worry about.‹« (Gaskell/Hohl/Gerber 2016: 13) Daraus lassen sich unterschiedliche Konsequenzen ziehen: Gaskell, Hohl und Gerber (2016) etwa sehen dies als Aufforderung, die Reliabilität und Validität quantitativer Studien zu verbessern, während Blinkert (1978, 2015) für qualitative Datengenerierungsmethoden plädiert, um die Gefahr methodischer Artefakte zu reduzieren (vgl. auch Zwick 2005). Diese Idee ist in den mir vorliegenden Interviews realisiert. Für die Verwendung qualitativer Studien spricht noch ein weiterer Aspekt, der in der bisherigen Methodendiskussion vermutlich aufgrund der quantitativen, teils positivistisch anmutenden Prägung des Feldes zu kurz kommt: »The very communicative and social character of data generating processes is often ignored or reduced to a model of stimulus and response emulating a presumably objective methodology of the natural sciences.« (Kreissl 2015b: 6) Qualitative Methoden eignen sich daher besonders dafür, die Art und Weise der Datenerzeugung sichtbar und reflektierbar zu machen. Diese Beispiele zeigen: Der Bedarf an methodischer Diskussion und Reflexion ist erkannt, jedoch bisher kaum in die Tat umgesetzt. Entsprechend resümiert das Forschungsteam um Susanne Fischer in einer Metaanalyse in Bezug auf Methodenfragen: »Insgesamt steckt die Forschung zu Sicherheitswahrnehmung […] noch in den Kinderschuhen« (Fischer et al. 2014: 28). Diese fehlende Methodendiskussion und -reflexion hat sicherlich mit der Förderstruktur der Sicherheitsforschung im Speziellen, aber auch der Struktur des wissenschaftlichen Feldes im Allgemeinen zu tun.

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

Hinderungsgründe für Methodendiskussion und -reflexion Ein erster Grund dafür, dass Methodendiskussionen bisher wenig praktiziert wurden, liegt an den Schwierigkeiten des Methodenvergleichs: Nicht immer wird die Methodik in dem Maße offengelegt, wie es aus Gründen der Nachvollziehbarkeit der Forschung wünschenswert wäre (Hawkes/Rowe 2008). Allerdings sind solche »Intransparenzstrategien« (Kruse 2015: 389) in anderer Hinsicht funktional: Sie machen die Forschung weniger angreifbar und lassen sie objektiver erscheinen (Burkart 2003). Zweitens mag die Dominanz quantitativer Ansätze in der Kriminalitätsfurchts- und Sicherheitsforschung ebenso wie in der Sociology of Risk and Uncertainty dazu geführt haben, dass bestimmte methodisch relevante Fragen ‒ wie die der emischen, alltagsweltlichen Verständnisse ‒ wenig Aufmerksamkeit erhalten haben (Henwood et al. 2008: 431). Ein dritter Grund ist in der hohen Drittmittelorientierung der mit (Un-)Sicherheit befassten Forschungsfelder zu vermuten. So benennen Sessar und Kolleg*innen (2004) wie bereits dargestellt explizit das ungeklärte Problem der Semantiken, verweisen jedoch auf einen Ressourcenmangel als Erklärung für dessen pragmatische Handhabung im eigenen Projekt. Dieser Ressourcenmangel für die Bearbeitung grundlegender methodischer Fragen trifft m.E. auch auf die gegenwärtige BMBF-finanzierte Sicherheitsforschung in Deutschland zu. Denn es handelt sich dabei nicht nur um ein Forschungsförderprogramm, sondern ‒ qua Einbettung in die HightechStrategie der Bundesregierung ‒ auch um ein Wirtschaftsförderprogramm mit einer starken Technik- und Ergebnisorientierung. Dieser spezifische Zuschnitt legt methodische und sonstige Reflexionen nicht notwendigerweise nahe (vgl. auch Matzner/Ammicht Quinn 2015, genereller Wendling 2012). Über diesen Forschungsbereich hinaus stellt Reichertz fest, dass es derzeit ungewöhnlich ist, intensive Methoden- und Methodologiedebatten zu führen: Diese haben gerade »keine Konjunktur« (2000: §58), wofür er verschiedene Gründe ausmacht, darunter wiederum die erhöhte Drittmittelabhängigkeit von Forschungen, sodass Methoden nicht entwickelt, sondern angewandt werden sollen, um Planungswissen für die Lösung lebenspraktischer Probleme bereitzustellen (ebd.: §65). Zentrales Gütekriterium von Forschung ist dann die Frage der »praktischen Anwendbarkeit, Nützlichkeit und Verwertbarkeit in technischen, ökonomischen und sozialen Kontexten (›Technologiefähigkeit‹)« (Breuer/Reichertz 2001: §21). Ein solches praxisorientiertes Ziel halte ich nicht für per se falsch; allerdings sollte die Reflexion über die Forschung dabei nicht ins Hintertreffen geraten.1 1 Dass mir dies in dieser Arbeit möglich war, verdanke ich ebenfalls dem BMBF: Dank eines BMBFfinanzierten Promotionsstipendiums der Heinrich-Böll-Stiftung konnte ich über den zeitlichen und finanziellen Rahmen des Projekts, aus dem die Daten stammen, hinaus meinem Forschungsinteresse nachgehen und hoffe damit wiederum etwas Gewinnbringendes zum Forschungsfeld beitragen zu können.

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5.2

Methodische Fokussierung: Material, Analyseheuristiken und Erkenntnismöglichkeiten von »gescheiterten« Interviews

Aufbauend auf dem allgemeinen Methodenteil (Kap. 4) stelle ich nun die methodische Fokussierung vor, d.h. das Material sowie die Analyseheuristiken, die für die Beantwortung der Frage nützlich sind, wie (themen-)offen zu Angst als lebensweltlichem Phänomen geforscht werden kann. Eine besondere Rolle kommt »gescheiterten« Interviews zu, denen ich einen Exkurs widme. Insgesamt liegen den folgenden Auswertungen 34 Interviews zugrunde (s. Anhang B).

Material Hinsichtlich des Materials ist zunächst festzuhalten, dass sich die zugrunde liegenden Daten aufgrund des gewählten Forschungsdesigns mit einem themenoffenen Teil (A-Teil des Interviews) und einem anschließenden Teil mit Themenvorgaben (B-Teil) besonders für mein methodenreflexives Interesse eignen: Während durch den themenoffenen Teil beobachtet werden kann, wie die Interviewpartner*innen die Interviewaufgabe verstehen, d.h. welche Themen sie für erzählwürdig halten, bietet die Themenvorgabe die Möglichkeit, ggf. zusätzliche Themen hinsichtlich ihrer Passung zu besprechen und sie mit den vorigen Themen der Interviewpartner*innen zu vergleichen. Zudem kommt mir zugute, dass durch die qualitative Orientierung der Studie beide Teile des Interviews aufgenommen und wortgetreu (nach-)transkribiert wurden. Daher ist umfassend dokumentiert, wie die Daten erzeugt wurden. Dies betrifft auch den Interaktionsprozess zwischen Interviewer*in und Interviewpartner*in, »in denen sie Bedeutung und Zweck von Fragen und das Spektrum relevanter Antwortaspekte aushandeln.« (Deppermann 2013b: §45) Dies ist insofern wichtig, als hinsichtlich der Erzählwürdigkeit von Geschichten, Ereignissen und Erfahrungen »nicht nur ›Relevanzsetzungen‹ durch den Erzähler eine Rolle [spielen], sondern auch die Bearbeitung und Würdigung des Erzählten durch die Zuhörer.« (Gülich 2008: 408f.) Da es sich bei den vorliegenden Daten nicht um narrative Interviews handelt, sondern der Leitfaden bzw. Fragebogen von Beginn an eine große Rolle spielt, ist auch er daraufhin zu untersuchen, inwiefern er die Interaktionen strukturiert. Relevant ist insbesondere der Intervieweinstieg, weil dort zentrale Positionierungen und Beziehungsklärungen sowie erste dokumentierte Aushandlungen des Themas stattfinden (Helfferich 2011: 69f., Kruse 2015: 271ff., 564f.). Ist in der bisherigen Methodenliteratur die Rede davon, dass Einstiegspassagen bei offenen Interviews eine zentrale Rolle zukommt, so legt meine Arbeit nahe, dass dies auch für stärker strukturierte Interviews gilt. Doch ist dies ist nicht die erste Situation, in der seitens der Forschenden (implizit oder explizit) Erwartungen geäußert und seitens der Interviewpartner*innen Erwartungen bzw. Erwartungserwartun-

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

gen ausgebildet werden. Es geht vielmehr darum, die »ganze Geschichte der Forschungsbegegnung« (Hollway 2005: 312) einbeziehen zu können, soweit sie dokumentiert ist (vgl. auch Deppermann 2013b und Jacobsson/Åkerström 2013). Denn bereits im Vorfeld des Interviews werden die Beziehung in spezifischer Weise angebahnt und das Forschungsanliegen auf eine bestimmte Art präsentiert. Beides enthält wichtige Hinweise für die Erwartungsbildung der Interviewpartner*innen in Bezug auf das Interview und somit ihr »recipient design«, also den »Adressatenzuschnitt von Äußerungen« (Deppermann 2014: 142). Als auswertbares Material liegt mir das Anschreiben vor, das alle potenziellen Interviewpartner*innen erhalten haben. Ergänzende Hinweise geben die Intervieweinschätzungen der Interviewpartner*innen sowie der Interviewenden am Ende des Interviews. Diese wurden jedoch nicht aufgenommen, sondern liegen lediglich als von den Interviewer*innen zusammengefasste Äußerungen vor.2

Analyseheuristiken Die erste zentrale Analyseheuristik, anhand derer ich im Rahmen des integrativen Basisverfahrens die vorliegenden Daten analysiert habe, betrifft die (Un-)Sicherheitssemantiken der Forschenden und der Interviewpartner*innen (Wording): Welche Semantiken verwenden sie? Welche thematischen Ein- und Ausschlüsse werden jeweils hiermit vollzogen, wie sind die Semantiken darüber hinaus konnotiert und wovon grenzen sich die Interviewpartner*innen ab? Hierbei rücken insbesondere diejenigen Interviewpassagen in den Vordergrund, in denen ein Wechsel in der Semantik stattfindet. Ebenso aufschlussreich ist die Analyse epistemischer Modalisierungen, d.h. Markierungen in Bezug auf die Erkenntnis(un-)sicherheit (Kruse 2015: 664). Dies können etwa Selbstverständlichkeitsmarkierungen sein, die eine Gewissheit der Passung von Themen zum Interview ausdrücken, aber auch Vagheits- und Unsicherheitsmarkierungen, die diese infrage stellen. Meine zweite zentrale Heuristik ist der Rapport, den ich hier hinsichtlich seiner beobachtbaren interaktiven, sozialen Ebene analysiere, d.h. nicht in Bezug auf psychologische, ›innere‹ Aspekte, die damit aber sicherlich in Zusammenhang stehen (vgl. Garbarski/Schaeffer/Dykema 2016). Dafür ist die Analyse von impliziten und expliziten Selbst- wie Fremdpositionierungen hilfreich (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a), besonders hinsichtlich sozialer Kategorisierungen (Deppermann 2013a). Konkrete Fragen sind in meinem Projekt: Wie und als welche werden die 2 Zum einen wurde gefragt: »Wurden Sie durch dieses Interview dazu angeregt, das Thema ›Sicherheit‹ vielleicht aus einer anderen Perspektive zu sehen und darüber in einer neuen Art und Weise nachzudenken?«, woran ggf. die Frage anschloss: »Welche neuen Aspekte haben sich für Sie ergeben?«. Zum anderen wurde gefragt: »Wie schätzen Sie das Interview ein? Wurden die wichtigsten Aspekte des Themas ›Sicherheit‹ angesprochen? Gab es Stellen im Interview, die für Sie schwierig waren?«.

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Interviewpartner*innen adressiert?3 Wer wird auf welche Weise ein-, wer wird ausgeschlossen? Und wie werden die Rollen im Interview verteilt?

Exkurs: Erkenntnismöglichkeiten durch »gescheiterte« Interviews Quer zu Semantiken und Rapport und damit aber auch verbunden liegt die Analyseheuristik der »gescheiterten« Interviews bzw. »gescheiterter« Interviewpassagen. Dabei nehme ich besonders Bezug auf die englischsprachige Debatte um »failed interviews« – einem Begriff, der von Karen Nairn, Jenny Munro und Anne B. Smith (2005) in ihrem Aufsatz »A counter-narrative of a ›failed‹ interview« geprägt wurde und inzwischen zu ähnlich argumentierenden Publikationen anderer Forscher*innen geführt hat (v.a. Roulston 2011a, 2011b, 2014, aber auch z.B. Jacobsson/Åkerström 2013 und Prior 2014).4 Gerade »gescheiterte« Interviews haben sich als gutes Mittel erwiesen, um mich empirisch durch irritierte Interviewbeteiligte irritieren zu lassen und gegenüber dem allzu bekannten Material eine Verfremdungshaltung einzunehmen (die auch für die empirische Analyse in Kapitel 6 zentral ist). Daher gehe ich im Rahmen dieses Exkurses genauer auf die Erkenntnismöglichkeiten durch »gescheiterte« Interviews ein. Was sind nun »gescheiterte« Interviews? In der vorliegenden Literatur im Anschluss an den Artikel von Nairn, Munro und Smith wird v.a. ein vermeintliches methodisches Scheitern thematisiert, das dazu führt, dass die Forschungsfrage mit dem vorliegenden Material nicht angemessen beantwortet werden kann. Als gescheitert gelten bspw. solche Interviews bzw. eher Interviewpassagen, die der Idee eines glatten Interviewverlaufs widersprechen, etwa wenn die Interviewpartner*innen die Fragen nicht verstehen oder sich die Relevanzsysteme der Forschenden bzw. Interviewenden und der Interviewpartner*innen unterscheiden, wenn wenig erzählt und stattdessen geschwiegen wird, wenn der Leitfaden als unflexibler Fragebogen verwendet wird und geschlossene Fragen gestellt werden, wenn die Fragen Suggestionen oder Präsuppositionen5 enthalten, wenn die Interviewpartner*innen die Interviewfragen hinterfragen oder hartnäckig eine eigene Agenda verfolgen, die (scheinbar) vom Forschungsthema abweicht. Wie ich bereits angesprochen habe, entsprechen die mir vorliegenden Interviews nicht gänzlich meinen methodischen Vorstellungen: Sie sind viel stärker von den Forschenden strukturiert, als es aus qualitativer Methodensicht angemessen wäre. Doch eine solche 3 Dazu Jacobsson und Åkerström: »Sociologists interview individual people, but they do not interview them as individuals (cf. Kleinman et al., 1994: 43; Rapley, 2004: 29). Rather, the interviewee is chosen because he or she is a member of certain social categories (or a local culture) that are vital for the research project (e.g. ›parents‹, ›deaf people‹, ›business men‹).« (2013: 719) 4 Aktuell arbeite ich mit Diana Cichecki als Koautorin an einer deutschsprachigen Publikation zum Thema, in der wir auch einige der folgenden Überlegungen aufgreifen und weiterentwickeln. 5 Eine Präsupposition meint eine implizite Sinnvoraussetzung, die die interviewende Person als gültig für die interviewte Person annimmt (vgl. z.B. Kruse 2015: 675).

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

forscher*innen- bzw. interpret*innenseitige Sicht auf »Scheitern« und »Gelingen« will ich hier hintenanstellen zugunsten einer akteur*innenzentrierten Definition. Denn in der Debatte um »gescheiterte« Interviews geht es zwar vordergründig um eine Beurteilung der Interviews inklusive der Interviewführung aus einer methodischen Sicht (vgl. auch Hopf 1978). Doch im Kern geht es um die Frage gelingender Interaktion, wie ich argumentieren möchte. So grenzt sich auch Kathryn Roulston in einem neueren Aufsatz davon ab, schwierige Interviewsituationen einseitig entweder als Fehler seitens der Interviewenden (etwa im Sinne mangelnder methodischer Fähigkeiten) oder der Interviewten (etwa im Sinne mangelnder Bereitschaft) zu fassen (Roulston 2014: 278f.). Dem folgend begreife ich ein »gescheitertes«, schwieriges Interview als relationales Phänomen, das nicht vorrangig aus einer methodischen Außenperspektive zu begreifen ist, sondern aus der Perspektive der am Interview unmittelbar beteiligten Akteur*innen (vgl. auch Fiehler 2002). Deren Perspektive auf das Interview kann sich auf unterschiedliche Weise dokumentieren, etwa in entsprechenden Kommentaren im Interview selbst oder in den Bewertungen des Interviews nach dessen Abschluss. In den mir vorliegenden Daten zeigen sich interaktiv schwierige Interviewpassagen u.a. in verschiedenen Formen von Metakommunikation, etwa wenn die Interviewpartner*innen Verständnisprobleme äußern und Rückfragen stellen, etwa wie der Begriff Sicherheit gemeint sei. Ebenso aufschlussreich sind Widerständigkeiten seitens der Interviewpartner*innen, etwa wenn sie einzelne Fragen oder den Leitfaden bewerten, bestimmte Begriffe ablehnen und ggf. eigene Begriffe einbringen. Und schließlich sind auch solche Passagen interessant, in denen (implizit oder explizit) verhandelt wird, was im Kontext dieses Interviews gesagt werden kann oder soll und was nicht und auf welche Weise dies geschehen soll. Gleich, ob »gescheiterte« Interviews als methodisches Defizit oder als interaktive Schwierigkeit gefasst werden, es könnte in beiden Fällen im Sinne einer als geglückt erscheinenden Forschung besser sein, solche Interviews aus dem Sample, der Analyse oder zumindest aus der Darstellung auszuschließen ‒ oder? Die gerade zitierten Autor*innen plädieren im Gegenteil dafür, genau solche Interviews bzw. Interviewpassagen zu analysieren, weil sie besondere Erkenntnismöglichkeiten bieten (vgl. auch Breuer 1996: 19, Breuer 2010: 127, Helfferich 2011: 158f., Kruse 2009: insbesondere §18 sowie bereits Devereux 1973). Denn nimmt man eine konstruktivistische Perspektive ein und betrachtet das Interview als Interaktion, erscheinen die ›Probleme der Interviewführung‹ oder Interaktionskrisen nicht mehr als ärgerliche Störungen im positivistischen Interviewbetrieb, sondern werden zu einem interessanten, erkenntnisbringenden Untersuchungsgegenstand. Entsprechend schreibt Roulston: »Rather than ask what the interviewer did poorly, or why the participant did not cooperate, this article examines the questions: What is it that participants tell researchers about research topics via problematic interactions?« (Roulston 2014: 279).

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Diese Art der Betrachtung findet m.E., von den bereits zitierten Autor*innen leider nicht erwähnt, in Harold Garfinkels Brechungs- bzw. Krisenexperimenten (1963) eine methodologische Begründung. Üblicherweise herrscht im Alltag ‒ und ich übertrage das auf weite Teile des Interviews ‒ »Anspruch auf Unterstellung von Sinnübereinstimmung« (Garfinkel 1975: 205). Damit greift Garfinkel Alfred Schütz’ Gedanken auf, wonach Kommunikation und Verstehen nur möglich sind durch die »›Reziprozität der Perspektiven‹, welche auf zwei idealisierenden ›Unterstellungen‹ beruht: nämlich erstens auf der ›Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte‹ und zweitens auf der ›Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme‹« (Kruse 2015: 66). Die Interagierenden rekurrieren auf ein Alltagswissen, das nicht unbedingt expliziert werden muss. Forschende können dieses selbstverständliche Wissen aber »experimentell«, unter »krisenhaften Bedingungen« (Garfinkel 1975: 193) explizit machen, indem sie diese »Sinnübereinstimmung« konterkarieren. Ähnlich argumentiert auch Michael Burawoy, wenn er darauf hinweist, dass sich soziale Ordnung gerade darin zeige, wie sie auf Druck bzw. Störungen reagiert (1998: 16f.). Da im Alltag also eine hohe Toleranz für Uneindeutigkeit herrscht, haben schwierige Interaktionssituationen ‒ gewissermaßen die Spitze des Eisberges ‒ einen besonderen analytischen Stellenwert. Entsprechend interessiere ich mich in Bezug auf die Erzeugung der Daten gerade für solche Interviews bzw. auch Interviewpassagen, in denen die Interaktion von Irritation und ›Krisen‹ gekennzeichnet ist, d.h. in denen Verunsicherung nicht nur zu besprechender Gegenstand ist, sondern das Sprechen darüber verunsichert. Mein analytisches Interesse gilt dabei v.a. denjenigen Passagen, in denen Begriffsbedeutungen (Semantiken) und Rollenverständnisse (Rapport) zur Disposition stehen und darüber die im Leitfaden bzw. Fragebogen enthaltenen impliziten Annahmen der Forschenden von den Interviewbeteiligten herausgefordert werden. Anders als bei Garfinkel stellen »gescheiterte« Interviews allerdings keine von den Forschenden willentlich initiierten Krisenexperimente dar. Dadurch kommt es für die Interpret*innen durchaus zu einer »uncomfortable reflexivity« (Pillow 2003: 188, vgl. auch Nairn/Munro/Smith 2005), d.h. einer zunächst sehr unangenehmen Art der Selbstreflexion, wenn sie sich mit den vorbewussten Prämissen und den unintendierten Folgen der eigenen Forschung beschäftigen müssen. Doch ist diese Art der Selbstreflexion, die die Erkenntniswerkzeuge unter die Lupe nimmt, nicht nur eine Pflichtübung einer reflexiven Soziologie (Kap. 3.2.2), sondern ein für das eigene Verstehen sowie für den Untersuchungsgegenstand erkenntnisbringendes Unterfangen, wie die folgenden Analysen zeigen (vgl. auch Bourdieu 1991a: 280, Deppermann 2013b: §61).

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

5.3

Sicherheit als enger Begriff in einem unpersönlichen Interview

(Un-)Sicherheit wird in dieser Arbeit analytisch als offener Oberbegriff verstanden (Kap. 1.3). Doch wäre es ein Fehlschluss, von der fachsprachlichen Begriffsverwendung auf die alltagssprachliche zu schließen (Bergenholtz 1980: 163). Daher ist nicht nur zu untersuchen, wie die Interviewpartner*innen die von uns Forschenden gewählten Begriffe im jeweiligen Kontext verstehen, sondern auch, welche eigenen, emischen Begriffe sie einbringen und was diese bedeuten. Aufgrund der Kontextabhängigkeit der Begriffsbedeutung ist es im Grunde unmöglich, Begriff und Rapport zu trennen. Dennoch tue ich dies in der folgenden Ergebnisdarstellung aus analytischen Zwecken. Dabei spitze ich die Tendenzen, die ich im Material gefunden habe, zu. In diesem Unterkapitel zeige ich, wie Sicherheit als enger Begriff in einem unpersönlichen Interview die intendierte Offenheit konterkariert, nur bestimmte Unsicherheitsthemen erzählwürdig erscheinen lässt und damit einen spezifischen Sicherheitsdiskurs reproduziert. Im darauffolgenden Unterkapitel (Kap. 5.4) analysiere ich das Zusammenspiel von Angst als lebensweltlichem Begriff und einem persönlichen Interview als Möglichkeit, das Spektrum der Erzählwürdigkeit zu erweitern und so die intendierte Offenheit besser zu realisieren. Dieses zweite Unterkapitel kann knapper ausfallen: Zum einen arbeiten sich die Interviewpartner*innen intensiv am Sicherheitsbegriff (und nicht am Angstbegriff) ab, sodass primär die damit verbundenen Irritationen aufzuklären sind. Zum anderen baut die Argumentation aufeinander auf, sodass sie im zunehmenden Verlauf prägnanter erfolgen kann. An jedes der beiden Unterkapitel schließt sich eine Zwischendiskussion an, in der ich die Ergebnisse meiner Analysen mit anderen Studien vergleiche. Dabei wird deutlich, dass der Sicherheitsbegriff nicht nur in unserer Studie teils in einer engen Weise verstanden wurde.

5.3.1

Sicherheit als enger Begriff

Bei den folgenden Analysen zu Sicherheit als engem Begriff stelle ich zunächst, der Chronologie der Ereignisse folgend, die Vorgeschichte des Interviews vor, d.h. das Anschreiben als erste Präsentation des Forschungsinteresses gegenüber den Interviewpartner*innen sowie die zentralen Fragen im Leitfaden bzw. Fragebogen, bevor ich die Äußerungen der Interviewpartner*innen, v.a. beim Intervieweinstieg, analysiere. Anschließend analysiere ich in queranalytischer Weise Konnotationen und Kontexte weiterer (Un-)Sicherheitssemantiken, d.h. das semantische Feld, in das der (Un-)Sicherheitsbegriff in unserer Studie eingebettet ist und das ihm seine Bedeutung gibt. Zum Schluss vertiefen zwei Fallanalysen die herausgearbeiteten Muster und machen deutlich, dass das Verständnis von (Un-)Sicherheit ein Prozess ist, der sozial-interaktiv und kulturell geprägt ist und sich durch das ganze Interview ziehen kann.

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Die ersten Eindrücke: Vorgeschichte des Interviews und Intervieweinstieg Die erste Präsentation des Forschungsinteresses: das Anschreiben Bereits mit dem Anschreiben wird den potenziellen Interviewpartner*innen gegenüber das Forschungsinteresse erstmalig formuliert, was zu deren Erwartungsbildung beiträgt. So formuliert die Interviewpartnerin Claudia Biehl im Interview: »Also ich wusste ja anhand des Briefes, es geht um Sicherheit und da hab ich mir schon nen Kopf gemacht«. Wie gestaltet sich dieser »Brief« in Bezug auf die gewählten (Un-)Sicherheitssemantiken und wie kann er verstanden werden? Hierfür ist der erste Absatz des Anschreibens zentral, aber auch die Schlussformulierung relevant: »Sehr geehrte/r Herr/Frau …, wie sicher fühlen sich die Deutschen? Wodurch fühlt sich die Bevölkerung verunsichert, welche Risiken und Gefahren werden als Bedrohung wahrgenommen? Diesen Fragen geht das Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg in einer breit angelegten Studie nach, die durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. […] Mit Ihrer Teilnahme leisten Sie einen Beitrag dazu, dass das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung möglichst repräsentativ erhoben werden kann. Wir würden uns deshalb sehr freuen, wenn Sie an der Befragung teilnehmen. […]« Ohne den Projekttitel »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten« zu erwähnen, werden in dieser Kurzbeschreibung des Forschungsthemas verschiedene Semantiken eingeführt. Großteils entstammen diese dem semantischen Feld »(un-)sicher«, aber auch »Risiken und Gefahren« und »Bedrohungen« werden genannt, sodass sich ein Begriffspool ergibt, der sich nicht auf eine spezifische Semantik bezieht, wie dies die von Krasmann und Kolleg*innen (2014) untersuchten Studien tun. »(Un-)sicher« wird dabei insbesondere auf die Ebene des Fühlens und Empfindens bezogen und damit emotionalisiert. »Risiken und Gefahren« scheinen allerdings extern und objektiv zu existieren als relativ konkrete, fassbare und benennbare Unsicherheiten, die ggf. subjektiv als Bedrohungen wahrgenommen werden, womit eine kognitive Komponente ins Spiel kommt. Zwar tritt letztere gegenüber den emotionalisierenden Wendungen in den Hintergrund; dennoch wird der Blick nicht nur auf das (emotionale) ›Innere‹ der Interviewpartner*innen gerichtet, sondern die Äußerlichkeit und faktische Existenz von Unsicherheiten vorausgesetzt.6 6 Wie einleitend erwähnt stellt die Annahme der ›Innerlichkeit‹ von Emotionen eine historisch relativ junge gesellschaftliche Erfindung dar (Winkel 2006: 287). Eine soziologische Konzeption von Emotionen als ausschließlich inneren Phänomenen ist somit problematisch. Davon unabhängig

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

Die erste Präsentation des Forschungsinteresses im Interview: der Intervieweinstieg (I) Während die Analyse des Anschreibens erste Hinweise liefert, wie das Interview verstanden werden könnte, finden sich im Intervieweinstieg die ersten dokumentierten Hinweise darauf, wie die Interviewaufgabe tatsächlich verstanden bzw. interaktiv ausgehandelt wurde. Auch wenn die Interviewer*innen dazu angehalten wurden, den Leitfaden bzw. Fragebogen flexibel zu handhaben und die Formulierungen anzupassen, hat dieser eine wichtige Bedeutung und steht daher zunächst im Fokus ‒ auch weil sich einige Interviewende eng an die Vorformulierungen hielten und diese wiederum Prämissen bezüglich des interessierenden Phänomens enthalten. Wie im Anschreiben wird in der Einführung ins Interview der Sicherheitsbegriff zentriert und dabei die kognitive Dimension hervorgehoben: »Wir haben Sie bereits in unserem Anschreiben informiert, dass wir eine Untersuchung durchführen, in der es darum geht, welche Vorstellungen es in der Bevölkerung über Sicherheit gibt.« Der thematische Einstieg ins Interview erfolgt dann mittels einer Skalenfrage, die eine Bilanz bezüglich des Ausmaßes persönlichen Sicherheitsempfindens abfragt. Abbildung 3 Skalenfrage zum Intervieweinstieg

In dieser Skalenfrage wird die Frageformulierung stärker als bisher individualisiert und subjektiviert, womit die Interviewpartner*innen als Personen adressiert werden: Sicherheit wird als »persönliche Sicherheit« spezifiziert und die Interviewpartner*innen werden gebeten, für die Bilanzierung ihre »Situation und Erfahrunkann es aber sinnvoll sein, im Interview für forschungspraktische Zwecke auf diese Konzeption zurückzugreifen (vgl. Kap. 5.4).

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gen« einzubeziehen, was eine lebensweltliche und biographische Dimension inkludiert. Ferner wird mittels der Formulierung des »Empfindens« und des »ich fühle mich…« eine emotionale Ebene angesprochen, die jedoch durch kognitivierende Wendungen (»Gedanke«, »daran denken«) in drei der fünf Antwortmöglichkeiten gebrochen wird. Hier wird auch der Bedrohungsbegriff aus dem Anschreiben wieder aufgegriffen, allerdings der Adressierung des (Un-)Sicherheitsgefühls nachgelagert. Damit zielt diese Skalenfrage mehr auf subjektive und emotionale Dimensionen von (Un-)Sicherheit als auf ihre objektiven und äußerlichen Dimensionen. Auf die Skalen- folgt die Themenfrage, d.h. die Frage nach relevanten Unsicherheitsthemen.7 Für diese wurden ähnliche Formulierungen verwendet wie in der Studie »Die Ängste der Deutschen« der R+V-Versicherung, um entlang einer quantitativen Logik eine gewisse Vergleichbarkeit herzustellen und die quantitativen Ergebnisse vergleichen zu können (z.B. Blinkert 2015, Blinkert/Eckert/Hoch 2015).8 Die Themenfrage gestaltet sich folgendermaßen: »Ich möchte nun mit einer allgemeinen Frage anschließen: Es gibt viele Risiken und Gefahren im Leben. Wie ist das denn für Sie persönlich? Gibt es für Sie Gefahren und Risiken, die Ihre persönliche Sicherheit wirklich bedrohen?9 « Die Formulierungsvorschläge für Nachfragen lauteten wie folgt: »Sie können sich ruhig etwas Zeit zum Überlegen lassen: Was beeinträchtigt denn aus Ihrer Sicht Ihr persönliches Sicherheitsempfinden?« »Fällt Ihnen vielleicht noch etwas dazu ein? An was denken Sie noch? Können Sie sich noch andere Risiken und Gefahren vorstellen, die Ihre persönliche Situation bedrohen?« 7 Dabei handelt es sich methodisch betrachtet nicht um eine klassische erzählgenerierende Einstiegsfrage (also einen Erzählstimulus) und streng genommen nicht einmal um eine offene Frage, da sie auch als ja-/nein-Frage sinnvoll beantwortet werden könnte. Da sie allerdings wie intendiert die Nennung bzw. bisweilen die Erzählung über Unsicherheitsthemen anregte, bezeichne ich sie als (themen-)offene Frage. 8 Aus qualitativer Sicht verhält es sich mit der Vergleichbarkeit anders: Dass eine einheitliche Formulierung der Fragen kein einheitliches Verständnis sichert, ist altbekannt und wird auch in den folgenden Analysen deutlich. Vergleichbarkeit wird daher nicht über den Stimulus hergestellt, sondern über die Rekonstruktion der Muster, die den Äußerungen der Interviewpartner*innen zugrunde liegen. 9 Bei der R+V-Studie lautet die Formulierung: »Es gibt viele Risiken und Gefahren im Leben. Einige davon haben wir zusammengestellt. Uns interessiert nun, inwieweit Sie sich davon bedroht fühlen. Bitte geben Sie uns – rein aus dem Gefühl – eine Bewertung, die aussagt, für wie bedrohlich Sie dieses Ereignis halten. Eine ›1‹ drückt aus, dass Sie keine Angst davor haben. Mit einer ›7‹ geben Sie zum Ausdruck, dass Sie sehr große Angst davor haben. Denken Sie aber bitte auch an die Zwischenstufen von ›2‹ bis ›6‹.« (https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/ untersuchungsmethode, zuletzt geprüft am 24.04.2019). Der Angst-Begriff der R+V-Studie wurde von uns jedoch nicht aufgegriffen.

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In der generellen Themenfrage sowie der Frage nach weiteren Themen werden die im Anschreiben verwendeten Semantiken wieder aufgegriffen, sodass hier erneut ein Begriffspool präsentiert wird, der fachsprachliche Ausdrucksweisen enthält (z.B. die Wendung »Risiko und Gefahren«). Deutlicher als zuvor wird hier durch die Formulierung »Es gibt viele Risiken und Gefahren im Leben« eine Objektivierung und Faktifizierung von Unsicherheiten markiert, die zunächst unabhängig vom Subjekt und ihm äußerlich erscheinen. Durch den Quantor »viele« wird die Existenz von Unsicherheiten weiter betont und das Thema Unsicherheit generell in seiner Bedeutsamkeit hochgestuft. Dies kann einerseits als Omnirelevanzannahme von Unsicherheit (im Sinne der Zeitdiagnose Angst) gelesen werden und damit als Erwartung an die Interviewpartner*innen, dass auch für sie Unsicherheit ein relevantes Thema darstellt und sie etwas beizutragen haben. Andererseits kann diese Normalisierung von Unsicherheiten auch als Erzählerleichterung verstanden werden, da diese demnach nichts Pathologisches sind. Daran anschließend wird der Blick zur interviewten Person gerichtet und diese als Individuum angesprochen. Jedoch wird hierfür nicht wie im Anschreiben und v.a. in der Skalenfrage eine emotionalisierende Wendung gebraucht, sondern zum einen die vorige unsicherheitsobjektivistische Formulierung aufgegriffen. Zum anderen werden die interessierenden Themen noch weiter qualifiziert, indem sie die persönliche Sicherheit »wirklich bedrohen« sollen. Letzteres kann unterschiedlich verstanden werden: im Sinne einer hohen Relevanz der Themen, was ›kleine‹ Ängste ausschließt, aber auch im Sinne von realen im Gegensatz zu imaginierten Unsicherheiten.10 Die zweitgenannte Nachfrage »Können Sie sich noch andere Risiken und Gefahren vorstellen, die Ihre persönliche Situation bedrohen?« nimmt diese Formulierungen weithin auf, verzichtet aber auf das »wirklich« und führt eine neue Wendung ein, die das Imaginative (sich vorstellen) und durchaus Hypothetische (können) betont, womit unklar ist, inwiefern die anvisierten Unsicherheiten alltagspraktisch relevant sein sollten. Die erstgenannte Nachfrage hingegen variiert die Frage und knüpft an die subjektive, emotionale Dimension an, die schon in der Skalenfrage vorherrschte. Um zu bilanzieren: Trotz dieser unterschiedlichen Richtungen wird insgesamt eine Vorstellung der interessierenden Unsicherheiten als zahlreich vorhandenen, bedeutsamen, externen, objektiven Bedrohungen deutlich, d.h. ein RisikoObjektivismus, der in der Tendenz rein ›innerliche‹, psychische Phänomene ausschließt (etwa Phobien). Ferner wird in keiner Version der Präsentation des Forschungsinteresses der Kontext der Lebens- bzw. Alltagswelt angesprochen. Die für jedes angesprochene Unsicherheitsthema flexibel zu stellenden Nachfragen, die die Sequenzmatrix verkörpern (dazu Kap. 4.1), verstärken diesen Eindruck 10 Letzteres stellt mit Blick auf ein Verständnis von Unsicherheit als »Nicht-Wissen über zukünftige Ereignisse bei gleichzeitigem Wissen um die Möglichkeit zukünftiger Negativ-Ereignisse« (Bonß 2011: 47) eine große Herausforderung dar, da Unsicherheit per se imaginativ ist.

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(dazu Kap. 5.3.2). Doch gibt es auch andere Anleihen im Leitfaden und in den Interviewformulierungen, die neben dieser objektivierenden, faktifizierenden eine subjektivierende, emotionalisierende oder kognitivierende Konnotation umfassen. Damit werden verschiedene Dimensionen angesprochen. Wie bearbeiten nun die Interviewpartner*innen die Interviewaufgabe und welches Verständnis dokumentiert sich darin? Die ersten Beiträge der Interviewparter*innen: der Intervieweinstieg (II) In den ersten Beiträgen von einigen Interviewpartner*innen zeigt sich, dass die Skalen- und/oder Themenfrage auf Unverständnis und ein vom Verständnis der Forschenden abweichendes Verständnis treffen, obwohl die Fragen aus einer quantitativen Logik heraus so formuliert wurden, dass sie ein einheitliches Verständnis und damit Vergleichbarkeit fördern sollten. Aus einer qualitativen Sicht ist dies nicht verwunderlich. So betont Deppermann, dass die Standardisierung der Fragen »nicht zum beabsichtigten identischen Verständnis« (2013b: §30) führen muss. Ein paradigmatisches Beispiel für das Nicht-Verstehen der Interviewaufgabe findet sich im Interview mit Ahmed Erdem: I: Und ähm (1) es gibt ja allgemein viele Risiken und Gefahren im Leben, wie ist das für Sie persönlich? Gibt es Gefahren und Risiken für Sie, die Ihre persönliche Sicherheit WIRKlich bedrohen; kann ALLes Mögliche sein. AE: Was? I: Alle Gefahren und Sicherheiten, die SIE- äh Gefahren und (1) RIsiken, die’s in der ganzen Welt gibt sozusagen, alles sein, was SIE sich denken. AE: Was was was? Wie sich- was? Ich hab nich verstanden; nochmal. Können Sie’s anderster ausdrücken? Im Prinzip stellt die Interviewerin die Themenfrage, wie sie im Leitfaden bzw. Fragebogen vorgesehen ist, fügt aber alltagssprachliche Ergänzungen hinzu (z.B. »kann ALLes Mögliche sein«, »die’s in der ganzen Welt gibt sozusagen«), die als prophylaktische Verständigungssicherungsmaßnahmen gedeutet werden können, nachdem bereits zuvor Verständigungsschwierigkeiten auftraten. Dennoch trifft die Interviewerin auf Unverständnis bei Ahmed Erdem, das dieser prägnant und alltagssprachlich kommuniziert: »Was?«. Der daran anschließende Reformulierungsversuch der Interviewerin, in der sie einige (Un-)Sicherheitssemantiken aufgreift und den interessierenden Bereich totalisiert (»in der ganzen Welt«, »alles sein…«), führt jedoch nur zu einer Steigerung des Unverständnisses (»Was was was?«), welches Ahmed Erdem mit der Bitte um eine andere Art der Reformulierung verbindet. Nach einigen weiteren Verständigungsschleifen hat sich Ahmed Erdem die Frage offenbar angeeignet, wenn er antwortet: »Ich hab von von nix Angst.« Ähnliche Verständnisprobleme in Bezug auf die Interviewaufgabe treten auch in anderen Interviews auf ‒ unabhängig von einer möglichen Migra-

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tionsgeschichte und dem »Immatrikulationshintergrund« (Sommer 2015: 18) der Interviewpartner*innen.11 Die komplexen Formulierungen, eigentlich als Mittel der Vereindeutigung gedacht, bewirken offenbar das Gegenteil. Zum Unverständnis kommt ein vom Verständnis der Forschenden abweichendes Verständnis des Sicherheitsbegriffs. Manchen Interviewpartner*innen war nicht klar, dass (Un-)Sicherheit seitens der Forschenden in einem weiten, offenen Rahmen verstanden wurde, sondern sie assoziierten damit spezifische Phänomene in einem engen Bereich von (Un-)Sicherheit. Dies dokumentiert sich u.a. in Fragen nach der Passung bestimmter Themen zum Forschungsprojekt. Claudia Biehl bspw. spricht anfangs über Jugendliche in größeren Gruppen, denen sie im öffentlichen Raum begegnen könnte, und fragt: »Ist da sowas gemeint mit?«. In ähnlicher Weise kommentiert Oli Bauer seine Themennennung: »Ich weiß nicht, ob das jetzt ne Rolle spielt in dem Falle hier«. Solche metakommunikativen Einschübe implizieren die Erwartungserwartung, dass es letzten Endes nicht die Interviewpartner*innen selbst sind, die über Erzählrelevantes entscheiden, sondern die Forschenden, und dass es seitens der Forschenden bestimmte Vorstellungen gibt, was passende und unpassende Themen sind. Die anvisierte thematische Offenheit wurde also nicht deutlich, was sich auch in Rückfragen zum Sicherheitsbegriff selbst zeigt, der von vielen als zentraler Begriff gesehen wurde. So verbanden einige Interviewpartner*innen den Sicherheitsbegriff spontan mit der Sicherheit von Leib und Leben, also physischer Sicherheit, und mit innerer Sicherheit. Da ich darauf noch genauer eingehe, führe ich hier nur wenige Beispiele zum Thema physischer Sicherheit an. Irina Tamm etwa fragt: »Ist das jetzt physisch gemeint?«, und Hanno Wegeschieber versichert sich ebenso direkt schon nach der Skalenfrage rück: »Also Sicherheit, geht’s hier um physische Sicherheit, oder was? Also, oder generell«. Neben der Frage, womit Sicherheit in positiver Weise verbunden wird, d.h. was problemlos inkludiert wird, stellt sich auch die Frage, was exkludiert wird. Bei Stephanie Arrenberg etwa wird der Ausschluss bestimmter Themen nicht wie in Oli Bauers oben aufgeführtem Zitat als indirekte Frage formuliert, sondern mit größerer epistemischer Gewissheit betrieben: Zunächst gibt Stephanie Arrenberg an, dass es »keine« Risiken und Gefahren gibt, »die außerhalb meines Einflussbereiches liegen würden«. Auf die Nachfrage der Interviewerin, ob es nicht doch etwas gäbe, nennt sie Risiken, die »meine berufliche Zukunft oder meine Erwartungen betreffen«, aber schließt das Thema biographische Unsicherheit mit Verweis auf ihre eigene Handlungs- und Einflussmöglichkeit aus dem

11 Gleichwohl werden Verständnisschwierigkeiten aufgrund unterschiedlicher Habitus unterschiedlich ausgedrückt bzw. es wird unterschiedlich damit umgegangen. Dazu exemplarisch die Fallanalysen Ahmed Erdem (Kap. 5.3.2) und David Hesse (weiter unten in Kap. 5.3.1).

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Themenfeld des Interviews aus: »Aber das hat ja nix mit meinem Sicherheitsempfinden allgemein zu tun.« Das Forschungsthema scheint hier also so verstanden worden zu sein, dass es, um Luhmanns (1990, 1991) analytische Unterscheidung von Risiko und Gefahr aufzugreifen, lediglich um Gefahren geht, obgleich wir beides einbeziehen wollten. Weiterhin scheint manchen Interviewpartner*innen der Bezugskontext unklar. Deutlich wird dies etwa besonders, wenn Heike Binz in Bezug auf die Skalenfrage fragt: »Für mich persönlich, nicht den Staat?«. Auch Valerie König scheint der lebensweltlich-persönliche Bezug nicht deutlich: Dass sie sich um ihr Kind kümmert, ist für sie mehr eine Frage des Persönlichen als von Sicherheit, wie die Einschränkung »aber« zeigt: »das Allerwichtigste, dass es dem gut geht, dass da nichts passiert. […] Aber das is natürlich jetzt was Persönliches.«

(Un-)Sicherheitssemantiken und ihre Bedeutungen im Überblick: eine Queranalyse Diese Beispiele verdeutlichen, was in manch anderen Interviews implizit bleibt, und werfen die Frage auf, wie es dazu kommt, dass das Forschungsanliegen nicht in der intendierten offenen Weise verstanden wurde. Dieser Frage werde ich nun nachgehen, zunächst in einer queranalytischen Untersuchung verschiedener (Un-)Sicherheitssemantiken des Leitfadens, wie sie von den Interviewpartner*innen verwendet, d.h. auch verstanden wurden. Eine klare Trennung der Begriffe und ihrer Bedeutungen ist dabei nur analytisch möglich, da ein Begriff nur in seinem unmittelbaren (sprachlichen) Kontext seine volle Bedeutung gewinnt. Anschließend stelle ich anhand zweier Fallanalysen dar, wie der zentrale Begriff Sicherheit verstanden wurde. Dabei thematisiere ich den interaktiv-sozialen und kulturellen Kontext von Begriffsbedeutungen. Sicherheit und sicher sein, Schutz und schützen Wie bereits anhand von Beispielen gezeigt wurde, wird Sicherheit als Sustantiv von den Interviewpartner*innen zum einen im Sinne von physischer Sicherheit verstanden, d.h. in Bezug auf die körperliche Unversehrtheit. Dabei geht es bisweilen um zentrale Fragen von Leib und Leben, »direkt ums Menschenleben«, wie Heike Binz zuspitzend meint, und weniger um das »Sozialsystem.« Zum anderen wird Sicherheit als innere Sicherheit verstanden, d.h. in Bezug auf den Staat bzw. polizeiliche Einsatzbereiche. Wilhelm Krause etwa, dessen Zitat in diese Arbeit einleitete, bringt Sicherheit umgehend mit verschiedenen Phänomenen von Devianz in Verbindung (Einbruch, Gewalt, Drogen und »Rowdytum«), für deren effektive Bekämpfung er die Polizei in die Verantwortung nimmt.12 Entsprechend dieses Verständnisses von Sicherheit als Safety gestaltet sich die Bedeutung des 12 Für eine aufschlussreiche gemeinsame Analyse u.a. von Sicherheit als Substantiv danke ich den Teilnehmenden des Workshops »Selbstreflexive Wissenschaft« im Februar 2016 in Tübingen

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Adjektivs »sicher«.13 Mit diesem werden u.a. der objektive Zustand von Objekten (Geräte, AKWs), eines Gemeinwesens (im Sinne von: ›früher war es sicherer …‹) und von Personen beschrieben, die etwa vor Autounfällen, Gewalt und Vergewaltigung sicher sind. Kongruent zu diesem Verständnis finden sich in den Interviews Komposita mit dem Sicherheitsbegriff, die Schutzmaßnahmen verschiedener Art bezeichnen, z.B. Sicherheitsauflagen von chemischen Industrien, den Sicherheitsabstand beim Autofahren sowie Sicherheitsbeamte und -dienste. In diese Richtung weist auch der Schutz-Begriff, den ich eben selbst verwendet habe: Schutz bzw. keinen Schutz sehen die Interviewpartner*innen gegenüber Naturkatastrophen, Blitzeinschlägen oder der Aggressivität anderer Menschen. In Verbkonstruktionen ‒ als »schützen«, »sich schützen«, »geschützt werden« und »geschützt sein« ‒ geht es ebenfalls um physische Sicherheit bzw. körperliche Unversehrtheit. So ist man mehr oder weniger geschützt gegen Anschläge auf dem Weihnachtsmarkt, Überfälle, in Bezug auf Naturkatastrophen etc. Heidi Flieder liefert hierfür ein Beispiel, das die essentielle Dimension von Geschütztwerden betont: »Jeder MENSCH, der in GeFAHR ist, sollte die Möglichkeit haben, in einem Land unterzukommen, wo er geschützt wird. Wo es- wenn er in seinem EIgenen Land praktisch um sein Leben bangen muss.« Sicherheit bzw. sicher sein sowie Schutz und schützen werden also ähnlich verstanden: als Fragen von Safety. Dieses basale Geschütztsein steht zwar im Zentrum des Verständnisses der Interviewpartner*innen, ist aber nicht die einzige Weise, Sicherheit zu verstehen. In manchen Interviews finden sich auch Verständnisse von Sicherheit im Sinne von Security oder Certainty. Nicole Schütze etwa thematisiert schließlich soziale Sicherheit (Security; s. Fallanalyse unten), während Rainer Kretschmann als selbstständiger Landwirt die prinzipielle Ungewissheit anspricht: Unsicherheit bedeutet für ihn, dass etwas »schwer kalkulierbar« ist. Marko Kaiser fokussiert ebenfalls die Offenheit der Zukunft, die er als Kern des Sicherheitsbegriffs ausmacht: »Da wäre einmal so das Arbeitstechnische, also ich sage mal Sicherheit im eigentlichen Sinne, Mensch, was macht die Zukunft?«. Sicherheit bzw. sich sicher sein bedeutet demgemäß Gewissheit zu haben; diese drücken auch Oli Bauer und Claudia Biehl in Bezug auf den Fortbestand ihrer Beziehungen aus. Diese Dimensionen von Security und Certainty sind aber von untergeordneter Bedeutung. Das mag nicht nur am Sicherheitsbegriff selbst liegen, sondern auch am sprachlich-begrifflichen Kontext in den vorliegenden Interviews. Dies illustriert das Interview mit Heidi Flieder, die – und das ist ungewöhnlich – direkt nach der Skalenfrage und ohne Rekurs auf die Antwortmöglichkeiten, in denen die Bedrohungssemantik verwendet wird, zu erzählen beginnt: und insbesondere Christine Resch, die die Diskussion leitete und mir weiterführende Hinweise gab. 13 Zu »(un-)sicher« als Adjektiv im Kontext von »sich (un-)sicher fühlen« s. jedoch unten.

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I: Zum Einstieg ne ganz ALLgemeine Frage. Wenn Sie so an Ihre persönliche Lebenssituation und Ihre Erfahrungen denken; wie würden Sie denn ihr Gefühl hinsichtlich Ihrer persönlichen Sicherheit beschreiben; HF: (3) HM; (1) also ich muss dazu sagen, dass ich jetzt äh seit einem Jahr krankgeschrieben bin, es geht um die Erwerbsunfähigkeitsrente […]. In ihrer darauf folgenden Erzählung bezüglich ihrer aktuellen biographisch ungewissen Situation verwendet Heidi Flieder immer wieder die Unsicherheitssemantik, z.B. indem sie ihre Erfahrungen als »bissel eine Unsicherheit« oder »meine ganz persönliche Unsicherheit« bezeichnet. Der Begriff der (persönlichen) (Un-)Sicherheit scheint hier also unproblematisch jenseits von Safety verstanden worden zu sein. Als die Interviewerin nach Heidi Flieders Erzählung doch noch die Skalenfrage beantwortet haben will und auf die Antwortmöglichkeiten hinweist, sorgt dies allerdings für Irritation ob des von der Interviewerin neu eingeführten Bedrohungsbegriffs, die sich auf der syntaktischen Ebene in zahlreichen Abbrüchen ausdrückt: »ja aber die persönliche Bedrohung bez- kann sich auch bil- äh auf mein äh auf mein Arbeitsleben-«. Bedrohung und bedrohen Dieses Zitat illustriert, dass sich die Analysen nicht auf den Sicherheitsbegriff selbst beschränken können, sondern den semantischen Kontext miteinbeziehen müssen. Die Bedrohungssemantik spielt in der vorliegenden Studie ebenfalls eine große Rolle: in der Formulierung, was die persönliche Sicherheit bedroht, aber auch substantivisch als Bedrohung (der persönlichen Sicherheit).14 Wurde die Semantik von den Interviewpartner*innen aufgegriffen, dann zumeist im Sinne von externen, äußerlichen und objektiven Geschehnissen, denen man ausgesetzt ist. Um einige Beispiele zu nennen: Heidi Flieder assoziiert mit Bedrohung, dass sie persönlich angegriffen wird, ebenso (abstrakter formuliert) Kriminalität, Brutalität und Terrorismus. Tim Baader nennt mögliche Unfälle im Straßenverkehr, die ihn als Radfahrer betreffen könnten, aber auch Polizeigewalt und Umweltgifte. Hanno Wegeschieber spricht Kriminalität, Bomben und Atomkraftwerke an. Michael Sommer und Claudia Biehl bringen den Bedrohungsbegriff mit Terrorismus in Verbindung, Conny Müller ihn mit ›Bedrohungen von innen und außen‹ wie Rechtsextremismus, Terrorismus und Krieg. Auch Naturkatastrophen werden mit der Bedrohungssemantik gefasst, etwa durch Bianca Maier und Erika Steiner. All diesen Unsicherheitsthemen ist gemeinsam, dass sie sich den Akteur*innen im Luhmann’schen Sinne als Gefahr darstellen, von der sie betroffen sind oder sein können und auf die sie wenig Einfluss haben. Dies trifft auch für eine engere 14 Die Bedrohungssemantik im Kontext von (Un-)Sicherheit und Angst zu verwenden ist recht weit verbreitet. Klatetzki etwa definiert in seiner Übersicht über verschiedene Emotionen Angst als »Sich mit einer ungewissen, existenziellen Bedrohung konfrontiert sehen« (2010: 483).

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thematische Verständnisweise von Bedrohung bzw. noch mehr von bedrohen als Verb zu: Manche Interviewpartner*innen bringen diese Semantiken mit willentlichen Angriffen durch andere Menschen in Verbindung, denen sie unmittelbar ausgeliefert sind. Für Rainer Kretschmann etwa bedeutet Bedrohtwerden die physische Präsenz eines Kriminellen; ähnlich thematisiert dies Nadia Wojcik, die auch Schlägereien und anderen weh zu tun darunter fasst. Eine weitere Tendenz der Bedrohungs- bzw. Bedrohenssemantik ist, dass die Interviewpartner*innen damit eine hohe Relevanz in Verbindung bringen, was in der Leitfadenformulierung ›wirklich bedrohen‹ bereits impliziert ist. Für einige geht es in diesem Kontext um die Frage von Leben und Existenz. Gerd Weidner spricht davon, dass eine Atomkatastrophe »nicht nur mein Leben bedroht, sondern eben auch das Leben meiner Familie und meiner Freunde«. Auch ein Überfall würde bedeuten, »dass quasi Leib und Leben bedroht wird«. Daher grenzt er auch im B-Teil des Interviews das Thema Scheitern und Verlust von Beziehungen vom Bedrohungskonzept aus, da dies kein »Weltuntergang« sei. In ähnlicher Weise meint Dirk Koch im B-Teil, dass eine »persönliche wirtschaftliche Krise« »nichts Lebensbedrohliches« sei. Berta Wagner grenzt sich sogar gleich zu Interviewbeginn in allgemeiner Weise von der Bedrohenssemantik ab, die ihr übertrieben erscheint: »Also beDROHen würd ich über- das würd ich NICHT sagen. Das ist mir zu HOCH gegriffen«. In Bezug auf das Thema Krankheiten äußert sie dann: »DAS ist ne Unsicherheit, das ist klar; aber keine BeDROHung oder was; nicht?«. Damit ordnet sie die Semantiken hinsichtlich ihrer Erlebnisqualität an, wobei Bedrohung stärker ist als Unsicherheit.15 Außerdem ist zu beobachten, dass Bedrohung als etwas Objektives im Sinne von Nicht-Subjektivem verstanden wird. Anders ausgedrückt: Die Thematisierung von Bedrohungen geht nicht unbedingt mit Angst einher. Was in der Welt passieren kann und was in der eigenen Alltags- und Gefühlswelt relevant ist, ist also durchaus unterschiedlich. Dies macht bspw. Tim Baader deutlich, wenn er in Bezug auf Reaktorunglücke wie in Fukushima äußert: »Die Bedrohung ist natürlich immer da«, aber zugleich auch eine geringe alltagsweltliche Relevanz ausmacht: »Aber jetzt für mich so in meinem täglichen Bewusstsein spielts nicht so ne Rolle, dass ich jetzt sag wuah ich wach auf und wuah ich hab Angst vor Atomstrahlung.« Insgesamt scheint es also, dass die Bedrohungs- bzw. Bedrohenssemantik das bündelt, was in der englischen Sprache als »threat« (Zuschreibung als menschgemacht) und »hazard« (Zuschreibung als natürlichen Ursprungs) bezeichnet wird (vgl. Giebel 2012). Ersteres fasst das, was ich als intentionale Angriffe anderer Personen bezeichnet habe. Für beides trifft nicht nur zu, dass es ähnliche Themen nahelegt wie die zuvor analysierten Semantiken Sicherheit und Schutz, nämlich Themen im Bereich Safety. Auch wird in beiden Fällen die eigene Handlungsmächtig15 Zum Verständnis des Konzepts der Erlebnisqualität Kap. 6.

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keit als gering eingestuft: Es handelt sich um Gefahren in Luhmanns Sinne (1990, 1991), die zudem von recht hoher, da existenzieller Relevanz sind. Gefahr Diesem Verständnis der Interviewpartner*innen von Bedrohung bzw. bedrohen ähnelt das Verständnis von Gefahr. Allerdings ist der Gefahren-Begriff nur von untergeordneter Bedeutung in den Interviews, in keinem der 34 für dieses Kapitel ausgewählten Interviews wird er als Oberbegriff verwendet. Dennoch soll kurz die Verwendung untersucht werden, da der Gefahren-Begriff im Leitfaden bzw. Fragebogen und somit auch von den Interviewenden verwendet wurde. Heidi Flieder wurde bereits oben zitiert: »Jeder MENSCH, der in GeFAHR ist, sollte die Möglichkeit haben, in einem Land unterzukommen, wo er geschützt wird.« Auch Gefahr wird im Sinne von Unsafety verstanden und als etwas Externes; Beispielthemen sind daher wie gehabt etwa von anderen Menschen ausgehende Gewalt wie Kriminalität und Terrorismus (hier wird in den Interviews auch von Terrorgefahr gesprochen), Krankheit, gesundheitliche Gefahren durch Umweltverschmutzung, Unfälle im Straßenverkehr, Arbeits- und Sportunfälle (Stichwort Unfallgefahr), AKW-Unfälle und Naturkatastrophen (zumal in den einschlägigen Gefahrengebieten). Diese Gefahren werden in der Regel als externe Fakten angesehen, denen man ausgesetzt ist, was Luhmanns Gefahrenverständnis entspricht. In wenigen Fällen wird jedoch auch eine aktivische Wendung deutlich, wenn man sich nämlich einer Gefahr aussetzt oder sich in Gefahr begibt. Solche Gefahren sind also mit Luhmann als Risiken zu fassen, die man eingeht. Wie Bedrohung wird auch Gefahr als etwas Objektives im Sinne von NichtSubjektivem verstanden: »Ich glaube, die Angst ist da größer als die wirkliche Gefahr.« (Valerie König) Dieses Objektive kann einerseits als Schaden gefasst werden, andererseits als Eintrittswahrscheinlichkeit. So werden Gefahren von den Interviewpartner*innen als groß, hoch, klein, gering oder minimal bezeichnet. Gerd Weidner bspw. formuliert: »wobei ich keine Angst hab im Flugzeug. Ja, also ich mein, es stürzen so wenig Flugzeuge ab, im Verhältnis zu- zu Verkehrsunfällen, also da ist die Gefahr minimal eigentlich«. Diese Fassung von Gefahr als Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Bedrohungen findet sich auch im Begriff des Gefahrenpotenzials.16 Risiko Wie Gefahr ist Risiko ein Begriff, der im Leitfaden genutzt wurde, und zwar in Kombination mit dem Gefahrenbegriff (»Risiken und Gefahren«). Die Interviewenden griffen teils beide Begriffe in ihren Fragen auf, teils auch nur einen der beiden. 16 Giebel (2012: 31) unterscheidet Gefahr und Bedrohung insofern, als eine Bedrohung als konkrete Form von Gefahr verstanden wird, die akut und zeitlich nahe ist.

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Wie die Gefahrensemantik ist die Risikosemantik für die Interviewpartner*innen nicht zentral, aber relevanter als diese und tritt in drei Verwendungsweisen auf. Erstens kann Risiko als Oberbegriff verstanden werden. Dies ist bspw. im Interview mit Anne Strauß der Fall: Sie spricht etwa von normalen Lebensrisiken, gesundheitlichen Risiken, dem Arbeitsplatzrisiko und dem technischen Risiko. Dies ist bei ihr mit einer allgemeinen ökonomischen Sprache verbunden, in der risikoaverse Anleger ebenso wie die Risikovorsorge ihren Platz haben. Risiken, die auch hier als etwas Objektives, Externes gefasst werden, lassen sich demnach mehr oder weniger gut einschätzen, womit sie eine kognitive Konnotation erhalten. Risiken kann man zudem (zumindest teilweise) eingehen. Damit ist eine zweite Verwendungsweise der Risikosemantik angesprochen, die ihre Entscheidungs- und Handlungsabhängigkeit betrifft, wie sie Luhmann herausgearbeitet hat. Entsprechend formuliert Stephanie Arrenberg: »Also momentan bin ich nur von persönlichen Risiken geprägt, die ich selbst in der Hand habe und die meine berufliche Zukunft oder meine Erwartungen betreffen. Aber von außen fühle ich mich nicht besonders bedroht.« Themen biographischer (Un-)Sicherheit, nämlich wichtige Prüfungen zu bestehen, im gewünschten Beruf zu arbeiten und am gewünschten Ort zu leben, fallen bei ihr damit unter die Risikosemantik, aber nicht unter die Bedrohungssemantik. Mit einer ähnlichen Unterscheidung arbeitet Tim Baader, indem er Umweltgiften, auf die er keinen Einfluss hat, gesundheitliche Risiken gegenüberstellt: »Gesundheitliche Risiken wäre praktisch ja eigenes Verhalten, was meine Gesundheit beeinflussen kann, sprich Rauchen, Alkoholkonsum, Drogenkonsum, wo ich sage das is- oder oder auch Essverhalten an sich, ja. Klar.« Risiken sind demnach etwas, das man eingeht, in Kauf nimmt und abwägt. Was in diesem Sinne als beeinflussbares Risiko gilt (und was als Gefahr), ist jedoch keine individuelle Angelegenheit, sondern betrifft die kultursoziologische Frage danach, was in einer Gesellschaft typischerweise in die Verantwortung der Akteur*innen gegeben wird und was nicht, oder anders formuliert: inwieweit diese responsibilisiert werden (dazu Kap. 2.2.1). Drittens können auch positive Dimensionen im Vordergrund des Risikoverständnisses stehen, schließlich werden Risiken nicht grundlos eingegangen. Dies illustriert Tim Baader, der zunächst davon spricht, dass er als passionierter Radfahrer im Straßenverkehr in manchen Situationen »ner direkten Bedrohung ausgesetzt« ist. Da er sich als ebenso passionierten Demonstranten präsentiert, spricht er auch von Polizeigewalt, da man »ner Bedrohung gleich ausgesetzt war oder sein kann«. Im weiteren Interviewverlauf wird dann aber deutlich, dass er sich diesen Situationen selbst aussetzt, womit er seine Agency von einer passiven zu einer aktiven macht und dabei zur Risikosemantik wechselt: »Ich denke natürlich, dass dadass ich mich da halt Risiko aussetze, ja also, fahr auch manchmal relativ riskant ((lacht)), mein Fahrrad is son selbstgebautes Fixi ((lacht)) und da fährt man natür-

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lich etwas schneller und ähm denke da kann durchaus was passieren«.17 Dass er dies in Kauf nimmt, begründet er mit dem Motto »no risk no fun«: »Ich mein Risiko is ja nich nur was, was einen bedroht, sondern Risiko kann ja manchmal auchalso no risk no fun, kann praktisch auch Adrenalin bedeuten und Spaß und Aufregung macht munter, wenn man durch die Stadt fährt und sich schnell durch die Stadt bewegt.« Er rückt hier also nicht die möglichen negativen Folgen seines Handelns in den Vordergrund (etwa Unfälle), sondern die Gewinne: Spaß, Aufregung und Lebendigkeit. In ähnlicher Weise begründet er auch seine Demonstrationsteilnahme, in der er Polizeigewalt riskiert: Er hat ein politisches Anliegen; rückblickend meint er auch: »Ich war jung und ich hatte Spaß dran«. Solch positive Bedeutungen von Risiko, die gerade kein Sicherheitsproblem darstellen, sind etymologisch nicht verwunderlich, denn Risiko bedeutet, dass man in der Hoffnung auf Gewinn ein Wagnis eingeht (Bonß 1995, Luhmann 1990, 1991). Lupton und Tulloch (2002a, 2002b), Lyng (Lyng/Matthews 2007) und Zinn (2015a) arbeiten empirisch solche Risikoverständnisse heraus, wie sie paradigmatisch für sogenannte Risikosportarten sind. Allerdings fällt eine solche Verständnisweise weitgehend aus unserer Studie heraus. Denn zum einen fokussierten wir in Bezug auf das Framing auf Unsicherheit als Problem, was die zuvor analysierten Semantiken veranschaulichen. Zum anderen geht hinsichtlich des Wordings die Risikosemantik angesichts der anderen Semantiken unter. Zusammenschau und Geschehnis-Agency Die zuvor analytisch isolierten Begriffe führe ich nun wieder zusammen. Deutlich wurde erstens, dass mit Ausnahme des Risikobegriffs die zentralen (Un-)Sicherheitssemantiken der Studie in eine gemeinsame Richtung weisen: Sicherheit und sicher sein, Schutz und schützen, Bedrohung und bedrohen sowie Gefahr verweisen in der Verwendung der Interviewpartner*innen auf etwas Externes und objektiv Existierendes im Bereich Safety. Dadurch geraten Security und Certainty als weitere Bereiche eines breiten Sicherheitsbegriffs genauso aus dem Blick wie solche Themen, die als subjektiv, persönlich und/oder psychisch verortet gelten. Dies wird dadurch verstärkt, dass manche Interviewpartner*innen davon ausgehen, dass im Interview nur Lebensbedrohliches interessiert. Zweitens werden diese Begriffe (mit Ausnahme des Risikobegriffs) in der Regel als Luhmann’sche Gefahr verstanden, d.h. als etwas, von dem man betroffen ist. Dies dokumentiert 17 Dem Interviewer ist das Wort Fixi offenbar nicht geläufig; Tim Baader gibt ihm daher eine kurze Einführung in Definition und Bedeutung, wovon ich hier den ersten Teil zitiere: »Fixed GearRäder haben einen starren Gang, also praktisch keinen Rücktritt und keinen Freilauf, also man hat ne direkte Übersetzung aufs Hinterrad. Und bremst praktisch so, indem man kontert oder das Hinterrad blockiert.«

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

sich auch in einer weiteren Semantik, die in den einschlägigen Thematisierungen virulent ist, ohne eine (Un-)Sicherheitssemantik darzustellen: die des »Passierens«. So verneint Fanny Apfelbach die Frage nach relevanten Unsicherheitsthemen und kommentiert diese mit »Mir ist auch noch nichts Schlimmes passiert.« Dirk Koch fasst das Interviewthema auf als »unvorhergesehene Dinge, die ins Leben treten.« Agencyanalytisch (Helfferich 2012) betrachtet handelt es sich hierbei um eine Geschehnis-Agency, da die Sprechenden nicht über das Geschehen verfügen. Dies schließt solche Bereiche aus, in denen die Interviewpartner*innen eigene Handlungsmächtigkeit sehen, also mit Luhmann und auch mit manchen Interviewpartner*innen Risiken. Drittens impliziert die Geschehnis-Agency eine Ereignishaftigkeit. Dieses Verständnis der Interviewpartner*innen korrespondiert mit der konzeptuellen Fassung von Unsicherheitsthemen als Ereignissen, wie sie in der Sicherheits- bzw. Risikoforschung gängig scheint (vgl. Bonß 2011: 47). Der Ereignisbegriff liegt auch unserer Studie zugrunde ‒ eigentlich als analytischer Begriff, der auch Situationen und Bedingungen umfasst (Kap. 4.1). Doch wurde er auch von manchen Interviewenden aufgegriffen, um relevante Unsicherheitsthemen zu erfragen. Mit einer Fokussierung auf Ereignisse geraten aber solche Bereiche aus dem Blick, die diffuser bzw. weniger konkret sind, etwa weil es sich um Prozesse handelt (vgl. Kap. 7).

(Un-)Sicherheit im Interviewverlauf: zwei Fallbeispiele Um Prozesse, genauer Verstehensprozesse, geht es auch in den folgenden Fallbeispielen, die zeigen, dass sich das Verstehen des Sicherheitsbegriffs als dem zentralen Begriff der Studie über den Intervieweinstieg hinaus durch das ganze Interview ziehen kann. Die Interviews mit Nicole Schütze und David Hesse habe ich ausgewählt, da beide immer wieder Unsicherheit bezüglich des Sicherheitsverständnisses artikulieren und die Interviews aus ihrer Sicht gescheitert sind. Damit sind sie im Sample einerseits Extremfälle. Andererseits zeigen sich in ihren Schwierigkeiten in anschaulicher Weise typische Muster eines engen Sicherheitsverständnisses, die in anderen Interviews in abgeschwächter Form zu beobachten sind. Dieses enge Verständnis liegt nicht nur am Sicherheitsbegriff selbst bzw. seinem sprachlichen Kontext, der in der vorigen Queranalyse herausgearbeitet wurde, sondern auch am interaktiv-sozialen und kulturellen Kontext, der nun im Vordergrund steht – ersterer v.a. bei Nicole Schütze, zweiterer v.a. bei David Hesse. Fallbeispiel Nicole Schütze: »Shoot! Können wir noch mal anfangen?« Nicole Schütze, Ende 20, klärt im Rahmen vieler metakommunikativer Äußerungen ab, was im Interview von ihr erwartet wird und ob sie mit ihren Antworten diesen Erwartungen genügt. Diese Erwartungserwartung ist bereits beim Intervieweinstieg virulent:

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I: Wie issen des, wenn du an deine Situation, deine Erfahrungen insgesamt denkst, gibt’s momentan Themen, die deine persönliche Sicherheit wirklich bedrohen; Gefahren oder Risiken, an die du denkst; NSch: (2) Es geht jetzt um Sicherheit im=im Rahmen von? Also ich hab jetzt- hab ich- ist die Frage hab ich Angst, dass jemand um die Ecke kommt und mich hier ausraubt? [ja!] so was? I: Ja, solch- solche Themen; ja. Die Frage des Interviewers nach relevanten Unsicherheitsthemen beantwortet Nicole Schütze mit einer Gegenfrage: »Es geht jetzt um« verweist darauf, dass sie in der Interviewsituation (»jetzt«) etwas als gefordert ansieht, das sie aber noch nicht erkennt. Diese Verständnisschwierigkeit setzt am nicht explizierten, da bewusst offen gehaltenen Sicherheitsbegriff der Studie an, den sie einordnen und eingrenzen will: »Sicherheit im=im Rahmen von?«. Zur Klärung dieser Frage gibt sie von sich aus und mit Rekurs auf die Angstsemantik ein Beispiel aus dem Bereich Kriminalität an, dessen Passung zum Erwarteten sie sodann abfragt (»ist die Frage«, »so was?«). Es ist also weniger die Frage, was sie erzählen möchte, sondern mehr, was die Frage des Interviews ist und wie der zentrale Begriff Sicherheit von den Forschenden verstanden wird.18 Der Interviewer gibt ihr positive Rückmeldung auf ihren beispielhaften Beitrag, indem er ihr Beispiel als passend evaluiert und in »solche Themen« verallgemeinert. Im Folgenden spricht Nicole Schütze entsprechend über ähnliche Themen (z.B. Bedrohungen durch Betrunkene und Amokläufer sowie Terrorismus) und holt sich dabei wiederholt Rückmeldung ein, ob sie die Erwartungen trifft. Damit füllt sie das Interviewthema nur vorsichtig mit ihren Ideen auf und versucht sich vielmehr daran zu orientieren, wie das Interviewthema seitens der Forschenden gemeint ist. So fragt sie bspw.: »Naja, KLAR hab ich Angst davor, dass mich jemand ausraubt oder so=so=solche Sachen?«. Auffällig ist an ihrer Versprachlichung außerdem, dass sie die Angst vor Überfällen als ›normale Angst‹ darstellt, wie zahlreiche Selbstverständlichkeitspartikeln (z.B. »KLAR«) zeigen. Somit gibt sie in zweierlei Hinsicht in dieser Situation der Ungewissheit eine Antwort, mit der sie wenig riskiert: Erstens ist sie vom Interviewer als thematisch passend evaluiert, zweitens wird sie von ihr selbst als normale, nicht pathologische und sozial legitime Angst bewertet. Im weiteren Interviewverlauf arbeitet sich Nicole Schütze sukzessive an eine breitere Bedeutung von (Un-)Sicherheit heran: Nach dem persönlichen Kontext wird die Sicherheit der Allgemeinheit besprochen, wo sich nach der Thematisierung von Terrorismus folgende Interaktion ergibt: 18 Entsprechend steht hier die Angstsemantik unter dem Vorzeichen der Sicherheitssemantik. Ist hingegen Angst die zentrale Semantik, liegt ein anderes Verständnis des Interviewthemas nahe, wie ich in Kap. 5.4.1 analysiere.

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I: (2) und neben Terrorismus, siehst du noch weitere Gefahren für Deutschland, oder Risiken? NSch: ((nachdenkend) hm:::) (3) Was is mit den ganzen Naturkatastrophen? Zählt sowas mit rein? Während Terrorismus ein Thema darstellt, das sich für Nicole Schütze problemlos in das bisherige sozial validierte Verständnis von (Un-)Sicherheit einfügt, ist dies in Bezug auf Naturkatastrophen ungewiss, sodass sie sich beim Interviewer rückversichert, was wiederum auf die Annahme eines externen Deutungshorizonts verweist. Der Interviewer bestätigt ihr die Passung. Trotz seines Versuches, im Folgenden die Offenheit des Themas herauszustellen (»halt ganz allgemein«), wird allerdings erst im B-Teil des Interviews bei den Themenvorgaben für Nicole Schütze das breite Verständnis von (Un-)Sicherheit deutlich, das mit dem Interview realisiert werden sollte. Während die ersten vier Themenvorgaben (Naturkatastrophen, Terrorismus, Kriminalität, technische Großunglücke) für Nicole Schütze gemäß dem bisher interaktiv ausgehandelten Sicherheitsverständnis unproblematisch erscheinen, kommt es bei der Themenvorgabe zu wirtschaftlichen Krisen zu einer weiteren metakommunikativen Klärung des Sicherheitsbegriffs: I: Okay. Und ja, genau; wie sehr siehst du dich in deiner persönlichen Sicherheit durch wirtschaftliche Krisen bedroht? NSch: Gut; das ist halt jetzt die Frage, wie definier ich Sicherheit? Is es finanzielle Sicherheit, genauso wie soziale Sicherheit? Natürlich fühl ich mich dadurch stark beDROHT. I: Mhm, (1) also das persönliche Sicherheit würde ja im Prinzip alles [(?mit reingenommen?)] NSch: [ah:; OKEE] OH:: I: Wie du’s halt für dich SIEHST; was ist- was ist persönliche Sicherheit für dich selber? NSch: Shoot! Können wir noch mal anfangen? ((auflachend) Hm.) Der Einbezug von wirtschaftlichen Krisen unter den Sicherheitsbegriff verleitet Nicole Schütze dazu, die Frage nach der Definition des Sicherheitsbegriffs erneut zu stellen. Wieder bringt sie von sich aus Beispiele ein ‒ finanzielle und soziale Sicherheit ‒, die nun aber auch andere Themenbereiche berühren. Diese Erweiterung wird vom Interviewer validiert und darüber hinaus totalisiert (»alles«) und subjektiviert (»wie du’s halt für dich SIEHST«, »für dich selber«). Damit öffnet er nicht nur den Sicherheitsbegriff, sondern erklärt die Definitionsmacht darüber nun explizit zur Sache der Interviewpartnerin, womit er ihre bisherige Erwartungshaltung eines engen und durch die Forschenden bestimmten Sicherheitsbegriffs irritiert. Dies stellt für Nicole Schütze eine neue Erkenntnis dar, wie ihre betonten Interjektionen signalisieren. Mit der Negativwertung »Shoot!«, die vermutlich die

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umgangssprachliche Alternative zu »shit« darstellt (Nicole Schütze hat eine Zeit lang im englischsprachigen Ausland gelebt), wird ein Ärgernis ausgedrückt. Mit der rhetorischen Frage »Können wir noch mal anfangen?« wird vollends deutlich, dass sie mit der Kenntnis des erweiterten Sicherheitsbegriffs das bisherige Interview anders bearbeitet hätte. Das Interview kann damit aus ihrer Perspektive als gescheitert interpretiert werden: Was für sie in Bezug auf Sicherheit – in einem weiten Sinn – relevant ist, kam und kommt großteils nicht mehr zur Sprache, zumal der Interviewer nicht auf ihre Bemerkung eingeht und das Interview gemäß der folgenden Leitfaden- bzw. Fragebogenfragen zu Ende bringt. Um zu resümieren: In diesem Interview geht die Interviewpartnerin zunächst von einem von den Forschenden definierten, engen Sicherheitsverständnis aus, dem sie sich vorsichtig über die Thematisierung von Themen annähert, die sie als Common Sense-Ängste deklariert, und sich dabei immer wieder beim Interviewer bezüglich der Passung rückversichert. Die von ihr als passend befundenen Themen umfassen zunächst intentionale Schädigungen durch andere (Kriminalität, Terrorismus) und werden dann mit der Hinzunahme von Naturkatastrophen sowie der Akzeptanz der Themenvorgabe technischer Großunglücke auf weitere Themen im Feld von Unsafety erweitert. Erst mit der Themenvorgabe der wirtschaftlichen Krisen wird aber offenbar, dass der intendierte Sicherheitsbegriff über das Feld von Unsafety hinausreicht. Damit lässt sich in Fällen wie diesem der themenoffene Teil des Interviews als ›Artefakt-Produktion‹ bezeichnen, da er nur bestimmte (Un-)Sicherheitsthemen nahelegt. Dies mag nicht nur am Sicherheitsbegriff selbst liegen; auch scheint mir hier die Reaktion des Interviewers relevant, der die von Nicole Schütze vorgeschlagenen Themen inklusive des zugrunde liegenden impliziten Sicherheitsverständnisses zwar bestätigt, jedoch erst später so öffnet, dass die Breite des Begriffs für sie verständlich wird (strukturell sehr ähnlicher Fall: Claudia Biehl). Dies ist nicht dem Interviewer anzulasten, umso weniger noch, als es sich bei Interviews um eine komplexe Fremdverstehenssituation handelt: Die Interviewpartner*innen müssen die Fragen fremdverstehen, die Interviewenden deren Äußerungen, um passende Anschlussfragen zu stellen oder Feedback zu geben ‒ und die Forschenden müssen im Nachhinein verstehen, was in der Interviewsituation überhaupt passiert ist und dabei das eigene Vorverständnis verstehen. Fallbeispiel David Hesse: »Ich bräuchte am Anfang ne Definition von Sicherheit« Dass der Sicherheitsbegriff nicht so offen wie intendiert verstanden wurde, zeigt sich auch im Interview mit David Hesse. David Hesse ist um die 30 Jahre alt und hat ein Studium mit sprach-, geistes- und sozialwissenschaftlicher Orientierung abgeschlossen. Das Interview bearbeitet er mit einer ausgeprägten wissenschaftlichen Präzision, die um Differenzierung und Genauigkeit bemüht ist. Entsprechend versucht er dieser Rolle gemäß zum einen, die gestellte Interviewaufgabe

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

analytisch zu durchdringen, um darauf die passende Antwort zu finden, und zum anderen seine Perspektive möglichst verständlich zu machen. Das führt u.a. dazu, dass das Interview durch viele Nachdenkpausen gekennzeichnet ist und David Hesse immer wieder in dialektischer Manier gegenläufige Aspekte benennt. Diese analytische Herangehensweise scheint für den Interviewer am Ende lästig zu werden, wenn er nach einer längeren Denkpause David Hesses formuliert: »Da müssen Sie nicht die=die hundert Millionen Faktoren, die es da vielleicht gibt ((lacht)) (1) evaluieren.« Doch auch für David Hesse gehen mit seiner analytischen Bearbeitung der Interviewaufgabe Herausforderungen einher. Für ihn besteht die Schwierigkeit nämlich darin, dass ihm der für die Studie zentrale Begriff der Sicherheit nicht klar ist. Diese Schwierigkeit wird jedoch nicht wie bei Nicole Schütze gleich zu Beginn des Interviews offenkundig, sondern erst, nachdem David Hesse als nicht besonders relevante persönliche Unsicherheitsthemen »tätliche Gewalt auf der Straße« und »irgendwie terroristische Angriffe« nennt und der Interviewer Nachfragen zu diesen Themen stellt. Damit sind die eingangs gewählten Themen im Prinzip die gleichen wie bei Nicole Schütze: Es geht um intentionale Schädigungen von Leib und Leben durch andere Personen. Und wie Nicole Schütze problematisiert er die Reichweite des Sicherheitsbegriffs in Bezug auf Naturkatastrophen: »Ich weiß jetzt natürlich jetzt auch nicht wie äh in welchem Umfang die Studie jetzt von Sicherheit ausgeht. Ob das jetzt nur Sicherheit vor Angriffen ist, oder ob zur Sicherheit halt auch gehört irgendwie Hochwasser oder=oder irgendwie sowas.« Der Interviewer antwortet darauf mit einer am Leitfaden angelehnten Formulierung: »na die Frage is, vor allen Dingen halt, was zunächst was mal Ihr persönliches Sicherheitsempfinden beeinträchtigt«. Mit dieser subjektivierenden (»Ihr persönliches«) und emotionalisierenden (»Sicherheitsempfinden«) Äußerung spielt er den Ball an David Hesse zurück, der sich sodann als Analytiker selbstreflexiv mit seinem eigenen Verstehen des Sicherheitsbegriffs auseinandersetzt: DH: (5) Ich hab grad en bisschen Schwierigkeiten mit- mich in die versch- verschiedenen Dimensionen REINzudenken; […] weil Sicherheit ist einfach auch dadurch dass Herr Schäuble das immer im Mund hat, ist das IMmer als Erstes natürlich auf Terrorismus, und irgendwie ähm DIE Sicherheit, wo die Polizei Schutz gewähren kann irgendwie geeicht. Und insofern so Sachen wie=wie Sicherheit von äh beruflicher ZUkunft und so das hat man ja meistens erstmal nicht im Blick. In David Hesses Ausführung wird zunächst deutlich, dass ihm in theoretischer Hinsicht die intendierte Breite des Sicherheitsbegriffs deutlich wurde (»verschiedenen Dimensionen«, »Bereiche«), aber auch die praktischen Probleme, die er hat, diesen Anspruch zu realisieren. Für sein eingangs enges Verständnis von Sicherheit entwickelt er zugleich eine Erklärung, die er mithilfe von Selbstverständlichkeitsmarkierungen (»einfach«, »natürlich«), Totalisierungen (»immer« bzw. abgeschwächt: »meistens«), Faktifizierungen (»Sicherheit ist«, »hat man«) und Kollek-

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tivierungen (»man«) über eine Eigentheorie hinaus generalisiert. Mit Verweis auf den sicherheitspolitischen Diskurs des ehemaligen Bundesinnenministers Schäuble macht er deutlich, welche Themen spontan mit dem Sicherheitsbegriff assoziiert werden, nämlich polizeiliche Sicherheit, und welche nicht, nämlich (berufs-)biographische Unsicherheit. Doch mit diesem Verstehen des eigenen kulturgeprägten Verstehens ist für David Hesse die Angelegenheit weiterhin nicht erledigt und er kehrt wieder zur Ausgangsfrage zurück, dem Sicherheitsverständnis der Studie, indem er äußert: »Das Problem ist sozusagen, ich bräuchte am Anfang ne Definition von Sicherheit; also von der auch die STUdie ausgeht«. Der Interviewer spielt wie gehabt den Ball zurück: »Was meinen Sie, was ist für Sie persönliche Sicherheit?«. David Hesse entwickelt darauf hin eine Definition von persönlicher Sicherheit, in der er die subjektive Dimension betont, körperliche Unversehrtheit zentriert und damit ein breiteres Spektrum an Safety-Themen fokussiert als in der vorigen Fassung von Sicherheit. Allerdings stellt auch dies für ihn eine thematische Engführung dar, die für ihn schwierig zu überwinden ist, sodass er in der Folge erneut in selbstreflexiver Weise sein eigenes Verstehen zu verstehen versucht. Hierfür bietet er nun eine sprachwissenschaftliche Erklärung an, nämlich die Prototypentheorie, die prototypische Kernbedeutungen eines Begriffs von peripheren Nebenbedeutungen unterscheidet. Diese Theorie veranschaulicht David Hesse metaphorisch, nämlich »dass praktisch bei Begriffen immer eine Bedeutung im Mittelpunkt steht, und die anderen Bedeutungen sich so in quasi Zwiebelschalen nach außen anordnen«. Körperliche Unversehrtheit steht bei ihm »im Mittelpunkt«, sodass man daran zuerst denkt. Die berufliche Zukunft ist »irgendwie schon mit DRIN, aber es ist viel weiter draußen«, sodass man daran kaum denkt. Nachdem der Interviewer weiterhin nicht offenlegt, von welcher Definition von Sicherheit die Studie ausgeht, hält sich David Hesse im weiteren Interviewverlauf an die Themen, die im ›Zwiebelkern‹ seines Sicherheitsverständnisses stehen, nämlich Safety-Fragen. Am Rande stehen für den Interviewpartner Fragen der beruflichen oder familiären Zukunft, die er aus der weiteren Betrachtung ausklammert. Den Einbezug von Gesundheitsfragen dezentriert er bei den Themenvorgaben im zweiten Teil des Interviews ebenfalls, eventuell weil sie nicht einem »Angriff« bzw. polizeilicher Sicherheit zuzurechnen sind, womit er Sicherheit zuvor zentral konnotierte: »Wenn man jetzt die Definition nimmt, die ich vorhin irgendwie zur Grundlage gesetzt hab, mit persönlicher Unversehrheit, [mhm,] wärs irgendwie schon drin, aber es is jetzt nichts was ich- oder in diesem Schema wärs ganz am RAND.« Bilanzierend lässt sich festhalten: Wie im Interview mit Nicole Schütze zeigen sich im Interview mit David Hesse Schwierigkeiten, die Offenheit des Interviewbegriffs verständlich zu machen. Anders als bei Nicole Schütze öffnet der Interviewer in diesem Fallbeispiel jedoch das Verständnis, indem er die aufgeworfene Defini-

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tionsfrage an die interviewte Person und ihr Verständnis zurückspielt und damit deindexikalisiert. Seinem bildungsbürgerlichen Habitus entsprechend bearbeitet David Hesse diese Aufgabe in wissenschaftlicher Manier und positioniert sich als Analytiker, der nicht nur eine Definition von persönlicher Sicherheit aufstellt und damit sein Verstehen expliziert, sondern auch sein Verstehen verstehen will und hierfür eine Art Kulturtheorie der Begriffsbedeutung entwirft, die eine diskursorientierte (Herr Schäuble) und eine sprachwissenschaftliche Erklärung (Prototypentheorie) umfasst. Wie im Fall Nicole Schütze wird deutlich, dass das Verständnis der Interviewfragen nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, sondern von der Interaktion mit den Interviewenden abhängt. Darüber hinaus wird hier deutlich, dass das Verständnis des Sicherheitsbegriffs im Interview auch von dessen kultureller, diskursiver Verwendung geprägt ist. Dabei macht David Hesse unmissverständlich klar, dass es sich bei dem so erarbeiteten Sicherheitsbegriff um einen relativ engen handelt, da er zentral die Dimension polizeilicher Sicherheit und in einem erweiterten Sinne anderweitige körperliche Unversehrtheit zum Inhalt hat. Trotz dieser Erkenntnis fällt es David Hesse schwer, andere Bereiche anzudenken, die er sodann auch aus der weiteren Betrachtung ausschließt. Als Lösungsvorschlag nennt er eine »Art Übersicht« über die verschiedenen Bereiche, die seitens der Forschenden vorgelegt werden sollte ‒ eine Idee, die der zweite, stärker strukturierte Teil des Interviews mit den Themenvorgaben realisiert. Wie die Beispielanalyse des Interviews mit Nicole Schütze gezeigt hat, kann dieser Interviewteil tatsächlich (wenn auch spät im Interviewverlauf) zur Öffnung des Sicherheitsbegriffs beitragen, weswegen auch dieser Teil für meine Auswertungen in Kapitel 7 relevant ist.

5.3.2

Modi des unpersönlichen Interviews

Zur Erzählwürdigkeit von Unsicherheitsthemen trägt neben den gewählten Semantiken die Beziehungsgestaltung (Rapport) bei. Damit meine ich nicht nur die unmittelbare Interaktion zwischen der interviewenden und der interviewten Person, sondern auch welche Rollen bzw. »Arbeitsbündnisse« (Resch 1998) beiden bereits durch das Forschungsdesign nahegelegt werden. Im Folgenden analysiere ich in einem ersten Schritt, welche Arbeitsbündnisse in der vorliegenden Studie den am Interview Beteiligten durch das Anschreiben und die Einführung ins Interview nahegelegt wurden; das Ergebnis bündle ich mit dem Begriff des unpersönlichen Interviews und meine damit, dass die Interviewpartner*innen nicht auf die eigene Person verpflichtet werden. In einem zweiten Schritt untersuche ich die Interviewinteraktion in Bezug darauf, welche Modi einer unpersönlichen Beziehungsgestaltung sich finden lassen. Diese Modi vertiefe ich in einem dritten Schritt mit einem Fallbeispiel.

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Die ersten Eindrücke: Anschreiben und Intervieweinführung Schon vor dem eigentlichen Interview wird die Beziehung zwischen Interviewenden und Interviewpartner*innen angebahnt: Durch das Anschreiben und die Einführung ins Interview erhalten die Interviewpartner*innen erste Eindrücke davon, welche Rolle sie im Interview einnehmen sollen. Gleichzeitig stellen sich die Forschenden vor und in einer bestimmten Weise dar. Im Folgenden steht v.a. das Anschreiben im Vordergrund, weil sich darin die zentralen Adressierungen an die Interviewpartner*innen finden. Ergänzend rekurriere ich auf den Intervieweinstieg.19 Wie werden hier die möglichen Interviewpartner*innen adressiert, d.h. wie werden sie explizit oder implizit positioniert? Und welcher Rahmen wird darüber hinaus für die Beziehungsgestaltung geschaffen? Drei Aspekte scheinen mir zentral: erstens die Kategorisierung der Person als Mitglied eines ethnischen und/oder nationalen Kollektivs, zweitens die Verpflichtung nicht auf die Person, sondern auf eben dieses wissenschaftlich und politisch interessierende Kollektiv und drittens die methodische Rahmung, die die Strukturierung des Forschungsgesprächs durch die Forschenden betont. Im Detail stellen sich diese drei Aspekte wie folgt dar. Zum ersten Aspekt: Die Ansprache der möglichen Interviewpartner*innen erfolgt auf höfliche, förmliche und vergeschlechtlichende Weise (»Sehr geehrte/r Herr/Frau …«) und wird mit der Einfügung des Namens personalisiert. Diese Personalisierung wird jedoch nicht weiterverfolgt: Direkt im Anschluss wird das interessierende Kollektiv benannt, als dessen Mitglieder die Angeschriebenen implizit kategorisiert werden. Dieses Kollektiv ist als relativ homogenes ethnisches und/oder nationales Kollektiv konzipiert: »die Deutschen« und »die Bevölkerung«. Diese Kategorisierung der Interviewteilnehmenden findet sich auch im Intervieweinstieg wieder, wo als Forschungsinteresse genannt wird herauszufinden, »welche Vorstellungen es in der Bevölkerung über Sicherheit gibt«, und setzt sich im Interviewverlauf fort. So findet sich im Themenblock zur allgemeinen Sicherheit der Rekurs auf ein nationalstaatliches Kollektiv; dort lautet die erste Antwortmöglichkeit auf die Skalenfrage: »Deutschland ist ein sehr sicheres Land ‒ es gibt keine wirkliche Bedrohung unserer Sicherheit.« Interessant ist diese Adressierung, deren Ähnlichkeit zur Studie »Die Ängste der Deutschen« der R+VVersicherung offensichtlich ist, in zweierlei Hinsicht: Zum einen werden andere mögliche soziale Kategorisierungen nicht aufgerufen, wie dies bei einem qualitativen Sampling möglich wäre, das etwa auf Personen mit bestimmten Merkmalen (z.B. Frauen, Erwerbstätige, …) oder Erfahrungen (z.B. berufliche Prekarisierung) zielt. Dieser Verzicht auf spezifische Kategorisierungen ist aus meiner Sicht und im Hinblick auf unser Forschungsinteresse positiv zu werten, da damit nicht nur bestimmte ›Teile‹ der Angeschriebenen adressiert werden, was möglicherweise 19 Da das Anschreiben schon weitgehend zitiert wurde (Kap. 5.3.1), kann ich mich hier auf wenige zusätzliche Zitate beschränken.

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deren Erzählung vorstrukturiert. Auf der anderen Seite lässt sich aber auch fragen, ob sich durch diese soziale Kategorisierung als Deutsche und Teil der Bevölkerung Menschen mit Migrationsgeschichte und/oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft angesprochen fühlen. Hierauf kann keine abschließende Antwort gegeben werden. Hinweise finden sich aber in der Fallanalyse Ahmed Erdem (s.u.). Diese Überlegungen leiten zum zweiten Aspekt über. Der Rekurs auf ein ethnisches bzw. nationalstaatliches Kollektiv erfolgt nicht unkommentiert, sondern wird im Anschreiben implizit auf zweifache Weise legitimiert: Zum einen wird die Studie von einem wissenschaftlichen, genauer: soziologischen Institut durchgeführt, was sich auch im Universitäts-Briefbogen des Anschreibens zeigt. Aus soziologischer Sicht ist ein Interesse an einem Kollektiv anstelle von Individuen selbstverständlich (Jacobsson/Åkerström 2013: 719). Mit diesem wissenschaftlichen Blick wird dann auch die Bedeutung der Interviewteilnahme der Angeschriebenen begründet – die Forschenden wollen »differenzierte und aussagekräftige Ergebnisse« und die Bevölkerung »möglichst repräsentativ« beforschen: »Sie wurden durch ein Zufallsverfahren für diese Befragung ausgewählt. Um differenzierte und aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten ist es sehr wichtig, dass sich möglichst viele der angeschriebenen Interviewpartner an der Erhebung beteiligen.« Zum anderen wird das Interesse an der »Bevölkerung« dadurch einsichtig, dass als Förderinstitution ein Bundesministerium (das BMBF) benannt wird. Somit wird auch ein potenziell politisches Interesse an den Ergebnissen deutlich. Diese Verpflichtung der Interviewpartner*innen auf ein wissenschaftlich und politisch relevantes Kollektiv wird ferner durch das gestärkt, was nicht thematisiert wird: das für qualitative Forschung gängige Konzept der subjektiven, lebensweltlichen Relevanz. Die Angeschriebenen werden nicht als ›eigensinnige‹ Individuen adressiert und damit auf ihre eigene Person und das eigene Empfinden verpflichtet, demzufolge sie das für sie Wichtige in ihren eigenen Worten erzählen sollten. Eher kann der Eindruck entstehen, dass sie nicht für sich, sondern für die deutsche Bevölkerung, d.h. repräsentativ, sprechen sollten. Dies führt zum dritten Aspekt, der methodischen Rahmung, die die Rollen im Interview ebenfalls vorstrukturiert. Im Anschreiben selbst finden sich wenige explizite Hinweise zur Methodik der Untersuchung. Es wird lediglich ein Hinweis zur Dauer der Interviews gegeben (»etwa 60 bis 80 Minuten«), was auf ein ausführliches Interview hinweist. Dass dieses einer Logik der Offenheit folgt, wird allerdings nicht verdeutlicht (wie dies in qualitativen Studien üblich wäre). Vielmehr finden sich auf einer impliziten Ebene Hinweise für eine standardisierte Forschungslogik: Es werden nicht Interviews durchgeführt, in denen etwas erfragt wird, sondern es wird eine »Befragung« durchgeführt; das Sampling erfolgt per »Zufallsauswahl« und wichtiges Gütekriterium ist die ›Repräsentativität‹. Dies

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gibt erste Hinweise darauf, dass die Interviews nicht zentral von den Interviewpartner*innen strukturiert werden, sondern von den Forschenden. Diese Hinweise reichen alleine nicht aus, sodass sich nun die Frage stellt, wie sich die Beziehungsdimension konkret im Interview gestaltet. Die Bedeutung der Interviewführung für das Verständnis des Sicherheitsbegriffs bzw. das breite Forschungsinteresse wurde schon in den Fallanalysen Nicole Schütze und David Hesse sichtbar. Dabei standen bestätigende oder öffnende Kommentare der Interviewenden im Fokus. Im Folgenden soll der Rapport zwischen interviewter und interviewender Person als Ganzes untersucht werden. Dabei werden zwei Modi des Unpersönlichen zunächst queranalytisch, dann fallanalytisch anhand des Interviews mit Ahmed Erdem untersucht: der Fokus auf das abstrakt-theoretische Wissen und ein leitfadenbürokratisches Arbeitsbündnis.

