›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte: Bilder - Identitäten - Konstruktionen [1. Aufl.] 9783839425022

The term »gender« advances a dimension of human constitution into view which has been and remains, in the most diverse o

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German Pages 262 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Das ungewählte Geschlecht? Oder: Warum Anatomie kein Schicksal sein muss
Geschlechterpluralitäten als Existenzmuster
Genre und Gender Marlene Streeruwitz’ Partygirl. als feministischer Palimpsest von Edgar Allen Poes The Fall of the House of Usher Aspekte einer Gendered-Narratologie
Penthesilea, Phantasielea
Welches Geschlecht hat die Seele? Überlegungen zu Bernhard von Clairvaux und Mechthild von Magdeburg
Ernstes Spiel mit scharfen Waffen Ritterliches Turnier und männlicher Wettbewerb
»Ist ez ein si oder ein er?« Geschlechterbilder in spätmittelalterlichen Verserzählungen
»Et viriliter se defendebat« Images masculines de la femme guerrière aux derniers siècles du Moyen Age
Sous le feu des projecteurs Le spectacle Marie-Antoinette revu par Antonia Fraser et Sofia Coppola
La femme et le langage
Zur Problematik des generischen Maskulinums im Deutschen Positionen und kritische Analyse
Gibt es Männer- und Frauensprachen in der Südsee?
Autorinnen und Autoren
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›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte: Bilder - Identitäten - Konstruktionen [1. Aufl.]
 9783839425022

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Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte

Lettre

2014-10-22 13-15-10 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d4380387915762|(S.

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2014-10-22 13-15-10 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d4380387915762|(S.

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Heinz Sieburg (Hg.)

›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen

2014-10-22 13-15-10 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d4380387915762|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Dr. Wolfgang Delseit Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2502-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2502-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-10-22 13-15-10 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d4380387915762|(S.

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4) TIT2502.p 380387915770

Inhalt

Vorwort  | 7

Das ungewählte Geschlecht? Oder: Warum Anatomie kein Schicksal sein muss Franziska Schößler | 9

Geschlechterpluralitäten als Existenzmuster Christel Baltes-Löhr | 19

Genre und Gender Marlene Streeruwitz’ Partygirl. als feministischer Palimpsest von Edgar Allen Poes The Fall of the House of Usher Aspekte einer Gendered-Narratologie Alexandra Pontzen | 47

Penthesilea, Phantasielea Wilhelm Amann | 73

Welches Geschlecht hat die Seele? Überlegungen zu Bernhard von Clairvaux und Mechthild von Magdeburg Uta Störmer-Caysa | 91

Ernstes Spiel mit scharfen Waffen Ritterliches Turnier und männlicher Wettbewerb Dominik Schuh | 107

»Ist ez ein si oder ein er?« Geschlechterbilder in spätmittelalterlichen Verserzählungen Andrea Schallenberg | 129

»Et viriliter se defendebat« Images masculines de la femme guerrière aux derniers siècles du Moyen Age Michel Margue | 155

Sous le feu des projecteurs Le spectacle Marie-Antoinette revu par Antonia Fraser et Sofia Coppola Sonja Kmec | 175

La femme et le langage Marion Colas-Blaise | 195

Zur Problematik des generischen Maskulinums im Deutschen Positionen und kritische Analyse Heinz Sieburg | 211

Gibt es Männer- und Frauensprachen in der Südsee? Sabine Ehrhart | 241

Autorinnen und Autoren  | 255

Vorwort

›Geschlecht‹ ist seit Jahrzehnten eine der forschungsleitenden Elementarkategorien – und das in etlichen Wissenschaftsbereichen. Als Sammel- und Klammerbegriff steht Geschlecht am Ausgangspunkt unterschiedlicher Sichtweisen und Erkenntnisinteressen, wobei die Relation von biologischem und sozialem Geschlecht besonders hervorzuheben ist. Damit eng verbunden sind Fragen der Konstanz und Veränderlichkeit von Geschlechtsstereotypen, Fragen nach dem Einfluss der Geschlechtswahrnehmung auf das Selbstbild, aber auch nach Geschlechterordnungen und -hierarchisierungen. Gerade weil Fragen nach dem Geschlecht und den damit verbundenen Zuschreibungen die Lebenswirklichkeit jedes Einzelnen betreffen, taugt das Thema nicht für den akademischen Elfenbeinturm. Sein Reiz besteht gerade in der sozialpolitischen Brisanz, was dazu führt, dass Untersuchungen hierzu in aller Regel eine gesellschaftskritische und sozial engagierte Grundhaltung vertreten. Annäherungen an das Thema Geschlecht lassen sich aus unterschiedlichen disziplinären Blickwinkeln fruchtbar machen. Der vorliegende Band bietet ein Spektrum daraus. Das Zentrum bilden literaturwissenschaftliche Untersuchungen, die einen bewusst weiten Bogen zwischen Gegenwartsliteratur und mittelalterlicher Literatur spannen. Gerade dieser Kontrast bietet die Möglichkeit, historische Sicht- und Verstehensweisen mit aktuellen Auffassungen erhellend zu konfrontieren. Diese Funktion gewährleisten auch die im Band abgedruckten geschichts- bzw. kulturwissenschaftlichen Beiträge. Verstehen, so zeigt sich hier, ist eben mehr als Analyse von Momentaufnahmen, sondern erst unter Einbeziehung historisch-sozialer und theoretischkonzeptioneller Prozesse angemessen möglich. Gerahmt wird der Band zum einen durch Beiträge, die deutlich machen, dass Geschlecht auch im Bereich der Linguistik bzw. Sozioliguistik eine ebenso relevante wie kontroverse Kategorie darstellt, zum anderen aber durch zwei hinführende Beiträge, die das Forschungsfeld zunächst wissenschaftshistorisch und begriffsanalytisch vermessen.

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›g eschlecht ‹ in l iteratur unD g eschichte

Entstanden ist der Band zu einem größeren Teil aus ausgewählten (und erweiterten) Vorträgen, die im Rahmen einer interdisziplinären und mehrsprachigen Vorlesungsreihe des Studiengangs Bachelor en Cultures Européennes im Sommersemester 2012 an der Universität Luxemburg vorgestellt und diskutiert wurden. Luxemburg im September 2014 Heinz Sieburg

Das ungewählte Geschlecht? Oder: Warum Anatomie kein Schicksal sein muss Franziska Schössler Das Geschlecht oder die weibliche/männliche Anatomie scheint, wie Sigmund Freud formulierte, ein Schicksal zu sein. Mit der Geburt wird der/die neue Erdenbürger/in durch den jubilatorischen Ausruf »Es ist ein Junge/ein Mädchen!« der einen oder anderen Kategorie zugewiesen. Dass diese scheinbar simple Klassifizierung jedoch alles andere als unproblematisch ist, zeigen medizinisch-feministische Untersuchungen, die auf die hohe Anzahl von uneindeutigen Geschlechtlichkeiten verweisen (vgl. Fausto-Sterling 1985). Es ist das medizinische System, das für Eindeutigkeit sorgt, zuweilen sehr zum Nachteil der Betroffenen. Zugespitzt könnte man sagen: Erst die Adressierung des Arztes lässt das binäre Geschlechtersystem entstehen, während die biologischen Tatsachen eine andere, differenziertere Sprache sprechen.

Zur Geschichtlichkeit von Geschlecht Auch das heutige medizinische System suggeriert, dass es keine Wahlfreiheit des Geschlechts gibt – ein Blick auf die Geschichte der Biologie, der Medizin, der Sexualität und der Geschlechterordnung kann hingegen verdeutlichen, dass sich die Konzepte und damit auch die Wahlmöglichkeiten von Individuen historisch verändert haben, dass das Geschlecht eine Geschichte und damit unterschiedliche Auslegungen erfahren hat. Thomas Laqueur beispielsweise weist in seiner Studie Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud darauf hin, dass interpretatorische Prozesse auch in der Biologie, ähnlich wie in der Literaturwissenschaft, eine Rolle spielen (vgl. Laqueur 1992: 30), denn auch empirische Daten bedürfen der Auslegung. Daraus folgt, dass selbst die Anatomie ein Produkt von Interpretationen ist und Aspekte des kulturellen Geschlechts, also der herrschenden gesellschaftlichen Auffassun-

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gen, in sich aufnimmt. Das Wesen des Geschlechtsunterschieds sei, so Laqueur, von biologischen Tatsachen logisch unabhängig, weil in der Sprache der Wissenschaft – je­ denfalls dann, wenn sie sich irgendeinem kulturell resonanten Konstrukt sexueller Dif­ ferenz zuwendet – die Sprache des sozialen Geschlechts bereits einlagert. Mit anderen Worten, alle Aussagen über biologisches Geschlecht, nur die engstumschriebenen aus­ genommen, sind von Anfang an mit der Kulturarbeit belastet, die von diesen Vorgaben geleitet worden ist. (Laqueur 1992: 176 f.)