Modi des Unpersönlichen: eine Queranalyse Abfrage von abstrakt-theoretischem Wissen als Tendenz der Interviews In meiner Programmatik habe ich mit Bourdieu und Mannheim zwischen dem expliziten, theoretischen und dem oft impliziten, praktischen Wissen unterschieden (Kap. 3.1.1). Im Leitfaden bzw. Fragebogen wird tendenziell abstrakt-theoretisches Wissen in den Vordergrund gerückt, was im bereits analysierten Unsicherheitsobjektivismus angelegt ist, wenn auch nicht konsequent (Kap. 5.3.1). Diese Tendenz wird durch die Nachfragen zu den Unsicherheitsthemen, die sich an der Sequenzmatrix ausrichten (Kap. 4.1), verstärkt: »Wie sehr sind Sie denn davon betroffen? Ist es eher unwahrscheinlich oder eher wahrscheinlich, dass Sie davon betroffen sein könnten? Wie kommt es denn dazu, dass es dieses Risiko gibt? Wer oder was ist dafür verantwortlich, dass so etwas passiert? Was kann man tun, um sich davor zu schützen? Ist das dann evtl. auch mit unangenehmen Folgen für Sie verbunden? Können Sie sich denn selber schützen oder wer ist dafür verantwortlich?« Hier werden weniger lebensweltliche, alltagspraktische Dimensionen exploriert, sondern kognitiv verankertes theoretisches Wissen erfragt: Es geht um subjektive Theorien zu objektiven Sachverhalten. So wird nach Wahrscheinlichkeiten und Verantwortlichen gefragt ‒ eine klassische Frage moderner, probabilistischer Risikobzw. Unsicherheitskonzeptionen (Jackson/Allum/Gaskell 2006). Zudem wird nicht gefragt, wie konkret mit der genannten Unsicherheit umgegangen wird, sondern wie mögliche (d.h. nicht unbedingt praktisch umgesetzte) Sicherheitsmanagements aussehen können. Das Vorhandensein von Unsicherheiten wird weiterhin nicht subjektiviert, sondern objektiviert, wenn gefragt wird, wie es dazu kommt, dass es dieses Risiko gibt ‒ und nicht, wie es lebensweltlich relevant wurde. Der Unsicher-

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heitsobjektivismus wird weiter gefördert durch die Betroffenheits- und Schützenssemantiken, die Unsicherheit als etwas Externes, Äußerliches konzipieren (s. Kap. 5.3.1). Dies entspricht der klassischen Perspektive der Risiko- und Sicherheitsforschung, die subjektive (Miss-)Perzeptionen objektiver bzw. objektivierter Risiken analysiert. Damit werden die Interviewpartner*innen also gerade nicht auf ihre Person und ihre lebensweltlichen, praktischen Erfahrungen als relevantem Kontext verpflichtet, sondern auf die Wiedergabe von abstrakt-theoretischem Wissen. Diese bereits im Leitfaden bzw. Fragebogen angelegte Tendenz dokumentiert sich auch in den Interviewinteraktionen. So wird von manchen Interviewpartner*innen das Interview zumindest stellenweise offenbar als politisches Gespräch aufgefasst. Ein Beispiel hierfür ist Hanno Wegeschieber, der über Auslandserfahrung in Südamerika verfügt und die Sicherheitslage in Deutschland nicht nur als vergleichsweise sehr positiv darstellt, als »ein Paradies«, sondern auch die Interviewfragen nutzt, um seine Sicht auf problematische globale Zusammenhänge zu äußern. Auch Anne Strauß kann die Rolle als wissende Welterklärerin gut ausfüllen und die Interviewerin mit Spezialwissen über lokale Entwicklungen zum Staunen bringen. Doch für andere Interviewpartner*innen gestaltet sich das Interview eher als kniffliges Quiz und Wissensabfrage (dazu auch Resch 1998), wovor sie zumindest teilweise kapitulieren. Valerie König äußert bspw. bei den Nachfragen zu den von ihr genannten Unsicherheitsthemen: »Oje, jetzt testen Sie grade, ob ich am Wochenende Zeitung gelesen habe«, was sie im Laufe des Interviews zu der Äußerung steigert: »Also, irgendwie gehen Sie grade in Richtung Abhören und sowas«. Ähnlich begründet auch Irina Tamm ihre Nichtbeantwortung der Frage, wie sehr Deutschland von terroristischen Anschlägen bedroht ist: »Ich hab jetzt sehr sehr lange nicht Nachrichten gucken können, weil ich Sechstagewoche gearbeitet habe.« Zudem verweisen manche Interviewpartner*innen darauf, dass sie als ›Alltagsmenschen‹ gar nicht die Zuständigkeit oder Kompetenz haben, derlei Fragen sinnvoll zu beantworten, sondern dies Aufgabe von Expert*innen wie Politiker*innen oder Wissenschaftler*innen sei. Dies illustriert folgender Auszug aus dem Interview mit Tim Baader: I: Und wie sieht das für Deutschland aus, für die Allgemeinheit, in welchem Ausmaß werden wir in Deutschland äh Ihrer Ansicht nach von schweren Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit bedroht? TB: Boah, frag dochn Epidemiologen, Mensch ((lacht auf)). Wie dieses Zitat außerdem demonstriert, verstärkt sich die Herausforderung, theoretisches Wissen zu äußern, bei den Fragen zur Sicherheit der Allgemeinheit. In anderen Interviews wird in Bezug auf die Sicherheit der Allgemeinheit ähnlich wie in Bezug auf die theoretisierenden Nachfragen zur persönlichen Sicherheit ein Desinteresse an diesen Fragen deutlich. Conny Müller etwa reagiert auf die Nachfragen zum von ihr genannten Thema im Bereich Kriminalität wie folgt:

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»Das interessiert mich eigentlich auch nicht so, muss ich ehrlich sagen, das ist so weit weg, das ist so weit weg von meinem Eigenen«. Dirk Koch bringt sein Desinteresse zum Ausdruck, wenn er sagt: »Ehrlich gesagt die Sicherheit Deutschlands, darüber mach ich mir keine Gedanken. Das- damit beschäftig ich mich nicht.« Zu dieser theoretisch-abstrakten Ausrichtung der Nachfragen kommt im zweiten Teil des Interviews hinzu, dass manche Themenvorgaben so abstrakt formuliert waren, dass sie nicht als potenziell alltagsrelevant erkannt wurden. Dies betrifft u.a. das Thema wirtschaftliche Krisen, das mehr auf Makro- denn auf Mikroebene verstanden wurde. So zeigt sich Claudia Biehl überrascht, dass ihre finanziellen Engpässe zur Zeit ihres Studentinnenlebens dazuzählen: I: Waren Sie selber schon einmal von einer wirtschaftlichen Krise betroffen? CB: Nö. Ne eigene private- nee, nichts von, nee, nee, nee, ich als Bafög-Empfänger, war zu wenig Bafög undI: Ja, das ist ja auch eine wirtschaftliche Krise. CB: Ehrlich? Kurzum: Die Beantwortung von Fragen, die auf unpersönliches, abstrakt-theoretisches Wissen zielen, gestaltete sich für manche Interviewpartner*innen als schwierig oder gar unmöglich. Insbesondere für Interviewpartner*innen, die nicht über einen bildungsbürgerlichen Habitus, entsprechendes Interesse am Weltgeschehen und die habituellen und praktischen Möglichkeiten verfügen, diesem Interesse nachzugehen, ergibt sich eine Nicht-Passung zu den theoretischen Fragen des Interviews (dazu eindrücklich die Fallanalyse Ahmed Erdem unten). Ein weiteres wichtiges Argument gegen den Einsatz solcher Fragen ist, dass sich die lebensweltliche Relevanz von (Un-)Sicherheit besser über das implizite, praktische, d.h. persönlich-erfahrungsgebundene Wissen herausarbeiten lässt (dazu Kap. 5.4.1 und 6.3). Leitfadenbürokratisches Arbeitsbündnis Diese eher unpersönliche Ausrichtung des Forschungsdesigns mit seinen abstrakttheoretischen Fragen kann durch bestimmte Praktiken der unpersönlichen Interviewführung gesteigert werden. Ein Beispiel hierfür ist, wenn auch diejenigen Teile des Interviews, die als qualitativer Leitfaden konzipiert waren, als quantitativer Fragebogen mit Freitextantworten gehandhabt wurden, wodurch das Interview zum Survey wurde. In diesen Fällen folgt das Interview einer Struktur, die nicht den Interviewpartner*innen bzw. ihrem jeweiligen versprachlichten Relevanzsystem folgt, sondern dem Relevanzsystem der Forschenden, das sich im ›Erhebungsinstrument‹ dokumentiert. So werden gelegentlich Fragen schlicht abgelesen und nicht angepasst oder wenig Raum zum Antworten bzw. Erzählen gegeben. An anderen Stellen wird konsequent im Anschluss an eine Antwort direkt die nächste Frage angeschlossen, ohne das Erzählte zu würdigen (etwa durch kurze Rezepti-

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onssignale) oder immanente Nachfragen zu stellen, um etwa von den Interviewpartner*innen Angerissenes zu vertiefen. Eine solche Handhabung des Interviews wurde bereits 1978 von Christel Hopf mit dem Schlagwort der »Leitfadenbürokratie« prägnant bezeichnet und mit Interviewmaterial belegt. Daher kann ich mich auf ein eindrückliches Beispiel in den mir vorliegenden Daten beschränken, nämlich das Interview mit Cemal Demir. Dieser ist Mitte 30 und ernährt als Alleinselbstständiger mit seinem Geschäft seine Familie. Bereits in einem kurzen Ausschnitt zu Interviewbeginn zeigen sich verschiedene Ausprägungen einer unpersönlichen Interviewführung: I: Mhm, (1) UND woran DENken Sie denn da; durch was könnte denn Ihre persönliche Sicherheit bedroht sein. CD: Familie Job (1) Krankheit I: (6, währenddessen Notizen) Fällt Ihnen noch etwas ein? CD: (3) Ohne Geld DA zu stehen. I: (1) Also Geldnot, mhm, (4) SO wenn Sie jetzt die Familie betrachten und des als mögliche Gefahr oder Risiko für Ihre persönliche Sicherheit sehen; wie sehr sind Sie denn davon betroffen; CD: (2) Ja, wenn die Familie auseinandergehen sollte. (2) I: Und ist es eher unwahrscheinlich oder eher wahrscheinlich, dass=se- Sie davon betroffen sein könnten; CD: Wahrscheinlich. Von zwei fragend intonierten »mhms« abgesehen, die als Interesse am Interviewpartner gedeutet werden können, beschränkt sich die Interviewerin auch im weiteren Interviewverlauf darauf, die Fragen wie im Leitfaden bzw. Fragebogen vorformuliert zu stellen. Dabei würdigt sie weder das vom Interviewpartner Thematisierte – etwa durch Rezeptions- und Affirmationssignale – noch passt sie die Fragen daran an. Letzteres führt nicht nur dazu, dass die Fragen durch Vermeiden von persönlichen Bezügen (etwa: »Ihre Familie« statt »die Familie«) recht anonymen Charakter haben; auch resultieren daraus durchaus überraschende Wendungen wie die Darstellung der Familie als Sicherheitsbedrohung. Die Interviewerin fragt darüber hinaus nicht nach, was Cemal Demir damit genau meint. Jenseits der Leitfadenfragen verzichtet sie auch im weiteren Interviewverlauf auf deindexikalisierende bzw. immanente Nachfragen, die den Interviewpartner einladen würden, die von ihm vorgebrachten Stichworte zu vertiefen. Damit wird eine klare Rollenverteilung deutlich: Die Interviewerin stellt die Fragen und strukturiert damit das Interview, Cemal Demir reagiert auf diese Fragen lediglich und zwar in sehr prägnanter Weise; ferner muss er die Aufgabe bewältigen, die allgemein und abstrakt formulierten Fragen auf seine Äußerungen zu beziehen und sie als sinnhaft zu verstehen. Insgesamt also strukturieren nicht seine persönlichen Erfahrungen und Relevanzen das

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Interview, sondern der Leitfaden. Dazu passend gibt es kaum selbstläufige Passagen, in denen er eigenstrukturiert erzählen könnte. Eine solche Interviewführung ist jedoch nicht ausschließlich den Interviewenden als Fehler anzulasten; sie lässt sich angesichts der Rahmenbedingungen als sinnhaft interpretieren. Erstens legt der umfangreiche Leitfaden bzw. Fragebogen eine leitfadenbürokratische Abarbeitung nahe, wollen die Interviewenden die eigenen zeitlichen Ressourcen sowie die der Interviewpartner*innen nicht über die angekündigte Interviewdauer hinaus strapazieren (Hopf 1978). Zweitens sind starke quantitative Vorprägungen mancher Interviewender zu berücksichtigen, sodass es für diese schwieriger ist, eine offene, flexible Interviewführung zu realisieren. Drittens ist auch die Rolle der Interviewenden als »hired hands« im Forschungsprozess zu reflektieren (zugespitzt dazu Roth 1978). Zwar erhielten alle Interviewenden eine Schulung und ein Manual zum Nachlesen, doch können sie mit den Forschungsfragen und damit der Bedeutung einzelner Leitfadenfragen nicht in dem Maße vertraut sein wie die Forschenden. Sich eng an die vorgegebenen Formulierungen zu halten kann daher eine sichere Strategie darstellen, die Interviewaufgabe angemessen zu erfüllen. Im Ergebnis kann dies dann ein Arbeitsbündnis zwischen interviewender und interviewter Person nahelegen, in dem es beiden mehr um die zügige, unpersönliche Abarbeitung der Fragen geht als darum, das Relevanzsystem der interviewten Person zur Sprache zu bringen (vgl. auch Resch 1998). Denn den Interviewpartner*innen wird signalisiert, dass ihre persönlichen Erfahrungen nur in einem gewissen Rahmen interessieren; entsprechend bringen sie sich auch wenig persönlich ein und nutzen bspw. offene Abschlussfragen nur in geringem Maße.

Fallbeispiel Ahmed Erdem: Wenn der Leitfaden zum Leidfaden wird Nachdem ich verschiedene Modi des Unpersönlichen queranalytisch dargestellt habe, richte ich nun mit dem Fallbeispiel Ahmed Erdem den Blick darauf, wie sich ein unpersönliches Interview im Fallverlauf gestaltet und welche Konsequenzen es im Extremfall hat: Der Leitfaden wird zum Leidfaden für beide Beteiligte. Hierin zeigt sich in paradigmatischer Weise, was auch in anderen Interviews problematisch ist, nämlich der Fokus auf abstraktes, theoretisches Wissen in Kombination mit einer weithin unpersönlichen Interviewführung. Hinzu kommt hier eine problematische Adressierung als Teil der deutschen Bevölkerung. Ahmed Erdem, Mitte 20, habe ich bereits mit seinem Unverständnis angesichts der ersten Interviewfragen zitiert (Kap. 5.3.1). Dieses Nicht-Verstehen der Fragen bzw. Antwortmöglichkeiten und das Nicht-Wissen der ›richtigen‹ Antworten zieht sich als roter Faden durch das Interview und manifestiert sich z.B. bei der Skalenfrage zur Sicherheit der Allgemeinheit:

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I: Äh SIE meinen es is- äh also würden Sie sagen es ist ein SEHR sicheres Land, [naTÜRlich] im wesentlichen ein sicheres [naTÜRlich] Land, [naTÜRlich] ein sicheres Land, AE: Hm: ja; hmI: Und was für eins [(wer?)] von den dreien? SEHR sicher, im wesentlichen sicher, oder einfach nur ein sicheres Land, eher unsicheres Land oder [VÖLlig unsicheres Land?] AE: [((ausatmend) pf::)] ((klatscht)) Ich würd da- ich würd nur halt mal jetzt sagen, ich fühl mich halt hier gut aufgehoben. (1) Ich hab hier Arbeit, Festarbeit, Wohnung; meine Freunde sind hier, die- wir verstehen uns gut, wir halten zusammen, ((ausatmend) pf::) (1) ja; ist sauberer Land, hier gibt’s REgeln; was nicht in Türkei is. Die Interviewerin versucht gewissenhaft, eine eindeutig zurechenbare Antwort auf die Skalenfrage zu erhalten, während für den Interviewpartner die ersten beiden Antwortvorgaben auf der Fünferskala keine unterschiedliche Bedeutung haben: Allen beiden stimmt er mit »naTÜRlich« zu, weist Deutschland als Land eine gute Position in Sachen Sicherheit zu und begründet dies auf Basis seiner Erfahrungen. In dieser Passage dokumentiert sich entsprechend eine Nicht-Passung zwischen ›Erhebungsinstrument‹ und dem Interviewpartner: Zwar nimmt er das Interview wie die Interviewerin ernst und gibt auf die Fragen thematisch passende Antworten, doch passen der Stil seiner Ausführungen und der vom Leitfaden präferierte Antwortstil nicht zusammen. Dies ist nicht nur eine Frage des Nicht-Verstehens der Antwortmöglichkeiten oder einer mangelnden Flexibilität der Interviewerin hinsichtlich der Re-Formulierung der Fragen, die an die von Christel Hopf (1978) beschriebene »Leitfadenbürokratie« erinnert, sondern auch eine Frage der präferierten Thematisierungsweise: Verlangt das Interview abstrahiertes, theoretisches Wissen, so zeigt sich bei Ahmed Erdem eine konkretisierende, erfahrungsgebundene Thematisierungsweise. Seine Erfahrungen »hier« stehen im Vordergrund seiner Äußerungen. Mit diesem indexikalen »Hier« meint er im Interviewverlauf meist sein unmittelbares sozialräumliches Umfeld ‒ seinen »Block« bzw. sein »Ghetto«, wie er sagt. Mit diesem sozialräumlichen Kontext untrennbar verbunden ist sein soziales Netzwerk: seine Freunde, die er auch als »Gang« bezeichnet, und seine Familie. Seine Thematisierungsweise ist dann auch genau in diesem sozialen und räumlichen Kontext angesiedelt, unmittelbar an seine Erfahrungen gebunden und gestaltet sich, wenn möglich, szenisch-episodisch. So beantwortet Ahmed Erdem die Skalenfrage nach der allgemeinen Sicherheit mit seinen Erfahrungen als Kurde in Deutschland und generalisiert nicht auf alle Deutschen, wie von der Interviewerin gefragt; Ähnliches gilt für die Beantwortung der Themenfrage bei der allgemeinen Sicherheit, auf die er antwortet: »Ich hab Angst, wenn ich Abschiebung krieg.«

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Fraglich ist hier nicht nur, ob dem Interviewpartner die von den Forschenden getroffene Unterscheidung zwischen persönlicher und allgemeiner Sicherheit klar ist; er greift sie hier jedenfalls nicht auf. Anzuzweifeln ist ferner, dass für ihn Abstraktes, lebensweltlich Enthobenes wie die Einschätzung der Sicherheit der in Deutschland lebenden Menschen überhaupt eine relevante Betrachtungsebene darstellt (was an sich unproblematisch ist, ihm im Interview aber zum Problem gemacht wird): I: An was denken Sie dabei, wenns um Finanzkrisen oder wirtschaftliche Krisen geht; AE: Pff: wie; Politik und so; oder diese Sachen I: Ja halt die- diese Finanzkrisen. AE: Pff: des juckt mich gar nicht. Oder betrifft mich des was? Nein. Im Interview treffen also zwei Relevanzsysteme und Thematisierungsweisen aufeinander: Das Interview kennzeichnet sich durch eine Tendenz, bildungsbürgerliche Informiertheit vorauszusetzen, die v.a. in den Fragen zur Sequenzmatrix und zur allgemeinen Sicherheit theoretisches Wissen einfordert, also explizierbares Wissen über die Welt und eine Meinung dazu. Dieses sollte zudem in die durch das Interview vorgegebene Struktur (z.B. die der Skalenfragen) gebracht werden. So betont die Interviewerin mehrfach, dass es »nur« bzw. »einfach« darum geht, welche Meinung der Interviewte zu verschiedenen Themen hat, etwa der Sicherheitslage in Deutschland, und dass es dabei kein richtig oder falsch gebe. Für Ahmed Erdem hingegen scheint das relevant und thematisierbar, was in seiner Alltagswelt geschieht. Die damit einhergehende konkrete, erfahrungsgebundene Thematisierungsweise, die in bisherigen Studien als typisch für die Arbeiterklasse (Schatzman/Strauss 1955) und das traditionale Milieu (Eckert/Bub/Koppetsch 2019) beschrieben wurde, steht der abstrakten, theoretischen Sprache des Interviews diametral gegenüber. Als Folge daraus stellt sich für Ahmed Erdem wiederholt die Frage, ob er ›richtige‹ Antworten gegeben hat, so fragt er z.B. »Ja ist des richtig, was ich gesagt hab?«. Es ist daher ein für beide Seiten anstrengendes, schwieriges Interview und eine Geduldsprobe, die den Interviewten trotz seiner allgemeinen Compliance an einer Stelle veranlasst, die gerade gestellten Fragen als »komische Fragen« zu beurteilen, und die Interviewerin an einer Stelle die Façon verlieren lässt, wenn sie sagt: »Vielleicht wüssten Sie da mal was.« Der Interviewpartner erkennt dabei selbst die Nicht-Passung der Relevanzsysteme und Thematisierungsweisen. Um das Interview dennoch bestreiten zu können, will er Personen involvieren, die über das gefragte Bildungskapital, d.h. theoretisches Wissen, verfügen und somit stilistisch adäquate und inhaltlich ›richtige‹ Antworten geben können ‒ die Interviewerin selbst als Vertreterin einer Universität oder (s)eine Freundin, die studiert:

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I: Also hier gibt’s- geht’s eigentlich nur drum, dass Sie sagen, es- für Sie ist Deutschland ein sehr oder für [Deutschland-] AE: [Was finden SIE-] was- was würden Sie jetzt sagen; I: Das darf ich ja nicht sagen. AE: Warum? I: Weil- weil Sie die Antwort geben müssen. Weil ich binAE: Ja mir fällt des ehrlich nicht ein. I: Ähm ja, d- dann gehen Sie einfach mal von=von Ihrer Sichtweise aus, ob’s in Deutschland [SEHR sicher ist-] AE: [Wart, ich frag meine Freundin] meine Freundin I: !NEIN!; SIE müssen antworten. [meine Freundin-] SIE müssen antworten; [meine Freundin-] das geht wirklich nicht. AE: Meine Freundin stuDIERT.20 Im weiteren Interviewverlauf entwickelt sich die Frage des Interviewpartners, ob er (s)eine Freundin anrufen darf, zu einem Running Gag. Auch versucht er wiederholt, die Interviewerin einzubeziehen, z.B. dass sie die richtige Antwort mit dem Finger auf den vorgelegten Antwortvorgaben zeigen soll, wenn sie sie schon nicht zu sagen bereit ist. Dem kommt sie nicht nach und hält generell am Leitfaden bzw. Fragebogen fest ‒ die für sie naheliegende Art dessen Bearbeitung. Hierdurch werden allerdings Antworten bzw. Meinungen überhaupt erst produziert (vgl. Brüchert/Sälzer 1998, Resch 1998), wie die Skalenfragen zeigen. Bei der Skalenfrage zur Sicherheit am Wohnort kommt es wie bei der zuvor zitierten Skalenfrage zur Sicherheit der Allgemeinheit zu interaktiven Schleifen, bis Ahmed Erdem in vager Weise (genuschelt) eine der Antwortvorgaben aufgreift. Erst dann gibt sich die Interviewerin zufrieden: Sie bekommt, was sie in Bezug auf den Leitfaden als relevant erachtet. Auch auf einer zweiten Ebene wird Ahmed Erdem mit Voraus-Setzungen konfrontiert, die nicht zu ihm passen. Denn wie bereits herausgearbeitet werden die Interviewpartner*innen als Teil eines ethnisch-nationalen Kollektivs der Deutschen adressiert. Dieses Kollektiv ist auch Referenzpunkt der Fragen zur allgemeinen Sicherheit, wenn die Sicherheit in Deutschland mit der Sicherheit der Deutschen eins zu eins gesetzt wird. Dies ist auf Basis des Interviews mit 20 Dieses Motiv der (intendierten) Problemlösung durch soziale Unterstützung zeigt sich nicht nur in der Bearbeitung des Interviews, sondern auch in Ahmed Erdems alltagsbezogenen Erzählungen. Dank seines freundschaftlichen Netzwerks kennt er für die Lösung verschiedener Probleme hilfreiche Leute, die er nur anrufen muss, wie er zu verstehen gibt. Dieser kollektiven Alltagslogik widersetzt sich das Einzelinterview mit seiner individualisierenden Logik, die dem Interviewpartner als nicht so selbstverständlich erscheint wie den Forschenden. Zur »Interviewgesellschaft« und dem Interview als individualistischer und individualisierender Kulturtechnik und Subjektivierungsweise vgl. Atkinson/Silverman 1997 und Gubrium/Holstein 2004.

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Ahmed Erdem jedoch kritisch zu sehen. Zwar positioniert er sich als in Deutschland geboren sowie als ›Passdeutscher‹ und betont, inwiefern sein Leben als Kurde in Deutschland besser ist als in der Türkei als seinem »Heimatland«. Doch zum einen scheint er dem sicheren nationalstaatlichen Rahmen nicht vollständig zu trauen, wenn er als Unsicherheitsthema eine mögliche Abschiebung angibt, v.a. seiner Freunde (der »Gang«). Zum anderen gliedert er sich trotz nationalstaatlicher Eingebundenheit in seiner Darstellung nicht umfänglich in ein deutsches Kollektiv ein: Nicht nur macht er selbst ein Differenzmotiv auf und betreibt damit eine Selbstethnisierung bzw. -kulturalisierung, sondern er erfährt auch durch »Deutsche« eine ethnisierende und kulturalisierende Zuschreibung als fremd und nicht zugehörig. So schildert er, wie er als »Kanake« beschimpft und tätlich angegangen und damit aus einem als homogen imaginierten deutschen Kollektiv gewaltvoll ausgeschlossen wurde. Auch die Interviewerin adressiert ihn in seiner Thematisierung der befürchteten Abschiebung als »Ausländer«, wovon er sich sodann vehement abgrenzt: »((klopft auf den Tisch)) Ich hab- nein, ich bin hier geboren; ich krieg keine Abschiebung. Ich krieg keine; ich bin hier geboren, in Deutschland, ich hab hier Pass.« Es gestaltet sich daher problematisch, Ahmed Erdem über ein Kollektiv sprechen zu lassen, dem er sich nicht ganz zugehörig fühlt und von dem er ausgeschlossen wird. Entsprechend geht die Interviewerin dazu über, die Fragen zur allgemeinen Sicherheit zu reformulieren und ihn einzubeziehen, bspw. auf folgende Weise: »Was müsste getan werden, um un- um die DEUTschen oder uns in Deutschland, die wir alle hier leben, vor terroristischen Anschlägen zu schützen oder die zu verhindern?«. Insgesamt zeigt sich im Interview mit Ahmed Erdem eine zweifache Schwierigkeit des Forschungsdesigns. Erstens ist der seitens des Interviews implizierte methodologische Nationalismus fragwürdig, der ein generelles Problem der deutschsprachigen Soziologie darstellt (Beck/Poferl 2010: 13ff.). Zweitens hat der Leitfaden bzw. Fragebogen die Tendenz, abstraktes, theoretisches Wissen und Meinungen zu bestimmten Aspekten zu fokussieren, die ein Interesse an und die Ressourcen zu einer Beschäftigung mit Außeralltäglichem voraussetzen. Entsprechend wird eine bildungsbürgerliche Informiertheit die Voraussetzung für eine erfolgreiche Interviewteilnahme. Ahmed Erdem bringt diese (anders als etwa David Hesse) jedoch nicht mit, was er im Interview verdeutlicht, indem er nicht nur sein entsprechendes Nicht-Wissen thematisiert, sondern auch Personen zur Unterstützung involvieren will, die die geforderte Bildungsbürgerlichkeit aufweisen. Das an sich als offen intendierte Interview gestaltet sich daher nur in einem technischen, beschränkten Sinne offen, da es sich nur begrenzt auf andere, fremde Relevanzsysteme einlassen kann ‒ und nur begrenzten Raum für konkrete, erfahrungsgebundene Thematisierungen bietet. Das Interview stellt sich somit als unpersönliches Gespräch dar, das die Lebenswelten der Interviewpartner*innen nur ansatzweise zu erkunden vermag. Für Ahmed Erdem wird der Leitfaden darüber hinaus zu

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einem Leidfaden. Sein Wissen erscheint ihm nicht relevant oder richtig genug – was ihm wie erwähnt von der Interviewerin auch entsprechend rückgemeldet wird –, sodass man von symbolischer bzw. epistemischer Gewalt ihm gegenüber sprechen kann. In deren ›Natur‹ liegt es, dass sie auch ohne entsprechende Intention der Beteiligten wirksam wird (Bourdieu 1990, 1997b, Hark 2015, Krog 2011). Ebenso wird der Leitfaden für die Interviewerin zu einem Leidfaden: Trotz intensiver leitfadenbürokratischer Bemühungen ihrerseits (vgl. Hopf 1987) hat sie Schwierigkeiten, ›relevante‹ Antworten zu erhalten. Dass dies nur eine Tendenz ist, zeigt sich im fortschreitenden Interviewverlauf, in dem Ahmed Erdem zunehmend seine Thematisierungsweise, nämlich szenischepisodisch Erzählungen, umsetzt, was von der Interviewerin geduldet bzw. teilweise mit Interesse an einer ihr fremden Lebenswelt verfolgt wird. Diese Öffnung hinsichtlich der Alltagswelt und Alltagssprache des Interviewpartners geschieht paradoxerweise im zweiten, stärker strukturierten Teil des Interviews.

5.3.3

Zwischendiskussion

In den bisherigen Analysen wurde als eine Tendenz der vorliegenden Studie deutlich, dass die intendierte thematische Offenheit nicht immer erreicht wurde. Sicherheit als zentraler und analytisch breiter Begriff wurde im Kontext eines unpersönlichen Interviews als enger Begriff verstanden.21 Diese Tendenz schlägt sich auch in der standardisierten Auswertung aller 405 Interviews der zugrunde liegenden Studie nieder (Blinkert/Eckert/Hoch 2015): Im Kontext persönliche Sicherheit finden sich bei 36 % aller Interviewpartner*innen Themen, die wir der Kategorie Kriminalität zugeordnet haben, 27 % sprechen gesundheitliche Probleme an, 24 % Unfälle – um nur die drei wichtigsten Themen zu nennen. Insgesamt betrachtet wurde das »risk perception ›universe‹« (Hawkes/Rowe 2008) thematisch also nicht in dem Maße ausgeleuchtet, wie es im Vergleich mit anderen Studien zu erwarten gewesen wäre (vgl. Krasmann et al. 2014 und Kap. 7.7). Insbesonders die zentrale Bedeutung der Kategorie Kriminalität überrascht, da qualitative Erhebungen in der Regel geringere Kriminalitätsfurchtwerte als quantitative hervorbringen (Sessar 2008: 25, vgl. auch Gray/Jackson/Farrall 2008; dazu Kap. 8.2). Diesen Tendenzen ist in weiteren Forschungen weiter nachzugehen. Mit Blick auf andere empirische Studien lassen sich diese Ergebnisse für den Moment 21 Ausnahmen bestätigen die Regel: Cemal Demir etwa lässt sich weder vom Sicherheitsbegriff noch von der unpersönlichen Beziehungsgestaltung im Interview davon abhalten, über alltagsweltlich relevante Ängste verschiedenster Art zu sprechen (die er allerdings unter dem Label »Stress« verhandelt). Bei Rainer Kretschmann wird der unpersönliche Sicherheitsbegriff durch eine umso persönlichere Art der Interviewführung aufgefangen, sodass er das Interviewthema dennoch auf seine Lebenswelt bezieht. Trotz gleicher Rahmenbedingungen gelingt dies bei Sven Schmidt allerdings nicht direkt, sondern erst im fortschreitenden Interviewverlauf.

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zumindest diskutieren und weiterführend interpretieren. Zwar gibt es erhebliche Einschränkungen bei der Vergleichbarkeit von Studien. Die Gründe dafür liegen erstens darin, dass Forschungsergebnisse zu Unsicherheit von einer Vielzahl an methodischen Entscheidungen abhängen (Krasmann et al. 2014) und sich kaum einzelne Dimensionen im Hinblick auf ihre Wirkung herausarbeiten lassen, auch da Bedeutungen grundlegend kontextgebunden sind. Zweitens erschwert die Vergleichbarkeit, dass nicht immer alle methodischen Entscheidungen offengelegt oder mitgedacht werden (s. Kap. 5.1). Drittens wird die methodisch bedingte Beziehungsgestaltung im Interview, der in meiner Studie neben den (Un-)Sicherheitssemantiken eine zentrale Bedeutung zukommt, anderweitig nicht thematisiert. Dennoch wage ich im Folgenden in tentativer Absicht einen Vergleich mit anderen Studien, zumal themenoffenen Studien, und fokussiere dabei auf die gewählten (Un-)Sicherheitssemantiken. Parallelen zu meinen Analysen zeigen sich im qualitativ-rekonstruktiven und themenoffenen Teil der SOURCE-Studie, die in sechs europäischen Ländern, darunter Österreich und Deutschland, durchgeführt wurde (Kohner/Kovanic 2016, Kreissl 2015a und 2015b).22 Auch hier wurde der lebensweltliche Kontext mittels des Sicherheitsbegriffs untersucht. Dafür wurde zunächst nach Assoziationen zum Thema Sicherheit gefragt, was Äußerungen zu Bedrohungen meist physischer Art hervorbrachte: »One of the most common lines of answering the question was in accord with the threat based approach towards security.« (Kohner/Kovanic 2016: 6) Diese Bedrohungen wurden von den Interviewpartner*innen meist in ihrer Außenwelt angesiedelt oder als von anderen Menschen ausgehende. Damit ist die Sicherheitsdimension der körperlichen Unversehrheit angesprochen. Entsprechend wurden Themen genannt, die sich als Kriminalität kategorisieren lassen. Auch die Beobachtung hinsichtlich des weiteren Interviewverlaufs, nämlich dass der Sicherheitsbegriff zunehmend weiter gefasst wurde (ebd.: 7), deckt sich mit den Beobachtungen in meiner Studie. Dies wird von den Forschenden auch mit dem Wording der folgenden Fragen erklärt, die u.a. die Kontextualisierung im Alltagsleben, die persönliche Zukunft und die Semantik des Sich-sicher-Fühlens umfasst (ebd.: 16, s. auch Kreissl 2015a: 47). Die sodann angesprochenen Themen betreffen etwa soziale Beziehungen und die finanzielle, berufliche sowie gesundheitliche Situation (vgl. auch Kreissl 2015b). Insgesamt wird also auch in dieser Studie trotz teils anderen Kontextes der Sicherheitsbegriff als Substantiv zunächst wie in unserer Studie in einem engen Sinn verstanden.23 22 Ein Ziel von SOURCE (das englische Akronym für »Virtuelles Kompetenzzentrum für Forschung und Koordination gesellschaftlicher Sicherheit«) ist es, die empirische Forschung zu gesellschaftlicher Unsicherheit voranzutreiben. URL: www.societalsecurity.net (zuletzt geprüft am 05.05.2019). 23 Ähnliches zeigt sich meiner Interpretation nach auch in der britischen Studie von Stevens und Vaughan-Williams (2016), die sich u.a. für lebensweltliche Bedeutungen von Sicherheit sowie

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Zu auf den ersten Blick etwas anderen Ergebnissen kommen Gerhold (2009) und Gerhold und Eierdanz (2009) in ihrer Methodenmixstudie, in der sie u.a. qualitative, themenoffene Interviews, eine themenoffene Fragebogenstudie mit Freitextantworten und eine Fragebogenstudie mit Themenvorgaben kombinierten. In den zwei ersten dieser drei Erhebungen, die hier von besonderem Interesse sind, wurde auf den (Un-)Sicherheitsbegriff rekurriert. Allerdings geschah dies zum einen nicht mit Sicherheit als Substantiv und zum anderen von Anfang an mit einer stark lebensweltlichen Einbettung; so lautete die erste Frage, was die Interviewpartner*innen derzeit in ihrem Leben beschäftigt, ob sie einen dieser Bereiche als unsicher beschreiben würden bzw. in welchem Ausmaß sie der Gedanke an dieses Thema verunsichert (Gerhold 2009: 86, 89). Diese spezifische Verwendung und Kontextualisierung von Begriffen aus dem Wortfeld (Un-)Sicherheit macht, so meine These, einen Unterschied: Eine zentrale Rolle spielen den Ergebnissen der Studie zufolge Unsicherheit in Bezug auf Arbeit, aber auch in Bezug auf Familie und Gesundheit. Unfälle, Themen der inneren Sicherheit und makrosoziale Themen generell sind hingegen von untergeordneter Bedeutung. Im Vergleich zu Kreissls Studie ergeben sich Ähnlichkeiten bezüglich der Unsicherheitsthemen, wobei bei Gerhold keine anfangs starke Assoziation zu Safety-Themen vorzuliegen scheint. Dazu trägt sicherlich der stärker lebensweltliche Einstieg in die Interviews sowie das Meiden von Sicherheit als Substantiv bei. Ähnlich wie unsere Studie greift die Studie der R+V-Versicherung »Die Ängste der Deutschen« auf verschiedene Unsicherheitssemantiken zurück, auch wenn die Angstsemantik titelgebend ist. Dort wird, ähnlich wie in unserem Projekt, gefragt24 : »Es gibt viele Risiken und Gefahren im Leben. Einige davon haben wir zusammengestellt. Uns interessiert nun, inwieweit Sie sich davon bedroht fühlen. Bitte geben Sie uns – rein aus dem Gefühl – eine Bewertung, die aussagt, für wie bedrohlich Sie dieses Ereignis halten. Eine ›1‹ drückt aus, dass Sie keine Angst davor haben. […]« In den Ergebnissen der letzten Jahre dominieren makrosoziale Themen (R+VInfocenter 2016, 2017, 2018). 2018 ist dieser Studie zufolge die »Top-Angst«, dass Donald Trumps Politik die Welt gefährlicher mache, auf den Plätzen zwei und drei rangieren Ängste vor Konflikten bzw. Überforderung durch Ausländer und Zuwanderung. 2017 und 2016 stand die Angst vor Terrorismus auf Platz eins, für relevante Unsicherheitsthemen interessierten. Aus der politikwissenschaftlichen Sicherheitsforschung kommend fragten sie nach Sicherheitsbedrohungen (»security threats«, ebd.: 65) und kamen damit zu Ergebnissen, die zentral die Dimension physischer Sicherheit (Safety) betreffen. 24 URL: https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/untersuchungsmethode (zuletzt geprüft am 05.05.2019).

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gefolgt von der Angst vor politischem Extremismus und Spannungen durch Zuzug von Ausländern. Themen hingegen, die in der Studie von Gerhold zentral sind, liegen regelmäßig auf den hinteren Plätzen. Eine Interpretationsmöglichkeit ist, dass in der R+V-Studie trotz des Angstbegriffs das Interview mit einer Objektivierung von Unsicherheit beginnt (»es gibt…«) und dadurch aktuelle Diskursthemen reproduziert. Darüber hinaus ist kritisch zu vermerken, dass die Studie nicht – wie es eigentlich Usus ist – zwischen persönlicher und allgemeiner Unsicherheit unterscheidet und entsprechend zu undifferenzierten Ergebnissen gelangt (vgl. auch Blinkert 2015). Mit anderen Worten: Unklar bleibt, inwiefern die Studie tatsächlich lebensweltlich relevante Ängste erhebt oder nicht eher ein politisches Meinungsbild. Insgesamt zeigt sich in den diskutierten Studien, dass der Sicherheitsbegriff im Substantiv nicht nur bei uns eine verengende Bedeutung hat. Diese kann allerdings durch weitere Parameter geöffnet werde, wie ich im Folgenden zeige.

5.4

Angst als alltagssprachlicher, tendenziell offener Begriff in einem persönlichen Interview

In diesem Kapitel arbeite ich anhand von Interviews, in denen das Forschungsinteresse möglichst von Interviewbeginn an im intendierten offenen, breiten und lebensweltlichen Sinn verstanden wurde, zentrale gelingensförderliche Bedingungen heraus. Zunächst geht es dabei wie zuvor um (Un-)Sicherheitssemantiken und damit verbundene Erzählwürdigkeiten (Kap. 5.4.1). Während Semantiken wie Sicherheit, Schutz, Bedrohung und Gefahr den Blick auf Externes und Objektives lenken, wird durch Semantiken wie sich (un-)sicher oder bedroht fühlen und Angst der Blick auf das Subjekt gelenkt. Diese Semantiken sind zudem emische Begriffe, d.h. solche, die von den Interviewpartner*innen selbst eingebracht werden. Allerdings bürgen diese Begriffe alleine noch nicht dafür, dass das Interviewthema offen und breit verstanden wird. Daher ist es zusätzlich notwendig, den lebensweltlichen Bezug zu stärken, was über verschiedene Modi des persönlichen Interviews erreicht werden kann (Kap. 5.4.2). Da aus den vorigen Quer- und Fallanalysen schon einiges bekannt ist bzw. erschlossen werden kann, sind die folgenden Ausführungen knapper gehalten.

5.4.1

Alltagssprachliche (Un-)Sicherheitssemantiken

Wie bereits erwähnt, finden sich im Anschreiben und manchen Leitfaden- bzw. Fragebogenformulierungen auch andere (Un-)Sicherheitssemantiken als die oben analysierten, obgleich sie von untergeordneter Relevanz sind (s. Kap. 5.3.1). Die-

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

se rekapituliere ich kurz, bevor ich die (Un-)Sicherheitssemantiken der Interviewpartner*innen vorstelle.

Die erste Präsentation des Forschungsinteresses: sich (un-)sicher fühlen und Sicherheitsempfinden Entgegen der bereits analysierten (Un-)Sicherheitssemantiken, die die Thematisierung von externen, objektiven Geschehnissen nahelegen und damit den Bereich Safety fokussieren, umfassen die Forschungsmaterialien auch subjektivierende, v.a. emotionalisierende Semantiken. So ist im Anschreiben zu lesen, dass sich die Forschenden für das »Sicherheitsempfinden« interessieren; als Fragen werden entsprechend genannt: »[W]ie sicher fühlen sich die Deutschen? Wodurch fühlt sich die Bevölkerung verunsichert […]?«. Die erste Frage im Interview zum Thema Sicherheit ‒ die Skalenfrage ‒ adressiert ebenfalls das Sicherheitsempfinden sowie das interviewte Subjekt: »Wie ist das, wenn Sie Ihre Situation und Ihre Erfahrungen berücksichtigen: Wie würden Sie Ihr Empfinden im Hinblick auf Ihre persönliche Sicherheit insgesamt einschätzen?«. Entsprechend greifen auch die fünf Antwortmöglichkeiten diese Wendungen auf, bspw. »Ich fühle mich völlig sicher ‒ meine persönliche Sicherheit sehe ich in keiner Weise bedroht«. Nach der objektivierenden Themenfrage folgt dann wiederum eine subjektivierende, emotionalisierende Nachfrage, wenn die Interviewpartner*innen spontan keine Themen ansprechen: »Sie können sich ruhig etwas Zeit zum Überlegen lassen: Was beeinträchtigt denn aus Ihrer Sicht Ihr persönliches Sicherheitsempfinden?«. Anknüpfungspunkte für ein subjektivierendes Verständnis des Interviews sind also durchaus angelegt und werden in manchen Interviews auch realisiert. Zentrale Semantiken der Interviewbeteiligten hierfür »sich (un-)sicher fühlen« oder »sich bedroht fühlen« sowie »Angst«.

Sich (un-)sicher oder bedroht fühlen Während sich (un-)sicher fühlen bereits im Leitfaden bzw. Fragebogen angelegt war, wird die Semantik »sich bedroht fühlen« von manchen Interviewenden und Interviewpartner*innen eingeführt und ist entsprechend eine emische Semantik. Gemeinsam ist diesen Semantiken, dass sich die Interviewpartner*innen als Subjekte adressiert sehen, um deren Perspektive es geht, und dass diese subjektive Sicht einer objektiven gegenüberstehen kann. Valerie Klink etwa unterscheidet beim Thema Wirtschaftskrise diese beiden Dimensionen: »Sie fragen nach diesem Bedrohungsgefühl. [Ja.] Und das is im Moment hoch. Aber die- die unmittelbare Bedrohung is weniger, glaub ich.« Mit gleicher Stoßrichtung äußert sich Nico Ludwig zum Thema Kriminalität: »Es kann immer passieren auf jeden Fall, aber ich selbst fühl mich kaum dadurch bedroht.« Bezüglich der subjektiven Perspektive wird ferner deutlich, dass das Fühlen, das Empfinden oder Sicherheitsgefühl eine

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emotionale Qualität umfasst, die sich vom kognitiven Unsicherheitsbewusstsein unterscheiden kann. Generalisierend thematisiert David Hesse diese Unterscheidung: DH: Es gibt zwar so kleine Bedenken, die- die einfach- wo ich auch merke durch Zeitungslektüre oder so, flammen die mal so auf, aber das- da steh ich eigentlich soweit drüber, dass ich dann sage nö; also (1) würd ich mich dem jetzt nicht SO viel hingeben, dass ich meine persönlich- persönliche Sicherheit wirklich irgendwie schwer bedroht fühle. Während sich Interviewpartner*innen also durchaus der medialen Unsicherheitsdiskurse bewusst sind und diese im Interview wiedergeben können, sind die medialen Unsicherheitsthemen, die von David Hesse mit der kognitiven Semantik der »Bedenken« bezeichnet werden, nicht notwendigerweise mit einem alltäglichen Bedrohungsgefühl bzw. mit Angst verbunden. Sich (un-)sicher fühlen und sich bedroht fühlen sind nicht nur emische Semantiken, die von Interviewpartner*innen selbst eingebracht werden, sondern stellen in manchen Interviews eine oder die zentrale Unsicherheitssemantik überhaupt dar. Dies wird etwa in Intervieweinstiegen deutlich, wenn die Interviewpartner*innen sich das Forschungsinteresse bzw. die konkret gestellten Fragen aneignen und in eigenen Worten reformulieren. So fragt Nadia Wojcik bei der Skalenfrage nach: »wie sicher ich mich fühle oder wie unsicher?«, während u.a. Claudia Biehl, Erika Steiner und Gerda Hofmann die Themenfrage mit Rekurs auf die Semantik sich sicher fühlen beantworten. Im Interview mit Anne Strauß wird diese Übersetzungsleistung zwischen der Forschungssprache und ihrer eigenen Sprache evident, als sie ihre Antwort auf die Themenfrage abschließend in den Worten des Leitfadens bzw. der Interviewerin reformuliert: »aber ansonsten jetzt was über normale Lebensrisiken hinausgeht, (2) fühl ich mich nicht unsicher ((etwas erheitert) oder in der Sicherheit bedroht.)« Beide Semantiken, sich (un-)sicher fühlen und sich bedroht fühlen, werden von einigen Interviewpartner*innen offenbar ähnlich offen verstanden und in Bezug auf unterschiedliche Unsicherheitsthemen genutzt, darunter Terrorismus, Kriminalität, Naturkatastrophen, technische Großunglücke (v.a. im Bereich Atomkraft), mangelnde Vertrauenswürdigkeit in Politik, gesundheitliche Probleme, Arbeitslosigkeit, Scheitern oder Verlust von Beziehungen, Unfälle usw. Doch insgesamt zeigt sich die Tendenz, dass diese Themenoffenheit mehr für die Semantik sich (un-)sicher fühlen zutrifft, während sich bedroht fühlen wie die Bedrohungssemantik (Kap. 5.3.1) von einigen Interviewpartner*innen lediglich auf Themen im Bereich Safety angewandt wird. Dies dokumentiert sich bspw. im Interview mit Christa Höss im Zuge eines semantischen Wechsels. Die Interviewerin stellt die Themenfrage hier nicht in der Leitfadenversion, sondern fragt nach dem »Bedrohungsgefühl«, worauf Christa Höss klassische Bedrohungsthemen anspricht (Be-

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drohung durch Hunde, im Dunkeln verfolgt werden). Den anschließend von der Interviewerin eingebrachten Angstbegriff eignet sie sich sodann an und thematisiert im Zuge dieses semantischen Wechsels ganz andere Themen: »Angst vor Mittellosigkeit« und vor Präsentationen vor großem Publikum.

Angst als zentrale eigene Semantik der Interviewpartner*innen Während in diesem Beispiel die Interviewerin den Angstbegriff einführte, der dann von der Interviewpartnerin aufgegriffen wird, sind es in den anderen analysierten Interviews die Interviewpartner*innen selbst, die sich die Interviewfragen als Angstfragen übersetzen, ohne sich dabei notwendigerweise von den Begrifflichkeiten des Leitfadens abzugrenzen. Dies zeigten bereits die oben vorgestellten Interviews mit Nicole Schütze und Ahmed Erdem. Während Nicole Schütze zu Interviewbeginn fragt: »Es geht jetzt um Sicherheit im=im Rahmen von? Also ich hab jetzt- hab ich- ist die Frage hab ich Angst, dass jemand um die Ecke kommt und mich hier ausraubt?«, stellt Ahmed Erdem bei der Themenfrage zur persönlichen Sicherheit schlussendlich klar: »Ich hab von- von nix Angst.« Es können hier noch viele weitere Beispiele angeführt werden, etwa Erika Steiner, Heidi Flieder und Nadia Wojcik, die sich die Interviewaufgabe zunächst als Frage danach übersetzen, wie (un-)sicher sie sich fühlen, und dann zur Angstsemantik wechseln, die im Interview dominant wird. Und Michael Sommer bspw. kommentiert die Skalenfrage zur persönlichen Sicherheit wie folgt: »Also so, ja, also ich mach mir jetzt da keine großartige- hab jetzt also keine Angstzustände würd ich mal sagen, also ich fühle mich hier relativ sicher.« Im weiteren Interviewverlauf nutzt er auch die verwandten Begriffe »beängstigendes Gefühl«, »Ängste« und »Angst«. Mit Blick auf das gesamte Interviewmaterial stellt sich die Angstsemantik in zweifacher Hinsicht als zentrale emische Semantik dar: Erstens rekurrieren so gut wie alle Interviewpartner*innen darauf25 und zweitens ist Angst in einigen dieser Interviews die zentrale, andernfalls zumindest eine relevante Semantik im Vergleich zu anderen Semantiken (vgl. auch Bergenholtz 1980). Auch daher habe ich mich entschieden, Angst zum zentralen und titelgebenden Begriff dieser Arbeit zu machen. Wie wird der Angstbegriff nun genau verwendet? Hier zeigen sich einige Parallelen zu sich (un-)sicher fühlen. Denn auch mit Angst wird eine subjektive, emotionale Qualität von (Un-)Sicherheit verbunden, die nicht kongruent sein muss mit objektiven Unsicherheiten und einem Unsicherheitsbewusstsein. Dies kann anhand des Interviews mit Lara Dold illustriert werden. Auf die leitfadennah formulierte Themenfrage nennt sie zunächst Gefahren im Straßenverkehr, durch Atom25 Ausnahmen stellen David Hesse und Cemal Demir dar. David Hesse arbeitet sich stark am Sicherheitsbegriff ab (s. Kap. 5.3.1). Cemal Demir hingegen verzichtet gänzlich auf eine dezidierte (Un-)Sicherheitssemantik, wenn es um seine persönliche Situation geht.

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kraft und Krankheit. Danach erfolgt ein semantischer Wechsel von Bedrohung zu Angst – mit ähnlichen Folgen wie im Interview mit Christa Höss: I: Mhm, ja. Fällt Ihnen noch etwas ein? LD: Es geht um BEDROHUNG? Oder um ANGST? I: Wo Sie sich von bedroht fühlen, was Ihnen auch ein bisschen Angst macht. LD: Also natürlich auch so Zukunftsgedanken, ne. Also fühle ich mich nicht bedroht vor, aber würde ich schon sagen, also hat man schon Bedenken und (1) I: Ja. Und was genau? LD: Also ich bin ja auch noch im Studium oder wieder im Studium. Sowas, wie (2) Jobsuche, dann auch mit Kind als junge Mutter zum Beispiel. Mit dem semantischen Wechsel ist ein Perspektivwechsel verbunden: weg von objektiven Bedrohungen, die Lara Dold selbst wie alle anderen treffen können, hin zu Ängsten, die mit ihr als Person zu tun haben. Wie bei den Semantiken sich (un-)sicher fühlen und sich bedroht fühlen wird in den Interviews auch die spezifische emotionale, negative Qualität von Angst deutlich, die nicht in einem reinen Unsicherheitsbewusstsein und der Ungewissheit über die Zukunft aufgeht.26 Ähnlich wie sich (un-)sicher fühlen wird Angst auch in einem thematisch relativ breiten und offenen Sinne verstanden ‒ und kommt damit dem Forschungsinteresse, möglichst das ganze Spektrum von »(Un-)Sicherheitsbefindlichkeiten« (Blinkert/Eckert/Hoch 2015) zu adressieren, mehr entgegen als die im Leitfaden vorgesehene Themenfrage. Mit Blick auf die Gesamtheit der analysierten Interviews zeigt sich nämlich, dass Angst in Bezug auf ganz verschiedene Themen verhandelt wird: Terrorismus, Aufstieg rechtspopulistischer Parteien, Kriminalität, Krieg, technische Großunglücke (v.a. im Bereich Atomkraft), Naturkatastrophen, wirtschaftliche, berufliche und finanzielle Fragen (darunter »Existenzängste« wie Arbeitslosigkeit oder die Absicherung im Alter), Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit sowie die Angst vor dem Alter, Unfälle und das Scheitern oder der Verlust von Beziehungen (die »Verlustangst«), Angst um andere (v.a. Familienangehörige) und eine vorgebliche Angst vor ›Anderen‹ (z.B. ›Muslim*innen‹). Es stellt sich daher die Frage, ob Angst und sich unsicher fühlen gänzlich das Gleiche bedeuten. Anhand der vorliegenden Interviews würde ich dies vorsichtig bejahen. Bei Michael Sommer etwa scheint »fühle mich hier relativ sicher« synonym zu sein zu »keine Angstzustände haben«. Andererseits knüpfen sich speziell 26 Denn Ungewissheit kann auch mit Zuversicht oder Hoffnung verbunden sein (vgl. Pain/Smith 2008). Das illustriert das Interview mit Marko Kaiser, der darüber spricht, dass er seinen finanziell einträglichen Beruf als Versicherungsmakler aufgeben wird, um ein Studium zu absolvieren und danach in seiner Arbeit mehr Erfüllung zu finden. Diese Thematik der offenen Zukunft bezeichnet er als »Sicherheit im eigentlichen Sinne, Mensch, was macht die Zukunft?«. Diese bewusste Ungewissheit übersetzt sich jedoch nur teils in Angst. Marko Kaiser lässt sich vielmehr »überraschen« und gibt sich zuversichtlich: »Bisher hats auch immer geklappt.«

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

an den Angstbegriff auch negative Konnotationen: Man will im Allgemeinen kein Angsthase sein (vgl. z.B. Ahmed Erdem) und Angst wird auch mit Irrationalität konnotiert; so meint Hanno Wegeschieber: »Angst ist nie ein guter Ratgeber«. Ich werde im Folgenden (dennoch) von einer synonymen Bedeutung ausgehen.

Weitere alltagssprachliche (Un-)Sicherheitssemantiken Die Interviewpartner*innen brachten neben dem Angst-Begriff noch verschiedene weitere alltagssprachliche (Un-)Sicherheitssemantiken ins Interview ein.27 Doch diese sind zum einen nicht zentral im Sinne einer regelmäßigen Verwendung in der Gesamtheit der analysierten Interviews. Zum anderen liegt mein Interesse nicht darin, alle (Un-)Sicherheitssemantiken aufzuarbeiten, sondern diejenigen zu bestimmen, die alltagssprachlich in thematisch umfassender Weise verstanden werden. Mit Blick auf die Forschungsliteratur gehe ich jedoch noch kurz auf drei Semantiken ein: Erstens wird in philosophischer und psychologischer Tradition die unbestimmte, objektlose Angst von der bestimmten, objektbezogenen Furcht abgegrenzt (vgl. Dehne 2017: Kap. 1.1. und 1.2). Diese Unterscheidung ist jedoch weder alltagssprachlich relevant noch wird in den Interviews häufig auf den Furchtbegriff rekurriert (vgl. auch Bergenholtz 1980: insbesondere 163). Wenn überhaupt auf das Lexem Furcht Bezug genommen wird, dann mittels der Semantiken »befürchten« und »Befürchtung«, die allerdings wenig gebräuchlich scheinen. Die Adjektive »furchtbar« und auch »fürchterlich« sind vergleichsweise prominenter vertreten, allerdings in der Regel ohne erkennbaren Bezug zu Angst. Zweitens wird in empirischen Forschungen auch auf den Begriff der Verunsicherung rekurriert (vgl. Krasmann et al. 2014). Dieser wird allerdings ebenso wie seine Variationen »verunsichern«, »sich verunsichert fühlen« und »verunsichert sein« in den vorliegenden Daten so selten von den Interviewpartner*innen gebraucht, dass ich hierüber keine Aussage treffen kann. Drittens wird in anderen empirischen Studien mit dem Sorge-Begriff gearbeitet (vgl. ebd.). Hummelsheim (2015b) begründet dies damit, dass so die subjektive, affektive Komponente von Sicherheit in den Fokus rückt, denn etymologisch betrachtet bedeutet das lateinische Wort »securus« sorg-

27 So ist etwa von Panik die Rede, aber eher zwecks Abgrenzung von einer als überzogen bewerteten Angst(-reaktion); Hanno Wegeschieber bspw. bezeichnet die Deutschen als »panisch«, obwohl sie eigentlich in Bezug auf Sicherheit im »Paradies« leben. In diese Richtung verweist auch der Begriff der Panikmache. Manche Interviewpartner*innen sprechen auch von einem »mulmigen Gefühl«, das teils mit Diffusität verbunden und teils von Angst und Panik abgegrenzt wird (Gerd Weidner, Nicole Schütze, Stephanie Arrenberg, Werner Biermann). Darüber hinaus ist auch von »Bange haben« (Berta Wagner), »Schiss haben« (Gaby Enge, Heidi Flieder) und »davor Horror haben« (Heidi Flieder) die Rede.

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los.28 Diese Bedeutung deckt sich mit meinen Analysen. Auch werden in den vorliegenden Interviews mit Rekurs auf den Sorgebegriff so unterschiedliche Themen verhandelt wie religiöser Fanatismus, die Zunahme rechtsradikaler Gewalt, Terrorismus, Kriminalität, Naturkatastrophen, Unfälle, Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit, finanzielle und berufliche Fragen und damit verbunden die Erhaltung des Lebensstandards, Versorgung und Absicherung im Alter, Scheitern und Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Sorge um andere, etwa um die eigenen Kinder. Entsprechend enthält der Sorge-Begriff eine soziale Dimension, die über das unmittelbar interviewte Individuum hinausweist, was m.E. positiv zu erachten ist angesichts einer in der Forschungsliteratur oft anzutreffenden individualistischen (Un-)Sicherheits- bzw. Risiko-Epistemologie (vgl. dazu Kap. 2.3.1 zu Luptons Forschungen und Walby/Doyle 2009). Diese Assoziation mag daher stammen, dass die Sorgesemantik auch ein Sich-sorgen-um-jemanden und damit Sorge-Tätigkeiten umfasst. Allerdings ist der Sorge-Begriff in den vorliegenden Interviews im Vergleich zum zentralen Angstbegriff von untergeordneter Bedeutung. Dies kann selbstverständlich auch an den Daten und nicht am alltagssprachlichen Gebrauch liegen, sodass weitere Studien vonnöten sind.

5.4.2

Modi des persönlichen Interviews

Trotz dieses breiten Themenspektrums, das sich in der Gesamtheit der Interviews findet, wird Angst jedoch nicht in jedem einzelnen Fall so offen, breit und lebensweltlich kontextualisiert verstanden, vermutlich nicht zuletzt durch die semantische Vorstrukturierung durch Sicherheit, Bedrohung und Gefahr. Dies zeigt sich bspw. bei Nicole Schütze, die die Interviewfrage zwar als Angstfrage reformuliert, aber sich weiterhin am Sicherheitsbegriff als zentralem Begriff abarbeitet und erst im fortgeschrittenen Interviewverlauf realisiert, dass nicht nur Safety-Themen im Interesse der Forschenden stehen (s. Fallanalyse Kap. 5.3.1). Trotz der prinzipiellen alltagssprachlichen Eignung des Angst-Begriffs für die Forschung zu subjektiven Unsicherheiten bedarf es daher weiterer Maßnahmen, um die Offenheit und Alltagsbezogenheit des Interviews von Anfang an zu verdeutlichen. Anne Strauß etwa erwähnt auf die Themenfrage hin die »normalen Lebensrisiken« zunächst nur en passant und spricht v.a. über die militärische Nutzung eines regionalen Flughafens. Im weiteren Interviewverlauf wird allerdings deutlich, dass diese »normalen Lebensrisiken« für sie zentral sind. Wie bei den Analysen zu Sicherheit als engem Begriff zeigt sich hier (ebenso wie in anderen Interviews) der Verweis auf etwas als normal und selbstverständlich Geltendes. Jedoch hat diese epistemische Modalisierung als Common Sense hier eine andere Bedeutung als in den vorigen Analysen 28 Die objektive Dimension des Geschütztseins bezeichnet das lateinische Adjektiv »tutus« (Giebel 2012: 9).

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(s. insbesondere die Fallanalyse Nicole Schütze in Kap. 5.3.1): Die so bezeichneten Unsicherheitsthemen erscheinen zu banal, um erörtert zu werden. Entsprechend ist es Aufgabe der Forscher*innen, den Interviewpartner*innen zu verdeutlichen, dass sie sich genau für diese normalen Alltagsängste interessieren und diese entsprechend erzählwürdig sind. Diesen Herausforderungen kann, so meine empirisch begründete These, mit einer Gestaltung des Interviews als offenes, persönlich-alltagsweltliches Gespräch begegnet werden. Im Folgenden stelle ich verschiedene Modi des Persönlichen vor, die zusammenhängen und hier nur für analytische Zwecke unterschieden werden. Dabei geht es mir nicht darum, die aus Methodenbüchern bekannten Hinweise zur guten Interviewführung wiederzugeben. Denn erstens ist weithin unbekannt, wie Fragen im Interview tatsächlich wirken; die Empfehlungen für Frageformulierungen und Interviewer*innenverhalten beruhen großteils auf forschungspraktischen Erfahrungen und Überlegungen, nicht aber auf einer systematischen Erforschung der Interviewforschung (eindrücklich dazu Ullrich 2019: Kap. 2.3). Deppermann resümiert daher, dass »die Methodik der Interviewführung […] bisher eine weitgehend vorwissenschaftliche und keine evidenzbasierte Praxis« ist (2013b: § 28). Zweitens geht es mir weniger um methodische Güte im Sinne einer Einhaltung von methodischen Normen, sondern um die mit bestimmten methodischen Entscheidungen verbundene Art der Beziehungsgestaltung. Unter Umständen kann es dabei nämlich vorkommen, dass methodisch als negativ bewertete Strategien der Interviewführung wie Suggestivfragen (z.B. Kruse 2015: 219-222) zu einer persönlichen Beziehungsgestaltung beitragen, weil die interviewende Person hiermit demonstriert, dass sie interessiert zuhört und verstehen will (vgl. auch Richardson/Dohrenwend/Klein 1979: 227). Mittels welcher Handlungsweisen gelingt es also den Interviewenden, ein persönliches Interview zu führen und damit die in Anschreiben wie Leitfaden bzw. Fragebogen angelegten subjektivierenden Dimensionen zu realisieren?

Kriterium der subjektiven Relevanz Bereits bei der Analyse des Anschreibens und Leitfadens bzw. Fragebogens (Kap. 5.3.2) wurde deutlich, dass das in der qualitativen Forschung übliche Kriterium der subjektiven Relevanz nicht genannt wird, sondern die Interviewpartner*innen vielmehr als Teil eines Kollektives adressiert werden. Manche Interviewer*innen rekurrieren dennoch in der Intervieweinführung auf das Kriterium der subjektiven Relevanz und verpflichten damit die Interviewpartner*innen darauf, (nur) für sich selbst anstelle eines Kollektivs zu sprechen. Sie verdeutlichen damit auch, dass die subjektive Wahrheit der Interviewpartner*innen im Vordergrund steht und nicht das Abfragen von Wissen über objektive Wirklichkeiten. Christa Höss etwa wird dies von der Interviewerin wie folgt verdeutlicht: »Versuchen Sie nicht, das ob-

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jektiv, also- wirklich, was denken Sie, ne?«. Auch Anne Strauß wird gleich zum Interviewauftakt entsprechend instruiert: U.a. mit der Wendung »uns is wichtig was IHnen wichtig is« verpflichtet die Interviewerin Anne Strauß auf ihre eigene Person. Damit verdeutlicht sie, dass das Relevanzsystem von Anne Strauß im Zentrum steht und nicht das Relevanzsystem der Forschenden. Die Adressierung als Individuum, das für sich sprechen soll, findet sich im vorliegenden Material auch anderweitig zu Interviewbeginn, etwa indem auf einschlägige Begriffe wie Erfahrung, Empfinden, Fühlen, Leben(-ssituation, -sgefühl) etc. rekurriert wird, die die Fragen als subjektiv und lebensweltlich zu beantwortende rahmen. Conny Müllers Interviewerin bspw. reagiert auf die Rückfrage, was denn mit persönlicher Sicherheit gemeint sei, wie folgt: «Wenn Sie an Ihr eigenes Leben denken, also an Ihre Lebenssituation was da so für Sie persönlich für Sie zentral wichtig ist, an Ihr Lebensgefühl, ehm dass was da für Sie wichtig ist dafür, ob Sie sich sicher fühlen.« Wie Anne Strauß wird Conny Müller hier auf sich selbst verpflichtet, auf »Ihr eigenes Leben«, »Ihr Lebensgefühl« und was ihr wichtig ist. Conny Müller setzt dies dann auch um, indem sie im Anschluss daran über die Arbeitslosigkeit ihres Mannes erzählt, die für die Familie ein Leben am Existenzminimum bedeutete, weswegen sie eine zukünftige Arbeitslosigkeit befürchtet. Offenbar reichte für dieses Verständnis der Frage die Wendung der »persönlichen Sicherheit« aber nicht aus, mit der wir als Forschende den lebensweltlichen Kontext zu adressieren gedachten. Dies dokumentiert sich auch im Interview mit Oli Bauer, der (wie andere Interviewpartner*innen) persönliche Sicherheit bzw. ähnliche Formulierungen als Sicherheit der Person zu verstehen scheint, sodass es um Fragen von Leib und Leben und damit um körperliche Unversehrtheit als eine spezifische Dimension von Sicherheit geht. Entsprechend nennt er zunächst Arbeitsunfälle und Erkrankungen als relevante Themen. Der Interviewer hakt sodann nach, ob es weitere Unsicherheitsthemen gäbe, wobei er die Frage reformuliert und dabei zum einen den Alltagsbegriff verwendet und zum anderen das Adjektiv persönlich anders kontextualisiert: I: Fällt Ihnen nicht, wenn Sie so an Alltag denken, oder so persönliche Risiken. OB: Persönlich zum Beispiel? Dass meine Freundin mir wegläuft. Die Semantik des Risikos scheint hier weniger zentral für Oli Bauers Antwort, er greift sie jedenfalls nicht auf, sondern rekurriert auf den Kontext »persönlich«.29 Damit assoziiert er persönliche Beziehungen und bringt ein Thema ein, das der nachfolgenden Reaktion des Interviewers zufolge außergewöhnlich ist: 29 Ähnlich dazu das Beispiel oben (Kap. 5.3.1) aus dem Interview mit Valerie König, die die Sorge um ihr Kind als Thema des Persönlichen fasst. Zumindest in diesen Fällen wird das Adjektiv bzw. Adverb persönlich also mit Blick auf persönliche Beziehungen verstanden.

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

»Das ist sehr interessant, dass Sie das ansprechen.« Die Besonderheit dieser Themen-Nennung zeigt sich auch in der standardisierten Auswertung: Scheitern und Verlust zwischenmenschlicher Beziehungen spielen im themenoffenen Teil eine marginale Rolle, nur bei 5 % der Interviewpartner*innen fanden wir entsprechende Thematisierungen (Blinkert/Eckert/Hoch 2015) – was aber m.E. auch ein ›methodisches Artefakt‹ sein kann.

Lebens- und alltagsweltliche Rückbindung der Fragen Eine lebens- und alltagsweltliche Rückbindung der Interviewfragen ist ein weiterer Modus des persönlichen Interviews und kann an unterschiedlichen Stellen im Interviewverlauf erfolgen. Mit Blick auf die intendierte thematische Offenheit des Interviews ist eine entsprechende Rückbindung direkt zu Interviewbeginn ratsam, sodass Oli Bauer bspw. möglicherweise schon früher das für ihn wichtige Thema der Aufrechterhaltung von Beziehungen hätte ansprechen können. Eine lebensund alltagsweltliche Rückbindung der Interviewfragen kann erfolgen, indem die Fragen explizit auf das Alltagsleben der Interviewpartner*innen bezogen werden. Die Interviewerin von Gaby Enge etwa modifiziert die Skalenfrage entsprechend: »Ganz allgemein erstmal, wie sicher fühlen Sie sich perSÖNlich; im Alltag?«. Gaby Enge spricht anschließend Themen an, die sich auch im weiteren Interviewverlauf als hochrelevant für ihre persönliche Situation darstellen (s. Kap. 6.3.2). Eine weitere Möglichkeit ist, über die Benennung verschiedener lebens- und alltagsweltlicher Kontexte die interessierende Ebene zu adressieren. Im Interview mit Michael Sommer bspw. eröffnet der Verweis auf Wohnort, Arbeit und Urlaub eine andere, breitere Perspektive auf das Thema. Neben AKW-Unfällen erscheint nun auch die Angst um seinen Sohn erzählwürdig: I: Gibt es nichts, was Ihr Sicherheitsempfinden in irgendeiner Weise beeinträchtigen würde? MS: Machen Sie mal ein Beispiel vielleicht, also würde ich vielleicht daI: Ich will Ihnen ja nichts in den Mund legen. […] Es muss jetzt nicht unbedingt auch hier in (Wohnort) sein, es kann auch irgendwie auf der Arbeit sein, wo Sie sind. Es kann auch im Urlaub sein. MS: Ok, sowas dann meinen Sie jetzt noch, mhm. ((denkt nach)) Ja gut, ich sag mal so im Zusammenhang mit ihm, mit unserem Junior will ich mal so sagen. […] Die im Interviewverlauf früh stattfindende alltags- und lebensweltliche Kontextualisierung der Skalen- und Themenfrage ist zentral, weil sie die weiteren Thematisierungen rahmt und strukturiert. Doch bleibt sie auch für den weiteren Interviewverlauf relevant, gerade angesichts der Nachfragen zu den jeweiligen Unsicherheitsthemen, die im Leitfaden so formuliert sind, dass sie eher theoretisches Wissen ab- als praktisches, erfahrungsgebundenes Wissen erfragen. Manche Interviewende reformulieren die Fragen jedoch so, dass sie einen Zugang zur All-

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tagspraxis eröffnen. Interessant ist hier insbesondere die Frage nach dem Sicherheitsmanagement. Michael Sommers Interviewerin z.B. hakt hier nach, als er in zögerlicher Weise äußert, dass man sich vor Autounfällen schützen kann, indem man kein Auto mehr fährt: »Aber wär das was, was für Sie infrage käme?«. Damit holt sie ein theoretisch-hypothetisches Sicherheitsmanagement in den lebensweltlichen Bereich. Ähnlich dazu passt die Interviewerin von Conny Müller die Nachfragen in alltags- bzw. lebensweltlicher Weise an. So fragt sie in Bezug auf die Arbeitslosigkeit von Conny Müllers Ehemann: »Gibts da Dinge, die Sie selbst, wo Sie selbst das Gefühl haben, die Sie tun können um da irgendwie-«. Insgesamt geht es also darum, die Nachfragen nicht theoretisch und hypothetisch zu fassen, sondern auf den konkreten Lebenskontext der Interviewpartner*innen zu beziehen.

Erzählräume öffnen und gewähren Um das Relevanzsystem der Interviewpartner*innen zu zentrieren, ist es zudem wichtig, ihnen Erzählräume zu öffnen bzw. zu gewähren anstatt in leitfadenbürokratischer Manier die Fragen abzuarbeiten und damit das Relevanzsystem der Forschenden in den Vordergrund zu stellen, das sich im Leitfaden bzw. Fragebogen manifestiert. Einen Erzählraum zu öffnen, gelingt bspw. unintendiert im Interview mit Heidi Flieder. Bei der Skalenfrage, wie sie ihr Gefühl hinsichtlich ihrer persönlichen Sicherheit beschreiben würde, sieht sie vermutlich die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten nicht bzw. orientiert sich auf jeden Fall nicht daran, sondern nutzt die Frage als Erzählstimulus. Die Interviewerin stellt die Skalenfrage im Folgenden zunächst hintenan und geht dazu über, immanente, aufrechterhaltende Fragen zu stellen.30 Neben der Eröffnung von Erzählräumen ist also deren Gewährung relevant. Das illustriert auch das Interview mit Claudia Biehl. Als diese nachfragt: »Soll ich jetzt noch kurz was Persönliches erzählen?«, entgegnet die Interviewerin »wenn Sie möchten« und gibt damit die Entscheidungsmacht über Thematisierungswürdiges an die Interviewpartnerin. Die Interviewerin von Heike Binz betont die Erwünschtheit von Erzählungen noch deutlicher: HB: Ha! ((lacht)) Jetzt könnt ich aber wieder ausholen! I: Gerne! ((lacht)) Deswegen bin ich hier ((lacht)), damit Sie ausholen. Es ist offenkundig, dass angesichts des in jeder Forschung gegebenen problematischen Verhältnisses von Zeit und Informationsinteressen nicht alles ausführlich erzählt werden kann. Dies ist in teilnarrativen Interviews aber auch nicht nötig, um die Forschungsfragen beantworten zu können. 30 Immanente Nachfragen beziehen sich auf das bisher versprachlichte Relevanzsystem der Interviewpartner*innen, während exmanente Nachfragen spezifischen Interessen der Forschenden folgen.

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

Interesse und Wertschätzung In den vorigen Modi des Persönlichen schon angelegt ist die Vermittlung von Interesse und Wertschätzung gegenüber den Interviewpartner*innen und ihren Erzählungen. Hierfür eignen sich auch weitere Strategien der Interviewführung. Dazu gehören nonverbale wie verbale Rezeptionssignale wie »mhm« und empathische soziale Validierungen wie »das glaube ich« oder »stimmt«. Ebenso förderlich ist die Positivwertung der Antworten des interviewten Menschen bzw. eine Entproblematisierung von Nicht-Wissen, um ihm das Gefühl zu geben, »mit gutem Recht das zu sein, was er ist« (Bourdieu 1997: 786). Ein Beispiel für die Entproblematisierung von Nicht-Wissen bietet das Interview mit Nadia Wojcik, die auf manche der theoretischen Fragen keine Antwort weiß und dies problematisiert, worauf die Interviewerin entgegnet: »Das ist kein Problem«.31 Ein Beispiel für die Positivwertung ist das Interview mit Rainer Kretschmann, der bei der Skalenfrage nach der persönlichen Sicherheit seine Antwort kommentiert und hierbei gleich die Themenfrage mitbeantwortet. Dies wird von der Interviewerin gewürdigt: »Super, dann haben sie eigentlich das Nächste angesprochen, es geht darum, welche Risiken, Gefahren und Situationen im Leben für Sie persönlich jetzt- Sie als gefährlich einstufen würden.« Dabei greift die Interviewerin die bisherigen Äußerungen ihres Interviewpartners auf und passt ihre Frageformulierung daran an, was eine weitere Strategie darstellt, wie Interesse und Wertschätzung vermittelt werden. Gleiches gilt für deindexikalisierende und immanente Nachfragen, die die Ausführungen der Interviewpartner*innen vertiefen. In dieser Hinsicht können auch Suggestivfragen, die methodisch mehr als umstritten sind, für die Beziehungsgestaltung positiv sein, sofern sie auf eine aufmerksame, interessierte Interviewerin verweisen, die um Verstehen bemüht ist (vgl. auch Richardson/Dohrenwend/Klein 1979: 227). So nutzt die Interviewerin von Conny Müller suggestive Fragen, die ihre eigene Deutung beinhalten, aber vermag es dadurch auch, Conny Müllers Erzählung zur Angst vor Arbeitslosigkeit aufrechtzuerhalten: CM: […] das ist die konkrete Angst die mir immer so im Hinterkopf sitzt. I: Die dann auch für die Zukunft einfach noch verunsichert oder? CM: Ja, denn man is ja davor nie gefeit, es kann ja immer wieder kommen oder, also das ist jetzt das was mich da, weil es wirklich ne schwere Zeit für uns alle war als Familie oder als Partnerschaft […]. Mittels dieser verschiedenen Modi, ein persönliches Interview zu führen, wird die Thematisierung von Persönlichem, lebensweltlich Relevantem gefördert. Auch das 31 Zum Vergleich: Im Interview mit Ahmed Erdem entfährt der Interviewerin schließlich die kritische Bemerkung: »Vielleicht wüssten Sie da mal was.«

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Banale und Normale des Alltags, das aus meiner methodologischen Sicht besonders interessant ist, kann dadurch zum Erzählwürdigen werden.

5.4.3

Zwischendiskussion

Angst erweist sich in den vorliegenden Daten nicht nur als alltagssprachlicher, sondern auch als tendenziell offener Begriff, sofern das Interview als persönliches gestaltet wird. Damit stellt er m.E. die beste Möglichkeit dar, themenoffen zu Unsicherheit als lebensweltlichem Phänomen zu forschen. Interessant wäre nun, dies mit Blick auf andere themenoffene oder zumindest -übergreifende Forschungen zu diskutieren, die bereits mit dem Angst-Begriff gearbeitet haben. Allerdings gibt es meines Wissens nach keine solche Studie; die Studie der R+V-Versicherung »Die Ängste der Deutschen« trägt zwar den Angst-Begriff im Titel, rekurriert in der Abfrage der Ängste jedoch auch auf andere Unsicherheitssemantiken (s. Kap. 5.3.3). Allerdings hat Dina Hummelsheim im standardisierten Partnerprojekt unseres Projekts mit dem Sorge-Begriff gearbeitet (Hummelsheim 2015a und 2015b, Hummelsheim/Oberwittler 2014). Die Frageformulierung lautet dort: »Uns interessiert, inwieweit Ihnen die folgenden Gebiete Sorgen bereiten. Bitte geben Sie uns ‒ rein aus dem Gefühl ‒ eine Bewertung, die aussagt, für wie besorgniserregend Sie diese halten.« (Hummelsheim 2015b: 74) Die im Fragebogen vorgegebenen Themen wurden in einem Pretest mit offener Themenabfrage ermittelt. Im Ergebnis sind Hummelsheims Studie zufolge zentrale Sorgen des persönlichen Lebens im Alter ein Pflegefall zu werden, eine unzureichende finanzielle Versorgung im Alter, eine schwere Erkrankung, der Kontaktverlust zu einer wichtigen Person, die finanzielle Situation und Arbeitslosigkeit. Unfälle, Kriminalität, Naturkatastrophen und Terrorismus sind dem deutlich nachgeordnet. Safety-Themen werden hier also im Vergleich zu manchen der Studien, die mit dem Sicherheits-Begriff arbeiten, dezentriert. Dennoch präferiere ich Angst als Oberbegriff für empirische Forschungen. Zum einen ist, wie erwähnt, der Angst-Begriff in den mir vorliegenden Daten im Unterschied zum Sorge-Begriff zentral. Zum anderen scheint mir der SorgeBegriff zwar prinzipiell themenoffen zu sein, aber auch eine Tendenz hin zu Themen der Security und Certainty zu haben, während Safety-Themen eher aus dem Blick rücken. Sorge wird in den mir vorliegenden Interviews nämlich auch im Sinne von Vorsorge und Versorgung verwendet, wodurch bestimmte Aspekte in den Vordergrund rücken. So lässt sich finanziell für das Alter oder gesundheitlich vorsorgen (etwa durch Vorsorgeuntersuchungen), um nicht von Fürsorgeeinrichtungen abhängig zu sein, sondern sich lange selbst versorgen zu können (s. auch Kap. 5.4.1). Diese Tendenz zeigt sich m.E. auch in Hummelsheims quantitativer Studie.

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

5.5

Methodische Entscheidungen sind politisch – Bilanz, Interpretation und Ausblick

Die zentrale Frage dieses Kapitels war, wie zu (Un-)Sicherheit als lebensweltlichem Phänomen themenoffen und gemäß Baumans breitem Sicherheitsbegriff geforscht werden kann. Um eine Antwort auf diese Frage geben zu können, die zukünftige Forschungen voranbringen möge, bin ich einen Schritt zurückgegangen und habe analysiert, welche Auswirkungen verschiedene methodische Entscheidungen in den Interviews hatten. Denn »[d]er Fortschritt in der Erkenntnis setzt bei den Sozialwissenschaften einen Fortschritt im Erkennen der Bedingungen der Erkenntnis voraus.« (Bourdieu 1987b: 7) Im Folgenden werde ich zunächst die gewonnenen Erkenntnisse resümieren und interpretieren und dann einen Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten sowie die Bedeutung der Erkenntnisse für diese Arbeit geben.

Bilanz und Interpretation der Erkenntnisse Interessiert Angst als lebensweltliches Phänomen in themenoffener Weise, so weisen meine Analysen darauf hin, dass wir zukünftig nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten, weil das der Begriff ist, der in den Interviews als thematisch umfassend verstanden wurde (Kap. 5.4.). Mit der Angstsemantik, aber auch mit der Semantik sich unsicher fühlen verbinden die Interviewpartner*innen ein subjektiv-persönliches, emotional relevantes Phänomen mit thematischen Bezügen in allen drei Dimensionen von Baumans Sicherheitsbegriff. In Verbindung mit einer persönlichen Beziehungsgestaltung im Interview kann auf diese Weise Unsicherheit als lebensweltliches Phänomen in themenoffener Weise erforscht werden. Eine persönliche Beziehungsgestaltung gelingt z.B. durch die Betonung des Kriteriums der subjektiven Relevanz, durch die lebens- und alltagsweltliche Rückbindung der Fragen, die Eröffnung und Gewährung von Erzählräumen und Interesse und Wertschätzung gegenüber den Interviewpartner*innen. Wie die Analysen auch nahelegen, hat die zunächst lediglich methodisch-technisch anmutende Fragestellung dieses Kapitels eine politische Dimension. Dass methodische Entscheidungen politisch bzw. politisch relevant sind, wurde bereits in der standardisierten Auswertung aller Interviews der zugrunde liegenden Studie demonstriert: Fragt man offen, so erhält man geringere Furchtwerte als in Studien mit Themenvorgaben wie die Studie der R+V-Versicherung. Blinkert (2015: 60) folgert daraus: »Die R+V-Studien leisten einen Beitrag zur ›Sekurisation‹, d.h. zur Ausweitung von Sicherheitsdiskursen und Praktiken der Sicherheitsproduktion.« Daran kann ich in meiner qualitativen Analyse eines Subsamples unserer Studie unmittelbar anschließen. In diesem Kapitel wurde deutlich, dass auch andere methodische Entscheidungen Effekte auf die Ergebnisse haben: Wird als Sicher-

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heitssemantik Sicherheit gewählt und ein unpersönliches Interview durchgeführt, begünstigt dies Thematisierungen im Bereich innerer und physischer Sicherheit bzw. Unsafety. Wird in einem persönlichen Interview Angst als Semantik verwendet, rücken lebensweltliche Themen in den Fokus, die den Dimensionen Unsafety, Insecurity und Uncertainty zuzuordnen sind. Nimmt man an, dass Forschung auf gesellschaftliche und politische Diskurse Einfluss hat (vgl. Kap. 8.2 zu dieser Frage), dann lassen sich je nach Methodik bzw. Ergebnis gänzlich unterschiedliche, auch politische Konsequenzen daraus ziehen. Wie lässt sich nun die eingeschränkte Offenheit des Sicherheitsbegriffs insbesondere in Bezug auf die vorliegenden Daten interpretieren? Verschiedene Antworten sind möglich. Eine erste Deutung betrifft die tatsächliche Relevanz von Safety-Themen: Da sich diese um Leib und Leben drehen, sind sie so basal wie zentral und stehen auch ohne methodische Effekte im Zentrum der Interviewthematisierungen. Auch wenn diese Relevanz nicht von der Hand zu weisen ist, stellt dies allenfalls eine Teilinterpretation dar; u.a. müsste sich diese zentrale Rolle dann auch in anderen Studien dokumentieren, was jedoch nicht zutrifft. Eine zweite Interpretation dreht sich um die kulturelle Erzählwürdigkeit von Safety-Themen und schließt an die diskursanalytische Reflexion des Interviewpartners David Hesse an (Kap. 5.3.1). Ihm zufolge liegen im Interview solche Themen nahe, die im politischen, medialen und anderweitig gesellschaftlichen Diskurs als Sicherheitsthemen gerahmt werden, was v.a. Kriminalitätsthemen sind (vgl. auch Kunz 2013). In politischer Hinsicht entsprechen Safety-Themen einem traditionellen Verständnis staatlicher Sicherheitspolitik: »Seitdem Thomas Hobbes sein Modell des Leviathan entwickelte, gehört es zum Allgemeingut, den Staat als Garanten innerer und äußerer Sicherheit aufzufassen und ihn über seine ureigenste Aufgabe – die Herstellung und Gewährung von Sicherheit für das Leben und Eigentum der anerkannten Staatsbürger und Staatsbürgerinnen vor Gewalt und Diebstahl sowohl von innen als auch von außen – zu definieren.« (Groenemeyer 2010: 8) Zwar hat sich seit Hobbes einiges verändert, z.B. hinsichtlich der thematischen Erweiterung des Sicherheitsbegriffs (Daase 2011a). Dennoch werden nicht alle Themen, die unter Baumans Sicherheitsbegriff fallen, gleichermaßen fokussiert. So konstatiert etwa Kreissl (2008), dass die in den 1960er Jahren zentrale Bedeutung von Sicherheit als soziale Sicherheit im Zuge des neoliberalen Umbaus von Wohlfahrtsstaaten an Bedeutung verloren habe. Ähnlich argumentiert Bauman (1999), dass der Bereich Safety der einzige, da konkret greifbare Bereich von Unsicherheit sei, mit dem Staaten gegenwärtig ihrem Sicherheitsversprechen nachzukommen versuchten (vgl. auch Kunz 2013: 34). Auch medial scheinen solche Themen zentral (Kreissl 2015b). Ferner eignen sie sich als gesellschaftlicher Erzählgegenstand. So

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

macht Stehr (1998, 2002, 2016) in seiner Narrationsanalyse von Kriminalitätsgeschichten deutlich, wie Kriminalität als kulturelle Ressource zur kommunikativen Bearbeitung eigener, anders gelagerter Unsicherheiten genutzt werden kann. Und Labov (1972) hat aus erzähltheoretischer Perspektive bereits in den 1970er Jahren herausgearbeitet, dass Tod und physische Verletzungen, etwa durch Unfälle, aber auch Kriminalität immer relevante Gesprächsthemen darstellen, bei denen sich die Frage der Erzählwürdigkeit (»so what?«) nicht stellt. Anders gestaltet sich dies aber bezüglich der Dimensionen Security und Certainty, wie Bude (2017) äußert: »In der öffentlichen Debatte wird die Destabilisierung des Lebensgefühls aber kaum thematisiert. Wer sich so äußert, bekommt zu hören: ›Was beschwerst du dich? Es geht dir doch gut!‹«. Eine methodisch bedingte Erzähl(un)würdigkeit, wie sie in diesem Kapitel analysiert wurde, ist daher immer auch im Kontext kultureller Erzähl(un)würdigkeit zu verstehen. Eine dritte Interpretationsmöglichkeit dreht sich um den Adressat*innenbezug von Sicherheit und knüpft an die bereits in thematischer Hinsicht angesprochene Staatsbezogenheit des Sicherheitsbegriffs an. In dieser Perspektive ist erzählenswert, was als staatlich herzustellende Sicherheit gelten kann. Gleichzeitig ist der Staat Adressat von Sicherheit: »The concept of security has traditionally been related more to states than to people.« (Bilgin 2003: 203, vgl. auch Bajc 2013b) Zwar erweiterte sich der Sicherheitsbegriff auch in Bezug auf seine Adressat*innen, wie Daase (2011a) zeigt und wofür die Konzepte der »human security« und »societal security« beispielhaft stehen (s. auch Bilgin 2003). Dennoch ist es möglich, dass dies in der vorliegenden Studie nicht immer so verstanden wurde. Zum einen mag dies daran liegen, dass die Finanzierung der Studie durch das BMBF als politische Einrichtung bereits im Anschreiben offengelegt wurde. Möglicherweise wird in den Antworten also das thematisiert, was als für den Staat als Adressaten der Forschung interessant, relevant oder handlungsbedürftig gilt, etwa dass es mit der Polizei schlecht bestellt sei, wie der Interviewpartner Wilhelm Krause problematisiert. Zum anderen mag manchen Interviewpartner*innen nicht deutlich genug geworden sein, dass es um sie selbst als Adressat*innen von Sicherheit geht, weil keine umfassende subjektivierende, lebensweltliche Kontextualisierung des Interviews stattfand. Viertens stellt sich die Frage der allgemeinen Erzählwürdigkeit in Forschungsinterviews, auch jenseits des Bezugs zu Sicherheit. Generell besteht die Tendenz, in qualitativen Interviews Außergewöhnliches und nicht Normales zu erzählen (Lucius-Hoene/Deppermann 2004b: 127f.). Dies wird auch speziell für die Kriminalitätsfurchtforschung berichtet: »people appeared to report the most serious extent of their fears rather than the most common or typical« (Farrall 2004: 165). Die »normalen Lebensrisiken«, wie die Interviewpartnerin Anne Strauß sie nennt, rücken daher zunächst aus dem Fokus zugunsten von Themen, die gemäß einer als allgemein angenommenen Relevanz als thematisierungswürdig gelten. Dies ist in den

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Interviews z.B. »natürlich« die Angst vor Übergriffen. Diese allgemeine Interviewtendenz wird in unserer Studie durch die Frage, was die persönliche Sicherheit »wirklich bedroht«, verstärkt. Dabei kommt auch dem Ereignisbegriff, der bei uns von manchen Interviewenden aufgegriffen wurde, offenbar eine dramatisierende Wirkung zu (Scherer et al. 2004, vgl. auch Gray/Jackson/Farrall 2008). Aber auch ohne diese Rahmung im Interview kommt erzähltheoretisch betrachtet Ereignissen im Sinne einmaliger, faktischer und folgenreicher Erlebnisse eine erhöhte Erzählwürdigkeit zu (Hühn o.J.: §26 zum Ereignistyp II). Damit werden also gravierende Ereignisse fokussiert, wie sie in der Risiko- und Sicherheitsforschung im Zentrum des Interesses stehen, anstelle von Prozessen, wie sie etwa in der Prekarisierungsforschung interessieren. Das soziale Setting des Forschungsinterviews ist fünftens noch in einer weiteren Hinsicht relevant, nämlich dem Adressat*innenbezug von Äußerungen. Denn die Interviewpartner*innen schneiden ihre Thematisierungen auf deren unmittelbare Adressat*innen, die Interviewenden bzw. Forschenden, zu (»recipient design«). Dies betrifft einerseits das »Was«. Sicherlich werden nicht die ›ureigensten‹ Ängste berichtet, sondern das, was Sozialwissenschaftler*innen mutmaßlich interessiert. In Bezug auf die empirische Emotionsforschung kommentiert Jack Katz eine methodisch-empirische Studie von Scherer und Team (2004), in der die Befragten über eine Emotion des Vortages berichten sollten, wie folgt: »Respondents understand that they are not on a therapy couch or babbling to themselves but are participating in a social-research project. […] The respondents may take for granted that Scherer et al. could not be interested in their night dreams of passionate encounters, the moments of absurdist fantasies they form while observing others in supermarket lines, the angry tirades that are occasioned by a colleague’s reference to the actions of a political leader. Issues of shame aside, much of emotional life will be neglected as respondents anticipate the sorts of things that respectable academics will not be interested in.« (Katz 2004: 612) Andererseits betrifft der Adressatenzuschnitt von Äußerungen auf die ›respektablen Forschenden‹ aber auch das »Wie«. Breuer problematisiert in dieser Hinsicht den Interviewbegriff, da er bei den Interviewpartner*innen Assoziationen zu (massen-)medialen Interviewsettings weckt »mit strikteren Frage-Antwort-Folgen und wenig narrativen Anteilen« (2010: 63). Vor diesem Hintergrund seien »intensive und empathische Besprechungen einer Thematik mit flexiblen Verlaufslinien schwer zu erreichen« (ebd.), weswegen er für den Gesprächsbegriff plädiert. Möglicherweise trug die Verwendung des Interviewbegriffs also neben einer in manchen Fällen unpersönlichen Beziehungsgestaltung dazu bei, dass der Leitfaden bzw. Fragebogen schnell abgearbeitet wurde. Als Teil dieser forschungsmethodisch nahegelegten unpersönlichen Beziehungsgestaltung habe ich auch den Fokus auf das theoretische, gewissermaßen unpersönliche, da nicht erfahrungsgebundene Wis-

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

sen analysiert. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass manche Interviewpartner*innen auch jenseits dieser konkreten Forschungsmethodik davon ausgegangen sein mögen, dass die Wissenschaftler*innen sich besonders für theoretisches Wissen interessierten (vgl. auch Sommer 2015: 116).

Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten Auf Basis der Ergebnisse dieses Kapitels sind einige Vorschläge für zukünftige Forschungen möglich. Ist es Ziel von Forschung, lebensweltliche Unsicherheit in themenoffener Weise zu erforschen, so bietet es sich hierzu an, erstens subjektivierende, emotionsorientierte Unsicherheitssemantiken wie Angst (vgl. auch Bergenholtz 1980) zu verwenden, die auf das ›Innere‹ der Subjekte zielen, und den Sicherheitsbegriff im Substantiv zu meiden, da er auf Externes, Objektives zielt. Zwar ist aus wissenschaftlicher Sicht die Vorstellung einer ausschließlichen ›Innerlichkeit‹ von Emotionen kritisch zu betrachten (Scheer 2016: 35f., Winkel 2006: 287), weshalb eine entsprechende soziologische Konzeption von Emotion problematisch ist. Davon unabhängig kann es aber in Anbetracht des gegenwärtigen sozialen Diskurses durchaus sinnvoll sein, im Interview für forschungspraktische Zwecke auf diese Konzeption zurückzugreifen, um das Forschungsinteresse so in den Alltagsdiskurs zu übersetzen, dass die Interviewpartner*innen das Anliegen der Forschenden verstehen und das interessierende Phänomen angemessen erforscht werden kann. Auch kann eingewendet werden, dass mit Rekurs auf Angst ein dem staatlichen Sicherheitsdiskurs entgegengesetzter psychotherapeutischer, individualisierender Diskurs evoziert würde (vgl. Furedi 2007: 1), der ebenfalls das interessierende Phänomen verfehlt. Doch kann mit Katz (2004) hierauf entgegnet werden, dass die Interviewpartner*innen sich darüber im Klaren sind, dass sie sich nicht auf der ›therapeutischen Couch‹ befinden, sondern in einem sozialwissenschaftlichen Forschungssetting. Ferner dürfte dem auch mein zweiter Vorschlag entgegenwirken, wenn nämlich von Anfang an sowie im Interviewverlauf den Interviewpartner*innen der interessierende lebens- bzw. alltagsweltliche Kontext verdeutlicht wird. Durch das Kriterium der subjektiven Relevanz und die Erfragung alltäglicher Erfahrungen und Praktiken anstelle abstrakt-theoretischen Wissens wird das scheinbar Normale zum Erzählwürdigen. Dem könnte auch ein lebensweltlich breiter Einstieg ins Interview, der noch ohne (Un-)Sicherheit als Framing auskommt, dienlich sein. Gerhold (2009: 86, 89) etwa fragt zunächst, was die Interviewten derzeit in ihrem Leben beschäftigt (s. auch Kap. 5.3.3). Auch ein breiterer Bezug zum Thema (Un-)Sicherheit wäre möglich, dass etwa zunächst nach allgemeinen Assoziationen zum Thema (Un-)Sicherheit gefragt wird (vgl. z.B. Kohner/Kovanic 2016, Tulloch/Lupton 2003, Zwick 2005). Drittens böte es sich bei alltagsweltlichem Interesse an, nicht nur thematisch, sondern auch über die Frageformulierung diese Ebene anzusprechen, indem auf einfache, alltagssprachliche Formulierungen

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geachtet wird (z.B. anstelle eines Begriffspools). Um den persönlichen Erfahrungen im Interview tatsächlich genug (Erzähl-)Raum zu gewähren, ist mein vierter Vorschlag, auf den Bereich persönliche Sicherheit zu fokussieren und Fragen zur allgemeinen Sicherheit außen vor zu lassen, auch wenn sich die Unterscheidung von persönlicher und allgemeiner Sicherheit inzwischen etabliert hat. Sollte die allgemeine Sicherheit doch im Interesse stehen, so wäre es angesichts pluraler Gesellschaften empfehlenswert, in den Frageformulierungen das interessierende Kollektiv ohne ethnischen bzw. methodologischen Nationalismus zu benennen. Diese Vorschläge sind nicht gänzlich neu, wie mehr als drei Jahrzehnte alte Empfehlungen für die Kriminalitätsfurchtforschung belegen (Ferraro/Grange 1987: 81). Auch haben einige Forschende diese und ähnliche Ideen schon umgesetzt. Wünschenswert ist, dass dies in Zukunft noch häufiger der Fall sein wird. Denn damit könnte, wie von Krasmann und Kolleg*innen (2014: 47) gefordert, die lebensweltliche Relevanz von Terrorangst, aber auch von anderen Ängsten erforscht werden ‒ die nicht angemessen durch das Risikobewusstsein bzw. kognitive Dimensionen wie die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten beschrieben wird, die mir in der Sicherheits- und Risikoforschung im Vordergrund zu stehen scheinen (vgl. auch Ekholm/Olofsson 2017). Über diese konkreten Vorschläge hinaus ist es in methodenreflexivem Interesse wichtig, zunächst die Grundlagen für fundierte methodische Entscheidungen zu verbessern, indem in empirischen Studien die Methodik transparent gemacht wird (Hawkes/Rowe 2008, Krasmann et al. 2014). Sodann könnten methodische Entscheidungen und ihre Effekte auf die Ergebnisse gründlicher als bisher analysiert werden. Hierfür wären auch andere Forschungszugänge als die in unserer »Interviewgesellschaft« (Atkinson/Silverman 1997, vgl. auch Gubrium/Holstein 2004) weitverbreitete Interviewforschung hilfreich. So könnten die Auswertung von Tagebüchern in sekundäranalytischer Hinsicht (Pelizäus-Hoffmeister 2008) und ethnographische Studien (z.B. Desmond 2015, Eisch-Angus 2009) dazu beitragen, alltagssprachliche (Un-)Sicherheitssemantiken sowie -verständnisse herauszuarbeiten. Gleiches gilt für korpuslinguistische Studien, die dieses alltagssprachliche Interesse quantifizierend untersuchen. Allerdings ist mir für den deutschsprachigen Kontext keine diesbezügliche aktuelle Studie bekannt, lediglich die inzwischen fast 40 Jahre alte Studie von Bergenholtz (1980). Im fremdsprachigen Kontext haben verschiedene Autor*innen solche Studien vorgelegt (Boholm 2017, Boholm/Möller/Hansson 2016, Hamilton/Adolphs/Nerlich 2007, Zinn 2010b und Zinn/McDonald 2016). Zusätzlich zu diesen semantischen wären diskursanalytische Studien (wie in Kreissl 2015b) interessant, die ‒ themenoffenen Interviews ähnlich ‒ medial relevante (Un-)Sicherheiten analysieren. Denn diese prägen Erzählwürdigkeiten mit und stellen eine kulturelle Ressource für Interviewerzählungen dar.