Vor diesem Hintergrund untersucht Laqueur den markanten und überaus aussagekräftigen historischen Wandel der Geschlechterkonzepte. Denn das uns heute vertraute Zwei-Geschlechter-Modell löst um 1800 ein anderes, traditionsreiches Konzept ab: das Ein-Geschlecht-Modell, das über Jahrtausende hinweg Geltung besaß. Seit der Antike ging man davon aus, dass das weibliche Genital dem männlichen en détail gleiche, lediglich nach innen gestülpt sei – Ausdruck des defizienten Entwicklungsstands der Frau. Der antike Arzt Galen beispielsweise hält fest: »Kehre die [Organe] der Frau nach außen, kehre die des Mannes gleichsam zweifach gewendet nach innen, und du wirst entdecken, daß sie beide in jeder Hinsicht gleich sind« (zit. n. Greenblatt 1993: 106). Diese Auffassung basiert auf dem Denkmodell der Ähnlichkeit, das für vormoderne Weltbilder zentral ist. Gibt es dieser älteren Auffassung nach lediglich ein einziges Geschlecht, so gilt dieses als grundsätzlich wandelbar – eine Veränderung vom Mangelhaften (Weiblichen) zum Perfekten (Männlichen) ist jederzeit möglich. Zahlreiche Geschichten erzählen von merkwürdigen Phänomenen wie Milch spendenden Männern und von Frauen, die sich bei einem Sprung über einen Bach durch die entstehende Reibung in Männer verwandeln. Das Ein-Geschlecht-Modell lässt also Eindeutigkeiten nicht in dem Maße zu und kennt Metamorphosen, ordnet allerdings in einer klaren Hierarchie das Weibliche dem Männlichen unter und verfügt über ein normatives Gender-System, das sich durch restriktive Kleiderordnungen und strenge Verhaltensvorschriften stabilisiert. Das Zwei-Geschlechter-Modell, wie es sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts auch in den Wissenschaften durchsetzt, geht hingegen davon aus, dass sich Frauen und Männer auch in anatomischer Hinsicht unterscheiden und dass die je spezifische körperliche Ausstattung über die seelische entscheidet. Aus der (unterstellten) physischen körperlichen Schwäche von Frauen wird beispielsweise auf ihre Passivität, ihre größere Empfindsamkeit etc. geschlossen. Damit erst wird Anatomie zum Schicksal. Zugleich stabilisieren die (nach Laqueur konstruierten) anatomischen Gegebenheiten die bürgerlichen Geschlechter­ imagines, legen beispielsweise die Frau auf Reinheit und Passivität fest, indem Lust von Fortpflanzung abgetrennt wird. Hatte das Ein-Geschlecht-Modell

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Passion, Leidenschaft und Hitze zur Bedingung der Fortpflanzung erklärt, so behauptet die Biologie des 19.  Jahrhunderts eine passionslose, lustfreie Empfängnis der Frau, die dem bürgerlichen Weiblichkeitsbild der Aufklärung und Empfindsamkeit korrespondiert – der naturwissenschaftliche Diskurs bestätigt die gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktionen. Die (wissenschaftliche) Überzeugung, es gäbe zwei Geschlechter, ohne dass Übergänge möglich wären und ohne dass das Geschlecht wählbar sei, ist mithin recht jungen Datums. Dass sich zusammen mit dieser Auffassung die geschlechtliche Wahlfreiheit vehement reduzierte und Abweichungen als Perversionen stigmatisiert wurden, zeigt Foucault in seinen Studien, zum Beispiel am Umgang mit Hermaphroditen, also mit Zweigeschlechtlichen, die im 19. Jahrhundert einer rigiden, medizinisch überwachten Prozedur der Vereindeutigung unterzogen werden, während sie sich zuvor eigenständig entscheiden konnten. Biologische Sexualtheorien, juristische Bestimmungen des Individuums und Formen administrativer Kontrolle haben seit dem 18. Jahrhundert in den modernen Staaten nach und nach dazu geführt, die Idee einer Vermischung der beiden Geschlechter in einem einzigen Körper abzulehnen und infolgedessen die freie Entscheidung der zwei­ felhaften Individuen zu beschränken. (Foucault 1998: 8 f.)

Die von Foucault 1978 veröffentlichten und mit einem Dossier versehenen Erinnerungen des Hermaphroditen Herculine Barbin, genannt Alexina B. (1838– 1868), führen die fatalen Konsequenzen dieser medizinischen Überwachung vor Augen – sie enden mit einem Selbstmord. Die Rücknahme von Wahlfreiheiten und Spielräumen lässt sich zudem am Umgang mit Homosexualität demonstrieren. Wurde noch im 18. Jahrhundert von sodomitischen Praktiken gesprochen, ohne daraus eine Identität abzuleiten, so gibt es seit dem 19. Jahrhundert homosexuelle Persönlichkeiten, die ausschließlich über ihr sexuelles Begehren definiert werden – den medizinischen Fachausdruck »Homosexualität« prägte 1869 der Schweizer Arzt Karoly Maria Benkert (vgl. Kraß 2003: 14). Foucault führt über die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit homosexuellem Begehren aus: Die Sodomie – so wie die alten zivilen oder kanonischen Rechte sie kannten – war ein Typ von verbotener Handlung, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. (Foucault 1977: 58)

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Homosexualität ist keine temporär-situative Praktik mehr, sondern bestimmt die gesamte (minorisierte) Identität, der damit Wahlfreiheit abgesprochen wird.

Geschlecht als Werden Gilt das Geschlecht seit dem ausgehenden 18.  Jahrhundert als prinzipiell unwählbar und setzt sich zunehmend eine wissenschaftlich sanktionierte binäre Geschlechtermatrix mit klaren Rollenverteilungen durch (die ›passive‹ Frau wird dem Häuslichen zugeordnet, der Mann ›dem feindlichen Feld‹ der Öffentlichkeit), so entstehen seit Beginn des 20. Jahrhunderts revolutionäre Ansätze, die diese zementierte Geschlechterordnung aufzubrechen versuchen. Einen wichtigen Schritt unternimmt Simone de Beauvoir in ihrem berühmten Werk Le deuxième sexe (1949): Der gegenwärtige gesellschaftliche Zustand, in dem die Frau nicht als Akteurin vorgesehen ist, könne überwunden werden, denn nach Hegel – der für Beauvoir maßgeblich ist – bedeutet »sein« »werden«. Frausein stellt demnach eine dynamische Kategorie dar, wie Beauvoir in einem vielzitierten Satz formuliert: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt« (Beauvoir 1968: 265). Diese Aussage, die Geschlechtlichkeit als doing gender begreift, als dynamischen Effekt von sozialen Verhaltensnormen und performativen Akten, weist auf konstruktivistische Entwürfe von Geschlechtlichkeit voraus, wie sie später Judith Butler vorlegen wird. Dass das Geschlecht als ein Werden aufgefasst wird, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass es als veränderbar gelten und es Wahlfreiheit geben kann, denn nur dann ist die mit der Geburt scheinbar fixierte Anatomie kein Schicksal. Die sich seit den 1960er Jahren entwickelnden feministischen Ansätze versuchen entsprechend, die Spielräume des geschlechtlichen Verhaltens auszuweiten, und lösen deshalb Sex (das anatomische Geschlecht) von Gender (das kulturelle Geschlecht) ab (vgl. Schößler 2006). Ersteres kann mit Zweitem identisch sein, muss es aber nicht: Eine Frau in anatomischer Hinsicht kann auf sozio-kultureller Ebene als Frau erscheinen, jedoch auch männliche Rollenangebote für sich in Anspruch nehmen. Das Begriffspaar Sex/Gender (das es im Deutschen nicht gibt) ermöglicht es also, die Naturalisierung von Geschlecht – die Auffassung, die Natur lege uns unabdingbar fest – zu verabschieden und sich auf soziale Geschlechteraspekte zu konzentrieren, die grundsätzlich veränderbar sind. Diese Spielräume versucht Judith Butler noch einmal zu vergrößern, indem sie – scheinbar paradox – in ihrer Studie Gender Trouble (1991 auf Deutsch unter dem Titel Das Unbehagen der Geschlechter erschienen) die Differenz von Sex und Gender aufhebt und auch das anatomische Geschlecht zu einem kultu-

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rellen Produkt erklärt. Ihre Studie ist gleichzeitig ein wichtiger Text der Queer Studies, denn Butler arbeitet an der kulturellen Sichtbarkeit eines verdrängten homosexuellen Begehrens und kritisiert die »Zwangsheterosexualität«, zu der die herrschende Ordnung verpflichtet. Butler kritisiert in ihrer bahnbrechenden Studie das Konzept eines geschlechtlich determinierten Körpers als Bestandteil der abendländischen »Metaphysik der Substanz«. Auch Biologie sei jedoch eine kulturelle Größe, auch das anatomische Geschlecht eine gesellschaftliche Konstruktion, die die Machtverhältnisse wissenschaftlich beglaubige. Butler fragt sich: Werden die angeblich natürlichen Sachverhalte des Geschlechts nicht in Wirklichkeit diskursiv produziert, nämlich durch verschiedene wissenschaftliche Diskurse, die im Dienste anderer politischer und gesellschaftlicher Interessen stehen? Wenn man den unveränderlichen Charakter des Geschlechts bestreitet, erweist sich dieses Konstrukt namens ›Geschlecht‹ vielleicht als ebenso kulturell hervorgebracht wie die Geschlechts­ identität. Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidenti­ tät (gender) gewesen, so daß sich herausstellt, daß die Unterscheidung zwischen Ge­ schlecht und Geschlechtsidentität letztlich gar keine Unterscheidung ist. (Butler 1991: 23 f.)

Nach Butler produziert das soziale Geschlecht das anatomische, das damit ebenfalls eine kulturelle Größe ist, gleichwohl als irreversible Naturbestimmung erscheint, die sich jeder Wahl entzieht. Die Geschlechtsidentität (Gender) bringt mithin den Körper als scheinbar vordiskursive, natürliche Determinante hervor. Männlichkeit und Weiblichkeit ergeben sich jedoch  – so Butlers Entwurf (ebd.: 60) – aus permanenten Wiederholungen kultureller Praktiken; Geschlecht ist demnach – und das erinnert an de Beauvoir – ein Werden und Konstruieren […], von dem man nie rechtmäßig sagen kann, daß es gerade beginnt oder zu Ende geht. Als fortdauernde diskursive Praxis ist dieser Prozeß vielmehr stets offen für Eingriffe und neue Bedeutungen

und damit für subversive Verschiebungen, die zum Beispiel ein verdrängtes homosexuelles Begehren manifest werden lassen. Geschlecht ergibt sich aus performativen Akten, aus Kleiderstilen, Gesten, Bewegungen und Begehrensformen und wird damit disponibel, in jedem Augenblick veränderbar, wie Butler an einer von ihr bevorzugten Gestalt zeigt: dem Transvestiten. Dessen Maskerade führe vor, dass Geschlecht durch Imitation (von normalisiertem Verhalten) entstehe, nicht aber Essenz sei. Der Transvestismus unterlaufe die verbindliche Unterscheidung von Innen und Außen, indem die Geschlechtsidentität auf der Oberfläche des Körpers durch performative Akte (wie Kleidung, Gestik etc.) erzeugt wird. Bewertet Judith Butler diese Imitation in Das Unbehagen der Ge-

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schlechter noch als prinzipiell subversive Strategie, so nimmt sie diese Einschätzung in der sich anschließenden Studie Bodies that Matter. On the Discursive Limits of »Sex« (1993, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, 1995) zurück: Drag, also Travestie, könne »so gut im Dienst der Entnaturalisierung wie der Reidealisierung übertriebener heterosexueller Geschlechtsnormen stehen« (Butler 1995: 170). Travestie kann eben auch (diffamatorische) Weiblichkeitsbilder fixieren. Während Butler in ihrer früheren Publikation noch davon ausging, dass die Performativität von Geschlecht prinzipiell Freiräume eröffne, anerkennt sie in ihren späteren Texten, dass das (travestierende) Spiel mit Geschlechtermustern die binäre Ordnung bestätigen kann, dass also Wählbarkeit an der binären Matrix, die lediglich zwei Optionen kennt (Mann oder Frau), nicht unbedingt etwas ändern muss. Die Auffassung, Geschlecht sei Handeln, wirft mithin die Frage auf, in welchem Maße Gender tatsächlich frei bestimmbar ist, ob sich der/die Einzelne tatsächlich nach Belieben in spielerischen Entwürfen zum Mann oder zur Frau erklären kann. Insbesondere die Men’s Studies, die den Blick auf Männlichkeitskonstruktionen richten, weisen  – dieser optimistischen Einschätzung entgegengesetzt – auf die strikten Verbote und die Gratifikationen hin, die das Geschlecht organisieren und für die Einhaltung der Normen sorgen. Schwule und Lesben, vor allem aber Transsexuelle bewegen sich auch heute noch vielfach an den Rändern der Gesellschaft, die sehr genau darüber wacht, dass die Heteronormativität eingehalten wird. Auch wenn das gegenwärtige Wirtschaftssystem, insbesondere die Creative Industries, Schwule und Lesben vielfach integrieren, belegen Studien zu Transsexualität und operativem Geschlechterwechsel (vgl. Runte 1996) die engen Grenzen der Wahlfreiheit. Die Soziologin Gesa Lindemann, die in ihrer Studie Das paradoxe Geschlecht auf eigene Erfahrungen als Beraterin zurückgreift, betont, dass Transsexualität einen besonders eindringlichen Blick auf die normative Herstellung von Geschlecht ermögliche. Der Versuch, als anderes Geschlecht wahrgenommen zu werden, führe in drastischer Weise vor Augen, dass die »Darstellung« von Geschlecht kulturellen Regeln folgt, die darüber entscheiden, welche Akte eine Frau zur Frau, einen Mann zu einem Mann machen (Lindemann 1993: 24). Lindemann beschreibt die Transsexualität, die die Differenz von Begehren, Affekt und körperlicher Ausstattung ausagiert, vor dem Hintergrund der philosophischen Anthropologie, die Helmuth Plessner seit den 1920er Jahren entwickelt hat. Lindemann übernimmt Plessners Trennung von Leib als affektiv-innerlicher Erfahrung und Körper, der im sozialen Interaktionsraum als Symbol für Geschlecht und als geschlechtliches Ding wahrgenommen wird (vgl. ebd.: 36 f.). In diesem öffentlichen Raum herrschen gesellschaftlicher Druck und soziale Kontrolle, denen auch die geschlechtlichen Darstellungen unterworfen sind – auch Lindemann betont die soziale Überwachung und die Grenzen geschlechtlicher Variabilität. In ihren Fallstudien zeichnet sich ab, dass das biologisch vorgegebene

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Geschlecht zunächst derealisiert wird (vgl. ebd.: 66 f.), als fremd und unnormal erscheint – Voraussetzung dafür, dass die kulturellen Bedingungen geschlechtlicher Performanz kenntlich werden. Dann erfolgt der operative, medizinisch überwachte Geschlechtswechsel und gegebenenfalls die Normalisierung des neuen Geschlechts, die in diesem Zusammenhang als Idealfall betrachtet wird. Das postoperative Geschlecht wird dann als das ›richtige‹ empfunden, das Körper und Leib im Sinne Plessners zur Deckung bringt. Bedingung des Geschlechterwechsels ist es, dass die Betroffenen in zahlreichen medizinischen Gesprächen eine bestimmte Geschlechtsidentität entstehen lassen (eine, die mit ihrer biologischen Ausstattung nicht übereinstimmt); sie müssen mithin identitäre Narrative, Identitätskonstuktionen innerhalb der binären Matrix entwickeln, um ihr Geschlecht wechseln zu können und müssen eine hohe innere Not sinnfällig machen  – Wahlfreiheit scheint etwas anderes zu sein.

Kultur als Rücknahme der Wahlfreiheit Mit Sigmund Freud könnte man sagen, dass bereits jeder eindeutigen Geschlechtlichkeit eine ›Wahl‹ vorausgegangen ist, genauer: eine Abspaltung alternativer Möglichkeiten, beispielsweise eines homosexuellen Begehrens. Der Psychoanalytiker, der für den Geschlechterdiskurs im 20. Jahrhundert geradezu als Diskursbegründer gelten kann, geht von der bisexuellen Veranlagung aller Menschen aus, die die Zivilisation jedoch nicht zulässt und durch die Vereindeutigung eliminiert bzw. ins Unbewusste verschiebt. Heterosexuelle Weiblichkeit und Männlichkeit ergeben sich nach Freud aus der Verdrängung einer ursprünglichen Bisexualität; allein die kulturellen Zwangsmaßnahmen und Lustverbote lassen das Regime der Heterosexualität entstehen, wie Freud in seinem späten Text Das Unbehagen in der Kultur ausführt. Dass Kultur Lust und Begehren prinzipiell unterdrückt, bestätigen nach Freud die frühen Formen menschlichen Zusammenlebens, die den Inzest, also den Verkehr mit Verwandten, verbieten. Kultur fußt damit auf der vielleicht »einschneidendste[n] Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat«, nämlich auf dem Inzest-Verbot (Freud 1994: 69). Auch die moderne Kultur dämme die sexuellen Lüste ein, indem sie ihre Mitglieder auf ein heterosexuelles Begehren festlege, das heißt die Sehnsucht nach einem gleichgeschlechtlichen Liebesobjekt prinzipiell verdränge. Es heißt in Das Unbehagen in der Kultur: Die in diesen Verboten [das Inzest- und Homosexualitätsverbot] kundgegebene For­ derung eines für alle gleichartigen Sexuallebens setzt sich über die Ungleichheiten in der angeborenen und erworbenen Sexualkonstitution des Menschen hinweg, schneidet

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F ranziska S chössler eine ziemliche Anzahl von ihnen vom Sexualgenuß ab und wird so die Quelle schwerer Ungerechtigkeit. (Freud 1994: 69 f.)

Die Kultur homogenisiert das Sexualleben der Einzelnen, indem Sexualität, Reproduktion und Ehe normativ miteinander verknüpft und Abweichungen bestraft werden. Kultur ist für Sigmund Freud also gleichbedeutend mit einer schweren Schädigung des Sexuallebens bzw. einer fundamentalen Reduktion von Wahlfreiheit. Auch Judith Butlers neuere Untersuchung Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung widmet sich der Frage nach einem tabuisierten Begehren. Sie betont in dem Kapitel Melancholisches Geschlecht/Verweigerte Identifizierung, dass die Verwerfung des homosexuellen Begehrens bewusstseinskonstituierend sei und wesentlich zur Entstehung des psychischen Innenraums beitrage. Das kulturelle Verbot der Homosexualität, das nach Butler dem Inzestverbot noch vorausliegt, produziert einen psychischen Kern, der das Homosexualitätstabu verinnerlicht, performativ wiederholt und zugleich auf ein heterosexuelles Begehren festlegt. Aufgrund dieser Ausgrenzung ist die heterosexuelle Geschlechteridentität ihrem Wesen nach melancholisch. Sie ergibt sich durch die Verwerfung eines homosexuellen Begehrens, durch eine unbetrauerbare Abspaltung, die die geschlechtliche Normalität und die Identität des Subjekts erst hervorbringt. Die heterosexuelle Geschlechtsidentität wird also durch das Verworfene konfiguriert, durch das, was in ihr gerade nicht repräsentiert ist (Homosexualität). Sie entsteht durch das, was in der Sexualität unartikuliert bleibt. Eindeutigkeit des Geschlechts wie des Begehrens (und das gilt auch für ein eindeutig homosexuelles) ist demnach ein Hinweis auf die bereits stattgefundene Abspaltung von Möglichkeiten, auf die kulturelle Verknappung von Wahlfreiheit.