5 Warum wir nicht nach (Un-)Sicherheit, sondern nach Angst fragen sollten. Eine Methodenreflexion

Bedeutung für die vorliegende Arbeit In diesem Kapitel habe ich untersucht, wie themenoffene Interviews realisiert werden können, die möglichst das ganze Angst- bzw. »Risikowahrnehmungsuniversum« (Hawkes/Rowe 2008) abdecken. Auf den gewonnenen Erkenntnissen bauen die beiden folgenden Kapitel auf, insbesondere Kapitel 7. Denn die Analyse des kommunikativen Wissens über die Bedeutung von (Un-)Sicherheitssemantiken und weiterer Bedingungen eines offenen Verständnisses des Interviewthemas erlauben es, das Sampling für die beiden folgenden empirischen Kapitel zu gestalten, in denen ich mich mehr für das konjunktive, praktische Wissen interessiere. Für diese Fragestellungen habe ich Fälle ausgewählt, in denen das Forschungsinteresse weithin offen verstanden wurde bzw. in denen zumindest die lebensweltliche Relevanz des Erzählten deutlich wurde. Wie Roulston (2011b: 362) in Bezug auf »gescheiterte« Interviews herausstellte, hilft deren Analyse also, das Forschungsdesign und die Methodik anzupassen. Dennoch kann auch durch ein sorgfältiges Sampling die thematische Einschränkung des Datenmaterials nicht ganz überwunden werden.

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6 Emotion, Positionierung, Argument Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

Zeitdiagnosen der verängstigten Gesellschaft beruhen auf der Annahme, dass Angst relevant, ja gar höchstrelevant sei. Mit Beck gesprochen: »Angst bestimmt das Lebensgefühl« (2007a: 28). Doch welche Rolle spielt Angst empirisch betrachtet tatsächlich im lebensweltlichen Kontext? Ich gebe eine Antwort auf diese erste empirische »Gretchenfrage« meiner Studie, indem ich analysiere, was Sprechen über Angst und (Un-)Sicherheit bedeutet. Diese Spezifizierung der Fragestellung ist einerseits meinem sprachbasierten Datenmaterial geschuldet. Andererseits kann ich über die Beantwortung dieser Frage Heuristiken entwickeln, wie in der Datenauswertung Angst als Emotion rekonstruiert werden kann, d.h. wie sie von anderen Emotionen abgegrenzt werden kann, und wie verschiedene »Erlebnisqualitäten« (Blinkert/Eckert/Hoch 2015) von Angst analysiert werden können. Damit gebe ich zugleich eine Antwort auf meine methodologische »Gretchenfrage«, wie zu Angst (als Emotion) in der Datenauswertung geforscht werden kann, was wiederum ermöglicht zu rekonstruieren, welche Ängste relevant sind (Kap. 7). Im Folgenden werfe ich zunächst einen Blick auf bisherige Forschungen und zeige dort Anknüpfungsmöglichkeiten, aber auch Forschungslücken auf. Im Rahmen meiner Erläuterungen zur methodischen Fokussierung in diesem Kapitel (Kap. 6.2) mache ich u.a. einen Vorschlag, wie Angst und Ungerechtigkeitsempfinden bzw. Ärger ‒ eine andere zentrale Emotion in den Interviews ‒ heuristisch unterschieden werden können. Im Ergebnisteil rekonstruiere ich schließlich drei Bedeutungen dessen, was es heißt, über Angst bzw. (Un-)Sicherheit) zu sprechen: Erstens kann es um die Emotion Angst gehen, wobei sich diese Emotion in unterschiedlich intensiver Weise im Datenmaterial dokumentiert. Hierfür untersuche ich die Pole des Spektrums der Erlebnisqualitäten, d.h. k(l)eine sowie große Ängste in Bezug darauf, was sie kennzeichnet (Kap. 6.3). Doch es können auch stärker kommunikative Funktionen verfolgt werden: Zweitens kann es um eine positive Selbstpositionierung gehen, indem die Interviewpartner*innen die ›Ängste‹ der Anständigen für sich reklamieren (Kap. 6.4). Drittens nutzen sie die Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit als Argument, um ihren politischen Forderungen

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Nachdruck zu verleihen (Kap. 6.5).1 Abschließend bilanziere ich die Ergebnisse kurz und beleuchte sie hinsichtlich ihrer Bedeutung für weitere Forschungen und meine eigene Forschung (Kap. 6.6).

6.1

Bisherige Forschungen: spezifische Nutzungsweisen und spezifische Themen

In Kapitel 2 habe ich bereits verschiedene Anknüpfungsmöglichkeiten der Sociology of Risk and Uncertainty für die hier verfolgte Fragestellung vorgestellt. Diese fasse ich im Folgenden kurz zusammen und ergänze weitere empirische Studien aus anderen Forschungsfeldern, die Antworten auf die Frage geben, welche Rolle Angst lebensweltlich spielt bzw. was Sprechen über Angst bedeutet. Im ersten Schritt gehe ich auf die Framing-Frage ein bzw. inwiefern Risiko und Angst lebensweltlich relevante Deutungsrahmen oder Erfahrungen darstellen. Im zweiten Schritt geht es im Anschluss an Doing Identity und Doing Morality um den Nutzen von Risikokommunikation für die Sprechenden. Der anschließende dritte Schritt bündelt die offenen Fragen.

Framing oder Risiko bzw. Angst als lebensweltlich (ir-)relevante Erfahrung Die Frage, inwiefern Angst eine lebensweltlich relevante Erfahrung darstellt oder nicht, ist in der deutschsprachigen Sicherheitsforschung eine weithin offene Frage, wie z.B. Susanne Krasmann und Kolleg*innen als Resultat ihrer Metaanalyse zu Terrorangst schreiben: »Der derzeitige Forschungsstand lässt kaum Aussagen darüber zu, wie präsent die perzipierte Bedrohung durch terroristische Anschläge im alltäglichen Leben der Befragten ist […]. In diesem Sinne sollte die Sicherheitsforschung bei der Analyse der lebensweltlichen Relevanz der terroristischen Bedrohungswahrnehmung ansetzen.« (Krasmann et al. 2014: 47) In den in Kapitel 2 vorgestellten Ansätzen wurde die Frage der lebensweltlichen Relevanz zum einen im Hinblick auf unterschiedliche soziale Verwundbarkeiten thematisiert, womit verschiedene soziale Ungleichheiten in ihrer materiellen Dimension angesprochen wurden (Olofsson/Rashid 2011a und 2011b, Olofsson/Öhman 2015). Auch Beck selbst korrigierte seine These, dass Smog demokratisch sei, 1 Dabei lässt sich die Unterscheidung von Angst (Repräsentanz) einerseits und Positionierung und Argument (Performanz) andererseits nur analytisch in dieser klaren Form treffen, da Sprechen im Interview und darüber hinaus immer »Repräsentanz (Wirklichkeitsdimension) und Performanz (Darstellungsfunktion)« (Kruse 2015: 40) beinhaltet (vgl. auch Lucius-Hoene/Deppermann 2004b und Scheer 2016). Entsprechend können sich die rekonstruierten Muster in einem Fall empirisch überlagern oder im Verlauf eines Narrativs bzw. eines Interviews changieren. In der Regel war es aber möglich, eine Bedeutung zu rekonstruieren, die jeweils im Vordergrund steht.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

dahingehend (Beck 2008, Beck/Poferl 2010). Zum anderen wurde auch ohne dezidierten Blick auf ungleiche soziale Positionen gefragt, welche Bedeutung Angst bzw. Risiko lebensweltlich zukommt und wie dies beforscht werden kann. Diese Fragen wurden bisher in verschiedener Hinsicht diskutiert. Insbesondere Henwood und Kolleg*innen sowie Wilkinson (Kap. 2.4) betonen in ihren reflexiven Ansätzen die Notwendigkeit zu fragen, ob Risiko überhaupt ein alltagsweltlich relevantes Phänomen (bzw. Framing) darstellt, und fordern, den zu beschreibenden Forschungsgegenstand nicht durch die Forschungsmethoden zu konstituieren und die damit erzeugten Ergebnisse als soziale Wirklichkeit misszuverstehen (vgl. auch Smith et al. 2006: §15). Ähnlich diskutieren dies auch Burzan, Kohrs und Küsters in der Prekarisierungsforschung und sind kritisch, ob die Frage bereits ein Unsicherheitsempfinden voraussetzen sollte, da ein solches »nicht ungebrochen unterstellt werden kann« (2014: 28). Daher setzt Henwood (z.B. Henwood et al. 2008) auf epistemische und methodologische Reflexion, wenn sie fordert, die Framings von Forschenden und Beforschten auch hinsichtlich ihrer NichtPassungen zu reflektieren. Der Debatte um alltagsweltliches und wissenschaftliches Framing ähnelt die in der Kriminalitätsfurchtforschung behandelte Frage, welche Emotion überhaupt ›erhoben‹ wird. Emily Gray, Jonathan Jackson und Stephen Farrall stellen entsprechend die Frage: »If we were to let participants speak in their own language would they use the term fear and if not, how would they describe their feelings?« (2008: 14). Ähnlich wie in der zuvor skizzierten Debatte in der Sociology of Risk and Uncertainty geht es hier um die Frage, ob Forschung Artefakte schafft. Denn wenn in empirischen Studien nicht danach gefragt wird, wie die Interviewten selbst ihre Gefühle bezeichnen, sondern wenn wie in Kriminalitätsfurchtforschungen und darüber hinaus häufig das einzig relevante abgefragte Gefühl Angst ist, dann riskiert dies Artefakte in Form der Überschätzung von Kriminalitätsfurcht. Denn es ist anzunehmen, dass die Studienteilnehmer*innen unter das abgefragte Label der Furcht oder Sorge auch andere Emotionen subsumieren, etwa eine leichte Besorgnis oder Unzufriedenheit (ebd.: 14f.). Auch andere Forschende haben auf dieses methodische Problem aufmerksam gemacht und betonen speziell die Rolle von Ärger, die sie ihren empirischen Studien nach für die relevantere Emotion in Bezug auf Kriminalität erachten als Furcht (Ditton/Bannister et al. 1999, Ditton/Farrall et al. 1999, Farrall 2004). Die übliche Fokussierung auf Furcht in der Kriminalitätsfurchtforschung ist daher problematisch (dazu auch Kap. 8.2). Im Anschluss an die Frage, welche Emotion überhaupt relevant ist, lässt sich der Kriminalitätsfurchtforschung noch eine andere wichtige Differenzierung entnehmen, nämlich die nach der Intensität und Häufigkeit des jeweiligen Emotionserlebens (Gray/Jackson/Farrall 2008: 14f.). In einem weiteren Diskussionsstrang zur alltagsweltlichen Bedeutung von Angst bzw. Unsicherheit wird betont, dass die in der Forschung und im poli-

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Gesellschaft in Angst?

tischen Diskurs anzutreffende Annahme, dass Angst bzw. Unsicherheit negativ und Sicherheit positiv bewertet ist, nicht haltbar ist. Verschiedene Autor*innen legen auf Basis ihrer empirischen Forschungen eine differenziertere Perspektive nahe. In der Sociology of Risk and Uncertainty arbeiten Deborah Lupton und John Tulloch (Kap. 2.3.1) verschiedene »Risiko-Epistemologien« heraus, darunter eine Normalisierung gemäß dem Motto »Risk is Part of Your Life« (2002b) und positive Bedeutungen, wonach das Leben ohne Risiko langweilig wäre (2002a). Das Phänomen des gezielten Aufsuchens von Risiken bearbeiten auch Stephen Lyng (Lyng/Matthews 2007) und Jens Zinn (2015a). Ähnliche Ergebnisse werden aus der Kriminalitätsfurchtforschung berichtet. Kriminalität als Störung der Alltagsroutine muss nicht immer negativ im Sinne einer Katastrophe gedeutet werden, sondern kann auch lediglich ein kleines Ärgernis, gar eine erwünschte Abwechslung oder die Möglichkeit darstellen, Selbstbestätigung zu erfahren und Handlungsfähigkeiten auszuweiten (Hanak/Stehr/Steinert 1989, Stehr 2013). Ebenso ist ein gewisses Maß an kriminalitätspräventivem Handeln im Alltag nicht gleichbedeutend mit Angst, sondern kann Teil einer normalen, weitsichtigen Routine sein und von den Akteur*innen selbst entsprechend deproblematisierend bewertet werden (Gray/Jackson/Farrall 2008, van den Herrewegen 2012a und 2012b). Aus dieser knappen Literatursichtung lässt sich der Eindruck gewinnen, dass Angst als lebensweltlicher Deutungsrahmen bzw. als Emotion eventuell weniger relevant ist als in bisherigen Forschungen und Zeitdiagnosen angenommen. Dies gilt es nun in einer thematisch übergreifenden Studie genauer zu untersuchen. Darüber hinaus zeigte sich die analytische Komplexität von Angst-, Risiko- und Sicherheitsforschung, die im Folgenden noch gesteigert wird.

Doing Identity, Doing Morality oder Nutzen von Risikokommunikation Denn Kommunikation bspw. über Risiken kann nicht nur der Informationsübermittlung subjektiver Wahrnehmungen und Wertungen dienen, sondern auch anderweitig genutzt werden, wie Jones (2013) verdeutlicht. Sprechen wird dabei selbst zu einer Handlung. Die soziale Funktionalität von Risikokommunikation wurde in der Sociology of Risk and Uncertainty insbesondere in Mary Douglas’ kulturtheoretischem Ansatz sowie in den daran anknüpfenden soziokulturellen Ansätzen von Lupton, Olofsson und Henwood herausgearbeitet (Kap. 2). Risiko wird hier nicht als neutrales Konzept gesehen, ungewisse mögliche Zukünfte zu beschreiben, sondern als Teil und Medium moralischer Ordnungen. Der Rekurs auf Risiko kann somit in Bourdieus Sinne strategisch, d.h. bewusst sowie vorbewusst (Lamaison/Bourdieu 1986), genutzt werden, um eigene Positividentitäten und negative Fremdidentitäten zu konstruieren und damit Ein- und Ausschlüsse zu legitimieren. In Bezug auf die Untersuchung konkreter Sprechakte, wie sie mir in den

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

Interviews begegnen, ist das Doing Risk-Konzept von Olofsson und Kolleginnen zentral, das mit Doing Morality, Doing Difference und Doing Identity verbunden ist (Kap. 2.3.2). Während die bisherigen Arbeiten dazu weithin konzeptuellen Charakter haben, liegen bereits andere Studien vor, die dieses Phänomen empirisch in den Blick nehmen. Exemplarisch sei auf wenige Beispiele im Bereich Unsicherheit, Risiko und Angst eingegangen. Für den Bereich berufsbiographischer und damit zusammenhängender Statusunsicherheiten stellen Burzan, Kohrs und Küsters fest, dass die Darstellungen der Interviewten »ganz offensichtlich mit Berufsgruppen-Normen« korrelieren (2014: 171). Jones und Chandlin (2003) halten als eine Erkenntnis aus ihrer Forschung zu sexuellen Erfahrungen schwuler Männer fest, dass diese nicht nur vorangegangene Ereignisse darstellen, sondern gleichzeitig eine erwünschte soziale Identität und die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen herstellen. Die Verbindung zu Fragen der Macht haben v.a. kritische Kriminolog*innen bzw. Vertreter*innen einer sozialkonstruktivistischen Soziologie sozialer Probleme wie Klimke (2008) und Stehr (1998, 2002, 2004, 2008, 2016) herausgearbeitet. Sie haben gezeigt, dass über Kriminalität zu reden nur teilweise auf Kriminalitätsfurcht zurückgeht. Vielmehr eignen sich Kriminalitätsgeschichten dazu, Moral darzustellen bzw. zu verhandeln und sich selbst als rechtschaffen zu präsentieren. Dies legitimiert auch eigene Privilegien. Angst- bzw. (Un-)Sicherheit ist daher auch als kulturelle Ressource zu verstehen. Außerdem trägt der konkrete Interaktionskontext im Interview zur Nutzung dieser Ressource als Mittel der Selbst- und Fremdpositionierung bei, was ebenfalls berücksichtigt werden muss (vgl. Lee/Roth 2004, Scholz 2003, Steinert 1984). Denn wenn das Doing Identity als situierte Aktivität gedeutet wird, dann ist der Interviewkontext relevant, nicht zuletzt für den Adressatenzuschnitt der (Identitäts-) Äußerungen.

Offene Fragen Die hier vorgestellten Ansätze geben wichtige Hinweise für die Beantwortung meiner Fragestellung, indem sie den Blick dafür schärfen, dass Forschende an der Ergebnisproduktion mitbeteiligt sind und Sprechen mehr bedeutet als über Ängste zu berichten. Allerdings sind auch Fragen offengeblieben. Erstens steht eine umfassende Analyse bezüglich der Frage, was über Angst und (Un-)Sicherheit zu sprechen bedeutet, noch aus. Bisher wurden entweder spezifische Nutzungsweisen (relevante oder irrelevante Erfahrung vs. Identitäts- und Moralarbeit) oder die Nutzungsweisen von spezifischen Unsicherheitsthemen (z.B. Kriminalität) analysiert. Welche verschiedenen Nutzungsweisen lassen sich nun aber in einer themenoffenen bzw. -übergreifenden Studie rekonstruieren und wie können die verschiedenen Nutzungen empirisch voneinander differenziert werden

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Gesellschaft in Angst?

(vgl. Smith et al. 2006: §54)? Und mittels welcher anderer Angst- bzw. Unsicherheitsthemen wird in den vorliegenden Daten welche Art von Moral- und Identitätsarbeit betrieben? Zweitens bleibt offen, was Sprechen über Angst bzw. (Un-)Sicherheit speziell im deutschsprachigen Kontext bedeutet, den die bisher zitierten Ansätze bzw. Studien nur teilweise abdecken. Lassen sich die Ergebnisse auf diesen anderen Kontext und auf andere Begriffe (Sicherheit, Angst) übertragen, die eine andere Begriffsgeschichte haben?

6.2

Methodische Fokussierung: Material, Analyseheuristiken und Angst/Ärger-Differenzierung

Material Die Auswertungen in diesem Kapitel basieren auf 30 Interviews (s. Anhang B), in denen das Forschungsinteresse weithin wie intendiert verstanden wurde (vgl. Kap. 5) bzw. in denen zumindest die lebensweltliche Relevanz des Erzählten deutlich wurde. Hierbei interessiert mich prinzipiell der gesamte Interviewverlauf. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei z.B. der Struktur-Lege-Technik zu, mit der am Ende des themenoffenen Teils sowie am Ende des Teils mit Themenvorgaben die Interviewpartner*innen die Themen nach Bedrohlichkeit anordnen und dies begründen sollten. Hieran werden themenübergreifende Relevanzen deutlich. Ebenso stellen die standardisierten Fragen im Interview eine interessante Datenquelle dar, wenn sie kommentiert wurden. Dies betrifft insbesondere die Skalenfragen, in denen eine generalisierende Bewertung der (subjektiven) Unsicherheit abgegeben werden sollte.

Analyseheuristiken In Bezug auf die Analysehaltung ist die intensive Beschäftigung mit dem Interviewgeschehen zentral, wie sie durch mein Analyseverfahren, das integrative Basisverfahren, ermöglicht wird. Als konkrete Analyseheuristik eignet sich erstens eine Art Goffman’scher Framing-Analyse, wie sie von Henwood und Kolleg*innen, aber auch von Alaszewski und Coxon (2008) nahegelegt wird. In Goffmans Worten geht es dabei um Folgendes: »I assume that when individuals attend to any current situation, they face the question: ›What is it that’s going on here?‹ Whether asked explicitly, as in times of confusion or doubt, or tacitly, during occasions of usual certitude, the question is put and the answer to it is presumed by the way in which the individuals then proceed to get on with affairs at hand (Goffman 1975, p. 8)« (Alaszewski/Coxon 2008: 417).

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

In Anlehnung daran interessiert mich, welche Rahmungen in den Erzählungen der Interviewpartner*innen erkennbar sind: Geht es um Angst und (Un-)Sicherheit oder um etwas anderes? Das Framing-Konzept wird weithin kognitiv konnotiert. Dies weiterführend interessiere ich mich zweitens für dabei rekonstruierbare Emotionen (zur praxeologischen Emotionsanalyse s. Kap. 3.4.2). Da ich spezifisch wissen will, welche Rolle Angst spielt, so ich sie als Emotion rekonstruiere, gilt es drittens auf Hinweise bezüglich deren »Erlebnisqualität« (Blinkert/Eckert/Hoch 2015) zu achten. Im Projekt hatten wir die Frage der Erlebnisqualität hinsichtlich der Unterscheidung von entscheidungsabhängigen, durch eigenes Handeln beeinflussbaren Risiken und entscheidungsunabhängigen, d.h. unbeeinflussbaren Gefahren analysiert (Bonß 1995, Luhmann 1990 und 1991). Methodologisch reformuliert geht es hier um Agency, d.h. wie Handlungs- und Wirkmächtigkeit inklusive Ohnmacht von den Interviewpartner*innen konstruiert wird (allgemein: Helfferich/Kruse 2005 und 2007, Helfferich 2012, speziell mit Bezug zu Unsicherheit: Sander 2012). Mögliche Dimensionen vielfältiger Agency-Formen zeigen sich etwa im Kontinuum aktiv-passiv und in der Frage, wer oder was agentiviert wird, d.h. mit Agency verbunden wird. Dies können z.B. Artefakte, Gruppen oder ein anonymes »man« sein. Agency kann dabei in »verschiedenen Färbungen von z.B. Freiwilligkeit, Effektivität, Reaktivität/Initiative, Intentionalität etc.« auftreten (Helfferich 2012: 14). Die Bedeutung der Agency-Analyse demonstriert auch die Studie von Pelizäus-Hoffmeister zu biographischer Unsicherheit bei Künstlerinnen: »Denn je nachdem ob ihnen Unsicherheit beispielsweise als Gefahr oder als Risiko erschien, begriffen sie die unsichere Welt einmal als Bedrohung, das andere Mal als eine Herausforderung für die eigene Handlungskompetenz.« (Pelizäus-Hoffmeister 2008: §33) Der Agency-Analyse stelle ich in meiner Fassung von Erlebnisqualität zudem die Analyse von verschiedenen anderen Relevanzmarkern zur Seite, die Hinweise darauf geben, inwiefern Angst lebensweltlich eine Rolle spielt. Dies umfasst Hinweise zur Intensität und Häufigkeit der Emotion im Alltag (vgl. Gray/Jackson/Farrall 2008), anderweitige Mittel der Relevanzhochstufung und -zurückstufung (Gülich 2007) sowie Hinweise zum praktizierten (oder nicht praktizierten) ›Sicherheitsmanagement‹.2 Viertens kommt in Bezug auf das Doing Morality und Doing Identity die bereits im vorigen Kapitel verwendete Positionierungsanalyse (Lucius-Hoene/Deppermann 2004a) inklusive Selbst- und 2 In Bezug auf die Relevanzmarker ist dabei unbedingt der Fallkontext zu beachten: Je nach generellen Thematisierungsweisen der Interviewpartner*innen kann z.B. »ein bisschen Angst« Unterschiedliches bedeuten. Bei Interviewpartner*innen mit de- bzw. entproblematisierender Thematisierungsweise (z.B. Heidi Flieder) interpretiere ich dies als Relevanzhochstufung, bei Interviewpartner*innen mit dramatisierender Darstellungsweise (z.B. Werner Biermann) als Relevanzherabstufung.

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Gesellschaft in Angst?

Fremdpositionierungen zum Einsatz. Während dort allerdings die Kategorisierungen seitens der Forschenden im Mittelpunkt standen, geht es nun um die der Interviewten mitsamt ihrer Bewertungen. Denn Kategorien sind häufig nicht neutraler Art (Bergmann 2010: 163), sondern Teil der sozialen und symbolischen Ordnung der Gesellschaft, die wesentlich eine moralische Ordnung ist (Jayyusi 2014 [1984]). Darauf bezugnehmend frage ich, wie die Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit hierbei verwendet wird. Fünftens stellen wie im vorigen Kapitel Irritationen im Sinne von »gescheiterten« Interviews eine Analyseheuristik dar. Green (2009) folgend ist zwar davon auszugehen, dass die meisten Interviewpartner*innen in einem entsprechend gerahmten Interview problemlos »risk talk« betreiben können, doch dies nicht auf die lebensweltliche Relevanz dieses Deutungsrahmens schließen lässt (vgl. Wilkinson 2010: 68). Auch in unserer Studie setzten wir Unsicherheit als relevant voraus, sodass im Prinzip Thematisierungen nur ausgehend von Unsicherheitsthemen möglich waren. Dabei nahmen wir an, dass alle Interviewpartner*innen für sie relevante Unsicherheitsthemen nennen würden.3 Entsprechend erkenntnisfördernd ist es daher, wenn Brüche zwischen dieser Erwartung und den Beiträgen der Interviewpartner*innen zu Tage treten. In diesem Sinne resümieren Henwood und ihre Kolleg*innen ihre Erfahrungen aus drei empirischen Projekten zur Risikowahrnehmung: »[I]t is important to recognise that such differences are not simply a problem but an opportunity. Accordingly, all three research teams concur with Griffin (2007) that it is important to focus analytically on those occasions when participants’ and researchers’ framings differ for the insights that these moments can afford.« (Henwood et al. 2008: 435)

Differenzierung von Angst und Ärger bzw. Unsicherheit und Ungerechtigkeit Um Angst als Emotion nicht zu reifizieren, ist es wichtig, sie von anderen Emotionen unterscheiden zu können (vgl. auch Bröckling 2016: 6). In Kapitel 3 habe ich bereits meinen generellen Zugang der Emotionsanalyse vorgestellt, den ich hier für die Rekonstruktion spezifischer Emotionen konkretisiere. Zentral für die Emotionsanalyse ist eine Bestimmung der jeweiligen Emotionen hinsichtlich ihrer Merkmale, sodass untersucht werden kann, inwiefern sich diese Merkmale im Material dokumentieren bzw. auf welche Emotion die beobachteten Merkmale hinweisen. Dabei ist die Emotionsbenennung der Interviewpartner*innen selbst unerheblich. 3 Diese Erwartung unsererseits war für die Interviewpartner*innen als Erwartungserwartung präsent. Marko Kaiser etwa antwortet auf die gemäß Leitfaden gestellte Themenfrage, ob es Gefahren und Risiken gebe, die seine persönliche Sicherheit wirklich bedrohten: »Da gibt’s bestimmt ein paar.« S. auch Kap. 6.3.1.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

Sie können Ängste für sich reklamieren, ohne dass sich Angst als Emotion in ihren Thematisierungen dokumentiert. Ebenso können sie auf (Un-)Sicherheitssemantiken, wie ich sie in Kapitel 5 analysiert habe, verzichten und dennoch Angst ausdrücken. Aufgrund des (Un-)Sicherheits-Framings der Studie ist diese zweite Möglichkeit zwar unwahrscheinlich und tatsächlich selten, trifft aber im Interview mit Cemal Demir besonders eindrücklich zu: Wenn es um seine persönliche Situation geht, verwendet er keinerlei (Un-)Sicherheitssemantiken, sondern spricht v.a. von Stress. Zugleich dokumentieren sich in seinen Beiträgen große Ängste, gar Angst als Lebensgefühl (s. Kap. 6.3.2). Was die rekonstruierten Emotionen angeht, kam ich im Verlauf meiner Analyse zum Ergebnis, dass neben Unsicherheitsempfinden bzw. Angst verschiedene Spielarten von Ungerechtigkeitsempfinden bzw. Ärger eine bedeutende Rolle in den Interviews spielen.4 Wie diese (und andere) Emotionen analytisch genau zu unterscheiden und zu fassen sind, ist nicht eindeutig; in der Emotionssoziologie gibt es kein einheitliches Klassifikationssystem (Thamm 2006, vgl. auch Turner 2009). Meine Art zu unterscheiden lehnt sich zum einen an die emotionssoziologische Studie von Rackow, Schupp und von Scheve (2012) an, die anhand einer Sekundäranalyse von Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) das Auftreten von Angst und Ärger in Abhängigkeit von sozialer Ungleichheit untersuchen. Hierfür liefern sie für beide Emotionen eine explizite Definition. Zum anderen rekurriere ich auf Publikationen aus der Studie »Socio-economic change, individual reactions and the appeal of the extreme right« (SIREN), in denen die Forschenden ebenfalls beide Emotionen beachten und sich um die begriffliche Klärung von Ungerechtigkeitsempfinden bemühen (Flecker et al. 2004, Flecker/Krenn 2004 und 2009, Hentges/Flecker/Balazs 2008). Angst habe ich bereits als negative Emotion definiert, die sich durch ihren zeitlichen Bezug näher spezifizieren lässt: Es geht um eine ungewisse Zukunft, für die etwas als negativ Bewertetes erwartet wird. Die Negativwertung verweist auf eine sozialmoralische Ordnung, die definiert, was als gutes Leben und was als schlechtes Leben gilt, d.h. was befürchtenswert ist (Kap. 1.3). Auch Ärger bezieht sich auf soziale Ordnungen und Vorstellungen vom guten Leben und ist eine negativ erlebte Emotion, die »als Reaktion auf unerwünschte Ereignisse verstanden« wird, dabei aber im Vergleich zu Angst »stärker auf die Blockierung eigener Wünsche 4 Genau genommen gibt es in der einschlägigen Literatur keine Emotion, die mit Ungerechtigkeitsempfinden bezeichnet wird; aber es gibt gleichzeitig auch keine Übereinkunft bezüglich der Anzahl, Benennung und Definition von Emotionen (s.o.). Ich nutze diesen Begriff daher aus Ermangelung eines besseren als vorläufigen Begriff und verwende ihn synonym zu Ärger. Genauer gesagt stellt Ärger meiner Ansicht nach ebenso wie Wut eine Spielart von Ungerechtigkeitsempfinden dar. Die genauen Bezüge gälte es aber noch zu klären, was in der mir vorliegenden Literatur aber noch nicht geschehen ist.

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und Ziele« verweist und »in der Regel mit Feindseligkeit und einem Handlungsimpuls zur Beseitigung des Ärgerobjekts einher[geht]« (Rackow/Schupp/Scheve 2012: 394). Während sich Angst jedoch zentral auf die Zeitdimension der ungewissen Zukunft bezieht, verweist Ärger mehr auf die Gegenwart und Vergangenheit und rückt zudem die Sozial- und Systemdimension in den Vordergrund. Denn Ärger und andere Formen von Ungerechtigkeitsempfinden beruhen auf der »Frustration legitimer Erwartungen im Hinblick auf verschiedene Aspekte der Arbeit, der Beschäftigung, des sozialen Status und des Lebensstandards« (Flecker/Krenn 2009: 328). Was als legitime Erwartungen gilt, ist durch sozialmoralische Ordnungen geprägt; was als Verletzung dieser Ordnung und als Ungerechtigkeit gilt, wird im sozialen Vergleich mit (konstruierten) ›Anderen‹ deutlich (Sozialdimension), die, so die Klage, weniger leisten, aber dennoch – insbesondere vom Sozialstaat – mehr bekommen (Systemdimension). Wie nun die Gerechtigkeitsnormen genau ausgestaltet sind, was sich also hinter der allgemeinen Wertidee der Gerechtigkeit genau verbirgt, ist eine empirisch zu beantwortende Frage. Bisherige Studien zeigen, dass es verschiedene Vorstellungen von Gerechtigkeit gibt. François Dubet bspw. hat in seiner Studie über Gerechtigkeitsempfinden im Arbeitsleben drei zentrale Prinzipien herausgearbeitet, eines davon ist die Anerkennung individueller Leistung (dazu Degele/Winker 2011). Was Leistung selbst wiederum bedeutet, ist ebenfalls vielfältig, wie Sighard Neckel und Team (Neckel/Dröge/Somm 2008) in ihrer qualitativen Studie zu Leistungskonzepten herausgearbeitet haben. Trotz dieser Differenzen fungiert Leistung als sozial geteilter Deutungsrahmen, was für diese Arbeit wichtig ist. Mit dieser Unterscheidung von Angst und Ärger lassen sich nun die Interviewäußerungen daraufhin untersuchen, was sich für mich als Interpretin darin an Emotionen dokumentiert. Dabei ist es wie erwähnt möglich, dass die Emotionsbenennung der Interviewpartner*innen und meine Emotionsrekonstruktion auseinanderfallen (dazu insbesondere Kap. 6.5).5

6.3

Emotion: unterschiedliche Erlebnisqualitäten von Angst

Aufbauend auf diesen Überlegungen, wie Angst als Emotion rekonstruiert werden kann, geht es im Folgenden darum, welche Rolle Angst spielt, wenn sie für mich als Emotion erkennbar wird. Ich fokussiere auf die Enden eines Kontinuums an Erlebnisqualitäten: auf keine bzw. kleine Ängste (Kap. 6.3.1) und große Ängste (Kap. 6.3.2). Dabei mache ich jeweils zunächst transparent, was k(l)eine Ängste und was 5 In Kapitel 5 hingegen interessiere ich mich für das kommunikative Wissen, sodass ich dort die Rahmungen der Interviewpartner*innen übernahm.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

große Ängste ausmacht. Diese zunächst stark deskriptiven Analysen liefern im Ergebnis einen weiteren Hinweis dafür, dass die Omnirelevanzannahme von Angst nicht haltbar ist, wie ich in der anschließenden Zwischendiskussion festhalte. Dort ordne ich meine Ergebnisse auch ein (Kap. 6.3.3).

6.3.1

K(l)eine Ängste: Entproblematisierungen und Normalisierungen

K(l)eine Ängste dokumentieren sich auf zwei zentrale Weisen: in Entproblematisierungen von Unsicherheit generell bzw. von bestimmten Unsicherheitsthemen sowie in alltagsweltlichen Normalisierungen gewisser Angstniveaus.

Entproblematisierungen: Abgrenzungen vom Interview-Framing und von Bewusstheit Entproblematisierungen wiederum lassen sich ebenfalls in zweierlei Hinsicht ausmachen: zum einen, wenn sich Interviewpartner*innen vom Interview-Framing abgrenzen, das eine hohe Bedeutung von Unsicherheit voraussetzt. Darauf gehe ich zunächst ein. Zum anderen grenzen sich manche Interviewpartner*innen aber auch von der alltagsweltlichen Bedeutung bestimmter Unsicherheitsthemen ab, die sie selbst ins Interview einbringen oder die die Interviewenden im Zuge der Themenvorgaben nennen. Bei dieser Abgrenzung wird deutlich, dass es wichtig ist, zwischen Unsicherheitsbewusstsein und Unsicherheitsempfinden (Angst) zu unterscheiden. Abgrenzung: Irrelevanz des Interview-Framings Der erste Entproblematisierungsmodus betrifft das Interview-Framing an sich. Wie im Methodikteil (Kap. 4.1) bereits dargestellt entschieden wir uns dafür, Unsicherheiten ins Zentrum des Interviews zu rücken. Wie aus der Analyse des Leitfadens bzw. Fragebogens hervorgeht (Kap. 5), gingen wir offenbar auch davon aus, dass Unsicherheiten nicht nur ein Problem, sondern auch ein relevantes Phänomen für die Interviewpartner*innen darstellen. Davon grenzten sich jedoch einige Interviewpartner*innen explizit oder implizit gänzlich oder teilweise ab und entproblematisierten damit Unsicherheit. Unsicherheit im Allgemeinen und Angst im Speziellen werden dadurch nicht nur dezentriert, sondern erscheinen teils sogar als irrelevant. Zur Veranschaulichung greife ich auf das Interview mit Dirk Koch zurück. Dieser spricht zwar in der Themenfrage zur persönlichen Sicherheit zu Interviewbeginn an, dass es Risiken gibt, und nennt Beispiele hierfür, relativiert deren Relevanz aber durch Beliebigkeitsmarkierungen (»eventuell«, »ach weiß der Geier«) und negiert sie schlussendlich weithin: »Was bedroht mich persönlich eventuell, pah, fällt mir jetzt spontan nix ein, gibt immer irgendwelche Risiken denk ich, Augen auf im Straßenverkehr, sicheres Schuhwerk, ach weiß der Geier. Also das is ziemlich komplex, ich denk jetzt überwiegend nein.«

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Gesellschaft in Angst?

Der Interviewer, der qua Forschungsdesign an Unsicherheitsthemen orientiert ist, greift diese Themen dennoch auf und stellt die entsprechenden themenbezogenen Nachfragen. Auch hierbei grenzt sich Dirk Koch von deren Relevanz ab. Seine Abgrenzungsbemühungen steigert er, als er die Themen im Rahmen der StrukturLege-Technik nach ihrer Bedrohlichkeit ordnen soll: DK: Ich fühl mich nich bedroht. Also, I: Oder von, in Ihrem Sicherheitsempfinden beeinträchtigt, bisschen sanfter formuliert sozusagen. DK: Ich fühl mich nicht beeinträchtigt und ich fühl mich auch nicht bedroht. Auch die Relevanzherabstufung des Interviewers von der Sicherheitsbedrohung zur Sicherheitsbeeinträchtigung entspricht Dirk Kochs Empfinden nicht: Er beharrt auf einer völligen Irrelevanz von Bedrohtheitsgefühlen. Diese zeigen sich auch in seiner Abgrenzung von Schutzmaßnahmen: I: Wie schützen Sie sich im Straßenverkehr? DK: Na gar nich, ich geh ausm Haus und fertig. Diese Irrelevanz von Angst als Emotion zieht sich durchs Interview und dokumentiert sich verschiedentlich. Auch im zweiten Teil des Interviews mit den Themenvorgaben, welcher manchen Interviewpartner*innen das breite Spektrum des Unsicherheitsbegriffs vor Augen führte und dadurch (weitere) relevante Unsicherheitsthemen hervorbrachte, ändert sich nichts an Dirk Kochs Äußerungen, dass er sich durch nichts bedroht fühlt. Nicht immer erfolgt die Abgrenzung von Unsicherheitsempfinden so dezidiert und interviewübergreifend wie bei Dirk Koch, Berta Wagner und Nico Ludwig. Sie kennt auch Zwischentöne, wenn etwa nur bestimmte Themen nicht als Angstthemen erscheinen oder wenn Problematisierungen nicht auf Sicherheitsprobleme verweisen, sondern auf andere Probleme. David Hesse etwa schildert, wie er auf einer Radtour im Urlaub unvermittelt ein Atomkraftwerk passierte. Diese Nähe beschäftigt ihn emotional, sie bewegt ihn »innerlich so sehr«, jedoch nicht im Sinne von Angst, denn »im Alltag fühl ich meine Sicherheit jetzt irgendwie durch die Gefahr atomarer Unfälle nicht beDROHT.« Dennoch plädiert er für den »Ausstieg aus der Atomenergie« und begründet dies mit einem religiösen bzw. politischen Verantwortungsmotiv. Dass scheinbare Sicherheitsmaßnahmen auch anders motiviert sein können, zeigt sich auch in weiteren Interviews. Rainer Kretschmann z.B. als selbstständiger Landwirt überlegt, für sein Maisfeld-Labyrinth eine Videoüberwachungsanlage zu installieren. Er ärgert sich über hinterlassenen Müll und will damit die Besucher*innen zu mehr Sauberkeit anhalten.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

Abgrenzung: Unsicherheitsbewusstsein vs. Unsicherheitsempfinden Angst als Emotion wird in den Interviews noch in einer zweiten Hinsicht in ihrer Bedeutung relativiert, nämlich wenn die Interviewpartner*innen ein ausgeprägtes Unsicherheitsbewusstsein zum Ausdruck bringen, mit dem allerdings kein gleichermaßen ausgeprägtes Unsicherheitsempfinden (d.h. Angst) einhergeht. Ein Wissen über objektive Bedrohungen ist demnach nicht ausreichend für das Empfinden von Angst. Für David Hesse etwa hat die Nähe zu einem Atomkraftwerk »so wirklich ins BeWUSSTsein gerückt was da eigentlich so alles um uns rumsteht.« Er ist sich über die Gefahr möglicher Unglücke im Klaren, empfindet allerdings keine Angst, wie oben deutlich wurde. Ähnliche Äußerungen zu verschiedenen Themenbereichen finden sich auch in so gut wie allen anderen Interviews. Offenbar ist es den Interviewpartner*innen selbst ein Anliegen, die jeweilige lebensweltliche Relevanz eines Themas zu verdeutlichen. Conny Müller etwa spricht die Möglichkeit eines Krieges an, in den Deutschland und damit ihr Sohn im wehrpflichtigen Alter involviert sein könnten. Jedoch relativiert sie diese Äußerung als alltäglich nicht relevante: »Ich bin mir dessen auch so bewusst, aber das ist jetzt nichts, was mich jetzt so im Alltag wirklich jeden Tag und immer beschäftigt. Also ich bin da schon mit Gedanken dabei, aber jetzt nicht so.« Ähnlich äußert sich Gerd Weidner zur Terrorgefahr: »Also sie ist vorhanden, aber jetzt nicht unmittelbar spürbar.« Auch wenn die Interviewpartner*innen also Unsicherheitsthemen nennen bzw. sich dazu äußern, bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass sie davor Angst hätten. Teilweise grenzen sie sich auch selbst explizit von Angst bzw. einem Unsicherheitsempfinden ab. Sprachliche Hinweise für eine alltagsweltliche Irrelevanz oder geringe Relevanz sind, wenn Unsicherheiten als virtuelle, theoretische oder abstrakte bezeichnet werden. Auch wird mit Distanzsemantiken gearbeitet, wie im folgenden Interviewauszug deutlich wird, in dem Gerd Weidner die von ihm im offenen Teil des Interviews genannten Themen nach Relevanz, d.h. hier Distanz und Nähe, sortiert: GW: Ok, also Naturkatastrophen, Terrorismus, Atomkraft auch, des sind alles irgendwelche theoretischen Möglichkeiten, die aber eigentlich relativ weit weg sind von mir, die Kluft zwischen Arm und Reich ist ist eigentlich noch, noch weiter weg von mir, also, damit werde ich ja auch nicht täglich konfrontiert oder so. […] Die Arbeitslosigkeit, des ist momentan also bei mir doch eher etwas näher, Verkehr auch immer. Die Distanz-Metapher »weit weg« signalisiert eine geringe alltagsweltliche Relevanz bei gleichzeitigem Bewusstsein um die Existenz einer Sicherheitsbedrohung. Methodologisch formuliert geht es in diesen Äußerungen um eine Differenz von theoretischem Wissen im Sinne von Wissen über die Welt (hier: objektiven Bedrohungen) und einem erfahrungsgebundenen, alltagsweltlich praktischen Wissen (zur Unterscheidung s. Kap. 3.1.1). Diese Unterscheidung habe ich bereits in

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Kapitel 5 in Bezug auf das empirische Material aufgegriffen. Allerdings wurde die Erfragung theoretischen Wissens dort v.a. in Bezug darauf problematisiert, dass sie zu einem unpersönlichen Interview beiträgt und bisweilen zu herausfordernde Thematisierungsaufgaben für die Interviewpartner*innen darstellt (Kap. 5.3.2). In den gerade zitierten Interviewäußerungen wird nun zudem deutlich, dass theoretisches Wissen im Sinne von Unsicherheits- bzw. »Risikobewusstsein« (Gerhold 2012) wenig beiträgt zum Verständnis von Angst als lebensweltlichem Phänomen, da es nicht an lebensweltliche Erfahrungen und Praktiken angekoppelt sein muss bzw. diesen nicht entstammt. Vielmehr, das wird in den Interviews deutlich, handelt es sich beim Unsicherheitsbewusstsein um kommunikatives Wissen, das im Interview wiedergegeben wird. Teils ist dies medial vermitteltes Wissen. Medienberichte legen dementsprechend bestimmte Themen nahe, Gerd Weidner etwa meint: »naheliegend ist ja jetzt die Atomkraft«. Teils entstammt dieses Wissen auch lokalen Diskursen, wie z.B. bei Gerda Hofmann deutlich wird. Eine neuere Einbruchserie in der Nachbarschaft und ein Überfall auf den örtlichen Supermarkt bringen das Thema Überfälle zwar auf die Agenda (und ins Interview) und Gerda Hofmann dazu, sich ein vorsichtigeres Verhalten vorzunehmen. Allerdings schränkt sie die alltagspraktische Relevanz des Themas umgehend ein: »Aber dann tut das ja wieder aus dem Gedächnis verSCHWINden; das ist ja nich was, wo man ständig daran DENKT.« Dieses kommunikativ vermittelte Wissen um Unsicherheiten bleibt bei den Interviewpartner*innen also nicht folgenlos: Sie beschäftigen sich damit gedanklich. Jedoch übersetzt sich dies nicht in Angst als Emotion, die über kognitive Aspekte hinausgeht. Auch wird in den Interviews deutlich, dass diese Bewusstseinssteigerung keine nachhaltigen Effekte auf das Alltagsleben hat, sondern nur von vorübergehender Relevanz ist. Anna-Lena Neumann bringt dies in verallgemeinernder Weise auf den Punkt: »Wenns in den Medien nicht mehr angesprochen wird, dann ist es irgendwie so wie aus dem Kopf draußen.« Mediales Agenda-Setting bestimmt also, worüber kurzzeitig gesprochen wird, aber nicht, wie sich die Akteur*innen dazu emotional verhalten. Die gleichen bewusstseinsgenerierenden Mechanismen durch Unsicherheitsthematisierung lassen sich aber nicht nur in Bezug auf mediale und lokale Diskurse feststellen, sondern auch in Bezug auf das Interview selbst, das daher nicht als neutrales ›Forschungsinstrument‹ verstanden werden sollte: Es schafft die Tatbestände, die es abzubilden wünscht, worauf u.a. Wilkinson in sicherheitsforschungskritischer Absicht hingewiesen hat (Wilkinson 2010: 71f., Kap. 2.4.2, vgl. auch Sjöberg 1998 und Stevens/Vaughan-Williams 2016: 27). So weckt das Interview erst die Aufmerksamkeit für die abgefragten Aspekte, wobei die Antworten ‒ eigentlich Mo-

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

mentaufnahmen ‒ in der Auswertung auf das Alltagsleben generalisiert werden.6 Auch in unserer Studie äußerten nach dem Interview einige Interviewpartner*innen, dass das Interview neue Aspekte von Unsicherheit hervorgebracht habe und ihre Aufmerksamkeit für das Thema nun geschärft sei. Im Interview selbst meint bspw. Tim Baader in Bezug auf das Thema Atomkraft: TB: Aber jetzt für mich so in meinem täglichen Bewusstsein spielts nich so ne Rolle, dass ich jetzt sag wuah ich wach auf und wuah ich hab Angst vor Atom- Atomstrahlung. Aber mein weiß natürlich jetzt grad, wenn man drüber spricht, dann isses da und es stellt durchaus ne Bedrohung dar. Das Forschungsinterview als ein spezifisches Kommunikationsereignis ist daher wie andere Formen von Kommunikation zu betrachten: Unsicherheit wird wahrgenommen und wird bzw. bleibt dadurch ein sozial relevantes Phänomen. Allerdings ist diese Unsicherheitswahrnehmung im Sinne eines Unsicherheitsbewusstseins nicht als alltagsweltlich relevantes Unsicherheitsempfinden misszuverstehen. Warum es im Interview für die Interviewpartner*innen dennoch relevant sein kann, theoretisches bzw. kommunikatives Wissen zu äußern, liegt nicht nur darin begründet, dass das Interview theoretisches Wissen privilegiert (Kap. 5.3.2). Auch können damit mikropolitische kommunikative Ziele verfolgt werden, wie unten in den Abschnitten zu Positionierung (Kap. 6.4) und Argument (Kap. 6.5) deutlich wird. Zunächst geht es aber darum, alltagsweltlich relevantes Unsicherheitsempfinden, wie es sich im Interview dokumentiert, genauer zu untersuchen.

Normalisierungen: k(l)eine Alltagsängste Wurde bisher gezeigt, wie Unsicherheit und Unsicherheitsbewusstsein entproblematisiert werden, so geht es nun darauf aufbauend darum, weitere Modi vorzustellen, in denen sich eine geringe lebensweltliche Relevanz von Angst dokumentiert. In einigen Interviews geht es um keine, v.a. aber um kleine Ängste. Diese werden in der Regel von den Interviewpartner*innen normalisiert und nicht problematisiert: Ein gewisses Maß an Unsicherheitsempfinden ist demnach sozial üblich und individuell erträglich (vgl. auch Lupton/Tulloch 2002b). Entsprechend besteht eine hohe Unsicherheitstoleranz und Angst gilt gar als unpraktisches Gefühl. Politische Forderungen nach einer besseren Sicherheitspolitik im weitesten Sinne des Wortes werden kaum erhoben. Wie stellt sich das nun konkret in den Interviews dar? Geringe Unsicherheitsrelevanz und hohe Unsicherheitstoleranz Ähnlich dem zuvor vorgestellten Unsicherheitsbewusstsein ohne Unsicherheitsempfinden gibt es erfahrungsgebundene Verunsicherungen, die aufgrund ihrer ge6 In Kap. 7, wo ich nach relevanten Ängsten frage, stütze ich mich entsprechend nicht auf ein solches bloßes Unsicherheitsbewusstsein.

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ringen Intensität und/oder Häufigkeit nicht relevant für das allgemeine Lebensgefühl sind. David Hesse bspw. erzählt nicht nur über Medienberichte, die bei ihm so »kleine Bedenken« ›aufflammen‹ lassen, sondern auch über einen Fluss nahe seiner Wohnung, der öfter Hochwasser führt: »Also es is halt was, was ich im Kopf habe, aber was jetzt nich- nich irgendwie sehr stark. Also keine Szenarien in mir hervorruft sozusagen.« Die geringe Intensität seiner Angst dokumentiert sich nicht nur in der Abgrenzung von »Szenarien«, sondern auch handlungspraktisch: Ein Umzug kommt für ihn nicht infrage. In ähnlicher Weise thematisiert Marko Kaiser sein Wohnen in einem berüchtigten Stadtviertel. Vor seinem Umzug erkundigte er sich bei Ortsansässigen über das Leben im Viertel mit dem Ergebnis: »((ausatmend) Pah) Die haben mir eigentlich die Angst mehr oder weniger geNOMmen. Aber ich sag mal es SPUKT halt trotzdem im Hinterkopf rum, dass es hier halt mal so war; nä?« Schlussendlich entschließt er sich, in dieses Viertel zu ziehen, stellt seine Ängste als latente (»im Hinterkopf«) sowie als seltene dar: »Ansonsten wie gesagt, denk ich halt nich wirklich OFT an Sicherheit.« Neben der geringen Intensität von Ängsten können diese also auch sporadisch auftreten. Dieses sporadische Auftreten wird von manchen Interviewpartner*innen anhand konkreter Anlässe erzählt, ohne dass dies im Alltag generell für anhaltende Angst sorgt. Sven Schmidt etwa spricht davon, dass es auf »jeder längeren Autofahrt« eine Situation gibt, in der es zu einem Unfall kommen könnte. Das dadurch ausgelöste Angstgefühl beschreibt er anschaulich: »Also da ist schon ein Herzklopfen da und eine Schreckminute eigentlich.« Dennoch hat er vor Unfällen keine ›sehr große‹ Angst. In ähnlicher Weise spricht Michael Sommer Ängste in Bezug auf seine Familie an und erzählt anhand eines Beispiels ‒ sein Sohn war nicht am verabredeten Ort und nicht erreichbar ‒ über diese angstvollen Momente: »Und dann gehen einem schon so paar Dinge schießen einem da so durch den Kopf, was weiß ich, ich sag jetzt mal Entführung zum Beispiel, ja. Aber das ist nur sag ich mal, wenn so eine Situation jetzt mal eintrifft. Ist aber jetzt nicht für mich, wo ich sag, dass es mich ständig begleitet.« Ängste erscheinen in diesen Erzählungen daher als situationsabhängig und nicht als übergreifendes Lebensgefühl. Diese ›kleinen‹ Ängste sind zwar unangenehm, werden aber in der Regel normalisiert und wenig problematisiert ‒ sie gehören zum Leben dazu und sind normal (vgl. auch Lupton/Tulloch 2002b). Dies verweist auf eine gewisse Unsicherheitstoleranz im Alltag bzw. grundlegender auf die Vorstellung, dass es ein Leben frei von objektiven wie subjektiven Unsicherheiten nicht geben kann. Diese Unsicherheitstoleranz wird auch insofern explizit zum Ausdruck gebracht, als sich Interviewpartner*innen von Vorstellungen einer absoluten, hundertprozentigen Sicherheit abgrenzen bzw. negieren, dass diese wünschenswert sei. Berta Wagner bringt diese Perspektive prägnant zum Ausdruck, wenn sie in philosophischer Manier äußert: »Risiko is das Leben überHAUPT«, dem

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

aber auch in alltagspraktischer Hinsicht entgegenhält: »Wer denkt schon immer an Sicherheit, wenn er was tut.« Angst als unpraktisches Gefühl Deutlich wird auch, dass neben Angst und Unsicherheitsmanagement andere Logiken das alltägliche Leben strukturieren und Angst daher nicht in zentraler Weise praxisrelevant ist. Ahmed Erdem bspw. schildert bei der Themenvorgabe zu Unfällen eine Situation, als er zusammen mit seinen Freunden in einem Sportwagen bei Glatteis schnell fuhr. Er problematisiert dies in der Interviewsituation im Hinblick auf die Unfallgefahr, doch scheint in der erlebten Situation eine ganz andere Logik im Vordergrund zu stehen ‒ eine männlich-jugendliche Coolness, die er seinen Freunden zuschreibt: »Die haben auf cool gemacht«. Auf jugendliche Coolness als kollektive Handlungslogik, die die Sicherheitslogik übertrumpft, verweist auch Michael Sommer, wenn er in einer Retrospektive analysiert, was ihn in seiner Jugend zum Rauchen verleitet hat: »Und hab das auch damals schon gewusst, dass Rauchen die Gesundheit gefährdet, ja. […] Aber es war vielleicht cool und was weiß ich. Hhh, mitgeschwommen im Schwarm, weil viele auch geraucht haben und so, hat sich leicht verführen lassen und so.« Praxisrelevant ist demnach nicht, was als theoretisches Wissen im Sinne eines Risikobewusstseins vorliegt, sondern welche andere soziale Handlungslogik vorherrscht (vgl. auch Cockerham 2006, Crawshaw/Bunton 2009). Noch in einer zweiten Hinsicht stellt eine Angstlogik keine lebenspraktische Logik dar, denn sie verhindert, dass man ein normales bzw. gutes Leben führen kann und handlungsfähig bleibt (vgl. auch Bonß 1995: 86). Nico Ludwig z.B. formuliert dies wie folgt: »Ja es kann immer was passieren. Aber wenn ich so leben würde, dann wärs ja irgendwie traurig.« Anne Strauß führt dies näher aus: Immer »auf Nummer sicher« zu gehen, wäre eine »LebensEINschränkung«, auch da man auf Chancen verzichtet, z.B. im beruflichen Bereich. Ein rein auf Sicherheit fokussiertes Leben ist daher für sie »ja auch nicht so Sinn und Zweck«. Entsprechend dieser Sichtweise liegt es nahe, auf Ängste mit gewissen Vorsichtsmaßnahmen zu reagieren im Sinne einer klugen, weitsichtigen Lebensführung: Marko Kaiser etwa beobachtet aufmerksam verdächtiges Verhalten in seinem Wohnviertel, Berta Wagner betont die Notwendigkeit von Aufmerksamkeit im Straßenverkehr. In diesem Sinne können Ängste auch funktional sein (vgl. auch Gray/Jackson/Farrall 2008 und van den Herrewegen 2012a). Über diese funktionale Vorsicht hinaus werden Ängste in diesem Muster allerdings als dysfunktional angesehen. Es gilt sie möglichst »auszublenden« und zu »verdrängen«, wie Marko Kaiser sagt. Aktiver stellt dies Heike Binz dar, die ihre Angst vor dem Autofahren nach dem Unfalltod zweier Freunde »abbauen« muss, um qua Mobilität wieder Lebensqualität zurückzugewinnen. Dies arbeitet sie zu einem allgemeineren Motto

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Gesellschaft in Angst?

aus, das – analog zur jugendlichen Coolness – eine Logik der alltäglichen Lebensführung impliziert, die der Sicherheitslogik übergeordnet ist: »Naja, wie gesagt, dass man sich selber halt eigentlich (1) also die Freude NIMMt (2), indem man halt immer nur übervorsichtig ist und wenn dann halt alles, was Angst macht oder alles, was bedeuten könnte, dem aus dem Weg gehen, das ist- (2) man lebt nicht. Oder wenig.« Angst wird hier also nicht normalisiert wie in den Beispielen zuvor, sondern als negativ bewertet. Daher ist am Angstgefühl selbst zu arbeiten und nicht am ›Objekt‹, auf das es sich bezieht.

Erfahrungshintergründe: Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten Wie lassen sich diese Entproblematisierungen und Normalisierungen nun tiefergehend sozial verorten? Auch wenn ich keine soziogenetische Typenbildung leisten kann, gebe ich im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit und in tentativer Weise Antwortmöglichkeiten auf die Frage, welche Erfahrungshintergründe Entproblematisierungen und Normalisierungen von Angst ermöglichen, nämlich eine aktive Agency sowie einschlägige Ressourcen und ein erfahrungsgebundenes Vergleichsmotiv. Pro-aktive und re-aktive Agency sowie Ressourcen Eine Deutung knüpft sich an die Frage der Handlungsmacht, d.h. Agency an. Zunächst ist es Luhmanns Unterscheidung von Gefahren und Risiken (1990, 1991) und der damit verbundenen Frage von Agency folgend naheliegend, aktive Handlungsund Einflussmöglichkeiten als angstreduzierend zu verstehen, während Machtlosigkeit negativ bewertet wird. Dies ist auch konform mit der psychometrischen Forschung zu Faktoren der Risikowahrnehmung, die die Rolle von Freiwilligkeit und Kontrollierbarkeit des Risikos sowie die Verantwortlichkeit dafür herausgearbeitet hat (Jungermann/Slovic 1993). Mit Blick auf meine vorigen Analysen schlage ich in Fortführung dieser Forschungen eine Differenzierung in zwei Formen aktiver Agency vor: die pro-aktive und die re-aktive. Die pro-aktive Agency zielt darauf, ein mögliches Ereignis abzuwenden bzw. schon im Vorfeld seine möglichen Folgen abzufedern. In diesem Sinne geben die Interviewpartner*innen bspw. an, bestimmte Gebiete zu meiden, weil sie sich dort unwohl oder unsicher fühlen. Durch diese Beeinflussbarkeit sind entsprechende Ängste nicht vorhanden oder gering ausgeprägt. Im Modus der re-aktiven Agency wird gehandelt, wenn es soweit ist, was nicht unmittelbar der Fall ist. Bis dahin werden möglichst wenige Gedanken daran verschwendet, sodass auch hier die Ängste eher gering sind.7 Dies illustriert Anne Strauß’ Motto »Wer’s Unheil vorhersieht, leidet zweimal«. Auch 7 Vgl. auch Blinkert (2009) zur Ausdifferenzierung von Sicherheitsmanagements in präventive, korrektive und kompensatorische Strategien.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

aufgrund der Behinderung ihres Kindes bestehen Grenzen der eigenen pro-aktiven Handlungs- und Wirkmächtigkeit; die Biographie ist kaum planbar, sodass Anne Strauß eine re-aktive Agency verfolgt: »Das is genau der Punkt, wo ich sage, da mach mer uns Gedanken, wenns soweit is.« Eine solch pragmatisch gewendete Machtlosigkeit kann auch entlastend sein: Die responsibilisierten Akteur*innen müssen im Moment nichts tun, da sie nichts Sinnvolles tun können (vgl. auch Pelizäus-Hoffmeister 2008: §75). Entsprechend ist in diesem Modus des re-aktiven Handelns eine gegenwärtige Nicht-Beeinflussbarkeit nicht angsterregend, im Gegenteil. Die Möglichkeiten, pro-aktiv oder re-aktiv zu handeln, lassen sich soziologisch mit verfügbaren Ressourcen bzw. Kapitalsorten im Sinne Bourdieus deuten. Demzufolge stellt eine Variante einer geringen Erlebnisqualität von Angst ein ressourcenreicher Optimismus dar, mit dem manche Interviewpartner*innen der Zukunft und möglichen negativen Ereignissen entgegenblicken. Michael Sommer bringt dies prägnant zum Ausdruck, wenn er sagt: »Also mir fehlt’s da im Grunde genommen an nichts und da denke ich nicht so sehr dran.« David Hesse und Marko Kaiser etwa sehen einer ungewissen beruflichen Zukunft entgegen, geben sich aber insgesamt zuversichtlich. David Hesse hat nach seinem Studium entgegen seinem Wunsch bislang nur eine Teilzeittätigkeit gefunden, verweist aber mit Blick auf die weitere berufliche Zukunft explizit auf sein kulturelles Kapital im Sinne von Bildung: »Ich mein ich bin gut ausgebildet, hab studiert, hab jetzt n Staatsexamen abgeschlossen, insofern ich FINde en Job; das ist keine Frage«. Dieses Bildungskapital hat er nicht nur in institutionalisierter Form als Bildungstitel vorliegen, sondern auch inkorporiert und habitualisiert, wie seine bildungsbürgerliche Performanz im Interview belegt (s. Fallanalyse in Kap. 5.3.1). Marko Kaiser gibt seine finanziell einträgliche Tätigkeit als Versicherungsmakler auf, um ein Studium zu beginnen und einen anderen Beruf zu ergreifen. Wie David Hesse verweist er auf die eigenen Bildungsbemühungen, die sich vermutlich auszahlen werden, bringt aber angesichts der verbleibenden Restunsicherheiten noch generalisierte, d.h. ereignis-unspezifische Backup-Systeme ins Spiel: wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme sowie im Sinne sozialen Kapitals seine Freunde, die ihm aushelfen würden.8 Fällt er, so fällt er halbwegs weich. Ergänzend sind seine ökonomischen Ressourcen zu nennen sowie seine aktuelle Lebenssituation, in der er nur für sich selbst zu sorgen und daher eine vergleichsweise geringe Verantwortung hat im Vergleich zu Familienernährer*innen oder Sorge-Arbeit Leistenden (Pflege von Angehörigen oder Verant8 Solch generalisierte Backupsysteme, die für verschiedene Ereignisse und mittels verschiedener Ressourcen Unterstützung geben können, habe ich am Beispiel Familie untersucht (Eckert 2010). Luhmann folgend lassen sie sich auch als unspezifische Prävention für den Gefahrenfall verstehen, für den keine spezifische Prävention möglich ist. Als Beispiel für eine unspezifische Prävention nennt Luhmann (1991: 38), dass man sich ›Freunde hält‹.

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Gesellschaft in Angst?

wortung für Kinder). Seine zeitlichen und finanziellen Ressourcen kann er uneingeschränkt für seine eigene berufsbiographische Selbstverwirklichung aufwenden. Anne Strauß ist als Mutter eines Kindes, das »nicht ganz gesund« ist und lebenslang ein Pflegefall sein wird, in dieser Hinsicht in einer anderen Position. Jedoch verfügt auch sie als promovierte Akademikerin in einer Vollzeiterwerbstätigkeit, die mit ihrem langjährigen Partner zusammenlebt, über beträchtliche kulturelle, soziale und ökonomische Ressourcen, die es ihr erlauben, das Modell eines risikomündigen Menschens zu verfolgen, der sich eigenverantwortlich Informationen sucht und danach handelt. Die bisher thematisierten Beispiele decken die klassischen Kapitalsorten bei Bourdieu ab: kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital. Es lässt sich in den Interviews aber auch eine weitere Ressource ausmachen, die bei Bourdieu selbst und in der thematisch einschlägigen Literatur zu (Un-)Sicherheiten zu wenig Berücksichtigung findet: religiöses Kapital, was sich paradigmatisch bei Berta Wagner zeigt. Die gläubige Christin grenzt sich im Gegensatz zu Anne Strauß massiv von probabilistischen Vorstellungen von Unsicherheit und damit auch von einer umfassenden Responsibilisierung der Einzelnen ab. Fragen nach Einschätzungen zu Unsicherheiten weist sie bspw. als »vermessen« zurück: »Da spiel ich ja jetz Gott. Das seh ich ja- ((erheitert) da müsst ich) ja herab sehen, was mir passiert. KANN ich nicht.« Zwar betont auch sie die Möglichkeiten einer gesunden Lebensführung, fordert angesichts der ›ungelegten Eier‹ aber keine besonderen pro-aktiven, sondern wie Anne Strauß re-aktive Handlungen ein: »Das sind wie ungelegte Eier; nich? Also da brauch ich nich drüber NACHdenken. Da muss ich erst nachdenken, wenns soweit IS, nich?«. Insgesamt rekurriert sie gottvertrauend auf das Prinzip Hoffnung und stellt dadurch Gewissheit her, ihre Zukunft meistern zu können, sodass auch hier Angst keine bedeutsame Rolle spielt (vgl. auch Smith et al. 2006: §44). Trotz unterschiedlicher Deutungsweisen im Detail ‒ von der individualisierten Risikomanagerin hin zur Gottvertrauenden ‒ haben die hier zitierten Interviewpartner*innen eines gemeinsam: Sie sprechen aus relativ privilegierten sozialen Positionen. Sie verfügen über bestimmte Ressourcen, mit denen sie den jeweils für sie relevanten Themen begegnen können und die damit nicht zu Angstthemen werden. Darüber hinaus leben sie, wie von Marko Kaiser erwähnt, in einem Wohlfahrts- und Rechtsstaat, von dem sie als deutsche Staatsangehörige profitieren. Sie sind damit prinzipiell ‒ pro- oder re-aktiv ‒ handlungsfähig und haben k(l)eine Ängste. Ihre aktive Agency konzipieren sie zudem als effektiv: Sie gehen davon aus, mit ihrem Tun etwas bewirken zu können.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

Erfahrungsgebundenes Vergleichsmotiv Die Relevanz von Rahmenbedingungen zeigt sich auch in den Fällen, in denen die Erfahrung weitgehender Sicherheit nicht selbstverständlich ist, da die Interviewpartner*innen in ihrem Leben schon andere Erfahrungen machten, teils unter anderen wohlfahrts- und rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen. Sie verfügen daher über eine Deutungsfolie der Unsicherheit, anhand derer sie ihre aktuelle Lebenssituation als (wieder) sicher deuten können und Ängste, sofern vorhanden, nur eine geringe Erlebnisqualität haben. Wichtig ist, dass diese Deutungsfolie nicht abstrakt und theoretisch ist; ein Vergleichsmotiv, dass etwa Deutschland im Unterschied zu anderen Ländern ein wohlhabendes Land ist o.Ä. und es ›uns‹ doch gut geht, findet sich in vielen Interviews, ebenso wie die Einsicht, dass Sicherheit und Angst relativ sind. Relevant ist hier, dass es sich um ein erfahrungsgebundenes Vergleichsmotiv handelt und dass damit in lebenspraktischer Hinsicht andere Sicherheitsgewohnheiten und -standards (Blinkert 2009) eine Rolle spielen. Die folgenden drei Beispiele beleuchten unterschiedliche Dimensionen dieses Vergleichsmotivs. Das erste Beispiel ist Hanno Wegeschieber, der knapp ein Jahrzehnt in Südamerika lebte. Direkt zu Beginn des Interviews macht er deutlich, dass er vor dem Hintergrund seiner Auslandserfahrung keine persönliche Unsicherheit mehr kennt und Deutschland das »reinste Paradies« sei: »Ich weiß auch, was es is in einem Land zu leben, was fast anarchisch is in Bezug auf Sicherheit. […] Überfälle, Raub und und und. Also hab ich am eigenen Leib erlebt, in Südamerika. Und das is also hier für das reinste Paradies für mich in Deutschland.« Diese Eigentheoretisierung unterlegt er im Interview mit konkreten Erfahrungen, die er gemacht hat, bspw. einem Raubüberfall mit kurzzeitiger Entführung, bei der er nicht wusste, ob er überleben wird. Auch problematisiert er die fehlenden rechtsstaatlichen Strukturen, sodass auf die Polizei dort kein Verlass sei. Demgegenüber betont Hanno Wegeschieber, dass in Deutschland die für ihn basale Dimension der physischen Sicherheit als Frage von Leben und Tod fraglos gegeben ist. Ahmed Erdem bietet ein zweites Beispiel, das sich vom ersten insofern unterscheidet, als hier nicht die Vergangenheit die Kontrastfolie bildet, sondern eine andere Gegenwart für den Interviewpartner möglich und präsent ist. Diese Variante zeichnet sich entsprechend durch ein hohes, alltagspraktisch relevantes Kontingenzbewusstsein aus. In diesem Sinne stellt Ahmed Erdem zwar klar, dass er in Deutschland geboren wurde und einen deutschen Pass hat, positioniert sich im und durch das Interview aber auch als Kurde mit türkischen Bezügen. Auch für ihn gestaltet sich das Leben in Deutschland als ›Paradies‹, bzw. wie er es nennt: Deutschland ist die »Nummer eins« in Bezug auf Sicherheit. Zum einen vergleicht er in allgemeiner Weise die Rahmenbedingungen alltäglichen Lebens in der Türkei und in Deutschland. Zum anderen vergleicht er sein Leben als Kurde in der Tür-

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kei mit seinem Leben als Kurde in Deutschland. Nicht nur herrscht in »Kurdistan« Krieg; auch erscheinen ihm als Kurde viele Möglichkeiten in der Türkei verschlossen, die er in Deutschland hat: »Sagen wir mal so; in mein Heimatland, in Türkei war ich- also ich bin ja kurdischer Kurde, also da würden wir nicht wie so jetzt hier in Deutschland viele MÖGlichkeiten haben, CHANcen haben. Ausbildung, Praktikum, Arbeit, alLEIne wohnen; da ist ganz anders die Kultur.« Im Interview wird nicht klar, ob er die Erfahrungen in der Türkei selbst gemacht hat oder diese Berichten anderer oder der Medien entnommen hat. Dennoch erscheinen sie hier nicht als abstraktes Wissen, sondern lebensweltlich relevant, was sich u.a. in Ahmed Erdems Verbundenheitsmarkierungen zeigt (»mein Heimatland«, »bei uns«). Rainer Kretschmann, ein selbstständiger Landwirt, bietet ein drittes Beispiel, in dem die Erfahrung von Unsicherheit nicht wie bisher örtlich bzw. von staatlichen Rahmenbedingungen, sondern berufsbiographisch begründet ist. Zu Interviewbeginn beantwortet er die Skalenfrage zur persönlichen (Un-)Sicherheit damit, dass er sich »völlig sicher« fühle und damit die erste oder zweite Antwortmöglichkeit zutreffe. Dies kommentiert er in der Folge mit dem Verweis, dass dies nur seine aktuelle Lage darstelle: RK: Es ist natürlich, muss man dazu sagen, oftmals auch für einen Mensch eine MOMENTANE Situation. Wenn Sie mich vor drei oder vor fünf Jahren gefragt hätten, hätte ich mich weiter unten (auf der Skala, d.h. unsicherer; JE) eingeordnet. […] Wir haben früher Tabak angebaut zum Beispiel und beim Tabakbau war die Situation so, dass sie VÖLLIG unsicher war und wir haben uns ganz umorientiert hin zum Spargel. Und die Entscheidung war richtig. Die damals prekäre Situation war auch durch Abhängigkeiten vom Weltmarkt und dessen unkalkulierbarer Entwicklung bedingt. Rainer Kretschmann hat sich daraufhin entschieden, seinen Betrieb umzustrukturieren und dabei sein Betätigungsfeld auf verschiedene Standbeine auszuweiten. Aktuell betreibt er u.a. noch ein Maisfeld-Labyrinth. Obwohl zum Interviewzeitpunkt der Betrieb ein gutes Einkommen sichert, stellt die damalige betriebliche und finanzielle Unsicherheit den Erfahrungshintergrund dar, vor dem er im Interview das Thema (Un-)Sicherheit deutet.

6.3.2

Große Ängste: Problematisierungen und ungewollte Normalität

Spiegelbildlich zu den vorigen Analysen zu k(l)einen Ängsten dokumentieren sich große Ängste in den Interviews zum einen als Problematisierung hinsichtlich der Infragestellung des Alltags und des Lebenskonzepts und zum anderen in zwei Fällen als ungewollte Normalität hinsichtlich der alltäglichen Lebensführung, in der Angst gar das aktuelle Lebensgefühl ist. Diese beiden Fälle repräsentieren damit

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

auf dem Kontinuum von k(l)einen bis großen Ängsten das Extrem der großen Ängste und damit die empirische Verkörperung von Zeitdiagnosen der Unsicherheit bzw. Angst, die Angst als »Lebensgefühl« (Beck 2007a: 28) verstehen. Deutlich wird allerdings auch, dass die Angsterfahrungen dieser beiden Interviewpartner*innen bestimmten sozialen Bedingungen unterliegen und jenseits dieser nicht generalisierbar sind.

Problematisierungen: Infragestellung des Alltags und Lebenskonzepts Große Ängste zeichnen sich prinzipiell dadurch aus, dass Basales und Zentrales auf dem Spiel steht. In der Regel sind dies grundlegende Fragen der ökonomischen und sozialen Existenzsicherung (dazu ausführlicher Kap. 7, vgl. auch Schiek 2011).9 In der methodologischen Sprache des integrativen Basisverfahrens formuliert stehen die zentralen Angstthemen in enger Verbindung zu den sogenannten zentralen Motiven, d.h. den zentralen Relevanzen in den jeweiligen Interviews, die quer zu den Fragen und dem thematischen Interesse der Forschenden liegen können. Die entsprechenden Ängste zeichnen sich dadurch aus, dass über sie in problematisierender Weise berichtet wird, schließlich stellen sie den Alltag und das Lebenskonzept infrage. Wie gestaltet sich das konkret? Gerd Weidners bereits zitierte Semantik »spürbar« verweist auf eine zentrale Dimension, nämlich dass sich Angst nicht als abstraktes Bewusstheitsphänomen äußert, sondern eine konkrete, erfahrungsgebundene und auch leibliche Komponente hat. Die oben erwähnten Schrecksekunden oder Schreckminuten stellen im Kontext großer Ängste demnach keine punktuellen Erlebnisse dar, sondern eine ›Erschütterung‹ und eine anhaltende Erfahrung, wie Conny Müller verdeutlicht, die ich als Referenzfall für die Veranschaulichung des Musters zu Rate ziehe. Sie und ihr Mann sind zwar beide erwerbstätig, haben aber als Working Poor nur ein Haushaltsnettoeinkommen von unter 2000 Euro zur Verfügung, von dem auch die beiden heranwachsenden Kinder versorgt werden müssen. Die Arbeitslosigkeit ihres Mannes vor wenigen Jahren beschreibt Conny Müller als »Prozess«, der sich »ne Zeit lang auch hingezogen« hat, und schildert die Erfahrungen wie folgt: CM: Wie gehts weiter, wie bezahl ich nächsten Monat die Kreditrate, wie gehts weiter, ich muss für die Kinder Sachen kaufen, ich muss einkaufen gehen, Lebensmittel und dass wirklich einfach das Geld am Ende vom Monat eben nicht da ist, was man zum Leben einfach dringend braucht […] also so ganz banale Sachen […], einfach nur so die grundlegenden persönlichen Bedürfnisse, die man so hat, dass man die eben Angst hat nicht mehr erfüllen zu können oder dass man da eben sich 9 Entsprechend sind die meisten der hier zitierten Interviewpartner*innen dem prekären Existenzsicherungsmuster in Kap. 7.5.3 zugeordnet. Auch wenn ich die Interviews dort unter einer anderen Fragestellung analysiere, sind gewisse Redundanzen nicht zu vermeiden.

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einschränken muss, sehr einschränken muss, und das also belastet alles rundum, die ganze Familie. Die hohe Erlebnis- oder eher Leidensqualität von Angst wird in diesem Zitat auf verschiedene Weise deutlich. Erstens geht es wie bereits erwähnt um die Infragestellung des Alltags, die hier durch einen gravierenden ökonomischen Engpass bedingt ist. Nicht nur können die bisherigen Alltagsroutinen, etwa beim Einkauf, nicht mehr beibehalten werden, da man nach einem günstigeren Produkt schaut, wie Conny Müller an anderer Stelle sagt. Auch ist ungewiss, ob überhaupt das Lebensnotwendige garantiert ist. Zweitens wird der Alltag auch insofern weiter infrage gestellt, als der ökonomische Engpass erhebliche soziale Folgen hat, hier für die Familie, was Conny Müller totalisiert (»alles belastet rundum«). Drittens verändert sich die zeitliche Perspektive. Der Blick richtet sich nicht in die weitere Zukunft, sondern verharrt in der Gegenwart bzw. nahen Zukunft. Mit dem Fokus auf der Alltagsbewältigung wird eine zukunftsgerichtete biographische Perspektive obsolet, man weiß nicht, »wies weitergehen soll«. Für die Akteur*innen bedeutet dies eine begrenzte oder verhinderte Planbarkeit und Gestaltbarkeit der eigenen Biographie (vgl. auch Bourdieu 2000, Castel 2000, Schiek 2011). Auch das bisherige Lebenskonzept steht zur Disposition, was die Interviewpartner*innen zusätzlich verunsichert: »Das hat mich schon in meinen Grundfesten, die ich immer so hatte, wo ich dachte, das klappt immer alles so, hat mich das doch sehr erschüttert« (Conny Müller). Große Ängste zeichnen sich entsprechend durch ein emotionales Erleben aus, das den Alltag und das bisherige Lebenskonzept infrage stellt und die weitere Zukunftsplanung einschränkt. Zumindest in Bezug auf materielle Belange sind große Ängste für die Interviewpartner*innen so präsent, dass sie im Interview direkt, d.h. ohne größeres Nachdenken geäußert werden können (vgl. auch Schiek 2011: 142), sofern sie nicht sozialen Thematisierungsgrenzen wie Tabus unterliegen.10 Für die Akteur*innen selbst wird also ihr implizites Wissen in der Krisensituation explizit und unmittelbar thematisierbar, schließlich wird ihre alltägliche Handlungsbasis prekär.

Ungewollte Normalität: Angst als Lebensgefühl und blockierte Zukunftsplanung In zwei der vorliegenden Fälle, nämlich Cemal Demir und Gaby Enge, sind die großen Ängste zum Interviewzeitpunkt so persistent, dass sie gar das Lebensgefühl ausmachen und die Zukunftsplanung vollständig blockieren. Angst ist für sie eine 10 Selbstredend stellt eine unmittelbare Themennennung alleine keinen ausreichenden Hinweis für große Ängste dar, sondern kann eher davon zeugen, dass bestimmte Themen auf Diskursebene unmittelbar mit (Un-)Sicherheit assoziiert sind und daher im Interview direkt verfügbar sind (vgl. Kap. 5).

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

ungewollte Normalität geworden. Die o.g. Dimensionen großer Ängste liegen hier in zugespitzter Form vor: Es handelt sich nicht nur um einen belastenden ökonomischen Engpass, sondern um ein prekäres (Über-)Leben. Soziale Beziehungen drohen auseinanderzubrechen. Ferner ist die biographisch-zeitliche Perspektive noch weiter eingeschränkt. Das prekäre Leben findet im Hier und Jetzt statt, um das die Gedanken kreisen; es geht darum, »erstmal« (Gaby Enge) über die Runden zu kommen, d.h. bspw. die Miete bezahlen zu können. Entsprechend sind in beiden Interviews die Unsicherheitsthemen überaus präsent und werden zu Beginn des Interviews umgehend und prägnant benannt: Cemal Demir antwortet auf Frage nach Unsicherheitsthemen »Familie, Job, Krankheit« und ergänzt »ohne Geld DA zu stehen«, Gaby Enge nennt »Einbruch, Überfall, Raub« und fügt »Existenzangst« hinzu, womit sie auf die hohe Bedeutung des Themas aufmerksam macht. Präsent sind diese Themen zudem, da sie nicht eine mögliche Zukunft darstellen, sondern die für die Interviewpartner*innen nahe Zukunft beschreiben. So antwortet Gaby Enge bspw. auf die Frage, wie wahrscheinlich es ist, dass sie von einem Raubüberfall auf ihren Laden betroffen ist, mit »99 Prozent«. Diese Steigerung von Angst kommt bei Cemal Demir und Gaby Enge u.a. dadurch zustande, dass es erstens um grundlegend existenzielle Fragen geht. Zweitens sind die Unsicherheitsthemen bzw. die betreffenden Lebensbereiche verschränkt; Unsicherheiten in einem Bereich erhöhen die im anderen Bereich. Drittens werden Ängste in einem Lebensbereich entsprechend nicht durch einen anderen Lebensbereich abgefedert oder gar kompensiert, wie dies Nadine Sander (2012) für einen Typus von prekär Beschäftigten herausarbeitet, sondern verstärkt. Dies führt im Ergebnis zu einer »komplexen Unsicherheit« (Reinprecht 2006 und 2010). Dies veranschauliche ich anhand des Falles Cemal Demir. Er ist Mitte 30, führt als Soloselbstständiger ein kleines Geschäft (d.h. ohne Mitarbeiter*innen) und ist der Alleinernährer seiner dreiköpfigen Familie. Einen Einblick in die unlösbaren Widersprüche, in die er in seiner Lebenssituation verstrickt ist, gibt er wie bereits erwähnt zu Interviewbeginn, als er als persönliche Unsicherheiten die Stichworte »Familie, Job, Krankheit« und »ohne Geld DA zu stehen« nennt. Diese zunächst als Stichworte eingeführten Themen stehen in engem Zusammenhang, wie im weiteren Interviewverlauf deutlich wird. Als soloselbstständiger Familienernährer steht Cemal Demir unter dem Druck, mit seinem Geschäft das Überleben der Familie zu sichern. Es geht darum, dass er »des Brot wieder reinkriegt«, wie er sagt. Doch gleichzeitig hindert ihn sein hohes berufliches Engagement daran, seinen Pflichten als Familienvater, d.h. genauer als Partner seiner Frau und Erzieher seines Sohnes nachzukommen. Daher fürchtet er, dass bei anhaltend hohem beruflichem Engagement die Familie »auseinandergehen« könnte. Dieses Szenario erscheint ihm nicht nur aufgrund einer vorigen Erfahrung von beruflichem und anschließendem partnerschaftlichem Scheitern als realistisch. Auch bekundet seine Frau bereits ih-

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ren Unmut darüber, dass er so wenig Zeit für die Familie hat. Allerdings sieht er seine berufliche Verausgabung als notwendig an, um seiner Ernährerpflicht nachzukommen: »Man muss um sein Geld kämpfen, um seinen Job kämpfen, (1) die Zeiten bei Selbstständigkeit ((gepresst) äh) da muss man alles einfach durchziehen, alles reinstecken in den Laden, und in dem Moment lasst man die Familie halt rechts liegen.« Mittels der Kampfmetaphorik und den Totalisierungen weist Cemal Demir auf die Mühen seines alltäglichen Berufslebens hin, die er als unverhandelbar darstellt. Agencyanalytisch gesprochen handelt sich nicht um eine freie Wahl, sich beruflich zu engagieren, sondern um einen Zwang. Entsprechend sieht er sich vor einem Dilemma: Verbringt er die wenige freie Zeit mit seiner Familie, kann er nicht »relaxen«, wie er sagt, d.h. seine Arbeitskraft reproduzieren und neue Kräfte für den Berufsalltag sammeln. Entschließt er sich zur Entspannung, so führt dies zum Streit mit seiner Frau: »Und wenn man mal sagen will ›ich will abschalten für mich alleine‹, dann spielt die Partnerin oder auch NICHT; und dann gehts LOS. Und wenn da einmal Krach reingeht, dann is- dann is der Sonntag sowieso daneben.« Eine weitere unauflösbare Herausforderung liegt darin begründet, dass sein hohes berufliches Engagement an seiner Gesundheit zehrt, aber eine gute Gesundheit gleichzeitig Voraussetzung für beruflichen und finanziellen Erfolg ist: Ist er krank, so muss er sein Geschäft geschlossen halten und erwirtschaftet kein Einkommen. Seine Lage erscheint daher ausweglos: Es kann kein richtiges Handeln geben; finanzielles, berufliches, gesundheitliches und familiäres Scheitern sind für ihn alle wahrscheinliche Ereignisse. Seine aktiven Agency-Konstruktionen ‒ auf die Frage, wer für das Sicherheitsmanagement verantwortlich sei, nennt er in der Regel sich selbst ‒ sind daher nur vordergründig als unsicherheitsreduzierend zu verstehen. Auch stellt seine Selbstständigkeit keine berufliche Selbstverwirklichung dar, sondern einen ›Brot‹-Job: »Job heißt Geld.« Es handelt sich bei Cemal Demir daher um ein »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007) wider Willen: Seine aktive Ich-Agency stellt eine letztlich ineffektive Zwangs-Agency dar (vgl. auch Kap. 7.5.3). Diese Zwangs-Agency wird weiter gesteigert, als Cemal Demir die erhoffte Unterstützung von Familie und Sozialstaat nicht erhält und daher nur auf seine eigenen Anstrengungen zurückgreifen kann. Staatlicherweise sieht er sich als kleiner Unternehmer gegenüber großen Unternehmen sowie als ehrlicher Bürger gegenüber Betrügern gar benachteiligt und erhält anstelle von Rückendeckung Rückschläge: »Kleiner Fisch bleibt klein und wird immer aufen Kopp gehauen.« Seine Bemühungen um finanzielles Vorankommen erweisen sich somit als ineffektiv.11 Insgesamt wird im Fall Cemal Demir deutlich, wie sich Angst als Lebensgefühl aus einer 11 Zur Kontrastierung: Etwas anders gestaltet sich dies bei Conny Müller, die nach der bereits erfahrenen Arbeitslosigkeit ihres Mannes ebenfalls Existenzängste hat und um die familiären Belastungen von Prekarität weiß, aber zum einen daran kein Scheitern der Kernfamilie knüpft und

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Machtlosigkeit gegenüber befürchteten Entwicklungen in zentralen Lebensbereichen speist.

Erfahrungshintergründe: begrenzte Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten Zwar teilen Cemal Demir und Gaby Enge mit anderen Interviewpartner*innen mit großen Ängsten bestimmte Erfahrungshintergründe. Dennoch stellen sie im Ergebnis insofern nicht verallgemeinerbare Extremfälle dar, als bei ihnen diese Erfahrungshintergründe in zugespitzter Form vorliegen und damit nicht nur zu großen Ängsten, sondern zu Angst als aktuellem Lebensgefühl führen. Deutlich wird in allen Fällen großer Ängste, dass es um Thematiken von existenzieller Bedeutung geht, d.h. um die Realisierbarkeit eines guten oder zumindest erträglichen Lebens, das in unserer Gesellschaft ein durch Erwerbsarbeit strukturiertes Leben ist (dazu ausführlicher Kap. 7; vgl. auch Kohli 1985, Schiek 2011). Die hohe lebensweltliche Relevanz dieser Themen trifft im Falle großer Ängste auf wenig Beeinflussbarkeit seitens der Interviewpartner*innen: Sie mögen sich alle Mühe geben, die sich in einer aktiven Agency dokumentiert, doch erweisen sich die Anstrengungen letztlich als weithin ineffektiv, sodass sie dem Befürchteten machtlos entgegenblicken. Diese Ohnmachtsgefühle verstärken die Angst. Hinzu kommt, dass das befürchtete Ereignis nicht wie bei k(l)einen Ängsten im Bereich der weit entfernten Potenzialität liegt, sondern als unmittelbar bevorstehend erlebt wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft die Frage, auf welche Ressourcen sich dieses Handeln stützen kann. Die Extremfälle Cemal Demir und Gaby Enge verfügen in ihren jeweiligen sozialen Positionen über wenig soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital, mit dem sie ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern könnten. Auch vom Wohlfahrtsstaat als Backupsystem erwarten sie keine Unterstützung. Daraus resultiert die exemplarisch bei Cemal Demir herausgearbeitete ZwangsAgency: Er ist zwar aktiv, aber nicht, weil er will, sondern weil er keine Unterstützung sieht und sich daher als selbstzuständig begreifen muss. Darüber hinaus konstruiert er sein Handeln als weitgehend ineffektiv. Die Zukunft wird zur Gefahr in Luhmanns Sinne. Diese begrenzten Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten inklusive der aktiven, ineffektiven Zwangs-Agency stehen denjeningen bei k(l)einen Ängsten, wo sich re- oder pro-aktive Agencyformen zeigten, diametral gegenüber. Wie der Vergleich mit Studien zur Prekarität zeigt, sind sie typisch für prekär Erwerbsarbeitende (vgl. Bourdieu 2000, Castel 2000, Schiek 2011): Die langfristige Lebensplanung ist blockiert, das Leben findet im Hier und Jetzt statt und ist als Ganzes betroffen. Mit Fokus auf die relevanten Unsicherheitsthemen greife ich diese Überlegungen in Kapitel 7.5.3 im Existenzsicherungsmuster wieder auf. zum anderen Familie und Freund*innen als soziales und im Notfall finanzielles Backup um sich weiß, womit diese »konkrete Angst« in den »Hinterkopf« und nicht in den Vordergrund rückt.

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Gesellschaft in Angst?

6.3.3

Zwischendiskussion

In diesem Unterkapitel habe ich Angst als Emotion untersucht und dabei mit k(l)einen Ängsten und großen Ängsten inklusive Angst als Lebensgefühl die Extreme eines Kontinuums aufgezeigt. Empirisch liegen einige Fälle dazwischen. Dabei müssen auch große Ängste nicht unbedingt ein anhaltendes Lebensgefühl darstellen, sondern können wie im Falle Conny Müllers, die v.a. retrospektiv über Angst spricht, ein Lebensabschnittsgefühl sein. Wie lassen sich diese Ergebnisse nun mit weiteren Forschungen in Verbindung bringen? Ich will auf zwei für mich zentrale Aspekte genauer eingehen: die Unterscheidung von Unsicherheitsbewusstsein und -empfinden und die Rolle von Agency und Ressourcen. Deutlich wurde, dass manche Interviewpartner*innen durchaus ein hohes Unsicherheitsbewusstsein an den Tag legen und verschiedene Unsicherheitsthemen benennen können. Allerdings bedeutet dies nicht, dass dieses Unsicherheitsbewusstsein mit einem lebensweltlichen Unsicherheitsempfinden, d.h. Angst als Emotion, einhergeht (Kap. 6.3.1). Wichtig ist daher, mit Bourdieu und Mannheim (Kap. 3.1.1) zwischen zwei Arten von Nicht-Wissen als zentraler Dimension von Unsicherheit bzw. Angst zu unterscheiden: dem theoretischen Unsicherheitsbewusstsein, das als kommunikatives Wissen über (mögliche) Geschehnisse in der Welt informiert ist, und dem praktischen Unsicherheitsempfinden, das von lebensweltlicher Relevanz ist und mit Angst als Emotion einhergeht.12 In der vorliegenden Literatur finde ich eine ähnliche Unterscheidung u.a. bei Michael Zwick und Iain Wilkinson, auch wenn diese nicht auf Mannheims oder auch Bourdieus Vokabular rekurrieren. Zwick (2005) hat in Bezug auf vorübergehendes Unsicherheitsbewusstsein den Begriff »switching effect« geprägt. Etwa durch Unfallereignisse oder mediale Thematisierung wird die Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen gelenkt, die allerdings jenseits dieses Moments der Aufmerksamkeitserzeugung alltagsweltlich kaum relevant sind. Diese Themen bezeichnet Zwick entsprechend als »switching risks«, d.h. als Risiken, die ›angeschaltet‹ werden: »Switching risks are put on the agenda from the outside; they are switched on.« (Ebd.: 493) Diesen subjektiv wenig relevanten und hochgradig volatilen »switching risks« stehen die alltagsweltlich unmittelbar relevanten Risiken gegenüber, die Zwick »proximate risks« nennt. Mit Wilkinson (2001b) lässt sich dieses Phänomen noch stärker auf die Interviewsituation beziehen als dies Zwick tut: Nicht nur Medienberichte erzeugen Aufmerksamkeit für Unsicherheit generell bzw. für bestimmte Unsicherheitsthemen, sondern auch Interviews zu ebendiesem Thema, was reflektiert werden sollte (ausführlicher: Kap. 2.4.2). Als Schlussfolgerung 12 Um einen Einblick in den Forschungsprozess zu geben: Auf Basis dieser Analysen habe ich mich für Scheers Emotionskonzept entschieden (Kap. 1.3). Diese Entscheidung ging der empirischen Forschung also nicht voraus, sondern ist ihr Zwischenresultat.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

scheint mir für weitere Forschungen zu Unsicherheit bzw. Angst als lebensweltlichem Phänomen relevant, sich nicht auf kognitive Dimensionen wie das Unsicherheitsbewusstsein zu fokussieren, da dies das interessierende Phänomen überschätzt, sondern das subjektiv, lebensweltlich und praktisch relevante Unsicherheitsempfinden in den Vordergrund zu rücken. In Bezug auf die Definition von Sicherheit als Nicht-Wissen bezüglich der Zukunft heißt dies, dass für eine Soziologie der Angst als alltagsweltliche Emotion das praktische Wissen anstelle des theoretischen, kommunikativen interessiert. Den zweiten Aspekt, den ich diskutiere, betrifft die Erkenntnis, dass die Erlebnisqualität von Angst auch von Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten abhängt und damit auch von der sozialen Position. Damit lässt sich einerseits der Bogen zum risikosoziologischen Konzept der sozialen Vulnerabilität spannen, wie es von Beck sowie Olofsson und Kolleginnen entwickelt wurde (Kap. 2.2.1 und 2.3.2), andererseits zu empirischen Studien in der Emotionssoziologie, Angstsoziologie und Prekarisierungsforschung. So halten Rackow, Schupp und von Scheve in ihrer quantitativen, emotionssoziologischen Studie fest: »Je höher der Status, je höher das Einkommen, desto seltener erleben Befragte Angst.« (2012: 405) In die gleiche Richtung weisen die Ergebnisse der ebenfalls quantitativen Studie zu Angst von Schmitz und Kolleg*innen (2018: 635): Das Gesamtkapitalvolumen (im Bourdieu’schen Sinn) und die Angstintensität korrelieren in negativer Weise: je mehr Kapital, desto weniger Angst. In ähnlicher Weise stellt auch Sommer in seiner Metaanalyse verschiedener empirischer Studien zur Prekarisierung fest, dass entscheidend ist, »welche habituellen Dispositionen und Handlungsressourcen dem Einzelnen zur Bewältigung einer potenziell prekären Lage zur Verfügung stehen.« (2010: 70) Die mit den sozialen Positionen und verfügbaren Ressourcen einhergehenden Handlungsmöglichkeiten habe ich als Agency gefasst. Deutlich wurde dabei, dass Unerwartbarkeiten alleine nicht zu Angst führen, wie auch Helga PelizäusHoffmeister in ihrer Studie zu biographischer Unsicherheit herausarbeitet (2008: §75). Entscheidend ist für die Emotion Angst vielmehr, dass Negatives erwartet wird und die Kontrollmöglichkeiten gering erscheinen (Rackow/Schupp/Scheve 2012). Dabei müssen aktive Agency-Konstruktionen seitens der Akteur*innen nicht immer positiv bewertet werden. Das mag zunächst kontraintuitiv erscheinen, da eigenes Handeln üblicherweise mit Kontrollmöglichkeiten in Verbindung gebracht wird. Im Material wurde aber deutlich, dass sich Interviewpartner*innen für selbstzuständig erklären, weil sie sich von niemandem Unterstützung erwarten, sodass sich die aktive Agency bei genauerem Hinsehen in erster Linie als nicht gewollte Zwangs-Agency eines responsibilisierten Selbst herausstellt. Diese Überlegungen knüpfen in gewisser Hinsicht an psychometrische Forschungen an, die etwa die Rolle von Freiwilligkeit und Kontrollierbarkeit des Risikos sowie die Verantwortlichkeit für Risikowahrnehmungen herausgearbeitet ha-

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ben (Jungermann/Slovic 1993). Stärker als in psychometrischen Forschungen werden allerdings in der Agency-Analyse die Akteur*innen nicht als separierte Individuen konzipiert, sondern als grundlegend soziale und daher gewissermaßen dezentrierte Subjekte, die in ein Netzwerk aus Personen, Dingen und Institutionen eingebettet sind, die Ressourcen bieten oder vorenthalten (vgl. auch Helfferich 2012). Auch daher macht es wenig Sinn, eine Personentypologie aufzustellen, etwa von risikoaffinen oder -aversen Typen: Zwar empfinden konkrete Personen in diesen konkreten sozialen Positionen Angst, doch dies hat weniger mit ihnen als Individuen als mit den sozialen Bedingungen zu tun, in denen sie leben. Ein weiterer Grund gegen die Annahme risikoaffiner oder -averser Persönlichkeitstypen liegt darin, dass sich Angst ‒ auch große Angst oder gar Angst als momentanes Lebensgefühl ‒ nicht auf alle möglichen Unsicherheitsthemen gleichermaßen bezieht, sondern lebensweltlich zentrale materielle und symbolische Aspekte im Zentrum stehen (vgl. Kap. 7).

6.4

Positionierung: die ›Ängste‹ der Anständigen

Über Angst bzw. (Un-)Sicherheit zu sprechen kann also einerseits bedeuten, die Emotion Angst in unterschiedlicher Erlebnisqualität zum Ausdruck zu bringen. Andererseits können damit auch kommunikative Funktionen verfolgt werden bzw. wie Lucius-Hoene und Deppermann formulieren: »Der Erzähler kann Gefühlsdarstellungen strategisch nutzen.« (2004b: 40) Dabei ist es unerheblich, ob die Emotion Angst gefühlt wird oder nicht, weswegen ich den Angstbegriff hier in Anführungszeichen setze. Irrelevant ist ebenso, ob bewusst oder unintendiert auf die Angst- bzw. (Un-)Sicherheitssemantik rekurriert wird oder nicht ‒ beides geht im Bourdieu’schen Strategiebegriff und seinem Distinktionsverständnis auf.13 In diesem Kapitel geht es um die Funktion der Positionierung durch Angstdarstellungen bzw. Darstellungen von Sicherheitsbedrohungen, im folgenden um die Verwendung als Argument (Kap. 6.5). Klatetzki zufolge kann affektuelles Handeln als »mikropolitische Strategie« verstanden werden, denn »Emotionen dienen der sozialen Positionierung von Akteuren im sozialen Raum« (2010: 485). Wer wird also wie positioniert? Allgemein gesprochen stellen sich die Interviewpartner*innen als Rechtschaffene dar, indem sie die ›Ängste‹ der Anständigen14 für sich in Anspruch nehmen. Was jeweils als anständig und fürchtenswert gilt, unterscheidet sich zwar sozialgruppenspezifisch, 13 Dass diese Positionierungen über die im Folgenden vorgestellten Nutzungsweisen im Kontext von Angst als Emotion funktional sein können, aber nicht müssen, wird in Kap. 7 deutlich. 14 Diese Formulierung habe ich in Anlehnung an Geoffrey Pearsons Buch »Hooligan. A history of respectable fears« (1983) gewählt. Pearson analysiert darin für den britischen Kontext, wie die Angst vor Hooligans eine adäquate Angst der Anständigen ist, die die ›Anderen‹ als ›unbritisch‹

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

wie bspw. Douglas’ Kulturtheorie des Risikos nahelegt (dazu Kap. 2.2, vgl. auch Hanak/Stehr/Steinert 1989 und Schmitz/Flemmen/Rosenlund 2018). Doch auf einer abstrakten Ebene gesellschaftlicher Moralvorstellungen und Identitätsnormen, um die es bei diesen Positionierungen oft geht, gibt es große Ähnlichkeiten, auf die ich im Folgenden fokussiere. Dabei analysiere ich zunächst solche Positionierungen, die von den Interviewpartner*innen nicht als dezidiert gesellschaftspolitische vorgenommen werden, sondern als ›private‹ gelten könnten, wäre das Private nicht sozial und politisch (Kap. 6.4.1). Der Übergang ist daher fließend zu Positionierungen, in denen sich die Interviewpartner*innen explizit als Mitglied eines gesellschaftlichen und politischen Kollektivs verorten (Kap. 6.4.2). Abschließend diskutiere ich die Ergebnisse kurz (Kap. 6.4.3).

6.4.1

Furchtlose Männer, schützenswerte Frauen, verantwortungsbewusste Eltern

Eine Dimension der Dar- und Herstellung einer eigenen positiven Identität, die von einigen Interviewpartner*innen genutzt wird, ist eine vergeschlechtlichende Positionierung (Doing Gender).15 Wie Scholz (2008) vermutet, ist eine Positionierung als furchtlos für einige männliche Interviewpartner attraktiv. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist Ahmed Erdem. Ein zentrales Motiv in seinem Interview ist die Verhandlung guter Männlichkeit in verschiedenen Lebensbereichen (»Gentleman«). In diesem Lichte interpretiere ich seine Äußerung zu Interviewbeginn, dass er »von nix Angst« hat. Diese Selbstpositionierung als furchtlos verstärkt er im weiteren Interviewverlauf, wenn er etwa betont, dass er in einem kriminellen Stadtviertel wohnt, dies aber mit der Bemerkung »Überall gibt’s Kriminalität.« anthropologisiert und damit ein Stück weit entproblematisiert. Diese Positionierung als angstfrei scheint unmittelbar an seine Peergroup als Teil seines alltäglichen Erfahrungsraums gebunden. So sagt er über seine Freunde, die er auch als seine »Gang« bezeichnet: »Meine Freunde SIN nich so Angsthasen.« Eine weitere empirische Illustration dieser Männlichkeitskonstruktion bietet das Interview mit Marko Kaiser, der sich gegenüber der gleichaltrigen Interviewerin als weithin furchtlos positioniert, wenn es um die Sicherheit am Wohnort geht: I: Okay, gibt es Orte oder Gegenden in (Stadt), an denen Sie sich NICHT gerne aufhalten, weil Sie sich dort unsicher fühlen? MK: (3) Nö. abwertet und gleichzeitig die Sprechenden als Verteidiger*innen des ›britischen Lebensstils‹ aufwertet. 15 Neben dem im Folgenden beschriebenen Doing Gender ist auch ein Not Doing Gender und ein Undoing Gender zu beobachten. Allerdings sind letztere im Vergleich zum Doing Gender nicht zentral.

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I: Gibt es keine? MK: Nö. (1) Ich arbeite in (Ortsteil 1), ((lachend) wohne in (Ortsteil 2) und treffe die Studenten in (Ortsteil 3).) ((lacht auf)) ((erheitert) Ich bin an den Orten, wo eigentlich keiner gerne ist, da bin ich gerne.) Die von ihm genannten drei Ortsteile sind genau diejenigen, die auch in anderen Interviews als zentrale unsichere Orte der Stadt gelten und denen ein schlechter Ruf vorauseilt. Sie stellen daher ›mythische Orte‹ dar (Shapland/Vagg 1988), die in der Regel gemieden werden, »wo eigentlich keiner gerne ist«, wie Marko Kaiser sagt. Für ihn stellen sie jedoch die alltäglich relevanten Orte dar. Implizit positioniert er sich damit als furchtlos.16 In Bezug auf seinen Wohnort thematisiert er zwar anfängliche Bedenken, die er aber entkräften konnte. Weiterhin konstruiert er sich als Mann im Vergleich zu jungen Frauen als weniger überfallsgefährdet. Die Konstruktion einer spezifisch männlichen Stärke, die von potenziellen Angreifern anerkannt wird, steht im Gegensatz zu einer weiblichen Verletzbarkeit. Demnach gibt es Orte, die speziell ›als Frau‹ zu meiden seien, um nicht physische und verbale Übergriffe zu riskieren. Dass Männlichkeit und Weiblichkeit nur im Rahmen von Geschlechterverhältnissen zu verstehen sind, d.h. relational, zeigt sich in den Interviews, wenn die Konstruktion einer verletzlichen, schützenswerten und daher vorsichtigen Weiblichkeit als Form respektabler Weiblichkeit mit männlichem Beschützergebahren verschränkt wird. Dies veranschaulicht ein kurzer Ausschnitt aus dem Interview mit Lara Dold. Ihr Ehemann Patrick Dold ist teilweise beim Interview dabei. Bei der Frage zum Sicherheitsmanagement in Bezug auf Kriminalität schaltet er sich sogar ein: I: Ja. Und Sie selbst jetzt? Tun Sie außer Türabschließen noch irgendwas? Sicherheitsmaßnahmen, Sicherheitsvorkehrungen treffen? (2) von jetzt Kriminalität, um sich davor zu schützen? LD: (3) Nö. PD: Sie hat einen starken Ehemann zu Hause. LD: Genau. ((alle lachen)) I: Ja, das ist auch wichtig. Habe ich auch einen. Der ›starke Ehemann‹, der als Beschützer seiner Frau auftritt und dadurch eine Form respektabler Männlichkeit verkörpert (vgl. auch Klimke 2008 und Stehr 2016), wird von den beiden anwesenden Frauen, wenn auch lachend, bestätigt. Die Interviewerin bekräftigt dies mit dem Verweis auf ihre eigene heterosexuelle Paarbeziehung. Männlicher Mut, in gefährlichen Situationen zugunsten selbst unbekannter 16 Gerade das Nicht-Vorliegen einer Emotion bzw. hier eine entsprechende Selbstpräsentation ist somit aufschlussreich; zu »Non-Emotions« als emotionssoziologisch relevantem Konzept s. Bub (2019: 166ff.).

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

Anderer einzugreifen, dokumentiert sich auch in einer »kleinen Geschichte« (Bamberg/Georgakopoulou 2008), die zu erzählen Oli Bauer offenbar wichtig ist ‒ er vergisst dabei die Interviewerfrage: OB: Das war damals in- ne Silvestergeschichte. […] Das waren wirklich Kinder. Haben nen älteren Herren aber wirklich so und da bin ich eingeschritten. Und bin wirklich, hab nich de Straßenseite gewechselt, um wegzugehen, sondern ich hab se gewechselt, um auf die Leute zuzugehen und zu sagen hier und was das soll und so weiter. Naja und da wurde rumgepöbelt und alles. Die ham dann von mir abgelassen, ich lag dann auf der Straße, mir fehlte nen halber Zahn und- und so weiter. Was war jetzt die Frage? Anlass dieser Erzählung war die Frage des Interviewers, ob Oli Bauer schon einmal Opfer von Kriminalität gewesen sei, was dieser bejaht. Oli Bauer positioniert sich mittels dieser episodischen Erzählung dann allerdings weniger als hilfloses Opfer, sondern mehr als Mann der Tat und damit als Helden, der sich durch Zivilcourage auszeichnet, deren Mangel er hier implizit (»nich de Straßenseite gewechselt«) und danach explizit beklagt. Die Vulnerabilität des Opfers wird dabei anders als in den vorigen Beispielen nicht über Geschlecht konstruiert, sondern über das Alter, denn es handelt sich um einen »älteren Herren«. Ebenfalls als vulnerabel und entsprechend schutzbedürftig gelten Kinder. Sich um solche schützenswerten Anderen zu sorgen ist auch kompatibel mit der Konstruktion von allgemein furchtloser Männlichkeit. In der Angst um andere sind Männer keine »Angsthasen«, sondern können sich als verantwortungsvoll darstellen (vgl. auch Klimke 2008), wie auch Ahmed Erdem demonstriert. Seiner Darstellung nach war er bei Glatteis mit Freunden im Sportwagen unterwegs, was er als Ausdruck des jugendlichen Wunsches nach Coolness und Imponiergehabe gegenüber Frauen beschreibt. Von diesem jugendlich-männlichen Gestus grenzt sich Ahmed Erdem im Interview allerdings ab, indem er betont, seine Freunde auf das riskante Fahrverhalten hingewiesen zu haben: »Sag ich, ›Jungs, guck mal, des is glatt. Das Auto rutscht. […] Man macht nich auf cool‹«. Dabei rückt er jedoch nicht die Angst um das eigene Wohlergehen in den Vordergrund, sondern die Angst, dass ein Kind involviert sein könnte, das durch das riskante Fahren zu Schaden kommen könnte: »Ich hab Angst gehabt, wenn ein KIND vorbei wär«. Damit positioniert er sich selbst als verantwortungsbewussten, weitsichtigen Mann, der sich als Beschützer möglicher involvierter Kinder sieht. Das Kindeswohl wird auch in anderen Interviews thematisiert, wobei meist die Eltern in die Verantwortung gerufen werden. Dass die Eltern unter den Interviewpartner*innen daher kindbezogene Ängste äußern, verwundert nicht. In diesem Kapitel interessiert, dass sie sich damit als gute Mütter bzw. Väter positionieren, die der Norm der verantworteten Elternschaft (dazu Eckert 2014) zu entsprechen vermögen. Die Angst um das eigene Kind stellt demzufolge eine sozial angemessene Angst dar bzw. emotionssoziologisch formuliert: eine Gefühlsregel,

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Gesellschaft in Angst?

die sich auf Erleben und/oder Ausdruck einer konkreten Emotion bezieht (Hochschild 1979, vgl. auch Dehne 2017: Kap. 7.1.4). Im Rahmen von Positionierungen steht der Ausdruck im Fokus. So kann Cemal Demirs Angst um die schulischen Leistungen seines Sohnes auch als Positionierung als guter Vater interpretiert werden. Eine weitere Veranschaulichung bietet das Interview mit Claudia Biehl, deren zentrales Thema im Interview »Jugendliche in größeren Gruppen« ist. Diese könnte sie z.B. im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) antreffen. Entsprechend spricht sie auch über einschlägige Ängste in Bezug auf ihr Kind: Da es diesen ›gefährlichen‹ ÖPNV nicht nutzen soll, muss es immer gefahren werden, bis es selbst einen Führerschein hat. Auch grenzt sich Claudia Biehl wiederholt von Eltern ab, die ihrer Meinung nach ihrer Verantwortung nicht nachkommen, indem sie »zu schnell« oder von »irgendjemanden Fremdes« ein Kind bekommen und »ein Kind nach dem nächsten in die Welt setzen und sich dann nicht um eins richtig kümmern können«. Über diese Fremdpositionierungen positioniert sich Claudia Biehl nicht nur als verantwortungsbewusste Mutter ihres Kindes, sondern auch als in Bezug auf ihre eigene Familie rechtschaffenes und in Bezug auf andere Familien besorgtes Gesellschaftsmitglied. Denn die ›richtige‹ Kindererziehung ist für sie von unmittelbarer gesellschaftlicher Relevanz, da nur so ›gute‹, unbedrohliche Gesellschaftsmitglieder heranwachsen.

6.4.2

Rechtschaffene Gesellschaftsmitglieder

Erwerbsarbeitende und Normkonforme In Claudia Biehls Interview werden Dimensionen von sozialen Selbstpositionierungen sichtbar, die auch für die anderen Interviews Gültigkeit besitzen: Es geht darum, sich als rechtschaffene Gesellschaftsmitglieder zu positionieren, die ihren Beitrag zum Gemeinwesen leisten, indem sie einer Erwerbsarbeit nachgehen bzw. dies intendieren, sich an Ordnung und Regeln halten und damit das Gemeinwesen nicht belasten. Handeln ›Andere‹ nicht entsprechend, monieren dies die Rechtschaffenen. Dies lässt sich im Falle Claudia Biehls auch jenseits der Responsibilisierung von Eltern nachverfolgen. So führt sie zu Interviewbeginn in Bezug auf »Jugendliche in größeren Gruppen« weiter aus: »Also wenn sie alleine sind, ist es relativ in Ordnung, aber sind sie mehrere, das- also die vergreifen sich auch an fremdem Eigentum, randalieren in Straßenbahnen, das finde ich ganz schön schlimm. Also da fühle ich mich überhaupt nicht sicher.« Die Jugendlichen werden dabei als Grenzüberschreitende konstruiert, wohingegen sich Claudia Biehl als diejenige positioniert, die sich an geltende Regeln hält. Aus dieser moralisch überlegenen und im möglichen Opferdasein unterlegenen Position muss sie die Regelmissachtung anderer fürchten und kann sie zugleich kritisieren. Denn die Regeleinhaltung, so macht sie deutlich, ist Resultat einer individuellen Entscheidung zur Rechtschaffenheit; Regelmissachtung ist damit nicht

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

zu entschulden: »Ich hab ja auch das gemacht, was die Gesellschaft von mir verlangt hat. Und habe dann irgendwo mein Leben auf die Reihe gekriegt«. Doch nicht nur der soziale Vergleich wird herangezogen, um die eigene Wohlanständigkeit zu demonstrieren. Auch Erzählungen des Niedergangs insbesondere der Jugend, die in der Kriminalitätsfurchtforschung auch als »Narratives of Decline« bezeichnet werden (Loader/Girling/Sparks 1998), können diesem Zweck dienen. Bei Claudia Biehl gibt es eine prägnante Kurzfassung für ein solches Narrativ: »Also wir haben als Kinder auch viel Mist gebaut, ohne Frage, also, aber wir haben zum Beispiel immer Respekt Älteren gegenüber gehabt.« Dass Positionierungen im Sinne der Zuordnung zu moralischen Ordnungen bzw. bestimmten Gruppen, die für diese moralische Ordnung stehen, flexible Ressourcen sind, zeigt das Interview mit Ahmed Erdem. Während er sich im ersten Interviewteil als Mitglied einer furchtlosen »Gang« präsentiert und als kriminell geltendes Handeln nur dann problematisiert, wenn es nicht einer Art Ganovenehre entspricht, grenzt er sich im zweiten Interviewteil dezidiert und mit Nachdruck ‒ u.a. klopft er auf den Tisch ‒ von der Positionierung als kriminell ab: I: […] und jetzt kommen wir zu Kriminalität. AE: Ich bin nich kriminell. ((klopft auf den Tisch)) I: Hab ich nich geSAGT. Äh wie is es mit Kriminalität und an was denken Sie, wenn es um Kriminalität geht. AE: Nichts, ich bin ein braver Junge. Dass er sich direkt bei der Einführung des Themas positioniert, indem er mit Nachdruck eine mögliche Täterrolle von sich weist, ist im Vergleich zu anderen Interviews bemerkenswert, in denen die Interviewpartner*innen für gewöhnlich als potenzielle Opfer sprechen. Möglicherweise verweist dies auf Fremdzuschreibungen als kriminell, die Ahmed Erdem aufgrund seiner sozialen Position erfährt und von denen er sich hier umgehend abgrenzt: Einer möglichen Positionierung als kriminell hält er die Selbstpositionierung »braver Junge« entgegen, mit der er eine kindliche Unschuld für sich in Anspruch nimmt. Eng verbunden mit Abgrenzungen von Kriminalität und Devianz sind in den Interviews auch Positionierungen als leistungswillige und -fähige Erwerbsarbeitende, die ihr Einkommen auf ordnungsgemäße Weise erzielen. So beharrt auch Ahmed Erdem darauf, ein teures Rendez-Vous inklusive vieler Taxifahrten durch Erwerbsarbeit finanziert zu haben: »Ich glaub, des Mädchen […] sagt sich ›woher hat diese Junge- so Jungliche soviel Geld‹; Mann. Aber ich arbeite.« Erwerbsarbeit könne man schließlich immer finden, so Ahmed Erdem, man müsse nur wollen. Diese Darstellung des eigenen Arbeits- bzw. Leistungswillens, die auf eine Responsibilisierung der Gesellschaftsmitglieder verweist, findet sich in zahlreichen weiteren Interviews. Sich selbst via Erwerbsarbeit versorgen zu können und damit das Gemeinwesen nicht zu belasten, stellt ein wichtiges Charakteristikum recht-

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Gesellschaft in Angst?

schaffener Gesellschaftsmitglieder dar. Das veranschaulicht auch das Interview mit Heidi Flieder, die zum Interviewzeitpunkt aufgrund chronischer Krankheit krankgeschrieben ist und vermutlich frühverrentet wird. Sie befüchtet nun den Gang zum Arbeitsamt und macht klar: »Ich KENN das ja gar nicht; nä? Ich war ja nie ARbeitslos.« Die Positionierung als durchgängig Erwerbstätige gewinnt umso mehr an Gewicht, als Heidi Flieder in ihrem Berufsleben von strukturellen Umbrüchen betroffen war. Jedoch stellt sie diese nicht als Legitimation für ein mögliches berufliches Scheitern dar, sondern rückt vielmehr ihre eigenen Anstrengungen in den Vordergrund, wenn sie auf ihre Umschulungen hinweist, die sie nach dem Verlust ihrer alten Arbeit besucht hat. Sie bilanziert daher: »Du hast was geLEIStest, du hast dem Staat nicht auf der Tasche gelegen.« Die eigene Leistung und Anstrengung kontrastiert sie ebenso wie andere Interviewpartner*innen mit dem angeblich fehlenden Leistungswillen von »Ausländern«, die ihr zufolge »rumlungern« und zugleich »Markenklamotten anham«, was die Frage aufwerfe, woher sie das Geld dafür hätten. Die Kategorien »ausländisch« und »kriminell« erfahren dadurch eine enge Verschränkung. Auch in anderen Interviews werden einem deutschen, produktiven Kollektiv unproduktive, deviante ›Andere‹ gegenübergestellt, die »ne starke BeDROHung für Deutschland« darstellen (Nicole Schütze).

Gebildete und Aufgeklärte Die Positionierung als rechtschaffene Erwerbsarbeitende und normkonforme Gesellschaftsmitglieder wird in einigen Fällen ergänzt durch die Positionierung als Gebildete und Aufgeklärte, die in unterschiedlichen Spielarten rekonstruiert werden kann. Zur Selbstpositionierung als gebildet und aufgeklärt gehört in manchen Interviews, dass man über allgemein als relevant erachtete gesellschaftliche Bedrohungen informiert ist und sich in gewissem Maße sorgt. Eine einschlägige Angst oder zumindest Beschäftigung mit diesen Bedrohungen zu kommunizieren kann als Befolgen einer entsprechenden Gefühlsregel (Hochschild 1979) interpretiert werden. Michael Sommer etwa äußert in Bezug auf Terrorismus, dass er sich deswegen zwar nicht ängstige, aber dies auch nicht ignorieren kann: »Ich will das jetzt nicht irgendwie ganz beiseiteschieben.« Auch in Bezug auf Gesundheitsrisiken meldet er ein entsprechendes Bewusstsein an und positioniert sich somit im Sinne einer Identitätsnorm als informierter, reponsibilisierter Bürger. Gleichzeitig führt er praktische Gründe an, warum er alltagsweltlich nicht entsprechend handelt: »Mir ist es durchaus bewusst, aber oftmals hat man vielleicht nicht die Zeit vielleicht, sich mit dem inniger zu beschäftigen.« Im Interview mit Conny Müller werden noch andere gesellschaftlich relevante Themen deutlich, deren Kenntnis und Besorgnis darüber wichtig erscheint, nämlich Umweltthemen: »Na klar mach ich mir auch Gedanken um Natur oder um

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

Zerstörung der Natur oder um solche Sachen, um Kriege, da würd ich nicht sagen, dass ich da jetzt keine Angst davor hätte«. Zwar sind Umweltproblematiken »nicht so präsent« für sie, aber erfordern dennoch eine Auseinandersetzung, denn es handelt sich um »ne Sache wo man Angst davor haben muss«. Die Deutung als Gefühlsregel wird hier durch die Zwangs-Agency »muss« paradigmatisch realisiert. Im Interview an Sicherheitsthemen des Common Sense anzuknüpfen kann daher nicht nur als kurzzeitige Aktivierung von ansonsten wenig relevanten Unsicherheitsthemen (Zwick 2005) verstanden werden (dazu das vorige Unterkapitel), sondern auch als funktional für Identitätsarbeit im Sinne der Präsentation eines moralischen Selbst. Andere Themen, die als Sicherheitsbedrohungen gelabelt werden, sind aber nicht unproblematisch zu kommunizieren, da sie wiederum mit anderen Normen belegt sind. Dies betrifft die Kommunikation über ›Ausländer‹ bzw. ›den Islam‹ als vermeintliche Sicherheitsbedrohungen verschiedener Art. Um den Rassismusvorwurf17 abzuwenden, positionieren sich die Interviewpartner*innen daher als besonders gebildet bzw. weltläufig. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist Nicole Schütze, die »die Türken« bzw. »den Islam« als Sicherheitsbedrohung konstruiert und mit Thilo Sarrazins Thesen sympathisiert. Ihre Meinung wird allerdings von anderen kritisiert und abgewertet, wie sie sagt: »Es gibt Freunde, Familie, die sagen ›ah sag mal, du bist ja total UNgebildet, wenn du solche Sachen sagst‹«. Von dieser Fremdpositionierung, die Rassismus als Bildungsdefizit deutet, grenzt sich Nicole Schütze daher im Interview ab, indem sie sich mit der Sozialfigur des »Piefke aus Ostsachsen« kontrastiert und sich gegenüber dieser Figur als gebildete, weltläufige und reflektierte Person präsentiert. Diese Sozialfigur zeichnet sich ihr zufolge durch regionale Beschränktheit sowie unreflektierten, pauschalisierenden Rassismus aus: NSch: Ich MUSS sagen, also ich bin- ich hab stuDIERT, ich hab sehr viel in andern Ländern geARbeitet, auch in anderen Ländern wieder studiert und so weiter, also ich bin jetzt nicht irgendwie ein PIEFke aus OSTsachsen, der sagt ((mit verstellter Stimme) »ich will die MOSlems hier nicht haben weil die machen allet kaputt.«) So ist es NICH. Und ich hab mich natürlich auch mit dem Thema beschäftigt und ich hab auch mir über andere Religionen Gedanken gemacht, aber ich finde SCHON, dass ähm (3) ((langsam) dass der IsLAM) en Stück weit unsere Sicherheit beEINträchtigt.

17 Zur Wahl des Rassismusbegriff s. Kap. 8.3, wo ich mich von Begriffen wie Ausländer- und Islamfeindlichkeit sowie Xeno- und Islamophobie abgrenze, weil sie den Kern des Phänomens verfehlen und zu Fehldeutungen verleiten.

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Gesellschaft in Angst?

Den Vorwurf der Bildungsferne gibt Nicole Schütze sodann an andere weiter. Zum einen betrifft dies klassistisch Abgewertete:18 Bespielsweise zieht sie für Amokläufe, die sie als Bedrohung nennt, v.a. die ›ungebildete Unterschicht‹ zur Verantwortung und plädiert daher für »Bildung, Bildung, Bildung«. Zum anderen konstruiert sie sich gegenüber den rassistisch abgewerteten ›Muslim*innen‹ als gebildet, wie sie in einer kurzen Episode verdeutlicht, als sie mit einer Freundin, die sie der ›normalen Schicht‹ zurechnet, deren Kind aus dem Kindergarten abholte: »Wir haben das Kind zusammen aus dem Kindergarten abgeholt, ja da war da Ali und Murat und=und=und das Deutsch von denen war jetzt eben nicht normales Deutsch, ((erheitert) sondern das war schon irgendwie weiß ich nicht) ›haste n Problem, Alter?‹ und DAS find ich beDROHlich.« Ihr Deutsch stellt sie als Norm-Deutsch dar, dem Ali und Murat nicht entsprechen. Damit stellt sie sich selbst nicht nur als (relativ) gebildet und integriert dar, sondern auch als Bürgerin, die sich um ein funktionierendes, sicheres Gemeinwesen sorgt. Bei Rainer Kretschmann erfolgt die Selbstpositionierung als gebildet und aufgeklärt noch viel prominenter: Er nennt das Thema religiösen Fanatismus ‒ womit er Islamismus meint ‒ und ordnet sich dabei selbst dem weithin aufgeklärten Deutschland zu, das von Ausnahmen abgesehen als Bildungsland gesehen werden kann. Auch hier wird das Eigene als das ›Normale‹ konstruiert, das ›Andere‹ als deviant. Zu dieser deutschen bzw. insgesamt westlichen Aufgeklärtheit gehört für Rainer Kretschmann auch die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, die er von einer muslimischen traditionsbedingten Rückständigkeit abgrenzt, die die Frauen zur Unterordnung zwinge. Deutsche »Aufklärungsarbeit« im Ausland begrüßt er daher.

6.4.3

Zwischendiskussion

In diesem Unterkapitel wurde ein Modus der mikropolitischen Nutzung von Kommunikation über Angst bzw. (Un-)Sicherheit beleuchtet, nämlich die Her- und Darstellung moralisch als erstrebenswert geltender (Gruppen-)Identitäten. Deutlich wurde, dass sich die Interviewpartner*innen durch die Sicherheitsbedrohungen, die sie anführen, und die ›Ängste‹, die sie für sich in Anspruch nehmen, als Anständige präsentieren können, in zentraler Weise als respektable, da furchtlose Männer und respektable, da schützenswerte Frauen, als verantwortungsbewusste Eltern und als rechtschaffene Gesellschaftsmitglieder, die sich an Arbeit, Leistung, Normkonformität, Bildung und Aufklärung orientieren und deren Fehlen bei ›Anderen‹ bemängeln. Angst- bzw. (Un-)Sicherheitskommunikation zeugt demnach 18 Klassismus meint die Abwertung von ›Anderen‹ auf Basis ihrer sozialen Herkunft oder Position. Dazu ebenfalls Kap. 8.3.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

nicht immer von einem in der Regel als negativ bewerteten Gefühl (dazu Kap. 6.3), sondern kann hochgradig funktional sein (vgl. bereits Elias/Scotson 2002). Die dabei implizierten Vorstellungen von Anstand sind keineswegs als individuelle Konstruktionen zu verstehen, sondern als kulturell geprägte. Zum einen wird in den individualisierenden Verantwortungszuschreibungen, d.h. den Responsibilisierungen bspw. von Eltern, eine »Kultur der Selbstzuständigkeit« deutlich (Bub 2019: Kap. 3.1 mit Bezug zu Neckel und Wagner, vgl. auch Becks Analysen zur Individualisierung in Kap. 2.2.1). Besonders in den Interviews mit ostdeutschen Interviewpartner*innen ist diese Eigenverantwortung aber sozial eingebettet: Es geht darum, seinen Beitrag zum (Arbeiter-)Kollektiv zu leisten; als asozial gelten diejenigen, die sich dem verweigern (vgl. Lindenberger 2003).19 Zum anderen dominiert offenbar weithin eine Kultur der Risikoaversion, derzufolge es in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften als unverantwortlich, gar deviant gilt, unnötige Risiken einzugehen (Tulloch/Lupton 2003: 10, vgl. auch Furedi 2007 und 2018). Angst konnte so zu einem angemessenen, positiv bewerteten Gefühl werden (Biess 2008) und in bestimmten Zusammenhängen zu einer Gefühlsregel (Hochschild 1979). Dies erlaubt im Vergleich zu den Ausführungen in Kapitel 5 eine weitere Interpretation, warum gesellschaftlich bzw. medial präsente Unsicherheitsthemen im Interview aufgegriffen werden, ohne dass diese in den Erzählungen der Interviewpartner*innen als besonders angsterregend erscheinen: Zu Selbstpositionierungszwecken werden die Ängste thematisiert, die ein gutes Gesellschaftsmitglied zu haben hat. Dies macht auch die Normalisierungen verständlich, mit denen diese Ängste thematisiert werden: Es handelt sich um normale im Sinne normkonformer Ängste. Darüber hinaus ist der spezifische Interviewkontext mit Blick auf den Adressatenzuschnitt von Äußerungen als Einflussgröße für die rekonstruierten Positionierungen zu reflektieren. Eine Deutung für unsere Studie ist, dass sich die Interviewpartner*innen gegenüber den als respektabel geltenden Forschenden bzw. Interviewenden (Katz 2004) als ebenso respektabel präsentierten. Sie hatten möglicherweise auch im Blick, dass die Studie vom BMBF als staatlicher Einrichtung gefördert ist, und stellten sich entsprechend als zivilisierte Bürger*innen dar. Letzteres wurde vermutlich auch dadurch begünstigt, dass die Interviewpartner*innen als Mitglied eines ethnischen und/oder nationalen Kollektivs der Deutschen adressiert wurden und möglicherweise in ihrer Rolle als Staatsbürger*innen antworteten (vgl. Kap. 5.3.2). 19 Lindenberger ruft zudem in Erinnerung, dass »Asozialität« Teil des DDR-Strafgesetzbuches war und mit Maßnahmen wie Arbeitserziehung oder einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet wurde. Denn »Asozialität« und auch »Rowdytum« »definierten nicht nur das dem Sozialismus Fremde, sondern auch ex negativo das ihm Wesensgemäße. Ohne ›Asozialität‹ keine ›sozialistischen Werktätigen‹ und keine ›sozialistische Lebensweise‹.« (Lindenberger 2003: 190)

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Gesellschaft in Angst?

Im Vergleich zu bisherigen Forschungen in der Sociology of Risk and Uncertainty, die sich v.a. mit Moral und Identität in Ernährungs- und Gesundheitsdiskursen beschäftigt haben (Lupton 1993, Montelius/Giritli Nygren 2014), wurde in den mir vorliegenden Interviews deutlich, dass sich auch Thematisierungen im Bereich Erwerbsarbeit und Kriminalität samt Gewalt für Moralisierungen und Identitätsarbeit eignen. Darauf haben auch kritische Kriminolog*innen sowie Forscher*innen in der Soziologie sozialer Probleme hingewiesen (vgl. Böhnisch/Cremer-Schäfer 2004, Cremer-Schäfer 2011, Klimke 2008, Stehr 2016). Dabei sollten derlei Selbstpositionierungen nicht als feste Zuschreibungen, sondern einem Doing-Ansatz folgend als flexible Ressourcen betrachtet werden, mit denen die Interviewpartner*innen situativ, d.h. auch im Interviewkontext, Differenz, Identität und Moral herstellen. Je nach Situation kann so von dem einen oder anderen Gruppencharisma einer konstruierten Gemeinschaft profitiert werden (Elias/Scotson 2002).

6.5

Argument: Angst und (Un-)Sicherheit als wirkmächtiger Topos

Selbst- und Fremdpositionierungen sind relational zu betrachten, sie konturieren sich wechselseitig. Während im vorigen Unterkapitel die Selbstpositionierungen im Vordergrund standen und ihre Funktionalität im Hinblick auf Identitätsarbeit, interessieren im folgenden ersten Abschnitt (Kap. 6.5.1) die Fremdpositionierungen. Auf Basis der Selbstpositionierung als anständig und der Fremdpositionierung als Bedrohung kann die Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit genutzt werden, um politische Forderungen nach Ausschluss und Bestrafung dieser ›gefährlichen Anderen‹ zu artikulieren und dadurch, so die weiterführende Interpretation, eigene Dominanzen in Form von Weltsichten und Privilegien zu konservieren oder zu restaurieren (vgl. Kap. 8.3). Deutlich wird bei dieser Verwendung von Angst als Argument, dass es nicht (nur) um die Emotion Angst geht: Ungerechtigkeitsempfinden, etwa in Form von Ärger, dominiert. Während Othering (inklusive Selfing20 ) und die damit verbundenen politischen Forderungen im Großteil der Interviews zu finden sind, nutzen nur wenige Interviewpartner*innen die Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit für liberale Gegenpolitisierungen (Kap. 6.5.2). In der abschließenden Zwischendiskussion (Kap. 6.5.3) gebe ich Interpretationsmöglichkeiten, warum Angst und (Un-)Sicherheit zu einem potenziell so wirkmächtigen Topos werden konnten. 20 Während sich der Othering-Begriff meiner Wahrnehmung nach im deutschsprachigen Kontext anstelle eines deutschsprachigen Begriffs etabliert hat, trifft dies für den Selfing-Begriff nicht zu. Als Komplementärbegriff verwenden ihn aber Mecheril und van der Haagen-Wulff (2016: 126).

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

6.5.1

Politisierungen: die ›Bedrohlichen‹ ausschließen, responsibilisieren, strafen

Selbst- und Fremdgruppe sind zum einen keine natürlichen, sondern erst durch Konstruktionsprozesse hervorgebrachte Einheiten, die objektiviert sein können, aber nicht unumkämpft sein müssen. Das ›Andere‹ ist daher anders, weil es im Prozess der »VerAnderung« zum ›Anderen‹ gemacht wurde und wird (Reuter 2002: 20, vgl. auch Attia 2014). Dies drückt der englische Begriff Othering aus. Zum anderen ist die Beziehung zwischen Eigengruppe und den ›Anderen‹ keine hierarchiefreie: Die ›Anderen‹ sind nicht einfach anders, sondern in der moralischen Hierarchie dem als gut und anständig konstruierten Selbst untergeordnet ‒ sie sind die ›Gefährlichen‹, die daher unter Rekurs auf (Un-)Sicherheit und Angst bestraft, responsibilisiert und ausgeschlossen werden sollten. Das Interview mit Nicole Schütze bietet hierfür paradigmatisches Anschauungsmaterial, sodass ich hieran das Grundmuster aufzeige. Wie bereits bei den Positionierungen deutlich wurde, präsentiert sich Nicole Schütze als gebildet im Vergleich zu den Sozialfiguren des »Piefke aus Ostsachsen« auf der einen Seite und »Ali und Murat« auf der anderen Seite. Damit sind die zentralen Fremdpositionierungen umrissen: Es handelt sich um die klassistisch konstruierte ›Unterschicht‹ sowie um die rassistisch konstruierten ›Muslime‹ bzw. ›Türken‹. Beide verweigern sich Nicole Schütze zufolge der Integration in die ›normale‹ Gesellschaft. Dies weist eine soziokulturelle Dimension auf: Sie sprächen anders und folgten anderen Werten. So stellt Nicole Schütze das Sprechen von »Ali und Murat« als bedrohlich dar, spricht über »Ehrenmorde« als extreme, aber mögliche Auslegung des Korans, die inkompatibel mit deutschen Werten sei21 , und kritisiert ferner ›Hartz IV‹-Beziehende aufgrund ihrer unverantwortlichen Verhaltensweisen, die zur sozialen Reproduktion eines ungebildeten, potenziell kriminellen Milieus führten: NSch: Wenn ich hier in der Bahn fahre und da die Mütter sehe, die irgendwie komische Zähne haben und fettige Haare und noch die Schachtel Zigaretten in der Hand, ich mein, ich rauch selber, aber ich hab kein Kind. Und die Bierflasche und DANN nen Kinderwagen schieben; dann denk ich mir tja; das Kind wird das erste sein was mich in 30 Jahren verkloppt. Weil’s einfach nichts Besseres gelernt hat. 21 Kritisch dazu bspw. Yιlmaz-Günay 2010, der darauf hinweist, dass generell ein großer Teil der Morde an Frauen von (Ex-)Partnern und Familienmitgliedern ausgeübt wird, wobei das bei ›Deutschen‹ als Beziehungstat gilt und individualisierend zugerechnet wird, bei ›Muslim*innen‹ jedoch kulturalisierend als »Ehrenmord« interpretiert wird. Während bei ersterem also kulturelle Einflüsse, insbesondere ein nach wie vor existierender Sexismus, ignoriert werden, werden bei zweiterem individuelle Einflüsse negiert (vgl. auch Attia 2013). Beides sind letztlich unterkomplexe Konstruktionen.

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Und das find ich schlimm. Und der Mutter würd ich am liebsten sagen: »Komm mal mit, ich zeige mal, wie ICH lebe. Und das ist vielleicht auch nicht schlecht.«22 Die klassistische Abwertung erfolgt hier entlang von Gesundheitsdiskursen, wie bereits konzeptuell von Montelius und Giritli Nygren (2014) beschrieben (s. Kap. 2.3.2), und entlang von Schönheitsvorstellungen, die Burkart in einem Artikel zur »Kulturbedeutung der Haare« (2000) analysiert hat. Eine als ungesund geltende Ernährung sowie als verwahrlost geltende Frisuren disqualifizieren ihre Akteur*innen bzw. Träger*innen aus Sicht der Mittelschicht. Zu dieser soziokulturellen Dimension der von Nicole Schütze diagnostizierten Nicht-Integration in die ›normale‹, rechtschaffene Gesellschaft kommt die sozioökonomische Dimension der fehlenden Integration in die Erwerbsarbeits- und Leistungsgesellschaft. Hierfür rekurriert Nicole Schütze wieder auf das Beispiel von »Ali und Murat«, die hier jedoch als »Ali und Mohammed« bezeichnet werden, was darauf hinweist, dass es weniger um konkrete Personen als um stereotype Sozialfiguren geht: NSch: Ich meine, der Dönermann um die Ecke ist mein FREUND; ja? Find ich TOLL; aber er kann auch DEUTSCH, der MACHT was, und dann find ich das völlig legitim. Auf der anderen Seite hier Ali und Mohammed in dem Kindergarten meiner Freundin, weiß ich nich; also »Alter, haste’n Problem?« Warum muss ich die in meinem Land haben; was bringen die mir; helfen die mir? Fördern die meine Produktivität? Am Ende des Tages kosten sie mich noch Geld. Nicole Schütze rekurriert hier auf eine neutral wirkende Leistungslogik (Haupt 2012), auf deren Basis sie die vorgebliche Nicht-Produktivität und NichtIntegration von »Ali und Mohammed« im Unterschied zum tätigen »Dönermann« kritisiert. Darauf aufbauend stellt sie eine politische Forderung auf, die auf Ausschluss dieser nicht-produktiven und offenbar nicht-deutschen ›Anderen‹ aus dem deutschen Nationalkollektiv zielt, als dessen Mitglied sich Nicole Schütze präsentiert. Man müsse in der Zuwanderungspolitik nämlich »solche von solchen filtern, also ich muss DIE natürlich ins Land lassen, die mir Produktivität geben und die mir helfen«. Deutlich wird in diesen Äußerungen, wie sich Nicole Schütze im Vergleich zu den ›Anderen‹ als moralisch überlegen positioniert entsprechend der in Kapitel 6.4 herausgearbeiteten positiven Selbstpositionierungen, und wie sie diese Überlegenheit als Normalität setzt, indem sie sich bspw. als Teil der ›normalen Schicht‹ konzipiert oder als Sprecherin von ›normalem Deutsch‹. Ihre Lebensweise stellt daher das Modell dar, an dem sich andere orientieren sollten, wie ihr imaginierter Kommentar an die ›Hartz IV-Mutter‹ belegt: »Komm mal mit, ich zeige mal, wie ICH lebe.« Die Bedeutung der Abweichung von dieser als absolut gesetzten Lebensweise 22 Vgl. Kap. 6.4.1 zur Norm der verantworteten Elternschaft, deren Bruch hier thematisiert wird.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

wird noch gesteigert, indem Nicole Schütze diese bzw. die ›Anderen‹ als bedrohlich markiert. Hierfür greift sie einerseits auf eine objektivierende Sprache der Sicherheit zurück, wenn sie etwa kritisiert, dass manche ihrer Freund*innen und Bekannten die Wirtschaftskrise als Anlass genommen hätten, nicht mehr arbeiten zu gehen: »Das ist ne starke BeDROHung für Deutschland. Wenn alle so denken, wo kommen wir denn da hin«. Andererseits verwendet sie eine subjektivierende Sprache der Sicherheit, wenn sie auf ihr Bedrohungsgefühl verweist. Auf dieses rekurriert sie z.B., als sie ›Türken‹ bzw. ›Muslim*innen‹ als Unsicherheitsthema im Kontext der allgemeinen Sicherheit einführt: NSch: ((erheitert) Darf man das ansprechen?) die Türken? I: Man darf alles ansprechen. NSch: Also das- ((neckisch) das ist gemein eigentlich; wenn man das sagt, oder?) I: Na ich weiß nicht wie du’s MEINST; NSch: Hm (1) also manchMAL fühl ich mich SCHON bedroht von andern ReliGIOnen (2) aber das ist schon ein heikles Thema. Darf man das- darf man das überhaupt sagen? I: Na wenn das so ist, dass du das denkst, ist das ja schon dein subjektives Empfinden, ja. In dieser Passage wird ausgehandelt, inwiefern rassistische Äußerungen sagbar sind. Nicole Schütze verweist hier auf ihr subjektives Empfinden, was der Interviewer als Faktum anerkennt (»Na wenn das so ist«). Im weiteren Interviewverlauf kommt Nicole Schütze noch weitere Male auf das Bedrohungsgefühl zurück, um rassistische Äußerungen zu legitimieren, z.B. wenn sie sagt: »Ich kann das gar nicht so beSCHREIben, das ist echt ganz schlimm, wenn ich das so sage, aber mich bedroht- ich fühl mich einfach beDROHT dadurch.« Das Bedrohungsgefühl wird hier als nicht hinterfragbar konzipiert, es ist »einfach« da ‒ und verleiht nicht nur ihren abwertenden Äußerungen Legitimation, die gegen das Vorurteilsgebot verstoßen, sondern auch den darauf aufbauenden Forderungen nach Ausschluss der ›Anderen‹. Dabei muss nicht näher ausgeführt werden, inwiefern Deutschland oder sie selbst bedroht sind. Die Anrufung von Sicherheit und Sicherheitsgefühl kann im Bereich des Schlagworts verbleiben und scheint Argument genug, um Forderungen erheben und mit Nachdruck untermauern zu können. Fraglich ist jedoch, ob mit der argumentativen Anrufung von Bedrohung und Bedrohungsgefühlen auch Angst als Emotion verbunden ist. Folgende Hinweise sprechen dagegen: Erstens thematisiert Nicole Schütze die ›Türken‹ nicht als Bedrohung für ihre persönliche Sicherheit, sondern als Bedrohung für ›die Deutschen‹, d.h. das Gemeinwesen. Zweitens wirkt die Art und Weise der Einführung dieses Themas weniger angsterfüllt als bewusst provozierend. Drittens dokumentiert sich für mich in den Erzählungen zur Wirtschaftskrise mehr Ungerechtigkeit

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als Unsicherheit. Während Nicole Schütze von ihren eigenen Leiden und Leistungen während der Wirtschaftskrise erzählt, kontrastiert sie sich mit anderen, die diese nicht erbrächten (Sozialdimension von Ungerechtigkeit), aber dennoch von staatlichen Leistungen profitierten (Systemdimension von Ungerechtigkeit). Besonders deutlich wird der starke Bezug zu Ungerechtigkeitserleben im Kontext von Thematisierungen zu ›gefährlichen Anderen‹ in den Fällen von Claudia Biehl und Gaby Enge. An die Unsicherheitsthematisierungen knüpfen sich bei ihnen Ungerechtigkeitsthematisierungen an, die allerdings unter Rekurs auf das Interviewthema als Unsicherheit gerahmt werden. Claudia Biehl kommentiert ihre gesamten Erzählungen im themenoffenen Teil mit: »Also ich wusste ja anhand des Briefes, es geht um Sicherheit und da hab ich mir schon nen Kopf gemacht«. Doch es geht um weit mehr als das: Schon in ihren ersten Thematisierungen zu den »Jugendlichen in größeren Gruppen«, von denen ihr zufolge verschiedene Sicherheitsbedrohungen ausgehen, rekonstruiere ich mehr Ärger als Angst. So kommt sie auf deren Normbrüche zu sprechen, die staatlicherweise nicht ausreichend sanktioniert würden. Als Illustration nennt sie einen Überfall, vermutlich einen Handtaschenraub, auf ihre Großmutter »in ner Kleinstadt, am hellichten Tag« durch einen Zwölfjährigen und problematisiert die aus ihrer Sicht mangelnde Strafverfolgung: »Obwohl man diesen Täter überführt hat, passiert da nichts und das kann nicht sein.« Dem schließt sie eine allgemeinere Problematisierung an, in der sie einige ihrer politischen Forderungen nach strikterer Strafverfolgung anspricht: CB: Ja, also dass man da besser verurteilt, auch mehr die Jugendlichen, also die ja immer jünger werden, die haben ja doch ne Strafverminderung, oder wie das heißt, dass man da auch ein bisschen mehr, mehr macht und ja, denen vielleicht auch nicht immer alles aufs Butterbrot serviert. […] Ich hab schimmliges Brot essen müssen, weil ich kein Geld hatte, mit Bafög, meine Miete war zu hoch, ich musste Schulbücher zahlen, ich musste alles zahlen, mir hat keiner geholfen […]. In dramatisierender Weise kontrastiert sie hier die Jugendlichen aus ›asozialen‹ Verhältnissen, wie sie es nennt, mit sich selbst: dort die Devianten, hier die normkonform lebende Leistungsträgerin; dort diejeningen, die dafür staatliche Aufmerksamkeit »aufs Butterbrot serviert« erhalten, hier die Person, die auf sich alleine gestellt ist und aus Ressourcenmangel »schimmliges Brot« isst. Im weiteren Verlauf des Interviews wiederholt sich dieses Ungerechtigkeitsmotiv und verstärkt sich: Claudia Biehl gibt nicht nur an, für ihre Leistungen keine Anerkennung zu erhalten, sondern sieht sich vom Staat »gezwungen«, an einem für sie unattraktiven Ort eine Stelle als Beamtin anzutreten. Damit grenzt sie sich im Gesamtkontext des Interviews nicht nur nach unten ab, von den ›Asozialen‹, sondern auch nach oben: vom Staat, der nicht für Gerechtigkeit sorgt. Entsprechend stellt sie rund um ihr Thema der Jugendlichen einige politische Forderungen: mehr Sicherheitskräfte, eine funktionierende Polizei, die nicht wegschaut, eine Justiz, die »definitiv die Tä-

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

ter mehr verurteilen« und die Eltern dieser Jugendlichen mehr zur Verantwortung ziehen sollte. Ähnlich gestalten sich Gaby Enges politische Forderungen, für die sie das Interview nutzt. Zwar scheint Angst ihr aktuelles Lebensgefühl darzustellen, wie ich in Kapitel 6.3.2 rekonstruiert habe, doch bedeutet dies nicht, dass jede ihrer Interviewäußerungen (nur) auf Angst verweist. Vielmehr changiert der emotionale Kern ihrer Erzählungen bisweilen mehr Richtung Ärger und Empörung über als ungerecht empfundene Sachverhalte. Dabei konstruiert sie sich den vorigen Beispielen ähnlich als Leistungsträgerin, der es nicht gedankt wird, und kontrastiert dies einerseits mit Arbeitslosen, die nichts tun, aber denen »alles in den Hintern geschoben« wird. Andererseits grenzt sie sich von potenziellen Kriminellen und Junkies ab, deren Opfer sie als Ladenbesitzerin werden könnte. Diese konzipiert sie als Andere der gesellschaftlichen Ordnung, wenn sie sagt: »Die ham ja KEIne sag ich jetzt mal nicht die Verhaltensnorm die wir so KENNen.« Zentral ist hier nicht der subjektivierende Bezug zu Angstgefühlen oder eine objektivierend dargestellte Sicherheitsbedrohung wie zuvor bei Nicole Schütze, sondern eine Bezugnahme auf eine als intersubjektiv gültig dargestellte soziale Ordnung. Für deren Aufrechterhaltung zieht sie auch den Staat in die Verantwortung, der ihrer Ansicht nach darin versagt, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Zur Verdeutlichung erzählt sie eine Beispielgeschichte, in der ein Täter nach der Verhaftung wieder auf freien Fuß gesetzt wird und »weitermachen« kann. Gaby Enge schlussfolgert daraus: »Und die Polizisten sollen meine Sicherheit gewähren? Na da lach ich mich nur tot.« Wie Claudia Biehl greift sie zudem auf Essensmetaphern zurück, womit sie der eigenen ungerechten Behandlung eine existentielle Bedeutung verleiht: Als Opfer von Überfällen stehe sie »GANZ ganz weit hinten in der Futterkrippe und den Tätern schmieren sie Honig ums Maul.« Während es für sie also ihrer Darstellung nach um die basale Frage geht, ob für sie Nahrung übrig bleibt, würden die Täter mit Süßigkeiten verwöhnt, ohne sich selbst bemühen zu müssen. Darüber hinaus problematisiert Gaby Enge die aus ihrer Sicht gegebene problematische Zuwendung zu Täter*innen mit der Semantik des Streichelns, was für einen ›Kuschel‹-Kurs anstelle harter Bestrafung steht: »Die Täter werden gestreichelt, und nochmal gestreichelt und wir werden sie dann mit Wattebällchen schmeißen und dann auf nen guten Weg bringen.« ›Gestreichelt‹ würden auch die Wirtschaftseliten, die in der Bankenkrise versagt haben und dafür »Abfindungen in Millionenhöhe« erhalten. Entsprechend artikuliert sie im Interview angesichts ihrer »Existenzangst« und für ihre »Sicherheit« Forderungen nach härterer, konsequenterer Bestrafung von Kriminellen und einer der Leistung angemesseneren Verteilung von Unterstützung. Was in den Interviews mit Nicole Schütze, Claudia Biehl und Gaby Enge nun ausführlich gezeigt worden ist, findet sich auch in anderen Fällen. Einem als rechtschaffen konzipierten ›Wir‹ werden als bedrohlich geltende ›Andere‹ gegenüber-

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gestellt und mittels der Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit politische Forderungen gestellt, die diese ›Anderen‹ ausschließen, responsibilisieren und strafen. Wer dieses ›Wir‹ ist, d.h. wer dazu gehört und wer nicht, und was eine honorable Leistung ist, die die Interviewpartner*innen für sich in Anspruch nehmen, ist dabei alles andere als objektiv. Zwar nehmen die bisher vorgestellten Interviewpartner*innen für sich in Anspruch, Teil der ›normalen‹, respektablen Gesellschaft zu sein und grenzen sich von ›Asozialen, ›Ausländer*innen‹ oder ›Muslim*innen‹ ab. Doch geben die beiden folgenden Beispiele einen Eindruck davon, dass es sich hierbei um umkämpfte Kategorien handelt. Das erste Beispiel ist Nadia Wojcik, die in Polen geboren ist und nach wie vor die polnische Staatsbürgerschaft hat. Sie wurde jung Mutter, lebt in einem Stadtviertel mit schlechtem Ruf, raucht in der Gegenwart ihres Kindes auf dem Balkon und befindet sich mit Mitte 20 noch in der Ausbildung. Gemäß den Klassifizierungen der zuvor zitierten Interviewpartner*innen (insbesondere Nicole Schütze) würde sie nicht zum respektablen ›Wir‹ zählen. Doch Nadia Wojcik sieht dies anders und vermag es ihrerseits, sich als Teil des deutschen Kollektives zu konzipieren, indem sie sich von kriminellen ›Ausländern‹ abgrenzt und sich damit den Etablierten zuordnet. Zwar bezeichnet sie sich als Ausländerin, betont aber auch, dass sie »seit über 20 Jahren« in Deutschland lebt und mit ihrer Familie ein ordnungsgemäßes Leben führt: »Wir haben uns integriert, wir machen Ausbildung, wir erziehen unsere Kinder«. Dem gegenüber stellt sie die »andren«, womit sie v.a. arbeitslose ›Ausländer*innen‹ meint, denn »die leben auf unsre Kosten, die wo angemeldet sind, bekommen Geld von Staat, dann laufen die spaziern und brechen noch überall in die Häuser ein bei den Leuten, die versuchen zu arbeiten oder so und nicht da sind«. Auch hier sind die Leistungsträger*innen die Opfer: einerseits der kriminellen Akte der ›Anderen‹, andererseits müssen sie deren Arbeitslosengeldbezug mitfinanzieren. Eine politische Forderung lautet daher, kriminelle Ausländer auszuweisen: »abschieben, gleich sofort abschieben«, wie Nadia Wojcik sagt. Das zweite Bespiel ist Cemal Demir, der in der Türkei geboren wurde und gläubiger Muslim ist ‒ und somit ebenfalls potenziell in die Kategorie der ›bedrohlichen Anderen‹ fällt. Doch wie Nadia Wojcik gliedert er sich ins nationalstaatliche Kollektiv der rechtschaffenen Leistungsträger*innen ein und problematisiert bspw. ›kriminelle Zuwanderung‹ aus östlichen EU-Ländern. Diese würde er unterbinden, hätte er politische Macht: »Ich werd kucken, dass ich die EU-Länder zumache, die wo ich gar nicht brauche, die von uns hier leben würd ich grad wieder zu machen. Dass die Leute, die schon HIER aufge- also hier geboren sind oder seit vierzig Jahrn (?dahinna?) sind, dass die erst mal gesichert werden.« Einzig die Reformulierung, bei der er das Geburtsprinzip als Kriterium aufgibt zugunsten des Gewohnheitsprinzips, gibt hier einen Hinweis darauf, dass das ›Wir‹ keine fraglose Einheit darstellt. Wie in den anderen Fällen werden für die Artikula-

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

tion politischer Forderungen Bedrohungs- und Sicherheitsverweise bemüht – die ›Anderen‹ als bedrohliche Kriminelle – und wie in den anderen Fällen wird deutlich, dass es hier nicht (nur) um Angst als Emotion geht, sondern auch um andere Befindlichkeiten wie Ungerechtigkeitsempfinden. So ist auch Cemal Demir überzeugt davon, im Vergleich zu den so konstruierten Anderen nicht das zu bekommen, was ihm zusteht. Trotz seiner Bemühungen bleibt er »klein«, wie er es nennt, d.h. ein sozialer und ökonomischer Aufstieg ist ihm unmöglich. Das wohlfahrtsstaatliche Versprechen, dass sich Leistung im Rahmen eines meritokratischen Systems lohne, sieht er als gebrochen. Obwohl sich Nadia Wojcik und Cemal Demir in ihren Zugehörigkeitskonstruktionen und den daran anschließenden politischen Positionierungen nicht von den in Deutschland geborenen Interviewpartner*innen unterscheiden, stellt sich die Frage, wie wirkmächtig ihre rhetorische Identifizierung mit einem ›deutschen Wir‹ ist. Anders formuliert: Inwiefern sie als Teil eines ›deutschen Kollektivs‹ anerkannt werden, muss hier offenbleiben. Deutlich wird aber in den Interviews mit Ahmed Erdem, der sich als Kurde mit türkischer Heimat präsentiert, und Irina Tamm, die aus einem baltischen Land kommt, dass ihre Zugehörigkeit nicht durchgängig anerkannt wird. Ahmed Erdem bspw. berichtet von einem Übergriff, indem er als »Kanake« beschimpft wurde. Irina Tamm stellt dar, wie sie teils ein- und teils ausgeschlossen wird: »Von einer Seite ist man hier, ne und man gehört dazu irgendwo und von der anderen Seite ist man gleichzeitig irgendwie ausgestoßen. Und man wird auch nie ankommen, weil man braucht nur zu sagen, dass man irgendwo anders herkommt.« Insgesamt wurde in diesem Unterkapitel deutlich, wie exkludierende, responsibilisierende und punitive Problematisierungen und Politisierungen Rekurs auf die Sprache der Angst bzw. (Un-)Sicherheit nehmen. Dies hatte auch Bourdieu (2004: 37ff.) im Blick, wenn er Sicherheit als politisches Argument bezeichnet, das zum einen konservativ ist, da es den Status Quo erhalten will, und zum anderen diskriminierend, da es nationalstaatliche Grenzen gegenüber ›bedrohlichen Anderen‹, nämlich Migrant*innen und Ausländer*innen, betont (vgl. auch CremerSchäfer 2011).

6.5.2

Gegenpolitisierungen: Sicherheit als beängstigend und Sicherheitsrisiken

Doch lassen sich v.a. in den Interviews mit David Hesse, Nico Ludwig und Tim Baader auch Gegenstimmen finden, die nicht auf dieses Othering zurückgreifen und darüber hinaus die hegemoniale Verwendung der Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit reflektieren, problematisieren, neutralisieren und/oder sie für Gegenproblematisierungen und -politisierungen nutzen.

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In der Fallanalyse des Interviews mit David Hesse im vorigen Kapitel (Kap. 5.3.1) wurde bereits deutlich, dass dieser Sicherheit eng mit innerer Sicherheit assoziiert. Doch reflektiert er dabei nicht nur, wie sein Sicherheitsverständnis und damit seine Thematisierungen im Interview vom politisch-medialen Diskurs geprägt sind, sondern auch, wie seine Interviewäußerungen möglicherweise wiederum als Legitimation einer konservativen Politik genutzt werden könnten – einer Politik, die er als Sympathisant der Grünen und der SPD nicht unterstützt. So bemerkt er in genereller Weise, dass Sicherheit »ja ständig in der Politik auch gebraucht« wird. Konkret problematisiert er bei der Anordnung der von ihm genannten Unsicherheitsthemen nach ihrer Relevanz im Rahmen der Struktur-LegeTechnik seine Priorisierung von Gewalt, die zwar alltagsweltlich nicht sonderlich relevant für ihn ist, aber unter den genannten Themen noch am relevantesten. Gleichzeitig stellt sich für ihn die Frage, wie ein solches Ergebnis politisch verwertet wird: »Viele Politiker nehmen ja grade das in die Hand und sagen, die Gewalt im Alltag müssen wir eindämmen, deswegen brauchen wir mehr Polizei. Also es is sozusagen dann ja auch immer die Frage, wie geht man jetzt damit UM.« Ein solcher politischer Umgang scheint ihm nicht zu behagen, wenn er seine Rangfolge infrage stellt: »Ich bin nicht sicher, ob das jetzt an erster Stelle stehen SOLLte«. David Hesses Zugang zu der von ihm identifizierten Problematik der konservativen Instrumentalisierung von (Un-)Sicherheitskonstruktionen besteht demnach v.a. in deren Reflexion und expliziter Problematisierung. Eine ähnliche Herangehensweise findet sich bei Nico Ludwig, wobei bei ihm eine weitere Strategie (wie immer im Bourdieu’schen Sinne) darin besteht, Unsicherheit als Problem zu neutralisieren bzw. zu entproblematisieren. Hierzu stellt er zum einen die lebensweltliche Irrelevanz von Angst in sämtlichen Bereichen dar ‒ »ich hab keine Angst vor irgendwas« ‒ und neutralisiert somit mögliche Sicherheitsprobleme. Zum anderen problematisiert er die Politik der (Un-)Sicherheit und entproblematisiert auf diese Weise (Un-)Sicherheit als politisch relevantes Thema. So konstatiert er, dass »Deutschland fast schon zu viel Sicherheitswahn hat«, und pathologisiert damit eine hohe Sicherheitsorientierung. Speziell in Bezug auf Terroranschläge kritisiert er, dass »aus nichts n Elefant gemacht wurde«. In dieser Abwandlung der Redewendung ›aus einer Mücke einen Elefanten machen‹ stuft er das Ausgangsproblem also noch weiter herab: Terrorismus stellt demnach nicht einmal ein kleines Problem dar. Dass Terrorismus jedoch zum Problem gemacht wird, folgt ihm zufolge einem medial-politischen Interessenskreislauf: Die Terrorgefahr wird medial »viel zu sehr hochgehypt«, sodass in der Bevölkerung Ängste geschürt werden und dies der Politik erlaubt, staatliche Kontrolle auszubauen. Über diese Problematisierung der Politik der (Un-)Sicherheit hinaus nutzt Nico Ludwig ‒ ebenso wie Tim Baader ‒ allerdings auch die Sprache der Sicherheit für die Artikulation seiner eigenen politischen Anliegen. Auf diese zu rekurrieren kann daher als paradoxe Gegenstrategie zu versicherheitlichenden Politiken fungieren.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

Bei Nico Ludwig zeigt sich dies insofern, als er die drei abgefragten Sicherheitstechniken durchgängig als negativ evaluiert.23 Sie sind für ihn unwirksam, denn sie »verhindern […] keine Kriminalität« und sorgten auch nicht für ein Sicherheitsgefühl: »Ich glaub da sind noch knapp 700 Kameras aktiv. Aber trotzdem fühl ich mich in (Wohnort) jetzt nicht besonders sicher.« Entgegen seiner vorigen Äußerungen u.a. zur Sicherheit am Wohnort, wonach er sich sehr sicher fühlt, macht er sich hier offenbar die Sprache der Sicherheit, hier in ihrer subjektivierenden Form als Unsicherheitsgefühl, zunutze, um seine Ablehnung gegenüber Videoüberwachung zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus problematisiert er die Sicherheitstechniken im Hinblick auf die damit einhergehenden Datenschutzbedenken und rekurriert auch hierbei auf die Sprache der Sicherheit, diesmal in objektivierender Form: Sicherheitstechniken sind »sehr riskant« und ein »riesiges Sicherheitsrisiko«. Auffällig ist, dass er für seine Kritik also gerade nicht den Bezug auf andere Wertbegriffe wie Freiheit oder informationelle Selbstbestimmung wählt, sondern auf die Sprache der Sicherheit zurückgreift. In ähnlicher Weise nutzt Tim Baader die Sprache der Angst für Gegenproblematisierungen und -politisierungen, wenn er die Videoüberwachung öffentlicher Räume und des ÖPNV sowie biometrische Merkmale in Personalausweisen nicht nur als Verletzung ›informationeller Selbstbestimmung‹, sondern auch als »beängstigend« bezeichnet. Außerdem spricht er im themenoffenen Teil des Interviews mit rechter Gewalt, Polizeigewalt und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien bis hin zu deren Machtergreifung Themen an, die Forderungen nach mehr Polizei und Ausschluss von Migrant*innen im Namen der Sicherheit konterkarieren. Rechte Gewalt zu thematisieren scheint ihm dabei ein wichtiges Anliegen: Als der Interviewer das Thema wechseln will, nachdem er alle im Leitfaden vorgesehenen Nachfragen dazu gestellt hat, wendet Tim Baader ein: »Haben wir denn schon alles gesagt, zu rechter Gewalt?«. Zudem weist Tim Baader dem Thema rechte Gewalt in der Rangfolge der Themen hinsichtlich ihrer Bedeutung für die allgemeine Sicherheit die höchste Relevanz zu. Dabei überlegt er, dass rechte Gewalt statistisch für »die Bevölkerung« nicht so relevant ist wie gesundheitliche Risiken, da von rechter Gewalt und Polizeigewalt nur »marginale Gruppen« betroffen sind: linke Aktivist*innen wie er, Jüd*innen und v.a. als nicht-deutsch gelabelte Gruppen. Aufgrund dieser Häufigkeits- und Wahrscheinlichkeitsüberlegung ist es plausibel, dass er nicht den objektivierenden Rekurs auf Sicherheitsbedrohungen, sondern den subjektivierenden wählt: Mit dem Verweis auf sein »Empfinden« kann er dem Thema rechte Gewalt schlussendlich doch den ersten Rang zuweisen. Dass Tim 23 Am Ende des zweiten Interviewteils (B-Teil) wurden nach der Vorgabe von acht Unsicherheitsthemen die Bekanntheit und Bewertung von Sicherheitstechniken abgefragt, konkret die Videoüberwachung öffentlicher Räume, Körperscanner an Flughäfen und biometrische Merkmale in Ausweisen.

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Baader dabei in strategischer Weise handelt und die Sprache der Angst im Interview nutzt, um rechte Gewalt zu problematisieren, expliziert er am Ende seiner Ausführungen zur Rangfolge der Themen in meta-kommunikativer Weise: »Vielleicht will ich ja auch damit ne Aussage machen ((lacht kurz auf))«.

6.5.3

Zwischendiskussion zur Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit

Ein Interview ist nicht nur für Forschende eine nützliche Angelegenheit, um Daten zu ihrem Forschungsinteresse zu gewinnen. Auch die Interviewpartner*innen können es für sich nutzen: für positive Selbstpositionierungen im Sinne von Identitätsarbeit, um die es im vorigen Unterkapitel ging (Kap. 6.4), und darauf aufbauend um Problematisierungen und politische Forderungen, worum es in diesem Unterkapitel ging. Dass hierfür die Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit gewählt wird, liegt in einem Interview zum Thema subjektive Unsicherheit nahe. Dennoch hat diese argumentative Strategie über diesen spezifischen Kontext hinaus Bedeutung. Diese These begründe ich im Folgenden, wenn ich Interpretationen liefere, warum Angst bzw. (Un-)Sicherheit ein so beliebtes und potenziell wirkmächtiges Argument ist, das für sich spricht und wenig weiterer Erläuterung bedarf. Eine zentrale Interpretation liefert Franz-Xaver Kaufmanns Analyse zur Sicherheitssemantik, in der er Sicherheit bereits in den 1970er Jahren als zentrale gesellschaftliche bzw. politische »Wertidee« (Kaufmann 1970: z.B. 10) bezeichnete und auf die »emotionale Appellqualität« des Wortes Sicherheit hinwies (ebd.: 36). Er vermutete damals, dass dieser Aufstieg von Sicherheit als normativer Idee noch nicht abgeschlossen ist, was u.a. Vida Bajcs und Christopher Daases aktuelle Studien bestätigen: Sicherheit wurde gar zu einem »Meta-Framing« (Bajc 2013a) bzw. zum »Goldstandard des Politischen« (Daase 2011a: 139) und übertrumpft damit andere Wertideen. Letzteres zeigt sich auch in den Sicherheits(forschungs-)programmen, die auf nationaler wie europäischer Ebene in den letzten Jahren entstanden sind und eine Verbesserung der ›zivilen Sicherheit‹ zum Ziel haben (dazu St. Kaufmann 2011). Entsprechend dieser Entwicklungen wurde Sicherheit zu einem wirkmächtigen Topos und einem schlagkräftigen Argument. Dies wird auch in den v.a. politikwissenschaftlich orientierten Versicherheitlichungstheorien unterschiedlicher ›Schulen‹ analysiert (Huysmans 1999, Wæver 2004, vgl. auch Büger/Stritzel 2005, C.A.S.E. Collective 2006; ähnlich auch Beck 2007b: 62, 66).24 Sicherheitsprobleme 24 Als die drei Schulen gelten die Kopenhagener, die Pariser sowie die Waliser Schule bzw. Schule von Aberystwyth (nach dem Waliser Ort). Eine strikte Abgrenzung ist dabei kritisch zu sehen, weil es Dialog gab und gibt (vgl. C.A.S.E. Collective 2006). Dennoch lassen sich Interessensschwerpunkte ausmachen und theoretische Besonderheiten feststellen. So interessiert sich die Kopenhagener Schule für Versicherheitlichungsstrategien politischer Eliten. Von diesem klassisch politikwissenschaftlichen Interesse grenzt sich die Waliser Schule ab, indem sie ihren Blick auf die Bürger*innen richtet. Die Pariser Schule zeichnet sich im Vergleich zu diesen bei-

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

sind entsprechend deren konstruktivistischer Perspektive nicht als Faktum gegeben und daher niemals alternativlos, sondern stellen nur scheinbar neutrale Ergebnisse von (sprachlichen) Akten der Versicherheitlichung dar, die ferner besondere politische Aufmerksamkeit erlangen. Um politisch erfolgreich zu sein, bietet es sich demnach an, das eigene Anliegen als Sicherheitsproblem zu rahmen (vgl. auch Diez/Grauvogel 2013), denn als solches wird es unbestreitbar. So ist im Bereich wohlfahrtsstaatlicher Politik der Rekurs auf die scheinbar neutrale Sprache des Risikos als verwandte Semantik eine zunehmend beliebte Strategie der Ausübung sozialer Kontrolle, indem soziale Probleme als Risiken gelabelt werden und mit den entsprechenden ‒ Eigenverantwortung betonenden ‒ Maßnahmen reguliert werden (Olofsson et al. 2014). Ähnlich argumentieren auch Beiträge in der Soziologie sozialer Probleme (z.B. Dollinger/Groenemeyer/Rzepka 2015 und Dollinger/Schmidt-Semisch 2016). Dass die Sprache der Sicherheit bzw. des Risikos nicht nur in der Politik unangreifbar macht, sondern dies auch alltagsweltlich der Fall ist, zeigen die Forschungen von Katharina Eisch-Angus in Großbritannien und Deutschland. Auch wenn ihren Informant*innen manche Sicherheitsvorkehrungen als irrational erschienen, so blieb Sicherheit als Referenz unantastbar gemäß dem Motto »you can’t argue with security« (2011b). Auf diesen allgemeinen Überlegungen aufbauend lässt sich nun der Rekurs der Interviewpartner*innen auf (Un-)Sicherheit und Angst im Rahmen ihrer politischen Beschwerdekommunikation als äußerst sinnhaft verstehen (vgl. auch Jungermann/Slovic 1993: 201 und Krasmann et al. 2014: 121). Dabei sind in heuristischer Weise drei Modi zu unterscheiden, die oben schon benannt wurden und die hier gebündelt werden. Sie haben ihre jeweiligen Vorteile und differenzieren den u.a. in der Sociology of Risk and Uncertainty und Risikoforschung hinlänglich bekannten Sachverhalt aus, dass Risiko bzw. Sicherheit als Stellvertreter für andere Anliegen fungieren.25 Der erste Modus ist eine objektivierende Bezugnahme auf Sicherheit, Sicherheitsbedrohungen und Risiken. Eigene moralische Weltsichten werden anhand scheinbar neutraler, unbestreitbarer Fakten als objektive Sicherheitsprobleme propagiert und dadurch gegenüber Kritik immunisiert. In den vorliegenden Interviews wurde dies in Beispielerzählungen über die ›bedrohlichen Anderen‹ deutlich. Die ihnen zugeschriebenen Verhaltensweisen und Eigenschaften sowie den v.a. politikwissenschaftlichen Schulen durch eine stärkere Verknüpfung mit der Soziologie aus, u.a. mit Foucault und Bourdieu. In dieser auch praxeologisch geschulten Perspektive stellt sich bspw. die Frage, wer aus welcher sozialen Position heraus tatsächlich erfolgreich versicherheitlichen kann (vgl. Huysmans 1999). 25 S. dazu bereits die in Kap. 2 vorgestellten soziokulturellen Ansätze, die auf Douglas’ Kulturtheorie des Risikos Bezug nehmen, aber auch andere sozialkonstruktivistisch informierte Ansätze wie bspw. Davies, Cook und Oven (2012: 71) und Nelkin (2003: viii).

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die thematisierten Begebenheiten werden zum einen als »wertfreie Beobachtungsdaten« (Klimke 2008: 68) präsentiert und zum anderen als authentischer, da selbst erlebter Beweis für eine allgemeine Aussage herangezogen (vgl. auch Rettig 1997, Wästerfors/Holsanova 2005). Der zweite Modus verweist auf die Inszenierung von Intersubjektivität bei der Definition von Sicherheitsproblemen. Hier wird auf einen vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens verwiesen, von dem die als gefährlich konstruierten ›Anderen‹ als Normbrüchige abweichen. So charakterisiert bspw. Gaby Enge die Drogensüchtigen, die sie mit Überfällen auf ihren Laden assoziiert: »Die sind ja- ham ja KEIne sag ich jetzt mal nicht die Verhaltensnorm die wir so KENNen.« Gewaltthemen eignen sich für diese Konstruktion eines gesellschaftlichen Konsenses besonders, wie Helga Cremer-Schäfer darlegt: Die thematisierten Probleme erscheinen darin nicht als Konfliktthemen, zu denen es unterschiedliche Meinungen der Konfliktparteien gibt, sondern als Ordnungsthemen, wonach die Gewalttätigen mit der als gültig gesetzten gesellschaftlichen Ordnung brechen. Somit wird aus »einem Konflikt-Thema ein Konsens-Thema gemacht« und dabei der normative Bezugspunkt »bestätigt und geheiligt« (1992: 27). Die Wiederherstellung gesellschaftlicher Ordnung, wie sie von den Sprechenden definiert und als intersubjektiv geteilt dargestellt wird, rückt somit ins Zentrum der politischen Forderungen (vgl. auch Cremer-Schäfer 2011). Auf den dritten Modus, die subjektivierende Bezugnahme auf Angst als Gefühl, gehe ich genauer ein, da es zunächst paradox erscheinen mag, dass eine individuelle, mitunter als irrational geltende Befindlichkeit gesellschaftlich so großes argumentatives Gewicht beanspruchen kann. Meine These ist, dass die Wirkung von Angst als Argument sich aus der Überschneidung verschiedener Diskurse ergibt, wobei der bereits thematisierte Aufstieg von Sicherheit als Wertidee (nur) einen davon darstellt. Wie Scheer (2016: 26) schreibt, ist aus emotionssoziologischer Sicht auch der Diskurs über Emotionen und damit eine kultursoziologische Perspektive zentral, um zu klären, welchen Stellenwert Emotionen in der jeweiligen Gesellschaft haben und welche ›Wahrheit‹ sie beanspruchen können. Für die Gegenwartsgesellschaft lässt sich ein Aufstieg von Subjektivität, Authentizität und Emotionalität konstatieren (zu Subjektivität z.B. Biess 2008, zu Authentizität z.B. Weixler 2012, zu Emotionalität z.B. Senge 2013). In dessen wechselseitiger Verstärkung gelten Emotionen nun als »authentische Signifikanten einer Person« (Frevert 2009: 186), da sie – so die kulturelle Annahme – einen unverstellten Blick in deren ›Inneres‹ gewähren. Anders formuliert: Nicht mehr die »Kontrolle von Emotionen, sondern die Orientierung des eigenen Verhaltens an den emotionalen Befindlichkeiten wird zur gesellschaftlichen Norm«, was eine »vermeintliche Natürlichkeit« der Emotionen für sich beanspruchen kann (Gerhards 1988: 237). Gerade Gefühle können daher als unbestreitbares Faktum gelten, was Nicole Schützes Äußerung »es is nun mal mein Empfinden« illustriert. Weixlers (2012: 28) erzähltheoretischer

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

Perspektive folgend wird die Authentizität einer Äußerung weiter gesteigert, indem auf Unsagbarkeits-Topoi Rekurs genommen wird, die auf vermeintlich Singuläres und daher in besonderem Maße Authentisches verweisen. Auch dies illustriert das Interview mit Nicole Schütze, wenn sie sagt: »Ich kann das gar nicht so beSCHREIben, das ist echt ganz schlimm, wenn ich das so sage, aber (1) mich bedroht, ich fühl mich einfach beDROHT dadurch.« Emotionen werden so, wie erwähnt, zu unhintergehbaren Fakten. Im Schnittfeld dieses Aufstiegs von Sicherheit auf der einen Seite und Subjektivität, Authentizität und Emotionalität auf der anderen Seite wurde Angst von einem in den 1950er Jahren noch verschwiegenen, pathologisierten Gefühl ab den 1960er Jahren zu einem sagbaren, gar angemessenen Gefühl (Biess 2008, Bonß 1992). Biess stellt zudem heraus, dass Angst in den 1980er Jahren, als Becks »Risikogesellschaft« erschien, als »höhere Form von Rationalität« galt (Biess 2008: 70) und damit auch »zum Ausgangspunkt politischen Handelns« wurde (ebd.: 54). Dies beschreibt in stärker konstruktivistischer Fassung auch Luhmann in seinem 1988 erschienenen Buch »Ökologische Kommunikation«: »Angstkommunikation ist immer authentische Kommunikation, da man sich selbst bescheinigen kann, Angst zu haben, ohne daß andere dies widerlegen können.« (Ebd.: 240) Diese Unanzweifelbarkeit von Angst-Argumenten steigert sich im Falle von altruistischer Angst: »Wer Angst hat, ist moralisch im Recht, besonders wenn er für andere Angst hat« (ebd.: 244). Auch heute scheint Angst von ihrer rhetorischen Wirkmächtigkeit nichts verloren zu haben (vgl. Bröckling 2016, Bude 2014: 121, Furedi 2018, Kulaçatan 2016). Im Zusammenspiel des Aufstiegs von Sicherheit als Wertidee, von Subjektivität, Authentizität und Emotionalität wird verständlich, dass Angst und (Un-)Sicherheit in verschiedenen Modi potenziell wirkmächtige Argumente darstellen ‒ im Interview und darüber hinaus. Dabei werden immer partielle Weltsichten und damit verbundene Privilegien als neutral und unbestreitbar dargestellt und entsprechende politische Forderungen erhoben, die eigene Weltsichten und Privilegien mittels des sozialen Ausschlusses und Bestrafens ›Anderer‹ konservieren (Kap. 6.5.1; vgl. auch Scheer 2016: 26 und Bourdieu 2004: 37ff.). Jedoch ließen sich auch Gegenproblematisierungen und -politisierungen finden, die die Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit nutzen, um Kritik an sozialer Ausschließung und sozialer Kontrolle zu äußern (Kap. 6.5.2). Mit Furedi (2018: Kap. 4) lässt sich hier noch weiterdenken: Er argumentiert, dass anders als gegenwärtig oft behauptet die ›AngstKarte‹ nicht nur von Rechtspopulist*innen gespielt wird, sondern eine generelle Strategie ist, derer sich bspw. bereits die Ökobewegung ab den späten 1970ern bediente. Mit Blick auf die verschiedenen Positionen und Anliegen scheint es also angemessen, die Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit als Teil des Kampfes um symbolische Macht als die Macht über Weltdeutungen zu verstehen, die wiederum über den Zugang zu Ressourcen entscheidet. Gleichzeitig entscheidet die aktuelle

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Gesellschaft in Angst?

soziale Position darüber, wer gehört wird. Dies greife ich in Kapitel 8.3 wieder auf, wo ich nach Zusammenhängen von Rassismus bzw. Klassismus und Angst frage.

6.6

Angst ist nicht gleich Angst – Bilanz und Ausblick

Bilanz der Erkenntnisse Leitfrage dieses Kapitels war, welche Rolle Angst lebensweltlich spielt, was ich anhand der Frage untersucht habe, was Sprechen über Angst bzw. (Un-)Sicherheit bedeutet. Deutlich wurde dabei, dass Angst(-kommunikation) nicht gleich Angst(-kommunikation) ist – es muss differenziert werden in Angst als Emotion, als Positionierung und als Argument. Nachdem ich in den Zwischendiskussionen der jeweiligen Unterkapitel bereits die Ergebnisse ausführlicher mit anderen Forschungen in Bezug gesetzt habe, beschränke ich mich hier auf zentrale Dimensionen und Diskussionen. Hinsichtlich Angst als Emotion (Kap. 6.3) konnte ich unterschiedliche Erlebnisqualitäten herausarbeiten, die von k(l)einen bis großen Ängsten reichen und mit spezifischen Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten einhergehen, die wiederum von der sozialen Position und der Verfügbarkeit von Ressourcen abhängig sind. Große Ängste stellen daher nur unter bestimmten Umständen das beherrschende Lebensgefühl dar, das die Diagnose einer Gesellschaft in Angst allerdings zur allgemeinen Befindlichkeit erklärt. Zudem wurde in manchen Fällen deutlich, dass es sich auch bei großen Ängsten lediglich um ein Lebensabschnittsgefühl handeln kann. Dieses Ergebnis, dass Angst nicht als allgemeines Lebensgefühl beschrieben werden kann, deckt sich zum einen mit den Ergebnissen der standardisierten Auswertung aller 405 Interviews des zugrunde liegenden Projekts, die in eine ähnliche Richtung weisen (Blinkert 2015, Blinkert/Eckert/Hoch 2015). Zum anderen deckt es sich mit den Ergebnissen qualitativer, themenfokussierter Studien zu Abstiegsängsten und Kriminalitätsfurcht, die verschiedene (Un-)Sicherheitstypen bzw. -mentalitäten herausgearbeitet haben und dabei ebenfalls feststellen, dass Sicherheitsgefühle überwiegen können (Burzan/Kohrs/Küsters 2014: Kap. 11.2, Klimke 2008: Kap. 5). In konzeptueller und method(olog)ischer Hinsicht ist bezüglich Angst als Emotion ferner deutlich geworden, dass das für die alltägliche Lebensführung weithin irrelevante Unsicherheitsbewusstsein als theoretisches (Welt-)Wissen nicht gleichzusetzen ist mit dem Unsicherheitsempfinden als alltagsweltlich relevantem, praktischem und oft auch implizitem Wissen. Dies ist nicht nur für die unmittelbare Forschungspraxis bedeutsam. Auch kann die Definition von Unsicherheit als »Nicht-Wissen über zukünftige Ereignisse bei gleichzeitigem Wissen um die Möglichkeit zukünftiger Negativ-Ereignisse« (Bonß 2011: 47) für den hier interessierenden lebens- bzw. alltagsweltlichen Kontext insofern spezifiziert werden, als Unsi-

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

cherheit im Sinne von Angst ein praktisches Nicht-Wissen bezeichnet. Diese Unterscheidung von Wissensarten ist darüber hinaus insofern von Interesse, als in Zeiten von Globalisierung und Massenmedien angenommen werden könnte, dass ›uns hier‹ auch Ereignisse in anderen Teilen der Welt ängstigen. Allerdings handelt es sich bei diesem medial vermittelten Wissen um theoretisches (Welt-)Wissen, das nur ein Unsicherheitsbewusstsein schafft, aber sich nicht in praktisches, erfahrungsgebundenes Wissen übersetzt und damit kaum angsterregend ist. Während Angst als Emotion je nach Erlebnisqualität als Beeinträchtigung eines guten im Sinne eines schönen Lebens erfahren wird und damit dysfunktional erscheint, zeigen sich in den Interviews aber auch zwei Verwendungsweisen der Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit, die für die Sprechenden funktional sind: Angst als Mittel der Positionierung und Angst als Argument (Kap. 6.4 und 6.5). Diese beiden Modi sind eng mit Vorstellungen des guten als moralisch richtigen Lebens verbunden, sodass hier die soziokulturellen Ansätze in Folge von Douglas theoretisch einschlägig sind. Deutlich wurde dabei, dass Sicherheit nicht nur auf Makro-Ebene funktional ist, wie von Douglas für gesellschaftliche Gruppen, von Versicherheitlichungstheoretiker*innen für die Politik oder von Lee (2001) für Politik, Medien und Wirtschaft beschrieben wurde. Auch im lebensweltlichen Kontext können die Akteur*innen die Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit für sich nutzen, um eine eigene positive Identität her- und darzustellen oder um politische Forderungen zu erheben. Außerdem lässt sich aus diesen Analysen zu Angst als Positionierung und Argument ein Grund ableiten, warum die Unterscheidung zwischen einer von ›Expert*innen‹ definierten objektivierten (Un-)Sicherheit und einer von ›Laien‹ (fehl-)wahrgenommenen subjektiven (Un-)Sicherheit kritisch zu sehen ist. Denn bei (Un-)Sicherheit geht es nicht nur um Fakten, ihre Wahrnehmung bzw. die Emotion Angst, sondern um die Verhandlung von Moral und dabei auch um andere Emotionen wie Ungerechtigkeitsempfinden (vgl. z.B. auch Jungermann/Slovic 1993: 201 und Krasmann et al. 2014: 121). Nimmt man jede Angst- und Unsicherheitsäußerung als Ausdruck subjektiver Unsicherheit, so verkennt man deren rhetorische Funktion, missversteht Ärger als Angst und vergleicht Äpfel gar mit Bananen. Daher ist es für die empirische Forschung von grundlegender Bedeutung, trotz aller Schwierigkeiten zwischen unterschiedlichen Nutzungsweisen der Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit sowie zwischen verschiedenen emotionalen Befindlichkeiten unterscheiden zu können. Dies geschieht bisher allerdings eher selten. Zwar gab es in der Kriminalitätsfurchtforschung eine – leider zeitlich kurz währende – Diskussion darum, welche Emotion man überhaupt misst. Die von Ditton und Kolleg*innen bereits 1999 im Untertitel ihres Aufsatzes zu »Reactions to Victimisation« formulierte Frage »Why has Anger been Ignored?« lässt sich daher weiterhin stellen.

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In der Zusammenschau dieser Ergebnisse lässt sich die Frage, inwiefern wir in einer Gesellschaft in Angst leben, wie folgt beantworten: Geht es um Angst als Emotion, dann sicherlich nicht. Eine Omnirelevanzthese von Angst als Emotion erscheint mir aufgrund meiner und anderer Forschungen nicht haltbar. Bezieht man andere Bedeutungen der Kommunikation über Angst und (Un-)Sicherheit ein, die ich als Positionierung und Argument gefasst haben, dann leben wir insofern in einer Gesellschaft in Angst, als Angst ein wichtiges kulturelles Medium zur Artikulation verschiedener Befindlichkeiten und Zwecke wurde. Eine ähnliche These vertritt Furedi (2007, 2018) in seinen Publikationen zur »culture of fear«. Ihm zufolge wurde Angst zum kulturellen Skript und zur Sprache, anhand derer wir die Welt begreifen und unsere Anliegen zur Sprache bringen. In diesem Kapitel habe ich über diesen inhaltlichen Beitrag hinaus die Methodenreflexion und -diskussion zu Angst als lebensweltlichem Phänomen ergänzt, die in Kapitel 5 im Vordergrund stand, und weitere wichtige Differenzierungen aufgezeigt: die zwischen Unsicherheitsbewusstsein und Unsicherheitsempfinden und die zwischen Emotion, Positionierung und Argument, die in den soziokulturellen Ansätzen der Sociology of Risk and Uncertainty zwar anklingt, aber konzeptuell und methodologisch bislang nicht ausformuliert wurde. Die gewonnenen Erkenntnisse werfen allerdings auch neue Fragen auf und haben Konsequenzen für meine Analysen in Kapitel 7.

Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten Bezüglich Angst als Emotion stellt sich für mich zentral die Frage, wie dazu geforscht werden kann, ohne deren Relevanz vorauszusetzen, in die Forschung hineinzugeben und schlussendlich zu reifizieren. Im Anschluss an Henwood und Kolleg*innen (Kap. 2.4.1) habe ich mich dafür entschieden, das Risiko der Reifikation durch eine Sensibilität für Brüche und Irritationen auszugleichen und anzuerkennen, dass (Un-)Sicherheit bzw. Angst nicht immer der zentrale Referenzpunkt sein muss. Dies scheint mir für Studien, die ‒ aus guten Gründen ‒ mit (Un-)Sicherheit als Framing arbeiten und damit eine gewisse Relevanz dieser Thematik voraussetzen, der sinnvolle Weg zu sein.26 Interessant wäre es m.E. aber auch, die völlige Irrelevanz des Themas bereits in der Datengewinnung als eine Möglichkeit einzuplanen. Ein Ansatz hierfür wäre, in qualitativen Interviewstudien ohne Unsicherheits-Framing zu prüfen, inwiefern die Befragten von sich aus auf ein 26 Gründe können bspw. förderpolitische Vorgaben oder ein bestimmtes Forschungsinteresse sein. Allerdings merkt Zinn in Bezug auf die Framing-Debatte in der Sociology of Risk and Uncertainty auch an, dass sozialwissenschaftliche Forschung nie ohne Framings bzw. Annahmen forschen kann, womit er Bourdieus Wissenschaftsverständnis (Kap. 3.2) spiegelt: »Every strategy to ›observe‹ social reality is part of constructing exactly this social reality.« (Zinn 2009: 511) Die Frage der Reifizierung vorgängiger Konzepte stellt sich daher immer.

6 Emotion, Positionierung, Argument. Was über Angst und (Un-)Sicherheit Sprechen bedeutet

solches rekurrieren, um ihre Erfahrungen zu deuten (z.B. Smith et al. 2006). Man könnte bspw. nach Zukunftsvorstellungen und -erwartungen fragen, was Raum böte, sowohl negative Erwartungen (Ängste) als auch positive (Hoffnungen) zu thematisieren. Zumindest aber könnte zu Beginn des Interviews auf ein explizites Sicherheits-Framing verzichtet werden und nach der aktuellen Lebenssituation gefragt werden. Eine alternative Datengewinnungsmöglichkeit stellt die Sekundärnutzung von Tagebüchern dar (z.B. Pelizäus-Hoffmeister 2008). Auch für die quantitative Forschung liegen Vorschläge vor, wie Relevanz nicht vorausgesetzt, sondern abgefragt wird (z.B. Gaskell/Hohl/Gerber 2016). Liegen ausreichend Studien vor, die eine solche methodische Vorgehensweise wählen, wäre ein Vergleich bzw. eine Metaanalyse mit solchen Studien relevant, die (Un-)Sicherheit als relevantes Konzept voraussetzen: Gibt es zentrale Unterschiede? Auch in thematischer Hinsicht lassen sich weitere Fragen stellen, v.a. mit Blick auf die Ressourcen, die für die Erlebnisqualität von Angst bedeutsam sind. Welche Ressourcen sind hier besonders angstmindernd, ggf. auch unter welchen sozialen Bedingungen und in Bezug auf welche Angstthemen? Wie hängt die Verfügbarkeit über Ressourcen genau mit der sozialen Position zusammen? Hinsichtlich der Positionierungen via Angst- und (Un-)Sicherheitskommunikation stellt sich die Frage, ob in anderen Studien weitere relevante Positionierungen herausgearbeitet werden können. Darüber hinaus könnten in Bezug auf Geschlecht Prozesse des Not Doing Gender und des Undoing Gender herausgearbeitet werden. Zusätzlich sollte –stärker als ich es getan habe – berücksichtigt werden, inwiefern spezifische subkulturelle Vorstellungen, aber auch die Interviewsituation und -interaktion bedeutsam sind für die jeweiligen Positionierungen. In Bezug auf Angst bzw. (Un-)Sicherheit als Argument lässt sich fragen, wer dieses Argument so nutzen kann, dass er*sie tatsächlich gehört wird. Während ich oben Angst und (Un-)Sicherheit als wirkmächtigen Topos beschrieben habe und dies mit Literatur untermauert habe, steht die empirische Prüfung noch aus, wer sich diesen Topos effektiv zunutze machen kann und gehört wird, anders gewendet: wessen ›Ängste‹ als legitim und wessen als illegitim gelten (vgl. Schmitz/Genggagel 2018). In diese Richtung zielt auch eine Kritik an der Kopenhagener Versicherheitlichungstheorie, dass sie den Fokus mehr auf den Sprechakt an sich als illokutionären Akt legt als auf seine Effekte, d.h. den perlokutionären Akt (vgl. Stevens/Vaughan-Williams 2016: 19). Mit Bourdieus Sprechtheorie (1990) ließe sich hierfür ein theoretischer Vorschlag formulieren, wonach die gehört werden, die sich qua Herkunft und Kapital ›richtig‹ auszudrücken wissen, was empirisch zu prüfen wäre.

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Bedeutung für die vorliegende Arbeit Für die noch ausstehenden Kapitel dieser Arbeit leistet dieses Kapitel wichtige Beiträge: Im folgenden Kapitel 7 interessiert mich, welche Ängste relevant sind. Hierfür ist es in der Auswertung entscheidend, erstens Unsicherheitsbewusstsein von Unsicherheitsempfinden bzw. Angst, zweitens Angst als Emotion von kommunikativen Funktionen (Positionierung, Argument) und drittens verschiedene Erlebnisqualitäten von Angst zu unterscheiden, um tatsächlich nur Angst als Emotion zu berücksichtigen. In Kapitel 7 gehe ich auch detaillierter darauf ein, was für die Interviewpartner*innen ein gutes Leben bedeutet, das die Hintergrundfolie für das Verständnis ihrer Ängste darstellt (vgl. Kap. 6.3), und wie dies mit spezifischen Formen des Otherings in Verbindung steht. Auf letzteres werde ich in Kapitel 8.3 weiter eingehen mit Blick auf Rassismus und Klassismus.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen Rekonstruktion des Impliziten und Rekontextualisierung im Lebensverlauf

Viel wird darüber spekuliert, was die Menschen ängstigt, und bisweilen wird angenommen, dass sich Angst als zentrales Lebensgefühl auf alle möglichen Themen bezieht. So formuliert Bude etwa in seiner Analyse der »Gesellschaft der Angst«: »Auch von der Sache her sind die Ängste zahllos: Schulängste, Höhenängste, Verarmungsängste, Herzängste, Terrorängste, Abstiegsängste, Bindungsängste, Inflationsängste.« (2014: 11) Weitere Angstthemen ließen sich ohne Mühe ergänzen. Welche Ängste spielen nun aber lebensweltlich eine Rolle, welche keine und warum? Diese für viele vermutlich zentral empirische »Gretchenfrage« (Nunner-Winkler 2016) in Bezug auf Zeitdiagnosen der Unsicherheit bzw. verängstigten Gesellschaft ist die Leitfrage dieses Kapitels. Wie ich im ersten Unterkapitel zum Forschungsstand und zu den Forschungslücken resümiere (Kap. 7.1), ist diese Frage aus verschiedenen Gründen schwierig zu beantworten. Ich kann mich einer Antwort daher nur annähern, argumentiere aber auch, warum mir ein Zugang über (themen-)offene Interviews und eine rekonstruktive Auswertung sinnvoll erscheint: Zum einen wird damit potenziell das ganze »Risikowahrnehmungsuniversum« (Hawkes/Rowe 2008: 638) ausgeleuchtet und Sicherheit wie von Zygmunt Bauman vorgeschlagen in einem übergreifenden Sinn verstanden (Kap. 1.3). Zum anderen werden auch implizite Bedeutungen und Ängste analysierbar gemacht, was ebenfalls zu einem umfassenden Verständnis gegenwärtiger Angst beiträgt. Wie genau ich mich methodisch der Antwort auf die Frage nach (ir-)relevanten Ängsten annähere, lege ich im folgenden Unterkapitel zum verwendeten Material und den Analyseheuristiken dar (Kap. 7.2). In der anschließenden Ergebnisdarstellung stelle ich zunächst meine empirisch begründete These vor, dass die Position im Lebensverlauf zentral dafür ist, was jeweils als gutes Leben gilt, was Sicherheit bedeutet und welche Ängste entsprechend (ir-)relevant sind (Kap. 7.3). Die jeweilige Lebens- und Sicherheitskonzeption ist also das ›hintersinnige‹ Muster, vor dem die rekonstruierten Ängste erst ihre Bedeutung gewinnen. Damit rekontextualisiere ich die Angstthemen, die in anderen Studien üblicherweise dekontextualisiert werden. Entsprechend gestalte ich die weitere Er-

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Gesellschaft in Angst?

gebnisdarstellung (Kap. 7.4-7.6): Ich dezentriere die Angstthemen und rezentriere den bedeutungsgebenden Kontext. Abschließend (Kap. 7.7) fasse ich die Ergebnisse in einer Bündelung relevanter und irrelevanter Ängste themenbezogen zusammen, um sie dann mit anderen Studien zu vergleichen. Auch meine Ergebnisse unterliegen bestimmten Einschränkungen, die ‒ so der Ausblick ‒ zukünftige Forschungen überwinden können.

7.1

Bisherige empirische Studien: Mangel an themenoffenen und rekonstruktiven Studien

Die Frage, welche Ängste relevant sind, haben auch andere Forschende gestellt. Wie gehen sie in Datengewinnung und -auswertung vor und welche Erkenntnismöglichkeiten sind damit verbunden? Bereits verschiedentlich habe ich in dieser Arbeit auf Forschungsstand und -lücken hingewiesen und resümiere dies hier als Einstieg in das Kapitel.

Die Frage der Datengewinnung: Mangel an themenoffenen qualitativen Studien In Bezug auf die Datengewinnung lässt sich feststellen, dass zum einen einige standardisierte, themenübergreifende Studien vorliegen, zum anderen themenbezogene quantitative und qualitative Studien. Themenübergreifende oder gar themenoffene qualitative Studien sind jedoch selten. Wenn es um quantitative, themenübergreifende Studien geht, stellen im deutschsprachigen Raum die jährlich durchgeführte Studie »Die Ängste der Deutschen« der R+V-Versicherung1 und die Repräsentativbefragung im Rahmen des BMBF-geförderten Verbundprojekts »Barometer Sicherheit in Deutschland« (Hummelsheim 2015a, 2015b, Hummelsheim/Oberwittler 2014) die wichtigsten Datenquellen dar.2 Den Befragten wird eine Liste von potenziellen Angstthemen vorgelegt, die sie hinsichtlich ihrer Relevanz gewichten sollen. Dadurch erlauben diese Studien wichtige Einblicke in die Relevanz und Irrelevanz von Themen, gerade auch im Vergleich der Themen untereinander, und ermöglichen, so sie wiederholt durchgeführt werden, auch Vergleiche über verschiedene Zeitpunkte hinweg. Allerdings lassen diese Studien auch Fragen offen bzw. riskieren bestimmte Effekte: Erstens bleibt ungeklärt, welche lebensweltliche Bedeutung die als relevant identifizierten Angstthemen haben; ist bspw. die Angabe, dass 1 URL: https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen (zuletzt geprüft am 19.04.2017). 2 Weitere themenübergreifende Erhebungen benennt Gerhold (2012: 346ff.). Auch in der Schweiz gibt es eine privatwirtschaftlich finanzierte Studie zu Ängsten, ähnlich der Studie der R+VVersicherung: das »Angstbarometer« des Marktforschungsinstituts gfs-zürich (URL: http://gfszh.ch/angstbarometer/, zuletzt geprüft am 30.03.2017).