Fantasie als Rollenspiel Wahlfreiheit scheint es allein dann geben zu können, wenn das Geschlecht nicht essentialisiert und anatomisch festgeschrieben wird, sondern als ein fluider Raum variabler, situativ definierter Praktiken verstanden wird. Insbesondere die Fantasie lässt einen solchen Kosmos entstehen, denn sie ermöglicht unendliche Rollenspiele mit sexuellen Identitäten. In der Fantasie sei, so halten die Psychoanalytiker Jean L. Laplanche und Jean-Bertrand P. Pontalis fest (vgl. Lauretis 1996: 109 f.), eine simultane Besetzung von diversen, ja widersprüchlichen Rollen möglich, denn sie weise keine festen Rollen zu. Dieses Gleiten der Positionen oder genauer: die Möglichkeit, diverse Formen eines (heterosexuellen und homosexuellen) Begehrens auszuagieren, führt beispielsweise Jean Genets Roman Querelle vor. Spiele mit Ähnlichkeiten, unter anderem zwischen Schwester und Bruder, generieren Vexierbilder, die unentschieden lassen, ob

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sich das Begehren auf den gleich- oder gegengeschlechtlichen Partner richtet. Genet entwirft Szenarien, in denen die Gender Coherence, also die normative Kopplung von Sex, Gender und Begehren, aufgelöst ist, in denen weibliche Gesten mit männlichen Körpern und männliche Sprechakte mit homosexuellem Begehren verbunden sind. Diese Fantasien eines polymorphen Begehrens und entsprechender hybrider Körper könnten die Skripte für reale Praktiken und ihre imaginative Ausgestaltung bilden, könnten in antiidentitäre situative Gender-Praktiken einüben, die eine größere Wahlfreiheit eröffnen und »andere Szenen« der Geschlechterverhältnisse entstehen lassen.

Literatur Beauvoir, Simone de (1968): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek b. Hamburg. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. Dies. (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Dies. (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a. M. Fausto-Sterling, Anne (1985): Myths of Gender. New York. Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M. Ders. (1998): Über Hermaphrodismus. Herculine Barbin. Frankfurt a. M. Freud, Sigmund (2004): Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. 8. Aufl. Frankfurt a. M. Greenblatt, Stephen (1993): Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt a. M. Kraß, Andreas (Hg.; 2003): Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Queer Studies. Frankfurt a. M. Laqueur, Thomas (1992): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a. M./New York. Lauretis, Teresa de (1996): Die andere Szene. Psychoanalyse und lesbische Sexualität. Berlin. Lindemann, Gesa (1993): Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. Frankfurt a. M. Runte, Annette (1996): Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität. München. Schößler, Franziska (2006): Einführung in die Gender Studies. Berlin.

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Geschlechterpluralitäten als Existenzmuster Christel Baltes-Löhr Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage nach der Bedeutung des Begriffs »Geschlecht« sowie möglicher Erklärungen der Konstruktionsprozesse von Geschlecht und damit einhergehender Geschlechterordnungen. Mit einer versuchten Neufassung des Geschlechterbegriffes soll der Pluralität als Existenzmuster Rechnung getragen werden. Sind jedoch immer noch bipolare Stereotypisierungen von Geschlecht vorherrschend, dann erläutert der Beitrag anhand von sechs möglichen Konzepten die Entwicklung der Vorstellungen zu Geschlecht im westeuropäischen und angelsächischen Raum seit den 1960er Jahren und zeigt die plurale Verfasstheit von Geschlecht nicht nur im Hinblick auf Geschlechterordnungen und -verhältnisse zwischen Frauen, Männern und anderen Geschlechtern, sondern auch hinsichtlich des Miteinanders von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, mit unterschiedlichem sozio-ökonomischem Status oder auch verschiedener Altersgruppen.

Geschlechterbegriff Was ist mit dem Begriff »Geschlecht« gemeint? Eine auf den ersten Blick scheinbar lapidare Frage, deren Beantwortung sich bei genauerem Hinsehen jedoch als gar nicht so einfach erweist. Was bedeutet der Begriff? Welche Kategorien umfasst er? Was schließen diese Kategorien ein, was aus? An welchen normativen Setzungen ist das, was mit dem Begriff »Geschlecht« gemeint ist, orientiert? Welche Handlungsmuster, welche Stereotypisierungen gehen ihm einher?

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Der Begriff »Geschlecht« Im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch wird »Geschlecht« oft gleichgesetzt mit der kulturell bedingten Bezeichnung bestimmter Körperregionen als die Geschlechtsteile »Vagina« und »Penis«. In der Biologie dient der Begriff »Geschlecht« als Ordnungskategorie zur Bestimmung der Zugehörigkeit von Menschen oder Kollektiven zu einer Geschlechtergruppe. Diese Zuordnung geschieht auf Grund vermeintlich gleicher körperlicher Merkmale: Menschen mit einem Penis gelten in der Regel als Männer und damit als männlich. Menschen mit einer Vagina gelten in der Regel als Frauen und damit als weiblich. So findet im vorherrschenden Diskurs der sog. westlichen Welt bis in die 1960er Jahre der Begriff »Geschlecht« seine Aufteilung in die beiden Kategorien »weiblich« und »männlich«. Weiblich und Weiblichkeit werden gleichgesetzt mit Fraubzw. Mädchen-Sein, männlich und Männlichkeit mit Mann- bzw. Junge-Sein. Eine solche Geschlechterordnung ist dual, bipolar, antagonistisch, dichotom und nicht zuletzt auch hegemonial verfasst; d. h.: Wer Frau ist, kann nicht Mann sein und wer Mann ist, kann nicht Frau sein. Ein Mensch muss zu einem, nur zu einem und immer nur zu einem Geschlecht gehören. Mit der Geschlechterordnung und den jeweiligen Geschlechtern sind bestimmte normative Vorstellungen verbunden, die dem einen oder dem anderen der beiden Geschlechter »männlich« oder »weiblich« zugeordneten Indiviuduum, Subjekt, der Person bzw. dem Menschen als normative Richtschnur für konkretes Denken, Fühlen und Handeln dienen. Dieses Sich-Einordnen-Müssen in eine bipolar verfasste Geschlechterordnung kann auch mit dem Begriff »Zwangsheteronormativität« beschrieben werden. Mit einer solchen bipolaren Zwangsheteronormativität ist jedoch kein gleichberechtigtes Nebeneinander der beiden Geschlechter verbunden. Vielmehr ist die bis in die späten 1960er Jahre vorfindbare Geschlechterordnung dichotom geprägt, was meint, dass die beiden Pole »weiblich« und »männlich« als sich wechselseitig entsprechend bzw. einander ergänzend, aber auch als einander gegensätzlich und widerstrebend verstanden werden. Letztgenannte Vorstellung spiegelt sich auch im Begriff des antagonistischen Geschlechterverhältnisses wider. Hegemonial verfasstes Geschlechterverhältnis meint dann zudem, dass die Geschlechter nicht gleichberechtigt nebeneinander mit Bezug aufeinander vorkommen, sondern dass sich das Geschlechterverhältnis entsprechend einer mit Macht konnotierten Geschlechterordnung gestaltet, wobei ein Geschlecht als mächtiger als das andere, als dem anderen Geschlecht überlegen betrachtet wird.

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Geschlecht, Sex und sexuelles Begehren Bis in die 1960er Jahre wird Geschlecht oft gleichgesetzt mit dem biologischen Geschlecht »sex« und als natürlich gegeben verstanden. Aufgrund körperlicher Merkmale wird dem neugeborenen Menschen ein Geschlecht – weiblich oder männlich  – zugeschrieben. Im Melderegister wird dieses Geschlecht angegeben, ebenso wie der Vorname (s. u.). So heißt das Baby mit dem Penis Paul und das Baby mit der Vagina Paula. Paul und Paula werden als voneinander verschieden betrachtet. Ihr Geschlecht erscheint als naturgegeben und ordnet auch das sexuelle Begehren. Das heterosexuelle Begehren zwischen Paul und Paula als Erwachsene gilt als Norm und wird somit als normal anerkannt und angestrebt. Sexuelles homoerotisches Begehren zwischen Männern und zwischen Frauen gilt in den 1960er Jahren nicht als normal, sondern als abweichend. Erst 1994 wurde in Deutschland der § 175 des Strafgesetzbuches abgeschafft (BGBl. 1994), der bis dahin Homosexualität, wobei diese sich tatsächlich ausschließlich auf Männer bezog, unter Strafe stellte. Wer ist mit einem solchen Begriff von Geschlecht, Sex und sexuellem Begehren nicht gemeint? Mit der bipolaren Begriffsbestimmung »Frau – Mann« sind alle diejenigen Menschen nicht erfasst, die sich weder als Frau oder als Mann, die sich sowohl als Frau oder als Mann, die sich zu einer Phase des Lebens als Mann und dann als eine Frau – oder umgekehrt – situieren. Es sind auch diejenigen nicht mit erfasst, die sich möglicherweise jenseits dieser Beschreibungen begreifen. Vor allem intersexuelle Menschen, deren Geschlecht bei der Geburt und auch im weiteren Lebensverlauf nicht einem der beiden Geschlechter »weiblich« bzw. »männlich« zugeordnet werden kann, transsexuelle Menschen, die sich zu einer Geschlechtsumwandlung entscheiden, aber auch Transvestiten und/oder andere Geschlechter jenseits der Bipolarität bewegen sich immer noch in gesellschaftlichen Tabuzonen. So berichtet Spiegel online über eine Fernsehdokumentation zum Thema Eindeutig zweideutig! Hermaphroditen, Zwitter und Intersexuelle ausgestrahlt von vox am 1. April 2008: In Deutschland kommen täglich ein bis zwei Kinder auf die Welt, deren Geschlechtszu­ gehörigkeit nicht eindeutig ist. 80.000 Menschen leben als so genannte Intersexuelle mit sowohl weiblichem als auch männlichem Chromosomensatz: Die gar nicht so seltene Diagnose ist ein Tabuthema – und fast immer löst sie bei jungen Eltern einen Schock aus. Das Wort »Zwitter« empfin­ den sie als herabwürdigend. Ein Leben in Heimlichkeit und Abgeschiedenheit ist die Folge. (Anonymus 2008)

Kindern mit bei der Geburt uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen sind bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Regel auf operativem Wege einem Geschlecht zugeordnet worden; meistens ist eine Vaginalstruktur operiert worden.