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Kriminalität Angst verursache, wörtlich zu verstehen oder der Generalisierungsthese der Kriminalitätsfurcht folgend (z.B. Hirtenlehner 2009) als Metapher bzw. Metonym für diffusere soziale Ängste zu interpretieren? Hinzu kommt, zweitens, dass bei der R+V-Studie nicht zwischen persönlicher und allgemeiner Sicherheit unterschieden wird.3 Ob etwas als relevantes Angstthema markiert wird, weil es im eigenen Leben verunsichert oder weil es ein eher allgemein oder politisch motiviertes Anliegen darstellt, kann so nicht ausgemacht werden. Drittens wird durch Themenvorgaben riskiert, lebensweltlich relevante Unsicherheitsthemen auszulassen und irrelevante anzugeben, was zu ›methodischen Artefakten‹ führen kann (ausführlicher dazu Blinkert/Eckert/Hoch 2015 mit Bezug zu Blinkert 1978; vgl. auch Gaskell/Hohl/Gerber 2016 und Jacobs/Dopkeen 1990). Themenfokussierte quantitative oder qualitative Studien hingegen ermöglichen in der Regel ein vertieftes Verständnis der lebensweltlichen Bedeutung der von den Forschenden ausgewählten Unsicherheitsthemen, indem sie anstelle von thematischer Breite eine themenbezogene Tiefe verfolgen. Damit können sie wichtige Interpretationen liefern. Die dabei fokussierten Unsicherheitsthemen sind vielfältig: Für die englischsprachige Risiko-Forschung sowie Risiko-Soziologie wird bspw. ein starkes Interesse an Naturkatastrophen, technischen Unfällen und gesundheitlichen Einschränkungen festgestellt (für einen Überblick: Hawkes/Rowe 2008, Lupton 2006, Jacobs/Dopkeen 1990, Wilkinson 2010: 69) ‒ sicherlich ein Resultat zeitgenössischer Ereignisse und Diskurse, die auch soziologische Literatur wie Becks »Risikogesellschaft« (1986) umfasst. Im englischsprachigen Kontext sind über die Sociology of Risk and Uncertainty und die Risiko-Forschung hinaus auch andere Forschungsfelder zu berücksichtigen, v.a. die Kriminalitätsfurchtforschung, die sich intensiv einem weiteren Bereich von Unsicherheit widmet (dazu Kap. 2.1). Mit Blick auf den deutschsprachigen Forschungskontext lassen sich ebenfalls zahlreiche themenfokussierte Studien identifizieren. Darunter sind diejenigen für mich besonders anschlussfähig, die auch oder ausschließlich mit qualitativen Methoden forschen und entsprechend Bedeutungen entschlüsseln können. 3 Zur Bedeutung dieser Unterscheidung bereits Furstenberg 1971, s. bspw. auch Blinkert 2015, der noch den Wohnort als weiteren Kontext hervorhebt, sowie Stevens und Vaughan-Williams 2016, die zusätzlich die Kontexte Familie, Community und den globalen Kontext unterscheiden. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen persönlicher und allgemeiner Sicherheit keine eindeutige und unproblematische, sondern stellt ein Kontinuum (vgl. auch Stevens/Vaughan-Williams 2016: 7, 31f.) sowie im konkreten empirischen Fall durchaus eine analytische Herausforderung dar (Eckert 2016). Pragmatischerweise ist es dennoch und zumal in quantitativen Studien sinnvoll, bereits in der Datengewinnung den Interviewpartner*innen zu verdeutlichen, um welchen Kontext es gehen soll. Grundlegend stellt sich für mich aber auch die Frage, ob in Studien zu Angst die allgemeinen Kontexte abgefragt oder erfragt werden müssen (vgl. bilanzierend Kap. 5.5).

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Zu diesen Studien gehören folgende: Auch in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften sind Forschungen zur Kriminalitätsfurcht zu nennen (z.B. Birenheide/Legnaro/Ruschmeier 2011, Hanak/Stehr/Steinert 1989, Klimke 2008; Näheres dazu in Kap. 8.2). Mit der Prekarisierungsforschung hat sich eine weitere Forschungsrichtung etabliert, die sich einem spezifischen Thema verschrieben hat (vgl. auch Kap. 2.1). Zu nennen sind hier arbeits- und industriesoziologische sowie geschlechtersoziologische Interessensschwerpunkte (z.B. die Methodenmixstudie von Burzan/Kohrs/Küsters 2014, Brinkmann et al. 2006, Jukschat 2010, Koppetsch/Speck 2015, Pelizzari 2009, Schiek 2012). Inhaltlich eng mit der Prekarisierungsforschung verbunden sind Forschungen, die unter dem Stichwort der biographischen Unsicherheit berufsbiographische und/oder partnerschaftsbiographische Ungewissheiten fokussieren (z.B. Bonß et al. 2004, Bonß/Zinn 2005, Pelizäus-Hoffmeister 2008, Sander 2012, Wohlrab-Sahr 1993). Daneben gibt es auch im deutschsprachigen Kontext Forschungen zu den von Beck zentral thematisierten makrosozialen Risiken wie Atomkraftwerksunglücken und Umweltzerstörung (z.B. die Methodenmixstudie von Mansel 1995). Insgesamt schürfen diese Studien durch ihre thematische Fokussierung tief, aber nicht weit. Welche möglicherweise verschiedenen Themen für eine Person welche Rolle spielen, lässt sich damit also nicht untersuchen, ebenso nicht, wie diese Themen miteinander in Bezug stehen und wie sie in ihrer Bedeutsamkeit gewichtet sind (vgl. auch Blinkert/Eckert/Hoch 2015). Um das »Risikowahrnehmungsuniversum« (Hawkes/Rowe 2008: 638) besser als bisher auszuleuchten und Angst als lebensweltliches Phänomen umfassend zu verstehen, wären themenübergreifende bzw. besser noch themenoffene qualitative Studien hilfreich, die den Interviewpartner*innen die Möglichkeit geben, die für sie relevanten Unsicherheitsthemen anzusprechen, und die es den Forschenden erlauben, die Relevanz verschiedener Themen in ihrem Vergleich sowie möglicherweise zugrunde liegende Muster zu rekonstruieren. Solche Studien sind allerdings sehr selten: In ihrem 2008 erschienenen Überblicksartikel zu englischsprachigen qualitativen Studien zur Risikowahrnehmung nennen Gillian Hawkes und Gene Rowe drei themenübergreifende Studien, darunter die von Deborah Lupton und John Tulloch, die ich ebenso wie die Studie von Anna Olofsson und Kolleginnen in Kapitel 2.3 bei den lebensweltlich orientierten, themenoffenen Ansätzen vorgestellt habe. Auch im deutschsprachigen Kontext sind themenoffene qualitative Studien rar. Mir sind neben unserer eigenen nur die zwei eher psychologischen und individuumszentrierten Studien von Gerhold (2009) bzw. Gerhold und Eierdanz (2009) und Zwick (2005) bekannt sowie, für mich anschlussfähiger, eine aktuelle soziologische Studie von Kreissl (2015a und 2015b, vgl. auch Kohner/Kovanic 2016), der Interviews aus sechs europäischen Ländern zugrunde liegen, darunter Deutschland und Ös-

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

terreich. Bilanzierend lässt sich daher festhalten, dass themenoffene qualitative Studien mit soziologischem Interesse selten sind.4

Die Frage der Datenauswertung: Mangel an rekonstruktiver Analyse Eine themenoffene bzw. zumindest -übergreifende Form der Datengenerierung ist ein erster Schritt. Der zweite betrifft die Frage der Datenauswertung, da auch über diese methodische Entscheidung spezifische Erkenntnismöglichkeiten eröffnet und andere verschlossen werden. Bereits in meinem programmatischen Kapitel (genauer: Kap. 3.4) sowie im Anschluss an Douglas (Kap. 2.2.2) und Henwood und Kolleg*innen (Kap. 2.4.1) habe ich für eine rekonstruktive Auswertung plädiert, um auch implizite Bedeutungen zugänglich zu machen. Eine methodologische Perspektive, die der Logik »you ask, they answer and then you know« (Hollway 2005: 312) folgt, sieht demnach Wichtiges nicht: zum einen die Bedeutung von genannten Ereignissen, die über das Manifeste hinausreichen kann (dazu auch Stehr 1998, 2002, 2004, 2016) und für deren Rekonstruktion der Kontext der Ereigniserzählungen hinzuzuziehen ist, und zum anderen den inneren Zusammenhang von Ereignissen bzw. Erzählungen im Sinne eines ›hintersinnigen‹ Musters. Ein solches Forschungsdesign, das auf die Rekonstruktion eines solchen ›hintersinnigen‹ Musters zielt, würde die u.a. von John Tulloch und Deborah Lupton (2003: 16f.), Sandra Walklate und Gabe Mythen (2008: 216f.) und Frank Furedi diagnostizierte Forschungslücke auffüllen können: »There is virtually no attempt to compare the different types of panics to see whether they are part of any wider pattern. Instead, analyses of specific panics treat their causes as separate and unconnected events.« (Furedi 2007: 53) 4 Wie bereits mit den psychologisch orientierten Arbeiten angedeutet hat die qualitative, themenoffene Forschung zu (Un-)Sicherheit im lebensweltlichen Kontext auch über die Soziologie hinaus Interesse auf sich gezogen: In den (englischsprachigen) politikwissenschaftlichen Security Studies sind ein Vernacular sowie ein Everyday Turn zu beobachten, die das klassisch politikwissenschaftliche staats- bzw. elitenfokussierte Interesse an Sicherheit durch ein empirisches, subjektzentriertes bzw. gesellschaftliches ergänzen und im Zuge der genannten Turns Alltagssprache und -welten in den Blick nehmen (Bubandt 2005, Jarvis/Lister 2013, Stevens/VaughanWilliams 2016: 17ff. und 26f., Vaughan-Williams/Stevens 2016). Damit ist die Idee verbunden, scheinbar neutrale Expert*innendefinitionen von Sicherheit und von Sicherheitsbedrohungen, die staatlichen Sicherheitspolitiken zugrunde liegen, mit Verweis auf empirische Daten in einem bottom up-Verfahren zu kritisieren, Sicherheit als umkämpftes Konzept sichtbar zu machen und dadurch zu repolitisieren. Ähnliche Bestrebungen, bottom up-Ansätze zu stärken, wenn auch ohne einen themenübergreifenden oder -offenen Anspruch, sind in der Humangeographie zu erkennen (Pain/Smith 2008, Pain et al. 2010). Auch in der Ethnologie und der Anthropologie mit ihrem ohnehin großen Interesse an Alltagswelten wuchs in den letzten Jahren das Interesse an Forschung, die sich explizit mit Sicherheit beschäftigt (darunter Desmond 2015, Diphoorn/Grassiani 2015, Eisch-Angus 2011b, 2012 und 2016, Schwell 2015).

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Trotz dieser Forschungslücke finde ich eine dezidiert rekonstruktive Forschungslogik in den vorliegenden themenoffenen qualitativen Studien nur bei Kreissl (2015a, 2015b), während sich die anderen oben genannten Studien auf Inhaltsanalysen beschränken.

Sinnhaftigkeit und Schwierigkeit einer themenoffenen, rekonstruktiven Studie Um Angst als Phänomen umfassend zu verstehen, verwende ich entsprechend der vorigen Überlegungen zum einen themenoffene Interviews, in denen den Interviewpartner*innen die Möglichkeit gegeben wird, die für sie relevanten Unsicherheitsthemen anzusprechen, und werte diese rekonstruktiv aus, um auch implizite Bedeutungen und Ängste fassen zu können. Doch obwohl ein solches Vorgehen in Bezug auf den Gegenstand als sinnvoll erscheint, ist es in der bisherigen Forschungsliteratur äußerst selten anzutreffen. Wie lässt sich diese Seltenheit interpretieren? Ein Grund mag sein, dass eine bewusste Varianzsteigerung einer Präferenz für präzise eingegrenzte Forschungsgegenstände widerstrebt: »Auf gesellschaftliche Billigung kann, im Namen einer naiv positivistischen Vorstellung von Gründlichkeit und ›Redlichkeit‹, am ehesten […] die ›erschöpfende‹ Untersuchung eines ›fest umrissenen, gut eingrenzbaren Objekts‹ [rechnen], wie das die Doktorväter nennen.« (Bourdieu 1996: 266) Dass vor diesem Hintergrund eine bewusste Varianzsteigerung zu Irritation führen kann, habe ich selbst bei der Präsentation meiner Arbeit immer wieder erlebt. Diese Erfahrung wird auch von der Ethnologin Katharina Eisch-Angus beschrieben: »Seit 2006 […] frage [ich] direkt nach den alltagskulturellen Äußerungen von ›Sicherheit‹: Ein weites Feld, die methodischen Schwierigkeiten scheinen schon im Ansatz vorprogrammiert: ›Grenzen Sie doch erst einmal Ihr Feld und Ihren Gegenstand vernünftig ein!‹ klingt es mir in den Ohren.« (2009: 69) Was also zunächst als unkluge Forschungsentscheidung gelten mag, sehe ich als Stärke dieser Arbeit. Denn die bewusste Varianzsteigerung bietet nicht nur allgemein gesprochen die Möglichkeit eines methodologischen Bruchs mit dem ›Normalen‹ im Sinne des Etablierten, was neue Erkenntnismöglichkeiten bietet. Auch greift diese Forschungsentscheidung eine klassische Idee nicht nur der qualitativen Forschung auf, nämlich das »Erfassen des Homologen an den verschiedensten Sinnzusammenhängen« (Mannheim 2004: 127). Ein weiterer Grund, warum rekonstruktive, themenoffene Studien zu Ängsten in so geringer Zahl vorliegen, liegt sicherlich auch in der Schwierigkeit der in diesem Kapitel verfolgten Fragestellung aus rekonstruktiver Sicht begründet. Denn im Zentrum einer offenen, rekonstruktiven, soziologischen Auswertung stehen erstens weniger konkrete (Un-)Sicherheitsthemen, sondern dazu querliegende kulturelle bzw. Wissensdimensionen, die diesen Themen erst Bedeutung verleihen. Zweitens stellen Rekonstruktionen immer auch Konstruktionen des Gegenstandes

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

dar; eine Sicherheit, lebensweltliche Unsicherheiten tatsächlich angemessen gefasst zu haben, kann es trotz bester Bemühungen ‒ etwa den Einbezug einer Analysegruppe ‒ nicht geben. Drittens wird die Komplexität mit Blick auf die beiden vorigen Kapitel gesteigert: Während in Kapitel 5 analysiert wurde, wie sehr Methoden zu den Ergebnissen beitragen, wurde in Kapitel 6 heuristisch zwischen unterschiedlichen Bedeutungen von Angst- bzw. Unsicherheitskommunikation unterschieden, wovon die Kommunikation von Angst als Emotion nur eine darstellt. Die Daten sprechen also keinesfalls für sich, sondern benötigen eine Interpretation bezüglich ihres Entstehungs- und Gesprächskontexts; und auch dann kann nicht immer zweifelsfrei unterschieden werden, ob es sich im vorliegenden Fall um Angst als Emotion handelt oder nicht. Die in diesem Kapitel präsentierten Ergebnisse stellen daher Annäherungen an die Frage dar, welche Ängste lebensweltlich (k)eine Rolle spielen. Um meinem rekonstruktiven Interesse dabei genüge zu leisten, sind die Angstthemen in den jeweils bedeutungsgebenden Kontext eingeordnet, der auch das Rückgrat der Ergebnisdarstellung bildet. Erst in der Bündelung (Kap. 7.7) fasse ich kontextlos die relevanten Ängste in thematischer Hinsicht zusammen.

7.2

Methodische Fokussierung: Material, Fallauswahl, Analyseheuristiken und -einstellungen

Bevor ich zu den Ergebnissen meiner Analysen komme, stelle ich meine methodische Fokussierung bezüglich des Materials, der Fallauswahl und der angewandten Analyseheuristiken und -einstellungen vor, die auch aus den Erkenntnissen der vorigen empirischen Kapitel gespeist sind.

Material Hinsichtlich des Interviewmaterials analysiere ich wie in den vorigen beiden empirischen Kapiteln die Interviews als Ganzes. Das bedeutet Folgendes: Erstens analysiere ich nicht nur den ersten, themenoffenen Teil eines Interviews. Wie in Kapitel 5 deutlich wurde, wurde dieser nicht so offen verstanden wie von uns intendiert, sodass der zweite Teil des Interviews mit Themenvorgaben die Gelegenheit zur Öffnung bot. Auch enthält der zweite, eigentlich teilstrukturierte Interviewteil Fragen, die teilweise erzählgenerierend wirkten und daher für rekonstruktive Analysen relevantes Interviewmaterial produzierten. Darüber hinaus ist es möglich, dass sich eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Interviewer*in und Interviewpartner*in erst im Verlauf des Interviews etablierte (vgl. Nairn et al. 2005: 231), sodass nicht direkt zu Interviewbeginn Erzählungen zu Themen vorgebracht wurden, die als besonders persönlich gelten. Zweitens beziehe ich nicht nur die Äußerungen zur persönlichen Sicherheit oder zur Sicherheit am Wohnort in meine Analyse ein. Denn

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die Unterscheidung zwischen persönlicher und allgemeiner Sicherheit war nicht allen Interviewpartner*innen klar. Wir hatten sie vorab nicht über diese Unterscheidung und die nachfolgend thematisierten Kontexte informiert und prinzipiell ist auch ungewiss, ob diese Unterscheidung für die Interviewpartner*innen selbst eine relevante und trennscharfe ist. Denn Erzählungen zu persönlichen, lebensweltlich relevanten Ängsten können auch auf Fragen zur allgemeinen Sicherheit hin geäußert werden und umgekehrt. Auch können in gerade unpersönlich anmutenden Erzählungen persönlich relevante Unsicherheiten bearbeitet werden (vgl. z.B. Stehr 1998, 2016). Sinnvoll erscheint es mir daher, die Unterscheidung zwischen persönlicher und allgemeiner Sicherheit als analytische Unterscheidung zu nutzen und die persönliche Bedeutung von Erzählungen zu rekonstruieren. Drittens beziehe ich nicht nur die unmittelbaren Thematisierungen zu ›Ereignissen‹ (also den Angstthemen) in die Analyse mit ein, sondern auch den gesamten Kontext dieser Thematisierungen und damit die Bedeutungsnetze, in die ein Thema eingebettet ist.

Fallauswahl Wie in den bisherigen Analysen verfolge ich die Grundidee eines kontrastreichen Samples, das ich entlang eines theoretischen Samplings umsetze, und lege prinzipiell bestimmte methodische Kriterien für die Fallauswahl zugrunde (dazu Kap. 4.2). Für die Beantwortung der Fragestellung dieses Kapitels kommen folgende Kriterien hinzu: Die Idealbedingung für die Fallauswahl wäre, dass das Interviewthema von Interviewbeginn an so breit und offen bearbeitet wurde wie von uns intendiert, indem nämlich Sicherheit in Baumans Sinne als Oberbegriff verstanden wird und nicht auf Safety enggeführt wird. Allerdings war das nicht immer der Fall (Kap. 5.3). Hinzu kommt, dass nicht immer erkennbar ist, wie das Interviewthema verstanden wurde, gerade in Fällen, die scheinbar glatt laufen, d.h. die gerade keine »gescheiterten« Interviews sind. Themenoffenheit als Kriterium für die Fallauswahl ist daher wichtig, aber praktisch nicht zweifelsfrei zu realisieren. Empirisch eindeutiger bestimmbar ist vielmehr erstens, ob bzw. dass Erzählungen zu Unsicherheits-›Ereignissen‹ vorliegen und nicht nur kurze Antworten auf Freitextfragen, sodass rekonstruierbar ist, welche Bedeutung ein ›Ereignis‹ hat, was also auf dem Spiel steht. Mein Ziel ist es nicht, Personen zu repräsentieren, sondern Konzepte, die quer zu Personen liegen (Kap. 4.2). Daher ist es zwar wünschenswert, wenn das Interviewthema offen verstanden wurde, aber auch Erzählungen zu spezifischen Themen sind hilfreich. Ein zweites Samplingkriterium ist, dass ein ausreichender persönlich-lebensweltlicher, praktischer Bezug in den Äußerungen erkennbar wird anstelle einer rein theoretischen Bearbeitung des Interviews (vgl. Kap. 5.4.2).

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Angesichts dieser Kriterien schieden einige Fälle, die für die vorigen empirischen Kapitel relevant waren, aus der Betrachtung aus (z.B. David Hesse), und einige andere Fälle wurden speziell für die hier verfolgte Fragestellung ins Sample aufgenommen (z.B. Friedrich Huber), um mittels einer breiteren Fallbasis Interpretationen validieren zu können und Positionen und Perspektiven zu ergänzen, die bis dato keinen Niederschlag in der empirischen Analyse gefunden hatten. Schlussendlich liegen diesem Kapitel 33 Fälle zugrunde (s. Anhang B).

Analyseheuristiken und -einstellungen Wie lege ich als Interpretin nun fest, welche Ängste lebensweltlich eine relevante Rolle spielen und welche keine? Die programmatischen Ausführungen (Kap. 3) sowie Analysen in den vorigen empirischen Kapiteln (Kap. 5 und 6) liefern wichtige Hinweise für die in diesem Kapitel relevanten Analyseheuristiken und -einstellungen. Zum einen stellt sich die Frage, wie ich ‒ auch implizite ‒ Ängste rekonstruiere. Dabei geht es einerseits darum, Angst als Emotion von der Verwendung als Positionierung und Argument zu unterscheiden (s. v.a. Kap. 6.2). Andererseits geht es um die Rekonstruktion von Angstthemen selbst. Dafür ist nicht nur das »Was« relevant, also etwa die Benennung von mehr oder weniger konkreten Angstthemen durch die Interviewpartner*innen, sondern auch das »Wie«: Wie wird darüber gesprochen, in welchem Kontext steht das Angstthema? Im Vergleich zur inhaltsanalytischen Auswertung, die wir im Projekt als Grundlage für die statistische Analyse durchführten, privilegiere ich damit den Kontext über das Ereignis. Wenn Unsicherheit bspw. als Bruch erzählt wird: Auf welche Norm(alität)en verweist dieser Bruch?5 Und in welcher Beziehung steht ein Ereignis zu anderen Ereignissen und zu den zentralen Motiven eines Falles? All diese Fragen dienen dazu, die Bedeutung von genannten Ereignissen zu verstehen und darüber hinaus implizite Ängste zu rekonstruieren. Zum anderen stellt sich die Frage, wie ich die lebensweltliche Relevanz bzw. Irrelevanz der so rekonstruierten Themen feststelle. Dies tue ich, indem ich auf Konsistenzen über einzelne Interviewpassagen hinweg achte sowie wie in Kapitel 6 nach Hinweisen in Bezug auf die Erlebnisqualität von Angstthemen suche, darunter die Frage der Agency, verschiedene Relevanzmarker und Hinweise auf die alltagsweltlich-praktische Bedeutung der Themen, die sich bspw. in Sicherheitsmanagements zeigen. Das ist wichtig, da ein bloßes theoretisches Wissen um die Existenz von Bedrohungen im Sinne eines Unsicherheitsbewusstseins nicht gleichbedeutend ist mit deren alltagspraktischen Relevanz im Sinne eines Unsicherheitsempfindens (vgl. Kap. 6.3.1). 5 Garfinkels Idee, dass man aus Norm(alitäts)brüchen besonders viel über die Norm(alität)en lernen kann, spielt als Analyseheuristik also auch in diesem Kapitel eine Rolle.

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Mit diesen analytischen Werkzeugen geht es mir darum, ein qualitativ-rekonstruktives Pendant zu quantitativen Studien zu finden, die ebenfalls herausfinden wollen, was relevante, d.h. mittlere und große und was irrelevante, d.h. kleine oder keine Ängste sind. Während in quantitativen Studien allerdings die Befragten selbst auf einer Skala das Ausmaß ihrer Angst angeben und in Auswertung und Darstellung bestimmte Werte als »große Angst« oder »große Sorge« gebündelt werden können, habe ich es mit mehr Unschärfen zu tun ‒ aber auch mehr Möglichkeiten, Bedeutungen zu analysieren und Implizites explizit zu machen.

7.3

Sicherheit und Angst im Lebensverlauf als neue Perspektive

Position im Lebensverlauf als bedeutungsgebender Kontext Was stellt nun dieses Implizite dar? Einerseits handelt es sich um implizite, d.h. nicht direkt artikulierte Ängste, worauf ich im weiteren Verlauf dieses Ergebniskapitels exemplarisch eingehen werde. Andererseits, und das steht in diesem Abschnitt im Vordergrund, sind es bestimmte soziale und kulturelle Kontexte, die bestimmte Ängste überhaupt erst relevant werden lassen, ihnen Kontur und Bedeutung verleihen. Douglas hat ein solches Denken unter strukturfunktionalistischen Vorzeichen in der Risikoforschung bekannt gemacht und gezeigt, dass verschiedene Gruppen unterschiedliche Risikoportfolios haben, d.h. unterschiedliche Dinge fürchten (Kap. 2.2.2). Offen blieb aber, wie sich Douglas’ Denken dynamisieren lässt und welche Bedeutung soziale Unterschiede haben. Meine hier aufgestellte und empirisch begründete These ist, dass es im Kern immer darum geht, dass Vorstellungen des guten Lebens zur Disposition stehen, und dass ein gutes Leben Unterschiedliches bedeutet, aber diese unterschiedlichen Konzeptionen keine individuellen sind, sondern einer sozialen ‒ und dynamischen ‒ Logik folgen, nämlich der des Lebensverlaufs. In die Lebensverlaufslogik eingebettet sind auch sozioökonomische Unterschiede und Geschlechterunterschiede relevant. Den unterschiedlichen Konzeptionen eines guten Lebens lassen sich unterschiedliche Konzeptionen von Sicherheit zuordnen, die im Folgenden als homologe Muster in Mannheims Sinn rekonstruiert werden. Im Rahmen dieser Sicherheitskonzeptionen lassen sich dann jeweils typische Angstthemen identifizieren. Deutlich wird dabei, dass Ereignisse, die sample-übergreifend thematisiert werden (etwa Kriminalität, Unfälle und gesundheitliche Einschränkungen), erst im jeweiligen Kontext ihre spezifische lebensweltliche, hier lebensphasen- und lebenslagenspezifische Bedeutung gewinnen. Die Verbindung von lebensweltlicher (Un-)Sicherheit und einer Lebenslaufperspektive liegt in gewisser Weise nahe: Beides betont die Dimension Zeit (vgl. auch Schiek 2011). Wie ich noch detaillierter erläutern werde, stellt der Lebenslauf im Rahmen wohlfahrtsstaatlicher Ordnungen eine soziale Zeitstruktur dar, die Auswirkungungen für die individuelle Lebens-

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

führung und -planung hat, d.h. darauf, was die Gesellschaftsmitglieder für ihre Zukunft erwarten, befürchten oder erhoffen.

Eine neue Perspektive Mit diesem Vorgehen sind gemessen am Forschungsstand verschiedene Innovationen verbunden: Erstens werden die Ereignisse bzw. Angstthemen selbst dezentriert und der bedeutungsgebende Kontext rezentriert. Die Ängste, die in anderen Studien die zentrale Ergebnis-Ebene darstellen, lassen sich dadurch ‒ empirisch fundiert und nicht rein theoretisch hergeleitet ‒ in ihrer Bedeutung besser verstehen. Zweitens ist damit eine qualitative Art der Erklärung möglich, die eine mögliche Antwort auf die Frage »Who Fears What and Why?« (Wildavsky/Dake 1990) gibt und dabei die lebensweltliche Dynamik von Angst berücksichtigt (während Douglas ein statischer Blick vorgeworfen wird).6 Damit verbunden wird drittens Abstand von einem abstrakten Durchschnittsindividuum genommen, indem unterschiedliche soziale Positionen berücksichtigt werden. Dieses Vorgehen impliziert, dass das Individuum an sich dezentriert wird und stattdessen genuin soziale Logiken im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Viertens kann diese soziale Logik der ›Wahl‹ bezüglich relevanter Ängste die in der Risiko- und Sicherheitsforschung übliche Dichotomie zwischen von ›Expert*innen‹ festgestellten objektiven (oder objektivierten) Unsicherheiten und den subjektiven Unsicherheiten der ›Laien‹ auflösen, indem Objektivismus und Subjektivismus auf andere Weise zusammengedacht werden, nämlich im Sinne der Vermittlung von Struktur und Handeln: Um es in der Sprache Bourdieus (1998: 17) auszudrücken legt eine objektive soziale Position im sozialen Raum, die immer relational zu anderen Positionen zu bestimmen ist, spezifische Dispositionen (den Habitus) nahe, die wiederum eine spezifische subjektive Perspektive auf die Welt hervorbringen. Die Voraussetzung für diese neue Perspektive sind verschiedene methodische Entscheidungen, die oben benannt wurden: zum einen eine rekonstruktive 6 Warum-Fragen beantworten zu wollen erscheint unüblich für qualitative Forschungen. Ich folge hier Kathy Charmaz (2008: 408), die die Auffassung vertritt, dass qualitative Forschung Antworten auf diese Fragen geben kann, nachdem sie sich intensiv den Was- und Wie-Fragen gewidmet hat. Die Art qualitativen Erklärens unterscheidet sich allerdings ›naturgemäß‹ von quantitativem Erklären (vgl. auch Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010: 316ff.). Qualitatives Erklären kann der Methodologie der dokumentarischen Methode, die auf Mannheim und Bourdieu aufbaut, folgend bedeuten, dass eine soziogenetische Typenbildung durchgeführt wird. Dies meint, dass nicht nur Sinnmuster rekonstruiert werden, sondern dass diese auch sozial rückgebunden werden an bestimmte konjunktive Erfahrungsräume, innerhalb derer sich ihre soziale Genese vollzieht. Dies kann in Webers Sinne als erklärendes Verstehen gefasst werden (Bohnsack 2013b: 248). Ich folge dieser Idee, wenn ich bestimmte Sicherheitskonzeptionen und Ängste als typisch für bestimmte Lebensphasen rekonstruiere.

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Auswertung, zum anderen eine doppelte Varianzsteigerung. Diese wird einerseits im Sample mit der Fokussierung auf maximale Kontraste realisiert, sodass unterschiedliche Lebensphasen und soziale Positionen berücksichtigt sind, und andererseits mit der themenoffenen bzw. themenübergreifenden Interviewgestaltung. Dadurch unterscheidet sich mein Ansatz von anderen Forschungen, die Sicherheit und Biographie bzw. Lebenslauf zusammendenken, da sie auf spezifische (v.a. berufs- und beziehungs-, aber auch gesundheitsbezogene) Unsicherheitsthemen oder spezifische Lebensphasen (v.a. Erwachsene mittleren Alters) fokussieren oder unter individualisierungstheoretischen Vorzeichen untersuchen, wie mit biographischer Unsicherheit umgegangen wird bzw. wie Sicherheit hergestellt wird (z.B. Bonß/Zinn 2003 und 2005, Bonß et al. 2004, Pelizäus-Hoffmeister 2008, Reiter 2010, Sander 2012, Schiek 2011, Wohlrab-Sahr 1993, Zinn 2005).7 Mit meinem themenoffenen bzw. -übergreifenden Ansatz sowie einem durchmischten Sample kann ich Sicherheit und Lebensverlauf in anderer Weise zusammendenken und fragen, was lebensphasenspezifische Ängste sind. Auch Tulloch und Luptons themenoffene Studie hätte dieses Potenzial, allerdings beschränkt sich die Verknüpfung dieser beiden Aspekte auf Fallstudien ohne Abstraktion und auf die Betonung der Bedeutung biographischer Hintergründe für die Risikowahrnehmung (Tulloch/Lupton 2003: Kap. 4). Andere Studien führen Wiederholungsinterviews durch und können so einen Ausschnitt aus dem Lebensverlauf erfassen, fokussieren aber nur auf bestimmte Unsicherheitsthemen (im Überblick: Hawkes/Rowe 2008: 632).

Konzeption des Lebenslaufs Bevor ich zu den Ergebnissen komme, stelle ich diejenige Konzeption des Lebenslaufs vor, der ich mich anschließe, da hier unterschiedliche Konzeptualisierungen vorliegen (im Überblick Sackmann 2013). Prinzipiell bieten Martin Kohlis Überlegungen (1985, 2003) eine gute Ausgangsbasis für meine empirischen Beobachtungen: Er hat für westliche Industrienationen eine erwerbsarbeitszentrierte Dreiteilung des Lebenslaufes vorgeschlagen, der sich in die Vorbereitungsphase (Ausbildung), die Aktivitätsphase (Berufsarbeit) und die Ruhephase (Rentenalter) aufgliedert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser »Normallebenslauf« eine soziale Institution und eine »eigenständige gesellschaftliche Strukturdimension« (Kohli 1985: 1). Trotz Wandlungsprozessen stellt er weiterhin eine lebensweltliche Orientierung für ein gutes Leben dar, indem er eine diachrone »Ordnung richtiger Zeit« 7 Für weitere Titel s. die von Jens Zinn herausgegebene Schwerpunktausgabe der Zeitschrift »Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research« (Jahrgang 10, Heft 1, 2010) zum Thema »Biography, Risk and Uncertainty«. Zu erwähnen sind hier auch die Arbeiten im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 186 »Statuspassagen und Risikolagen im Lebenslauf« (URL: www.sfb186.uni-bremen.de/frames/literatur.htm, zuletzt geprüft am 13.05.2019).

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

und eine synchrone »Ordnung richtigen Zusammenhangs« bietet (Wohlrab-Sahr 1993: 57f. mit Bezug zu Luhmann und Kohli). Ich gehe im Folgenden davon aus, dass sich die lebensweltliche Bedeutsamkeit der sozialen Institution des Lebenslaufs nicht nur aus strukturellen Faktoren ergibt, etwa der Schulpflicht oder dem Renteneintrittsalter, die den Akteur*innen ›äußerlich‹ sind, sondern dass sich diese soziale Zeitstruktur auch im kulturellen Haushalt der Gesellschaft sedimentiert hat und Vorstellungen des guten Lebens prägt. Kohlis starke Orientierung an Erwerbsarbeit ist allerdings durchaus kritisch zu sehen und entsprechend anzupassen, worauf ich noch eingehen werde. In Bezug auf das mir vorliegende empirische Material ist sie allerdings insofern passend, als Sozioökonomisches auf verschiedenen Ebenen die Thematisierungen der Interviewpartner*innen durchzieht, was ich als einen Ausdruck der Erwerbsarbeitsgesellschaft interpretiere, in der wir leben.8 Eine Passung ergibt sich ferner metatheoretisch: Kohli hat seinen Ansatz als Vermittlung von Mikro- und Makroperspektive angelegt, um sowohl individuelles biographisches Handeln als auch kultursoziologische Aspekte und die soziale, sozialstaatliche Strukturiertheit des Lebenslaufs zu integrieren (vgl. Kohli 1985: 19ff., vgl. auch Wohlrab-Sahr 1993: 57). Eine solche vermittelnde Perspektive ist mir trotz lebensweltlichem Fokus dieser Arbeit wichtig; ich habe sie mit Bourdieu begründet.9 Entsprechend nutze ich hier den Begriff des Lebens(ver)laufs, der in der Regel für die Bezeichnung der objektiven Struktur vorgesehen ist, während der Begriff Biographie für die subjektive Konstruktion des eigenen Lebens verwendet wird, die hier allerdings nicht im Fokus steht. Trotz der guten Grundlagen, die Kohlis Ansatz liefert, sind einige Anpassungen nötig: Erstens sind weitere Forcierungen im Individualisierungsprozess zu berücksichtigen, was auch Kohli mitgedacht hat. Meiner Lesart nach betreffen diese Individualisierungsprozesse nicht den Kern der Normalbiographie, sondern rufen vielmehr die Individuen selbst verstärkt in die Verantwortung, auch in Zeiten der Prekarisierung von Erwerbsarbeit ein erwerbsarbeitsbezogenes Leben zu führen und dafür verantwortlich zu zeichnen. Individualisierung stellt in diesem Sinne also eine Responsibilisierung dar (vgl. Kap. 2.2.1 und Wohlrab-Sahr 1993: 60ff.). 8 In den Interviews dokumentiert sich diese generell hohe Orientierung an Arbeit etwa in entsprechenden eigenen Ängsten, aber auch in Selbstpositionierungen als rechtschaffene, da erwerbsarbeitende Gesellschaftsmitglieder sowie arbeits- und leistungsorientierten Formen des Otherings, wonach etwa Jugendliche, Arbeitslose, Ausländer*innen und Muslim*innen als Gruppen konstruiert werden, die sich der Beteiligung am Erwerbsleben entzögen (s. auch Kap. 6.4 und 6.5). Ausführlicher dazu die folgende Ergebnisdarstellung. Allerdings kann diese starke Erwerbsund sozioökonomische Orientierung auch durch das Forschungsdesign begründet sein, wie ich in Kap. 7.7 diskutiere. 9 Zur Verbindung von Bourdieus Theorie und Kohlis Lebenslaufkonzept s. auch Helfferich 2017.

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Zweitens muss Kohlis tendenziell androzentrische Konzeption, die einen männlichen, erwerbszentrierten Normallebenslauf beschreibt, um die Kategorien Geschlecht und Familie erweitert werden (Gildemeister/Robert 2008, Helfferich 2017, vgl. bereits Levy 1977). Drittens ist fraglich, ob es mehr Lebensphasen als die von Kohli skizzierten drei gibt. Für meine Arbeit erscheint es sinnvoll, die Postadoleszenz als weitere Lebensphase junger Erwachsener nach der Jugend zu fassen.

Zur Ergebnisdarstellung Mit dieser Lebensphase beginne ich die folgende Ergebnisdarstellung in Form einer Typologie und zeichne dabei die Eckpunkte eines Lebensverlaufs von der Postadoleszenz über das Erwachsenenalter bis ins Rentenalter nach. Dabei steht im Sinne einer empirisch verankerten und zugleich theoretisierenden Verdichtung das Typische inklusive relevanter Variationen im Fokus, das ich teilweise anhand von Queranalysen, teilweise anhand von exemplarischen Fallanalysen darstelle.10 Im Folgenden stehen pro Lebensphase und pro Typus in einem ersten Schritt die abstrahierten, rekonstruierten Muster im Vordergrund: Was bedeutet jeweils ein gutes Leben und was bedeutet dabei Sicherheit?11 Abstractartig nenne ich dabei auch die relevanten Angstthemen. In einem zweiten Schritt stelle ich diese anhand von Fallanalysen oder als fallübergreifende Queranalysen ausführlicher dar. Wenn also Ängste relevant sind, welche sind es? Typische Ängste müssen dabei nicht jeden Tag dringlich sein und sie müssen nicht in jedem Interviewfall zutreffen ‒ aber sie sind insofern zentral, als sie sich fallübergreifend zeigen und der Realisierung der jeweiligen Vorstellung eines guten Lebens entgegenstehen. Entsprechend dieser Logik sind die Überschriften für jeden Typus gestaltet: Zuerst wird die Sicherheitskonzeption in einem zentralen Begriff dargestellt, danach die zentralen Ängste. Soweit möglich, werde ich jeweils die Erlebnisqualität der Ängste herausarbeiten, ebenso wie die anderen in die Lebensverlaufslogik eingebetteten sozialen Logiken, die die soziale Position einer interviewten Person näher bestimmen, nämlich sozioökonomischer Status und Geschlecht. In einem dritten Schritt stehen typische soziale Unterscheidungen im Sinne von Wertungen und Abwertungen ›Anderer‹ im Vordergrund, denn auch diese zeigen an, welche Normalitätsvorstellungen mit bestimmten Positionen verbunden sind und wie sich die Interviewpartner*innen selbst im sozialen Raum positionieren wollen. Damit binde ich die in Kapitel 6.4 und 6.5 vorgestellten Selbst- und 10 Die Typen zeichnen sich dabei intern durch weitgehende Homogenität aus, extern, d.h. im Vergleich zu anderen Typen, durch eine weitgehende Heterogenität (vgl. Kelle/Kluge 2010: 85). Die folgende Typologie nähert sich aus heuristischen Gründen Webers Idealtypen an, unterschlägt aber auch nicht die komplexere Empirie. So mache ich auf Grenzfälle aufmerksam. 11 Den Begriff des Typus verwende ich hier synonym zum Begriff des Musters, da Typen eine spezifische Form von Mustern sind.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Fremdpositionierungen teilweise an bestimmte Lebenslauf- und soziale Positionen rück.

7.4

Postadoleszenz: Orientierung und Etablierung

Qua Forschungsdesign betrug das Mindestalter für die Interviewteilnahme 18 Jahre, sodass Jugendliche im engeren Sinne aus der Studie ausgeschlossen waren. Junge Interviewpartner*innen lassen sich daher teilweise der Lebensphase Postadoleszenz zurechnen, der ›Nach-Jugend‹. Die Lebensphase Postadoleszenz wurde in den USA als Konzept geprägt und fand sodann auch in der deutschsprachigen Literatur Niederschlag (z.B. Schäfers 1984: 12f., Zinnecker/Strzoda/Georg 1996). Zentrales Merkmal dieser Lebensphase, die u.a. durch die Bildungsexpansion und damit einem längeren Verbleib im (Aus-)Bildungssystem entstehen konnte, sind Statusinkonsistenzen (Hurrelmann/Quenzel 2012: 43): Der Übergang von der Jugend ins Erwachsenenleben kann je nach Bereich (ökonomische Selbstständigkeit, eigener Haushalt, partnerschaftliche Einmündung und Familiengründung, Konsumierendenrolle, gesellschaftspolitische Teilhabe, eigene Identitätsbildung) zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen. Charakteristisch ist ein strukturelles Paradoxon in der Hinsicht, dass sich die soziokulturelle Verselbstständigung bei anhaltender finanzieller Abhängigkeit vom Elternhaus vollzieht. Für die Einordnung von Fällen in die Lebensphasen Postadoleszenz oder Erwachsenenalter gibt es demnach keine eindeutigen Hinweise: Das Alter kann aufgrund milieuspezifisch unterschiedlicher Übergänge von der Ausbildungs- in die Erwerbsphase nur ein grober Indikator sein; relevanter sind für meine Zuordnung die Frage der Verortung im Lebenslauf in den Bereichen Ausbildung/Erwerb und Beziehung/Familie sowie die Frage des Lebensstils hinsichtlich einer jugendlichen Ungebundenheit oder einer erwachsenen Gebundenheit, die auch Verantwortung und Sorge für andere umfasst (vgl. Helfferich 2017). In den Fällen, die ich der Lebensphase der Postadoleszenz zugerechnet habe12 , finden sich zwei Muster, die miteinander verbunden sein können: Sicherheit als Orientierungssicherheit sowie als gelingende Etablierung im Erwachsenenleben. Beide Thematiken können auch in folgenden Lebensphasen auftreten ‒ auch das mittlere Erwachsenenalter wird als Zeit der Neuorientierung und Veränderung beschrieben (Fooken/Lind 1996: 108) ‒, sie scheinen allerdings in der Postadoleszenz besonders dringlich.

12 Es handelt sich um folgende Fälle: Ahmed Erdem, Anna-Lena Neumann, Marko Kaiser, Nicole Schütze, Paul Jung, Stephanie Arrenberg und Yannick Kloschinski.

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7.4.1

Orientierung: Nutzung von Kriminalitäts- und anderen Moralgeschichten

Geschichtenerzählen als Verhandlung von Unsicherheit bzw. Selbstvergewisserung Eine Bedeutung von Sicherheit in den Thematisierungen postadoleszenter Interviewpartner*innen ist Orientierungs- und damit Handlungssicherheit (als eine Form von Selbstsicherheit bzw. von Certainty), die gewonnen werden will: Wie verortet man sich, woran orientiert man sich, wonach handelt man? Das Herkunftsmilieu kann darauf Antworten bieten, allerdings sehen sich die Interviewpartner*innen, auch in Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und neuen Bezugspersonen, selbst als diejenigen, die sich positionieren. Teil dieser Positionierungen ist auch die Herausbildung einer geschlechtsbezogenen Identität jenseits der bloßen Übernahme von Geschlechterrollen sowie eine Auseinandersetzung mit Lebens- und Liebesformen (vgl. Helfferich 1994, Hurrelmann/Quenzel 2012: 84ff., Stauber/Walther 2013: 277).13 Obwohl der Prozess der Herausbildung von Orientierungs- und Handlungssicherheit also als individuelle Aufgabe verstanden wird, ist er zutiefst sozial: Die erarbeitete sozialmoralische Positionierung kann im jeweiligen sozialen Umfeld anerkannt, aber auch verkannt werden. Und dies kann in Bezug auf andere Bereiche von Sicherheit relevant sein kann, wenn bspw. soziale Einbindung und Solidarität relevanter anderer infrage gestellt werden (dazu insbesondere das Fallbeispiel Ahmed Erdem, s.u.). Die Suche nach alltagspraktischer Orientierungssicherheit dokumentiert sich im Interviewmaterial dergestalt, dass die Interviewpartner*innen Beispielgeschichten erzählen, die um einen Normbruch organisiert sind. Diese Geschichten können auch kleine, scheinbar belanglose Geschichten sein ‒ »small stories« (Bamberg/Georgakopoulou 2008) ‒, die zunächst nichts mit dem Thema Sicherheit zu tun zu haben scheinen (dazu wiederum paradigmatisch das Fallbeispiel Ahmed Erdem). Allerdings finden in ihnen wichtige Positionierungsleistungen statt, denn anhand der Geschichten diskutieren die Interviewpartner*innen moralische Fragen und nehmen dazu Stellung. Dass v.a. über Erlebnisse und Handeln anderer berichtet wird ‒ von Freund*innen oder scheinrealen, d.h. nicht direkt bekannten Personen im erweiterten persönlichen Umfeld ‒, ist funktional: Diese Thematisierungsweise »befreit die Erzähler/innen von Rederestriktionen, Peinlichkeiten und Rechtfertigungszwängen. Sie können sich über Fragen der Alltagsmoral in einer Weise verständigen, die sie selbst von den erzählten Ereignissen entlastet.« (Stehr 2002: §32) Ein besonders ergiebiges Genre innerhalb der Moralgeschichten stellen Kriminalitätsgeschichten dar. Das veranschaulicht der Fall Anna-Lena Neumann, 13 Mit Positionierungen meine ich in diesem Abschnitt nicht rhetorische Positionierungen wie in Kapitel 6, sondern stärker handlungspraktische.

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der als erstes Ankerbeispiel für das Gewinnen von Orientierungssicherheit vorgestellt wird. Gegenüber der weiblichen Vorsicht, um die es bei ihr geht, wird als zweites, kontrastierendes Beispiel der Fall Ahmed Erdem vorgestellt, in dem es zentral um die Frage geht, was einen guten Mann ausmacht.14 Die Ergebnisdarstellung mittels ausführlicher Fallbeispiele ermöglicht es, dem besonderen Charakter der Thematisierungsform gerecht zu werden; gleichwohl stehen die Beispiele exemplarisch für ein Muster.

Fallbeispiel Anna-Lena Neumann: angemessenes Handeln als junge Frau Anna-Lena Neumann ist Anfang 20, wohnt mit ihren Eltern und Geschwistern zusammen und studiert. Im Fokus ihrer Interviewthematisierungen stehen Geschichten, für die die Interviewerin als Sammelbegriff Kriminalität vorschlägt, was von Anna-Lena Neumann bestätigt und in der Struktur-Lege-Technik aufgegriffen wird: Dort setzt sie Kriminalität an erste Stelle, »weils einfach total vielschichtig ist«. Welche Schichten lassen sich nun rekonstruieren? Auf einer inhaltlichen Ebene vereint diese Geschichten, dass potenzielles oder tatsächliches Opfer stets junge Frauen sind. So geht es bspw. um die Erfahrung einer Freundin mit Identitätsdiebstahl in sozialen Netzwerken ‒ das geklaute Profil tauchte in einer »Datingbörse mit halbnackten Frauen« auf ‒, um die Gefahr von Gewalt, wenn »junge Mädels« abends alleine unterwegs sind, aber auch um die Gefahr von Raubüberfällen und Vergewaltigungen am helllichten Tage. Dazu erzählt Anna-Lena Neumann folgende Geschichte, die sie in ihrem sozial-räumlichen Umfeld (Kollegin der Freundin, nahegelegenes Einkaufszentrum) ansiedelt und die ich hier exemplarisch interpretiere15 : ALN: Also es war derletzt irgendwie so dass ne Freundin von mir erzählt hat, die Altenpflegerin ist, dass ihre Kollegin im (Name des lokalen Einkaufszentrums) einkaufen war. Sie ist rausgekommen, und dann kam ihr ne alte Frau entgegen die dann gemeint hat »ich habe gerade die Straßenbahn verpasst, könnten Sie mich vielleicht n Stück mitnehmen.« Als Altenpflegerin hat die natürlich gesagt »ja klar, kein Problem.« Dann ist die eingestiegen, die Frau, und sie wollte dann rückwärts ausparken und hat beim rückwärts Ausparken auf die Hände von der alten Frau geschaut und die Hände waren jung, also junge Haut. Und dann hat sie ganz gut reagiert und hat dann gemeint, »ja, könnten Sie vielleicht aussteigen und mir beim 14 Das Interview mit Ahmed Erdem habe ich in Kap. 5.3.2 als Beispiel für eine Tendenz des Leitfadens vorgestellt, theoretisches Wissen abzufragen statt praktisches Wissen zu erfragen. Dort schrieb ich aber auch, dass sich diese Tendenz nicht durch das ganze Interview zieht, sondern paradoxerweise im halbstandardisierten Teil des Interviews durchbrochen wird, in dem Ahmed Erdem zunehmend seine Thematisierungsweise der szenisch-episodischen Erzählungen umsetzt. Darauf stützt sich die folgende Analyse. 15 Eine Kurzinterpretation findet sich bereits in Blinkert/Eckert/Hoch 2015.

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Ausparken helfen.« Dann ist die Frau ausgestiegen, dann hat se die Knöpfe runter gemacht und ist direkt zur Polizei gefahren. Dann war halt noch die Handtasche von der Frau im Auto. Dann hat sie die Handtasche dem Polizisten gezeigt und der hat dann gemeint, »ja, lassen Sie mich raten, da ist n Seil, ne Ta- nen Seil, ne Schere und n Messer drin.« Und so wars dann auch. Und des war dann irgendwie so, dass wie so ne- ja, dass des so einige Männer sind, die sich als alte Frauen verkleiden, so professionell mit Maske, und versuchen junge Frauen auszurauben oder zu vergewaltigen und so. Diese Geschichte behandelt nicht nur eine im alltäglichen Leben unerwartete Bedrohungssituation, in die das potenzielle Opfer unverschuldet hineingerät. Hinzu kommt, dass das Opfer nicht zufällig gewählt wird, sondern wie Anna-Lena Neumann eine junge Frau ist, sodass das So-Sein zum gefährdenden Merkmal wird. Leicht ließe sich diese Erzählung als Ausdruck einer weiblichen Kriminalitätsfurcht deuten. Doch darum geht es im Kern nicht, wie ich bezugnehmend auf Johannes Stehrs Narrationsanalyse von Moralgeschichten argumentieren möchte. Denn obgleich die Geschichte von Anna-Lena Neumann räumlich und sozial in ihrem näheren Umfeld kontextualisiert wird, wird hier keine urpersönliche Erfahrung von Bekannten verarbeitet. Vielmehr handelt es sich bei dieser Geschichte um eine moderne Sage, die als wahr behauptet und motivgleich »an verschiedenen Orten und in verschiedenen Einkleidungen« (weiter-)erzählt wird (Stehr 2002: §2). Die hier erzählte Geschichte findet sich bei Johannes Stehr als strukturgleiche Geschichte (Stehr 1999: 9). Stehrs Interpretation solcher moderner Sagen ist nun, dass es darin weniger darum geht, über »Art und Ausmaß gegenwärtiger Kriminalität« zu informieren, sondern »die in ihnen enthaltene Moral lebenspraktisch zu machen« (Stehr 2004: 377) und damit Handlungs- und Orientierungssicherheit in Alltagssituationen (wieder-)herzustellen. Zu dieser Interpretation gelange auch ich in diesem konkreten Fall: Potenzielles Opfer in Anna-Lena Neumanns Geschichte ist eine junge Altenpflegerin, d.h. eine Frau, die zudem einer weiblich konnotierten Tätigkeit im Care-Bereich nachgeht. Sie wird von einer angeblich älteren Frau um Hilfe gebeten, d.h. von einer Person, um die sie sich beruflich kümmern könnte und die generell als schutzbedürftig gilt. Die Altenpflegerin zögert nicht, Hilfsbereitschaft erscheint ihr selbstverständlich und wird nicht problematisiert: Sie antwortet »ja klar, kein Problem«. Die Gewissheit, auf diese Weise richtig gehandelt zu haben, wird aber nicht nur in der erzählten Geschichte praktisch infrage gestellt, als sich die angebliche ältere Frau als verkleideter Mann entpuppt, der junge Frauen ausrauben oder vergewaltigen will. Die Verunsicherung hinsichtlich angemessenen Handelns thematisiert Anna-Lena Neumann auch auf explizite Weise, wenn sie das zuvor Unproblematische, Selbstverständliche als schwierig bezeichnet: »Ich find’s einfach schwierig, weil sie hatte in dem Moment zum Beispiel den Gedanken ›ok, ich helf’ jetzt ner

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alten Person.‹« In dieser Evaluation der Geschichte geht es weniger um die Bedrohung durch Kriminalität, sondern um eine Unsicherheit bezüglich angemessenen Handelns in einem moralischen Dilemma ‒ und zwar speziell als junge Frau. In der Quintessenz all der Kriminalitätsgeschichten scheint Anna-Lena Neumann Wachsamkeit und Vorsicht als Handlungsmaximen zu präferieren (dazu auch Kap. 6.4.1). Dies dokumentiert sich auch darin, wie sie das Interview bearbeitet: Sie tut genau das, was von ihr erwartet wird, d.h. beantwortet die Fragen ohne Abschweifungen bzw. klärt in meta-kommunikativen Einschüben, ›was sie tun soll‹. So klärt sie bspw. zuvor ab, ob das Erzählen von Beispielgeschichten in Ordnung ist, was von der Interviewerin bejaht wird. Insgesamt verfestigt sich so im Lebensverlauf ein bereits ohnehin schon vergeschlechtlichter Habitus (dazu Helfferich 2017). Diese Geschlechterdimension wird im Vergleich mit dem folgenden Beispiel umso deutlicher, in dem es um die Herausbildung guter Männlichkeit geht. Hierfür habe ich als exemplarisches, prägnantes Fallbeispiel Ahmed Erdem ausgewählt, bei dem es um eine traditionale Männlichkeit als milieuspezifische Vorstellung guter Männlichkeit geht. Diese Form von Männlichkeit hat für Darstellungszwecke den Vorteil, dass sie explizit thematisiert und als Geschlechtercode sichtbar wird, während im individualisierten, egalitär orientierten Milieu Geschlecht eher dethematisiert wird (vgl. z.B. Koppetsch/Speck 2015). Zudem werden bei Ahmed Erdem die sozialen und auch sicherheitsbezogenen Konsequenzen der ›richtigen‹ Orientierung und des ›richtigen‹ Handelns deutlich, da Eingebundensein und Solidarität davon abhängen.

Fallbeispiel Ahmed Erdem: Vergewisserung, was einen »Gentleman« ausmacht Ahmed Erdem ist Mitte 20, Sohn türkischer Migrant*innen und lebt in einer eigenen Wohnung in der Nähe seiner Familie. Trotz seiner finanziellen Eigenständigkeit ordne ich ihn nicht dem Erwachsenenalter zu, sondern aufgrund seines Lebensstils, soweit er im Interview rekonstruierbar ist, der Postadoleszenz. Hierfür steht u.a. seine Auseinandersetzung mit verschiedenen Leitbildern und Praktiken von Geschlechterbeziehungen. Zum einen wird bei ihm eine Unterscheidung von jugendlichen, ungebundenen Beziehungen und ernsthaften Liebesbeziehungen deutlich (dazu auch Helfferich 2017), wenn er über seine bisherigen Beziehungen sagt: »Man is ja JUNG, also ((klatscht)) so einmal kommen einmal gehen. Beziehungen, Spaß, (1) […] ich war noch nie in mein Leben verliebt.« Zum Interviewzeitpunkt befindet er sich allerdings in der Anwerbephase einer ernsthaften Beziehung, in die er viel investiert; dazu unten mehr. Zum anderen stellt sich in diesem Kontext auch die Frage, wie sich ein guter Mann ‒ ein »Gentleman« in den Worten Ahmed Erdems ‒ gegenüber Frauen verhält. Im Interview erzählt Ahmed Erdem hierfür ausführlich vom Vorabend des Interviews, als er Besuch von seinem Freund Ümit samt dessen Freundin bekommt. Diese Erzählung kann als eine

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Moralgeschichte interpretiert werden, die zur Selbstvergewisserung über ein angemessenes, ehrenhaftes Handeln als Mann dient. Der Plot dieser Geschichte besteht aus einer von Ümit verursachten Eskalation an Normbrüchen und Grenzüberschreitungen in der Gestaltung der Geschlechterbeziehungen. Als erste Verletzung von geschlechtlich codierten Anstandsnormen stellt sich für Ahmed Erdem dar, dass Ümit seine Freundin überhaupt mit in seine Wohnung bringt ‒ dies widerspricht seinen Ehrvorstellungen: »Wenn du mit eine Frau zusammen bist, dann musst du dich doch auch wie ein Gentleman- wie ein Mann benehmen; weißt? Ich bring doch kein Mädchen in meine Wohnung rein.« Als höflicher Gastgeber lässt Ahmed Erdem seiner Schilderung nach das Paar aber gewähren und es kommt aus seiner Sicht zu weiteren, sich verschlimmernden Normbrüchen: Die Freundin geht nicht sofort wieder, sondern bleibt zum gemeinsamen Filmschauen. Dabei macht sie die »Beine breit«, ihr Fuß berührt Ahmed Erdems Fuß und sie erscheint ihm unsittlich bekleidet: »Unterhose sieht man, Tanga is raus und so«. Auch nach dem Film macht die Freundin keine Anstalten zu gehen, sondern legt sich bei ihm schlafen. Der Tiefpunkt für Ahmed Erdem ist erreicht, als Ümit nicht einmal hier interveniert, sondern sogar vor Ort seine Freundin »fickt«. Ümit stellt für Ahmed Erdem nun alles andere als ein »Gentleman« dar, dessen Freundin bezeichnet er gar als »Hure«. Diese Geschichte nutzt Ahmed Erdem als Negativfolie, um die seiner Sicht nach angemessenen Vorstellungen von ehrenhafter Männlichkeit und Weiblichkeit zu umreißen. Eine ehrenhafte Männlichkeit, die er für sich selbst in Anspruch nimmt, ermöglicht bzw. schützt das ehrenvolle Verhalten der Frau: AE: Guck mal ich hab mich heute mit ein Mädchen troffen, das Mädchen hat sich geschämt. […] Ich hab mit- mit TAxi. Ich hab die von Schule abgeholt, die musste Bewerbung abgeben und so. Ich hab die mit Taxi nach (Stadt) gefahren, von (Stadt) wieder auch nach (Wohnort), ich hab die Essen Restaurant Kino ((?dies das?), ich hab die immer mit TAxi, zack=zack=zack=zack. Taxi hat NIE Stop; [((lacht auf))] ((erheitert) Ich war immer mit Taxi; Taxi war immer mit uns; weißt?) Die hat sich geSCHÄMT. Und ich glaub, des Mädchen ist jetzt verLIEBT in mich. Im Unterschied zu Ümit wird für das Aufeinandertreffen der Geschlechter kein privater Raum gewählt, sondern ein semi-öffentlicher. Zudem grenzt sich Ahmed Erdem hier von deutschen Männern ab, über die er sagt: »Die sind mit Frau zusammen, die kaufen sich alles, aber die Frau nich«. Demgegenüber positioniert er sich in diesem Beispiel als Gönner und Ermöglicher ohne finanzielle Grenzen. Darin zeigt sich die von Bourdieu anhand der algerischen Kabylei beschriebene antiökonomistische Ökonomie der Praxis, die die maßlose Verausgabung von ökonomischem Kapitel zugunsten der Anhäufung des symbolischen Kapitals der Ehre kennt (Bourdieu 1987b: Kap. 7). Entsprechend dieser Logik evaluiert Ahmed Erdem sein Vorgehen als positiv: Das Mädchen schämt sich, was im Kontrast zu Ümits

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

schamloser Freundin auf ein vorhandenes Ehr- und Schamgefühl hinweist, und hat sich vermutlich in ihn verliebt. Letzteres verweist darauf, dass sich hier eine ernsthafte, erwachsene Beziehung anbahnen könnte, in dessen Zuge sich freie, ungebundene, jugendliche in verantwortungsvolle, gebundene, erwachsene Männlichkeit transformiert. Wie Anna-Lena Neumann geht es also auch bei Ahmed Erdem um Orientierungsund Handlungssicherheit, gerade auch in Bezug auf ein angemessenes Handeln als Frau bzw. Mann. Ein Unterschied ist allerdings, dass für Ahmed Erdem diese Frage weniger offen, sondern weithin beantwortet scheint. Daher spreche ich bei ihm von Selbstvergewisserung in Bezug darauf, was einen »Gentleman« ausmacht. Gleichwohl verweist auch diese darauf, dass Orientierung und Handeln nicht selbstverständlich sind, sondern der Absicherung, z.B. über Erzählungen, bedürfen. Die subjektive Bedeutung der Erzählung zu diesem Thema zeigt sich auch darin, dass sich Ahmed Erdem in diesem Fall von den abstrahierenden Zwischenfragen der Interviewerin nicht vom szenisch-episodischen Weitererzählen abhalten lässt. Darüber hinaus bietet der Fall Ahmed Erdem Einblick in die soziale Bedeutung des Gewinnens von Orientierungssicherheit. Wie auch bei Anna-Lena Neumann deutlich wurde, handelt es sich hierbei nicht um idiosynkratische Prozesse, da Geschlechterleitbilder sozialgruppenspezifisch codiert sind. Was passiert nun aber, wenn zur lebensphasenspezifischen Frage, wie man sich als Mann und frau sich als Frau verhält, unterschiedliche kulturelle Kontexte hinzukommen? Während Ümit aus Ahmed Erdems Sicht ›normale‹ deutsche Werte verkörpert, fühlt er sich denjenigen seiner Eltern mehr verpflichtet und fürchtet ihr Urteil über Ümits Normbruch in seiner Wohnung als seinem Verantwortungsbereich: »Wie soll ich dann meine Mutter in sein Gesicht gucken? […] Mein Mutter hätt gesagt ›was is los? Mann. Unrespekt nich, du bringst ein Mädschen in dein Wohnung.‹ (1) Billig; weißst? Die sind billig; Mann.« Ist er also solidarisch zu Ümit und akzeptiert sein Verhalten, so riskiert er den Rückhalt seiner Herkunftsfamilie und damit sein Sicherheitsgefühl, denn Sicherheit bedeutet für ihn in einem verlässlichen sozialen, auch familiären Netzwerk »gut aufgehoben« zu sein. Kritisiert er Ümit, so steht allerdings die Freundschaft und sein freundschaftliches Backupsystem infrage, der »Gang«, denn Ümit »wär direkt der ERSte«, der ihm bei Bedarf zu Hilfe eilt.16 Seine eigene moralische Positionierung ist also folgenreich und über die Orientierungssicherheit hinaus sicherheitsrelevant. Dies trifft auch für andere Fälle zu, zeigt sich bei Ahmed Erdem aufgrund der für ihn widersprüchlichen sozialen Kontexte aber in besonders

16 Auch die »Gang« kann als Teil der Herausbildung einer Geschlechtsidentität verstanden werden; vgl. Helfferich (1994: 113ff.) zu »männerbündischen Subkulturen« bei Hauptschülern und Auszubildenden.

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anschaulicher Form. Hinzu kommt, dass bei ihm die Bedeutung des Sozialen dadurch gesteigert wird, dass sein zentrales Kapital soziales Kapital zu sein scheint. Ahmed Erdem ängstigen entsprechend weniger die ›Ereignisse‹ an sich, sondern bestimmte Bedingungen von Ereignissen ‒ solche, in denen er nicht auf sein soziales Netzwerk zurückgreifen kann. Die Verlässlichkeit seines sozialen Netzwerks wiederum hängt vom Einhalten moralischer Kodizes ab. Dies ist in theoretischer Hinsicht interessant, da die Unsicherheitsereignisse neben der Lebensverlaufslogik noch auf eine andere Weise dezentriert werden. Entscheidend sind hier die Umstände ihres Eintretens, was eine Konditionalisierung von Angst bedeutet.17

7.4.2

Etablierung: Zukunfts- und Versagensängste

Realisierung eines beruflich basierten Lebensentwurfs und Etablierungshindernisse Neben dem Gewinnen von Orientierungssicherheit stellt sich bei Interviewpartner*innen in der Postadoleszenz noch eine andere zentrale Frage, nämlich die der gelingenden Etablierung: Schaffen sie es, sich ein gelingendes, eigenständiges Leben aufzubauen bzw. einen bestimmten Lebensentwurf zu realisieren? Bei aller Varianz betreffen die entsprechenden Interviewthematisierungen drei Dimensionen eines guten Lebens (die jedoch nicht alle in einem Fall zutreffen müssen): erstens und in besonderer Weise die berufliche Einmündung und finanzielle Sicherheit, zweitens die damit in Verbindung stehende Lebensweise hinsichtlich beruflicher Zufriedenheit und dem Wohnort und drittens der gelingende Aufbau einer verbindlichen Paarbeziehung. Aufgrund der herausragenden Bedeutung der beruflichen und finanziellen Dimension sind Ängste, soweit in den vorliegenden Interviews dokumentiert, v.a. Zukunfts- und Versagensängste; spielen Krankheiten und Unfälle eine relevante Rolle, dann typischerweise als Minderung der Leistungsfähigkeit und als Etablierungshindernis. In Bezug auf die Bildungs- und Berufsbiographie können auch Orientierungsunsicherheiten eine Rolle spielen, wenn etwa zur Debatte steht, ob der eingeschlagene Bildungsweg in ein zufriedenstellendes und finanziell einträgliches Berufsleben führen kann oder eine Umorientierung vonnöten ist.18 17 Im Interview nennt Ahmed Erdem entsprechend die Abschiebung von Freunden, die sein soziales Backupnetzwerk zerstören würde, als Angstthema. Auch das Interview selbst stellt eine verunsichernde Situation dar (wenn auch in geringerer Erlebnisqualität), da Ahmed Erdem mit seinen Kompetenzen und seinem Wissen den Ansprüchen nicht genügt und die Interviewerin ihm seine übliche Lösungsstrategie für solche Fälle untersagt, nämlich kompetente andere aus seinem (erweiterten) Netzwerk zu Hilfe zu rufen (Kap. 5.3.2). 18 Hier lässt sich mit Reiter (2010) zwischen »knowledge uncertainty« und »outcome uncertainty« unterscheiden: Während sich Orientierungssicherheit durch ersteres auszeichnet, da ungewiss

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Insgesamt geht es also einerseits um die Ablösung vom Elternhaus, andererseits wissen die jungen Erwachsenen dabei in der Regel ihre Herkunftsfamilie als Backupsystem hinter sich. Diese bietet eine Hintergrundsicherheit, vor der sich das Eigenständigwerden vollzieht.19 Allerdings sind hier auch soziale Unterschiede etwa hinsichtlich der finanziellen Ressourcen zu berücksichtigen, die die Herkunftsfamilie bieten kann. Das Eigenständigwerden ist auch von einer großen Autonomie insofern geprägt, als das eigene Leben in geringerem Ausmaß mit dem Leben anderer verbunden und verschränkt ist in wie in möglichen späteren Lebensphasen, in denen eventuell vorhandene feste Partnerschaften und Kinder die Biographien der Einzelnen wechselseitig beeinflussen, Entscheidungen nicht mehr isoliert getroffen werden können und die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten begrenzt sind (»linked lives«, Elder, JR. 1994: 6). Wie gestaltet sich das nun in den Interviews? Einige Beispiele sollen dieses Muster illustrieren. Deutlich wird dabei, dass es um unterschiedliche Erlebnisqualitäten von Angst geht. Yannick Kloschinski ist hierbei derjenige, bei dem sich große Ängste rekonstruieren lassen.

Zukunfts- und Versagensängste Die hohe Bedeutung von verwertbarer Bildung und einträglicher, erfüllender Erwerbsarbeit zeigt sich in den Interviews in verschiedener Hinsicht. So ist z.B. Marko Kaisers erste Assoziation zum Thema Sicherheit: »Da wäre einmal so das Arbeitstechnische, also ich sage mal Sicherheit im eigentlichen Sinne, Mensch, was macht die Zukunft?«. Yannick Kloschinski, der zum Interviewzeitpunkt erwerbslos ist und auf die Interviewerin einen »geknickten Eindruck« macht, thematisiert »Zukunftsängste«, die er als »das Hauptding« bezeichnet. Was steht also jeweils auf dem Spiel? Grundlegend geht es darum, im Leben voran- und weiterzukommen, etwas Bestimmtes zu erreichen, was auf eine Vorstellung von verschiedenen Lebensphasen verweist, wie sie im Lebenslaufkonzept von Kohli angelegt ist. Diese Zukunftsorientierung zeigt sich in prägnanter Weise bei Paul Jung, Anfang 20 und Student. Ihm geht es darum, sein Studium erfolgreich abzuschließen und im Erwerbsleben Fuß zu fassen. Versagensängste bezüglich seines interdisziplinären Studiums stehen im Vordergrund, den Leistungsdruck und das Stresslevel beschreibt er als hoch: »Irgendwie muss man halt ständig mitkommen und dranbleiben«. Krankheiten als Angstthemen spielen bei den Interviewpartner*innen in der Postadoleszenz in der Regel eine geringe Rolle; werden sie thematisiert, dann als Etablierungsverzögerung bzw. -hindernis. Eine kurze krankheitsbedingte Pause etwa hindert Paul Jung zufolge am Mit- und Weiterkommen, denn »da hängt ist, was zu tun ist, bezeichnet zweiteres die Ungewissheit, ob sich die eigenen Bemühungen lohnen werden. 19 Dazu ausführlicher Eckert 2010: Kap. 3.3.2 für verschiedene einschlägige Referenzen in der Forschungsliteratur und Kap. 5.2 für empirische Ergebnisse.

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man dann total zurück«. Diese Metaphorik stellt Passivität (hängen) sowie eine räumlich-zeitliche Entfernung von der ›normalen‹ Laufbahn (zurück) als problematisch dar und betont damit die Notwendigkeit von Aktivität und Mitkommen, die ein Vorankommen erlauben. Gegenüber dieser kurzen krankheitsbedingten Pause würde eine »übelst krasse Krankheit« dafür sorgen, dass man »total aus dem Leben gerissen wird« und Schwierigkeiten hat, »da wieder reinzukommen«. In diesem Fall geht es also nicht nur um eine Tempoverzögerung, sondern um ein komplettes Verlassen der üblichen Laufbahn, die nur mit erhöhter Anstrengung wieder erreicht werden kann. Man müsste dann »nochmal neu anfangen.«20 Yannick Kloschinski steht vor einem solchen Neuanfang: Er ist zum Interviewzeitpunkt Anfang 20, hat nach der Mittleren Reife ohne Berufsabschluss verschiedene Hilfsarbeiten ausgeführt, zuletzt im Baugewerbe, um »einfach nur« Geld zu verdienen. An dieser Entscheidung zweifelt er im Moment und versucht, das Abitur nachzuholen und danach eventuell zu studieren, auch wenn er Sorge hat, hinterher zu alt für den Arbeitsmarkt zu sein und auch mit Studium unter Umständen keine Arbeit zu finden, wie er es bei Freunden beobachtet. Er will sich nun also »was aufbauen«, wie er sagt. Woher kommen diese neuen Ansprüche an die Erwerbstätigkeit? Ein wichtiger Faktor dürfte sein, dass er sich erstmals in einer verbindlichen Liebesbeziehung wähnt: Während er in früheren Beziehungen »haufenweise Mist gemacht« hat, ist ihm seine aktuelle Beziehung »wahnsinnig wichtig«. Die intendierte partnerschaftliche Einmündung verlangt für ihn eine berufliche Einmündung mit besseren finanziellen Möglichkeiten, damit er seiner Freundin, die in einer anderen Stadt wohnt, näher sein kann. Seine bisherigen Jobs erscheinen ihm für diesen Zweck nicht hilfreich: Sie bieten wenig Planungs- und finanzielle Sicherheit ‒ »weil die dann Pleite gehen oder nicht pünktlich zahlen« ‒ und erlauben es daher nicht, »sich irgendwie was aufzubauen«. Implizit wird hier, vergleichbar zu Ahmed Erdem, eine Transformation von Männlichkeit thematisiert: Auch für Ahmed Erdem zeigt sich gute Männlichkeit im Übergang von jugendlichungebundenen zu erwachsen-ernsthaften Beziehungen zu Frauen darin, dass auf Seiten des Mannes eine solide finanzielle Grundlage vorhanden ist. Für Ahmed 20 Ähnlich äußert sich Gerd Weidner, zum Interviewzeitpunkt Mitte 50, über eine schwere Erkrankung in seiner Jugend: »Also meine Leistungsfähigkeit war deutlich noch reduziert.« In Gerd Weidners retrospektiver Bedeutungsgebung von schweren Krankheiten in der Jugendphase spielt zudem eine weitere Einschränkung eine Rolle, die in den o.g. Interviews nicht deutlich wird, nämlich Krankheit als Realisierungshindernis eines jugendspezifischen Lebensstils, der Rauscherfahrungen beinhaltet (s. auch Helfferich 1994): »Alkoholverbot hatte ich, striktes, (…) des war vor allen Dingen auch damals in dem Alter schon ne große, ne große Einschränkung ja.« Eine Deutungsmöglichkeit für das Fehlen solcher Thematisierungen in den vorliegenden Interviews mit jungen Menschen ist, dass diese bemüht sind, sich als ›ordentliche‹ Menschen und Gesellschaftsmitglieder zu präsentieren, und ihre Thematisierungen entsprechend zuschneiden (vgl. Kap. 6.4).

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Erdem scheint diese allerdings problemlos gegeben bzw. leistbar, während sie für Yannick Kloschinski zur aufwendigen Herstellungsaufgabe wird. Doch nicht für alle Interviewpartner*innen sind Beruf und Beziehung so eng verbunden; Marko Kaiser etwa, Mitte 20, problematisiert das Scheitern seiner fünfjährigen Beziehung (inklusive gemeinsamen Wohnens), wenn er sagt: »DIE sicherheit ist WEG«. Allerdings steht dies in seiner Erzählung nicht in Verbindung mit seinem beruflichen Umbruch oder sozioökonomischen Fragen, sondern ist ein eigenständiges Themenfeld. Ob sich Bildungswege beruflich lohnen, ist allerdings auch für Marko Kaiser ebenso wie für andere Interviewpartner*innen ein wichtiges Thema in Bezug darauf, ob sich eine bestimmte Lebensweise realisieren lässt, allerdings weniger in finanzieller Hinsicht. Marko Kaiser z.B. ist kurz davor, seinen finanziell einträglichen Beruf als Versicherungsmakler aufzugeben, um zunächst zu studieren ‒ was mit einem anderen, studentischen Lebensstil verbunden ist, dem er nicht abgeneigt scheint ‒ und um danach einen Beruf zu ergreifen, der ihm mehr »Spaß« macht als der bisherige. Ob dies gelingt, stellt er jedoch als ungewiss dar: MK: Wer sagt mir, dass es nach dem Studium genauso WEItergeht; wer sagt dass ichs Studium SCHAFfe; wer sagt dass ich nachm Studium den Job bekomme, den ich WILL; vielleicht mach ich nochn BLÖderen Job den ich jetz sowieSO schon habe; und der macht mir dann noch WEniger Spaß. Nä? Ich sage mal das sind so die Ängste, die man denn halt HAT. In dieser Passage formuliert Marko Kaiser in anaphorischer Weise ‒ durch dreimaligen Satzbeginn mit »wer sagt« ‒ die offenen bildungs- und berufsbiographischen Fragen, die mit seiner Umorientierung einhergehen. Damit bringt er die Ungewissheit nicht nur auf thematischer, sondern auch auf sprachlicher Ebene zum Ausdruck. Mit der anschließenden Skizzierung einer möglichen negativen Zukunft umreißt er die Riskanz seines Vorhabens: Nicht nur können sich seine Bildungsbemühungen nicht auszahlen, sondern seine berufliche Situation könnte sich im Vergleich zum jetzigen Zeitpunkt gar verschlechtern. Dass es angesichts dieser Ungewissheit normal ist, Ängste zu haben, verdeutlicht er in der Coda mit der kollektiv-anonymen Agency »man« und der Selbstverständlichkeitsmarkierung »halt«. Gleichzeitig sind entsprechende Ängste bei ihm nur klein und Hoffnung dominiert seine Zukunftsperspektive (vgl. Kap. 6.3.1). Geht es bei Marko Kaiser in Bezug auf den Beruf vorwiegend um berufliche Inhalte, so kann der Beruf selbst auch mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit verbunden sein, einen bestimmten umfassenderen Lebensentwurf realisieren zu können. Stephanie Arrenberg, Ende 20 und mitten in den Abschlussprüfungen ihres Pharmaziestudiums, zeigt sich unbesorgt, den gewünschten Beruf als Apothekerin ergreifen zu können: »Den Beruf werde ich ja so und so kriegen.« Allerdings stellt sich für sie die Frage, wo genau sie eine Arbeit finden wird, d.h. welches Leben sie

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leben kann – was wiederum von ihren Prüfungsergebnissen abhängt und sie unter Leistungsdruck setzt: Schneidet sie schlecht ab, befürchtet sie »irgendwo in einer Kleinstadt zu landen, wo nix ist außer einem Tante-Emma-Laden.« In ähnlicher Weise schildert Nicole Schütze, Ende 20 und in einer Anstellung, diese Ängste und betont dabei die mangelnde Wahlfreiheit in der Gegenwartsgesellschaft, in der die Arbeit das sonstige Leben dominiert: »Ich hab natürlich schon irgendwann Angst, dass ich irgendwo hin muss des JOBS wegens und nicht weil’s mir da gefällt.« Nicole Schützes Ängste beruhen auf einer einschlägigen biographischen Erfahrung im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009, die sie nicht wieder durchleben will. Als gut ausgebildete Person, die im In- und Ausland studiert und Praktika gemacht hat, konnte sie keine anspruchsvolle Arbeit finden, sondern arbeitete unterbezahlt. Auch die angestrebte Eigenständigkeit von ihren Eltern konnte sie nicht realisieren, sondern musste zu ihnen zurückziehen: NSch: Das war ganz furchtbar, ich musste mit- ich weiß gar nicht wie alt ich war; vor- vor zwei drei Jahren war das, mit 26- 25- 26 bei meinen Eltern wieder einziehen, nachdem ich äh durch die Welt gereist bin, überall gearbeitet hab, musst ich bei meinen Eltern auf dem Boden einziehen. Das war natürlich furchtbar. Aber ich bin dann eben zur ZEITarbeit gegangen. Das war SCHLIMM, ich hab für neunhundert Euro im Monat gearbeitet, was mich TIErisch angekotzt hat, ich hab Stempel auf die Eingangspost gemacht mit nem Diplom, was einfach nur FURCHTbar war; aber ich hab was geMACHT. In diesem Zitatausschnitt wird dreierlei deutlich: Erstens spielen auch Altersnormen eine wichtige Rolle bei der Frage, wie ein gutes Leben aussieht. Mit Mitte 20 sollte man beruflich, finanziell und im Wohnen eigenständig sein und sich von den Eltern abgelöst haben (vgl. auch Zinnecker/Strzoda/Georg 1996). Dies impliziert zweitens eine Tätigkeitsnorm, genauer: die Erwartung, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.21 Andere Gestaltungsweisen des Lebens als alleinstehende Frau stehen offenbar nicht zur Debatte, auch nicht in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise; vielmehr grenzt sich Nicole Schütze massiv von Freund*innen ab, die in dieser Zeit Sozialleistungen der Erwerbsarbeit vorziehen. Damit kippt, drittens, die Erzählung von einer Unsicherheits- in eine Ungerechtigkeitserzählung: Unter Vorzeichen einer Individualisierung von Verantwortung wird ein ökonomistisches Othering betrieben.

Individualisierung von Verantwortung und ökonomistisches Othering Die Individualisierung von Verantwortung ist dabei ein Muster, dass sich bei den verschiedenen Interviewpartner*innen zeigt: Es sind weniger Strukturen, etwa ei21 Beispiele wie dieses legitimieren es, den Lebensverlauf in Anschluss an Kohlis erwerbsarbeitszentriertes Konzept zu denken (ausführlicher: Kap. 7.3).

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ne überfrachtete Studienordnung oder eine schlechte Arbeitsmarktsituation, die als Erklärung für Scheitern in der Bildungs- und Berufsbiographie gelten, sondern unzureichende Bemühungen der Einzelnen. So erklärt Nicole Schütze: »Ab nem gewissen Alter ist man für sich selber verantwortlich«, während Yannick Kloschinski bedauert, in der Vergangenheit geldbringende Hilfsarbeit gegenüber einer soliden Ausbildung präferiert zu haben: »Ich denke, ich hätte halt einfach damals mehr machen müssen, also in Blick auf die Zukunft, also das ist dann halt einfach selbst verschuldet würde ich denken«. Paul Jung hat gelernt, mit dem Stress im Studium umzugehen, indem er sich selbst reguliert: »Da muss man sich halt auch mal zwingen irgendwie einfach zu chillen oder so.« Diese Individualisierung von Verantwortung, d.h. die Responsibilierung der einzelnen Akteur*innen, und die Einforderung von Leistung(-swillen) ist in manchen, wenn auch nicht allen Fällen mit einer Abwertung von ›Anderen‹ verbunden, die angeblich nicht genug leisten. Bei Nicole Schütze sind dies Freund*innen, die die Wirtschafts- und Finanzkrise nutzen, um sich vom Erwerbsleben zurückzuziehen: »Ich kenn auch viele in meinem Freundes-, Bekanntenkreis, die dann gesagt haben ›tja; Wirtschaftskrise; kann ich nix machen, bleib ich zuHAUse.‹ Und das ist ne starke BeDROHung für Deutschland. Wenn alle so denken, wo kommen wir denn da hin?«. Ein solches Handeln wertet Nicole Schütze ab: Anders als sie selbst, die sich als rechtschaffenes, da erwerbsarbeitendes Gesellschaftsmitglied positioniert, gefährdeten ihre Freund*innen das Kollektiv, das hier national konzipiert ist, und erscheinen somit egoistisch (vgl. auch Kap. 6.4.2). Üblicherweise sind die Abgewerteten aber nicht bekannte andere, sondern die konstruierten Gruppen der Arbeitslosen bzw. Arbeitslosengeld II-Beziehenden (Klassismus), der ›Ausländer*innen‹ und ›Muslim*innen‹ (Rassismus): Ihnen wird vorgeworfen, keine Eigenverantwortung und Leistung zu erbringen, v.a. hinsichtlich der Beteiligung im Bildungssystem, der sprachlich-kulturellen Integration in ›die deutsche Gesellschaft‹ und der Integration in den Arbeitsmarkt, sondern unverdienterweise sozialstaatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen bzw. sogar staatlicherseits gegenüber den Leistungsträger*innen übervorteilt zu werden (vgl. auch Haupt 2012). Anstelle eines aktiven Bildungs- und Erwerbslebens würden diese ›Anderen‹ zudem deviant. Wie lassen sich solche klassistischen und rassistischen Abwertungen deuten? In Kapitel 8 werde ich ausführlicher darauf eingehen, will aber bereits hier betonen, dass solche Abwertungsnarrative in der Regel weniger Unsicherheits- als vielmehr Ungerechtigkeitsnarrative sind: In ihnen wird Ärger darüber artikuliert, dass die eigenen Bemühungen nicht adäquat honoriert werden. Darüber hinaus kann es darum gehen, dass Etablierte ihre eigene soziale Position damit verteidigen, indem sie sie als Ergebnis eigener Leistungen darstellen. Leistung wird in dieser Deutung zur Legitimation von sozialem Aufstieg, ungeachtet der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Wer dem Leistungsprinzip nicht folgt, ist somit selbst

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schuld, wenn gute soziale (etwa berufliche) Positionen nicht erreichbar sind (Haupt 2012, Rommelspacher 2002: 67ff.).

7.5

Erwachsenenalter: Entwicklung, Stabilität oder Existenzsicherung

Gelingen Orientierung und die berufliche, ökonomische und ggf. partnerschaftliche Etablierung in der Postadoleszenz, so kann es im Erwachsenenalter darum gehen, sich zunächst auf dieser Basis weiterzuentwickeln. Darum geht es im Entwicklungsmuster (Kap. 7.5.1): beruflich und privat weiter voranzukommen. Sicherheit bedeutet hier, dass diese neue Lebensphase bzw. die weiteren Pläne sich realisieren lassen, dass also die Entwicklung glückt. Hier mischen sich Hoffnung und Angst, wobei sich Angst darauf bezieht, dass verschiedene Ereignisse diese Pläne zum Scheitern verurteilen und man sich im Extremfall nochmal ein neues Leben aufbauen muss. Auch kommt es angesichts neuer Verantwortlichkeiten und Herausforderungen zu Rollen- und Handlungsunsicherheiten. Gegenüber den sich (weiter) Entwickelnden zeichnen sich die Vertreter*innen des Stabilitätsmusters (Kap. 7.5.2) dadurch aus, dass sie im guten Leben angekommen sind und dieses Lebensniveau und -gefühl erhalten wollen. Zentral für das Konzept von Sicherheit als Stabilität sind dann solche Ereignisse bzw. Angstthemen, die Lebensstandard und Lebensgenuss einschränken, wobei die Ängste insgesamt eher klein sind. Doch verlaufen Biographien nicht immer kontinuierlich: Im Existenzsicherungsmuster (Kap. 7.5.3) geht es darum, über die Runden zu kommen und einen bescheidenen Lebensstandard nach unten abzusichern. Sicherheit als Existenzsicherheit wird entsprechend durch materielle und symbolische Dimensionen der Abstiegsangst bedroht. Angst spielt für diese prekär lebenden Interviewpartner*innen eine große Rolle. Im Vergleich zur Postadoleszenz gewinnt im Erwachsenenalter erstens das Thema gesundheitliche Einschränkungen an Bedeutung: Die Interviewpartner*innen selbst sind älter und haben teilweise noch lebende, aber alternde Eltern. Davon berührt ist zweitens die Position im Generationenzusammenhang: Stellte die Herkunftsfamilie bisher eine Hintergrundsicherheit dar und bot beim Eigenständigwerden ein Sicherheitsnetz, so rückt nun die Unterstützung der erwachsenen Kinder für ihre Eltern mehr und mehr in den Vordergrund (Buhl 2000), in den Interviews v.a. hinsichtlich der Sicherstellung guter Pflege. Drittens besteht ein lebensphasenspezifischer Unterschied zur Postadoleszenz darin, dass im Erwachsenenalter die eigene Biographie stärker mit der von anderen Personen verbunden ist (»linked lives«, Elder, JR. 1994: 6): Teils werden aus Männern Väter, aus Frauen Mütter. Durch verbundene Leben gibt es auch geteilte Ängste bzw. Ängste um andere. Dies betrifft neben der Sorge um alternde Eltern v.a. die eigene Paarbeziehung und mögliche eigene Kinder. Die mittlere Generation nimmt insofern im Generationengefüge eine ›Sandwich-Position‹ ein (Marbach 1994: 176).

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Dennoch soll hier das Leben in Familien nicht zur Norm erhoben werden: Auch Alleinleben oder alternative Lebensmodelle stellen eine Option dar, etwa im Fall von Dirk Koch, der um die 40 ist und in einer Wohngemeinschaft lebt.

7.5.1

Entwicklung: Scheiternsangst sowie Rollenund Handlungsunsicherheiten

Was das Vorankommen scheitern lässt oder erschwert Das Entwicklungsmuster findet sich in den vorliegenden Interviews typischerweise in der Lebensphase nach der Postadoleszenz: Seine Repräsentant*innen sind in ihren 30ern (genauer: Ende 20 bis um die 40), beruflich und teils auch partnerschaftlich weithin eingemündet und wollen auf Basis des Erreichten im Leben weiter »vorankommen«, wie Oli Bauer es ausdrückt. Dieses Vorankommen kann verschiedene Lebensbereiche betreffen. Im beruflichen Bereich geht es um Weiterkommen durch ein Zusatz- oder Zweitstudium (Lara Dold, Heike Binz), aber auch darum, nach einer Zeit der beruflichen Verausgabung ein Engagementlevel zu finden, das als nicht zu stressig empfunden wird und zudem genug Zeit für das soziale Leben lässt (Heike Binz, Joao Dias). Denn im sozialen Leben geht es genau darum: Beziehungen trotz des Berufslebens aufrechtzuerhalten. Daneben haben manche Interviewpartner*innen auch partnerschaftliche und familiale Pläne bzw. realisieren diese bereits: die Familiengründung und -erweiterung (Joao Dias, Lara Dold), einen Hauskauf zusammen mit der Partnerin (Oli Bauer) oder die alternden (Groß-)Eltern neben der eigenen Berufstätigkeit bestmöglich zu unterstützen (Claudia Biehl, Joao Dias, Lara Dold).22 In dieser biographischen ›Aufbau‹-Phase ist für die Interviewpartner*innen nun wichtig zu sehen, dass sie in der neuen Lebensphase reüssieren und darüber hinaus in der »Rushhour des Lebens« (Bujard/Panova 2014) alles ›unter einen Hut‹ bekommen. Sicherheit bedeutet hier daher v.a. eine gelingende Entwicklung. 22 Dieses Muster umfasst Interviewpartner*innen mit unterschiedlichen Bildungs- und Berufswegen (Mittlere Reife und Abitur, Ausbildung und Studium, Facharbeiter und Beamtin) und unterschiedlichen ökonomischen Möglichkeiten (Haushaltsnettoeinkommen von 1000 Euro bis 3500 Euro, bzw. mit dem Grenzfall Rainer Kretschmann gar bis 4500 Euro). Nicht vertreten sind hier allerdings Menschen ohne formale Ausbildung und in prekären sozioökonomischen Verhältnissen (dazu Kap. 7.5.3). Einen in theoretischer Hinsicht interessanten Grenzfall stellt Rainer Kretschmann dar, der Mitte 50 und selbstständig ist mit einem landwirtschaftlichen Familienbetrieb. Aktuell ist er in einer ökonomisch guten Situation, doch geht es ihm nicht nur darum, dieses Niveau zu halten, sondern auch seinen Betrieb weiterhin besser aufzustellen. Da das erstgenannte Motiv in seinem Interview überwiegt, habe ich ihn großteils beim Stabilitätsmuster eingeordnet (Kap. 7.5.2), wo ich auch näher auf seinen Fall eingehe. Trotzdem ist dieser Fall im Kontext des Entwicklungsmusters relevant zu erwähnen, da er verdeutlicht, dass Weiterentwicklungen nicht nur in der Lebensphase unmittelbar nach der Postadoleszenz relevant sein können, sondern prinzipiell auch in späteren Lebensphasen.

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Damit ist auch die biographische Perspektive angesprochen: Der Status Quo soll überwunden werden, der Blick ist dabei durchaus hoffnungsvoll in die Zukunft gerichtet. Angst stellt hier kein Lebensgefühl dar, ist aber auch nicht irrelevant. Denn die Interviewpartner*innen weisen ein hohes Kontingenzbewusstsein auf in Bezug darauf, »dass man halt sein Leben nicht leben kann« wie geplant, das Leben »anders weitergeht« und man im Extremfall »wieder ein neues Leben beginnen« muss (alle Zitate: Oli Bauer). Ein neues Leben zu beginnen wird hier nicht als Chance und Aufbruch gedeutet, sondern stellt einen Verlust des alten Lebens dar. Ängste beziehen sich entsprechend darauf, dass die Interviewpartner*innen im Vorankommen scheitern oder dieses erschwert wird. Es geht also um eine unterschiedlich bedingte Scheiternsangst im Berufs- und Beziehungsleben, für die auch Unfälle und Krankheiten als körperliche Beeinträchtigungen eine Rolle spielen. Neben diesen recht manifesten Ängsten zeigen sich in den Interviewthematisierungen aber auch subtilere Dimensionen von Unsicherheit, die Rollen- und Handlungsunsicherheiten betreffen. Diese werden in der neuen Lebensphase mit ihren neuen Herausforderungen relevant: Neben neuen Verantwortlichkeiten, etwa als junge Eltern, stellen sich auch Vereinbarkeitsfragen, wie ich sie bereits angesprochen habe. Dies betrifft die Vereinbarkeit von Beruf und sozialem Leben, der eigenen Familie sowie möglichen Pflegetätigkeiten für die alternden (Schwieger-)Eltern.

Scheitern im Berufs- und Beziehungsleben – auch durch Unfälle und Krankheit Im Beruf voranzukommen und Beziehungen ‒ familiale wie freundschaftliche ‒ zu erhalten ist zentral im Entwicklungsmuster; in beiden Bereichen haben sich die Interviewpartner*innen etwas aufgebaut bzw. bauen sich etwas auf, an dem sie festhalten wollen bzw. das sie noch ausbauen wollen. Ängste beziehen sich darauf, dass ihre entsprechenden Lebenspläne durchkreuzt werden. Im beruflichen Bereich stellt sich manchen Interviewpartner*innen die Frage, ob sich (Zusatz-)Qualifikationen wie ein Zusatz- oder Zweitstudium lohnen werden und man die gewünschte Position erhält. Lara Dold, die nach einem Studium und einem Volontariat ein Zweitstudium aufgenommen hat, mit dem sie einen soliden Beruf anstrebt, fragt sich etwa, »wo ich eigentlich dann mal landen werde und was daraus resultiert und ob sich diese Jahre, die ich jetzt ins zweite Studium stecke, überhaupt rentieren.« Hinzu kommt bei ihr ein zweiter, geschlechtsspezifischer Aspekt, der diese Unsicherheit steigert: ihre Mutterschaft. Sie ist zum Interviewzeitpunkt Anfang 30, hat ein Kind und plant ein zweites. Fraglich ist für sie aber, »ob mich dann noch jemand mit ZWEI Kindern überhaupt in meinem Alter noch als Berufsanfänger dann möchte.« Dass sie mit dieser Unsicherheit nicht alleine ist, zeigt sich im vorliegenden Material u.a. in der Reaktion der gleichaltrigen Interviewerin: »Kenne ich, diese Gedanken!«.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Mit der beruflichen Unsicherheit kann eine finanzielle verbunden sein, die insbesondere von den jungen Eltern thematisiert wird. Zum einen fällt bei ihnen zeitweise ein Einkommen weg, zum anderen steigen die Ausgaben. Zwar fühlen sich die Interviewpartner*innen nicht von Prekarität bedroht, aber können dennoch nicht ihre Vorstellung eines guten Lebens realisieren, nämlich finanziell eigenständig zu sein und den Lebensstandard zu halten. Lara Dold und ihr Mann etwa erhalten wieder finanzielle Unterstützung von den Eltern, was für sie aber nur ein Übergangszustand sein kann; die »wirtschaftliche Situation in der Zukunft« ist daher ein Angstthema für sie. Für Joao Dias bedeuten auftretende finanzielle »Probleme«, dass man sich eventuell nur »das Minimum« kauft statt »was Besseres.« Aber auch bei den Kinderlosen kann die finanzielle Situation und Zukunft als unsicher empfunden werden. Heike Binz z.B. verdient »eigentlich nicht schlecht«, wie sie sagt, aber ihr Zweitstudium, das sie berufsbegleitend an einer privaten Wirtschaftshochschule absolviert, kostet sie »einen Haufen Geld«, sodass am Ende des Monats »NICHTS« übrig bleibt. Sparen und für Eventualitäten vorsorgen kann sie nicht, was ihr ein »bisschen Angst« macht. Doch nicht nur im beruflichen Bereich mit seinen finanziellen Auswirkungen, sondern auch im Bereich der persönlichen Beziehungen zeigen sich im Entwicklungsmodus Ängste, die das Scheitern von Beziehungen oder den Verlust von Partner*innen, Freund*innen und Familienangehörigen, v.a. den Eltern, betreffen. Die sicherheitsbezogene Relevanz dieser Beziehungen bringt Heike Binz auf den Punkt, wenn sie sie als Stabilitätsgarant versteht: »Man kann mit vielen Dingen umgehen, aber wenn man keinen HALT um sich drum herum hat, dann ist nichts (1) ja (lacht) irgendwie. Und davor hab ich am meisten Angst.« Bei Heike Binz geht es v.a. um Freundschaften, die auch durch hohe berufliche Involviertheit zerbrechen können (ähnlich: Joao Dias). Ansonsten steht das Scheitern von etablierten Paarbeziehungen im Fokus, das zwar nicht für wahrscheinlich gehalten wird, aber folgenschwer wäre für das Leben der Betroffenen (Joao Dias, Oli Bauer). Denn Paarbeziehungen sind in dieser Lebensphase festgelegt und zunehmend institutionalisiert über Kohabitation und eventuell Heirat, Familiengründung und/oder Hauskauf. Die Partner*innen haben sich eine gemeinsame innere und äußere Welt geschaffen (Berger/Kellner 1965, Willi 1991), die nur mit hohen Verlusten wieder aufgelöst werden kann. Die gemeinsame Wohnung als materielle »Behausung«, wie Jürg Willi sie nennt (1991: 68), wird dabei zum »symbolhaften Ausdruck« der Beziehung (ebd.). Vor diesem Hintergrund sind auch die gravierenden Folgen einer Trennung zu verstehen: Man müsste »auf einmal wieder ein neues Leben beginnen« (Oli Bauer), da das alte gemeinsame Leben zerstört ist. Die Interviewpartner*innen lassen nicht daran zweifeln, dass sie sich entsprechende Mühe geben, Paarbeziehungen zu pflegen. Oli Bauer etwa berichtet von einer vergangenen Krisenerfahrung, in der das Paar durch professionelle Hilfe und eigene Bemühungen wieder zusammenfand.