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Es ist von weitreichender Bedeutung, dass mit der Änderung des deutschen Personenstandsgesetz vom 1. November 2013 an mit Paragraf 22, Absatz 3, folgendes geregelt ist: »Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.« (BGBl. 2013)

Körperliche Dimension des Geschlechts: zunehmend uneindeutig Die vermutete Eindeutigkeit der als »sex« oder als biologisches Geschlecht gefassten körperlichen Dimension von Geschlecht bzw. Gender ist auf Grund aktueller Forschungsergebnisse seit Anfang der 1990er Jahre ins Wanken geraten. Nach Streckeisen (1991: 158) lassen sich somatisch-körperlich folgende Bestimmungsmerkmale von Geschlecht unterscheiden: Chromosomen, Keimdrüsen, Morphologie und Hormone. Wäre nun das biologische Geschlecht »sex« eindeutig zuzuordnen, dann müssten alle Menschen mit einer Vagina als Jugendliche bzw. Erwachsene auch einen erhabenen Busen sowie Eierstöcke, eine ähnliche Östrogenkonzentration und den gleichen XX-Chromosomensatz haben. Andererseits müsste das XY-Chromosom immer einhergehen mit Penis, Hoden und einem entsprechenden Testosteronspiegel. Dem ist jedoch nicht so. Es besteht eine Varianz in der Kombination der verschiedenen Komponenten, sodass von einer biologisch eindeutigen Geschlechterzuordnung nicht mehr gesprochen werden kann (vgl. Henke/Rothe 1998). Die Präsenz vielfältiger Geschlechter und der gesellschaftliche Umgang mit entsprechenden Geschlechterordnungen ist in anderen als den sog. westlichen Kulturen schon vielfach zur Normalität geworden.

Ein Blick in andere Kulturen Ein Blick in andere, nicht westliche Kulturen und Gesellschaften zeigt vielfältigere geschlechterbezogene Existenzformen, die als normal betrachtet werden. So leben etwa in der Dominikanischen Republik Guevedoce, was vom Begriff her soviel bedeutet wie ›Penis gegeben mit zwölf‹. Guevedoce sind bio-morphologisch bei der Geburt nicht als eindeutig männlich oder weiblich zu erkennen. Mit der Pubertät setzt eine Maskulinisierung ein, die jedoch nichts an ihrem Status als Guevedoce ändert, der ihnen einen Spielraum zwischen Mann- und Frau-Sein ermöglicht. In Sambia auf Papua Neuguinea leben Kwolu-Aatmwol. In Erwartung der pubertären Maskulinisierung werden die Kwolu-Aatmwol zwar geschlechterübergreifend mit Tendenz zum männlichen Prinzip erzogen, durchlaufen allerdings nur zwei der drei für Männer üblichen Initiationsriten. In ihrem sozialen Verhalten stellen die Kwolu-Aatmwol eine Identität jenseits

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der bekannten Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen dar. Als drittes Geschlecht sind sie weder diskriminiert noch hochgeschätzt. In Mexiko leben in Juchatan sog. Muxe. Es sind biologisch morpholgische Männer, die bestimmte, eher ›typische‹ Frauenarbeiten verrichten und sich auch wie Frauen kleiden. Ähnliches gilt für die Gruppe der Hijra in Indien. Auch hier leben biologischmorphologische Männer in sozialen Frauen-Rollen (vgl. Röttger-Rössler u. a. 1997: 99–177). Im Sommer 2009 wurden sie als drittes Geschlecht, »others« oder »Eunuch« im staatlichen Personenstands- und Wahlrecht anerkannt. In den indischen Wahllisten git es nun neben »F« für female/weiblich und »M« für Male/männlich auch »O« für others/andere (vgl. Siller/Voithofer 2011: 142– 145). In Thailand werden bio-morphologische Männer, die als Frauen leben, als Kathoey bezeichnet (vgl. Jackson/Sullivan 2000). Auch in westeuropäischen Kontexten wird die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern vermehrt diskutiert (vgl. Lang 2006; Schneider/Baltes-Löhr 2014). Interessant ist an dieser Stelle der Hinweis auf die Einschreibemodalitäten an der US-amerikanischen Harvard Business School. Im Online-Formular ist von 2006 bis zum Frühjahr 2008 bei den persönlichen Daten unter der Rubrik »gender« neben »female« und »male« auch die Kategorie »transgender« angegeben. Von Juni 2008 bis 2010 ist bei den Angaben zu »gender« unterschieden zwischen female, male und undisclosed. Im Falle von »undisclosed« wird um Spezifizierung gebeten. Seit 2010 ist die binäre Ordnung an der Harvard Business School wieder hergestellt und Bewerberinnen wie Bewerber können sich entweder als weiblich oder als männlich kategorisieren (vgl. https://apply.hbs.edu/register/get-started).

Geschlechterpluralitäten – ein Definitionsversuch Zentral ist in diesen aktueller werdenden Geschlechterdiskursen zu dritten, vierten oder weiteren Geschlechtern die Frage, ob das sog. dritte, vierte oder jedes weitere Geschlecht sozusagen zwischen den Polen Weiblichkeit und Männlichkeit positioniert wird, wobei die binäre Geschlechterordnung sozusagen als Eckpfeiler gilt oder ob eher von einem Kontinuum ausgegangen wird. Kontinuum könnte bedeuten, dass ein unabgeschlossener Reigen von Aspekten der Geschlechtlichkeit angenommen wird, dessen Einzelaspekte, je nach historischen Phasen, räumlichen Verortungen und vorherrschenden Diskursen zu den Kategorien »weiblich«, »männlich«, »drittes Geschlecht«, »viertes Geschlecht« bzw. »weiteres Geschlecht« gebündelt, gefasst und auch normalisiert werden. Hier stellen sich einige Fragen: Wer bestimmt die kategorialen Inhalte? Wie durchlässig sind die kategorialen Grenzen? Sind die jeweiligen Katgeorien gleich wirkmächtig oder hierarchisierend angeordnet? Wer bestimmt über die Zugehörigkeit zu den Kategorien? Wie veränderbar sind die Kategorien?

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Einen Vorschlag zur Definition von Geschlecht und zur Ordnung der Geschlechter entwickelt Baltes-Löhr (2014), wenn Geschlecht betrachtet wird als bestehend aus körperlichen, psychischen, sozialen und sexuellen Dimensionen, die wiederum als veränderbar, polypolar und plural gefasst sind und zueinander in einem sich wechselseitig bedingendem Verhältnis stehen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einem dem Menschen zugeschriebenen und dem von ihm angeeigneten Geschlecht. Geschlecht umfasst – in seiner körperlichen Dimensionen bio-morphologische, genitale, chromosomale, gonodale und hormonelle Merkmale (Körpergeschlecht oder auch physisches Geschlecht); – in seiner psychischen Dimension Emotionen und Kognition; diese psychische Dimension beschreibt das Empfinden sowie die Eigenwahrnehmung des Geschlechts und pendelt damit zwischen Zuschreibung und Aneignung, anders gesagt zwischen Fremd- und Selbstzuschreibung und mündet in Selbstbenennungen, die mit den Benennungen bzw. Bezeichnungen durch andere mehr oder weniger übereinstimmen oder nicht (psychisches Geschlecht); – in seiner sozialen Dimension die Geschlechterrollen, die das Verhalten eines Menschen als einem Geschlecht zugehörend beschreiben; zu diesem Rollenverhalten gehören Mimik, Gestik, Lautstärke, Körperhaltungen; hierunter fallen auch gesellschaftliche Präsenz, wie z. B. Geschlechterpräsenz in verschiedenen gesellschafttlichen Bereichen, und auch Funktionszuschreibungen wie bestimmte Formen der Arbeitsteilung, aber auch die Zuweisung von Zuständigkeiten hinsichtlich verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, wie Politik/Öffentlichkeit, Privatleben/Familie, Arbeitsmarkt, Bildungsbereich, Wissenschaft/Forschung, Kunst (soziales Geschlecht); – in seiner sexuellen Dimension das sexuelle Begehren/die sexuelle Orientierung wie monosexuell, asexuell, bisexuell, heterosexuell, homosexuell, pansexuell, aber sexuelle Praktiken wie vis a fronte- und vis a tergo-Formen des Geschlechtsverkehrs, Sado-Masochismus, Exhibitionismus; es geht mit dieser Dimension auch um die relationalen Formen von sexuellem Geschlecht wie Monogamie, Polygamie, Polyamorie und entsprechende institutionalisierte Formen des relationalen sexuellen Geschlechts wie Ehe, eingetragene Partnerschaften, nicht registrierte Partnerschaften mit einer/m oder mehreren Partnerinnen und Partner, Singles (sexuelles Geschlecht). Geschlecht wird dabei verstanden als Ergebnis von sozialen Konstruktionsprozessen, an denen die Akteurinnen und Akteure selbst beteiligt sind und hierbei in einem sich wechselseitig bedingenden Verhältnis von Zuschreibungen und

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Aneignungen stehen. Aus einer eher diskurstheoretischen Perspektive kommt performativen Akten in diesen Konstruktionsprozessen eine bedeutsame Rolle zu, sodass die Verknüpfung zwischen diskursiv orientierten, symbolischen Performativitätsannahmen auf der eine Seite und interaktionistisch-, ethnomethodologisch orientierten Doing-Gender-Annahmen auf der anderen Seite die bislang geltende Polarisierung dieser beiden Theoriestränge zur Erklärung der Konstruktionsprozesse von Geschlecht ansatzweise aufheben und überwinden könnte (diskursiv-perfomative und sozial-interaktive Konstruktionsprozesse von Geschlecht). Geschlecht gilt als veränderbar, polypolar, plural und intersektional verfasst: – veränderbar in dem Sinne, dass es je nach historischem, sozio-kulturellen, räumlich-regionalem und normativem Kontext changieren kann und die jeweiligen Kontexte wiederum beeinflussen kann; dass Geschlecht sich im Laufe einer Lebensbiografie verändern kann, wobei zu betonen ist, dass das in einer Situation, in einer mehr oder weniger lang andauernden Phase des Lebens angeeignete Geschlecht wiederum die Lebensbiografie verändern kann; es könnte auch von einem punktuellen Geschlecht gespochen werden (Geschlechtervariabilität: historisch und normativ; punktuelles Geschlecht), – polypolar in dem Sinne, dass Geschlecht als Kontinuum ohne binäre, bipolare Rahmung, ohne binäre Eckmarkierungen wie »eindeutig weiblich« bzw. »eindeutig männlich« verstanden wird (polypolares Geschlecht); – plural in dem Sinne, dass das polypolare Geschlecht als auf einem Kontinuum gelagert gedacht ist (Geschlechterkontinuum), wobei sich die einzelnen Dimensionen zueinander verschieben können und plurale Formen von Geschlecht je nach Zeit Raum etc. konstruiert werden. – Geschlecht ist außerdem im Kontext einer intersektionalen Betrachtung (zur Intersektionalität vgl. Crenshaw 1991, Knapp 2005; Lutz/Vivar/Supik 2010) mit Ordnungskategorien wie Alter, ethnischer Orientierung/kultureller Herkunft, sozio-ökonomischem Status, Bildung zu betrachten, sodass von einem intersektional verfassten Geschlecht zu sprechen wäre. Hierzu gehört auch die räumlich materielle Dimension von Geschlecht (Geschlechterpluralität und intersektionale Verfasstheit von Geschlecht). Hiermit geht die Verabschiedung von der Betrachtung der Geschlechterkategorie als der Strukturkategorie gesellschaftlicher Ordnungen einher.1 1 | In den 1980er Jahren wurde Geschlecht von vielen feministischen Wissen­s chaft­ lerinnen als die gesellschaftliche Strukturkategorie betrachtet (Becker-Schmidt u. a. 2000). Geschlecht galt als diejenige Kategorie, entlang derer Gesellschaft zu verstehen und zu erklären ist. Gekoppelt mit einem bipolaren Verständnis von Geschlecht wurden oftmals sog. weibliche und männliche Eigenschaften und Merkmale differenziert

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Allerdings dient im Alltag in der Regel das morphologische Geschlecht immer noch als Grundlage für die Zuordnung einer Person zu einem Geschlecht (vgl. Henke/Rothe 1998). Immer noch sind Menschen irritiert, wenn sie die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen nicht auf Anhieb eindeutig erkennen können. In der Kunst und mehr noch im Alltag sorgen bärtige Frauen mit Busen immer noch für Aufmerksamkeit. Der geschminkte, mit toupierten Haaren auftretende Mann ist ebenso wie die tiefstimmige, breitschultrige, flachbusige und Oberlippenbart tragende Frau einen erstaunten oder gar entsetzten Blick wert.

Konstruktionsprozesse von Geschlecht In diesem Abschnitt soll der Frage nach der Entstehung von Geschlechtern und Geschlechterverhältnissen nachgegangen werden. Wie sind Konstruktionsprozesse von Geschlechterrealitäten zu fassen? Wie werden aus vielfältigen Möglichkeiten bzw. Potenzialitäten eindeutig aufscheinende Fakten, Tatsachen, Lebensrealitäten? Welche Erklärungen liefern performanztheoretische Vorstellungen zu diesen Fragen? Welche Rolle spielen hierbei Wiederholungen, Veränderungen, Normierungen, Anerkennung und Macht?

Faktizitäten und Potenzialitäten Diese beiden Begriffe sind keineswegs als dualistische Gegenüberstellung zu verstehen, sondern als verwobene Aspekte eines Kontinuums. Menschen werden mit einem weiten Spektrum an Möglichkeiten, Potenzialitäten geboren. Dies gilt auch für Geschlecht und Geschlechterverhältnisse. Basierend auf der Annahme eines ›Geschlechterkontinuums‹ werden, unterstützt durch normativ legitimierende und kategorisierende ›Bündelungen‹ Weiblichkeit und Männlichkeit hergestellt, die dann oftmals immer noch den Anschein haben, natürlich gegeben zu sein. Aus Möglichkeiten werden zu einem gewissen Zeitpunkt, je nach sozio-kulturellen Vorstellungen, an einem gewissen Ort, je nach dem, was als Normalität gilt und je nach theoretischer Ausprägung gar als essentiell verstanden. In Bezug auf gesellschaftliche Machtverhältnisse wurden Frauen qua Geschlecht als untergeordnet, benachteiligt, separiert bzw. deklassiert betrachtet; die kategorioal begründete Geschlechterdifferenz zwischen Frauen und Männern wurde stilisiert, homogenisiert und damit letztendlich nahezu naturalisiert. Der Zugang zu Macht, Bildung, Ressourcen, gesellschaftlicher Anerkennung, Partizipation und Erfolg war der Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Geschlecht geschuldet.

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und je nach dem, welche Werte und Vorstellungen als Normen anerkannt sind Eigenschaften und Fähigkeiten. In Bezug auf die Konstruktion von Geschlecht hieße das, dass Menschen mit Möglichkeiten geboren werden, ein Geschlecht zu konstruieren, zu entwickeln. Je nach Zeitpunkt (Geschlechtervariabilität: hier Historizität von Geschlecht), sozio-kulturell vorherrschenden Diskursen und Orientierungen (Geschlechtervariabilität: hier Normativität von Geschlecht), je nach räumlichen Gegebenheiten (intersektional verfasstes Geschlecht), je nach körperlichen Gegebenheiten (Körpergeschlecht bzw. physisches Geschlecht), je nach sozialer Zuschreibung und individueller, subjektiver Aneignung (Zuschreibungsund Aneignungsaspekt von Geschlecht), je nach sexuellem Begehren, sexueller Orientierung und sexuellen Praktiken (sexuelles Geschlecht) kann ein Subjekt als einem Geschlecht zugehörend gefasst werden bzw. sich selber fassen. Diese Zugehörigkeit kann zugeschrieben oder selbst angeeignet werden und sich ebenso verändern wie das Verständnis bzw. die Vorstellungen davon, was zu einem gewissen Zeitpunkt, je nach sozio-kulturellen Vorstellungen, an einem gewissen Ort, je nach dem, was als Normalität gilt und je nach dem, welche Werte und Vorstellungen als Normen anerkannt sind, unter einem bestimmten Geschlecht zu verstehen ist und wie dann angenommene Geschlechter an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit etc. wiederum auf eben diese Faktoren und Aspekte einwirken. Das ist mit wechselseitigen Konstruktionsprozessen von Geschecht, Subjektkonstitutionen und kategorialen Ordnungen gemeint, Konstruktionsprozesse, in denen Aspekte der Performanz, der Wiederholung sowie der Normierung bemerkenswerte Rollen spielen.

Performanz Welt, Wirklichkeiten, Repräsentationen von Realitäten entstehen aus einer postmodernen Perspektive betrachtet durch Prozesse sprachlicher Strukturierungen. Hiermit ist nicht die Leugnung von Materialität gemeint, sondern vielmehr die realitätskonstruierende Wirkung performativer Handlungen. Was meint nun »perfomative Handlung«? Eine performative Handlung ist »eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt« (Butler 1993: 123). Als wichtigen Aspekt der Performanz beschreibt Butler die Wiederholung. D. h., dass die Benennungen, das Hervorrufen und die Inszenierungen von z. B. Geschlecht wiederholte Darbietungen in Zeit und Raum sind. In Wiederholungen liegen aber auch Möglichkeiten, die vorherrschenden Diskurse z. B. hinsichtlich Geschlecht diskursiv zu durchbrechen und die Bipolarität der Geschlechterordnung zu vervielfältigen, indem andere Facetten von Geschlecht sichtbar gemacht werden können. Mit einem solchen Ansatz wird es möglich, Differenzen zwischen Frauen, Männern und allen anderen Geschlechtern zu erklären und nebeneinander, in Verbindung zueinander oder wie auch immer bestehen zu

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lassen. So können Vielfältigkeiten abgebildet werden. So werden auch Differenzen zwischen Frauen zulässiger, ebenso gilt dies für Männer und alle anderen Geschlechter. Frauen untereinander sind nicht gleich. Sie bilden keine homogene, durch essentielle Merkmale gekennzeichnete (essentiellen Merkmalen folgende) Gruppe; dies gilt ebenso für Männer, Intersex- und Transgender-Personen. Geschlechterbilder und Vorstellungen zu einzelnen Geschlechtergruppen sind variabel. Auch ethnische Orientierungen, Vorstellungen von kultureller Zugehörgkeit, die Bedeutung sozio-ökonomischer Statusgruppen sowie Alterskohorten können als Ergebnisse performativer Konstruktionsprozesse betrachtet werden. Durch Benennungen werden Materien z. B. zu Körpern, auch zu Geschlechtskörpern, Körper zu Geschlechtern, Räume zu Staatsgebieten, Sündige wieder rein durch die drei worte »ego te absolvo«. Menschen werden zu Paaren, indem ein Dritter meint: Ich erkläre Euch hiermit zu Mann und Frau. Es ist nicht die Reue, die den Sündigen von seiner vermeintlichen Sündenlast befreit und es ist auch nicht die Liebe, die ein Paar zu einem Paar werden lässt, sondern das gesprochene Wort. Werden also durch perfomative Akte Realitäten konstruiert, dann stellt sich die Frage, welche Rolle Macht und Machtverhältnisse in solchen Konstruktionsprozessen spielen. Anders gesagt: Wer hat die Macht, dass eine Benennung, ein bestimmter performativer Akt zur normativen Orientierung wird oder schlicht gesagt: sich durchsetzt. Wodurch wird der performative Akt mächtig? Hier hält der foucaultsche Diskursbegriff eine Erklärung bereit.