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Unfälle und Krankheiten der Interviewpartner*innen selbst sowie ihrer Angehörigen, aber auch eine mögliche Pflegebedürftigkeit der alternden Eltern werden im Entwicklungsmuster typischerweise im Kontext des Scheiterns von Lebensplänen in den Bereichen Beruf und Beziehungen thematisiert. Die dadurch hervorgerufenen körperlichen Beeinträchtigungen stellen Belastungen dar, die das Begehen des eingeschlagenen Wegs infrage stellen oder zumindest erschweren. Querschnittslähmungen erscheinen in den Interviewthematisierungen dabei als Inbegriff dieser Angst, da die bisherige Lebensweise und die bisherigen Lebenspläne angesichts des massiven und dauerhaften Verlusts von Handlungsfähigkeit obsolet würden, das Leben also durch die radikale Zäsur eine nicht gewollte Neuausrichtung erfahren würde. Für den beruflichen Bereich lässt sich das anhand von Heike Binz’ Äußerungen illustrieren. Sie ist »sehr viel unterwegs«, auch im beruflichen Kontext, und hat nach Unfällen von Freund*innen realisiert, »dass es halt sehr schnell gehen kann«, dass man zu Tode kommt oder gravierende Beeinträchtigungen ‒ eben eine Querschnittslähmung ‒ davonträgt. Doch steht diese Problematisierung nicht für sich: Ebenso wie in Bezug auf Krankheiten geht es Heike Binz darum, »dass man dann nicht mehr arbeiten gehen kann«. Die Folgen von körperlichen Beeinträchtigungen für das Beziehungsleben werden im Fall von Oli Bauer besonders deutlich. Seine Partnerin leidet an einer chronischen Krankheit »bis zum Lebensende«, wie er herausstellt, die für das Paar eine Belastung darstellt und die in Oli Bauers Darstellung die bereits angesprochene Beziehungskrise bedingt hat. Sich selbst sieht er in seiner körperlichen Verfassung v.a. durch Arbeitsunfälle bedroht ‒ er arbeitet auf Baustellen und hat die hohe Unfallgefahr auch angesichts kleinerer eigener Unfälle und Unfälle von Kollegen deutlich vor Augen: »sprich mal einen falschen Tritt und man fällt rein und ist querschnittsgelähmt, übertrieben gesagt.« Diese starke körperliche Beeinträchtigung thematisiert er in Bezug auf sein (Beziehungs-)Leben, dass es »dann wirklich nicht mehr weitergeht«. Er müsste das Haus, das das Paar vor kurzem gekauft hat und derzeit umbaut, nochmals behindertengerecht umbauen, was für ihn »das Schlimmste« wäre. Versteht man das Haus mit Willi als Symbol der Beziehungswelt, so wird die Bedeutung verständlich: Die körperliche Beeinträchtigung stellt demnach einen nomischen Bruch während des Beziehungsverlaufs des Paares dar, der eine grundlegende Neustrukturierung der Beziehung in all ihren Dimensionen der gemeinsamen Weltkonstruktion erfordert (Behrisch 2014) und damit die bisherigen Lebenspläne obsolet macht. Das Leben würde »anders« weitergehen, wie Oli Bauer sagt.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Rollen- und Handlungsunsicherheiten: Verantwortlichkeiten und Vereinbarkeiten Neben diesen relativ manifesten Scheiternsängsten dokumentieren sich in den Interviews in Rollen- und Handlungsunsicherheiten auch symbolische Dimensionen der Scheiternsangst. Denn die neuen Lebensphasen bzw. Beziehungsphasen gehen mit neuen Verantwortungen einher. Besonders deutlich wird dies im Bereich Elternschaft: Wie bereits in Kapitel 6.4.1 dargestellt, ist diese mit dem Normenkomplex der verantworteten Elternschaft belegt. Verantwortete Elternschaft kreist um das Kindeswohl, für das berufliche und finanzielle sowie partnerschaftliche Sicherheit als unabdingbar gelten (ausführlicher dazu Eckert 2014). Entsprechend schildern einige Interviewpartner*innen, wie die Geburt von Kindern sie mehr auf Sicherheit verschiedenster Art achten lässt. Diese neue Situation kann bei den jungen Eltern auch zu Rollenunsicherheiten führen: Genügen oder scheitern sie als Väter bzw. Mütter? Diese Art der Unsicherheit, die in den Interviews nicht explizit als Unsicherheitsthema benannt wird, aber sich in den Thematisierungen zeigt, lässt sich anhand des Beispiels von Joao Dias gut veranschaulichen. Durch die Heirat und die bevorstehende Familiengründung wird bei ihm eine Transformation von Männlichkeit hin zu verantwortungsbewusster, sorgender Väterlichkeit sichtbar, die um die Ernährerrolle und den Schutz von Frau und Kind kreist (vgl. auch Helfferich 2017: 203ff.). So bezieht er seine finanziellen Ängste darauf, »dass man dem Kind zum Beispiel nicht genügend bieten kann«, aber auch darauf, dass man »irgendwie des Gefühl hat, man könnte zu wenig Geld besitzen, um ner Frau was zu bieten.« Das Motiv, insbesondere dem Kind etwas bieten zu können, ist typisch für die Norm der verantworteten Elternschaft. Obwohl Joao Dias’ Beruf als Krankenpfleger ein »todsicherer Job« ist, wie er sagt, scheint er sich ob der ausreichenden Normerfüllung nicht sicher. Im sozialen Vergleich mit Freunden wird ihm nämlich deutlich, dass andere Leute »mehr Geld verdienen« und »ihren Kindern mehr bieten können«. In Äußerungen wie dieser dokumentiert sich für mich seine Rollenunsicherheit als werdender Vater, d.h. die Frage, ob er die Vaterrolle gut (genug) ausfüllen kann. Rollen-, aber auch Handlungsunsicherheiten können in der Rushhour des Lebens zudem aus der Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Anforderungen resultieren und die Vereinbarkeitsfrage in verschiedener Hinsicht stellen. Eine erste zentrale Dimension betrifft die Vereinbarkeit von Beruf und Sozialem, d.h. Beziehungs- und Familienleben. Für Berufsanfänger*innen kann sich hierbei die Frage stellen, wie viel Einsatz im beruflichen Kontext ausreichend ist. Heike Binz thematisiert dies anhand von »Workaholics, die dann alles auf Spiel setzen, nur weil sie Angst haben, ihren Job zu verlieren« ‒ d.h. die ihr Sozial- und Bezie-

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hungsleben vernachlässigen.23 Diese allgemeine Schilderung lässt sich auch auf sie selbst anwenden: Früher hatte sie »sehr sehr viel Überstunden auf Arbeit« und war Zuhause »total unausgeglichen«, wie sie sagt, bis sie die Reißleine zog und nur die Stunden arbeitete, für die sie bezahlt wurde. Ihrer Erzählung nach konnte sie das alte Vereinbarkeitsproblem damit entschärfen; die Angst um den Jobverlust hat sich nicht bewahrheitet, wie sie bilanziert: »Und bis jetzt gehts!«. Andere Interviewpartner*innen tragen diese Unsicherheiten, was im beruflichen Kontext gut genug ist, und die entsprechenden Konflikte und Handlungsunsicherheiten noch mit sich herum (z.B. Joao Dias). Eine zweite zentrale Dimension von Rollen- und Handlungsunsicherheiten in Bezug auf die Vereinbarkeitsfrage betrifft die Vereinbarkeit von Pflege und dem Vorankommen im eigenen Leben, womit die Interviewpartner*innen biographisch zum ersten Mal konfrontiert sind. Die Eltern sind ihnen einerseits (noch) eine Unterstützung (z.B. Lara Dold), andererseits realisieren die Interviewpartner*innen, dass die Eltern und auch Schwiegereltern älter und gebrechlicher werden. Die Interviewpartner*innen stehen also nicht vor akutem Handlungsdruck. Dessen Imagination aber sorgt schon in der Gegenwart für Handlungsunsicherheiten und die Befürchtung, die eigenen Lebenspläne zu vernachlässigen. Denn familiale Solidarität steht in den Interviews nicht zur Debatte und kann gerade deswegen zu Rollen- und Handlungsunsicherheiten bei Interviewpartner*innen in der Rushhour des Lebens führen, da sie nicht nur gute Kinder sein wollen, sondern auch gute Erwerbsarbeitende, gute Partner*innen und gute Eltern. Die Pflege bzw. Unterstützung der Eltern würde Ressourcen wie Zeit und Geld beanspruchen, die dann nicht mehr für die anderen Lebensbereiche zur Verfügung stünden ‒ in denen die Interviewpartner*innen aber eigentlich vorankommen wollen (vgl. auch Dallinger 1998).24 Diese Vereinbarkeitsproblematik veranschaulicht der Fall Oli Bauer. Zwar könnte er sich die Unterstützung seiner Eltern mit seinen Geschwistern aufteilen und spricht nicht von der häuslichen, sondern der stationären Pflege, doch müsste er dennoch »jeden Tag ins Krankenhaus fahren«. Diese zeitlichen Ressourcen würde Oli Bauer aber lieber in den weiteren Aufbau der gemeinsamen Welt mit seiner Partnerin investieren: »Ich hab jetzt hier wie gesagt die Bauphase hier, meine persönliche Geschichte grad und ich möchte gerne auch vorankommen.« Den Interviewpartner*innen stellt sich daher die Frage, wie sie im Fall der Pflegebedürftigkeit handeln würden und welche Folgen dies hätte. Die Relevanz dieser Fragen illustrieren auch die Interviews mit Lara Dold und Claudia Biehl. 23 Über die vorliegenden Interviews hinausgehend, aber daran anschlussfähig wäre denkbar, dass auch umgekehrt bestimmte Anforderungen in der Paarbeziehung und der Familie ‒ z.B. finanziell etwas bieten zu können (vgl. Joao Dias) ‒ die von Heike Binz genannten »Workaholics« hervorbringen, die Angst haben, ihre Arbeit zu verlieren. 24 Es müsste eigentlich genauer entlang sozialer Milieus differenziert werden, wer zu welcher Unterstützung bereit ist (Blinkert 2005). Das ist hier aufgrund der geringen Fallzahl nicht möglich.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Beide hegen ein Misstrauen in das Pflegesystem, was sie vor moralische und handlungspraktische Unsicherheiten stellt. Lara Dold, die mit ihrem Zweitstudium beschäftigt und junge Mutter ist, befürchtet, dass ihre (Schwieger-)Eltern »jederzeit eigentlich pflegebedürftig oder krank werden könnten«, was die ohnehin bestehende Vereinbarkeitsfrage verschärft und sie vor ein unlösbares Problem stellt: »DANN natürlich ganz groß der Gedanke, was macht man da? Kann man das selber machen? (3) Ich geh davon aus, dass man das nicht kann. WER macht es dann? WIE kann man das moralisch vertreten?«. Unhinterfragter moralischer Ausgangspunkt ist die eigene Pflegetätigkeit, die angesichts von praktischen Restriktionen aber nicht realisiert werden kann. Wie dennoch moralisch richtig gehandelt werden kann, stellt sich für Lara Dold als dringliche, offene Frage dar. Gleiches gilt für Claudia Biehl, die berufsbedingt aus ihrer Heimat wegziehen musste und somit in einer »multilokalen Mehrgenerationenfamilie« (Bertram 2002) lebt. Wie sie unter diesen Umständen ihre Großmutter und Mutter im Bedarfsfall ‒ der bei der Großmutter schon eingetreten ist ‒ angemessen unterstützen kann, ist für sie ungewiss. Wie bedeutsam diese Handlungsunsicherheit lebensweltlich ist, zeigt sich u.a. in ihrer Auseinandersetzung mit den verschiedenen Optionen: CB: Ich hab da schon lange drüber nachgedacht, dass- wie ich das mal realisieren soll. Ich kann nicht jeden Tag dahin fahren um da zu- jemanden zu pflegen. Aber ich kann auch meine Mutter verstehen, die sagt, sie hat dort ihr Leben lang gewohnt, sie will nicht, will nicht mehr umziehen. Aber ich bin nicht in der Lage dort irgendwo eine gewisse Pflege abzusichern. Selbst wieder in ihre Heimat zu ziehen, scheint für sie ausgeschlossen; schließlich lebt sie mit ihrer eigenen Familie zusammen und muss sich auch um ihr Kind kümmern, dem sie eine gute Mutter sein will. Ihre Erwerbsarbeit aufzugeben scheint ebenso ausgeschlossen, denn dies würde auch mit der von ihr betonten Norm zur Erwerbsarbeit kollidieren. Sie befürchtet daher, etwas tun zu müssen, was sie nicht gut findet: die Pflege der (Groß-)Mutter »in fremde Hände« zu geben und deren Arbeit aus der Ferne kaum »überprüfen« zu können. Hierin zeigt sich neben einer ›altruistischen‹ Angst um das Wohlergehen anderer (z.B. Walby/Doyle 2009, Warr 1992) die Befürchtung, in der Rolle als gute Tochter zu scheitern.

Lob und Kritik des Sozialstaates: Stütze für die Lebensplanung oder falsche Prioritäten Welche Wertungen und Abwertungen sind nun typisch für das Entwicklungsmuster? Teilweise nehmen die Interviewpartner*innen gesellschaftliche Entwicklungen wahr, die ihre Herausforderungen in der aktuellen Lebensphase sowie der möglichen nahen Zukunft verschärfen. So ist von hohen beruflichen Anforderungen wie Mobilität und Flexibilität die Rede, die zu Stress führen und das soziale

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und familiäre Leben beeinträchtigen können. In ähnlicher Weise wird die Höhe der Einkommen problematisiert, sodass mitunter ein »Doppeljob« erforderlich sei im Sinne eines Zweitjobs, der zusammen mit familiären Verpflichtungen als Eltern zu einer »Dreifachbelastung« führe (Oli Bauer). An solche Problematisierungen schließt sich auch eine Kritik des Sozialstaates an. Zwar scheinen die Interviewpartner*innen im Allgemeinen recht zufrieden mit dem deutschen Sozialstaat, was Heike Binz prägnant formuliert: »Wir brauchen keine Angst haben, runterzufallen, wir werden immer aufgefangen von dem System«. Auch nennt sie Deutschland in dieser Hinsicht einen »goldenen Käfig«, in dem die Menschen sich so gerne aufhalten, dass sie das Land nicht verlassen wollen.25 Doch trotz dieser prinzipiell positiven Bewertung des Sozialstaats stellen die Interviewpartner*innen Defizite fest, die sie in ihrer aktuellen Lebensphase und ihren weiteren Lebensplänen betreffen. Ein wichtiges Thema ist hierbei der Bereich Pflege. Zum einen fordern sie angesichts des bereits dargestellten Misstrauens in das Pflegesystem mehr Kontrolle und bessere Rahmenbedingungen für die in der Pflege arbeitenden Menschen: »Die Alten- und Krankenpfleger, die müssten besser bezahlt werden, der Beruf müsste viel attraktiver gestaltet werden, dass sich dann auch finanziell lohnt und man sich nicht nur körperlich und seelisch kaputt macht durch diesen Beruf.« (Lara Dold) Zum anderen wünschen sie sich aber auch mehr Unterstützung für die pflegenden Angehörigen, die bisher »im Stich gelassen werden« (Lara Dold). Diese kann bspw. so aussehen, dass bei Staatsbediensteten wie Claudia Biehl Wünsche bezüglich des Dienstorts berücksichtigt werden. Dieser Wunsch wurde Claudia Biehl in ihrer Darstellung allerdings nicht erfüllt, obwohl sie einen als familienfreundlich geltenden Beruf gewählt hatte. Im Interview erscheint sie entsprechend sehr verärgert darüber, dass ihr der Staat in ihrer Heimat »nichts gegeben« hat und sie »gezwungen wurde, weiter weg zu ziehen«. Neben der Pflege-Frage ist für die Interviewpartner*innen auch wichtig, wer sozialstaatliche Unterstützung erhält. Hier kritisieren sie teilweise eine falsche Prioritätensetzung in dem Sinne, dass ›Andere‹ unverdienterweise mehr Unterstützung erhielten als sie selbst, sodass der Sozialstaat nicht die Stütze für ihre Lebensplanung bietet, die sie sich wünschen. Erstens grenzen sie sich hierfür nach unten ab, d.h. von Arbeitslosen, die keine Leistung erbrächten, sondern vielmehr teils kriminell würden bzw. deren Kinder als Jugendliche kriminell würden. Diese würden sozialstaatlich nun bevorzugt, bspw. im Bereich der Kinderbetreuung, sodass erwerbsarbeitende Frauen vor einem unlösbaren Vereinbarkeitsdilemma stünden, wie Heike Binz moniert: »Für Hartz IV-Empfänger werden Plätze 25 Dies unterscheidet das Entwicklungs- vom Existenzsicherungsmuster (Kap. 7.5.3): Vertreter*innen des Existenzsicherungsmusters geben teils an, auswandern zu wollen, wenn es ihnen denn möglich wäre.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

freigehalten. Wo ich sage, was ist mit mir? Ich kann nicht auf Arbeit gehen, weil ich dann keinen Kindergartenplatz bekomme oder so.« Zweitens herrscht für die Interviewpartner*innen auch nach oben hin Ungerechtigkeit. So kritisiert Heike Binz in Bezug auf die Bankenkrise, dass der Staat hier zu wenig kontrolliert habe und »die ganzen Bankmanager noch ihre Boni ausgezahlt bekommen haben im Nachhinein«. Demgegenüber muss sie selbst die Verantwortung für ungenügende Leistungen tragen: »Wenn ich schlechte Arbeit leiste, kriege ich auch keine Sonderzahlung am Ende des Jahres.« Drittens wird teils auch kritisiert, dass der Staat sich im Ausland mehr engagiere als im Inland: »Wir helfen allen anderen. Ich weiß nicht, wer uns dann irgendwann mal hilft« (Oli Bauer). Insgesamt findet der Sozialstaat also Lob (v.a. genereller Natur) wie Kritik (v.a. in Teilbereichen, z.B. in Bezug auf Pflege). Die Kritik betrifft seine mangelnde Unterstützung bei der Realisierung der eigenen Lebenspläne. Sich selbst stellen die Interviewpartner*innen als verantwortungsbewusste, leistungswillige und leistungserbringende Gesellschaftsmitglieder dar, die diese Unterstützung verdient haben. Dabei grenzen sich von ›Anderen‹ ab, die sich durch mangelnde Leistung oder gar durch mangelnden Leistungswillen, Devianz und Kriminalität auszeichnen (wie erwähnt Banker, kriminelle Jugendliche, Arbeitslose, aber auch Ausländer*innen). Diese Abwertungen sind im Entwicklungsmuster aber nicht so systematisch ausgeprägt wie im Existenzsicherungsmodus.

7.5.2

Stabilität: körperliche Einschränkungen und Wegbrechen von Beziehungen

Was ein eigenständiges, gutes Leben aus der Bahn wirft Mit dem Muster der Stabilität fasse ich Thematisierungen von Interviewpartner*innen, die die Entwicklungsphase vermutlich gemeistert haben: Zum Interviewzeitpunkt sind sie Ende 30 bis Mitte 50, scheinen ihren Platz im Leben gefunden zu haben und mit ihrem Leben, so wie es ist, zufrieden zu sein. Das Leben ist in »richtige Bahnen« (Sven Schmidt) gekommen, die Lage ist stabil und den Interviewpartner*innen »fehlt’s da im Grunde genommen an nichts« (Michael Sommer). Sicherheit bedeutet für diese Interviewpartner*innen v.a. Stabilität und Kontinuität ihres guten, da geordneten, friedlichen und komfortablen Lebens. Wesentlicher Bestandteil ist eine gewisse Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die auf finanziellen wie gesundheitlichen Voraussetzungen beruht. Dirk Koch etwa geht es in diesem Sinne darum, »sein Tagwerk und sein Leben selber in der Hand zu haben, selber bestimmen zu können«. Gleichwohl handelt es sich auch bei Alleinstehenden ohne Kinder wie ihm nicht um isolierte Einzelne. Soziales Eingebundensein im Privaten sowie ein ›normales‹, zurechnungsfähiges Gesellschaftsmitglied zu sein sind ebenfalls relevant: Man sollte »voll rechtsund geschäftsfähig« sein (Dirk Koch). Die Interviewpartner*innen wollen den

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erreichten Lebensstandard und »dieses Lebensgefühl« erhalten und »was vom Leben haben« (beides: Michael Sommer). Sie haben weder besondere Bestrebungen, weiter voranzukommen, worin sie sich von denjenigen unterscheiden, die sich noch bzw. weiter etablieren wollen (Kap. 7.5.1), noch sorgen sie sich darum, abzurutschen, was sie wiederum von denjenigen abgrenzt, die ›über die Runden kommen‹ müssen (Kap. 7.5.3).26 Die dieses Muster repräsentierenden Fälle zeichnen sich dementsprechend durch bestimmte sozioökonomische Positionen aus: Sie arbeiten in sicheren Berufen und haben ein auskömmliches Einkommen, wobei dies Unterschiedliches heißen kann und die Ansprüche vermutlich von sozialer Herkunft, der sozialen Laufbahn und dem Milieu abhängen.27 Gleich, auf welchem Lebensniveau sich die Interviewpartner*innen etabliert haben: Ökonomische Fragen stehen für sie nicht auf der Agenda. Weiterhin zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie ihren Platz in sozialer Hinsicht und Selbstsicherheit gefunden haben und gesundheitlich in guter Verfassung sind. Die aktuelle Lebenssituation der etablierten Interviewpartner*innen lässt sich dabei als teils hergestellte ontologische Sicherheit verstehen: Zum einen haben sie sich selbst (unter Einsatz ihrer geerbten Kapitalien) ihren Lebensstandard erarbeitet, indem sie erfolgreich das Bildungssystem durchlaufen, beruflich Fuß gefasst und sich jenseits der Herkunftsfamilie ein soziales Netzwerk aufgebaut haben, etwa in Form von Freundschaften oder einer eigenen Familie.28 Zum anderen stellt Sicherheit kein besonders relevantes Framing für sie dar: »Da denke ich nicht so sehr dran«, gibt etwa Michael Sommer zu verstehen. Dies lässt sich so interpretieren, dass diesen Interviewpartner*innen ihr alltäglicher Lebenszusammenhang eine ontologische Sicherheit bietet, die als Hintergrundsicherheit 26 Grenzfälle in diesem Muster stellen Rainer Kretschmann sowie Fanny Apfelbach dar, worauf ich später noch eingehe. Diese Grenzfälle verdeutlichen, dass die hier vorgestellte Typologie aus einem Kontinuum des Sozialen entwickelt wurde. 27 Das Spektrum umfasst Akademiker*innen wie Anne Strauß und Sven Schmidt, die mit Partner und Kind bzw. Partner zusammenleben und über ein Haushaltsnettoeinkommen von 4000 bis 5000 Euro verfügen, aber auch Fanny Apfelbach, die sich als Arbeiterin mit zwei nun erwachsenen Kindern nach der Scheidung von ihrem Mann finanziell neu aufstellen musste und hierbei zum Interviewzeitpunkt ein niedriges, für sie aber zufriedenstellendes Niveau erreicht hat (Haushaltsnettoeinkommen als Alleinlebende 500 bis 1000 Euro). Die weiteren Fälle dieses Musters sind Dirk Koch, Gerd Weidner, Hanno Wegeschieber, Michael Sommer und Rainer Kretschmann. 28 Darüber hinaus ist ein zentraler Kontext auf der Makro-Ebene erwähnenswert, der aber nur von wenigen Interviewpartner*innen in diesem Kontext thematisiert wird (Ausnahmen: Anne Strauß und Hanno Wegeschieber, vgl. auch Kap. 6.3.1): in einem Sozial- und Rechtsstaat wie Deutschland zu leben, der überhaupt erst die Rahmenbedingungen für die Realisierung eines gewissen Lebensstandards schafft.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

fraglos gegeben ist und nur im Falle von Störungen relevant wird29 ‒ oder im Interview. Angst stellt im Stabilitätsmuster demnach kein Lebensgefühl dar. Potenzielle Angstthemen klingen in den Interviews zwar an, aber erscheinen nicht als alltäglich präsent und dringlich. In den Thematisierungen zeigt sich dies dergestalt, dass mögliche Angstthemen in ihrer Relevanz herabgestuft werden, indem sie u.a. normalisiert werden oder handlungspraktisch als nicht wirksam dargestellt werden, d.h. dass kein Sicherheitsmanagement erkennbar wird. Außerdem werden (weitere) Angstthemen erst auf (anhaltende) Nachfragen der Interviewenden eingeräumt. Michael Sommer etwa antwortet auf mehrmaliges Nachfragen der Interviewerin, ob es noch weitere Themen gäbe, jeweils mit »Ja gut, …« und nennt jeweils genau ein Ereignis. Insgesamt werden Ängste also als nicht vorhanden oder klein dargestellt.30 Die in den Interviews explizit thematisierten oder rekonstruierten Angstthemen zeichnen sich auf thematischer Ebene dadurch aus, dass sie die erreichte ontologische Sicherheit als gewissermaßen institutionalisierte Garantiesituationen konterkarieren und Lebensstandard und -gefühl einschränken, was auf semantischer Ebene unterschiedlich ausgedrückt wird.31 Stabilität etwa wird unterlaufen, wenn Ereignisse den »Betrieb umschmeißen«, man »persönlich einknickt und dann strampelt« (Rainer Kretschmann). Stabilität in dieser Metaphorik meint ein selbstständiges, geradliniges Stehen, Instabilität bedingt physische Anstrengung und damit einen Verlust an Komfort in der Lebensgestaltung. Diese Anstrengung kann auch psychischer Art sein, wenn »unvorhergesehene Dinge« einen »aus der Bahn werfen« und »dann auch stark ans Nervenkostüm gehen« (Dirk Koch). Mit der Semantik »aus der Bahn werfen« wird zudem eine zweite Bedeutung von Unsicherheit im Stabilitätsmuster deutlich: Es geht nicht nur um Stabilität, sondern auch um deren Kontinuität (die Bahn), die zuvor relativ fraglos war und nun eine Zäsur durch ein unerwartetes, externes Ereignis erfährt: Die Akteur*innen sind passiv, wenn sie aus der Bahn geworfen werden; ungewiss ist, ob sie wieder in »richtige Bahnen« (Sven Schmidt) kommen und damit an ihr voriges Leben anknüpfen können. Weniger dramatisch, aber mit Bezug auf das gleiche Konzept des bis dato geordneten Lebens kann auch davon die Rede sein, dass bestimmte 29 Ähnlich beschreibt dies Michael Bury (1982) für chronische Krankheiten als biographischen Bruch und Erosion ontologischer Sicherheit. 30 Zur Darstellung von k(l)einen Ängsten s. ausführlicher Kap. 6.3.1. 31 Für die theoretische Fassung von Sicherheit als institutionalisierter Garantiesituation s. Wohlrab-Sahr (1991: 25ff.). Mit Evers und Nowotny (1987) lassen sich diesbezüglich in soziologischer Manier drei Ebenen von Sicherheitsmechanismen unterscheiden, die auch hier relevant sind: institutionalisierte Sicherheitskomplexe (hier: der Wohlfahrtsstaat), gemeinschaftsbezogene Sicherheitsgaranten (hier: v.a. Familie, aber auch freundschaftliche Netzwerke) und Selbstsicherheit (hier: Orientierungssicherheit und soziale Identität).

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Ereignisse »Lebensbahnen n bissel durcheinanderbringen« können (Anne Strauß). Auch hier erfährt eine existierende Ordnung, die kontinuiert werden will, Irritation, die mitunter soweit reichen kann, »dass der Alltag infrage gestellt ist« und die Frage aufgeworfen wird: »Kann das alles so weitergehen mit Beruf, mit dem Leben hier?« (beides: Sven Schmidt). Die Gewissheit der Kontinuität wird also ersetzt durch eine Ungewissheit, die zentrale Lebensbereiche betrifft und von Sven Schmidt gar in totalisierender Weise zur Sprache gebracht wird: »Zack ist auf einmal alles infrage gestellt«. Diese Infragestellung kann auch das eigene Selbst in seiner Identität betreffen. Neben Instabilität und Diskontinuität zeichnen sich die Thematisierungen dadurch aus, dass Eigenständigkeit und Autonomie als wichtige Voraussetzung eines guten Lebens zur Debatte stehen. Was sind nun die konkreten Themen, die das gute, stabile Leben der Etablierten irritieren und sie in ihrem Lebensgenuss einschränken? Sozioökonomische (d.h. berufliche und finanzielle) Themen sind es weniger, auch Kriminalität spielt eine untergeordnete Rolle. Im Zentrum stehen Unfälle und Krankheiten sowie das Wegbrechen von Beziehungen. Auch wenn es hier um Eigenständigkeit geht, ist diese immer sozial kontextualisiert: Gerade bei Interviewpartner*innen, die in festen Partnerschaften oder mit Familie leben, ergeben sich durch »linked lives« (Elder, JR 1994: 6) geteilte Ängste bzw. die Angst um andere, die ebenfalls von Unfällen oder Krankheiten betroffen sein könnten. Auf diese konkreten Themen gehe ich im Folgenden genauer ein.

Körperliche Einschränkungen durch Unfälle und Krankheiten Unfällen und schweren Erkrankungen kommt im Stabilitätsmuster eine zentrale Rolle zu hinsichtlich ihrer potenziell lebensqualitätssenkenden Bedeutung: Bei beiden geht es zunächst v.a. um die körperliche, teils aber auch psychische Unversehrtheit, denn »ohne die Gesundheit wird (3) alles nix« (Rainer Kretschmann) bzw. »daran knüpft sich ziemlich viel« (Dirk Koch).32 Wie in diesen Zitaten deutlich wird, stellt Unversehrtheit (Safety) weniger einen Wert per se dar, sondern ist Voraussetzung dafür, unter den gegebenen Rahmenbedingungen ein bestimmtes Leben leben zu können und die bisherige Lebensqualität erhalten zu können.33 Worin wird diese nun aber eingeschränkt? 32 Die Interviewpartner*innen nennen unterschiedliche konkrete Ereignisse, etwa verschiedene Krankheitstypen (darunter solche, die schon in der Familie vorkamen), Umweltgifte und Lebensmittelskandale (wie verunreinigtes Fleisch, oder ‒ zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung virulent ‒ EHEC) und verschiedene Unfallarten (v.a. Verkehrsunfälle). Darauf gehe ich nur ein, wenn es zwecks Differenzierung nötig ist, und beschränke mich ansonsten auf die Darstellung übergreifender Muster. 33 Zu diesen Rahmenbedingungen gehören strukturelle Faktoren wie der Grad der Barrierefreiheit, aber auch kulturelle Faktoren wie die Akzeptanz von Beeinträchtigungen.

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Grundlegend geht es um einen Agency-Verlust unterschiedlichen Ausmaßes, der von Einschränkungen in der eigenständigen Lebensführung bis zur kompletten Abhängigkeit von anderen reichen kann. In der weniger problematischen Fassung geht es hier um den Verlust des Lebensgefühls (Michael Sommer) und der Leichtigkeit, mit der normalerweise der Alltag gemeistert wird. In der problematischsten Fassung steht der ganze Lebensentwurf auf dem Spiel, wenn man auf Pflege und Zuwendung anderer angewiesen ist.34 Insbesondere in Bezug auf institutionelle Care-Arrangements wird ein Misstrauen deutlich, welches sich im Entwicklungsmuster bereits abzeichnete und das im Rentenalter noch wichtiger wird. Hinzu kann ein Misstrauen in das medizinische System kommen, von dem man dann abhängig ist, da fraglich ist, ob dieses die erhoffte Hilfe bei der Wiedererlangung von Eigenständigkeit bieten kann. Michael Sommer etwa führt ins Feld, dass man an »schwarze Schafe« geraten oder keine eindeutige Diagnose erhalten könnte, denn »jeder hat eine andere Idee, was es sein könnte.« Unversehrtheit und Eigenständigkeit bieten nun die Grundlage für weiteres, das zentral für die Lebensqualität im Stabilitätsmuster ist: berufliche Kontinuierung und anhaltende soziale Eingebundenheit. Sven Schmidt etwa betont die berufsbiographische Unsicherheit, die schwere Erkrankungen auslösen können. Die Erfahrung, dass der (Berufs-)Alltag zur Disposition steht, hat er selbst schon gemacht: Er hatte eine Netzhautablösung, die zur Erblindung führen kann und die seine »berufliche Karriere infrage gestellt hat.« Es war »null lebensbedrohlich«, wie er betont, aber dennoch war es »ein quasi aus der Bahn-Werfen, was gut wieder in richtige Bahnen kam, aber es hätte auch anders kommen können«. Auch angesichts jüngster Erkrankungen in seinem Umfeld wird dieses Thema virulenter, als die Frage erneut aufgeworfen wird, ob er sein Leben so weiterleben kann: »Kann das alles so weitergehen mit Beruf, mit dem Leben hier?«. Solche Ereignisse führen den Interviewpartner*innen die Kontingenz des Lebens vor Augen und durchbrechen die im Stabilitätsmuster vorherrschende ontologische biographische Sicherheit, zumindest für den Moment des Interviews. Gerade das Thema Krankheit wird im mittleren Lebensalter zunehmend wichtiger, wie etwa Gerd Weidner betont: »Ich bin ja nicht mehr der Jüngste und je älter man wird, umso wahrscheinlicher ist eben die Tatsache, dass man eben Erkrankungen bekommt.« Auch erkrankte Freund*innen sowie Eltern führen einem vor Augen, was passieren kann. So stellt sich Hanno Wegeschieber nach der kürzlichen Krebsdiagnose bei seinem Bruder die Frage: »Ja wo steh ich denn? Und wie 34 Ein Extremfall stellt hier Rainer Kretschmann dar, bei dem es nicht nur um die Frage eines Mehr oder Weniger an Lebensqualität geht, sondern um die Frage von Leben und Tod. Für ihn als Landwirt, der mit großen Maschinen arbeitet, stellen Arbeitsunfälle ein »Berufsrisiko« dar. Erst eine Woche vor dem Interview verstarb ein Kollege: Dieser hat »die Handbremse nicht richtig zugehabt und wollte ins rollende Fahrzeug aufspringen und ist drunter gekommen.«

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schnell kann ich da, also wie schnell kann ich abrutschen?«. Zudem stellen manche beruflichen Stress als gesundheitlichen Risikofaktor dar.

Belastung und Wegbrechen von Beziehungen Die ontologische Sicherheit wird im Fall von schweren Krankheiten und Unfällen auch in sozialer Hinsicht infrage gestellt. Im Falle eigener Betroffenheit geht es zum einen darum, dass auch enge Angehörige mitbelastet werden, etwa weil sie die Sorge-Arbeit übernehmen würden. Zum anderen stellt sich die Frage, inwiefern eigene Einschränkungen die Aufrechterhaltung eines befriedigenden Soziallebens ermöglichen oder im schlimmsten Fall soziale Isolation bedeuten würden. Für Hanno Wegeschieber, Ende 40 und kinderlos, stellt sich etwa die Frage, wer sich im Falle von Pflegebedürftigkeit um ihn kümmern wird. Hierfür skizziert er Lösungsideen jenseits familialer Pflegearrangements, etwa ein Mehrgenerationenwohnprojekt sowie Zusammenwohnen mit Freunden, bei dem man die unterschiedlichen verbleibenden Fähigkeiten ›poolen‹ könnte, sodass alle die benötigte Unterstützung erhalten würden. Dirk Koch spricht neben dieser persönlichen Ebene des Sozialen noch die Frage gesellschaftlicher Teilhabe an, wenn er darauf hinweist, dass Krankheiten auch ein Stigma darstellen können, was mit gesellschaftlichem (Selbst-)Ausschluss verbunden sein kann. Neben der eigenen Betroffenheit von schweren Krankheiten und Unfällen ist auch diejenige von Familie und Freund*innen zentral, denn auch dadurch wird das gute Leben auf der sozialen Ebene belastet. Erstens geht es hierbei um den Verlust von Beziehungen, der v.a. als Verlust durch Versterben thematisiert wird. Trauer und Vereinsamung schränken die Lebensqualität ein, wie etwa Sven Schmidt darstellt: »Wenn Angehörige sterben und man allein zurückbleibt, ganz fürchterlich. Das wäre für mich dann auch, dann wäre meine Sicherheit weg.« Diese Angehörigen sind insbesondere die alternden Eltern ‒ deren Tod »rückt ja näher« (Anne Strauß). Zweitens geht es aber auch um die Sorge um das Wohlergehen von Angehörigen, v.a. der Kinder, wie Gerd Weidners Äußerung illustriert: »Ich mein, da stehen natürlich die Kinder besonders im Vordergrund. Dass die zum Beispiel einen Verkehrsunfall haben, wo sie ne Schädigung davontragen, dass sie eben n Pflegefall sind und so. Oder dass sie ne bösartige Tumorerkrankung kriegen, oder ja.« Gesundheitliche Probleme von Angehörigen stellen nicht nur einen ›Sorgeschaden‹ dar, wie ihn etwa Michael Sommer zum Ausdruck bringt, wenn er darüber erzählt, wie die jüngsten gesundheitlichen Rückschläge seiner Partnerin die ganze dreiköpfige Familie belastet haben: »Da hat man schon ein bisschen gemerkt gehabt, wie es an uns dreien schon irgendwo auch genagt hat.« Neben diesem ›Sorgeschaden‹ kann es auch um die praktische Sorge-Frage gehen, wie man selbst die Angehörigen bei Bedarf unterstützen kann. Hier stehen v.a. die alternden El-

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tern im Fokus. Aber auch die eigenen Kinder können pflegebedürftig werden, wie im vorigen Zitat von Gerd Weidner deutlich wurde und was für Anne Strauß von ungleich größerer lebensweltlicher Bedeutung ist, da sie einen Sohn im Kindergartenalter hat, der aufgrund einer Autoimmunerkrankung »nicht ganz gesund« ist. Bezüglich seiner weiteren Entwicklung und möglichen Pflegebedürftigkeit besteht Ungewissheit; zu Beginn »war die Vorhersagung äh Pflegefall n Leben lang, nie wieder arbeiten und so weiter und so fort«, die sich jedoch nicht bewahrheitete. Dennoch ist die »Frage nach ZUkunft und Sicherheit und wie gesund alt werden und so VIEL stärker in den Mittelpunkt gerückt als das war OHne Kind«. Zum einen geht es hier um die »Zukunftsfähigkeit« des Sohnes, ob er ein eigenständiges Leben führen kann, zum anderen geht es darum, ob die Eltern ihn »lange begleiten können und äh FIT begleiten können« oder nicht selbst im Alter zum Pflegefall werden. Jenseits von gesundheitlichen Einschränkungen der Interviewpartner*innen selbst sowie ihrer Angehörigen durch Unfälle oder schwere Erkrankungen können auch andere Ereignisse dazu führen, dass Beziehungen belastet sind oder wegbrechen. Teils geht es dabei um die eigenen Eltern, ob sie gut zurechtkommen, zumal wenn diese weiter entfernt wohnen. In den meisten Fällen geht es aber um die eigenen Kinder, wobei die Sorge nicht immer spezifiziert wird, weil »da immer irgendwie was sein könnte.« (Gerd Weidner) Vagheitsmarkierungen wie »irgendwie« charakterisieren solche diffusen, wenn auch nicht irrelevanten Ängste. Dies zeigt sich auch in Michael Sommers Thematisierung der Sorge um seinen Sohn, wenn dieser nicht zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort ist: »Und dann gehen einem schon so paar Dinge schießen einem da so durch den Kopf, was weiß ich, ich sag jetzt mal Entführung zum Beispiel«. Teilweise wird die Sorge um die Kinder auch spezifiziert, etwa als Sorge darum, ob sie sich beruflich etablieren und finanziell eigenständig werden (aus Sicht der ›Kinder‹ dazu Kap. 7.4.2). Stabile Beziehungen als wichtiger Pfeiler eines guten Lebens können nun nicht nur durch äußere Einflüsse belastet werden oder wegbrechen, sondern auch durch Konflikt. Dieser spielt in den Interviewthematisierungen zwar eine geringere Rolle, aber kann ebenfalls »Lebensbahnen n bissel durcheinanderbringen« (Anne Strauß), etwa im Falle von Trennungen in Paarbeziehungen in materieller wie emotionaler Hinsicht. Denn Konflikte und ggf. das Wegbrechen dieser Kontakte nähren auch Zweifel an der eigenen Person und schüren damit Ungewissheit hinsichtlich des angemessenen eigenen Handelns, was am Beispiel von Fanny Apfelbach gut gezeigt werden kann. Fanny Apfelbach ist Ende 40, geschieden, hat zwei erwachsene Söhne und lebt alleine. Während sie mit dem einen Sohn einen guten Kontakt hat, gestaltet sich der Kontakt zum anderen Sohn schwierig: Er besucht sie selten und wenn er kommt, dann nur äußerst kurz. Dass dieser sporadische Kontakt ein zentrales Thema darstellt, zeigt sich bereits zu Interviewbeginn, als Fanny Apfelbach die standardisierten Fragen zum Haushalt nicht einfach nur beantwortet, sondern

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mit »mein Kind und ich haben uns im Friedlichen getrennt ((lacht))« kommentiert. Diese deproblematisierende Darstellung ändert sich aber im Interviewverlauf. Sie berichtet verschiedene Erfahrungen in der Beziehung mit ihrem Sohn, z.B. dass er selbst am familiär symbolträchtigen Weihnachtsfest mit seiner Familie nur einen Kurzbesuch abstattet, was sich als Erledigung des Pflichtprogramms deuten lässt: »Zu Weihnachten, die waren hier ne Stunde bis um fünf, dann mussten sie unbedingt nach Hause, die Kinder mussten ja gebadet werden. Heiligabend, beziehungsweise zweiten Weihnachtsfeiertag.« Dieses Handeln des Sohnes und seiner Frau stellt Fanny Apfelbach als unverständlich dar und kontrastiert es mit der weihnachtlichen Besuchsgestaltung, als sie selbst junge Mutter war und mehr Zeit bei ihrer Herkunftsfamilie verbrachte. Der schwierige Kontakt zu ihrem Sohn, der für sie keinen erkennbaren Grund hat, stellt nicht nur eine Einbuße in der Lebensqualität insofern dar, als häufigere Besuch Fanny Apfelbach das Leben leichter und angenehmer gestalten würden, etwa weil ihr der Sohn mehr helfen könnte. Hauptsächlich geht es aber um Fanny Apfelbachs Selbstzweifel bezüglich ihrer sozialmoralischen Identität: »Da frage ich mich, was habe ich da als Mutter falsch gemacht?«. Stellt sich für die postadoleszenten Interviewpartner*innen also die grundlegende Orientierungsfrage, wie als Mann oder Frau angemessen zu handeln ist, und stellt sich für die Interviewpartner*innen im Entwicklungsmuster die Frage, ob sie eine Rolle gut genug ausfüllen werden können, so stellt sich nun die Frage, ob als Frau bzw. Mutter angemessen gehandelt wurde. Fanny Apfelbach nutzt das Interview daher auch dazu, sich selbst zu vergewissern und gegenüber der Interviewerin darzustellen, dass sie als Mutter nichts falsch gemacht hat ‒ auch nicht durch Trennungen. So berichtet sie über die Trennung vom Vater der Kinder, dass dieser eine Affäre eingegangen war und damit ihrer Schilderung nach die Paargemeinschaft aufgekündigt hatte. Fanny Apfelbach positioniert sich in Bezug darauf als Lobbyistin der Wünsche ihrer Kinder und handelt mit Rücksicht auf sie: FA: Und dann kamen die Kinder irgendwann nach 14 Tagen und »wieso schläft denn der Papa drüben, wieso schläft denn der nicht bei dir?«. Und ich sage: »Jetzt ist Schluss«, ich dachte, jetzt wird gesprochen, hier muss was passieren, es geht nicht anders. »Was ist denn los?«, ich sage »wir müssen reden. Ich sage, wenn die Jungs im Bette sind.« Auch vom folgenden Partner trennt sie sich, nachdem sie das Kindeswohl durch seine Trunkenheit gefährdet sieht: »Das wollte ich meinen Kindern ersparen. Also musste ich ihn wieder entfernen.« Trotz dieser Trennungen gibt sie sich bemüht, die Familie aufrechtzuerhalten. So betont sie, dass die Trennung vom Vater ihrer Söhne »im Gütlichen« verlief und er »immer jedes Weihnachten« vorbeikommt. Am symbolträchtigen Weihnachtsfest ist die Familie also wieder vereint.

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Insgesamt wird in diesen verschiedenen Thematisierungen deutlich, dass sich Fanny Apfelbach durch die geringe Kontaktdichte ihres Sohnes in ihrer sozialmoralischen Identität als Mutter verunsichert fühlt und das Interview auch zur (Selbst-) Versicherung nutzt. Deutlich wird in diesem Fall auch, dass belastete Beziehungen nicht nur an sich die Lebensqualität einschränken, da ein gutes Leben sich durch soziale Eingebundenheit auszeichnet, sondern dass damit noch eine weitere Einschränkung des guten Lebens einhergeht in Form der Infragestellung des Selbst.

Sozioökonomische Ängste und Kriminalität als untergeordnete Themen Mit Unfällen und schweren Krankheiten sowie der Belastung und dem Wegbrechen von Beziehungen sind die typischen, wenn auch in Bezug auf die Erlebnisqualität nicht besonders stark ausgeprägten Angstthemen im Stabilitätsmuster beschrieben. Um das Besondere dieses Musters im Vergleich zu anderen Mustern zu erkennen, ist es aber auch interessant, einen Blick auf Themen zu werfen, die in anderen Mustern relevant sind, hier allerdings kaum. Dies sind zum einen sozioökonomische Themen (berufliche und finanzielle Sicherheit), zum anderen Kriminalität. Sozioökonomische Themen sind wie bereits herausgearbeitet für die etablierten Interviewpartner*innen nicht relevant, da berufliche und finanzielle Sicherheit fraglos gegeben wirken und damit kaum eine Rolle spielen. Zwar können schwere gesundheitliche Rückschläge die berufliche Laufbahn infrage stellen, wie Sven Schmidt es ausdrückt, doch im Zentrum von Unfällen und Krankheiten stehen meist andere Dimensionen. Ferner geben sich die Interviewpartner*innen zuversichtlich, dass sie aufgrund ihres krisensicheren Berufs oder ihrer Qualifikationen, Kompetenzen und Bemühungen auch in Zeiten von Wirtschaftskrisen wenig zu befürchten haben. So zeigt sich z.B. Anne Strauß, promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin, »von Grund auf optimistisch, dass sich irgendwo in irgendner Situation auch irgendwo wieder n Türchen öffnet«. Der hier zum Ausdruck kommende Optimismus liegt auch in Anne Strauß’ Agencykonstruktion begründet: Das Türchen öffnet sich von selbst und erfordert keine aktiven Bemühungen ihrerseits; vielmehr, so lässt sich daraus schließen, bietet ihr das Berufsleben Möglichkeiten an, die sie nur zu ergreifen braucht.35 35 In zwei Grenzfällen des Stabilitätsmusters ‒ Rainer Kretschmann und Fanny Apfelbach ‒ ist dies allerdings anders. Rainer Kretschmann, Mitte 50, verheiratet und drei erwachsene Kinder, hat es nach schwierigen ökonomischen und gesundheitlichen Phasen geschafft, mit seiner Frau einen rentablen Landwirtschaftsbetrieb aufzubauen. Stabilität ist bei ihm das Hauptmotiv, doch ist sie angesichts seiner (berufsbiographischen) Erfahrungen in der Vergangenheit sowie der grundlegenden Abhängigkeit vom Weltmarkt weniger gewiss als bei den anderen etablierten Interviewpartner*innen. In seinem Interview geht es als Nebenmotiv entsprechend auch darum, noch etwas weiter voranzukommen, weil er sich bewusst ist, dass die gegenwärtige, durch kluge Entscheidungen bezüglich seines Betriebs sichere Situation nur eine »momentane Situation« darstellt. Die betriebliche Sicherheit ist daher ein Thema im Interview, aber auch die

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Insgesamt wird im Stabilitätsmuster auch das Thema Kriminalität in all seinen Facetten wenig relevant gemacht. Wenn darüber erzählt wird, dann wie bei den vorigen Themen im Sinne einer Einschränkung der Lebensqualität, sodass es sich hierbei mehr um ein Ärgernis als um eine Lebenskatastrophe handelt, um die Formulierung von Hanak, Stehr und Steinert (1989) aufzugreifen. Gerd Weidner etwa berichtet davon, dass ihm und seiner Partnerin im Urlaub die Koffer gestohlen wurden und auf dem Rückweg vom Urlaub bei einer Rast das Auto demoliert wurde. Weitere Beispiele könnten angeführt werden, sind aber in theoretischer Hinsicht nicht weiterführend. Interessant ist jedoch der Fall Sven Schmidt, denn ihn treffen potenzielle kriminelle Übergriffe nicht zufällig, sondern wegen seines So-Seins als Mann, der mit einem Mann eine Beziehung führt: SSch: Ich leb mit meinem Lebenspartner hier zusammen. Und ich glaub wir würden in manche Bezirke oder manche Gegenden in Ostdeutschland nicht mit einem sehr sicheren Gefühl fahren. Das finde ich sehr schade, aber es gibt da einfach so Bedrohungen, von denen wir immer wieder gehört haben, dass nicht nur Ausländer oder Schwarze dort bedroht werden, sondern auch Schwule. Und deswegen waren wir da ewig nicht. Ausgenommen Berlin oder so, wo das keine Rolle spielt. Praktisch relevant ist das Thema Kriminalität für ihn, weil das Meiden potenzieller Bedrohungen mit einer Einschränkung der Lebensqualität einhergeht (»sehr schade«). Theoretisch interessant ist dies, weil das Unsicherheitsobjekt im Kern nicht der kriminelle Akt an sich ist, sondern dieser erst durch eine soziale Norm, in diesem Falle die der Heteronormativität, hervorgebracht wird (ausführlicher dazu Giritly Nygren, Öhman und Olofsson 2015, 2016; s. Kap. 2.3.2).36 Von der Norm Abweichende können eine grundlegende Nichtakzeptanz ihrer Lebensweise bzw. Identität erfahren, was auch in einem ansonsten stabilen Leben, wie Sven Schmidt es führt, verunsichern oder zumindest die Lebensqualität in dem Sinne einschränken kann, dass das Leben nicht so gelebt werden kann, wie es sich die Akteur*innen wünschen. gesundheitliche Verfassung sowie eine mögliche Krise in der Beziehung mit seiner Frau, was ebenfalls den Betrieb beeinträchtigen würde, denn in seinem Familienbetrieb ist »so viel VERZAHNT«. Während Rainer Kretschmann also im Stabilitätsmuster ein Grenzfall zum Entwicklungsmuster ist, stellt Fanny Apfelbach, Ende 40, die bereits als selbstzweifelnde Mutter vorgestellt wurde, einen Grenzfall zum Existenzsicherungsmuster dar. Auch bei ihr dominiert das Stabilitätsmotiv und sie problematisiert finanzielle Belange nicht explizit. Allerdings weisen u.a. ökonomische Metaphern in ihren Thematisierungen darauf hin, dass Geld nicht selbstverständlich ist. Wie Rainer Kretschmann musste sie um ihre berufliche und finanzielle Etablierung kämpfen, was diese Metaphern miterklären kann. 36 In dieser Hinsicht vergleichbare Fälle sind Ahmed Erdem, der als »Kanake« beschimpft und tätlich angegangen wird, sowie Irina Tamm, die sich als Frau und Ausländerin nur teilweise akzeptiert fühlt (dazu Kap. 7.5.3).

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Einschränkungen der Lebensqualität: Unsicherheit vs. Sicherheitsmanagement Der Fall Sven Schmidt ist noch in einer weiteren Hinsicht als exemplarischer Beispielfall interessant, denn wie andere Repräsentant*innen des Stabilitätsmusters verhandelt er die Frage mit, wodurch die Lebensqualität stärker eingeschränkt wird: durch ein Unsicherheitsereignis selbst oder das Sicherheitsmanagement, das für dessen Abwendung oder Bewältigung betrieben wird. Generell herrscht gerade bei den Etablierten die Vorstellung vor, dass ein umfassendes Sicherheitsmanagement nicht nur unmöglich, da lebensfern, sondern im Sinne eines guten Lebens auch nicht sinnvoll ist. Hanno Wegeschieber äußert bspw., dass man zur Prävention im gesundheitlichen Bereich Sport verpflichtend machen und Zigaretten und Alkohol abschaffen sollte. Allerdings wendet er ein: »Also theoretisch müsste man das machen, aber dann macht das Leben keinen keinen Spaß mehr.« Anne Strauß wiederum betont, dass ein stetes ›Auf-Nummer-sicher-Gehen‹ eine »Lebenseinschränkung« darstellt, denn »man verzichtet auf CHANcen, ob das im Beruf ist, ob das im täglichen Leben ist, […] das is ja auch nicht so Sinn und Zweck, ne?«. Diese Vorstellung, dass ein wie auch immer geartetes Sicherheitsmanagement mehr Nachteil als Vorteil sein kann, bringt sie zudem pointiert zum Ausdruck, wenn sie als Motto ausgibt: »Wer’s Unheil vorhersieht, leidet zweimal«. Diese Unsicherheitstoleranz kann auch mit einer Risikoakzeptanz und -suche einhergehen, wofür ein stabiles, weithin sorgenfreies Leben als notwendige Grundlage erscheint, denn in anderen Typen lässt sich eine derartige Haltung nicht als typisch rekonstruieren. In besonderer Weise trifft diese Aushandlung, was die Lebensqualität mehr einschränkt, das Thema Verkehrsunfälle. Dieses Thema stellt die zentrale Kategorie im Rahmen von Unfällen dar, da Haushalts-, Sport- und berufliche Unfälle seltener angesprochen werden. Bei Verkehrsunfällen geht es wiederum v.a. um Autounfälle, die von den Interviewpartner*innen weithin als Gefahr im Luhmann’schen Sinne dargestellt werden, da sie trotz bester eigener Achtsamkeit von den Fehlern anderer Autofahrer*innen betroffen sind. Autounfälle sind demzufolge nichts Ungewöhnliches. Dennoch wird nicht vom Autofahren Abstand genommen. Warum nicht? Meine These ist, dass hier zentrale Vorstellungen eines guten Lebens in der Moderne auf dem Spiel stehen, die insbesondere für die etablierten Interviewpartner*innen relevant sind. Denn sie haben die finanziellen Ressourcen, ein Auto zu besitzen, und pflegen zugleich einen Lebensstil, in dem Mobilität generell sowie die individualisierte, von anderen und anderem unabhängige Mobilität, kurz: die Auto-Mobilität, eine unabdingbare Rolle spielen. Nicht nur erscheint die tägliche Autofahrt zur Arbeit alternativlos. Auch kann Mobilität in Beruf und Freizeit positiv konnotiert sein bei gleichzeitiger Sesshaftigkeit im privaten Alltagsleben: Beruflich viel unterwegs zu sein kann Teil einer anspruchsvollen oder interessanten Berufstätigkeit sein bzw. diese erst ermöglichen. Autofahren an sich kann ebenfalls mit

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Spaß verbunden sein, Anne Strauß etwa grenzt sich von diesbezüglicher Angst ab und betont stattdessen: »ganz im Gegenteil, ich mach das GERN«. Denn Mobilität erlaubt auch Freizeitgenuss. Auto- und Flugreisen wegen Unfall- oder Terrorismusgefahr einzuschränken leuchtet nicht ein, »weil das halt ein Stück weit ich sag mal mein Leben einschränken würde, weil ich verreis nun mal ganz gerne«, wie Michael Sommer sagt. Zusammenfassend betrachtet werden Mobilitätspraktiken daher nur teils infrage gestellt. Sie scheinen vielmehr tief eingeschrieben in die modernen Vorstellungen des guten Lebens, denen die Etablierten anhängen.

Leistungs- und Beschleunigungsgesellschaft sowie leistungsunwillige ›Andere‹ Insgesamt sind die etablierten Interviewpartner*innen mit ihrem Leben zufrieden: Sie haben bislang erreicht, was sie erreichen wollten. Dies schreiben sie großteils ihren eigenen Bemühungen zu, die sich nun gelohnt haben. Ungerechtigkeitsempfinden spielt kaum eine Rolle und darüber hinaus werden die Interviews nur wenig zur allgemeinen Beschwerdekommunikation über die Welt oder ›Andere‹ genutzt. Dennoch lassen sich in manchen Interviews Niedergangsnarrative und ‒ wie bei den postadoleszenten Etablierungsbemühten ‒ die Abwertung ›Anderer‹ finden, in denen sich nochmals die Zentralität der Lebensbereiche Beruf und Beziehungen sowie die Vorstellung eines eigenständigen, leistungswilligen und modernen Lebens demonstriert. Die Niedergangsnarrative betreffen v.a. eine Entwicklung hin zu einer Beschleunigungs- und Leistungsgesellschaft, die zuallererst den beruflichen Bereich betrifft, aber auch Auswirkungen auf die private Lebensführung hat: Stress und Hektik im Berufsleben können in dieser Vorstellung nicht nur negative gesundheitliche Folgen haben, sondern auch das Führen von verlässlichen Beziehungen bzw. soziale Kontakte generell erschweren. Michael Sommer etwa verweist auf seinen »hektischen Alltag«, wenn er sich bei der Interviewerin dafür entschuldigt, dass kein früherer Interviewtermin zustande kam: »Das war jetzt nicht irgendwie weil ich Lust und Laune hatte, Sie da irgendwie länger hinzuhalten, das ging einfach nicht.« Fanny Apfelbach betont zudem die kompetitive Dimension des Kapitalismus, wenn sie auf die »Ellenbogengesellschaft« hinweist. Neben diesen Thematisierungen struktureller Art finden sich aber auch individualisierende Äußerungen, die von ›Anderen‹ das gleiche einfordern, was man selbst bereits geleistet hat bzw. leistet, nämlich sich eigenverantwortlich um Bildung und Beruf, aber auch um Gesundheit zu kümmern. Anne Strauß bspw., eine promovierte Akademikerin, hält Arbeitslose sowie Jugendliche aus dem ›Arbeitslosen-Milieu‹ für gefährdet und gefährlich: »Also machen sie mal m jungen Menschen klar, was weiß ich äh in nem Stadtteil mit mit riesiger Arbeitslosigkeit, wo Mutter arbeitslos

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ist, Vater arbeitslos ist, die Kinder es gar nicht kennen, dass jemand arbeiten geht, dass sich Leistung LOHNT.« Nicht strukturelle Rahmenbedingungen wie benachteiligte soziale Positionen werden hier ins Zentrum der Argumentation gestellt, sondern die am meritokratischen Mythos orientierte Forderung nach individueller Leistung. Wird diese nicht erbracht, sind die Jugendlichen also nicht aktiv am Bildungs- und Erwerbssystem beteiligt, kann es zu Kriminalität aus Langeweile kommen. In ähnlicher Weise stellt Anne Strauß ein bildungsbürgerlich fundiertes, eigenverantwortliches Gesundheitsmanagement in den Fokus, das Wissen um gesundheitliche Faktoren mit entsprechendem Handeln verknüpft (zur Individualisierung und Verwissenschaftlichung von Gesundheit s. Marko 2010 und Montelius/Giritli Nygren 2014). Mit dieser Abwertung von ›Anderen‹ stellt Anne Strauß zugleich eine eigene, positive Identität als Gesundheitsbewusste im Interview dar und her. Eine positive Identität als gebildeter, aufgeklärter moderner Mensch nimmt auch Rainer Kretschmann für sich in Anspruch, wenn er sich von ›unmodernen Muslim*innen‹ abgrenzt. Insgesamt dominieren derlei Abgrenzungen und Individualisierungen aber nicht das Stabilitätsmuster; manche Interviewpartner*innen verzichten darauf weitgehend, Hanno Wegeschieber gar gänzlich.

7.5.3

Existenzsicherung: Abstiegsangst in materieller und symbolischer Hinsicht

Nichtgelingen und Erschwernisse eines prekäres (Über-)Lebens Während sich die etablierten Interviewpartner*innen im Stabilitätsmuster eine Kontinuierung ihres erlangten Status Quo wünschen, haben die Interviewpartner*innen im Entwicklungs- und im Existenzsicherungsmuster eines gemeinsam: Sie sind nicht mit ihrem gegenwärtigen Status Quo zufrieden, d.h. (noch) nicht in der richtigen ›Lebensbahn‹ angekommen, sondern wollen bessere soziale Positionen erlangen. Anders als im Entwicklungsmuster geht es im Existenzsicherungsmuster allerdings nicht um ein erhofftes Vorankommen, sondern darum, über die Runden zu kommen und einen befürchteten (weiteren) Abstieg abzuwenden (vgl. auch Dörre 2013: 150). Die Zukunft erscheint weniger offen und gestaltbar, sondern im Extremfall als unmittelbar bevorstehende Katastrophe. Hoffnung auf eine bessere Zukunft besteht kaum. Dies liegt auch daran, dass die aktuelle soziale Position verfestigt erscheint und nicht als Übergangszustand, der überwunden werden kann. Der Blick ist somit stärker nach unten, d.h. auf den möglichen (weiteren) Abstieg, und auf die alltägliche Bewältigung des prekären Lebens gerichtet. Im Hier und Jetzt stellt sich die existentielle Frage »von was leb ich?« (Gaby Enge). Ein Weitblick in die Zukunft scheint versperrt, eine biographische Perspektive eingeschränkt bis undenkbar. Dieser Typus entspricht den Prekären, wie sie in der

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arbeits- und industriesoziologischen Prekarisierungsforschung beschrieben werden (vgl. im Überblick Schiek 2011). Die hohe Erlebnis- oder eher Erleidensqualität solch großer Ängste wurde in Kapitel 6.3.2 bereits analysiert. Die dort zitierten Interviewpartner*innen repräsentieren auch großteils das Existenzsicherungsmuster. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine privilegierten sozialen Positionen einnehmen: Es handelt sich um Arbeiter*innen oder Selbstständige, die in der Regel eine berufliche Ausbildung absolviert haben oder noch dabei sind, aber angesichts ihres Erwerbsumfangs und ihrer Haushaltssituation im unteren Einkommensbereich liegen und teils als Working Poor bezeichnet werden können (Cemal Demir, Conny Müller, Fanny Apfelbach, Gaby Enge, Gerda Hofmann, Nadia Wojcik). Eine Person im Existenzsicherungsmuster ist zum Interviewzeitpunkt erwerbslos (Irina Tamm).37 Auch haben manche Repräsentant*innen des Existenzsicherungsmusters eine Migrationsgeschichte (Cemal Demir, Irina Tamm, Nadia Wojcik).38 Bezüglich der Altersspanne decken die Interviewpartner*innen im Lebensverlauf das gesamte Erwachsenenalter ab: Sie sind Mitte 20 (Nadia Wojcik) bis Anfang 60 (Gerda Hofmann).39 Während im vorigen Kapitel in Bezug auf diese Fälle die Analyse der Erlebnisqualität großer Ängste und ihrer sprachlichen Darstellung im Zentrum stand, geht es im Folgenden um die Themen, die für diese großen Ängste sorgen. Sicherheit bedeutet im Existenzsicherungsmodus die Absicherung des aktuellen bescheidenen Lebensstandards im Sinne einer ökonomischen, aber auch sozialen bzw. symbolischen Existenzsicherung: Wird man als ›normales‹, wohlsituiertes Gesellschafts37 Conny Müller und Nadia Wojcik, die mit Partner und Kind(ern) zusammenleben, geben ein Haushaltsnettoeinkommen zwischen 1500 und 2000 Euro an. Cemal Demir, der mit Frau und Kind zusammenlebt, lebt von 2000 bis 2500 Euro pro Monat, wobei hier berücksichtigt werden muss, dass er nicht abhängig beschäftigt ist, sondern alleinselbstständig ist und dieses Einkommen wechselhaft und unplanbar ist. Bei den Alleinwohnenden gestaltet sich die Einkommenssituation wie folgt: Fanny Apfelbach (ein Randfall in diesem Muster, vgl. Kap. 7.5.2) verfügt über 500 bis 1000 Euro pro Monat, Gaby Enge über maximal 500 Euro pro Monat und Irina Tamm ist wie erwähnt zum Interviewzeitpunkt erwerbslos. Gerda Hofmann wollte die Frage nach ihrem Einkommen nicht beantworten; aufgrund verschiedener Äußerungen im Interview lässt sich aber darauf schließen, dass sie bereits Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit gemacht hat und ihr Einkommen im unteren Bereich liegt. 38 Zwar sind Interviewpartner*innen mit Abitur (Gaby Enge, Irina Tamm), aber keine Akademiker*innen im Existenzsicherungsmuster vertreten, obwohl auch das »akademische Prekariat« existiert (Sander 2012). Es könnte geprüft werden, ob das Fehlen des akademischen Prekariats meiner Fallauswahl oder Datenbasis geschuldet ist, es einem anderen Muster zugerechnet werden kann (etwa dem Entwicklungsmuster) oder ein weiteres Muster repräsentiert, das ich nicht rekonstruiert habe. 39 Gerda Hofmann stellt daher einen Grenzfall zum Rentenalter hin dar: Sie hat nur noch wenige Jahre zu arbeiten und ihren Renteneintritt sowie alterstypische Fragen des guten Lebens schon vor Augen.

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mitglied anerkannt oder als arm, arbeitslos und/oder Ausländer*in abgewertet und ausgegrenzt (zu diesen Abwertungen Kap. 6.4 und 6.5)? Der Platz im Sozialen ist also nicht fraglos gegeben wie für die Etablierten, sondern muss erarbeitet werden. Entsprechende Ängste beziehen sich darauf, dass diese Existenzsicherung nicht gelingt bzw. weiter erschwert wird, und haben wie erwähnt eine hohe Bedeutung: Es geht nicht wie bei den Etablierten um eher kleine, vage Ängste in Bezug auf die Zukunft, sondern um große Ängste, die speziell in ihrer materiellen Dimension äußerst präsent sind. Auf diese materiellen Dimensionen der Existenzangst gehe ich zuerst ein. Sie werden von den Interviewpartner*innen explizit benannt, v.a. in Bezug auf Erwerbsarbeit und Einkommen, und inkludieren auch Kriminalität und Krankheiten, die nicht als eigenständige Bedrohungen erscheinen, sondern in Bezug auf die ökonomischen Grundlagen des Lebens. Im zweiten Schritt geht es um die symbolische Dimension der Status- und damit Selbstunsicherheit, über die viel weniger explizit gesprochen wird, aber die sich dennoch im Interview dokumentiert, u.a. in der Interaktion mit den im Vergleich etabliert(er) erscheinenden Vertreter*innen einer Universität.

Existenzangst und ihre Verschärfung durch Krankheit und Kriminalität In Bezug auf materielle Dimensionen der Abstiegsangst erscheinen die Unsicherheitsthemen zunächst ziemlich ähnlich zum Entwicklungsmuster: Es geht zentral um berufliche und finanzielle Aspekte, deren Bedeutung im Existenzsicherungsmuster allerdings gesteigert ist, denn es geht um das ökonomisch prekäre (Über-) Leben und damit um basale Fragen des Lebens: das ›Brot reinzukriegen‹ (C emal Demir) und alle Rechnungen bezahlen zu können (Gaby Enge). Kurzum: Berufliche und finanzielle Unsicherheit erscheint hier als Existenzangst.40 Diese hohe 40 Bei den Vertreter*innen des Existenzsicherungsmusters zeigt sich entsprechend ein »Notwendigkeitsgeschmack«, der im Kontrast zum »Luxusgeschmack« (Bourdieu 1987a) der Etablierten mit ihrem sorglosen Konsum steht. Nadia Wojcik etwa sagt: »Wir sind zwar keine Millionäre, aber wir haben was zu essen«. Die Positionierungen der Prekären zum Luxusgeschmack sind dabei ambivalent. Einerseits finden sich Abgrenzungen dazu, wenn der eigene Verzicht nicht bemängelt wird, sondern der Konsum der anderen als unnötig kritisiert wird. Irina Tamm z.B. echauffiert sich über einen Bekannten, der »wegen jedem Schnulli« sein Auto benutzt statt Fahrrad zu fahren oder zu laufen. Dies verallgemeinert sie zu der Aussage, dass sie es nicht verstehen könne, warum »die Leute unbedingt ein Auto haben müssen«; sie vermutet, dass es eine »Prestige-Sache« ist. Auch mit dem Kommentar, dass wir »so verwöhnt« sind, grenzt sie sich von einer Lebensweise ab, wie sie für die Etablierten (Kap. 7.5.1) typisch ist. Andererseits zeigt sich in den Interviews mit den Prekären aber auch eine Hinwendung zu Elementen des Luxusgeschmacks. Irina Tamm etwa gibt an, »schon fast Vegetarier« zu sein, und Conny Müller bedauert, aus finanziellen Gründen keine Bio-Produkte kaufen zu können. Diese Äußerungen können auch als Selbstpositionierungen gegenüber den Interviewenden verstanden werden, die als Studierende bzw. Universitätsangehörige einen solchen alternativen Lebensstil symbolisieren.

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Bedeutung von Geld v.a. im Sinne eines Geldmangels zeigt sich im Existenzsicherungsmusters auch auf sprachlicher Ebene, u.a. in einer von ökonomischen Metaphern durchzogenen Ausdrucksweise. Fanny Apfelbach bspw. überlegt, was sie im Falle eines Überfalls oder Übergriffs tun würde: Der angreifenden Person geben, was diese will, oder flüchten. Sie präferiert die Flucht, was sie mit einer ökonomischen Metapher versprachlicht: »Also ich würde eher mein Fersengeld geben ((lacht)).« Dass ihre Mutter öfters krank war, kommentiert sie in ähnlich ökonomisierender Weise: Diese »hat ja alles mitgenommen, was nichts kostete«. Darüber hinaus zeigt sich die Dominanz des Ökonomischen auch darin, dass es im Existenzsicherungsmuster Dreh- und Angelpunkt der Welterklärung ist. Kriminalität etwa wird typischerweise als Ausdruck von Arbeitslosigkeit und/oder ökonomischen Problemen gedeutet, sodass nun auf illegitime Möglichkeiten der Geldbeschaffung zurückgegriffen wird.41 Irina Tamm erklärt sich auch Rassismus damit: »umso mehr Arbeitslose, umso größere Ängste, umso gereizter die Leute«. Auch über bereichsbezogene subjektive Theorien hinaus kann die Welt als ökonomisch geprägte wahrgenommen werden. Für Gaby Enge bspw. ist klar: »Alle wollen nur GELD und MACHT«. Die hohe Bedeutung von Geld zeigt sich außerdem in einem entsprechenden Lebens- und Biographiekonzept. Für die Selbstständigen heißt Leben Arbeit ‒ die Interviews mit Cemal Demir und Gaby Enge finden bezeichnenderweise in ihren jeweiligen Geschäften statt ‒ und »Job heißt Geld« (Cemal Demir). Auch in anderen Interviews dieses Musters wird Berufstätigkeit v.a. als Erwerbsarbeit konzipiert, d.h. weitere Dimensionen wie interessante Arbeitsinhalte oder berufliche Selbstverwirklichung sind sekundär oder bleiben ganz außen vor. Auch die biographische Phase der (Aus-)Bildung wird entsprechend thematisiert: Die Kinder sollen eine gute (Aus-)Bildung erhalten, um später gute Einkommen erzielen zu können (Cemal Demir, Conny Müller). Bildung wird in diesem Sinne gerade nicht als Selbstzweck oder Möglichkeit zur Selbstentfaltung und -verwirklichung in der Lebensphase der Postadoleszenz verstanden, sondern als Vorbereitung der Erwerbsphase. Entsprechend dieser hohen Bedeutung von Geld gestalten sich die typischen und relevanten Angstthemen. Die beiden Selbstständigen Cemal Demir und Gaby Enge sprechen verschiedentlich bedingte Einkommensausfälle an, z.B. durch wirtschaftliche Krisen, die sich negativ auf das Konsumverhalten und damit auf ihre Umsätze auswirken. Cemal Demir sieht zudem Einkommensrückgänge in der möglichen Unzufriedenheit von Kund*innen begründet, die im Ergebnis das Ende seiner Existenz bedeuten könnte. Er bemüht sich entsprechend, »keinen Fehler« zu machen und noch »VIEL mehr Leistung« zu erbringen, sieht aber auch die Grenzen solcher Bemühungen, denn »man kann dene Leute einfach nicht alles sag ich 41 Repräsentant*innen anderer Muster erklären Kriminalität auch anderweitig; die Ordnungsliebenden etwa sehen diese als Ausdruck eines moralischen Verfalls (Kap. 7.6.2).

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mal korREKT machen«. In diesem beruflich-ökonomischen Kontext werden auch Krankheit und Kriminalität thematisiert, worauf ich im Folgenden näher eingehe. Für die Soloselbstständigen bedeuten körperliche Beeinträchtigungen aufgrund von Krankheit Ausfall bzw. Einschränkung der Arbeitskraft und damit Einkommensausfälle, da sie ihr Geschäft schließen müssen. Hinzu kommen zusätzliche Kosten, etwa für die Behandlung von Krankheiten. Im Extremfall bedeutet eine schwerwiegende Krankheit oder Pflegebedürftigkeit das berufliche und finanzielle Aus. Gaby Enge spricht z.B. vom »Ende von meiner Existenz«, da sie dann »pleite« sei, Cemal Demir sagt: Dann »is Feierabend«. Dennoch bzw. gerade deswegen gehen beide auch bei Krankheit arbeiten. So schildert Gaby Enge, wie sie mit einer »wahnsinns Nierenkolik« mittels Tabletten und »mit dem Heizkissen um=n Bauch gewickelt« ihren Laden »wenigsten ein paar Stunden« geöffnet hatte. Dadurch sowie durch generellen beruflichen Stress gefährden die Selbstständigen ihre Gesundheit, die sie am Ende ihre Existenz kosten könnte, noch weiter. Dieses Widerspruchs sind sie sich bewusst, er erscheint Cemal Demir und Gaby Enge jedoch als unauflösbar. Auch die Bedeutung von verschiedenen Kriminalitätsereignissen erschließt sich bei den Soloselbstständigen im ökonomischen Kontext. So nennt Gaby Enge als konkrete und bereits erlebte Angstthemen Einbruch und Raub, »weil DIE einfach mich bedrohen in dem Sinne, […] dass meine Existenzangst noch größer wird«. Einbrüche bedeuten finanzielle Einbußen durch die Beute und den Sachschaden. Raubüberfälle, die speziell Gaby Enge nach einer einschlägigen Erfahrung für die Zukunft befürchtet, würden sie darüber hinaus dazu zwingen, dass sie »krank machen« müsste, wenn sie »vielleicht des Messer im Hals stecken« hat. Bei den Nicht-Selbstständigen unterscheiden sich die Angstthemen in inhaltlicher Hinsicht, verweisen aber dennoch auf das zugrunde liegende Muster der materiellen Existenzsicherung. Sie fürchten die Arbeitslosigkeit ‒ teils als erneute oder dauerhafte Arbeitslosigkeit ‒, nur atypische Arbeit wie Leiharbeit oder nur eine unterbezahlte Arbeit zu finden, von der sich nicht gut leben lässt oder die gar zum Aufstocken zwingt. Als Inbegriff dieser Ängste steht der Bezug des Arbeitslosengeldes II, wie Nadia Wojcik verdeutlicht: »Ich hab Angst da reinzurutschen in dieses Hartz IV, wenn ich- dass ich um Essen betteln muss […]. Ich hab Angst, dass ich von andern Menschen abhängig bin.« Die grundlegenden Bedürfnisse (Essen) können dann nicht mehr eigenständig erwirtschaftet werden, eine selbstständige und unabhängige Lebensführung erscheint nicht mehr möglich. Nadia Wojcik umreißt stattdessen die Rolle der Bittstellerin, die von der Zuwendung anderer abhängig ist und exemplifiziert dies am Beispiel ihrer Freundin: Diese ist »schon zu mir gekommen, hat gefragt: ›Hast du ein bisschen Toast für mich, für meine Kinder?‹«. Entsprechend einer angespannten ökonomischen Situation gestaltet sich die Bedeutung von Kriminalität und Krankheit. Hinsichtlich Kriminalität werden v.a. Einkommensdelikte bzw. Sachbeschädigung angesprochen. Nadia Wojcik

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bspw. berichtet, dass am Vortag des Interviews ihr Auto aufgebrochen wurde; es wurden »Sachen geklaut, obwohl ich eigentlich nichts so drin hatte«. Sie rechnet mit Kosten von 300 Euro, die auf sie zukommen, was sie mit »das ist teuer!« kommentiert. Bezüglich Krankheiten bzw. Pflegebedürftigkeit ‒ auch von Familienangehörigkeiten ‒ wird deren ökonomische Bedeutung im Existenzsicherungsmuster paradigmatisch im Interview mit Conny Müller deutlich. Würden ihre alternden Eltern pflegebedürftig, so würde das »unser ganzes Leben beeinflussen, also alles«, wie sie sagt. Entweder sie müsste sie selbst pflegen und damit ihre Erwerbsarbeit reduzieren, die allerdings unverzichtbarer Teil des Familieneinkommens ist, oder die Pflege abgeben, was Geld kosten würde. Hierfür finanzielle Vorsorge zu treffen ist ebenfalls ausgeschlossen, wie Conny Müller klarmacht: »na sicher könnte man irgendwelche Versicherungen abschließen, zusätzliche irgendwelche, aber das ist uns im Moment auch finanziell nicht möglich«, denn durch die kürzliche Arbeitslosigkeit ihres Mannes hat die Familie »null Polster nach hinten«. Insgesamt wird in diesen Analysen zu den materiellen Dimensionen der Abstiegsangst deutlich, dass ökonomische Themen im Vordergrund stehen und auch die Erzählungen zu Kriminalität und Krankheit dominieren. Letzteren kommt damit eine gänzlich andere Bedeutung zu als bei den Etablierten: Werden von den Etablierten Krankheiten und Kriminalität als Einschränkung der Lebensqualität und des Lebensgenusses thematisiert, so stellen sie bei den Prekären ein (weiteres) Erschwernis im prekären (Über-)Leben dar. Diese ökonomische Prekarität kann auch mit einer prekären Position in der symbolischen, d.h. sozialmoralischen Ordnung der Gesellschaft einhergehen, wenn man in ›Hartz IV reinrutscht‹ und um sein »Essen betteln muss« (Nadia Wojcik). Dies stellt eine symbolische Deklassierung dar, die die Leistungswilligen in die Position von Leistungsempfänger*innen und Bittsteller*innen versetzt. Um diese symbolischen Dimensionen von Abstiegsangst geht es im Folgenden.

Status- und Selbstunsicherheit: fehlende Anerkennung und Scham In Kapitel 6 (genauer: Kap. 6.4. und 6.5) wurden zentrale Aspekte der moralischen Ordnung anhand der Selbst- und Fremdpositionierungen der Interviewpartner*innen rekonstruiert, u.a. die Norm der Erwerbsarbeit verbunden mit dem Leistungsimperativ und dem Mythos der Meritokratie, eine Normkonformität im Sinne von Nicht-Devianz, die erwerbsbezogene und kulturelle ›Integrationspflicht‹ für ›Ausländer*innen‹ und die Norm der verantworteten Elternschaft. Im Existenzsicherungsmuster dient diese moralische Ordnung allerdings nicht (nur) der eigenen Positionierung, sondern wird zum beängstigenden Unsicherheitsobjekt (dazu Giritly Nygren, Öhman und Olofsson 2015, 2016; s. Kap. 2.3.2). Denn ökonomisch prekär zu leben kann vor diesem normativen Hintergrund bedeuten, die relevanten Normen in der eigenen Bewertung oder der von anderen

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nicht einhalten zu können, worauf insbesondere die geschlechtersoziologische Prekarisierungsforschung hingewiesen hat. Damit steht der soziale Status auf dem Spiel: Wird man anerkannt für das, was man ist und leistet? Wird man als das ›normale‹, wohlsituierte Gesellschaftsmitglied wahrgenommen, als das man sich selbst sieht, oder als arm, arbeitslos und/oder nicht integrierte ›Ausländer*in‹ deklassiert und ggf. weiter ausgegrenzt? Aus dieser Ungewissheit bezüglich sozialer Anerkennung und Zugehörigkeit bzw. aus deren Verweigerung können Status- und damit Selbstunsicherheiten resultieren.42 Darüber hinaus kann mit fehlender Anerkennung als weitere Emotion Scham verbunden sein. Mit Scham meine ich im Anschluss an Sighard Neckels Überlegungen (1991, 2009) das Gefühl der Herabwürdigung der eigenen Person gemessen am Ich-Ideal durch Verfehlen einer Norm. Das Scheitern muss somit selbst zugerechnet werden und es rührt am Kern der Person. Wichtig ist dabei der soziale Kontext, da »Schamzeugen«, wie Hilge Landweer sie nennt, die Scham auf jeden Fall verstärken und manchmal auch erst hervorrufen (vgl. Demmerling 2009). Relevant ist in der Interaktion also, wie man von anderen wahrgenommen wird, ob man Wertschätzung oder soziale Minderwertigkeit erfährt. Dies trifft nicht nur für alltagsweltliche Interaktionen zu, sondern auch für die Interviewinteraktion, wie die folgenden Beispiele zeigen (vgl. auch Aamann 2017). Die Verhandlung von Statuszuerkennung und -aberkennung, auch im Interview, erscheint dabei zunächst kein Sicherheitsthema zu sein. Gleichwohl ist sie unmittelbar sicherheitsrelevant: Zum einen geht es um die Frage, ob die eigene Identität anerkannt wird. Damit geht es um Selbstsicherheit als eine Dimension von Sicherheit. Zum anderen hat, so bereits Freud, Scham ihre Ursache in der sozialen Angst, verlassen oder ausgeschlossen zu werden (Neckel 2009). Im Gegensatz zu den materiellen Dimensionen von Prekarität werden diese symbolischen Dimensionen von den Interviewpartner*innen weniger explizit und direkt benannt.43 Dennoch lassen sich diese impliziten Ängste aus dem Material rekonstruieren, z.B. anhand der ausgeprägten Identitätsarbeit, die die Interviewpartner*innen im Interview gegenüber den Interviewenden als Vertreter*innen der 42 Der Unterschied zur postadoleszenten Orientierungsunsicherheit ist daher deutlich: Es geht nicht mehr um die Ungewissheit hinsichtlich dessen, was sozialmoralisch ›richtig‹ und ›gut‹ ist, sondern um die Frage, ob einer als gültig anerkannten Norm entsprochen wird. Anders als bei den Rollen- und Handlungsunsicherheiten im Entwicklungsmuster wähnen sich die Existenzsichernden näher am Normbruch, sodass hieraus Statusunsicherheiten resultieren. 43 Dies lässt sich verschiedentlich interpretieren. Erstens ist denkbar, dass solche Ängste auch für die Interviewpartner*innen selbst wenig greifbar und schwer erzählbar sind. Zweitens ist auch möglich, dass sie unpassend erscheinen, wenn der Sicherheitsbegriff in einem engen Sinne und das Interview als unpersönliches verstanden wird (dazu Kap. 5.3). Drittens kann Scham ob der eigenen Lebenssituation auch eine Thematisierungsgrenze darstellen.

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Bildungseinrichtung Universität betreiben. Diese Bildungseinrichtung haben Repräsentant*innen des Existenzsicherungsmusters selbst nicht besucht (mit Ausnahme von Gaby Enge, die ihr Studium abgebrochen hat), sodass die Interviewenden eine höhere Bildungsklasse repräsentieren. Hinzu kommt, dass die Interviewenden teilweise als deutsch gelesen werden. Damit werden sie als Vertreter*innen jener Gruppe verstanden, der die Interviewpartner*innen mit Migrationsgeschichte angehören wollen, aber gleichzeitig Exklusionserfahrungen machen (s.u. Irina Tamm). Die Interviewenden werden entsprechend als Personen gelesen, die in der sozialen Hierarchie der Statuspositionen höher stehen (z.B. in Bezug auf Klassenverhältnisse). Wie drücken sich nun diese Statusunsicherheiten in den Interviews aus? Leistungswillige, normkonforme Gesellschaftsmitglieder Gerade wegen ihrer prekären Situation machen die Interviewpartner*innen in verschiedener Hinsicht auf ihren Leistungswillen und ihre tatsächlich erbrachte Leistung aufmerksam, v.a. in Bezug auf Arbeit. Zwar verdienen sie nicht ausreichend, doch lassen sie keinen Zweifel daran, dass das nicht in einer persönlichen Minderleistung begründet liegt. Dies illustrieren folgende Beispiele: Die Interviews mit den beiden Selbstständigen Cemal Demir und Gaby Enge finden wie bereits festgestellt bezeichnenderweise in ihren jeweiligen Geschäften statt; beide stellen zudem heraus, dass sie dort sogar bei Krankheit anzutreffen sind. Irina Tamm, gerade arbeitslos geworden, erwähnt, dass sie zuletzt sechs Tage pro Woche gearbeitet hat und diese Arbeit nur verloren hat, weil ihre Chefin »so ein Monster« war. Indem die Chefin pathologisiert wird, erscheint Irina Tamm als normal und kann sich hinsichtlich der Kündigung entlasten. Wie auch in den unten analysierten Abwertungen deutlich wird, scheint es von zentraler Bedeutung, sich als Gesellschaftsmitglied darzustellen, das seinen Verpflichtungen nachkommt. Damit verdeutlichen die Interviewpartner*innen, dass sie nicht so sind, wie es erscheinen könnte. Speziell für die Interviewpartner*innen mit Migrationsgeschichte betrifft dies auch die ›Integration‹ in die deutsche Gesellschaft, die sie ihrer Darstellung nach gemeistert haben: Sie ordnen sich teils einem deutschen ›Wir‹ zu (s. auch Kap. 6.5). Das heißt aber nicht, dass sie von anderen als zugehörig betrachtet werden. Irina Tamm bspw. meint: »Man gehört dazu irgendwo und von der anderen Seite ist man gleichzeitig irgendwie ausgestoßen. Und man wird auch nie ankommen, weil man braucht nur zu sagen, dass man irgendwo anders herkommt.« Ihr derzeitiger gesellschaftlicher Status als Einwanderin scheint uneindeutig; das ›Ausgestoßensein‹ liegt dabei aber nicht in ihrer Agency, sondern außerhalb von ihr. Bezüglich einer zukünftigen uneingeschränkten Anerkennung als Teil der deutschen Gesellschaft gibt sie sich pessimistisch, trotz der Integrationsbemü-

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hungen, die im Interview sichtbar werden. Diese Bemühungen beinhalten den Wunsch, alles richtig zu machen, was sich auch in der Performanz im Interview zeigt (ähnlich: Nadia Wojcik): Bei Skalenfragen wählt Irina Tamm gerne »die goldene Mitte«, was sie beim ersten Mal mit »da kann man nichts verkehrt machen« begründet. Dass sie manche Interviewfragen nicht zu ihrer Zufriedenheit beantworten kann, veranlasst sie desöfteren zu dem Kommentar, dass sie sich hätte vorbereiten sollen. Bei den Fragen nach theoretischem Wissen, z.B. zu den Ursachen von Terrorismus und möglichen Sicherheitsmanagements, wird ihr aber auch deutlich, dass sie selbst mit Vorbereitung das gefragte Wissen als »kleiner Mann« nicht gehabt hätte. Dies bringt sie einerseits dazu, Kritik am Forschungsdesign zu üben; bspw. meint sie: »sind n bisschen daneben, die Fragen«. Andererseits nimmt sie ihr Nicht-Wissen als eigenes Versagen wahr, in diesem Interview nicht die geforderte Leistung zu erbringen und dafür Anerkennung zu erhalten. Sie nimmt entsprechend ihre Kritik am Interview zurück und kritisiert sich selbst mit den Worten »Vielleicht morgen hab ich eine andere Laune und es regnet nicht mehr«. Anhand des Interviews mit Nadia Wojcik lässt sich noch eine weitere Statusdimension verdeutlichen, die im Falle von Prekarität auf dem Spiel stehen kann: als anständiges, normkonformes, d.h. nicht deviantes Gesellschaftsmitglied wahrgenommen zu werden. Dies ist für Nadia Wojcik so wichtig, da sie im »SCHLIMMSTEN Viertel der Stadt« wohnt, wie sie der Interviewerin in Interviewminute zwei mitteilt. Diese Einschätzung teilen auch andere Interviewpartner*innen, sodass angesichts dieses offensichtlich schlechten Rufs Nadia Wojcik den Gang in die Offensive wählt. Zudem identifiziert sie die Interviewerin mit typisch deutschem Namen als Nicht-Ortsansässige und stellt generell fest, dass in ihrem Viertel kaum Deutsche wohnen. Nadia Wojcik zeichnet nun im weiteren Interviewverlauf das Bild eines hochgradig devianten Viertels. Ihr zufolge treiben ausländische Banden ihr Unwesen; inzwischen sei »natürlich bei allen« schon eingebrochen worden. Ausländische Mütter schlügen auf dem Spielplatz ihre Kinder und überall sei Unordnung und Schmutz: »ja ist alles dreckig«. Vor diesem Hintergrund stellt Nadia Wojcik Angst als eine adäquate Gefühlsregel dar: Man »muss« Angst haben in diesem Viertel, und ihre »größte Angst ist diese Gesellschaft hier«. Wie lassen sich diese dramatisierenden, da totalisierenden Beschreibungen ihres Viertels deuten? Nur ein Teil davon kann m.E. auf Kriminalitätsfurcht im wörtlichen Sinn zurückgeführt werden (dazu oben). Vielmehr geht es hier um die Angst, nicht als normkonformes, anständiges und nicht-deviantes Gesellschaftsmitglied wahrgenommen zu werden. Der relevante Normbruch ist in diesem Fall allerdings nicht Nadia Wojciks eigenes deviantes Handeln, sondern der Normbruch in ihrem Umfeld, der auf sie abzufärben droht. Ihr eigener Normbruch kann nur darin bestehen, dass sie noch in diesem Viertel wohnt, sodass sie betont: »Wer wirklich Sicherheit möchte, muss unbedingt hier wegziehen«. Mit dieser massiven Abgrenzung von ihrem sozialräumlichen Umfeld verdeutlicht sie der Interviewerin, dass sie nicht als Teil

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dieser devianten Gesellschaft wahrgenommen werden will, sondern als ordentliches Gesellschaftsmitglied, das wegen ungünstiger Umstände noch dort wohnt. Eine mögliche symbolische Deklassierung versucht Nadia Wojcik somit abzuwenden. Dass sie gegenüber der Interviewerin Scham empfindet, in diesem Umfeld zu leben, legt sie dabei selbst recht explizit nahe, wenn sie sagt: »Manchmal schäm ich mich Leute zu mir in die Wohnung einzuladen, weil was denken die, wo lebe ich.« Das Interview stellt entsprechend eine Situation der Beschämung für sie dar und macht ihr ihre inferiore soziale Position nochmals deutlich, denn interviewt wird sie von einer Studentin, die in einem Stadtteil lebt, der für Nadia Wojcik nur besser sein kann. Verantwortete Elternschaft: gute Väter, gute Mütter Neben der Frage, ob man als leistungsstarkes, anständiges Gesellschaftsmitglied anerkannt wird, stellt sich im Kontext prekärer ökonomischer Rahmenbedingungen auch die Frage, ob die Norm der verantworteten Elternschaft eingehalten wird, d.h. ob man ein guter Vater und frau eine gute Mutter ist. Kann also das in westlichen Gesellschaften so wichtige Kindeswohl garantiert werden bzw. kann dies anderen vermittelt werden, dass es garantiert ist?44 Ich illustriere anhand von zwei Beispielen ‒ Cemal Demir und Nadia Wojcik ‒, inwiefern diese normativen Fragen in den Interviews relevant sind und mit Status- und Selbstunsicherheiten verbunden sind. Für Cemal Demir, Mitte 30, stellt sich diese Frage v.a. in Bezug auf sein Vermögen, die Familie zu ernähren. Scheitert er als Familienernährer, so kann er aus der Perspektive seiner Frau als Partner scheitern, was zum Bruch der Familie führen und damit das Kindeswohl gefährden kann. Dass angesichts seiner derzeitigen Arbeitssituation eine Trennung nicht ausgeschlossen werden kann, gar »wahrscheinlich« ist, macht Cemal Demir im Interview deutlich. Zudem hat er diese Erfahrung bereits in der Vergangenheit gemacht, wie er auf die Frage berichtet, ob er schon vom Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen betroffen war: CD: Ah, pff. Firma ist in die Krise gegangen. Dann, in der Familie war es halt nicht mehr so. Wo nichts mehr reinkommt, da kommen se auch gleich es wär nicht mehr wie früher. Dass man zusammenhalt und beißt und durchgeht- und dann kommt es zur Entscheidung, wo man da auseinanderische Wege geht. 44 Auch im Entwicklungsmuster stellte sich den Interviewpartner*innen die Frage, ob sie gute Eltern sind bzw. sein werden. Trotz der Ähnlichkeit lassen sich Unterschiede feststellen: Im Entwicklungsmuster ging es mehr um Rollen- und Handlungsunsicherheiten angesichts neuer Aufgaben. Im Existenzsicherungsmuster hingegen geht es um Statusunsicherheiten, was die Dimension sozialer Anerkennung bzw. Verkennung in den Vordergrund rückt.

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Darüber hinaus dokumentiert sich hier die ihm fehlende Anerkennung seiner (damaligen) Familie für seine Bemühungen in der Erwerbswelt und grundlegend für sein Vermögen, Leistung zu erbringen und die Familie zu ernähren. Denn anstelle von Rückhalt und dem Vertrauen, dass Cemal Demir in Zukunft wieder seiner Ernährerrolle nachkommt (»durchgeht«), erfolgt die Abwendung von ihm (»auseinanderische Wege geht«). Dass er als Ernährer und Familienvater gescheitert ist, wird ihm damit von anderen bestätigt, womit er in seinem Status verunsichert wird. Die hier verwendete anonyme Agency in einer persönlichen Thematisierung interpretiere ich als Ausdruck von Scham und Schmerz angesichts dieser Erfahrung.45 Doch geht es Cemal Demir mit Blick auf gute Vaterschaft nicht nur darum, ein Ernährer zu sein, sondern auch ein Erzieher, v.a. mit Blick auf die schulische Leistungsfähigkeit seines Kindes und damit dessen Möglichkeit des sozialen Aufstiegs (vgl. auch Niermann/Helfferich/Kruse 2010). So skizziert er als Beispiel für eine in seinen Augen gute Ausfüllung der Vaterrolle das abendliche Gespräch mit dem Kind über schulische Belange: »Ja mein Junge oder ja meine Tochter, wie war´s in der Schule? Wie gehts? Wie sind deine Noten? Wo kann ich helfen?«. Jedoch wird im Interview auch deutlich, dass die Ausfüllung der Ernährerrolle kaum Zeit lässt für die Erzieherrolle, und umgekehrt würde mehr Zeit für Familie und Kind das berufliche Engagement und damit die Ausfüllung der Ernährerrolle erschweren. Cemal Demir befindet sich damit in einem normativen Dilemma; gleich, wie er handelt, er kann seine Vaterrolle nicht zu seiner Zufriedenheit ausfüllen. Dass er auch gegenwärtig weder von seiner Frau noch vom Wohlfahrtsstaat die erhoffte Anerkennung für seine beruflichen Bemühungen erhält, verstärkt seine Statusunsicherheit und damit seine Selbstunsicherheit weiter, ob er richtig handelt. Auch Nadia Wojcik, Mitte 20, arbeitet sich im Interview an der Frage ab, ob sie ihrer Tochter eine gute Mutter ist. Dies thematisiert sie v.a. anhand dreier Dimensionen, die sie offenbar für zunächst nicht kompatibel erachtet mit gängigen Vorstellungen von Kindeswohl und verantworteter Elternschaft. Erstens geht es um das Timing der Elternschaft, das nach westdeutschem Konzept (Lippe/Bernardi 2006) ein zu frühes ist: Nadia Wojcik war unter 20, ohne Ausbildung bzw. Arbeit, alleinerziehend und unvorbereitet für die Sorge um ein Kind. Zweitens stellt sich ihr mit Blick auf das gegenwärtige sozialräumliche Umfeld die Frage, ob ein Kind in einem dermaßen als deviant dargestellten Stadtteil gut aufwachsen kann: »Ich hab Angst, dass mein Kind hier so aufwächst«. Drittens verhandelt Nadia Wojcik die Frage guter Elternschaft auch hinsichtlich ihres prekären sozioökonomischen 45 Auch Irina Tamm wählt eine depersonalisierte Thematisierungsweise, um die für sie schambesetzten Themen des sozialen Abstiegs und der Nicht-Akzeptanz in der deutschen Gesellschaft anzusprechen. Neben allgemeinen Äußerungen, etwa zur Situation von gesellschaftlichen Randgruppen, verwendet sie auch das Beispiel ihres Bruders, um von unverschuldetem Abstieg zu erzählen.

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Status: »Ich hab Angst, […] dass mein Freund die Arbeit verliert, dass ich die Arbeit verliere und dass mein Kind dann sieht wie wir Hartz IV-Empfänger sind. Dass wir dann so schlimme Vorbilder sind«. Zwar rückt Nadia Wojcik hier jeweils die Angst um ihre Tochter ins Zentrum, doch geht es m.E. in diesen Thematisierungen zentral um die Angst, nicht als gute Mutter wahrgenommen zu werden, und damit um ihren eigenen sozialmoralischen Status. Diesen aufzuwerten bemüht sie sich im Interviewverlauf in verschiedener Hinsicht. In Bezug auf die junge Mutterschaft z.B. stellt sie ihre Kompetenz dar, sich Hilfe zu suchen und diese anzunehmen (vgl. auch Kap. 6.4.1): NW: Dann bin ich wirklich zum Jugendamt gegangen und ich hab gesagt, »ich brauch jetzt Hilfe, tut mir leid, bevor ich mein Kind da verwesen lasse oder was es alles so gibt auf der Welt ja«, hab ich mir Hilfe geholt und das fand ich überhaupt nicht schlimm, die haben mir so viel beigebracht. Ein vermeintlicher Makel als Mutter, der erkennbar wird, indem sie sich davon abgrenzt (»überhaupt nicht schlimm«), wendet sie im Ergebnis als Bestätigung dessen, dass sie ihrer Verantwortung gerecht wird: Die Initiative geht von ihr aus und das Ergebnis evaluiert sie als positiv. Anders formuliert: Es handelt sich um eine aktive und effektive Ich-Agency einer verantwortungsbewussten Mutter. In Bezug auf den aktuellen Wohnort betont sie zum einen, dass sie ihre Tochter dort »niemals alleine gehen lassen« würde, auch nicht in den Kindergarten, der direkt um die Ecke liegt. Ihre Sorge als verantwortungsbewusste Mutter verdeutlicht sie also durch die Darstellung eines der Bedrohungslage angemessenen Sicherheitsmanagements. Zum anderen macht sie aber auch klar, dass dies nur die zweitbeste Lösung sein kann: die beste wäre, in ein als sicher geltendes Dorf wegzuziehen. Darüber hinaus grenzt sie sich von den Müttern im Viertel ab, die ihre Kinder schlagen: »Man sieht ja auch die Mütter, wie sie ihre Kinder am Spielplatz schlagen oder so und du kannst nicht eingreifen, weil du dann Angst hast, selbst von denen fertig gemacht zu werden ja.« Kinder zu schlagen gilt heutzutage als veraltete, moralisch verwerfliche Erziehungsmethode. Dieser Bewertung schließt sich Nadia Wojcik an, wenn sie dieses Handeln eigentlich unterbinden will. Auch mittels Abwertungen ›Anderer‹ betreibt Nadia Wojcik im Interview Statusarbeit, mit der sie auf die gesellschaftliche Responsibilisierung als Mutter antwortet und sich bemüht, sich als gute Mutter darzustellen. Bilanzierend lässt sich festhalten, dass sich die Bedeutung ökonomischer Prekarität im Hinblick auf Unsicherheit nur dann gänzlich verstehen lässt, wenn neben ihren materiellen Dimensionen auch die symbolischen berücksichtigt werden, die ebenfalls zentral für die Existenz als soziales Wesen sind. Die symbolische Dimension von Status- und Selbstsicherheit bzw. ihre Infragestellung wird in der arbeits- und industriesoziologischen Prekarisierungsforschung allerdings nur am Rande thematisiert, etwa wenn festgestellt wird, dass neben der im Fokus stehen-

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den erwerbsarbeitsbezogenen Prekarisierung »auch der soziale Abstand zur angestrebten ›Normalität‹« mitzuanalysieren ist, der »eine Mischung aus Verunsicherung, Scham, Wut und Resignation erzeugt« (Brinkmann et al. 2006: 58, vgl. auch Dörre 2009: 53). Auf dieses Manko hat auch die geschlechtersoziologische Prekarisierungsforschung hingewiesen, die betont, dass die Krise der Arbeit auch mit einer Krise erwerbsfokussierter Männlichkeit und damit in Verbindung stehender Weiblichkeit einhergeht (z.B. Koppetsch/Speck 2015, Wimbauer/Motakef/Teschlade 2015). Diesen Gedanken habe ich in dieser Analyse um die Kategorien Väterlichkeit und Mütterlichkeit erweitert. Risiko- bzw. sicherheitstheoretisch betrachtet wurde in den Analysen zur Statusunsicherheit die Bedeutung sozialer Normen als Unsicherheitsobjekte verdeutlicht (dazu Kap. 2.3.2). In Weiterführung der bisherigen empirischen Analysen in Kapitel 6 zu Doing Risk, Doing Morality und Doing Identity kann hier aufgezeigt werden, dass Moral- und Identitätsarbeit anlassbezogen sind und mit anderen Dimensionen von Unsicherheit, hier materiellen Existenzängsten, in Verbindung stehen. Dazu trägt auch die folgende Analyse bei, die die im Existenzsicherungsmodus typischen Abwertungen (Doing Difference) bündelt und damit eine weitere Strategie der Statussicherung darstellt.