Diskursbegriff nach Foucault Der foucaultsche Diskursbegriff weist auf die Dynamiken der einzelnen Akteurinnen und Akteure im Bezeichnungsfeld hin. Diskurse setzen sich aus einem Geflecht von Regeln, Normen, Aus-/Einschließungsverfahren, von Disziplinierungsvorgängen und Dichotomiesetzungen zusammen (vgl. Foucault 1966: 50) und wirken »subjektbildend« als strukturale Normalisierungslogiken gesellschaftlicher Praktiken sowie der Einkörperung von Gewohnheiten als Habitualisierungen kultureller Praktiken. Diskurse sind nach Fouclaut Regime der Wahrheit, die sich in Meinungen, Normen, Werten, Medien und Texten äu­ ßern und sich schließlich in sozialen Praxen verfestigen und materialisieren. Die verfe­ stigten Praxen verleihen ihrerseits wieder bestimmten Absichten und Verhaltensweisen Prestige, während sie andere ächten und gar nicht in das öffentliche Bewusstsein drin­ gen oder zur öffentlichen Verhandlung zulassen (Foucault, zit. n. Rommelspacher 1995: 76).

So gehört(e) es sich für eine Frau nicht, sich mit einem kurzen Rock bekleidet, breitbeinig auf einen Stuhl zu setzen, schon gar nicht, wenn sich dieser

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Stuhl auf einem Podium bzw. auf einer Bühne befindet und kein mit einem Vorhang ausgestatteter Tisch vorhanden ist. Ähnliche stereotype Verhaltensmuster ließen sich auch für Männer und andere Geschlechtergruppen finden. Worum es an dieser Stelle der Argumentation allerdings geht, ist vor allem der Hinweis darauf, dass die Wirkmächtigkeit von Diskursen dazu führt, dass konkrete Verhaltenskomponenten, Vorstellungen und Einschätzungen nicht mehr hinterfragt werden, sondern oftmals als geradezu natürlich betrachtet werden. Diskurse erfassen aber nicht nur die Seite der Unterwerfung durch Herrschaft, sondern auch das Begehren nach Macht und Wissen. Dabei bildet das Individuum die Schaltstelle einer Macht, die über die entsprechende Habitualisierung kultureller Praktiken individuelle und kollektive Dispositionen sicherstellt. Als (Subjekt-)Effekte von Diskursen erzeugt und Diskurse erzeugend, gewährleisten Individuen, dass Diskurse nicht nur eine wirkliche Existenzweise haben, sondern zu inneren Haltungen werden, ja als subjektive milieuspezifische »Natur« erscheinen (Bublitz 1999: 10). Nach Rommelspacher sind Prozesse der Formierung von Macht in der und durch die Gesellschaft als vor allem durch die Auseinandersetzung konkurrierender Diskurse vermittelt zu begreifen, die unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft miteinander verknüpfen. Diese Verknüpfung, Auseinandersetzung und Konkurrenz der Diskurse – so ist hinzuzufügen – mündet oftmals in eine hierarchische und hierarchisierende Ordnung, die dann wiederum häufig als »normal« dargestellt wird, vorausgesetzt, diese Diskursordnung wird oft genug wiederholt und findet Anerkennung. Es lässt sich erahnen, dass in diskursiven Praktiken Wiederholung und Anerkennung eine wirkmächtige, eine »effektive« Rolle spielen müssen.

Veränderungen durch performative Konstruktionsprozesse Mit Deleuze (1968) ist davon auszugehen, dass Wiederholung niemals Wiederholung des Selben sein kann, weil die wiederholten Elemente von keinem ihnen allen gemeinsamen Begriff als Ursprung oder Sinnpräsenz eingefasst werden. Derrida entwickelt ungefähr zur gleichen Zeit den Begriff der Différance, womit er ständige Sinnverschiebung meint (vgl. Zima 1997: 167). Deleuze unterscheidet zwei Arten von Wiederholung: die Platonische, als die Wiederholung des Selben oder des unveränderlichen Originals. Hier ist das Original mit sich selbst identisch, alle aus ihm abgeleiteten Kopien sind mehr oder weniger ähnlich bzw. abweichend. Das Original wäre somit erkennbar und abgrenzbar gegenüber anderen Originalen. Die Qualität bzw. Wertigkeit der Kopie misst sich dann an der gelungenen, erreichten Nähe zum Original. Das Original steht im Zentrum, das von den Kopien umkreist wird. Die zweite Art von Wiederholung beschreibt Deleuze als die nietzscheanische, die Wiederholung als reine Differenz nicht im Hinblick auf ein in seinem

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Wesen unveränderliches Original betrachtet, sondern als Bewegung, als Abweichung, als Grenzverschiebung. Deleuze stellt den platonischen Dualismus von Original und Kopie radikal in Frage und wendet sich gegen die Neigung zur Vereinheitlichung und Identitätsbildung. D. h. Wiederholungen beziehen sich nicht auf das Original, auf das Gleiche, sondern auf Etwas, auf das stets Differente. Es geht Deleuze in seinen Überlegungen um eine Sicht von Wiederholung als Wiederholung des NichtGleichen, des Nicht-Identischen, des Vielfältigen. Dieser Auffassung von Wiederholung entspricht ein vielfältiges Subjekt »Das Subjekt der ewigen Wiederkehr ist nicht das Selbe, sondern das Differente, nicht das Ähnliche, sondern das Unähnliche, nicht das Eine sondern das Viele, nicht die Notwendigkeit, sondern der Zufall« (Zima 1997: 169 mit Bezug auf Deleuze, Vattimo und Lyotard) und es lässt sich hinzufügen: Das Subjekt ist nicht das begrenzte, sondern das in seinen Grenzen nicht definierte. Wiederholungen bergen zudem Möglichkeiten, vielfältige neue Aspekte eines Gegenstandes präsent werden zu lassen, sodass sich dualisierende Hierar­ chien verändern, verschieben, auflösen. Wiederholung kann – so verstanden – enthomogenisierend und heterogenisierend wirken, Vielfalt Raum geben und gleichzeitig Ähnlichkeiten erkennbar werden lassen oder verwerfen. Neues entsteht somit immer in Bezug auf etwas, meist das Alte, das Tradierte, das Bekannte. Das Neue entsteht in langsam sich verschiebenden Veränderungen. Das Jetzt ist jetzt vorbei. Das in der Zukunft gedachte, neue Jetzt ist Jetzt das schon vergangene Jetzt von vorhin.

Normierungen in performativen Konstruktionsprozessen Die subversive Kraft der Wiederholungen, die ständig im gleichen Tun das Andere hervorbringen, die subversive Kraft der Sinnverschiebungen ergeben sich durch das Konstruieren von bis zu dem Zeitpunkt der Benennung scheinbar nicht existierenden Worten oder Begriffsbedeutungen, ausgegrenzten Repräsentationsformen von Ereignissen, Lebensrealitäten. Hiermit einher geht die Annahme, dass Begriffe oder Worte existierende Realitäten niemals vollends abbilden können, dass es jedoch scheinbar (anscheinend?) mehr oder weniger bewusste Übereinstimmungen, Verallgemeinerungen, Ähnlichkeitsbekundungen, Normen und Grenzen geben muss, um Formen der Interaktion, der Kommunikation, des gemeinsamen Handelns möglich zu machen. Die kurz umrissene Debatte zeigt, auf welch’ ›wackeligen‹ Füssen unsere vermeintlichen Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und anderer ›Sicherheiten‹ beruhen. Vorherrschende, scheinbare Natürlichkeiten können ihrer Natürlichkeit beraubt werden, wenn aufgezeigt werden kann, was diese eine Natürlichkeit alles an anderen potentiellen Natürlichkeiten verleugnet, unterdrückt und diskriminiert.

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Judith Butler hat dies eindrucksvoll für die Geschlechteridentitäten in Bezug auf die Zwangsheterosexualität aufgezeigt (vgl. Butler 1991). Butler beraubt der Heterosexualität ihre scheinbare Natürlichkeit, wie es ebenso z. B. für die Monogamie und etliche andere Sozial- und Existenzformen notwendig erscheint, sie ihres scheinbar natürlichen Charakters zu berauben.