Verkannte Leistung, bevorzugte ›Andere‹ und ein unfähiger Staat Bezüglich der typischen Abwertungen gibt es einige Parallelen zu denjeningen in den vorangegangenen Mustern: Auch hier geht es zentral um ein ökonomistisches Othering entlang von individueller Leistung. Im Unterschied zu den vorigen Mustern sind die entsprechenden Thematisierungen hier aber sehr viel stärker ausprägt innerhalb der jeweiligen Interviews und zeigen sich zudem in allen Fällen, die ich dem Existenzsicherungsmodus zugerechnet habe. Ein oder gar der Grund hierfür liegt sicherlich in der Statusarbeit, die über den symbolischen Tritt nach unten vollzogen wird. Die Interviewpartner*innen können sich hierüber versichern, dass sie in der gesellschaftlichen Statushierarchie (noch) nicht ganz unten angekommen sind. Denn sie selbst, das machen sie deutlich, entsprechen nicht dem negativen Bild von Armen und/oder Ausländer*innen, das man von ihnen haben könnte. Sie betonen vielmehr ihre Leistung, darunter ihre Arbeitsleistung, die ihnen ermöglichen soll, ein einfaches Leben der Anständigen zu führen. Cemal Demir macht diese Anstrengung bspw. mit der Wahl von Kampf-Metaphern besonders deutlich: »Man muss um sein Geld kämpfen, um seinen Job kämpfen«. Gemeinsam ist den Thematisierungen auch, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Sinne von Prekarisierung als sich verschlechternd wahrgenommen werden und damit Teilhabe an Erwerbsarbeit und ein eigenständig finanziertes Leben erschweren: Es wird eine hohe Arbeitslosigkeit beklagt, die Zunahme von Leiharbeit anstelle von Normalarbeit und ein Rückgang der Löhne. So konstatiert Cemal Demir: »Auch

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diejenige, die GROß ackern, kriegen nicht mehr des Geld, was sie an Schweiß runna geschmissen ham«. Leistung wird demnach nicht mehr angemessen honoriert, und insgesamt schwindet auch die »Zukunftsperspektive«, wie Irina Tamm es ausdrückt. Doch wird aus Sicht der Prekären im Existenzsicherungsmodus nicht nur ihre eigene Leistung verkannt; schlimmer: ›Andere‹, die keine Leistung erbringen, werden honoriert und vom Wohlfahrstaat gar bevorzugt. Diese ›Anderen‹ wurden bereits im Verlauf dieses Kapitels angesprochen: Arbeitslose, Arbeitslosengeld II-Empfänger*innen, Ausländer*innen, die sich – dem Bild der Interviewten folgend – »eben den ganzen Tag eben vorn Fernseher setzen und und sich dafür eben bezahlen lassen von andern, die arbeiten gehen« (Conny Müller). Fernsehschauen steht in diesem Zitat paradigmatisch für die Leistungsverweigerung und Nicht-Aktivität, die diesen ›Anderen‹ zugeschrieben wird. Teils werden diese ›Anderen‹ zudem als deviant charakterisiert: Sie unterlassen nicht nur das moralisch Richtige, sondern werden darüber hinaus kriminell, vorrangig zwecks Gelderwerbs. Auch bezüglich Kriminalität lässt sich in den Interviewthematisierungen ein Niedergangsnarrativ herausarbeiten. Zum einen nehme in quantitativer Hinsicht kriminelles Verhalten zu, wie die Interviewpartner*innen sagen: »DIEBstahl ist mehr geworden. EINbrüche sind mehr geworden. (2) Die STRAßen sind unsicher. Es is unsicher einfach.« (Cemal Demir) Zum anderen stellen sie eine qualitative Veränderung dar: »Es wird auch für 15 Euro gemordet« (Nadia Wojcik). Trotz dieser für die Interviewpartner*innen offensichtlichen Leistungsverweigerung und Devianz der ›Anderen‹ könnten diese nun ein gutes, gar ein besseres, da sorgloseres Leben führen als sie selbst, die nur mit größter Mühe einen bescheidenen Lebensstandard halten können. In den Interviewthematisierungen wird entsprechend ein großes Ungerechtigkeitsempfinden deutlich, dass »die sich hier einnisten in Anführungsstrichen sag ich mal, und dann unser Sozialsystem abschöpfen, was abzuschöpfen geht, also dass wir am Ende dafür bezahlen, dass die gut hier leben können« (Conny Müller). Die ›Ausschöpfung‹ des Wohlfahrtsstaates stellt nun einerseits die Zuspitzung der Hinterhältigkeit der ›Anderen‹ dar. Andererseits verweist dieses Zitat auf eine weitere typische Abgrenzung im Existenzsicherungsmuster, nämlich die Abgrenzung nach oben von einem Sozial- und Rechtsstaat, dessen Leistungsfähigkeit infrage steht. Denn statt gegen die Ungerechtigkeit anzugehen und für die Durchsetzung einer gerechten Ordnung zu sorgen, verstärkt der Staat diese nur noch und steht damit selbst für eine verkehrte Ordnung. Der Sozialstaat unterstütze nämlich erstens, wie bereits deutlich wurde, die ›Falschen‹. Ihnen werde die staatliche Unterstützung gar »hinten und vorne reingeschoben« (Gaby Enge). Sie werden also bevorzugt und können zudem weiterhin inaktiv bleiben. Demgegenüber sehen sich die Interviewpartner*innen als anständige Leistungserbringer*innen sowie als etabliertere Ausländer*innen benachteiligt. Zweitens bevorzuge der Sozialstaat nicht nur die unten, sondern auch die

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oben. Dies illustriert Irina Tamms Äußerung hinsichtlich Wirtschaftskrisen: »An die Kleinen wird es ja wird dann ja irgendwie am wenigsten gedacht«. Auch Cemal Demir als Kleinunternehmer sieht sich gegenüber großen Unternehmen benachteiligt, was sich prägnant in seiner Feststellung »Kleiner Fisch bleibt klein und wird immer aufen Kopp gehauen« zeigt. Drittens beklagen die Interviewpartner*innen im Existenzsicherungsmuster nicht nur eine sozialstaatliche Ungerechtigkeit in der nationalen Politik, sondern auch in der internationalen. Symbolisch stehen hierfür die Zahlungen an Griechenland, die als Schaden für Deutschland und falsche Prioritätensetzung angesehen werden: »Wir haben selber kein Geld, aber helfen noch den anderen, Griechenland und was weiß ich wem, ja und verschulden uns noch mehr und mehr und mehr. Und irgendwann mal sehen wir so nackig aus wie Griechenland.« (Nadia Wojcik) Anstelle dieser »Einmischung« in anderer Länder Angelegenheiten, um eine zentrale Semantik in den Interviews aufzugreifen, wünschen sich die Interviewpartner*innen eine Fokussierung der begrenzten Ressourcen auf die ›eigene‹ Bevölkerung. Dementsprechend wird in der Bilanz der Sozialstaat nicht als Sicherheitsnetz thematisiert, sondern als Ungerechtigkeitsverstärker.46 Ähnliches gilt für den Staat als Rechtsstaat. Der von den Interviewpartner*innen wahrgenommenen Zunahme und Verschärfung der Kriminalität hält der Staat wenig entgegen und vermag es auch in dieser Hinsicht nicht, die Anständigen zu unterstützen. So wissen die Interviewpartner*innen einige Beispielgeschichten zu erzählen, anhand derer sie die mangelnde Funktionsfähigkeit des Rechtstaats verdeutlichen. Nadia Wojcik etwa bemängelt einen fehlenden Aufklärungswillen der Polizei in Bezug auf den Einbruch in ihrem Auto: »Die haben nicht mal fotografiert, die ham gesagt ›hm jaaa, das sind Profis, da finden wir keine Abdrücke‹ und da haben die halt nichts gemacht«. Aus diesen und anderen Geschichten ziehen die Interviewpartner*innen die Quintessenz, dass die Polizei »sowieso nicht helfen« kann und sie auf sich alleine gestellt sind. Auch das Justizsystem wird hinsichtlich einer unzureichenden Strafverfolgung und zu milder Strafen kritisiert; zudem praktiziere es Täter- statt Opferschutz. Die daraus erwachsende Ungerechtigkeit veranschautlicht Gaby Enge mittels einer Essens-Metaphorik: »Als Opfer bist du 46 Dieses Narrativ der Benachteiligung der Anständigen und Bevorzugung der ›Anderen‹ arbeitet auch Arlie Russell Hochschild (2016) in ihrer Studie zu Unterstützer*innen der USamerikanischen Tea Party heraus. Sie bezeichnet dieses Grundmuster als »deep story«, das sich empirisch in verschiedenen Variationen findet, und fasst es in folgendem Bild zusammen: Man steht mit Seinesgleichen in einer Warteschlange, die einen Berg hochführt; das Ziel ist die Realisierung des amerikanischen Traums. Aber dann drängeln sich ›Andere‹ vor und drängen einen selbst zurück. Und der Staat? Der hat dies gar gefördert und diese Drängler*innen bevorzugt ‒ und gibt für sie die Steuergelder aus, die man selbst eingezahlt hat. Nun verlangt er auch noch Mitgefühl. Obwohl man eine gute Person ist, ist es nun genug: Das ist ungerecht. Man selbst hat die ganzen Jahre gearbeitet, ebenfalls gelitten und niemals um Hilfe gebeten.

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GANZ ganz weit hinten in der Futterkrippe und den Tätern schmieren se Honig ums Maul.« Während den Opfern in dieser Metapher nur die Essensreste bleiben, werden die Täter bevorzugt behandelt und verwöhnt. Im Ergebnis misstrauen die Interviewpartner*innen im Existenzsicherungsmodus dem Wohlfahrtsstaat, der in ihrer Wahrnehmung nicht ihre Leistung, sondern die Hinterhältigkeit ›Anderer‹ honoriert. Obwohl sich Leistung für sie nicht lohnt, da sie entgegen dem meritokratischen Mythos keinen Aufstieg ermöglicht, sondern nur den Abstieg verhindert, bleibt den Interviewpartner*innen in ihrer Darstellung nichts anderes übrig, als weiterhin auf ihre eigenen Anstrengungen zu setzen, denn Unterstützung erwarten sie nicht. Insbesondere bei den Selbstständigen unter ihnen handelt es sich daher im doppelten Sinne um ein »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007) wider Willen. Trotzdem halten sie an der symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit fest, wenn sie die gleichen leistungsbezogenen, ökonomistischen Abwertungen nach unten weitergeben. Daraus resultieren vielfältige Emotionen, wie in diesem Kapitel deutlich wurde: die hier im Interesse stehende Abstiegsangst in ihren materiellen und symbolischen Dimensionen, die Scham, gesellschaftlichen Normen nicht entsprechen zu können, aber auch Ungerechtigkeitsgefühle angesichts der diagnostizierten Übervorteilung leistungsverweigernder ›Anderer‹ (vgl. auch Brinkmann et al. 2006: 58, Dörre 2009: 53, Flecker/Krenn 2004). Anschlussfähig zum Misstrauen in die Politik ist die in der Literatur beschriebene Krise der politischen Repräsentation (ebd.)

7.6

Rentenalter: Ruhe und Ordnung

Die Repräsentant*innen des Rentenalters sind weitgehend bereits in Rente und decken hierbei das Altersspektrum von Anfang 60 (Werner Biermann als Frührentner) bis Mitte 80 ab (Friedrich Huber). Grenzfälle stellen in diesem Muster Gerda Hofmann und Heidi Flieder dar, die beide Anfang 60 sind und noch im Erwerbsleben stehen, aber bereits den Statuswechsel von der Erwerbstätigen zur Rentnerin im Blick haben (Gerda Hofmann) bzw. aufgrund einer schweren Erkrankung auf dessen Zuerkennung hoffen (Heidi Flieder).47 Die Interviewpartner*innen wohnen alle in der eigenen Wohnung, teils zusammen mit den (Ehe-)Partner*innen (Berta 47 Heidi Flieder ist Anfang 60 und aufgrund einer chronischen Erkrankung zum Interviewzeitpunkt seit einem Jahr krankgeschrieben. Ihre Interviewthematisierungen kreisen um die Frage, ob sie als erwerbsunfähig anerkannt wird und in Rente gehen kann oder in ihrem Alter aufs »Arbeitsamt« muss, um in einen anderen Beruf vermittelt zu werden. Heidi Flieders Angst dreht sich entsprechend um die Frage: »Wie schätzen mich denn die Leute EIN?«. Deutlich wird dabei die soziale Dimension des Statuswechsels: Es sind andere Personen, die darüber befinden, ob Heidi Flieder in den Ruhestand gehen kann, den sie aus ihrer eigenen Sicht verdient hat. Sie sei trotz Widrigkeiten wie einem strukturell bedingten Arbeitsplatzverlust immer arbeiten gegan-

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Wagner, Friedrich Huber, Gustav Nehm, Heidi Flieder, Wilhelm Krause), teils nach der Scheidung alleine (Erika Steiner, Gerda Hofmann, Werner Biermann). Bei den Interviewpartner*innen in der Lebensphase des Rentenalters zeigt sich eine Konzeption des guten Lebens, die sich von denjenigen in den zuvor vorgestellten Mustern unterscheidet und noch am ähnlichsten zum Stabilitätsmuster ist: Es geht nicht mehr darum, voranzukommen, sondern das Erreichte bestmöglich zu erhalten, denn der alternde Körper, dessen Vergänglichkeit immer deutlicher wird, spielt hierbei in materieller wie symbolischer Hinsicht eine bedeutende Rolle (vgl. auch Keller/Meuser 2017). Auf Basis der vorliegenden Interviews lassen sich nun zwei spezifische Sicherheitskonzeptionen rekonstruieren, die sich ‒ wie die beiden Muster in der Lebensphase der Postadoleszenz ‒ teilweise in einem Fall überlagern können, auch wenn jeweilige Schwerpunkte deutlich werden. Im ersten Muster bedeutet Sicherheit Ruhe im Sinne eines lebenswerten Rentenalters, in dem die Interviewpartner*innen über eine ausreichend gute körperliche Verfassung verfügen, um ihr bisheriges Leben weitgehend beibehalten zu können und nicht zu vereinsamen. Das zentrale Angstthema ist in diesem Kontext eine mögliche Pflegebedürftigkeit, die mit »Dahinvegetieren« (Gerda Hofmann) statt Leben sowie Abhängigkeit und Hilflosigkeit statt Eigenständigkeit verbunden wird (Kap. 7.6.1). Im zweiten Muster, das die soziokulturellen und symbolischen Dimensionen von Sicherheit fokussiert, meint Sicherheit Ordnung im Sinne des Erhalts der alten Ordnung. Thematisierungen zu (meist jugendlicher) Devianz in verschiedener Ausprägung werden von den Interviewpartner*innen genutzt, um das Bild einer anomischen, un-ordentlichen Welt zu zeichnen, die die alten Werte ‒ d.h. die Werte und den Wert der ›Alten‹ ‒ infrage stellt. Dabei geht es allerdings nicht nur um Unsicherheit; Ungerechtigkeit, gar Empörung spielen die wichtigere Rolle (Kap. 7.6.2). Dass noch weitere Muster im Rentenalter rekonstruiert werden können, ist wahrscheinlich, denn mit meinem Sample decke ich bestimmte soziale Positionen und damit verbundene Perspektiven nicht ab.48 Dies betrifft erstens die Heimbevölkerung, die bereits im Ausgangsdatenmaterial außen vor blieb (s. Kap. 4.1). Zweitens, und das betrifft vermutlich v.a. meine Auswahl von Interviews aus dem Ausgangsmaterial, sind mit Ausnahme von Erika Steiner sozioökonomisch prekär lebende ältere Menschen nicht vertreten.49 Möglicherweise gibt es also auch in der Lebensphase Alter einen Prekaritätstypus (Stichwort: Altersarmut), den ich nicht gen, um sich im Alter sagen zu können: »Du hast was geLEIStet, Du hast dem Staat nicht auf der Tasche gelegen.« 48 Hinweise dafür bietet die qualitative Studie von Denninger et al. 2014 zum »Leben im Ruhestand«, in der verschiedene Typen herausgearbeitet werden, wenn auch ohne den mich interessierenden Bezug zu (Un-)Sicherheit und Angst. 49 Die Interviewpartner*innen verfügen als Alleinlebende oder zu zweit Lebende über Haushaltsnettoeinkommen zwischen 1000 und 3500 Euro und scheinen damit zufrieden. Die Rente er-

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rekonstruieren konnte (zur Altersarmut speziell bei Frauen s. Götz 2019). Ebenfalls meinem Sampling geschuldet waren bzw. sind drittens die hier vertretenen älteren Frauen alle berufstätig, womit der Übergang ins Rentenalter und der damit verbundene Statuswechsel anhand des Renteneintritts verknüpft sind. Wie sich dieser Wechsel in eine neue Lebensphase bei Nichterwerbstätigen ‒ auch nichterwerbstätigen Männern (vgl. auch Gildemeister/Robert 2008: 325ff.) – gestaltet, muss hier ebenso offenbleiben wie die Frage, ob sich innerhalb der Lebensphase des Rentenalters Unterphasen rekonstruieren lassen. Wie im Folgenden deutlich wird, gibt es in den Interviews Hinweise darauf, dass unterschiedliche biograpische Perspektiven relevant sind: der Statuswechsel zu Beginn der Rentenzeit und das Einfinden in eine neue Lebensphase, die Perspektive in die Zukunft auf einige weitere Lebensjahre ‒ für Werner Biermann, Anfang 60, sind es »die nächsten zwanzig Jahre« ‒ und schließlich eine biographische Perspektive, die sich am (mehr oder weniger zufriedenen) Ende des Lebens wähnt und den Blick nicht in die Zukunft, sondern eher in die Vergangenheit des gelebten Lebens richtet. So äußert Gustav Nehm, Anfang 80, bspw.: »Unser Leben ist gelebt. Unsere Tage sind gezählt«. Im Interview mit Heidi Flieder, einer früheren Krankenschwester, wird noch eine weitere Verschiebung der Perspektive deutlich wird. Sie berichtet von Patient*innen, die sterben wollen, weil sie sagen, »dass sie ihr Leben hinter sich« haben. Diese Differenzierung von Unterphasen legt auch die in der Literatur anzutreffende Unterscheidung des dritten Lebensalters der ›jungen Alten‹ vom vierten Lebensalter der ›alten Alten‹ nahe.

7.6.1

Ruhe: körperliche Einschränkungen und ihre Folgen

Was einen wohlverdienten Lebensabend beeinträchtigt oder verunmöglicht Im Ruhemuster steht im Vordergrund, den wohlverdienten Ruhestand bestmöglich zu »genießen« (Erika Steiner) und möglichst wenig an Lebensqualität einzubüßen. Man möchte sich nun nicht mehr etwas »aufbauen« und viel »erleben« wie junge Erwachsene, sondern hat etwas aufgebaut und sich im Leben eingerichtet, wie Heidi Flieder betont: »Wir jetzt mit über 60 Jahren, ich hab alles in meiner Wohnung, ich kauf mir auch nichts mehr neu«. Ähnlich formuliert dies auch Gustav Nehm: Er und seine Frau haben »immer gearbeitet« und »immer gespart«, um sich ein eigenes Haus zu bauen und auch im Alter ein »sicheres Wohnen« zu haben. Als Schreckensszenario erscheint entsprechend ein Umzug im Alter. Trotz der Präferenz von Kontinuität und Sesshaftigkeit bzw. der Negativwertung von Wandel, die in diesen Beispielen deutlich wird, geht es im Ruhemuster keineswegs um Immobilität: Aufbauend auf dem »Fundament« (Berta Wagner) ihrer Wohnung und ihrer scheint ihnen im Vergleich zu jüngeren Generationen noch als gewiss. Erika Steiner verfügt über 500 bis 1000 Euro, die sie teils aus einem Gelegenheitsjob bezieht.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

langjährigen Partnerschaft lassen sich Wanderungen, Reisen, Besuche bei den Kindern usw. unternehmen, solange es die körperliche Verfassung zulässt. Damit ist ein zentraler Unterschied zum Stabilitätsmuster beschrieben, denn den Vertreter*innen des Ruhemusters geht es nicht darum, den Status Quo zu kontinuieren. Sie haben in der Regel schon Erfahrungen mit körperlichen Gebrechen gemacht, die sie einschränken, ihnen die Begrenzung der Möglichkeiten und auch die eigene Vergänglichkeit aufzeigen (vgl. auch Keller/Meuser 2017). Gustav Nehm und seine Frau bspw. hatten sich vorgenommen, im Ruhestand die Ersparnisse dafür zu verwenden, es sich ›schön‹ zu machen und Essen zu gehen oder in Urlaub zu fahren. »Aber man macht es auch nicht mehr, weil es auch nicht mehr so geht«, wendet Gustav Nehm ein. In den Fokus rückt daher anstelle der Kontinuierung das Motiv der Ruhe, wonach Einschränkungen akzeptabel sind, solange sie die alltägliche Lebensführung der »friedliche[n] Rentner« (Erika Steiner) nicht gänzlich beeinträchtigen und bestimmte Aktivitäten nicht verunmöglichen. So schildert Friedrich Huber seine Erleichterung darüber, dass nach einem Herzinfarkt »Ruhe eingekehrt ist« und »eben keine Besonderheiten aufgetreten sind«. Die Positivwertung von Ruhe zeigt sich auch in der Art und Weise der Bewertung des eigenen Wohnorts als primärem Ort des Alltags. Dafür könnten prinzipiell verschiedene Merkmale herangezogen werden. Jedoch steht hier dessen Ruhe im Vordergrund. Heidi Flieder etwa bezeichnet ihren Wohnort als »so ruhig« und als »meine ruhige Insel da draußen«. Als zentrale Frage stellt sich für die Interviewpartner*innen im Ruhemuster nun, wie sie ihre weiteren Lebensjahre verbringen werden, d.h. ob sie weiterhin ein lebenswertes Leben führen können oder »dahinvegetieren« (Gerda Hofmann) müssen. Medizinische und gesundheitliche Fortschritte werden dabei durchaus ambivalent bewertet, wie die Interviewpartnerin Anne Strauß, selbst erst Ende 30, prospektiv formuliert: »Länger alt sein zu müssen oder länger alt sein zu dürfen, ((lacht auf)) das ist dann die Frage, ne?«. Diese in Anlehnung an Shakespeare formulierte Frage lässt sich auch sicherheitstheoretisch reformulieren: Blinkert (2016) zeigt, dass medizinische und gesundheitliche Fortschritte in säkularisierten Gesellschaften nicht nur zu einem späteren Tod und Sterben, sondern auch zu einem längeren Sterben geführt haben, was spezifische Ängste hervorbringt. Zentral ist dabei nicht der Tod als solcher, sondern die Art und Weise des weiteren Alterns und Sterbens, die wesentlich sozial bedingt ist.50 Was sind nun die typischen Ängste, die den Lebensgenuss im wohlverdienten Ruhestand einschränken oder verunmöglichen?

50 Vgl. dazu auch Douglas und Wildavsky, die zur Angst vor Sterben und Tod schreiben: »Perhaps people are not so much afraid of dying as afraid of death without honor. In addressing questions of acceptable risk without considering their social aspects, we could be speaking to the wrong problems.« (1982: 6)

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Gesellschaft in Angst?

Verlust von körperlichen Fähigkeiten als Verlust von Eigenständigkeit und Mobilität Gesundheit wird im Rentenalter noch wichtiger als im Erwachsenenalter, da sie immer weniger fraglos gegeben ist, aber gleichzeitig die Basis für eine eigenständige Lebensführung darstellt. Für die Interviewpartner*innen ist deswegen »das Wichtigste, dass man gesund ist, dann is alles machbar« (Berta Wagner). Machbarkeit steht hier für Handlungsfähigkeit, die im Falle von Gesundheit totalisiert wird. Entsprechend kann man aus dem Gesundheitszustand »viel ableiten« (Gustav Nehm) in Bezug auf die allgemeine Lebensqualität. Zentrales Angstthema ist daher der (weitere) Verlust von körperlichen Fähigkeiten als (weiterer) Verlust der verbleibenden Eigenständigkeit und Mobilität.51 Als ursächlich hierfür werden verschiedene Ereignisse angesehen, die weitgehend im Schicksalsmodus erfahren werden: Man kann hier »nur hoffen« (Wilhelm Krause), verschont zu bleiben. Bei diesen Ereignissen handelt es sich v.a. um schwere Krankheiten und Unfälle verschiedener Art. Die Teilhabe am Straßenverkehr spielt hier eine wichtige Rolle und wird im Alter stärker zu einer Gefahr, während sie für die jüngeren Erwachsenen im Stabilitätsmuster auch noch eine Quelle von Lebensqualität darstellt (Kap. 7.5.2). Aber auch altersbedingte Stürze werden thematisiert. Ebenso können Überfälle und Übergriffe in der Darstellung der Interviewpartner*innen ihre körperliche Versehrtheit weiter steigern. Werner Biermann bspw., der sich noch von einer Hüft-Operation erholt, äußert, dass er von Jugendlichen angegangen werden könnte, die ihm die ›Krücke weghauen‹ und ihn zu Fall bringen. Bezüglich der Erlebnisqualität des Verlusts von körperlichen Fähigkeiten ist ein Kontinuum zu beobachten, das von Einschränkungen hin zur Verunmöglichung dessen reicht, was ein gutes Leben ausmacht. Gewisse Einschränkungen gelten als noch erträglich, solange sie die Lebensführung nicht zur Gänze infrage stellen, und werden mit Blick auf das Alter normalisiert und entproblematisiert. Dass nun bspw. die Medikamenteneinnahme den Tagesablauf strukturiert, bedeutet eine Einschränkung in der Lebensplanung, wird aber auch akzeptiert: »Gott, man muss dann halt auch danach leben.« (Gustav Nehm) Diese Entproblematisierung scheint zu greifen, solange ansonsten eine relativ eigenständige Ausführung der alltäglichen häuslichen Verrichtungen erfolgen kann: »Ich sage immer, solange ich noch aus dem Bett herauskomme, meine Frau, die kann noch kochen. Wir machen den Haushalt zusammen. Die Tochter, die hilft uns zwar schon viel, aber im Großen und Ganzen sind wir zufrieden.« (Gustav Nehm) 51 Kognitive und psychische Einschränkungen, etwa Demenz, werden gegenüber den rein körperlichen Einschränkungen kaum thematisiert. Werden sie aber thematisiert, so findet sich eine weitere Angst, die die oben dargestellten Ängste ergänzt: kein zurechnungsfähiges Gesellschaftsmitglied mehr zu sein.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Neben der Bewältigung der alltäglichen Lebensführung kann es auch um mehr gehen, nämlich um die Gestaltung eines schönen Lebens. Das illustriert Heidi Flieder, wenn sie ihre berufsbedingten chronischen Schmerzen (»Abnutzungserscheinungen«) gegenüber der Interviewerin anschaulich beschreibt, etwa dass sie kaum mehr einen Reißverschluss schließen könne, aber auch meint: »Damit muss man leben«. Dies impliziert, dass man damit leben kann, wenn man nur will ‒ was Heidi Flieder will: »Die Priorität Nummer EINS sin- für mich is, dass die Sonne scheint heute, un=un schönes Wetter is und es kommt Wochenende und ich fahr mit meinem Mann mal Fahrrad und wir fahrn mal irgendwo hin, DAS is für mich wichtig jetzt; ja? Und nicht hier meine Erkrankung da.« Heidi Flieder stellt hier dar, wie sie trotz ihrer Schmerzen ein angenehmes Leben führen kann, das sich durch Aktivität, Mobilität, soziale Einbindung und implizit durch Unabhängigkeit auszeichnet. Doch werden von den Interviewpartner*innen auch körperliche Einschränkungen genannt, mit denen man nicht mehr (gut) leben kann, die »dann noch dazu komm[en]« (Friedrich Huber) zu den ohnehin vorhandenen Einschränkungen. Dies sind etwa Krebs und Herz-KreislaufErkrankungen sowie unfallbedingte Behinderungen. Denn diese verunmöglichen die relative Eigenständigkeit in der Lebensführung und damit eine gewisse Mobilität. Auch werden sie mit »Hilflosigkeit« (Friedrich Huber) verbunden, die das Gegenstück zu Machbarkeit und Handlungsfähigkeit darstellt. Sinnbild dafür ist die Pflegebedürftigkeit, die mit Ängsten verschiedener Art verbunden ist.

Pflegebedürftigkeit und damit verbundene Ängste Auch Pflegebedürftigkeit gilt es nicht nur als rein medizinisches oder biologisches Phänomen zu betrachten. Um die großen Ängste zu verstehen, die damit verbunden sind, ist der Blick vielmehr auf ihre sozialen Folgen zu richten, die wiederum von spezifischen historischen, kulturellen, strukturellen und sozialpolitischen Bedingungen geprägt sind. Dies wurde bereits bei den erwachsenen Kindern der potenziell Pflegebedürftigen deutlich, v.a. im Entwicklungsmuster. Was steht nun für die potenziell Pflegebedürftigen selbst auf dem Spiel? Zentral in Bezug auf die Angst vor Pflegebedürftigkeit scheint erstens die eben analysierte Verkehrung von relativer Eigenständigkeit in Abhängigkeit: »Da ist man dann abhängig von anderen Leuten, also das ist für mich auch irgendwie das Schlimmste« (Erika Steiner). Mit der Angst vor Abhängigkeit ist auch die Angst vor Autonomieverlust verbunden. Zweitens ist bedeutsam, von wem man abhängig ist und gepflegt wird. Dies zeigt sich bspw. darin, dass der soziale Kontext die erste Assoziation der Interviewpartner*innen zum Thema schwere Erkrankung und Pflegebedürftigkeit im zweiten Teil des Interviews ist, so etwa bei Berta Wagner: »Ähm kann ich nur sagen also des is schade, dass man heut so wenig auf Familie achtet; nich? Heute

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Gesellschaft in Angst?

leben natürlich die Menschen auch mehr in den Städten, der- der Familienclan is eben dann nich mehr da. Nich?«. Die (Ehe-)Partner*innen werden dabei kaum als potenziell Pflegende wahrgenommen, da sie ebenfalls schon alt sind und einen daher nicht »herumheben« können (Gustav Nehm). In den Fokus rücken die Kinder. Deren Sorge-Arbeit stellt in Zeiten von Urbanisierung, hoher berufsbedinger Mobilität (»weil man ja jetzt mit der Arbeit reist«, Berta Wagner) und der »multilokalen Mehrgenerationenfamilie« (Bertram 2002) aber keine sichere Option dar. Ganz im Gegenteil schließt Berta Wagner als Extremfall in dieser Hinsicht gar aus, dass ihre beruflich mobile Tochter sie pflegen wird, obwohl das Berta Wagners Präferenz wäre: »Es wäre viel schöner also das in der Familie aufzufangen; aber diese Zeit is vorbei«.52 Sie stellt sich stattdessen darauf ein, von »sozialen Einrichtungen« aufgefangen zu werden, die sie ‒ ebenso wie andere Interviewpartner*innen ‒ mit einem Mangel an persönlicher Zuwendung verbindet. Denn dort fehlt »diese Aufwendung, Zuwendung, die Liebe, wie man das in der Familie machen kann.« Was sich hierin zeigt, ist die Angst, nicht mehr als Mensch behandelt zu werden, sondern depersonalisiert zu werden. Angesichts dieser Perspektive lehnen Interviewpartner*innen lebenserhaltende Maßnahmen ab und würden bspw. lieber »in ne Gletscherspalte fallen« (Berta Wagner). Damit verbunden ist auch die Angst vor Vereinsamung: Auf professionelle Pflege angewiesen zu sein, versinnbildlicht für die Interviewpartner*innen, wenig oder schlechten Kontakt zu ihren Kindern und Enkelkindern zu haben, der ihnen aber sehr wichtig ist.53 Dies liegt, drittens, auch an der Angst, anderen durch die eigene Pflegebedürftigkeit zur Last zu fallen. Mit dem Bild der Gletscherspalte verbindet Berta Wagner nämlich auch ein »bin ich weg, stör ich keinen«. Diese Angst zu stören bezieht sich v.a. auf die pflegenden Angehörigen: »Denen will man es dann auch nicht zumuten, dass sie einen pflegen« (Gustav Nehm). Zu dieser pflegerischen Dimension kommt eine finanzielle hinzu: Die Kinder sollen auch nicht finanziell belastet werden (Heidi Flieder). Entsprechend werden, viertens, finanzielle Probleme als Folge von Pflegebedürftigkeit thematisiert, die Bezahlbarkeit von Pflegedienstleistungen scheint für 52 Vgl. dazu die Perspektive der mittleren Generation in Kap. 7.5.1. 53 Die hohe Bedeutung der Beziehungsqualität in den Generationenbeziehungen zeigt sich bereits in den Intervieweinstiegspassagen: Die dort gestellten standardisierten Fragen zum Haushalt wurden insbesondere von den Repräsentant*innen im Rentenalter genutzt, um die Beantwortung der Frage mit einer Ausführung zu ihrer eigenen Wohnsituation sowie der eventueller Kinder zu verbinden. Soziale Eingebundenheit durch die Nähe zu den Kindern erscheint dabei positiv. Gustav Nehm bspw. antwortet auf die Frage, ob er Kinder habe: »Wir haben eine Tochter, die wohnt auch im Haus und das ist unser ganzer Familienclan. Vier Generationen. Tochter, Enkelkinder, zwei Enkelkinder und Urenkelkinder haben wir zwei.« Werner Biermann hingegen wohnt alleine, was er auf die Frage, wie viele Personen in seinem Haushalt leben, wie folgt zum Ausdruck bringt: »nur ich hier«.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

die Interviewpartner*innen nicht gewiss. Friedrich Huber fragt sich etwa: »Werden wir geldlich damit zurechtkommen?«. Befürchtet wird zum einen eine Verschlechterung im Lebensstandard für die Angehörigen der pflegebedürftigen Person: Es wäre eine »Katastrophe« für sie selbst, wenn ihr Mann ein Pflegefall würde, so Heidi Flieder, denn dann müsste sie aus der Wohnung ausziehen, in der sie sich eingerichtet hat, und sich »ne Einraumwohnung nehmen«. Zum anderen wird Autonomie in finanzieller Hinsicht infrage gestellt: Man kann nicht (mehr) von dem leben, was man sich selbst aufgebaut hat, sondern muss auf staatliche Leistungen zurückgreifen, was Heidi Flieder als demütigend ansieht (»das wär das letzte«). Bilanzierend lässt sich also festhalten, dass weniger die konkreten Ursachen der Pflegebedürftigkeit oder die Schmerzen im Zentrum stehen, sondern sich Ängste auf die Folgen von Pflegebedürftigkeit beziehen. Im vorliegenden Material sind dies v.a. ein Autonomieverlust in Bezug auf die Lebensführung, die Angst vor Depersonalisierung im Pflegesystem und vor Einsamkeit, aber auch die Angst, nahen Personen zur Last zu fallen, sowie durch finanzielle Probleme eine weitere Abwertung im Lebensstandard zu erfahren (vgl. Blinkert 2016 für weitere Dimensionen). Der wohlverdiente Ruhestand würde damit in verschiedener Hinsicht eingeschränkt oder gar verunmöglicht.

Beobachter*innen einer Um-Ordnung der Gesellschaft Nach dieser Rekonstruktion der Bedeutung eines guten Lebens, der Sicherheitskonzeption und typischen Angstthemen stellt sich nun noch die Frage nach typischen (Ab-)Wertungen im Ruhemuster. Zugespitzt ausgedrückt lässt sich festhalten, dass gesellschaftlicher Wandel und Alterität zwar konstatiert, aber entproblematisiert oder nicht problematisiert werden. In Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes nehmen die Interviewpartner*innen gesellschaftlichen Wandel wahr, aber problematisieren ihn kaum, abgesehen von Veränderungen im Pflegesystem und in der sozialen Absicherung. Vielmehr erscheinen sie als interessierte, wenn auch bisweilen verwunderte Beobachter*innen einer Um-Ordnung der Welt, die in ihrer aktuellen Gestalt anders als die ihnen vertraute ist, aber nicht durchweg als schlechter bewertet wird. Ähnliches gilt für die Thematisierung von ›Anderen‹: Zwar greifen die Interviewpartner*innen gängige Klassifizierungen auf, z.B. die Unterscheidung von ›Ausländer*innen‹ und ›uns‹ oder ›den Jugendlichen‹ und ›uns‹, doch werden diese ›Anderen‹ nicht abgewertet. Dies zeigt sich paradigmatisch im Interview mit Gustav Nehm. Über sein Berufsleben als Hausmeister einer großen Schule bspw. sagt er: »Wir haben 800 Kinder gehabt, auch Ausländerkinder, mit den ich also immer prima ausgekommen bin. Hab auch nie Probleme gehabt dann. Im Gegenteil, da sind türkische Kinder, die kommen heute noch bei mir vorbei.« Gustav Nehm ruft hier zwar die Klassifikation der ›Ausländer*innen‹ und ein Problem-Framing auf (das auch durch die

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Negation wirksam wird), doch grenzt er sich selbst davon ab. Auch das Verhalten von Jugendlichen, das im nachfolgend vorgestellten Ordnungsmuster als die Verkörperung von Devianz gilt, wird hier nicht pathologisiert oder abgewertet. Umso mehr grenzt sich Gustav Nehm in dieser Hinsicht von einem Mann ab, der aus Ärger über das Verhalten von Jugendlichen mit einer Luftdruckpistole auf diese schießt: »Ich meine, wenn dann Jugendliche halt mal grillen, die Musik ist halt laut. Entweder muss er es dann akzeptieren oder er hätte ja dann sagen können, hört mal auf.« Das geschilderte jugendliche Verhalten erscheint in dieser Äußerung als Normalität (»halt«), Ausnahme und kein Dauerzustand (»mal«) und prinzipiell akzeptabel ‒ d.h. nicht als Unordnung und Normübertritt. Wird es dennoch als Störung empfunden, so schlägt Gustav Nehm das Gespräch als Lösung vor. Damit nähert er sich der Vorstellung von Incivilities bzw. Kriminalität als Konflikt zweier Parteien an statt als inakzeptabler Normbruch nur einer Partei.54 Ein anderes Beispiel für die Anerkennung von Differenz findet sich im Interview mit Heidi Flieder, wenn sie ebenfalls unterschiedliche Lebensweisen von jungen und alten Menschen feststellt ‒ die Präferenz für ein erlebnisreiches Stadtleben gegenüber dem Leben im ruhigen und sicheren Vorort ‒, aber beide Lebensweisen für die jeweilige Generation als »wunderbar« würdigt.

7.6.2

Ordnung: Devianz als Infragestellung eigener Werte und eigenen Werts

Devianz ›Anderer‹ als Infragestellung der eigenen Lebensweise Neben dem Ruhemuster lässt sich im Rentenalter noch das Ordnungsmuster rekonstruieren, in dem die symbolischen Dimensionen des Alter(n)s im Fokus stehen und Sicherheit damit auf einer subtileren, aber nicht weniger relevanten Ebene verhandelt wird. Während im Ruhemuster die sich wandelnde Welt im Modus der Um-Ordnung erscheint, erscheint sie für die Ordnungserhaltenden als un-ordentliche, anomische Welt, was sie als negativ bewerten. Auch wird Differenz im Ordnungsmuster als negativ bewertet.55 Friedrich Huber bringt dies paradigmatisch zum Ausdruck, wenn er als Teil eines ›Alten-Wir‹ äußert: »Wir kommen ja eigentlich aus einer anderen Zeit. Was heute so abläuft, da sind wir nicht ganz einverstanden. Also die Sachen, die eben so sich ereignen, […] es ist uns irgendwie unverständlich.« Für die Ordnungsliebenden bedeutet ein gutes Leben entsprechend, in der ihnen vertrauten und verständlichen Welt zu leben und sich dabei ihres Platzes im Sozialen, d.h. ihres Status, gewiss zu sein. Sicherheit meint den 54 Vgl. zu dieser Unterscheidung die kritische soziale Arbeit und kritische Kriminologie (z.B. Anhorn 2013 und Hanak/Stehr/Steinert 1989). 55 Dies entspricht der Merton’schen Sicht auf Anomie als negativ bewertetes, strukturloses Chaos und als Gegenteil zu sozialer Struktur und Integration. Davon zu unterscheiden ist Durkheims Konzeption von Anomie als einem Typus sozialer Strukturierung, den es soziologisch zu beschreiben statt zu bewerten gilt (vgl. Elias/Scotson 2002: 273ff.).

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Erhalt ebendieser Welt, d.h. einer bestimmten sozialmoralischen Ordnung. Diese erscheint den Interviewpartner*innen prinzipiell als die richtige, unhinterfragte Ordnung. Darauf weisen in den Thematisierungen u.a. Selbstverständlichkeitsmarkierungen anstelle von Explikationen hin. Friedrich Huber bspw. spricht von »Dingen, die man (2), ja, die man eben nicht tun soll«. Dieses Muster zeichnet sich gegenüber den vorigen Mustern dadurch aus, dass (Ab-)Wertungen nicht lediglich ein Bestandteil des Musters sind, sondern dessen Kern ausmachen. Denn als Sicherheitsbedrohungen werden im Interview explizit Verhaltensweisen ›Anderer‹ genannt, die ›Dinge tun, die man nicht tun soll‹. Dies umfasst ein großes Spektrum an Devianzen, worunter prinzipiell alles fällt, was den eigenen Ordnungsvorstellungen zuwiderläuft. Moralgeschichten nehmen einen beträchtlichen Raum in den Interviews ein und sind v.a. um Incivilities, Kriminalität und Terrorismus herum organisiert.56 Damit verbunden, wenn auch nicht als Unsicherheitsthemen von den Interviewpartner*innen benannt, sind Niedergangsnarrative typisch wie die Diagnose der Schnelllebigkeit heutiger Beziehungen gegenüber der Stabilität der eigenen Beziehung oder der Steigerung von Qualität und Quantität von Kriminalität. Als Normbrechende und Repräsentant*innen dieses sozialen Wandels gelten v.a. Jugendliche, aber auch Migrant*innen und teils Arbeitslose. Diese schlagen den Ordnungsliebenden zufolge über »ihre Stränge«, verhalten sich »wie die Verrückten« und gehen »zu weit« (alles: Friedrich Huber), um nur wenige Semantiken des Normbruchs und der Grenzüberschreitung zu nennen. Sie führen demnach anders als die Vertreter*innen des Ordnungsmusters kein »ordentliches« Leben (Wilhelm Krause). Daher stellt sich für die Interviewpartner*innen die Frage: »Wo sind die Werte hin?« (Wilhelm Krause).57 Aus der Sicht der Interviewpartner*innen geht es bei diesem Ordnungsproblem um ein gravierendes, zu behebendes Sicherheitsproblem, insbesondere in Bezug auf Kriminalität. Demnach sollten diese Normbrüche unterbunden werden,

56 Kriminalität etc. wird von den Ordnungsliebenden v.a. als Normbruch durch Gewalt und Aggressivität thematisiert. Terrorismus erscheint hier als Steigerung von Kriminalität: »was so danach kommt, wie es sich entwickelt. Also, dass es nicht so dabei bleibt bei (3) einem kleinen (1) kleinen Überfall oder was, sondern es kommt überall.« (Friedrich Huber, ähnlich auch Werner Biermann) 57 Diese Positionierung als Vertreter*innen der guten, alten Ordnung, die gegenüber den Normbrüchigen hochgehalten wird, basiert auch darauf, dass eigene Handlungen im Kontakt mit den ›Anderen‹ ausschließlich im Modus des unschuldigen Opfers oder der Bemühung um Ordnung erzählt werden, aber nicht als Beitrag zum Konfliktgeschehen gewertet werden. Friedrich Huber bspw. beschwert sich über das Verhalten von Jugendlichen in öffentlichen Verkehrsmitteln, etwa dass sie eine »Sauerei« hinterließen oder die Füße auf die Sitzflächen legten. Dass er selbst den Jugendlichen ein »paar Papierkugeln an den Kopf geworfen« hat, problematisiert er nicht als eigene »Sauerei«, sondern stellt es als Intervention dar, um die Normbrüchigen auf ihr Fehlverhalten aufmerksam zu machen.

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um Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen. Ich schlage eine andere Interpretation vor: Es geht weniger um die Bedrohung von innerer Sicherheit und um Fragen von Safety. Vielmehr stellen die thematisierten Normbrüche und Niedergangsnarrative konkrete Erzählgegenstände für die Verhandlung des eigenen Platzes in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft dar: Welche bzw. wessen Werte ‒ und damit auch wessen Wert ‒ sind anerkannt? Die alte Ordnung, die die Vertreter*innen dieses Musters als die einzig richtige Ordnung ansehen, wird aus einer übergeordneten Perpektive, die auch andere Positionen und Perspektiven berücksichtigt, zu einer partikularen Ordnungsvorstellung, die in Konflikt mit anderen steht. Die alte Ordnung ist demnach im Kern die Ordnung der Alten. Andere Ordnungen, v.a. die, die als Ordnung der Jugendlichen angesehen wird und damit den gesellschaftlichen Wandel versinnbildlicht, werden abgewertet, bspw. mit Verweis auf die Überlegenheit der eigenen Sicht qua Erfahrung: »Man sieht natürlich als älterer Mensch mehr dahinter als ein junger Mensch. […] Junge Leute. Nichts gegen die Jugend, aber …« (Wilhelm Krause). Gleichwohl stellt die Existenz anderer sozialmoralischer Ordnungen, deren Vertreter*innen als mächtiger erscheinen, die eigene Ordnung infrage und lässt sie und damit die eigene Lebensweise prekär werden.58 Die ausführlichen, emotional aufgeladenen und moralisierenden Interviewthematisierungen lassen sich daher als Verteidigungsversuch der eigenen Ordnung interpretieren, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Neben Verunsicherung in den eigenen Gewissheiten und bezüglich des eigenen Status dokumentieren sich in den Interviews auch weitere, mitunter gar bedeutsamere Emotionen, v.a. ein stark ausgeprägtes Ungerechtigkeitsempfinden, das seinen Ausdruck auch in Empörung finden kann (vgl. auch Hartnagel/Templeton 2012 und Klimke 2008).59 Wie stellt sich nun die Devianz ›Anderer‹ als Infragestellung der eigenen Lebensweise konkret in den Interviews dar?

58 Ich beziehe mich hier auf einen Prekarisierungsbegriff, wie er in der Geschlechterforschung mit Bezug zu Bourdieus Begriff der Doxa verstanden wird: Prekarisierung bezieht sich hier nicht (nur) auf das Atypischwerden von Erwerbsarbeit oder deren Verlust, sondern meint die Entselbstverständlichung dessen, was bis dato unhinterfragte Deutungs- und Handlungsgrundlage war (z.B. Egert et al. 2010, Wimbauer/Motakef/Teschlade 2015). In der Geschlechterforschung wird die Prekarisierung der Doxa in Bezug auf Männlichkeiten diskutiert. Ich übertrage sie hier auf einen allgemeineren Kontext. 59 Daniela Klimke (2008: 221-223) hat in ihrer Analyse unterschiedlicher Sicherheitsmentalitäten einen vergleichbaren Typus rekonstruiert: Der »anklagende Typus« findet sich auch in ihrer Studie v.a. bei älteren Interviewpartner*innen. Und wie bei Klimke greifen in den mir zugrunde liegenden Daten zwar auch jüngere Interviewpartner*innen Aspekte des Ordnungsmusters auf, aber im Vergleich zu den Rentner*innen sind die Erzählungen im Fallkontext weniger bedeutsam.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Un-Ordnung: Entwertung der alten Werte als Entwertung des eigenen Lebens Ein wichtiger Thematisierungsstrang im Ordnungsmuster kreist um die Wahrnehmung gesellschaftlichen Wandels, der als Werteverfall beschrieben wird und für die Interviewpartner*innen in Un-Ordnung resultiert. Die eigenen Werte scheinen ihnen nichts mehr zu gelten, was zu Unsicherheits- und Ungerechtigkeitsempfinden verschiedener Art führen kann. Empirisch eng zusammenhängend lassen sich gleichwohl in analytischer Hinsicht drei Dimensionen dieses Unsicherheits- und Ungerechtigkeitsempfindens unterscheiden, die ich im Folgenden vorstelle. ›Überfremdung‹: Entwertung der eigenen Werte Zunächst bedeutet der von den Interviewpartner*innen im Ordnungsmuster diagnostizierte Wertewandel eine Infragestellung und Entwertung der eigenen Werte als allgemeinen Werten, womit sich auch die Frage nach der eigenen Position im symbolischen Gefüge der Gesellschaft stellt. Denn die normative Basis des Lebens der Interviewpartner*innen, d.h. die Werte, nach denen sie gelebt haben und leben, finden sie nun entwertet. In ihrer eigenen Gesellschaft fühlen sie sich angesichts des kulturellen Wandels ›überfremdet‹ (vgl. auch Klimke 2008: 221). Ein typisches Narrativ hierfür betrifft im Rahmen von Kriminalitätserzählungen die Diagnose einer neuen Qualität und Quantität von Gewalt und Aggressivität, wie sie paradigmatisch in folgendem Zitat zum Ausdruck kommt: WB: Die Gewaltbereitschaft is gestiegen meiner Meinung nach, wenn ich jetzt mal so zurückdenke an meine Jugend, wir haben uns auch geschlagen, wir sind auch aggressiv gewesen und so weiter, aber UNtereinander, aber dann wenn wenn der, mit denen wirs gehabt haben, am Boden gelegen war, dann war FEIerabend. Dann hats nix mehr Gewalt gegeben. Dann hat man dem wieder auf die Beine geholfen und die Sache war erledigt. Heute wird da noch auf den Kopp getreten und zusammengetreten noch dazu wenn man schon auf dem Boden liegt. Werner Biermann kontrastiert hier seine eigene Jugend mit der heutigen Jugend. Ein bestimmtes Maß an Gewalt seitens männlicher Jugendlicher wird normalisiert, jedoch nur unter bestimmten Bedingungen (doppelte Konditionalisierung mit »aber«) als moralisch vertretbar gewertet: wenn Grenzen und Regeln geachtet werden. Die heutige Jugend erscheint demgegenüber maßlos, da sie diese Grenzen und Regeln missachtet und den bereits unterlegenen Gegner weiter bekämpft ‒ und zwar in besonders sensiblen Körperregionen. Angesichts dieses wahrgenommenen Grenzübertritts erscheinen Werner Biermann ebenso wie anderen Interviewpartner*innen Jugendliche als kulturell Fremde, ihr Verhalten ist unverständlich: »Ich weiß nicht wie die SIND«. Diese Ungewissheit aufgrund kultureller Fremdheit wird für die Interviewpartner*innen umso problematischer, als diese ›Anderen‹ den öffentlichen Raum dominieren, sodass aus der kulturellen Fremdheit gar eine ›Überfremdung‹ wird. Jugendliche bspw. treten in den Erzählungen immer

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im Kollektiv auf, während die Interviewpartner*innen alleine oder zu zweit sind. Eine andere Quelle kultureller Fremdheitserfahrungen wird in ›Ausländer*innen‹ gesehen. Erika Steiner etwa beklagt, dass diese sich nicht in ihre Welt als die für sie normale Welt integrierten, sondern »ihre eigene Welt« haben, die sie als schmutzig und arm darstellt. Diese erscheint ihr als »total fremde Welt« und sie wähnt sich selbst im ›eigenen‹ Land »im Ausland«. Auch problematisiert sie in dieser Hinsicht die ›Verdrängung‹ der deutschen Sprache als Teil der deutschen Kultur zugunsten des Aufstiegs des »Englisch-Denglisch«. Bemühungen, die eigene Kultur (die als unveränderbar angesehen wird) und als deren Teil die deutsche Sprache in ihrer bisherigen Form zu wahren, bewertet Erika Steiner daher positiv und lobt bspw. die Aktivitäten eines Vereins zum Erhalt der deutschen Sprache. Genereller lässt sich sagen: Mit der Verteidigung der ›alten Werte‹ und ›alten Kultur‹ verteidigen die Interviewpartner*innen auch ihre eigene Position in der Gesellschaft, die sie als abgewertete empfinden (vgl. auch Bourdieu 1993b: 98). Andere L(i)ebensweisen: Infragestellung der eigenen Lebensführung Der Vergleich mit anderen L(i)ebensweisen, wie er in Verfallsnarrativen gepflegt wird, kann auch die verunsichernde Frage aufwerfen, ob man das eigene Leben tatsächlich richtig gelebt hat oder nicht auch mit weniger Mühen ein gutes oder gar besseres Leben hätte haben können. Auch dieser Frage begegnen die Interviewpartner*innen mit einem umso resoluteren Hochhalten der eigenen Werte. Zentrale Themen sind hier die Lebensführung mit Blick auf die Gestaltung von Paarbeziehungen und das Engagement im Erwerbsleben. Das eigene Leben erscheint den Interviewpartner*innen gegenüber nachfolgenden Generationen als hart und mühselig. Wilhelm Krause bringt dies prägnant zum Ausdruck, wenn er als Motto der heutigen jungen Generation »Zusammenbeißen tun wir uns nicht« formuliert und dem die eigene Generation gegenüberstellt: »Wir mussten das noch. Wir hatten nichts. Und uns hat auch keiner was geschenkt.« Diese allgemeine Äußerung betrifft auch die Art und Weise der Beziehungsgestaltung der ›jungen‹ und ›alten‹ Generation, die insbesondere von denjenigen Interviewpartner*innen aufgeworfen wird, die noch mit ihrer bzw. ihrem langjährigen Partner*in zusammenleben. Die heutige junge Generation zeichne sich wie erwähnt durch eine Schnelllebigkeit der Beziehungen und ›leichtfertige‹ Trennungen aus, während früher Trennung als Option »undenkbar« war (Gustav Nehm). Beziehungen würden nun bei Konflikten unmittelbar aufgegeben, was als Werteverfall gewertet wird; in diesem Kontext stellt Wilhelm Krause nämlich die bereits zitierte Frage: »Also da sage ich mir, Menschenskinder, wo sind die Werte hin?«. Die Präsenz anderer Modelle der Beziehungsführung inklusive der Option, eine Beziehung beenden zu können, konfrontiert die Interviewpartner*innen allerdings

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auch mit der Frage, ob angesichts dieser Alternativen das Leben, das man (bisher) geführt hat, das richtige war. Dies lässt sich anhand des Interviews mit Friedrich Huber exemplarisch veranschaulichen. Im Interview ist auch seine Frau Emmi Huber anwesend und schaltet sich gelegentlich ein, so auch, als Friedrich Huber thematisiert, wie ›neue‹ und ›alte‹ Beziehungen zu bewerten sind, und er heutige Beziehungen mit ›Kurzlebigkeit‹ assoziiert: FH: [Da] gibt’s so viel Elend in der Beziehung. (3) Dass sich die Paare nicht verstehen, da wird geheiratet und nach kurzer Zeit geht’s wieder auseinander, was wir eigentlich nicht gekannt haben. Was aber, wo wir halt mehr (2) erduldet haben, möchte ich mal sagen, also mehr- (3). Ja, man hat (1) hat mehrEH: Man war zufriedener oder man hat’sFH: Ja, man war zufriedener und dann man hat’s auch mal geschluckt, ja. EH: Man hat’s in Kauf genommen oder hat sich dann danach auch gerichtet. Musste auch vielleicht bisschen anders werden. Die zunächst eindeutige Bewertung moderner Ehen, die als »Elend« gefasst wird, wird im Interaktionsverlauf abgeschwächt, denn die Langlebigkeit der Beziehungen der älteren Generation wird nicht nur in positiven Semantiken geschildert (Zufriedenheit). Das Paar ringt gegenüber der eigenen Person, dem*der anwesenden Partner*in und dem Interviewer nach Worten, die Mühen des eigenen Beziehungslebens zu fassen, ohne diese gänzlich infrage zu stellen. Nach einigen Pausen, Satzabbrüchen und in anonymer Agency (»man«) werden die negativen Seiten quasi unauflösbarer Beziehungen elaboriert, nämlich als Anpassung an oder Akzeptanz von etwas, das von einem selbst nicht durchweg gewollt war. Emmi Hubers Abschlusssatz »Musste auch vielleicht bisschen anders werden« lässt sich dabei in (mindestens) zwei Hinsichten interpretieren: zum einen und im Anschluss an die unmittelbar vorausgehenden Äußerungen als Anpassung nicht nur im Verhalten, sondern gar der Persönlichkeit, die zudem nicht als freie Wahl, sondern im Modus des Zwangs dargestellt wird (Zwangsagency »musste« im Sinne von »man musste«); zum anderen und im Anschluss an den Ausgangspunkt der interaktiven Aushandlung, nämlich den Vergleich von kurz- und langlebigen Beziehungen, als sinnvoller Wandel hin zur Auflösbarkeit von Beziehungen, womit das eigene Modell implizit kritisiert würde (im Sinne von »es musste«). Beide Deutungen weisen schlussendlich auf das ›Elend‹ auch in langlebigen Beziehungen hin, was das eigene Modell infrage stellt. Vor dem Hintergrund dieser möglicherweise verunsichernden Infragestellung der alten Werte und der eigenen Lebensführung lässt sich nun die ausführliche Behandlung der zwei Arten der Beziehungsgestaltung im Interview verstehen: Die eigene Art wird dabei stark aufgewertet, die andere stark abgewertet. Beides dient letztlich der (Selbst-)Vergewisserung, das eigene (Beziehungs-)Leben richtig und

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gut gelebt zu haben und zu leben. In Bezug auf die Aufwertung der eigenen Beziehung bspw. verweist Berta Wagner in Abgrenzung zu ihrer Tochter darauf, dass man im Leben ein stabiles, dauerhaftes »Fundament« benötige, auf dem man aufbauen könne, nämlich eine Wohnung und eine Partnerschaft. Das möge zwar als »langweilig« gelten, doch betont sie, dass sie keineswegs ein anspruchsloses Leben führe: »Ich kann alles haben, ich kann alles machen«. Entsprechend wertet sie ihr Leben im Vergleich zu einem Leben ohne Fundament, wie es ihre Tochter aus ihrer Perspektive führt, als positiver: »Ich finde das Leben ist (1) für mich schöner«. Hinzu kommt eine massive Abwertung von ›heutigen‹ Beziehungen, die bspw. bei Berta Wagner ihren Höhepunkt in der Diagnose eines Konsums von Beziehungen findet: Beziehungen würden heutzutage wie Waren konsumiert und entsprechend nach Missfallen umgehend entsorgt. Diese Enthumanisierung von Paarbeziehungen, die gemäß dem romantischen Liebesideal gerade als der Ort gelten, an dem der Mensch Mensch sein darf, steht in der Argumentation Berta Wagners sinnbildlich für die pathologische Abweichung vom Normalen bzw. dem Guten. (Nicht-)Anerkennung der eigenen Leistung und Bedürfnisse Die Infragestellung der eigenen Werte und L(i)ebensweise mit der damit verbundenen Irritation kann weiter befördert werden, wenn den Interviewpartner*innen nicht die von ihnen gewünschte Anerkennung für ihre Lebensleistung entgegengebracht wird. Die oben angesprochene Auseinandersetzung von Berta Wagner mit ihrer Tochter zeugt davon, dass diese Anerkennung im privaten Kontext gegeben oder verweigert wird. Mit der Absage an das Lebensmodell der Mutter verbindet sich eine Nicht-Anerkennung für deren Lebensweise und Leistung. Zentraler in den Interviews ist aber die gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Anerkennung der umfassenden eigenen Lebens- und v.a. Arbeitsleistung ‒ »wir haben ein Leben lang gearbeitet« (Wilhelm Krause) ‒ sowie der altersentsprechenden Bedürfnisse. Wird diese Anerkennung aus Sicht der Betroffenen verweigert, kann sich das in Ungerechtigkeitsempfinden bis hin zur Empörung ausdrücken. Ein erster Thematisierungsstrang bezieht sich darauf, dass die Interviewpartner*innen mit ihren langjährigen Beiträgen zum Gemeinwesen für diejenigen aufkommen müssen, die anders als sie selbst kein »ordentliches« Leben führen. Dabei stehen diese ›Anderen‹ im Fokus der Kritik. Werner Biermann bspw. kritisiert das Verhalten von Jugendlichen auf dem benachbarten Schulhof: Sie seien laut und hinterließen Müll, was er an sich schon als Störung der Ordnung empfindet (und was sich unter den Begriff Incivilities subsumieren lässt). Noch gravierender wird das Verhalten der Jugendlichen für ihn, als diese der Aufforderung der älteren Nachbarn, leiser zu sein und den Müll zu entsorgen, nicht nachkommen. Damit missachten sie die Anliegen älterer Menschen ein weiteres Mal, da diese nicht nur unter den Incivilities, sondern auch deren Folgekosten leiden: »WER machts wieder weg?

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Wir müssen es wieder wegmachen; oder wir sind dafür- weil wir müssen des ja beZAHlen; wenn da dann die Gärtnerei kommt und des wegmacht.« Ein zweiter, verwandter Thematisierungsstrang fokussiert auf sozialstaatliche Fehlpriorisierungen, über die sich die Interviewpartner*innen ärgern. Zum einen betrifft dies Ausgaben, die die Interviewpartner*innen nicht nachvollziehen können, die sie aber als Steuerzahler*innen überhaupt erst ermöglicht haben. Wilhelm Krause etwa sieht in Bezug auf Sicherheit mehr praktischen als wissenschaftlichen Handlungsbedarf und kritisiert entsprechend die Finanzierung unserer Studie durch den Bund: »Wir haben ein Leben lang gearbeitet und geben das jetzt dafür AUS, und wissen aber (2) außer außer ihrer Institution, aber äh jeder WEIß, wie ähm es mit der Sicherheit beSTELLT is.« Zum anderen betrifft dies die sozialpolitische Übervorteilung zugunsten von ›Anderen‹, die weniger geleistet hätten, etwa Arbeitslosen oder Ausländer*innen. Berta Wagner kritisiert in dieser Hinsicht die ihrer Ansicht nach zu großzügige Unterstützung für Arbeitslose: »Wenn einer in der Hochform seiner Arbeit, seiner Blüte, seiner Lebensblüte is und noch nich ma 40 und gesund wohlbemerkt setz ich voraus, und dann nich unbedingt arbeiten will, also das seh ich nich ein«. Als Vorbild für den deutschen Sozialstaat dient ihr hierfür der holländische, wo man »15 Jahre gearbeitet haben [muss], um Rente zu bekommen.« In diesen Äußerungen verhandelt sie also, was ein wohlverdienter Ruhestand bedeutet und dass sie ihn im Gegensatz zu anderen verdient hat. Dass diese Auffassung staatlicherseits nicht praktiziert wird, verschafft ihr gleichwohl nicht die gewünschte Anerkennung der Leistung gerade im sozialen Vergleich.60 Ein dritter Thematisierungsstrang bezieht sich darauf, dass altersgemäße Bedürfnisse nach besonderem Schutz nicht respektiert werden, womit das Alter als Lebensphase, in der man sich legitimerweise zur Ruhe setzen kann, nicht geachtet wird. Dies drückt sich in den Interviews bspw. dadurch aus, dass über die Gefahr gesprochen wird, dass alte Menschen Opfer jugendlicher Kriminalität werden, und die Sorge darüber auch mit entsprechenden Beispielgeschichten aus dem Bekanntenkreis untermauert wird. Nicht nur wird dabei der Schutzstatus der älteren Generation verkannt, sondern ihre Schutzbedürftigkeit auch noch ausgenutzt. Auch wird über mangelnde Rücksichtnahme im Straßenverkehr geklagt: »Wenn der Alte vor einem Jungen fährt, dann wird der ausgebremst, geschnibbelt«. Es herrscht also aus Sicht der Ordnungsliebenden »kein Respekt vorm Alter« (beides: Wilhelm Krause), wie er für sie eigentlich angezeigt wäre. Bilanzierend lässt sich festhalten, dass gesellschaftlicher Wandel in verschiedener Hinsicht als Entwertung der alten Werte wahrgenommen wird, d.h. als Entwertung der eigenen Werte und des eigenen Werts bzw. Status in der Gesellschaft. 60 Ein ähnliches Motiv findet sich im Existenzsicherungsmodus, wonach die eigene Leistung verkannt und ›Andere‹ bevorzugt würden.

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In Anlehnung an Lüschers Konzept der Generationenambivalenz (Lüscher/Pillemer 1996) kann das Besondere des Ordnungsmusters auch so dargestellt werden: Während im Ruhemuster Solidarität in den persönlichen Generationenbeziehungen betont wird (bei Dethematisierung von Konflikt), stehen im Ordnungsmuster Konflikt bzw. besser gesagt Normbrüche der Jugend im Diskurs zu gesellschaftlichen Generationenbeziehungen im Zentrum (bei Dethematisierung von Solidarität). Die Ambivalenz der Generationenbeziehungen lässt sich demnach über die Differenzierung der persönlichen von der gesellschaftlichen Ebene fassen.

Begegnung mit der jungen Generation: Kompetenzverlust und Statusverunsicherung Begegnungen mit der jüngeren Generation sind noch in einer anderen Weise statusrelevant: In ihnen wird der älteren Generation ihr altersbedingter Kompetenzverlust verdeutlicht, der wiederum als symbolischer Statusverlust interpretiert werden kann. In den vorigen Lebensphasen haben die Kompetenzen in der Regel zugenommen, das Leben war auf Wachstum oder den Erhalt eines guten Lebens und den damit einhergehenden sozialen Status ausgerichtet (Ausnahme: Existenzsicherungsmuster). Im Rentenalter stellen die Interviewpartner*innen fest, dass sie ‒ auch körperlich ‒ abbauen (vgl. Keller/Meuser 2017). Bestimmte Aktivitäten sind ihnen nicht mehr möglich, etwa Wanderungen mit Anstieg (Gustav Nehm). Im Zusammentreffen mit jungen Menschen wird dieser Kompetenzverlust umso deutlicher, auch in seiner symbolischen Dimension als Verunsicherung hinsichtlich des eigenen Status, wie die Fälle Werner Biermann und Wilhelm Krause anschaulich zeigen. Beide schildern konflikthafte oder potenziell konfliktträchtige Begegnungen mit Jugendlichen im öffentlichen Raum, in denen sie nicht so agieren können, wie sie gerne würden bzw. in jüngeren Jahren agiert hätten und im Ergebnis den Jungen Platz im öffentlichen Raum überlassen (müssen), physisch wie symbolisch. Wilhelm Krause erzählt dazu folgende Beispielgeschichte von einem Spaziergang mit seiner Frau: WK: Da kamen so ein paar, naja ich würde mal sagen Rowdies, die (3) haben, Gott sei Dank, Gott sei Dank, wir waren beide froh, dass sie kurz vor uns, wir sind zur Seite gegangen, dass die Jugendlichen, dass sie uns nichts getan haben. […] Ich meine, vor zwanzig, dreißig Jahren, dann hätte ich das wahrscheinlich drauf ankommen lassen. Das macht man- mit siebzig Jahren SOLLTE man soviel Vernunft und Beherrschung haben, dass man das abwägt und sagt, das muss nicht sein. In dieser Passage schildert Wilhelm Krause ein konfliktvermeidendes Verhalten, das er nicht als allgemeine Handlungsnorm oder gar seinen Wunsch darstellt, sondern nur mit nachlassenden Kräften begründet. Die Machtgleichgewichte verschieben sich entsprechend zugunsten der Jüngeren. An Interventionen gegenüber jugendlicher Devianz ist daher gar nicht zu denken; nicht einmal eine Anzeige bei

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der Polizei angesichts von Graffitis wagt Wilhelm Krause: »Wenn die das mitgekriegt hätten, dann hätte ich den nächsten Tag Angst haben müssen.« Eine ähnliche physische und symbolische Unterlegenheit wird im Interview mit Werner Biermann deutlich, der zahlreiche Normbrüche durch Jugendliche als Sicherheitsbedrohungen nennt (Gewalt, Kriminalität, Incivilities). In diesen Erzählungen dokumentiert sich für mich aber weniger die Angst vor diesen konkreten Ereignissen, sondern ebenfalls der Verlust männlicher Stärke und sozialer Durchsetzungskraft. Darauf weist sein direkter Vergleich mit der Stärke von jungen Männern hin, denen er unterlegen wäre, zumal mit seiner frisch eingesetzten Hüftprothese. Selbst die Flucht als unehrenwerte Option bleibt ihm versperrt: WB: Ich bin […] dreiundsechzig und ich mein wenn da zwei Achtzehnjährige kommen die zusammen sechsunddreißig sind, und zu zweit, da hab ich NICHT viele Chancen dann. Nä? Und dann jetzt im Moment mit meiner Hüfte sowieso nicht; ich kann- könnte ((lachend) noch nicht mal fortrennen, wenn was wäre!) Die Thematisierungen von Wilhelm Krause und Werner Biermann lassen sich so interpretieren, dass mit dem körperlichen Kompetenzverlust ein Verlust an wehrhafter Männlichkeit als hegemonialer Form von Männlichkeit einhergeht (vgl. auch Kap. 6.4.1). In der symbolischen Ordnung der Gesellschaft bzw. der Männer erleben sie damit einen Statusverlust und eine Statusverunsicherung ‒ oder mit Simmel ausgedrückt: einen Verlust an »Bedeutendheit« im öffentlichen Raum (Gildemeister/Robert 2008: 324f. mit Bezug zu Simmel 1911). Dies kann mit der Angst, immer weniger zu gelten, verbunden sein, aber auch mit Ärger über die herrschende UnOrdnung, der sie selbst wenig entgegensetzen können.61

Ankläger*innen der Un-Ordnung der Gesellschaft und Forderung nach starkem Staat In Anlehnung an Klimke (2008: 221), die diesen Typus als »anklagende[n] Typus« bezeichnet, lässt sich die Interviewrolle der Ordnungsliebenden als Ankläger*innen der Un-Ordnung der Gesellschaft fassen. Um Klimkes Metapher fortzuführen: Auf der Anklagebank sitzen nicht nur die Normbrüchigen selbst, d.h. die Jugendlichen, Migrant*innen und Arbeitslosen, sondern auch der Staat, der eigentlich als Garant der alten Ordnung gilt. Dieser versagt, so die Anklage, darin, Recht und Ordnung effektiv durchzusetzen. Umso mehr wünschen sich die Ordnungsliebenden, dass er zum starken Staat wird und im Kampf um die Hegemonie der Lebensstile ihre Rechte verteidigt. Die Forderungen betreffen v.a. den Rechtsstaat: strengere Gesetze, konsequenteres ›Durchgreifen‹, härtere Strafen und härtere Gefängnisaufenthalte, mehr Polizei und Überwachung. Wilhelm Krause etwa sagt: »Die 61 Die Frage, wie sich das für Frauen gestaltet, muss hier offenbleiben. Anzunehmen ist auf jeden Fall, dass Geschlecht eine Rolle spielt (Gildemeister/Robert 2008: Kap. 11).

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Polizei hat für meine Begriffe zu wenig Macht. (3) Sie hat zu wenig Macht. Wir haben zu wenig Polizei.« Insgesamt geht es darum, nicht zu viel Freiheit zu gewähren, denn Freiheit bedeutet für die Ordnungsliebenden »Narrenfreiheit« (Friedrich Huber) und lädt entsprechend zu Ordnungsverstößen geradezu ein. Ganz im Gegenteil geht es ihnen darum, Grenzen der Ordnung aufzuzeigen. Neben der Einforderung eines starken Rechtsstaats findet sich, allerdings in untergeordneter Weise, auch die nach einem Sozialstaat, der die Anständigen belohnt.62 Die Verteidigung der alten Ordnung durch den Staat erscheint für die Ordnungsliebenden umso wichtiger, als sie eine Selbstverteidigung aus verschiedenen Gründen weitgehend ausschließen. Zum einen werten die Interviewpartner*innen wie bereits beschrieben ihre Interventionsmöglichkeit als gering bzw. ineffektiv: Gegenüber den Jugendlichen, die als viril gelten und in den Erzählungen stets im Kollektiv auftreten, wähnen sich die Interviewpartner*innen in einer unterlegenen Position ‒ sie sind alters- und/oder krankheitsbedingt körperlich versehrt und alleine oder lediglich in der Begleitung ihrer Frau, die aber nicht als aktiv geschildert wird. Friedrich Huber folgert daraus: »Ich bin der Meinung, man ist lieber ruhig, zieht sich zurück.« Zum anderen scheint der Ruhestand mit dem Konzept eines legitimen Rückzugs aus gesellschaftspolitischen Sphären verbunden zu sein. Gerda Hofmann etwa gibt als Motto aus: »meine Rente und dann können se mich alle mal.« Politisches Engagement schließt sie altersbedingt aus.

7.7

Themenbezogene Bündelung, Diskussion und Ausblick

Themenbezogene Bündelung und Diskussion mit Blick auf andere Studien In diesem Kapitel habe ich empirisch basiert ein Modell entwickelt, das miterklären kann, wer was warum fürchtet (Wildavsky/Dake 1990). Zentrale Bedeutung kommt dabei der Position im Lebensverlauf zu. Im dargestellten rekonstruktiven Gang durch den Lebenslauf auf Basis von 33 Interviews standen die verschiedenen lebensphasenspezifischen Vorstellungen von einem guten Leben und die entsprechenden Konzeptionen von Sicherheit im Fokus, da sie der bedeutungsgebende Kontext für Ängste sind. Ein bestimmtes Angstthema wird erst durch diese (Re-)Kontextualisierung in seiner Bedeutung verständlich. Eine themenbezogene Bündelung meiner Ergebnisse ist hier dennoch angezeigt, um sie erstens mit anderen empirischen Studien vergleichen zu können, die üblicherweise auf Angstthemen fokussieren, und um zweitens auch die Brücke zum Ausgangspunkt meiner 62 Da die entsprechenden Forderungen im Existenzsicherungsmuster (Kap. 7.5.3) ähnlich sind, gehe ich hier nicht näher darauf ein.

7 Welche Ängste (k)eine Rolle spielen

Arbeit zu schlagen, nämlich der Diagnose einer Gesellschaft in Angst und der Frage, welche Ängste lebensweltlich (k)eine Rolle spielen.63 Relevante Ängste Zunächst seien meine Ergebnisse kurz zusammengefasst. Zentrale Ängste betreffen meiner Analyse nach folgende vier Facetten des Lebens in der zeitgenössischen Gesellschaft, die alle Bereiche von Baumans Sicherheitsbegriff betreffen, v.a. die Dimensionen von Insecurity und Uncertainty: •





die sozioökonomischen Bereiche von Erwerb, Rente und sonstiger sozialer Absicherung, wobei der Fokus auf der Erwerbsarbeit liegt (was auch die Verwendung des Lebenslaufkonzepts im Anschluss an Kohli legitimiert). Ängste beziehen sich darauf, in der (Aus-)Bildungsphase oder bei der beruflichen Etablierung zu versagen (Kap. 7.4.2), im Beruf nicht die gewünschte Position zu erreichen, das richtige Maß an beruflichem Engagement nicht zu finden oder aufgrund von Vereinbarkeitsproblemen beruflich nicht (mehr) Fuß zu fassen (Kap. 7.5.1) oder existenzielle materielle Bedürfnisse mit der prekären Arbeit oder angesichts von Erwerbslosigkeit nicht befriedigen zu können (Kap. 7.5.3). den Bereich des sozialen und gesellschaftlichen Lebens im Hinblick auf persönliche Beziehungen und soziale Teilhabe. Ängste beziehen sich hier darauf, wichtige persönliche Beziehungen wie die zu Eltern, Kindern, Partner*innen oder Freund*innen zu verlieren, sei es durch Tod, Zerwürfnis oder Zeitmangel (Kap. 7.5.1 und 7.5.2), zu vereinsamen (Kap. 7.6.1) und nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können (Kap. 7.5.2). den soziokulturellen Bereich rund um Orientierung, Ordnung und symbolischen Status. Die hiermit verbundenen Ängste werden in den Interviews bevorzugt anhand von Moralerzählungen (Kriminalität, sonstige Devianz) verhandelt. In der Literatur finden sie sich gelegentlich unter dem psychologisch anmutenden Begriff der »Selbstsicherheit« (z.B. Kaufmann 1970), was sich aber soziologisch näher fassen lässt: als Orientierungsunsicherheit bzgl. des Ausbildens einer sozial akzeptierten Identität (Kap. 7.4.1), als Rollen- und Handlungsunsicherheit bzgl. des Erfüllens von sozialen Normen (Kap. 7.5.1), als Statusund Selbstunsicherheit im Falle von Prekarität, da der eigene Status in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft nach unten hin abgesichert werden muss (Kap. 7.5.3), und als Abwendung des Statusverlusts im Alter (Kap. 7.6.2). Diese symbolischen Dimensionen von Unsicherheit sind oft implizit, aber rekonstruierbar, und in den Interviews mit Doing Morality, Doing Difference und Doing

63 Die typischen Abwertungen, die ich für jedes Muster herausgearbeitet habe, interpretiere ich gebündelt in Kap. 8.3.

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Identity verbunden ‒ und auch anderen Emotionen wie Ungerechtigkeitsempfinden. den Bereich Gesundheit im Sinne bestmöglicher körperlicher Unversehrtheit. Entsprechende Ängste betreffen Krankheiten und Unfälle als berufliches Etablierungs- und Konsolidierungshindernis (Kap. 7.4.2 und 7.5.1), als Ursache für den Verlust von wichtigen Menschen (Kap. 7.5.1 und 7.5.2), als Beeinträchtigung von Lebensqualität (Kap. 7.5.2), als Prekarisierungsverstärker (Kap. 7.5.3), als körperliche Beeinträchtigung im Alter hinsichtlich des Verlusts von Eigenständigkeit und Mobilität sowie als Ursache für Pflegebedürftigkeit (Kap. 7.6.1) und als Anzeichen für einen Kompetenz- und Statusverlust im Alter (Kap. 7.6.2).

All diese Bereiche sind immer im Lebenszusammenhang der Interviewpartner*innen zu verstehen (vgl. Klenner et al. 2011), auch durch »linked lives« (Elder, JR. 1994: 6). Auch geht es nicht nur um Angst um sich selbst, sondern auch um nahe andere (vgl. auch Tulloch/Lupton 2003: 20f., Walby/Doyle 2009, Warr 1992). Im Kern all dieser Facetten geht es um Sicherheit als Gewissheit oder Zuversicht bezüglich des weiteren Lebensverlaufs. Sicherheit kann daher im lebensweltlichen Kontext m.E. als biographische Sicherheit gefasst werden und letztere in allgemeinerer Weise verwendet werden als bisher, wo von biographischer (Un-)Sicherheit in der Regel ›nur‹ in Bezug auf Berufs- und Partnerschaftsbiographien die Rede war (z.B. Bonß et al. 2004, Wohlrab-Sahr 1993). Wie gestaltet sich nun der Vergleich zu anderen Studien, trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten aufgrund unterschiedlicher methodischer Entscheidungen? In Kapitel 5 wurden bereits unter methodischen Gesichtspunkten einige Studien vorgestellt, sodass hier eine kurze Zusammenstellung genügt. Insgesamt weisen die Ergebnisse verschiedener themenoffener bzw. -übergreifender Studien trotz Differenzen im Detail in eine ähnliche Richtung. Für Deutschland werden in quantitativen und qualitativen Studien folgende zentrale Angstthemen berichtet: • •

Kriminalität, gesundheitliche Probleme, Unfälle und wirtschaftlich prekäre Verhältnisse (Blinkert/Eckert/Hoch 2015)64 , Unsicherheiten im Hinblick auf soziale Beziehungen, die finanzielle und berufliche sowie gesundheitliche Situation bei untergeordneter Bedeutung von Kriminalität (Kreissl 2015a und 2015b, Kohner/Kovanic 2016),

64 Meine qualitativ-rekonstruktive Analyse bietet gleichzeitig Interpretationsmöglichkeiten für die o.g. Ergebnisse der quantitativen Auswertung aller 405 Interviews der zugrunde liegenden Studie. In Kap. 8.2 gehe ich auf das Thema Kriminalität ein.

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arbeitsbezogene Unsicherheiten, aber auch familiäre und gesundheitliche bei geringer Relevanz von Unfällen und Themen innerer Sicherheit (Gerhold 2009, Gerhold/Eierdanz 2009), Mobilitätsrisiken (Unfälle), berufliche und materielle Unsicherheit, gesundheitliche Risiken und so bezeichnete psychosoziale Risiken, die soziale Beziehungen in verschiedener Hinsicht betreffen (Heinßen/Sautter/Zwick 2002, Zwick 2005), die Sorge, ein Pflegefall zu werden, und Sorge hinsichtlich der Absicherung im Alter, vor schwerer Erkrankung und Unfällen, vor Beziehungsverlust und Vereinsamung, hinsichtlich der finanziellen Situation und Arbeitslosigkeit (Hummelsheim 2015a und 2015b).

Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Studien aus anderen westlichen Gesellschaften. Exemplarisch seien hierfür die Ergebnisse der in Kapitel 2 besprochenen qualitativen, themenoffenen Studien vorgestellt. Tulloch und Lupton (2003) identifizieren körperbezogene Risiken (z.B. durch gesundheitliche Probleme und Gewalt), finanzielle (z.B. erwerbsarbeitsbezogene und rentenbezogene), beziehungsund mobilitätsbezogene. Besonders heben sie die Bedeutung von geteilten Risiken hervor, d.h. die Angst um andere. Olofsson und Öhman (2007) betonen in ihrer Auseinandersetzung mit Becks Risikogesellschaft die relative Bedeutungslosigkeit der neuen Risiken, wobei sie v.a. diejenigen im Bereich Safety meinen, weniger Becks Analysen zu Prekarisierung und Individualisierung. Stattdessen betonen Olofsson und Öhman die lebensweltliche Relevanz von solchen Themen, die mit dem alltäglichen Leben verbunden sind, darunter Beziehungen und Unfälle. In jüngeren Studien rücken auch soziale Normen als Risiko-Objekte in den Vordergrund und damit Ängste, die durch Abweichung von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen begründet sind (Giritli Nygren/Öhman/Olofsson 2016 und 2017). In der Zusammenschau all dieser Studien erscheinen die relevanten Themen relativ ähnlich zu meiner Studie. Ergänzend ist es mir aber ein Anliegen, auf die Bedeutung von Verunsicherungen im soziokulturellen Bereich hinzuweisen, die in den meisten der zitierten Studien nicht angesprochen werden (Ausnahmen: Kreissl 2015a, Giritli Nygren/Öhman/Olofsson 2016 und 2017). Angenommen, die Analysen zu deren Bedeutung sind richtig, so kann vermutet werden, dass Orientierungs-, Rollen- und Statusunsicherheiten sowie durch ›Normabweichungen‹ begründete Unsicherheiten deswegen so wenig identifiziert werden, weil es sich oft um implizite Ängste handelt, für deren Analyse eine qualitative Datengewinnung, rekonstruktive Auswertungsmethodik und/oder eine theoretische Sensibilität angemessen scheint. Auch könnte die Fokussierung auf relativ konkrete, materielle und ›äußere‹ Unsicherheitsereignisse, die das Gros der vorliegenden Studien kennzeichnet, erschweren, dass ›Unsagbares‹ erzählt und analysiert werden kann. Denn die symbolischen Dimensionen von Unsicherheit dokumentieren sich gemäß meiner

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Analyse im Erzählen von Geschichten bzw. in eigenstrukturierten Darstellungen, was einen bestimmten Erzählraum benötigt.65 Irrelevante Ängste Die vorige Aufzählung an Angstthemen mag den Anschein erwecken, wir hätten es mit ›zahllosen Ängsten‹ (vgl. Bude 2014: 11) zu tun. Dem ist nicht so. Zum einen wurde in diesem Kapitel gezeigt, dass die jeweiligen Ängste nicht für alle Interviewpartner*innen gleichermaßen relevant sind, sondern an bestimmte Lebensphasen, aber auch an bestimmte Lebenslagen im Sinne sozioökonomischer Bedingungen gekoppelt sind und dabei auch eine unterschiedliche Erlebnisqualität aufweisen (dazu auch Kap. 6.3). Zum anderen gibt es Themen, die in der wissenschaftlichen Literatur, in Forschungsförderprogrammen und im politischen und medialen Diskurs als relevant erachtet werden, aber im lebensweltlichen Kontext irrelevant sind. Dies betrifft insbesondere das Thema Terrorismus ‒ 2017 das Top-Thema in der Studie »Die Ängste der Deutschen« der R+V-Versicherung (R+V-Infocenter 2017) ‒, aber auch Themen wie Naturkatastrophen und technische Großunglücke, die bei Beck einen Großteil der neuen Risiken ausmachen. Zwar werden diese Themen in den Interviews angesprochen, allerdings eher in Bezug auf die allgemeine als auf die persönliche Sicherheit und nur mit untergeordneter Relevanz für die persönliche Sicherheit. Dies zeigt sich in den Interviews bspw. darin, dass entsprechende Ängste im Modus der Gefühlsregel präsentiert werden, was eher auf eine Selbstpositionierung als anständiges, da z.B. informiertes Gesellschaftsmitglied hinweist als auf verängstigte Akteur*innen. So wird etwa geäußert, dass Terrorismus »die größte Angst [ist], die man haben müsste« (Heike Binz), und man ebenso vor Kriegen und Umweltzerstörung »Angst […] haben muss in gewisser Weise« (Conny Müller). Auch machen manche Interviewpartner*innen deutlich, dass diese Phänomene nur aufgrund der Interviewsituation ins Bewusstsein gerückt sind ‒ »das kommt jetzt in dem Gespräch jetzt ein Stück weit hoch« (Michael Sommer) ‒ und außerhalb dieser kaum relevant sind und schon gar nicht mit einem Unsicherheitsempfinden einhergehen (vgl. auch Olofsson/Öhman 2007). Auch in den meisten anderen der o.g. Studien spielen derlei Unsicherheiten kaum eine Rolle. Olofsson und Öhman (2007) etwa hinterfragen auf Basis ihrer Studie wie erwähnt die lebensweltliche Bedeutsamkeit derjenigen Risiken, die man mit Beck als neue Risiken fassen könnte (darunter genmanipulierte Nahrung, Kernenergie, BSE und Klimawandel). Gerhold (2009) sieht ebenfalls eine untergeordnete Relevanz von makrosozialen Risiken, wie er sie nennt, und Voss und Kolleginnen halten als eine Beobachtung in ihrer qualitativen Studie fest: 65 Zur Fokussierung auf (Signal-)Ereignisse zulasten von Prozessen in der Risikoforschung vgl. Burgess 2006.

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»Gefahren durch Umwelt- und Naturrisiken werden jedoch erst auf Nachfrage benannt und als weniger bedrohlich wahrgenommen als soziale und räumliche Risiken.« (2017: 3) Entsprechende Thematisierungen im Interview sind daher in der Regel als Ausdruck theoretischen (Welt-)Wissens zu fassen, das wenig praktische Relevanz für die alltägliche Lebensführung hat. Zwick hat in seiner Studie eine ähnliche Beobachtung gemacht und dafür den m.E. treffenden Begriff der »switching risks« (2005: 493) geprägt: Solche Risiken werden bspw. durch mediale Thematisierungen kurzzeitig ›angeschaltet‹, doch sind sie über diesen Moment der Aufmerksamkeitserzeugung hinaus alltagsweltlich nicht relevant. Diese alltagsweltliche Irrelevanz könnte, gouvernementalitätstheoretisch betrachtet, auch an einer spezifischen Form politischer Rationalität liegen. Während die Einzelnen in Bezug auf ihr Erwerbsleben sehr wohl responsibilisiert werden – und die Themen Arbeit und soziale Sicherheit entsprechend relevant sind –, war der Schutz vor bestimmten systemischen Bedrohungen zumindest in der Vergangenheit hierzulande eindeutig Aufgabe des Staates, sodass sich die Einzelnen diesbezüglich nicht sorgen müssen. Wie Lentzos und Rose (2008) zeigen, unterscheiden sich die Strategien der Gefahrenabwehr im Bereich Bioterrorismus in Großbritannien, Frankreich und Deutschland erheblich. Hierzulande werden die Individuen bezüglich Bioterrorismus nicht responsibilisiert, zu resilienten Subjekten zu werden, denn »[i]n Deutschland bringen der Staat und seine Organe als Antwort auf die Wahrnehmung von Bedrohung, Risiko und Katastrophen ihre Verpflichtung zum Ausdruck, die Bevölkerung unter eine Art Schirmherrschaft oder Patronage zu stellen, die alle und jeden vor Gefahren und Leiden bewahren soll.« (Ebd.: 93) Hinzu kommt, dass es Hinweise gibt auf ein hohes Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der sogenannten »Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben«, z.B. Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz (Voss/Seidelsohn/Krüger 2017). Kurz gesagt: Die Bürger*innen werden für entsprechende Bedrohungen – zumindest bislang – weder in die Verantwortung gerufen noch sehen sie den Bedarf, sich zuständig zu fühlen. Auch das könnte die alltagsweltliche Irrelevanz dieser Themen erklären. Angesichts dieser Datenlage zu relevanten und irrelevanten Ängsten erscheint die Diagnose einer Gesellschaft in Angst, in der die Ängste »zahllos« seien (Bude 2014: 11, vgl. auch Beck 1986 und 2007a, Kap. 2.2.1) und zum zentralen Charakteristikum der Gesellschaft erklärt werden, überzeichnet. Kritisch diskutiert werden kann vor diesem empirischen Hintergrund auch die Fokussierung aktueller nationaler und europäischer Sicherheitsforschungsprogramme auf einen bestimmten Ausschnitt an Themen ‒ darunter Terrorismus, organisierte Kriminalität, Naturkatastrophen und technische Großunglücke ‒, die lebensweltlich keine besondere Relevanz haben. Die Kritik, dass derlei Programme gesellschaftlich nützlich sein wollen, aber die Perspektiven der Gesellschaftsmitglieder nicht angemessen be-

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rücksichtigen, haben besonders pointiert und mit Blick auf die Ergebnisse ihrer eigenen empirischen Studie Stevens und Vaughan-Williams (2016) vorgetragen. Sie fordern für den britischen Kontext, die nationale Sicherheitsagenda an lebensweltliche Sicherheitskonzeptionen anschlussfähiger zu machen und zu demokratisieren (vgl. auch Hagmann/Dunn Cavelty 2012). Die normative Frage, welches Ziel solche Forschungsprogramme verfolgen, welchen Sicherheitsbegriff sie haben und welche Auswahl an Bedrohungen bzw. Ängsten sie aufgreifen sollten, soll hier aber nicht diskutiert werden. Vielmehr möchte ich im folgenden Ausblick mit Blick auf die vorgestellten Ergebnisse Fragen aufwerfen, die Ausgangspunkt für weitere empirische Forschungen sein könnten.

Ausblick auf weitere Forschungsmöglichkeiten Eine themenbezogene Frage betrifft die nach der Aktualität meiner Ergebnisse und damit auch die Frage nach der Stabilität von lebensweltlichen Ängsten. Die Daten sind von 2011, seitdem ist die Welt teilweise eine andere geworden. So sind terroristische Anschläge, die in den Interviews als ›anderswo‹ lokalisiert wurden, nähergekommen. Wie würde heute über Terrorismus gesprochen werden? Und genereller: Ist die »gefühlte Unsicherheit« so »kurzlebig« und »von Ereignissen und Meinungsbildern beeinflusst«, sprich: so instabil, wie Wilken (2014: 67) vermutet? Folgende Argumente sprechen m.E. dagegen: Erstens finden sich in empirischer Hinsicht die oben beschriebenen Ähnlichkeiten in den Ergebnissen meiner Studie und anderer Studien, deren Daten zu früheren und späteren Zeitpunkten gewonnen wurden. Dies spricht zumindest in dem abgedeckten Zeitraum von knapp 15 Jahren für eine relative Stabilität der Angstthemen. Zweitens lässt sich dies auch theoretisch begründen, nämlich mit der relativen Beständigkeit bzw. Trägheit von Habitus und Kultur inklusive des hier für Angst relevanten praktischen Wissens (vgl. Kap. 3.1.1). Kann sich theoretisches Wissen so schnell wie die Medienberichte wandeln, so trifft dies für das praktische, alltagsweltlich relevante Erfahrungswissen nicht zu: Auch in Zeiten von Globalisierung und beschleunigter Kommunikation vergrößert sich die Alltagswelt nicht wesentlich. Dieser These der weitgehenden Beständigkeit der Angstthemen gilt es empirisch weiter nachzugehen in einer themenoffenen bzw. -übergreifenden Studie, für die ich in Kapitel 5 Vorschläge gemacht habe, und die auch symbolische Dimensionen von Unsicherheit berücksichtigt. Auch in Bezug auf meinen Vorschlag, Sicherheitskonzeptionen und relevante Ängste im Lebensverlauf zu verorten, ergeben sich weitere Fragen. Zunächst stellt sich die Frage, ob mein Modell in weiteren Studien konzeptuell trägt oder ob sich bspw. manche Muster anderweitig sozial kontextualisieren lassen, etwa generationenspezifisch. Trägt das Modell, so ließen sich in weiteren empirischen Arbeiten Beschränkungen meiner Analyse ausgleichen, ggf. weitere Typen rekonstruieren

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oder manche Typen weiter ausdifferenzieren ‒ in themen- und sampleübergreifenden, aber auch entsprechend fokussierten Studien. Manche Begrenzungen habe ich schon angesprochen. Diese betreffen erstens die Interviewmethodik (Kap. 5), die die Thematisierung materieller, externer Unsicherheiten favorisiert und insgesamt wenig Erzählräume öffnet, sodass ich möglicherweise symbolische Ängste unterschätze. Zweitens sind im Rahmen dieser Interviews spezifische Thematisierungsregeln und -grenzen zu beachten, sodass eventuell als unanständig geltende Ängste unterrepräsentiert sind. Drittens bringen auch mein Sampling und Sample spezifische Begrenzungen mit sich. Auch wenn ich ein kontrastreiches Sample angestrebt habe, sind bestimmte Positionen (im Sinne von Bevölkerungsgruppen) und damit verbundene Perspektiven (im Sinne von Mustern bzw. Typen) nicht oder unterrepräsentiert. In Bezug auf die Positionen betrifft dies etwa Jugendliche, die Heimbevölkerung, z.B. in Pflegeheimen (vgl. Kap. 7.6), Personen, die nicht erwerbsarbeiten ‒ sei es aufgrund eines bestimmten Lebenskonzepts, sei es aufgrund verfestigter Erwerbslosigkeit ‒ und Migrant*innen sowie Geflüchtete. Statt die »Ängste der Deutschen« zu untersuchen, sollten in zukünftigen Studien also die Ängste der in Deutschland lebenden Menschen untersucht werden (dazu auch Kap. 8.3). In Bezug auf mögliche fehlende Perspektiven ist denkbar, dass neben dem prekären Existenzsicherungstypus im Erwachsenenalter auch für die anderen Lebensphasen prekäre Typen existieren. Konträr dazu wäre auch ein Typus denkbar, in dem Sicherheit als überwiegend negativ erscheint und stattdessen eine starke Risikoorientierung vorzufinden ist (vgl. Lyng/Matthews 2007, Zinn 2015a) oder in dem Angst auch Positives meint. Furedi (2007) etwa weist darauf hin, dass Angst nicht nur eine Bedeutungserweiterung erfahren hat und heutzutage mit vielfältigsten Themen in Verbindung gebracht wird, sondern zugleich eine Bedeutungsverengung hin zu einer ausschließlich negativen Bedeutung. Positive Deutungen wie vormals bspw. in der Gottesfurcht fallen so heraus. Schließlich könnten im Kontext einer Soziologie der Angst die Forschungen zu sozialer Ungleichheit und dem Lebensverlauf konzeptuell und empirisch stärker verbunden werden (und überhaupt jeweils ausgebaut werden). Die verschiedenen klassischen Dimensionen sozialer Ungleichheit sind in meiner Analyse der Lebenslauflogik nachgelagert, wobei aber bspw. die Studien von Schmitz und Kolleg*innen (2018) und Voss und Kolleg*innen (2017) die Bedeutung von Klasse und Milieu für das Thema Angst verdeutlichen. Eine erste Möglichkeit, soziale Ungleichheiten stärker einzubeziehen, wäre folglich die Unterscheidung verschiedener Milieus als sozialstrukturelle wie kulturelle Gruppen (allgemein: Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2013, für die Prekarisierungsforschung: Pelizzari 2009 und Koppetsch/Speck 2015). Eine zweite Möglichkeit wären intersektionale Analysen, wie sie Olofsson und Kolleg*innen für die Sociology of Risk and Uncertainty vorgeschlagen haben (Kap. 2.3.2). Allerdings gilt es hierbei m.E. nicht nur, eine Brücke zum Thema Sicherheit bzw. Angst zu finden, sondern auch eine adäquate Methodologie (vgl. Win-

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ker/Degele 2009 und darauf eingehend Kubisch 2012). Eine dritte Möglichkeit wäre, die Dynamik bzw. Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Lebensverlauf zu betrachten. Bourdieu folgend müssten sich Ungleichheiten reproduzieren und ein spezifischer Habitus verfestigen, aber je nach Feld auch modifizieren. In Bezug auf mein Forschungsthema wäre entsprechend eine Panelstudie interessant, die die biographischen Flugbahnen der Akteur*innen und ihre Bedeutung für Sicherheitskonzeptionen und Ängste untersucht. Dies wäre gleichsam der empirische Test schlechthin für meine These, dass sich diese im Lebensverlauf ändern.

8 Konsequenzen der Differenzierungen

In den vorangegangenen empirischen Kapiteln wurde deutlich, dass die Angstdiagnose in verschiedener Hinsicht fraglich ist. Zunächst habe ich die Bedeutung bestimmter methodischer Entscheidungen für die erzielten Ergebnisse untersucht (Kap. 5). Hohe Angstwerte, wie sie die Studie »Die Ängste der Deutschen« alljährlich feststellt (zuletzt: R+V-Infocenter 2018), sind kein Ausdruck der emotionalen Befindlichkeit der Gesellschaft, sondern Folge mangelnder Konzeptualisierung und Differenzierung (vgl. auch Blinkert 2015). Differenziert man, gestaltet sich das Bild anders: Angst stellt nur für Interviewpartner*innen in spezifischen Situationen ihr aktuelles Lebensgefühl dar (Kap. 6), und die relevanten Ängste sind nicht zahllos, sondern beziehen sich auf abgrenzbare Bereiche (Kap. 7). Diese Ergebnisse habe ich in den jeweiligen empirischen Kapiteln ausführlich dargestellt und jeweils kurz bilanziert. In diesem Kapitel geht es mir nun darum, die Konsequenzen einer differenzierenden Perspektive für drei Diskursfelder aufzuzeigen, die im Kontext von Sicherheit bzw. Angst stehen und wissenschaftlich, aber auch gesellschaftspolitisch relevant sind: erstens das Sicherheitsparadox (Kap. 8.1), zweitens Kriminalitätsfurcht (Kap. 8.2) und drittens Rassismus bzw. Klassismus (Kap. 8.3). Die Anwendung meiner Ergebnisse auf diese Diskursfelder bleibt notwendigerweise kursorisch, da die einschlägigen Publikationen inzwischen etliche Regalmeter füllen und zahlreiche Aspekte betreffen, auf die ich nicht eingehen kann.

8.1

Paradox der Doxa statt Sicherheitsparadox?

Das Sicherheitsparadox: einige und eigene Erklärungen Das erste Diskursfeld, mit dem ich meine Ergebnisse in Bezug setze, ist das Sicherheitsparadox, das in fast keiner Arbeit zum Thema (Un-)Sicherheit unberücksichtigt bleibt. Dabei lassen sich verschiedene Fassungen des Sicherheitsparadoxes identifizieren. Blinkert (2010: 110f.) unterscheidet bspw. zwischen einem Paradox auf Aggregatebene und einem Paradox auf Personenebene, das in der Kriminalitätsfurchtforschung auch als Kriminalitätsfurchtparadox bekannt ist. Mir geht es hier um das Paradox auf Aggregatebene. Damit ist die Diskrepanz gemeint,

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dass wir in westlichen Gesellschaften objektiv betrachtet so sicher wie nie zuvor leben, aber zugleich in besonderem Maße Unsicherheiten wahrnehmen, empfinden und/oder thematisieren (z.B. Castel 2005, Kaufmann 1970 und 2003). Ein Ausdruck dessen ist der Aufstieg von Sicherheit zur »gesellschaftlichen Wertidee« (Kaufmann 1970, vgl. auch Bajc 2013a). Von den zahlreichen Erklärungsansätzen für dieses Sicherheitsparadox seien einige exemplarisch vorgestellt. Grundlegend ist festzuhalten, dass die Sicherheitsgewinne der Modernisierung durch mehr Wissen und mehr Technik im Ergebnis ambivalent sind. Erstens rücken im Zuge der »Entzauberung« und »Rationalisierung« (Weber 1919) der Welt immer mehr Aspekte, die früher dem Bereich des Schicksals (etwa durch göttliche Vorhersehung) zugerechnet wurden, in den Handlungs- und Entscheidungsbereich des Menschen. Und je mehr Bereiche des Lebens menschlicher Gestaltung zugänglich erscheinen, desto mehr Unsicherheit gibt es auch in Bezug auf die nun als offen konzipierte Zukunft (Kaufmann 2003: 93). Unabhängig davon, ob befürchtete Schäden in der Zukunft eintreten oder nicht, kann schon in der Gegenwart ein »Sorgeschaden« (Luhmann 1990: 159) entstehen. Zweitens gehen der Reflexiven Modernisierung zufolge Modernisierungserfolge mit Nebenfolgen einher, wie sie Ulrich Beck umfassend analysiert hat (dazu Kap. 2.2.1): Versuche, mit mehr Wissen und mehr Technik mehr Sicherheit herzustellen, führen selbst zu weiteren und neuen Unsicherheiten, die potenziell katastrophale Folgen haben (s. auch Luhmann 1990: 134f.). Dies kann sich über die von Beck genannten Beispiele der »neuen Risiken« hinaus bspw. darin äußern, dass der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt selbst zur »Entdeckung neuer Unsicherheitspotentiale führt, die sich grundsätzlich nicht beseitigen lassen« (Bonß 1995: 23). Ein weiteres Beispiel stellt die Komplexitätssteigerung dar, die aus der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Teilsysteme bzw. Institutionen mit verschiedenen Eigenlogiken resultiert: Diese erhöhen einerseits das objektive Maß an Sicherheit, andererseits bedingen sie erhöhte Verunsicherung, da man nicht gleichermaßen an allen Teilsystemen bzw. Institutionen teilhaben und damit nicht jede Logik kennen kann (Kaufmann 1987). Drittens nehmen mit steigender Sicherheit, bspw. bezüglich sozialer Sicherung durch den Wohlfahrtstaat, auch die Sicherheitsansprüche zu, sodass auf Unsicherheiten besonders sensibel reagiert und mehr Sicherheit eingefordert wird (Bonß 2011: 47, Kaufmann 1970: 17f.). All diese Erklärungen sind aus theoretischer, makrosoziologischer und einer auf größere historische Zeiträume gerichteten Perspektive einleuchtend. Was kann eine empirische Soziologie der Angst als lebensweltlichem Phänomen hierzu noch beitragen? Auch wenn ich mit meiner Studie keine diachrone Perspektive einnehmen kann, sondern nur eine kleine Momentaufnahme im großen historischen Zeitraum des Sicherheitsparadoxes beleuchten kann, will ich Anmerkungen für die lebensweltliche Ebene machen.

8 Konsequenzen der Differenzierungen

Prinzipiell ist aus empirischer Sicht zunächst festzuhalten, dass wir weit weniger über subjektive bzw. gesellschaftliche Unsicherheiten wissen als dies meiner Lesart nach in der These des Sicherheitsparadoxes angenommen wird. Vielmehr wurde deutlich, wie sehr die Ergebnisse empirischer Forschungen von den Methoden abhängen (Kap. 5) und insgesamt divergieren. Angesichts dieser Erkenntnisunsicherheit ist Vorsicht bei Aussagen über subjektive bzw. gesellschaftliche Unsicherheit geboten. Deutlich wurde in meinen empirischen Kapiteln auch, dass es wichtig ist zu differenzieren, worum es bei den gestiegenen Unsicherheiten, die das Sicherheitsparadox thematisiert, genau geht: um mediale Unsicherheitskommunikation oder um lebensweltliche Unsicherheiten? Wenn es wie in dieser Arbeit um lebensweltliche Unsicherheiten geht, stellen sich weitere Fragen. Ist erstens Unsicherheitswahrnehmung im Sinne von Unsicherheitsbewusstsein, zweitens Unsicherheitsempfinden im Sinne von Angst oder drittens das rhetorische Aufgreifen der Sprache der Angst bzw. (Un-)Sicherheit gemeint? Je nach Kontext gestaltet sich die Lage anders. Interessiert man sich für das Unsicherheitsempfinden, das in dieser Arbeit im Vordergrund steht, so gilt es zwischen unterschiedlichen »Erlebnisqualitäten« (Blinkert/Eckert/Hoch 2015) von Angst zu unterscheiden. Große Ängste sind meiner Analyse nach nur unter bestimmten sozialen Bedingungen anzutreffen, ansonsten dominieren k(l)eine Ängste das Bild (Kap. 6.3). Dieses Ergebnis deckt sich mit der quantitativen Analyse der zugrunde liegenden Studie (Blinkert 2015, Blinkert/Eckert/Hoch 2015) und mit einigen anderen Studien (z.B. Blinkert 2010, Burzan/Kohrs/Küsters 2014, Dehne 2017, Hirtenlehner/Hummelsheim 2011, Klimke 2008). Im Ergebnis handelt es sich hierzulande, um eine Formulierung von Hanak, Stehr und Steinert (1989) aufzugreifen, bei Angst mehr um ein Ärgernis als um eine Lebenskatastrophe. Mit Blick auf Angst als Emotion erscheint das Sicherheitsparadox demnach nur als scheinbares Paradox, denn wir leben weitgehend sicher und fühlen uns weitgehend sicher.1 Nimmt man hingegen das Unsicherheitsbewusstsein oder die Verwendung der Sprache der Angst und (Un-)Sicherheit als Indikator für gesellschaftliche Unsicher1 Hier kann eine weitere Differenzierung ansetzen, die Angst als Emotion hinsichtlich der relevanten Themen gemäß Baumans Sicherheitsbegriff näher lokalisiert. Die These lautet dann folgendermaßen: Während Unsicherheit im Bereich Unsafety in westlichen Gesellschaften in der Tat zurückgegangen ist und sich Ängste nur in geringem Maße darauf beziehen, haben Ängste in den Bereichen Insecurity und Uncertainty zugenommen (dazu Blinkert 2016). Dies kann an manche der o.g. Erklärungen zum Sicherheitsparadox anschließen, insbesondere an Becks Ausführungen zur »Brasilianisierung« und »Individualisierung« in der Risikogesellschaft. Diese Phänomene werden im gegenwärtigen soziologischen Diskurs als Prekarisierung gefasst im Sinne sozialer Unsicherheit, aber auch als Brüchigwerden vormaliger Gewissheiten in Bezug auf Geschlechterverhältnisse (z.B. Castel 2000, Manske/Pühl 2010, Motakef 2015, Wimbauer/Motakef/Teschlade 2015).

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heit, so erscheint diese höher als wenn man auf Unsicherheitsempfinden fokussiert. Denn mit dem Unsicherheitsbewusstsein erfasst man im Wesentlichen theoretisches (Welt-)Wissen, das sich u.a. aus medialen und politischen Unsicherheitsdiskursen speist (und ihnen darüber zu Legitimation verhilft). Angst als Emotion bzw. alltagsweltlich relevante Ängste spielen dabei allerdings weniger eine Rolle (Kap. 5.3, 6.3.1 und Kap. 7). Wird untersucht, was Sprechen über Angst und (Un-)Sicherheit bedeutet, dann werden ferner kommunikative, mikropolitische Funktionen sichtbar, die ebenfalls wenig mit Angst als Emotion zu tun haben. Zum einen erlaubt der Rekurs auf Angst eine positive Selbstpositionierung. Indem man die ›Ängste‹ der Anständigen anspricht, etwa die Angst vor devianten Handlungen ›Anderer‹, grenzt man sich von ihnen ab und präsentiert sich selbst als ordentliches Gesellschaftsmitglied (Kap. 6.4). Zum anderen werden mittels Angst bzw. (Un-)Sicherheit als Argument politische Forderungen erhoben, die in der Regel die ›Anderen‹ ausschließen, responsibilisieren und strafen wollen (Kap. 6.5). Diese rhetorische Inanspruchnahme der Angstsemantik zeugt von einer hohen kulturellen Bedeutung von Sicherheit, aber nicht von einer hohen Bedeutung von Angst als Emotion. Entsprechend wäre es plausibel, statt von einer Gesellschaft in Angst von einer Kommunikationskultur der Angst zu sprechen, die sich des kulturellen Skripts und der Sprache der Angst bedient, um unterschiedlichste Anliegen und Probleme zu thematisieren (Furedi 2007, 2018). Diese Kultur der Angst wiederum gewinnt jedoch ihre Plausibilität gerade aus der Annahme einer Gesellschaft in Angst und aus dem Verständnis von Angstkommunikation als authentischer, unbezweifelbarer Kommunikation. In der Bilanz dieser Differenzierungen erscheint mir das Sicherheitsparadox angesichts der geringen lebensweltlichen Relevanz von Angst als Emotion als die kleinere Paradoxie im Vergleich zu der Frage, warum wir so sehr daran glauben, in unsicheren Zeiten und einer Gesellschaft in Angst zu leben. Daher lässt sich weniger das Sicherheitsparadox als aufzulösendes Rätsel auffassen, sondern vielmehr – begrifflich angelehnt an Bourdieu – das »Paradox der Doxa« (2005: 7).

Das »Paradox der Doxa«: mögliche Erklärungen Bourdieu versteht unter dem »Paradox der Doxa« den Sachverhalt, dass die Weltordnung, so herrschaftsvoll sie ist, weitgehend akzeptiert wird und nicht für Widerspruch sorgt (ebd.). Bei der »Doxa« handelt es sich um als selbstverständlich akzeptierte und nicht hinterfragte Sachverhalte, in meinem Falle: die Annahme unsicherer Zeiten und einer verängstigten Gesellschaft, derzufolge »jeder WEIß, wie es mit der Sicherheit beSTELLT is« (Wilhelm Krause). Auch Forschung kann, so Bourdieu, zur Aufrechterhaltung dieser Doxa beitragen, wenn sie die sozial und politisch präkonstruierten Probleme, d.h. die Doxa, als Ausgangspunkt der Forschung übernimmt und dafür passende Umfragedaten liefert (Bourdieu 2004: 30).

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Entsprechend grenzt er sich von den »Doxosophen« (ebd.) ab ‒ den ›Meinungstechnologen‹, wie sie schon von Platon beschrieben wurden: »Die Meinungsumfrage kommt der landläufigen Vorstellung von Wissenschaft entgegen: Sie gibt auf die Frage, die ›alle Welt sich stellt‹ (alle Welt oder doch die kleine Welt derer, die Meinungsumfragen finanzieren können: Zeitungen und Zeitschriften, Politiker, Unternehmer), rasche, einfache und in Zahlen faßbare, anscheinend leicht zu verstehende und zu kommentierende Antworten. Doch hier mehr noch als in anderen Bereichen ›(sind) die primären Wahrheiten die primären Irrtümer‹ (Bachelard)« (Bourdieu 1992: 208). Unschwer lässt sich die Studie der R+V-Versicherung »Die Ängste der Deutschen«, die jährlich hohe Angstwerte feststellt (zuletzt R+V-Infocenter 2018, kritisch dazu z.B. Blinkert 2015), als eine solche doxosophische Umfrage fassen, die passende Daten zur These der verängstigten Gesellschaft liefert. Demgegenüber fordert Bourdieu, dass eine wissenschaftliche Soziologie den Bruch mit diesen präkonstruierten sozialen und politischen Problemen zu vollziehen und das »Augenscheinliche in Frage« zu stellen habe (Bourdieu 2004: 30; dazu auch Kap. 3.2). Hierum habe ich mich in den vorigen Kapiteln bemüht und bin angesichts von Zeitdiagnosen der Angst einen Schritt zurückgegangen, indem ich deren zentrale Annahme hinterfragt habe. Es ließen sich in zukünftigen Forschungen noch andere Schritte zurückgehen. Bourdieu folgend ist ein weiteres probates Mittel im Umgang mit präkonstruierten Problemen, die »Sozialgeschichte des Auftretens dieser Probleme« zu untersuchen (1996: 272). Im Bereich Angst und Sicherheit inklusive der politisch derzeit relevanten »zivilen Sicherheit« liegen hierzu bereits Analysen vor, die aus verschiedenen theoretischen Perspektiven in der Regel bestimmte Ausschnitte der Sozialgeschichte behandeln (z.B. Biess 2008, Daase 2011a und 2014, Hagmann/Dunn Cavelty 2012, F.-X. Kaufmann 1970 und 2003, St. Kaufmann 2011 und St. Kaufmann/Blum 2013, Kreissl 2008, O’Malley 2016; s. auch Kapitel 6.5.3). Es wäre aufschlussreich, etwa im Rahmen eines gouvernementalitätstheoretischen Ansatzes diese Analysen zusammenzuführen und so ein umfassendes Bild zu erhalten, das auch die Rolle von Forschung und damit die verschiedenen von Bourdieu genannten Akteursgruppen einbezieht. Dies hat Murray Lee für den Aufstieg von Kriminalitätsfurcht zu einem zentralen sozialen und politischen Problem in angelsächsischen Ländern geleistet (Lee 2001, 2010, 2011, Lee/Farrall 2009, Farrall/Lee 2009). Kriminalitätsfurcht als emotionale Befindlichkeit will er nicht leugnen, stellt aber heraus, dass sie kein vordiskursiver sozialer Tatbestand ist, sondern eine kontingente Kategorie, deren soziohistorisch hohe Relevanz in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart sich aus

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bestimmten Entwicklungen speist (Lee 2001).2 Er arbeitet heraus, wie in den 1960er Jahren Kriminalitätsfurcht in den USA politisch ›erfunden‹ wurde, nachdem bis dato nur die ›objektive‹ Dimension der Kriminalität interessiert hatte. Mit der politischen Thematisierung und Problematisierung von Kriminalitätsfurcht wurde diese auch zu einem Forschungsgegenstand, was erste staatlich initiierte Survey-Studien in den 1960er Jahren belegen. Die anschließenden Entwicklungen beschreibt Lee als einen nicht kausalen, sich aber doch selbst verstärkenden »fear of crime feedback loop« (Lee 2001: 480f.). Dieser speist seine Persistenz daraus, dass verschiedene Akteur*innen ein spezifisches Interesse in Bezug auf Kriminalitätsfurcht verfolgen. Unter Rückgriff auf gouvernementalitätstheoretische Ansätze analysiert Lee das politische Interesse an Kriminalitätsfurcht als neoliberales Regieren mittels Unsicherheit und Verhaltensregulierung mittels Responsibilisierung der Einzelnen (z.B. Lee 2010: 380ff.). Diese Beherrschung der Gesellschaft, ihr ›Management‹, setzt ein empirisches, v.a. statistisches Wissen um die Bevölkerung und ihre Kriminalitätsfurcht voraus, das ‒ mehr oder minder wissenschaftliche ‒ Meinungsumfragen liefern. Diese wiederum profitieren auch und gerade finanziell vom politischen Agenda-Setting und haben damit ihr eigenes Interesse, die Relevanz von Kriminalitätsfurcht herauszustellen. Medien und Wirtschaft können ebenfalls produktiv an den Kriminalitätsfurchtdiskurs als Nachrichtenwert und Verkaufsargument anknüpfen und diesen verstärken, was Ditton und Kolleg*innen auf den Punkt bringen: »Fear of crime is now bigger than General Motors.« (Ditton/Bannister et al. 1999: 83) Und schließlich tragen auch die Bürger*innen selbst dazu bei, dass Kriminalitätsfurcht gewissermaßen ein Eigenleben entwickelt: Auch sie können sich den Angstdiskurs zu eigen und zunutze machen, wobei Lee (2010) v.a. reiche, aufstrebende Mittelschichten im Blick hat.3 Insgesamt geht es ihm also darum, den diskursiven Aufstieg von Kriminalitätsfurcht nicht zentral als Ausdruck eines Anstiegs emotionalen Leidens zu verstehen, sondern ‒ im Gegenteil ‒ als Ausdruck der Funktionalität des Kriminalitätsfurchtdiskurses für die Beteiligten, die zu einer kommunikativen Selbstverstärkung führt. Die Herausforderung für die Wissenschaft besteht nun für Lee (wie für Bourdieu) darin, dass sie das ›verängstigte Subjekt‹, das sie mit hervorgebracht hat, nicht weiter reifiziert (Lee 2011: 181f.). Lee weist daher auf kritische im Sinne nicht-orthodoxer Forschungen zu Kriminalitätsfurcht hin, die deren Funktionalität auch für die Interviewpartner*innen aufzeigen (z.B. Girling/Loader/Sparks 2 Ergänzend zu Lees Ausführungen, der sich dem Aufstieg von Kriminalitätsfurcht v.a. mit Interesse am Wortbestandteil Kriminalität nähert, sei in Bezug auf den Wortbestandteil der Furcht auf den generellen Aufstieg von Emotionalität, Subjektivität und Authentizität verwiesen (Kap. 6.5.3). 3 Zu den vielfältigen Bezügen zwischen den verschiedenen Akteur*innen s. Farrall/Lee 2009: 4.

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2000, Jackson 2004) und Angst als Emotion in verschiedener Hinsicht dezentrieren (z.B. Ditton/Bannister et al. 1999). Zu ähnlichen Ergebnissen kam ich in den verschiedenen Kapiteln dieser Arbeit in Bezug auf das ›verängstigte Subjekt‹ generell, was über Kriminalitätsfurcht hinausweist: Auch jenseits von Mittelschichten nutzen die Interviewpartner*innen im Rahmen einer Kommunikationskultur der Angst die Sprache der Angst, um sich zu positionieren und politische Forderungen zu erheben. Nicht nur deshalb halte ich Lees Analysen zum »fear of crime feedback loop« auch im Hinblick auf den Aufstieg von Angst und Sicherheit als zentralen Topos plausibel ‒ auch in Bezug auf die ›objektive‹ Dimension, die bei Lees Ausführungen zur Kriminalitätsfurcht nicht im Interesse steht (vgl. z.B. Daase 2014, Kreissl 2008). Ein Hinweis darauf ist, dass das deutsche Sicherheitsforschungsprogramm kein reines Forschungsförderprogramm ist, sondern Teil der Hightech-Strategie der Bundesregierung, sodass die zu entwickelnden Sicherheitslösungen technischer Art sind. Diese Fokussierung auf bestimmte Lösungen ist alles andere als alternativlos (Berglez/Kreissl 2013), was darauf verweist, dass bestimmte ökonomische Interessen die Ausrichtung der Forschungsförderung beeinflussen (vgl. Kreissl 2008: 325). Die hier vertretene These, dass sich der Aufstieg von Sicherheit bzw. Angst mit Lees Modell des »fear of crime feedback loop« fassen lässt, gilt es in Zukunft zu überprüfen. Sie würde jedenfalls über die weiter oben gelieferten empirischen Hinweise hinaus einsichtig machen, dass wir es weniger mit einem Sicherheitsparadox, sondern mehr mit einem Paradox der Doxa zu tun haben. Und dieses lässt sich mit den Interessen verschiedener Akteur*innen an der Aufrechterhaltung des Sicherheits- bzw. Angstdiskurses begründen.

8.2

Kriminalitätsfurcht: weder Kriminalität noch Furcht?

Nachdem ich soeben den Blick von der Kriminalitätsfurcht auf Angst bzw. Sicherheit generell geweitet habe, komme ich nun auf das Thema Kriminalitätsfurcht zurück. Mit der Kriminalitätsfurchtforschung4 habe ich mich im Rahmen dieser Studie aus zwei Gründen beschäftigt: Erstens bietet sie einige relevante Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Soziologie der Angst. Zweitens ist Kriminalität der quantitativen Auswertung des themenoffenen Teils aller 405 Interviews der zugrunde liegenden Studie »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheiten« zufolge das zentrale Unsicherheitsthema (z.B. Blinkert/Eckert/Hoch 2015). Im Kontext persönlicher Sicherheit finden sich bei 36 % aller Interviewpartner*innen Themen, die wir der Kategorie Kriminalität zugeordnet haben. Es folgen 4 Für einen Überblick: Hale 1996, Hirtenlehner/Hummelsheim-Doss/Sessar 2018 und Lee/Mythen 2018.

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gesundheitliche Probleme (27 %) und Unfälle (24 %), um die drei wichtigsten Themen zu nennen. Diese zentrale Bedeutung von Kriminalität überrascht zum einen angesichts anderer in der Erhebung themenoffener bzw. -übergreifender Studien, in denen Kriminalitätsfurcht eine weniger bedeutende Rolle zukommt (z.B. Birenheide/Legnaro/Ruschmeier 2011, Hummelsheim 2015b, Kreissl 2015b, Zwick 2005). Zum anderen bringen qualitative Erhebungen in der Regel geringere Kriminalitätsfurchtwerte hervor als quantitative (Sessar 2008: 25, vgl. auch Gray/Jackson/Farrall 2008). Wie lässt sich diese Charakteristik unserer Interviews einordnen? Mittels meiner qualitativ-rekonstruktiven Analyse eines Teilsamples der 405 Interviews kann ich einige Interpretationen für diesen Befund liefern und zugleich meine Forschung an die Kriminalitätsfurchtforschung rückbinden (dazu bereits Eckert 2016). Dort wurden und werden mehr konzeptuelle und methodologische Reflexionen gefordert, z.B. wird gefragt, was genau man ›misst‹ (z.B. Farrall et al. 1997, Gray/Jackson/Farrall 2008 und 2011). Hierfür werden u.a. qualitative und andere heterodoxe Methoden jenseits des Surveys als hilfreich eingeschätzt (Hale 1996, Farrall 2004, Jackson 2005, Lee/Farrall 2009), um lebensweltliche Realitäten und kontextabhängige, komplexe und durchaus vage Phänomene wie Gefühle angemessener erforschen zu können. Hollway und Jefferson etwa beklagten in diesem Sinne die dominierende quantitative Ausrichtung in der Kriminalitätsfurchtforschung: »survey-type research was losing sight of an understanding of whole people in real-life contexts« (2008: 308). Vor diesem Hintergrund ist meine Studie heterodox, weil sie qualitativ-rekonstruktiv vorgeht, aber auch, weil das Thema Angst in einem breiteren Kontext als Kriminalitätsfurcht adressiert wird (vgl. Walklate/Mythen 2008). Welche Erkenntnisse lassen sich damit erzielen?

Zur allgemeinen und methodisch generierten Erzählwürdigkeit von Kriminalität Eine erste Deutung für die zahlreichen Kriminalitätserzählungen besteht in der hohen allgemeinen und methodisch generierten Erzählwürdigkeit von Kriminalität. Aus einer erzähltheoretischen Perspektive betrachtet stellt Kriminalität allgemein ein erzählwürdiges Thema dar (vgl. Kap. 5.5). Im Alltag wie im (themen-)offenen Interview stellt sich stets die Frage, was aus dem Universum an möglichen Thematisierungen relevant genug ist, um tatsächlich erzählt zu werden. Kriminalität erscheint hierbei in verschiedener Hinsicht als ein Thema, das kulturell als erzählwürdig gilt, ebenso wie Tod und physische Verletzungen (mit denen Kriminalität zusammenfallen kann) (Labov 1972, vgl. auch Shuman 2012 und Stehr 2002). Hinzu kommt, dass Ereignissen im Sinne einmaliger, faktischer und folgenreicher Erlebnisse eine erhöhte Erzählwürdigkeit zukommt (Hühn o.J.: §26 zum Ereignistyp II). Diese Merkmale treffen auch auf Kriminalität zu. Diese allgemeinen Thesen

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zur besonderen Erzählwürdigkeit von Kriminalität machen deutlich, dass Kriminalität ein in dieser Hinsicht adäquates Interviewthema ist. Allerdings ist das kein Argument, das spezifisch für unsere Studie zutrifft, sondern andere qualitative Studien ebenfalls betreffen müsste. Spezifisch für unsere Studie kann darüber hinaus eine methodisch generierte Erzählwürdigkeit von Kriminalität angenommen werden, die bei den Interviewpartner*innen zu der Erwartungserwartung führen konnte, dass wir etwas Bestimmtes von ihnen erwarteten und hören wollten (Kap. 5.3.1). Zum einen betrifft dies die Wahl von Unsicherheitssemantiken. Unsere zentrale Unsicherheitssemantik, Sicherheit als Substantiv, wurde in den Interviews v.a. mit innerer und physischer Sicherheit assoziiert, d.h. mit Themen im Bereich Safety.5 Sicherheit hat demnach alltagssprachlich nicht die offene, breite Bedeutung, die wir als Forschende mit diesem Begriff verbanden (vgl. auch Kohner/Kovanic 2016). Zum anderen kann auch die Art und Weise der Beziehungsgestaltung im Interview (der Rapport) Einfluss haben. Eine Tendenz der Interviewmethodik nämlich war, das Interview als unpersönliches Gespräch zu gestalten; unpersönlich in dem Sinne, dass die Interviewpartner*innen nicht eindeutig als Individuen adressiert wurden, deren persönliche Befindlichkeiten interessieren. Eine Variante des unpersönlichen Interviews stellt die Adressierung der Interviewpartner*innen als Repräsentant*innen eines Kollektivs dar. In einer anderen Variante zielen die Fragen auf abstraktes, theoretisches und nicht auf erfahrungsgebundenes, persönliches Wissen. In einem unpersönlichen Interview kann es naheliegend sein, über unpersönliche Themen zu sprechen, die als allgemeingültig angesehen werden. Dies sind vorrangig solche Themen, die im medialen und politischen Diskurs zentral sind, allen voran Kriminalität.6 Zusammenfassend können also die Wahl von Sicherheit als zentraler Semantik sowie die Tendenz zur unpersönlichen Beziehungsgestaltung als methodische Entscheidungen ebenfalls Kriminalitätsthematisierungen begünstigt haben.

Die Generalisierungsthese der Kriminalitätsfurcht und Dezentrierung von Kriminalität Darüber hinaus sind Kriminalitätserzählungen aber auch inhaltlich zu deuten: Sie können genutzt werden, um Ängste verschiedener Art zum Ausdruck zu bringen, v.a. in den Bereichen Insecurity und Uncertainty. Kriminalität als Unsicherheitsthema an und für sich wird entsprechend dezentriert, relevanter ist der Kontext, in dem es erzählt wird und durch den es an Bedeutung gewinnt (vgl. auch Girling/Loader/Sparks 2000, Stehr 1998 und 2002). In meiner Analyse (Kap. 7) erwiesen sich folgende Bedeutungen von Kriminalität als zentral: 5 Vgl. exemplarisch die Fallanalyse Nicole Schütze (Kap. 5.3.1). 6 Das illustriert eindrücklich die Fallanalyse David Hesse (Kap. 5.3.1).

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Orientierungsunsicherheit (Kap. 7.4.1): In der Lebensphase der Postadoleszenz können anhand von Kriminalitätsgeschichten (als eine Version von Moralgeschichten) Orientierungsunsicherheiten kommunikativ bearbeitet werden, indem anhand von Normbrüchen anderer Personen Moral verhandelt und eine eigene Position ausgebildet wird (Uncertainty im Sinne moralischer Ungewissheit). Abstiegsangst (Kap. 7.5.3): In der Lebensphase des Erwachsenenalters dokumentieren sich bei prekär lebenden Interviewpartner*innen in Kriminalitätserzählungen materielle und symbolische Dimensionen von Abstiegsangst. In materieller Hinsicht bedeutet die Betroffenheit von Eigentums- und Gewaltdelikten ein (weiteres) Erschwernis im prekären (Über-)Leben bzw. eine Verschärfung der Existenzangst, u.a. da finanzielle Verluste zu verzeichnen sind und Erwerbsarbeit als Einkommensquelle unterbrochen werden muss (Security im Sinne sozialer Sicherheit). In symbolischer Hinsicht können Erzählungen über deviante, d.h. auch kriminelle ›Andere‹ genutzt werden, um sich mittels des symbolischen Tritts nach unten als leistungswilliges, normkonformes Gesellschaftsmitglied darzustellen, das trotz prekärer Bedingungen den anständigen Weg der Erwerbsarbeit wählt und nicht zwecks illegitimen Gelderwerbs kriminell wird (Security im Sinne des symbolischen Statuserhalts). Ordnungserhalt (Kap. 7.6.2): In der Lebensphase des Rentenalters lässt sich ein Muster rekonstruieren, in dem der Erhalt der alten Ordnung im Zentrum steht. Die Erzählungen kreisen um Devianz, v.a. um Incivilities und Kriminalität, die Jugendlichen zugeschrieben werden. Darin manifestiert sich für die ältere Generation, dass ihre eigenen Werte und ihr eigener Wert infrage gestellt werden. Es geht im Kern also um ihren Status in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft, dessen Nicht-Anerkennung sie wahrnehmen, dessen (weiteren) Verlust sie fürchten und dessen Verteidigung sie von der Politik einfordern. In diesen Interviewthematisierungen geht es aber nicht nur um Verunsicherung (Security im Sinne des symbolischen Statuserhalts); das Ungerechtigkeitsempfinden ist bedeutender.

Die Nähe dieser drei Bedeutungen zur Generalisierungsthese der Kriminalitätsfurcht ist offensichtlich: Diese These besagt, dass Kriminalitätsfurcht Ausdruck diffuser, allgemeiner Ängste sozioökonomischer (Insecurity) oder soziokultureller Art (Uncertainty) ist, die auf Kriminalität als Thema im Bereich Unsafety projiziert werden (z.B. Britto 2013, Girling/Loader/Sparks 2000, Gerber/Hirtenlehner/Jackson 2010, Hirtenlehner 2009, Hirtenlehner/Farrall 2013, Hirtenlehner/Hummelsheim 2011, Hollway/Jefferson 1997, Jackson 2004). Denn die Fokussierung auf Kriminalität gibt dem Ungreifbaren etwas Greifbares, das konkrete Handlungen und Forderungen zulässt (vgl. Hollway/Jefferson 1997: 265). Ergänzend lässt sich festhalten, dass erzähltheoretisch betrachtet Kriminalität einen guten Erzählgegen-

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stand darstellt. Insgesamt zeigt sich eine hohe Passung meiner Ergebnisse zur Generalisierungsthese der Kriminalitätsfurchtforschung; Kriminalität wird damit als Angstthema in seiner Bedeutung relativiert. Allerdings gibt es auch Unterschiede festzuhalten bzw. offene Fragen zu formulieren. Erstens werden in der Kriminalitätsfurchtforschung die analysierten Ängste oft in Verbindung gebracht mit verschiedenen Makro-Theorien des sozialen Wandels, z.B. von Beck oder Giddens, die diese Ängste plausibilisieren (z.B. Hollway/Jefferson 1997). Fraglich ist für mich, ob es notwendigerweise sozialen Wandel als Krisengenerator braucht. Mit Blick auf Kriminalitätsfurcht als Teil von Abstiegsangst erscheint eine Deutung mit Prekarisierungstheorien (z.B. Bourdieu 2004, Castel 2000) plausibel, doch mit Blick auf die Bedeutung von Kriminalitätserzählungen hinsichtlich Orientierungsunsicherheit und Statuserhalt ist die Annahme eines sozialen Wandels nicht notwendig. Hier scheint eher der Wandel im Lebensverlauf relevant zu sein, der die Akteur*innen mit neuen Herausforderungen konfrontiert, z.B. mit sozialen Konflikten um Status und Ressourcen (ausführlicher: Kap. 8.3). Zweitens sollte m.E. der Bezug zwischen Kriminalität und den diffusen sozialen Ängsten besser konzeptualisiert werden. Kriminalitätsfurcht wird von einigen Autor*innen als »Metapher« für andere Ängste bezeichnet (z.B. Hirtenlehner 2009). Die Semantik der Metapher impliziert, dass Angst auf einen gänzlich anderen Bereich übertragen wird. In meinen Analysen lässt sich Kriminalität aber nicht immer so deutlich abtrennen. Gerade hinsichtlich der Abstiegsangst ist sie ein Teil der Angst, sodass hier eher von einer Metonymie zu sprechen ist. Drittens ist fraglich, ob es in qualitativen Studien bei Kriminalitätserzählungen und in quantitativen Studien bei der Angabe, sich vor Kriminalität zu fürchten, immer um Angst als Emotion geht. Im oben vorgestellten Muster des Ordnungserhalts geht es eher um Ungerechtigkeitsempfinden.

Ungerechtigkeit statt Unsicherheit Dass Kriminalität nicht ausschließlich mit der Emotion Angst einhergeht, sondern vielmehr mit verschiedenen Ausprägungen von Ungerechtigkeitsempfinden, wurde in der Kriminalitätsfurchtforschung bereits diskutiert (Ditton/Farrall et al. 1999 und Ditton/Bannister et al. 1999), geriet aber offenbar wieder in Vergessenheit. Die Beiträge zur Generalisierungsthese der Kriminalitätsfurcht etwa kommen ohne eine entsprechende Reflexion aus, was sie ›messen‹. An die Analysen von Ditton und Kolleg*innen zur Bedeutung von Ärger anknüpfend und gleichzeitig darüber hinausgehend rekonstruierte ich insbesondere in Kriminalitätserzählungen, die mit Responsibilisierungen ›Anderer‹ einhergehen (z.B. Jugendlichen, Arbeitslosen, ›Ausländer*innen‹), mehr Ungerechtigkeits- als Unsicherheitsempfinden. Deutlich wurde dabei auch wie bereits mit Bezug auf Lee beschrieben (Kap. 8.1), dass Kriminalitätsfurchtdiskurse auch mikropolitisch äußerst produktiv genutzt werden kön-

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nen: für Positionierungen im Sinne einer moralischen Identitätsarbeit, aber auch für Forderungen, die ›bedrohlichen Anderen‹ auszuschließen, zu responsibilisieren und zu strafen, um Gerechtigkeit wiederherzustellen (Kap. 6.4 und 6.5). Für diese mikropolitische Ökonomie der Angst bzw. (Un-)Sicherheit bietet sich Kriminalität besonders an, da Moral am besten über Normbrüche verhandelt werden kann, wie sie Kriminalitätsereignisse paradigmatisch darstellen (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 1991, Cremer-Schäfer 1992 und 2011). In dieser Zusammenschau meiner Ergebnisse zum Thema Kriminalitätsfurcht lässt sich festhalten, dass eine empirische Kritik an beiden Wortbestandteilen ansetzen kann: Weder handelt es sich immer um Kriminalität, worum die Angst kreist, auch wenn Kriminalitätsereignisse als Erzählgegenstände gewählt werden, noch handelt es sich immer um Angst als emotionale Reaktion, wenn Kriminalität ein relevantes Thema ist. Dies zu quantifizieren wäre interessant, doch liegt das naturgemäß außerhalb der Möglichkeiten meines Ansatzes.

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Rassismus (und Klassismus): welche Angst, wessen Angst?

In einer vermeintlichen Gesellschaft in Angst verwundert es nicht, wenn Angst als Explanans für eine Vielzahl an Phänomenen gilt (kritisch bereits Hunt 1999), so auch für Rassismus und Rechtspopulismus.7 Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Forderung, die Ängste und Sorgen der Bürger*innen ernst zu nehmen, etwa die der Teilnehmenden der Protestbewegung »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida) (kritisch dazu z.B. Foroutan 2016, zur Wiederkehr dieser Rhetorik Kulaçatan 2016). Dies wirft die Frage auf, was Rassismus mit Angst genau zu tun hat: Welche und wessen Ängste sind es, die sich in der Abwertung ›Anderer‹ sowie Forderungen nach deren Ausschluss aus nationalstaatlichem Territorium oder sozialstaatlichen Leistungen Gehör verschaffen? Diese Frage ist für mich mit Blick auf meine Analysen in Kapitel 6 und 7 relevant. Deutlich wurde nämlich, dass sich Abwertungen ›Anderer‹, v.a. in Form von rassistischen und klassistischen Äußerungen, durch das Interviewmaterial ziehen. Diese Abwertungen interpretiere ich nun bündelnd. Dabei nehme ich an, dass sich manche Aspekte der Diskussion um Rassismus auch auf Klassismus übertragen lassen. Wie hängen nun Rassismus und Angst zusammen?

7 Die Diskussionsstränge zum Thema Rassismus und Rechtspopulismus verlaufen oft separat, obwohl es inhaltliche Überschneidungen gibt. Im Folgenden spreche ich der Einfachheit halber nur noch von Rassismus, auch wenn ich auf beide Diskussionsstränge Bezug nehme.

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Rassismus aus Angst? Ein erster Ansatz, Rassismus und Angst zusammenzudenken, wäre die Annahme einer natürlichen Fremdenangst, die in Zeiten erhöhter Migration an Nahrung gewinnt. Aus einer soziologischen, sozialkonstruktivistisch und machttheoretisch informierten Perspektive ist dies aber in mindestens zweierlei Hinsicht kritisch zu betrachten. Zum einen stellt sich die Frage, was Fremdheit in komplexen, ausdifferenzierten Gesellschaften, in denen sich alle Gesellschaftsmitglieder in gewisser Hinsicht fremd sind, bedeutet und was den einen fremder macht als die andere. Fremdheit ist daher, wie Georg Simmel bereits festgestellt hat, keine natürliche Eigenschaft von Menschen, sondern wird in sozialen Beziehungen zugewiesen und stellt damit eine soziale Konstruktion dar (vgl. Scherr 1999: 57). Zum anderen ist aus soziologischer Perspektive neben der Fremdheit die Angst zu entnaturalisieren: Warum sollte Angst die einzige oder automatische Reaktion auf ›Fremdheit‹ sein ‒ und nicht etwa Neugierde oder Gastfreundschaft (Flam/Kleres 2004 und 2008)? Doch auch in verschiedenen soziologischen Ansätzen findet sich die Annahme, dass Angst Rassismus begünstigt. Eine mögliche Erklärung hierfür bietet eine Vielfalt an Ansätzen, die ich in Anlehnung an die obigen Ausführungen zur Generalisierungsthese der Kriminalitätsfurcht als Projektionsthese zusammenfasse. Demnach werden diffuse Ängste nicht nur auf den konkreten, handhabbar erscheinenden Gegenstand Kriminalität projiziert, sondern auch auf ›Andere‹. Diese Sündenböcke gilt es sodann aus nationalstaatlichem Territorium oder sozialstaatlichen Leistungen auszuschließen (Bauman 2003: 119ff., Kunz 2013). Leonidas Donskis (2006) bspw. bringt diese These in seinem Aufsatztitel »Another Word for Uncertainty: Anti-Semitism in Modern Lithuania« zum Ausdruck. Um welche Ängste geht es nun konkret? Zentral scheinen sozioökonomische Ängste, die sich etwa in Abstiegsängsten ausdrücken und von denen angenommen wird, dass sie in Zeiten von Prekarisierung (Bourdieu 2004: 107ff., Castel 2000, Castel/Dörre 2009) nicht nur sogenannte Modernisierungsverlierer*innen treffen, sondern auch Menschen in noch gesicherten Positionen. Relevant ist demnach nicht die objektive Betroffenheit von Prekarisierung, sondern die subjektive Perspektive: Fühlt man sich von Prekarisierung bedroht, begünstigt dies die Abwertung ›Anderer‹ (in unterschiedlicher Konturierung z.B. Flecker/Krenn 2004, Grau/Gross/Reinecke 2012, Heitmeyer 2012, Mansel/Christ/Heitmeyer 2012, Nachtwey 2016, Sommer 2010). Es werden aber auch soziokulturelle Ängste ins Feld geführt, die aus einem raschen, gar beschleunigten gesellschaftlichen Wandel resultieren können. Hartmut Rosa etwa stellt aufbauend auf seine bisherigen Analysen zur beschleunigten Gegenwartsgesellschaft, die Resonanz vorenthält und stattdessen Entfremdung fördert, die These auf: »Die Fremden werden zur Projektionsfläche für die Erfahrung der Entfremdung« (2016: 292). Teils werden sozioökonomische und soziokulturelle Ängste auch als zusam-

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menhängend diskutiert, wobei erstere in der Regel als relevanter gelten (Flecker 2008, Hentges/Flecker/Balazs 2008, Kunz 2013). Manche Autor*innen gehen noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur bestimmte sozioökonomische und/oder soziokulturelle Verunsicherungen als rassismus- und klassismusfördernd identifizieren, sondern eine generelle Krisensituation ausmachen. Wie bereits dargestellt (Kap. 2.2.1), ist eine von Becks Überlegungen im Kontext seiner umfassenden Zeitdiagnose der Risikogesellschaft die, dass konstruierte Andere als »Blitzableiter« für Verunsicherung dienen können (Beck 1989: 9; vgl. auch Beck 2007a: 348). Ähnlich argumentieren auch Zygmunt Bauman, der gegenwärtig eine besonders schwer zu ertragende flüchtige, diffuse Angst sieht (1999: 17f., 2003: 119f., 2006), und Wilhelm Heitmeyer (2012), der verschiedene Dimensionen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ‒ von der Abwertung Langzeitarbeitsloser zur Fremden- und Islamfeindlichkeit ‒ auch im Kontext eines ›entsicherten Jahrzehnts‹ interpretiert. In Zeiten einer Gesellschaft in Angst scheinen solche Ansätze hohe Plausibilität beanspruchen zu können. Allerdings sind sie auch kritisch zu sehen. In Bezug auf die Angstthemen erscheinen mir manche der oben zitierten Ansätze zu unspezifisch und diffus, wenn sie auf eine allgemeine hohe Verunsicherung rekurrieren. Die von Heitmeyer benannte Bedeutung von Terrorismus nach dem 11. September 2001 bspw. kann ich nicht im Sinne eines lebensweltlich relevanten, praktischen Wissens bestätigen (vgl. Kap. 5 aus methodenreflexiver Sicht und Kap. 7.7 aus thematischer Sicht). Andererseits ist aber auch kritisch zu beurteilen, wenn auf spezifische Ängste als Erklärungsfaktoren fokussiert wird. Zwar konnte auch ich sozioökonomische Ängste ausmachen. Einige standardisierte Studien zeigen jedoch, dass diese nicht so stark ausgeprägt sind wie in arbeits- und industriesoziologischen Prekarisierungstheorien teilweise angenommen (vgl. auch Burzan/Kohrs 2013, Lengfeld/Ordemann 2016). Sie können daher die Abwertung ›Anderer‹ nur teils erklären, wie Julia Hofmann (2016) anhand österreichischer Daten analysiert. Ihren Analysen zufolge haben v.a. das Bildungsniveau, die relative Deprivation (als Ungerechtigkeitsempfinden) sowie die Einschätzung, dass sich die allgemeine Situation am österreichischen Arbeitsmarkt sowie das Sozialsystem verschlechtern, Einfluss auf das Ausmaß gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Weniger relevant ist hingegen die persönliche sozioökonomische Verunsicherung. Auch Evelyn Sthamers (2018) statistische Auswertung von in Deutschland erhobenen Daten legt nahe, dass das Ungerechtigkeitsempfinden eine bedeutende Rolle für die Absicht spielt, die Partei »Alternative für Deutschland« (AfD) zu wählen: »So wird die AfD-Wahlabsicht etwa dann begünstigt, wenn die Menschen das Gefühl haben, im Vergleich zu anderen weniger als ihren gerechten Anteil zu erhalten. […] Weiterhin scheint das Thema einer ungerechten Ressourcenverteilung vor allem in Ostdeutschland einen Beitrag für die höhere Unterstützung der AfD zu leisten.« (Ebd.: 586)

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Dies deckt sich mit meinen Analysen, wonach die Abwertung ›Anderer‹ mehr mit Ungerechtigkeits- als mit Unsicherheitsgefühlen einhergeht (Kap. 6.5), und legt die Vermutung nahe, dass Angst als Emotion eine geringere Rolle spielt als angenommen. Zudem muss differenziert werden, was mit Angst genau gemeint ist. Aus emotionssoziologischer Sicht mahnten dies Helena Flam und Jochen Kleres bereits vor über einem Jahrzehnt an: »Während Angst sehr oft in verschiedenen populären wie wissenschaftlichen Diskursen zur Fremdenfeindlichkeit auftaucht, wird sie dort dennoch meist unzureichend theoretisiert.« (2004: 4) Ich habe mich in der vorliegenden Arbeit um eine Theoretisierung und Differenzierung bemüht (v.a. Kap. 6). Auf dieser Basis sehe ich Angst v.a. als Argument, das Rassismus sagbar macht (vgl. auch Keller/Berger 2017).

Angst als Argument, das Rassismus sagbar macht In Bezug auf die Nutzung als Argument habe ich drei Spielarten herausgearbeitet, die auch in Bezug auf die Artikulation von Rassismus zutreffen dürften (Kap. 6.5, vgl. auch Bröckling 2016): erstens einen objektivierenden Bezug zu Sicherheitsbedrohungen durch ›Andere‹, der sich neutral und unbestreitbar gibt, weil er auf die ›Faktizität‹ von Sicherheitsproblemen verweist; zweitens die Anrufung von Intersubjektivität, indem auf einen vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens verwiesen wird, von dem die als gefährlich konstruierten ›Anderen‹ abweichen; und drittens die subjektivierende Bezugnahme auf Angst als Gefühl, deren potenzielle Wirkmächtigkeit sich wie die beiden vorigen Modi aus dem Aufstieg von Sicherheit zur »Wertidee« (Kaufmann 1970) speist, aber auch aus dem Aufstieg von Subjektivität, Authentizität und Emotionalität. Wie Luhmann schon analysierte, ist Angstkommunikation unangreifbar, »da man sich selbst bescheinigen kann, Angst zu haben, ohne daß andere dies widerlegen können.« (1988: 240) Die generelle Bedeutung von Angst bzw. Sicherheitsbedrohung als Argument verstärkt sich im Kontext von Rassismus: Rassismus wird dadurch sagbarer. Denn ›Andere‹ abzuwerten widerspricht eigentlich der Gleichheitsidee der Moderne und braucht daher einen Grund (vgl. Heitmeyer 2012). Nicole Schütze bringt dies etwa zum Ausdruck, wenn sie auf die Frage nach Bedrohungen der allgemeinen Sicherheit rückfragt: »Darf man das ansprechen? Die Türken?«, und intensive rhetorische Anstrengungen tätigt, sich von einem ›ungebildeten‹ Rassismus abzugrenzen (Kap. 6.5.1). Auch andere Interviewpartner*innen zeigen sich besorgt, als Rassist*innen (miss)verstanden zu werden, und ergreifen rhetorische Gegenmaßnahmen, indem sie etwa ihre eigene Weltläufigkeit betonen. Dies demonstriert, dass rassistische Äußerungen ‒ anders als klassistische, die keine solche rhetorische Einhegung erfahren ‒ bestimmten Regulierungen unterliegen. Der Rekurs auf Angst bzw. (Un-)Sicherheit bietet den Interviewpartner*innen jedoch einen Ausweg. Er stellt gegenwärtig offenbar einen sozial plausiblen Grund dar, gegen das Gebot der

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Vorurteilsfreiheit zu verstoßen ‒ ebenso wie der Rekurs auf Leistung, etwa im Hinblick auf die angebliche Leistungs- und Integrationsverweigerung der ›Anderen‹ (vgl. Beck 2010: 12, Haupt 2012). Durch diese Differenzierung von Angst als Emotion und Angst als Argument entpuppt sich die Herausforderung, die die Ethnologin Alexandra Schwell (2015: 108) benennt, also als irrelevant: »how can anthropologists take fears seriously while at the same time avoiding the pitfalls of excusing or justifying racist prejudices?«. Statt vermeintliche Ängste ernstzunehmen, gilt es vielmehr, die Äußerungen bzw. Erzählungen in ihrem Bedeutungsgehalt aufzuschlüsseln.

Rassismus und Klassismus konflikt- und machtsoziologisch gedeutet Wenn ich Rassismus, ebenso wie Klassismus, nun nicht in zentraler Weise mit Angst erkläre, wie dann? Unter Bezugnahme auf meine empirischen Rekonstruktionen der Bedeutungsgehalte, aber v.a. anhand theoretischer Überlegungen will ich im Folgenden grob ein allgemeines Modell skizzieren, das die Abwertung ›Anderer‹ v.a. konflikt- und machtsoziologisch fasst (vgl. v.a. Weiß 2001a und 2001b).8 Wandels- und Krisentheorien, die teilweise die bereits vorgestellten Projektionsthesen wesentlich unterfüttern, werden dadurch dezentriert: Wandel und Krisen führen nicht an und für sich zu Abwertungen, aber können das gesellschaftliche Positionengefüge so verändern, dass im Zuge des Wandels bspw. Akteure in bestimmten Positionen im Vergleich zu anderen einen Privilegienverlust oder eine Entselbstverständlichung ihrer Privilegien erfahren. Bourdieu zufolge gestaltet sich das Soziale als Kampf um Ressourcen, Positionen und hegemoniale Weltsichten (Kap. 3.1.1). Rassismus und Klassismus beruhen dabei auf Konstruktionen des ›Anderen‹, die als Mittel im Konflikt dienen und Konstruktionen der Mächtigen sind. Rassismus- und Klassismustheorien zufolge ist das ›Andere‹ dabei nicht vorgängig und fremd, sondern der Prozess wird umgekehrt gedacht: Das ›Andere‹ wird erst als solches in einem machtförmigen Prozess hervorgebracht, also konstruiert. Dies wird als »Othering« bezeichnet, als »VerAnderung« (Reuter 2002), das die Differenzen zwischen ›uns‹ und ›denen‹ erst 8 Konkret müsste es mit Blick auf die verschiedenen Akteursgruppen ausbuchstabiert werden. Meine Analysen in Kap. 7 zu den jeweils typischen Abgrenzungen sind ein erster Versuch in diese Richtung. Für das Verständnis des zeitgenössischen Rechtspopulismus einschlägiger erscheint mir allerdings eine Untersuchung, die klassen- bzw. milieuspezifische Erfahrungen und Abgrenzungen in den Vordergrund rückt, wie Cornelia Koppetsch es in ihrer sehr aufschlussreichen Studie tut (z.B. 2017). Sie analysiert die Attraktion des Rechtspopulismus in verschiedenen Klassen bzw. Milieus anhand der jeweiligen Deklassierungserfahrungen v.a. im Bereich der symbolischen Ordnung und deutet das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien als Ausdruck eines Klassenkonflikts um Deutungshoheit. Zum Zeitpunkt des Erscheinens meiner Studie wird ihre Monographie mit dem Titel »Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter« (2019) veröffentlicht sein.

8 Konsequenzen der Differenzierungen

erzeugt. Bei Rassismus geschieht diese Konstruktion entlang von rassifizierenden Zuschreibungen, wobei dies heutzutage auch Kultur und Religion sein können, wie es sich beim antimuslimischen Rassismus zeigt (Attia 2007). Bei Klassismus werden ›Andere‹ entlang ihrer sozioökonomischen Position konstruiert, was z.B. Menschen mit geringer formaler Qualifikation, Arbeiter*innen, »Hartz IV«-Bezieher*innen, Langzeitarbeitslose, Obdachlose und Arme betrifft (Kemper/Weinbach 2009, Meulenbelt 1988). Gelingt es, derlei im Prinzip willkürliche Grenzziehungen durchzusetzen und die Unterscheidung als natürliche erscheinen zu lassen, so handelt es sich um symbolische Macht (Bourdieu 2002). M.E. zeigt sich diese symbolische Macht in den Interviews darin, dass die machtvollen Konstruktionen auch von den dadurch Abgewerteten nicht infrage gestellt werden; vielmehr geben sie die Abwertungen an ›Andere‹ weiter, die sie als die wahren ›Anderen‹ sehen (vgl. insbesondere Kap. 7.5.3). Dass Fremdheit nicht als vorgängig konzipiert wird, sondern als Mittel im Konflikt (vgl. auch Elias/Scotson 2002), unterscheidet das Rassismus- und Klassismuskonzept von anderen Konzepten wie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Ausländer- und Islamfeindlichkeit, Xeno- und Islamophobie, um nur wenige Beispiele zu nennen. Hier wird die Fremdheit der ›Anderen‹ als Ausgangspunkt und als Auslöser von Reaktionen wie Feindlichkeit oder Phobie genommen (vgl. Attia 2014).9 Die unterschiedliche Konzeptualisierung der Abwertung ›Anderer‹ zeigt sich auch darin, welche Maßnahmen adäquat erscheinen. Legt eine Fassung von Islamophobie Mitleid oder Verständnis mit den pathologisierten Verängstigten nahe, so stellt sich mit Bourdieu und unter Bezugnahme auf das Rassismuskonzept die Frage nach gesellschaftlichen Machtverhältnissen, wobei die soziale und symbolische Ordnung eng verbunden sind. Ein solches Verständnis hat Folgen für die antirassistische Arbeit: Eine reine Bewusstseinsarbeit, die etwa anhand von Fakten Vorurteile gegenüber ›Anderen‹ ausräumen will, verfehlt den Kern. Denn erstens findet Diskriminierung selten aus böser Absicht statt, »sondern in vollkommener Unschuld der Unbewußtheit« (Bourdieu 1997a: 228). Zweitens materialisiert sich die symbolische Ordnung in den »Gewohnheiten des Körpers« (ebd.), ist also habitualisiert und damit reflexiv nur schwer zugänglich. Damit verbunden und drittens zeigt sich die symbolische Ordnung auch in so scheinbar unscheinbaren Aspekten der sozialen Praxis wie Fragen des Geschmacks: des legitimen und illegitimen Geschmacks (dazu bereits Kap. 2.3.2, insbesondere Montelius/Giritli Nygren 2014) und der damit verbundenen Distinktionspraktiken, die auch »außerhalb jeder Distinktionsabsicht« liegen können (Bourdieu 1992: 146). Daher muss eine Intervention an der machtvollen 9 Natürlich gibt es Menschen muslimischen Glaubens schon vor Rassismus. In Rassismustheorien geht es aber um etwas anderes: um die (äußerst wirkmächtigen) Zuschreibungen.

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Gesellschaft in Angst?

symbolischen Unterscheidung von ›uns‹ und den ›Anderen‹, d.h. an den Klassifikationen und den damit verbundenen Bewertungen selbst ansetzen: »Will man die Welt ändern, muß man die Art und Weise, wie Welt ›gemacht‹ wird, verändern.« (Bourdieu 1992: 152)

Wessen Ängste werden gehört? Wenn gefordert wird, die (vermeintlichen) Ängste und Sorgen der Menschen politisch ernst zu nehmen, stellt sich die Frage, wer damit üblicherweise gemeint ist ‒ vermutlich nur Mitglieder der ›Mehrheitsgesellschaft‹. Es gilt daher stärker als in dieser Arbeit geschehen zu fragen, wer in seiner (vermeintlichen) Angst gehört wird, sich im gegebenen (Forschungs-)Rahmen artikulieren kann und wer sich das Angst-Argument effektiv zunutze machen kann (vgl. auch Bourdieu 1990, Huysmans 1999, Lee 2010, Pain/Smith 2008, Schmitz/Gengnagel 2018). Umfassender sollten in zukünftigen Forschungen zudem die von Rassismus (potenziell) Betroffenen zu Wort kommen, um durch ihr Überhören nicht die symbolische bzw. epistemische Macht zu steigern, der sie ohnehin ausgeliefert sind (vgl. Rommelspacher 2011). Bislang liegen nur wenige Studien vor, die etwa die Ängste von Migrant*innen in übergreifender Weise untersuchen (Enzenhofer et al. 2009, Flam/Kleres 2004). Aktuell handelt es sich entsprechend noch um eine »verkannte Angst des Fremden« (Kulaçatan 2016). Jedoch ist davon auszugehen, dass diesen ›Anderen‹ Rassismus, der auf vermeintlicher Angst beruht, tatsächlich Angst machen kann. So kann eine bestimmte symbolische Ordnung ‒ etwa eine auf rassistischen Unterscheidungen beruhende ‒ selbst als Risiko-Objekt gefasst werden, indem sie Diskriminierungen bestimmter Personengruppen wahrscheinlicher macht, etwa in der Arbeitswelt oder durch Hassverbrechen (vgl. Giritli Nygren/Öhman/Olofsson 2016). Die Betroffenen sind damit keine Zufallsopfer, sondern durch ihr ›So-Sein‹ bestimmten Situationen stärker ausgesetzt. Zukünftige Forschungen sollten also nicht nur die Ängste der ›Anderen‹ stärker in den Blick nehmen, sondern sie als möglichen Effekt der vermeintlichen Ängste der ›Mehrheitsgesellschaft‹ reflektieren.

9 Soziologie der Angst? Rückblick und Ausblick

Geht man von einer Gesellschaft in Angst aus, wie es gegenwärtig populär ist, so liegt es nahe, eine Soziologie der Angst zu fordern: »Die Soziologie, die ihre Gesellschaft verstehen will, muss heute die Gesellschaft der Angst in den Blick nehmen.« (Bude 2014: 10) Was aber, wenn die Diagnose einer Gesellschaft in Angst mit zahlreichen kritischen Fragezeichen zu versehen ist, wie ich es in den theoretisch-methodologischen und empirischen Kapiteln dieser Arbeit getan habe? Auch andere Forschende haben inzwischen empirischen Zweifel an der Diagnose Angstgesellschaft angemeldet (jüngst: Lübke/Delhey 2019). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit eine Soziologie der Angst tatsächlich noch notwendig und sinnvoll ist. Aus meiner Sicht handelt es sich dabei um eine forschungspolitische »Gretchenfrage« (in Anlehnung an Nunner-Winkler 2016): Wie hast du’s als Forscher*in mit deiner Forschung angesichts der gesellschaftspolitischen Brisanz des Themas? Anders formuliert: Sollte Angst wirklich im Zentrum der Forschung stehen, und wenn ja, in welcher Weise? Im Folgenden plädiere ich unter Bezugnahme auf verschiedene Forschungsfelder, im Rückblick auf meine Studie und als Ausblick für weitere Studien für eine theoretisch fundierte empirische Soziologie der Angst, die reflexiv und kritisch forscht. Ähnliche Fragen wurden bereits in verschiedenen Forschungsfeldern diskutiert, die sich mit Risiko und Sicherheit beschäftigen: in der Sociology of Risk and Uncertainty, in den Critical Security Studies und kritischen Teilen der deutschsprachigen Sicherheitsforschung. Manche Forschende lehnen dabei eine wissenschaftliche Fokussierung auf die Konzepte Risiko bzw. Sicherheit und damit die Risikobzw. Sicherheitsforschung generell ab. Als Beispiel für diese Position habe ich Wilkinsons Plädoyer für eine Abkehr vom zentralen Konzept des Risikos im Rahmen der Sociology of Risk and Uncertainty zugunsten einer Soziologie des Leids vorgestellt (z.B. Wilkinson 2006a, Kap. 2.4.2). Wilkinson begründet dies zum einen mit der geringen alltagsweltlichen Relevanz von Risiko, welche eine auf Risiko konzentrierte Forschung nicht wahrnehmen kann und entsprechend riskiert, ein unangemessenes Bild der sozialen Wirklichkeit zu (re-)produzieren (ähnlich: Green 2009). Zum anderen geht es ihm um eine humanistische Soziologie und die Frage, wie So-

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Gesellschaft in Angst?

ziologie gesellschaftlich nützlich sein kann. Unabhängig von dieser soziologischen Thematisierung wurden verwandte Debatten in den politikwissenschaftlich und konstruktivistisch orientierten Critical Security Studies geführt. Sicherheit stellt in deren Perspektive ein hegemoniales, weithin unumkämpftes und sich neutral gebendes politisches Konzept dar, das mit einem Alarmmodus belegt die politischdemokratische Diskussion umgeht. Entsprechend stehen die Analyse (und Kritik) von entsprechenden Versicherheitlichungsprozessen im Fokus (Büger/Stritzel 2005, Wæver 2004). Für kritische Forschende ergeben sich dabei einige normative Fallstricke, die darin kumulieren, Sicherheit als Konzept durch die Forschung immer wieder relevant zu machen und damit die kritisierten Sicherheitsdiskurse zu vervielfältigen, gleich, wie man sich zu den analysierten Sicherheitsdiskursen verhält: »The irony is that even the most careful and critical scholar […] might unwillingly participate in the securitization of new issues when analysing how these issues are de facto framed in terms of security.« (C.A.S.E. Collective 2006: 361, vgl. auch Huysmans 1999) Insofern reproduziert auch die Infragestellung und Kritik der Gesellschaft in Angst den Diskurs um Angst. Eine Lösung wäre nun, sich wie Wilkinson anderen Themenfeldern zuzuwenden. Dies entspricht auch Mark Neocleous’ und George Rigakos’ (2011) Plädoyer mit dem Titel »Anti-Security« (vgl. auch Rigakos 2012). Obwohl mir diese Argumente einleuchten, halte ich eine Soziologie der Angst – in einer spezifischen Form, auf die ich noch eingehe – für notwendig und sinnvoll. Ich schließe mich dabei Zinn an, der sich in der o.g. Diskussion in der Sociology of Risk and Uncertainty wie folgt äußert: »As long as mainstream politics, the media or the public are dominated by objectivist and reductionist understandings of risk there is a need for a sociological critique.« (2009: 524) Dies lässt sich auch auf Sicherheitsforschung übertragen und interdisziplinär ausweiten: Angesichts des Aufstiegs von nationaler wie europäischer Sicherheitsforschung ist kritische Forschung als Ausgleich zu anderen Positionen umso nötiger (z.B. Matzner/Ammicht Quinn 2015). Eine Übertragung dieser Idee ist in ähnlicher Weise auch für eine Soziologie der Angst angemessen, die m.E. ihre Kompetenz gerade hinsichtlich der Erforschung sozialer, lebensweltlicher Realitäten in die Debatte einbringen kann. Solange also in reduktionistischer Weise von einer Gesellschaft in Angst die Rede ist, ob im gesellschaftlichen, politischen, medialen oder wissenschaftlichen Diskurs, braucht es eine theoretisch fundierte empirische Soziologie der Angst. Diese konfrontiert Simplifizierungen mit Verkomplizierungen im Sinne gegenstandsangemessener Differenzierungen.

Rückblick Wie kann nun eine solche Soziologie der Angst aussehen? Inspiriert v.a. von einigen Ansätzen der Sociology of Risk and Uncertainty sowie von Bourdieus Wissen-

9 Soziologie der Angst? Rückblick und Ausblick

schaftstheorie habe ich hierzu in den verschiedenen Kapiteln dieser Arbeit einen Vorschlag gemacht, den ich im Sinne eines Rückblicks bilanziere. Zentrale Aspekte sind der Bruch mit dem Common Sense, die Reflexion der eigenen Konstruktionen und verschiedene Arten von Differenzierung. Der Idee des Bruchs mit dem Common Sense folgend gilt es, die »Begriffe oder Thesen, mit denen argumentiert wird, über die man aber nicht diskutiert«, zum Thema zu machen (Bourdieu 2004: 30, Herv. i. Orig.). Die Annahme einer Gesellschaft in Angst habe ich als eine solche These verstanden, die weithin als selbstverständlich gilt und entsprechend entselbstverständlicht werden sollte (vgl. auch C.A.S.E. Collective 2006, Huysmans 1999). Hierzu habe ich den empirischen Weg gewählt und zwei »Gretchenfragen« gestellt, nämlich welche Rolle Angst alltagsweltlich spielt (Kap. 6) und welche Ängste (k)eine Rolle spielen (Kap. 7). Empirische Forschung kann aber nie ›unschuldig‹ sein, wie Huysmans (1999) betont: Einem konstruktivistischen Wissenschaftsverständnis nach basiert sie unausweichlich auf bestimmten Voraus-Setzungen, mit denen sie soziale Wirklichkeit analysiert. Dies kann folgenreich sein für die generierten Ergebnisse. In der Sociology of Risk and Uncertainty wurde dieses Thema unter dem Begriff Framing diskutiert (Kap. 2.4) und die Notwendigkeit betont, die analytischen Framings von Forschenden und die lebensweltlichen Framings von Interviewpartner*innen zu differenzieren und erstere zu reflektieren, um sie nicht bei der Beforschung zweiterer zu reifizieren. Dies entspricht Bourdieus Forderung nach der Reflexion der eigenen Präkonstruktionen (Kap. 3.2.2). Praktisch realisiert habe ich dies v.a. in Kapitel 5, wo es mir darum ging, welche Bedeutung die gewählten Methoden und die in ihnen enthaltenen Vorannahmen für die Ergebnisse haben. Insgesamt wurde in meiner Studie deutlich, wie wichtig Differenzierungen für eine Soziologie der Angst sind, wenn sie die Komplexität des Phänomens in angemessener Weise analysieren können will. In den empirischen Kapiteln dieser Arbeit habe ich verschiedene zentrale Differenzierungen herausgearbeitet und in Kapitel 8 anhand dreier Diskussionsfelder im Kontext von Sicherheit und Angst aufgezeigt, wie notwendig, da folgenreich diese Differenzierungen sind. In Kapitel 5 ging es um die Frage, mit welchen (Un-)Sicherheitssemantiken geforscht wird, wie die Beziehung zu den Interviewpartner*innen gestaltet wird und welche Bedeutung dies für die Ergebnisse hat. Zugespitzt ausgedrückt lässt sich festhalten: Wird Sicherheit als zentraler Begriff verwendet und das Interview als unpersönliche Begegnung gestaltet, so äußern die Interviewpartner*innen unpersönliche Unsicherheitsthemen, vorrangig in den Bereichen innere und physische Unsicherheit. Wird hingegen Angst als zentraler Begriff gewählt ‒ von den Interviewenden oder den Interviewpartner*innen ‒ und werden die Interviewpartner*innen als Individuen adressiert, so werden lebensweltlich relevante Ängste thematisiert, die das ganze Spektrum von Baumans Sicherheitsbegriff abdecken. Was wir als Forscher*innen also mit (Un-)Sicherheit meinten, wurde von den In-

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Gesellschaft in Angst?

terviewpartner*innen mit Angst assoziiert. Auch deswegen wurde Angst zum titelgebenden Begriff dieser Arbeit. In Kapitel 6 konnten weitere zentrale Differenzierungen eingeführt werden: Zum einen wurde deutlich, dass Sprechen über Angst bzw. (Un-)Sicherheit auf die in der Regel als dysfunktional geltende Emotion Angst verweisen kann. Hier kann zwischen verschiedenen Erlebnisqualitäten unterschieden werden, die das Spektrum von großen bis zu k(l)einen Ängsten abdecken. Hier schließt sich die wichtige methodologische Unterscheidung zwischen theoretischem (Welt-)Wissen und praktischem, erfahrungsgebundenem Wissen an, wobei nur letzteres mit der Emotion Angst verbunden ist. Zum anderen kann der Rekurs auf Angst bzw. (Un-)Sicherheit für zwei mikropolitisch äußerst funktionale Zwecke genutzt werden: als Mittel der Positionierung im Sinne einer Positivdarstellung der eigenen Identität und Lebensweise sowie als Argument, um den eigenen politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Dabei kann es auch um ganz andere Emotionen gehen, allen voran um Ungerechtigkeitsgefühle in verschiedenen Spielarten (vgl. auch Kap. 8.2 und 8.3). In Kapitel 7 habe ich entlang einer Lebenslauflogik, die teilweise auch unterschiedliche Lebenslagen berücksichtigte, verschiedene Konzeptionen von Sicherheit im Sinne von »Sicherheitsmentalitäten« (Klimke 2008) und entsprechende Ängste analysiert. Deutlich wurde dabei, dass die Bedeutung spezifischer Angstthemen nur in ihrem lebenslaufbezogenen Kontext angemessen verstanden werden kann. Diese Differenzierungen ermöglichen einen anderen Blick auf Angst, der die Komplexität des Phänomens und gleichermaßen diejenige seiner Erforschung, in meinem Fall via Interviews, berücksichtigt. Ermöglicht wurden diese Differenzierungen durch meinen methodischen Zugang des aufmerksamen Zuhörens und genauen Hinschauens. Ihre Folge ist wiederum eine kritische und reflexive Soziologie der Angst, die vermeintliche Gewissheiten infrage stellt. Soziologie wird hier im ersten Schritt zur »Verunsicherungswissenschaft« (Degele 2008: 24ff.) in Bezug auf sicher geglaubte Gewissheiten im Bereich (Un-)Sicherheit und Angst, verweigert die leichte Orientierung und »verkompliziert die Situation« (Matzner/Ammicht Quinn 2015: 231) – in einer Gesellschaft in Angst leben wir vermutlich nicht. Im zweiten Schritt kann diese Verunsicherung aber produktiv und erkenntnisförderlich genutzt werden (vgl. ebd.) und neues, selbstverständlich immer vorläufig gültiges (Orientierungs-)Wissen geschaffen werden, in meinem Fall zur Theorie und Empirie einer Soziologie der Angst.

Ausblick Eine Arbeit kann nur in pragmatischer Hinsicht beendet werden. Ideen für mögliche weitere Forschungen habe ich bereits in den drei empirischen Kapiteln darge-

9 Soziologie der Angst? Rückblick und Ausblick

stellt, sodass ich mich hier auf die übergreifende Frage nach möglichen Zukünften einer Soziologie der Angst konzentriere. In empirischer Hinsicht sind aus meiner Sicht weitere Studien wünschenswert, die Angst als lebensweltliches Phänomen analysieren und dabei die Beschränkungen meiner Studie überwinden (s. v.a. Kap. 5 und 7). Empfehlenswert scheint mir hierbei für ein bestmögliches Verständnis der sozialen Wirklichkeit eine Verbindung von qualitativen und quantitativen Methoden, wie wir sie im Projekt »Subjektive Wahrnehmungen und Einschätzungen zu (Un-)Sicherheit« praktiziert haben (ähnlich auch Burzan/Kohrs/Küsters 2014 und Burzan 2014). Wie genau die Methodenverschränkung stattfindet, ist projektspezifisch zu klären. Für meine Arbeit war wichtig, dass die unterschiedlichen Methoden mit ihren jeweiligen Ergebnissen eine wechselseitige »Reflexionsanregung« (Burzan 2014: 184) boten. Allerdings konnte dieser Gewinn u.a. aufgrund unterschiedlicher Zeit- und Förderstrukturen nicht voll ausgeschöpft werden: Die standardisierten Analysen waren weit vor den rekonstruktiven abgeschlossen und konnten somit nur in verhältnismäßig geringem Maße von deren Erkenntnissen profitieren. Über diese Verbindung unterschiedlicher analytischer Zugänge innerhalb der Interviewforschung hinaus ‒ dem Forschungsinstrument schlechthin in unserer »Interviewgesellschaft« (Atkinson/Silverman 1997, vgl. auch Gubrium/Holstein 2004) ‒ wäre die Verwendung anderer Forschungsmethoden interessant, um mittels anderer Zugänge neue Facetten des Themas analysieren zu können. Soll das Individuum als methodischer, wenn auch nicht notwendig methodologischer Ausgangspunkt beibehalten werden, so wären Tagebücher eine alternative Methode der Datengewinnung (Hawkes/Houghton/Rowe 2009, Pelizäus-Hoffmeister 2008). Soll das Soziale bereits in der Datengewinnung stärker berücksichtigt werden, so stehen Fokusgruppen bzw. Gruppendiskussionen als Befragungsverfahren zur Verfügung (Olofsson/Öhman 2007, Stevens/Vaughan-Williams 2016, Wall/Olofsson 2008). Steht die Praxis im Vordergrund, so bieten sich ethnographische Verfahren an (Eisch-Angus 2009, 2011a, 2011b, 2012). Mit einer ethnographischen Herangehensweise könnte auch eine Ethnologie der Angst verbunden werden: Wie analysieren und interpretieren bspw. Beobachter*innen aus dem globalen Süden Phänomene der Angst im globalen Norden? In thematischer Hinsicht ließe sich im Vergleich zu meiner Forschung die ›andere Frage‹ stellen. Während ich auf Angst bzw. Unsicherheiten fokussierte und diese als weithin negativ interpretierte ‒ als Mangel an Sicherheit ‒, könnte die Frage auch lauten, was Sicherheit in positiver Weise bedeutet. Hier kann ich mit Blick auf die rekonstruierten Sicherheitskonzeptionen (Kap. 7) und die Bedeutung von Backupsystemen (Kap. 6.3 und 7.4) nur erste Hinweise geben. Marc Schuilenburg, Ronald van Steden und Brenda Oude Breuil (2014) kommt das Verdienst zu, aus kriminologischer Perspektive mit einem Sammelband zu »Positive Security« diese Debatte eröffnet zu haben, die sie auch als Gegendiskurs zum »Anti-

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Security«-Diskurs begreifen. In der Einleitung des Bandes schreiben Schuilenburg und van Steden (2014: 19f.) entsprechend: »An exclusive focus on fighting or preventing crime and nuisance results in scarce attention being paid to aspects of security that invoke connotations like trust, care or well-being. Security should therefore be understood not only in a ›narrow‹ or ›negative‹ way (e.g., in terms of protection against something or somebody) but should also be interpreted in more positive or constitutive ways, focusing on human connections and local capacity building as sources of security (›power to‹). As such, this […] proposes an alternative approach to ›law-and-order‹ politics and the growing ›anti-security‹ critique (Neocleous and Rigakos 2011) that opens up no obvious avenues towards a new way of discussing the concept of security.« In konzeptueller und theoretischer Hinsicht scheint mir sinnvoll, dass die Soziologie der Angst Austausch mit anderen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeldern sucht, die zu Angst, Sicherheit und Risiko arbeiten. Dies geschieht von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Jackson 2006, Stevens/Vaughan-Williams 2016) bislang selten. In der vorliegenden Arbeit habe ich begonnen, Erkenntnisse v.a. aus der Sociology of Risk and Uncertainty, der Prekarisierungs- und Kriminalitätsfurchtforschung, aber auch aus Sicherheits- und Risikoforschung und den Critical Security Studies zusammenzuführen, um von den jeweils geführten Diskussionen zu profitieren und meinen Blick für das interessierende Phänomen zu schärfen. Weitere Bemühungen in dieser Richtung wären sinnvoll. Darüber hinaus sind vielfältige Bezüge zu anderen soziologischen Arbeitsfeldern herstellbar. Auf Basis meiner Analysen sehe ich v.a. folgende Bereiche als vielversprechend an: •

• •



die Emotionssoziologie, die derzeit einen Aufschwung erlebt, um aktuelle Erkenntnisse zum Phänomen der Angst, ähnlichen Emotionen und ihrer Erforschbarkeit aufgreifen zu können, die Lebenslaufsoziologie, um die Bedeutung eines guten Lebens, von Sicherheit und Angst in verschiedenen Lebensphasen besser zu verstehen, soziologische Ansätze, die sich mit verschiedenen sozialen Ungleichheiten beschäftigen (Klasse, Milieu, Geschlecht, Migrationserfahrung, …; intersektionale Ansätze), um die Bedeutung verschiedener sozialer Bedingungen für das Erleben und die Kommunikation von Angst adäquat zu bestimmen, und konflikt- und machttheoretische Arbeiten, um Angst- und Unsicherheitskommunikation als Mittel des sozialen Kampfes und von Herrschaftsverhältnissen systematisch zu analysieren.

Daraus könnte eine Soziologie der Angst entstehen, die differenziert statt ihr zentrales Konzept reifiziert und die im äußersten Fall auch bereit ist, die relative Irrelevanz des von ihr untersuchten Phänomens (an) zu erkennen ‒ und sich um

9 Soziologie der Angst? Rückblick und Ausblick

adäquatere Gesellschaftsdiagnosen zu bemühen. So schreibt Manfred Prisching in seiner Rezension von Budes »Gesellschaft der Angst« (2014): »Man mag […] die ›Angst‹ in diesem Buch vielleicht auch eher als ›Aufhänger‹ verstehen, der einen roten Faden, nicht den einzig möglichen, für eine ›Weltbesichtigung‹ darstellt.« (2015: 579) Auch um andere rote Fäden der Weltbesichtigung nicht aus dem Blick zu verlieren und im Fall der Irrelevanz von Angst nicht buchstäblich den wissenschaftlichen Boden unter den Füßen zu verlieren, erscheint mir die Verknüpfung einer Soziologie der Angst mit anderen soziologischen Arbeitsfeldern sinnvoll. Dies könnte auch die Arbeit an einer empirisch gesättigteren Zeitdiagnose einschließen (detaillierter dazu Eckert i.E.). Zeitdiagnosen sind wie Sozialtheorien zwar empirisch weder verifizierbar noch falsifizierbar, aber können und sollten hinsichtlich ihrer empirischen Plausibilität beurteilt werden, wie Gesa Lindemann in Bezug auf Sozialtheorien argumentiert. Sie schlägt hierfür eine »plausible Gestaltextrapolation« (2008: 124) vor: Auf welche Gesamtgestalt verweisen verschiedene punktuelle Einsichten, wie sie etwa im Rahmen von Theorien mittlerer Reichweite formuliert werden? Trotz aller Ungewissheiten der Interpretation ist es hier sehr wohl möglich, plausible von unplausiblen Extrapolationen zu unterscheiden. Extrapoliere ich meine Ergebnisse sowie diejenigen anderer Angst- und Unsicherheitsforscher*innen1 , lässt sich die These aufstellen, dass wir vielleicht weniger in einer Gesellschaft in Angst, sondern vielmehr in einer Gesellschaft des Ungerechtigkeitsempfindens leben, die aber eine Kommunikationskultur der Angst pflegt. In diesem Sinne interpretiere ich Frank Furedis (2007, 2018) These einer »Kultur der Angst«, in der Angst eine kulturelle Deutungsschablone darstellt, anhand derer wir die Welt begreifen und uns artikulieren – ohne notwendigerweise so zu empfinden. Diesen Interpretationsvorschlag zur »Weltbesichtigung« gälte es nun, weiter auszuarbeiten und einer theoretisch-empirischen Kritik zu unterziehen.

1 Z.B. Blinkert 2015, Blinkert/Eckert/Hoch 2015, Burzan/Kohrs/Küsters 2014, Dehne 2017: Kap. 8, Ditton/Bannister et al. 1999, Lengfeld/Ordemann 2016 und die Beiträge in Lübke/Delhey 2019.

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Anhang

Transkriptionsregeln Die Transkription verfolgt das Ziel, die Art und Weise der mündlichen Rede soweit möglich und für die Analyse sinnvoll in die Schriftsprache zu übertragen. Dadurch sind orthographische Regeln (Großschreibung, Schreibweise von Begriffen, Satzzeichen) teilweise außer Kraft gesetzt. Die folgenden Transkriptionsregeln stellen eine leichte Modifikation des von Jan Kruse (2015: 354f.) vorgeschlagenen Transkriptionssystems dar, das er bezugnehmend auf das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT) entwickelt hat. Für die Ergebnisdarstellung habe ich die Interviewzitate an die Schrift- und Hochsprache angepasst.

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Gesellschaft in Angst?

Tabelle 2 Transkriptionsregeln Pausen und verlaufsstrukturelle Notationen (.)

Mikropause (< 1sec)

(1), (2), (3), …

Pause in Sekunden

=

Verschleifungen, schnelle Anschlüsse

-

Wort- oder Satzabbruch

[mhm]

kurzer Redebeitrag der je anderen Person, z.B. Bestätigungspartikel der interviewenden Person

I: ich hätte [noch eine fr-] B: [aber das war okay.]

Kennzeichnung von gleichzeitigem Sprechen

Akzentuierungen (Betonungen) UNsicherheit

Akzentuierung

!UN!sicherheit

extra starke Akzentuierung

Endintonationen (Tonhöhenbewegungen) ?

hoch steigend

,

leicht steigend

;

leicht fallend

.

tief fallend

:

Dehnung (je nach Intensität wiederholt)

Sonstige Konventionen ((lacht))

außersprachliche Handlungen, sprachbegleitende Handlungen, Ereignisse, Störungen

(?da hatte ich angst?) bzw. (??)

vermuteter bzw. unverständlicher Wortlaut

(Nachbarort)

Anonymisierungen bzw. Anmerkungen der Autorin

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kruse 2015: 354f.

Kurzvorstellung der Interviewpartner*innen In der folgenden soziodemographisch orientierten Kurzvorstellung der Interviewpartner*innen sind die Namen und weitere personenbezogene Informationen wie in der gesamten Arbeit pseudonymisiert bzw. anonymisiert. Sofern nicht anders angegeben haben die Interviewpartner*innen die deutsche Staatsbürgerschaft und in Deutschland geborene Eltern. Nach der jeweiligen Kurzvorstellung mache ich transparent, zu welchen empirischen Fragestellungen (Kap. 5, 6 und 7) der Fall gemäß dem theoretischen Sampling einen Beitrag geleistet hat. Da Kapitel 5 und Kapitel 6 eine gewisse Selektionsfunktion für Kapitel 7 zukam, nimmt die Anzahl der aussagekräftigen Fälle von

Anhang

Kapitel zu Kapitel leicht ab. Um für Kapitel 7 dennoch eine ausreichende Fallbasis zu haben, habe ich speziell für dieses Kapitel weitere Fälle hinzugezogen. Ahmed Erdem ist Mitte 20, hat vermutlich keinen formalen Bildungsabschluss und geht einer von ihm nicht näher benannten Arbeit nach. Seine Eltern sind Kurden und sind aus der Türkei nach Deutschland migriert. Er selbst wurde in Deutschland geboren, hat die deutsche Staatsbürgerschaft und wohnt alleine. (Kap. 5, 6, 7) Anna-Lena Neumann ist Anfang 20, hat Abitur und studiert nun. Sie geht zusätzlich einer Nebentätigkeit nach. Sie wohnt mit ihren Eltern und Geschwistern zusammen. (Kap. 5, 7) Anne Strauß ist Ende 30 und hat Abitur, Lehre, Studium und Promotion absolviert. Sie arbeitet in Vollzeit als Angestellte in leitender Funktion und lebt mit ihrem langjährigen Partner sowie ihrem gemeinsamen Kind im Kindergartenalter, das »nicht ganz gesund« ist, zusammen. (Kap. 5, 6, 7) Berta Wagner ist Mitte 70, hat nach der Fachhochschulreife ein Studium abgeschlossen und in Vollzeit gearbeitet, wenn sie nicht ältere Familienangehörige gepflegt hat. Zum Interviewzeitpunkt ist sie Rentnerin. Sie hat ein Kind und ein Enkelkind, das bis vor kurzem bei ihr und ihrem Partner gelebt hat. (Kap. 5, 6, 7) Bianca Maier ist Ende 20 und hat nach ihrem Hauptschulabschluss eine Lehre absolviert. Zum Interviewzeitpunkt geht sie keiner Erwerbsarbeit nach und erwartet mit ihrem Partner, mit dem sie zusammenlebt, die Geburt ihres ersten Kindes. (Kap. 5, 6) Cemal Demir ist Mitte 30 und hat einen Hauptschulabschluss sowie eine abgeschlossene Lehre. Zum Interviewzeitpunkt ist er soloselbstständig tätig, d.h. er führt ohne Mitarbeiter*innen ein kleines Geschäft. Davon ernährt er seine dreiköpfige Familie. Seine Eltern sind in der Türkei geboren, er selbst in Deutschland. Er hat die türkische Staatsangehörigkeit. (Kap. 5, 6, 7) Christa Höss ist um die 40, hat Abitur, Studium sowie eine Lehre absolviert und arbeitet zum Interviewzeitpunkt in ihrem Ausbildungsberuf in Vollzeit. Sie lebt alleine und hat keine Kinder. (Kap. 5) Claudia Biehl ist Anfang 30 und arbeitet nach Abitur und Studium als Beamtin in Teilzeit. Sie wohnt mit ihrem Partner und dem gemeinsamen Kind zusammen. (Kap. 5, 6, 7)

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Conny Müller ist Anfang 40, hat die Mittlere Reife sowie einen Fachschulabschluss und arbeitet zum Interviewzeitpunkt als Angestellte in Teilzeit mit einem hohen Stundenumfang. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern zusammen. (Kap. 5, 6, 7) David Hesse ist um die 30 und arbeitet nach Abitur und Studium in Teilzeit. Er lebt mit seiner Frau und dem gemeinsamen Kind zusammen. (Kap. 5, 6) Dirk Koch ist um die 40 und arbeitet nach Mittlerer Reife, Lehre und Fachschule als Angestellter mit qualifizierter Tätigkeit in Vollzeit. Er lebt in einer Wohngemeinschaft. (Kap. 5, 6, 7) Erika Steiner ist Anfang 70 und hat die Fachhochschulreife sowie ein Studium absolviert. Sie hat ein erwachsenes Kind, ist geschieden und lebt alleine. Trotz ihres Rentenalters geht sie einem Nebenjob nach. (Kap. 5, 6, 7) Fanny Apfelbach ist Ende 40 und geht nach Mittlerer Reife und einer Lehre einer Vollzeittätigkeit als Arbeiterin nach. Sie hat zwei erwachsene Kinder, ist geschieden und lebt alleine. Ihre Mutter stammt aus einem osteuropäischen Land. (Kap. 5, 7) Friedrich Huber ist Mitte 80 und Rentner, hat die Volksschule und eine Lehre absolviert und war als Beamter im einfachen oder mittleren Dienst tätig. Er lebt mit seiner Frau zusammen, mit der er drei erwachsene Kinder hat. (Kap. 7) Gaby Enge ist Ende 40 und hat sich nach Abitur und abgebrochenem Studium mit einem kleinen Geschäft selbstständig gemacht. Ihr Partner, mit dem sie nicht zusammenwohnt, hilft dort mit. (Kap. 5, 6, 7) Gerd Weidner ist Mitte 50 und arbeitet nach Mittlerer Reife, Lehre und Zusatzausbildung in Vollzeit. Er wurde kürzlich auf eigenes ›Hinarbeiten‹ hin zum Jahresende gekündigt und sucht eine neue Stelle. Er ist geschieden, hat drei erwachsene Kinder und lebt mit seiner neuen Partnerin zusammen. (Kap. 5, 6, 7) Gerda Hofmann ist Anfang 60 und nach Mittlerer Reife und Lehre als Arbeiterin in Vollzeit tätig. Sie hat zwei erwachsene Kinder, ist geschieden und lebt alleine. (Kap. 5, 6, 7) Gustav Nehm ist Anfang 80 und Rentner. Er hat nach seinem Realschulabschluss und einer Lehre als Facharbeiter gearbeitet. Er lebt mit seiner Frau zusammen; der gemeinsame Sohn, der selbst schon Kinder und Enkelkinder hat, wohnt im gleichen Haus. (Kap. 7)

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Hanno Wegeschieber ist Ende 40 und hat nach seinem Abitur studiert. In der Vergangenheit hat er einige Jahre in Südamerika gelebt. Zum Interviewzeitpunkt ist er selbstständig, hat mehrere Mitarbeiter*innen und lebt mit seiner Partnerin zusammen. (Kap. 5, 6, 7) Heidi Flieder ist Anfang 60 und hat nach Volks- bzw. Hauptschulabschluss zwei Ausbildungen absolviert. Zum Interviewzeitpunkt ist sie aufgrund einer chronischen Erkrankung seit längerer Zeit krankgeschrieben. Sie wohnt mit ihrem Mann zusammen, mit dem sie einen erwachsenen Sohn hat. (Kap. 5, 6, 7) Heike Binz ist Ende 20, hat als Jugendliche im Ausland gelebt und dort einen Abschluss erlangt, der als der Mittleren Reife gleichwertig gilt. Zurück in Deutschland hat sie eine Lehre absolviert und eine Berufsfachschule besucht. Zum Interviewzeitpunkt geht sie neben ihrer Vollzeiterwerbstätigkeit als Angestellte einem Studium an einer privaten Universität nach. Sie wohnt mit ihrem Partner zusammen. (Kap. 5, 6, 7) Irina Tamm ist Mitte 30 und hat nach ihrem Abitur eine Berufsfachschule besucht. Vor kurzem hat sie ihre Arbeit verloren und ist zum Interviewzeitpunkt erwerbslos. Sie lebt in einer Partnerschaft und wohnt alleine. Vor 10 Jahren migrierte sie aus einem baltischen Staat, dessen Staatsangehörige sie weiterhin ist, nach Deutschland. (Kap. 5, 6, 7) Joao Dias ist Ende 20 und hat nach seinem Abitur eine Ausbildung im Pflegebereich abgeschlossen. In diesem Beruf arbeitet er in Vollzeit und erwartet mit seiner Frau das erste Kind. Sein Vater kommt aus einem südamerikanischen Land. (Kap. 7) Lara Dold ist Anfang 30 und hat das Abitur, eine Berufsfachschule und ein Volontariat absolviert. Zum Interviewzeitpunkt arbeitet sie als Angestellte und geht einem Zweitstudium nach. Sie lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Kind im Kleinkindalter zusammen. (Kap. 5, 6, 7) Marko Kaiser ist Mitte 20 und arbeitet nach Abitur und Lehre als selbstständiger Versicherungsmakler. Für die nähere Zukunft plant er ein Studium aufzunehmen. Er lebt alleine. (Kap. 5, 6, 7) Michael Sommer ist Mitte 40 und hat nach Volks- bzw. Hauptschulabschluss eine Lehre absolviert, den Meistertitel erlangt und schließlich ein Studium absolviert. Zum Interviewzeitpunkt arbeitet er in Vollzeit als Angestellter mit leitender Funktion. Er lebt mit seiner Partnerin und einem Kind zusammen. Sein Vater stammt aus einem osteuropäischen Land. (Kap. 5, 6, 7)

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Nadia Wojcik ist Mitte 20 und hat die Mittlere Reife. Aktuell befindet sie sich in einer beruflichen Ausbildung und lebt mit Partner und Kind zusammen. Sie wurde in Polen geboren und wuchs in Deutschland auf; sie hat nach wie vor die polnische Staatsangehörigkeit. (Kap. 5, 6, 7) Nico Ludwig ist Anfang 20 und absolviert eine Ausbildung, nachdem er sein Abitur abgelegt und seinen Zivildienst absolviert hat. Er wohnt vermutlich noch bei seinen Eltern. (Kap. 5, 6) Nicole Schütze ist Ende 20 und hat nach ihrem Abitur studiert, auch im Ausland. Sie arbeitet als Angestellte in Vollzeit mit qualifizierter Tätigkeit und lebt alleine. (Kap. 5, 6, 7) Oli Bauer ist um die 40 und hat die Mittlere Reife und einen Fachschulabschluss erworben. Er arbeitet in Vollzeit und lebt mit seiner langjährigen Partnerin zusammen, die an einer chronischen Erkrankung leidet; das Paar hat kürzlich ein Haus auf Kredit gekauft. (Kap. 5, 6, 7) Paul Jung ist Anfang 20, hat das Abitur und seine ersten Studiensemester absolviert. Er lebt bei seiner Familie. (Kap. 7) Rainer Kretschmann ist Mitte 50 und hat nach der Mittleren Reife einen Berufsfachschulabschluss erworben. Er hat sich als Landwirt selbstständig gemacht und konnte einen zum Interviewzeitpunkt profitablen Betrieb aufbauen, in dem auch seine Frau arbeitet. Das Paar hat zusammen drei erwachsene Kinder. (Kap. 5, 6, 7) Stephanie Arrenberg ist Ende 20 und hat nach ihrem Abitur ein Studium aufgenommen, das sie zum Interviewzeitpunkt abschließt. Parallel dazu geht sie einem Nebenjob nach. Sie lebt alleine. (Kap. 5, 6, 7) Sven Schmidt ist Anfang 40 und arbeitet nach Abitur und Studium als Angestellter in Vollzeit mit qualifizierter Tätigkeit. Er lebt mit seinem Partner zusammen, mit dem er eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen ist. (Kap. 5, 6, 7) Tim Baader ist um die 30 und hat sich nach seinem Abitur und Studium selbstständig gemacht; ergänzend übt er einen Nebenjob aus. Er lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern zusammen. (Kap. 5, 6) Valerie König ist Ende 30 und hat nach Abitur und Studium promoviert. Sie geht zum Interviewzeitpunkt einer Teilzeitbeschäftigung als Angestellte mit qualifizier-

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ter Tätigkeit nach und lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Kind zusammen. (Kap. 5) Werner Biermann ist Anfang 60 und hat einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss sowie eine Lehre absolviert. Zum Interviewzeitpunkt ist er Frührentner und erholt sich von einer Hüftoperation. Er lebt alleine, hat drei erwachsene Kinder und Enkelkinder. (Kap. 5, 6, 7) Wilhelm Krause ist Anfang 70 und hat den Volks- bzw. Hauptschulabschluss sowie eine Lehre absolviert. Er war als Arbeiter tätig und ist nun Rentner. Er lebt mit seiner Frau zusammen und hat mit ihr ein erwachsenes Kind. (Kap. 5, 6, 7) Yannick Kloschinski ist Anfang 20 und hat nach der Mittleren Reife verschiedene Hilfsarbeiten ausgeführt. Zum Interviewzeitpunkt ist er arbeitslos, holt das Abitur nach und überlegt, ein Studium anzuschließen. Ferner plant er, zu seiner Freundin zu ziehen, die in einer anderen Stadt wohnt. (Kap. 7)

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Zinn, Jens (2015a): Editorial: Towards a better understanding of risk-taking: key concepts, dimensions and perspectives. In: Health, Risk & Society, 17(2), S. 99-114. Zinn, Jens (2015b): The sociology of risk and uncertainty – current state and perspectives. https://www.tasa.org.au/wp-content/uploads/2015/03/ZinnJens.pdf (zuletzt geprüft am 04.09.2015). Zinn, Jens/McDonald, Daniel (2016): Changing Discourses of Risk and Health-Risk: A Corpus Analysis of the Usage of Risk Language in the New York Times. In: Chamberlain, John Martyn (Hg.): Medicine, Risk, Discourse and Power. New York u.a.: Routledge, S. 207-240. Zinn, Jens O. (2016): ›In-between‹ and other reasonable ways to deal with risk and uncertainty: A review article. In: Health, Risk & Society, 187-8, S. 348-366. Zinnecker, Jürgen/Strzoda, Christiane/Georg, Werner (1996): Familiengründer, Postadoleszente und Nesthocker. Eine empirische Typologie zu Wohnformen junger Erwachsener. In: Buba, Hans Peter/Schneider, Norbert F. (Hg.): Familie. Zwischen gesellschaftlicher Prägung und individuellem Design. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 289-306. Zwick, Michael (2002): Was läßt Risiken akzeptabel erscheinen? Ein empirischer Vergleich von fünf theoretischen Ansätzen. In: Zwick, Michael M./Renn, Ortwin (Hg.): Wahrnehmung und Bewertung von Risiken. Ergebnisse des Risikosurvey Baden-Württemberg 2001. Gemeinsamer Arbeitsbericht der Akademie für Technikfolgenabschätzung und der Universität Stuttgart, Lehrstuhl Technik- und Umweltsoziologie. Stuttgart: Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg, S. 35-98. Zwick, Michael (2005): Risk as perceived by the German public: pervasive risks and »switching« risk. In: Journal of Risk Research, 8(6), S. 481-498.

Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018

Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6

Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0

Heike Delitz

Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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