Macht – Begehren der Unterwerfung »Eine auf das Subjekt ausgeübte Macht ist die Unterwerfung, doch eine vom Subjekt angenommene Macht, eine Annahme, die das Instrument des Werdens dieses Subjektes ausmacht.« (Butler 2001: 16) Es geht somit nicht lediglich um die Anerkennung durch den Anderen, die das Subjekt zur Subjektwerdung benötigt, sondern um Unterordnungsprozesse als Form von Anerkennung. In Bezug auf die Geschlechterkonstruktion ließe sich vermuten, dass die Konstruktion eines Geschlechts via Zuschreibung und Aneignung, je nach Zeit, Kultur, Raum, Materialität eben gerade dessen Verleugnung bzw. Veränderung ermöglicht. Anders gesagt: Gerade die Zuschreibung zu einem Geschlecht kann das Begehren nach Veränderung evozieren, so wie das Subjekt seine Handlungsfähigkeit von eben der Macht bezieht, gegen die es sich stellt. Wenn das Subjekt weder durch die Macht vollkommen determiniert ist, noch seinerseits vollständig die Macht determiniert (sondern immer beides zum Teil), dann geht das Sub­ jekt über die Logik der Widerspruchsfreiheit hinaus. Es ist gleichsam ein Auswuchs, ein Überschuss der Logik. (Ebd.: 22)

Hiermit wird auch deutlich, dass Veränderungen der Geschlechterordnung immer auch an das zu Verändernde gebunden sind und dass beispielsweise das jeweils andere Geschlecht in irgendeiner Art und Weise allen anderen Geschlechtern verbunden ist. Das Subjekt wird zum Ort der Wiederholung der Bedingungen der Macht (vgl. ebd.: 20), wodurch es via subversive Wiederholungen zu Veränderungen der Erscheinungsformen der Macht, also auch der Geschlechterordnungen, kommen kann. Das Subjekt wird durch die Macht zum Agens, wird handelnd und handelt dann mächtig  – es wird wirkmächtig. Durch die Unterwerfung, die Verhaftung und Bindung evozierende Anerkennung durch andere wird das Subjekt zum Subjekt und kann durch ebendiese Unterwerfung »ein Begehren der Unterwerfung« (ebd.: 23) hervorbringen. Nach Auffassung von Bublitz ist das Subjekt »immer zugleich identisch und nicht-identisch; es integriert das Nicht-Identische in das Andere, Differente in seine Identität und konstituiert dieses Andere immer wieder neu« (Bublitz 1999: 163). In Übertragung auf die Geschlechterkonstruktion ließe sich schließen, dass z. B. das Weibliche auch immer das Nicht-Weibliche oder das Anders-Geschlechtliche mit integriert,

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hierbei jedoch fragmentarisch ist und bleiben muss, d. h., dass die Subjektwerdung ebenso wie die Geschlechterkonstruktion nicht als abgeschlossen gelten kann.

Verhaftet-Sein Obwohl das Kind nicht weiß, an wen es sich bindet und diese Bindung – in Anlehnung an Freud – als Formen von Liebe das entstehende Ich erweitern oder aber auch verkleinern können (vgl. Butler 2001: 13; Anm. 5), kann ohne eine solche Bindung kein Subjekt entstehen, obwohl dieses Verhaftetsein vom Subjekt selbst nicht vollständig erfasst, ›gesehen‹ werden kann. »Das Verhaftetsein in seinen ursprünglichen Formen muss sowohl entstehen wie verleugnet werden, eine Entstehung muss eine teilweise Verleugnung sein, soll es überhaupt zur Subjektwerdung kommen.« (Ebd.: 13) Nun könnte man einwenden, dass dies ja nun nur als eine etwas andere Sichtweise der pubertären Ablösung der Jugendlichen von ihren sog. primären Bezugspersonen zu verstehen sei, aber in den Überlegungen von Judith Butler scheint ein innovatives Argument auf: die Notwendigkeit der Bindung, einhergehend mit dem Versuch sich aus der immer weiter bestehenden Notwendigkeit zu lösen, das Begehren nach Bindung und das Ablehnen der Bindungspersonen, die sozusagen ungewollt oder unausgewählt als Gegenstand der Bindung, als Fokus des Begehrens ge- bzw. benutzt werden.

Normativität im Kontext von Anerkennung und Subjektwerdung Geht Althusser mit seinem Begriff der Interpellation oder Anrufung davon aus, dass ein Subjekt durch einen Ruf, eine Anrede, eine Benennung konstituiert wird, dann betont Butler den Versuchscharakter einer solchen Anrufung. »Aber es ist doch mein Name, nur erkenne ich mich selbst nicht in dem Subjekt, das dieser Name in diesem Moment ins Spiel bringt« (ebd.: 92). Wird zum Beispiel im Rahmen einer Preisverleihung unerwartet der eigene Name aufgerufen und schaut der Angerufene um sich, suchend, dann kann er sich fragen: Ich, bin ich wirklich gemeint? Der Angerufene kann die Anrufung annehmen oder aber sich abwenden. Das Sich-Umschauen kann aber auch als die Suche nach einem imaginierten Anderen gedacht bzw. imaginiert werden und so ist zu verstehen, was damit gemeint ist, wenn Butler sagt, dass der Ort des Imaginären zu einem Ort des Widerstandes wird (ebd.: 94). Verschiebungen und Veränderungen, Subversionen der symbolischen Ordnung können als unvorhergesehene Effekte von Anrufungen betrachtet werden und resultieren somit nicht nur aus den Verleugnungen der Anrufungen, sondern in dem Versuch: Ja, ich könnte

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tatsächlich gemeint sein. Der Mensch, das Individuum, das Subjekt, Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Mädchen, Jungen, Frauen, Männer, andere Geschlechter konstituieren sich durch symbolisch geordnete Anrufungen. Hiermit wird deutlich, welch bedeutsame Rolle der Mensch selbst im Konstruktionsprozess seiner Subjektivität, seiner Individualität spielen kann, wenn Anerkennungsprozesse im Kontext von Zuschreibungen, oder – nach Althusser – Anrufungen, und Aneignungen, oder – ebenfalls nach Althusser – Umwendungen bzw. Verleugnungen der Anrufung betrachtet werden. Anerkennungsprozesse und damit Konstruktionsprozesse auch von Geschlechtern sind in ihrer Vielstimmigkeit zu verstehen. Es gilt im wissenschaftlichen Kontext, diese Polyphonien aufzudecken und nicht zuletzt ihre Veränderbarkeit nachzuzeichnen.

Geschlechterkonzepte von 1960 bis 2013 Gegenwärtig ist die Geschlechterkategorie kaum aus dem Alltag wegzudenken und sie bleibt – trotz aufbrechender Diskurse – in der Regel binär verfasst. Frauen sowie Männern werden im Kontext der sog. Zwangsheteronormativität immer noch und immer wieder stereotype Eigenschaften zugeschrieben (zum Folgenden vgl. Baltes-Löhr 2006: 46–53 u. 237–239). Immer wieder heißt es, dass die Frauenbewegung seit den späten 1960er Jahren die westeuropäische und US-amerikanische Gesellschaft grundlegend verändert habe. Kaum eine Zeitung oder Zeitschrift kommt ohne mehr oder weniger ausladende Artikel über die Vereinbarkeit von Beruf und Privatheit aus. Die Diskriminierung von Frauen und mittlerweile auch von Männern aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu ihrem Geschlecht wird ebenso thematisiert wie die Notwendigkeit, an diesen Verhältnissen etwas in Richtung auf mehr Gerechtigkeit zu ändern. Es wird aber auch das Gegenteil behauptet, dass nun nach 40 Jahren Frauenbewegung genug verändert sei, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter erreicht sei. Immer häufiger wird von den negativen Auswirkungen der Frauenbewegung auf Jungen und Männer gesprochen und eine Männerbewegung eingefordert. Immer deutlicher wird jedoch auch, dass eine bipolar, sprich »weiblich – männlich« verfasste Geschlechterordnung den gelebten Geschlechterverhältnissen nicht gerecht werden kann. Eine auf der Annahme von binären Geschlechten basierende Geschlechterordnung bleibt notwendigerweise beschränkt. Im Folgenden werden noch einmal gängige Stereoptype und Verhältnisse der binären Geschlechterordnung dargelegt. Es wird der Frage nachgegangen, wie sich die Perspektiven auf die Geschlechterverhältnisse verändert haben und wie sich diese Veränderungen fassen lassen. Um diese Fragen zu beantworten,

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sind folgende Geschlechterkonzepte entwickelt worden (zum Paradigmenwechsel vgl. auch Maihofer 1997 u. Metz-Göckel 2000).

Frauen am Herd – Männer im Beruf: Traditionelles Geschlechterkonzept Bis Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre werden in der sog. westlichen Welt Sex, Geschlecht, Weiblichkeit, Männlichkeit, sexuelles Begehren sowie sexuelle Orientierung häufig als naturgegeben, unveränderbar und für die gesamte Menschheit gültig betrachtet (vgl. Bilden 1980 u. 1991; Faulstich-Wieland 2008). Diesen scheinbar eindeutig bestimmbaren Geschlechtern werden ebensolche eindeutigen psychischen Wesensmerkmale zugeschrieben (vgl. NaveHerz 1972: 64 f.). Tab. 1: Traditionelle Stereotypisierung der Geschlechterbilder Mädchen/Frauen

Jungen/Männer

Emotional

Rationalität

Passiv

Aktivität

Einfühlsam

Härte

Weich

Stärke

Natürlich

Kultur

Körperbezogen

Geist

Abhängig

Autonomie

Das dem Menschen vermeintlich angeborene Geschlecht gilt als eindeutig klassifizierbar und bestimmt das Wesen des Menschen. Für das sexuelle Begehren ist Heterosexualität das normative Regulativ, Homosexualität wird zur pathologischen Devianz deklariert. Um als ›richtige(s)‹ Mädchen/Frau bzw. ›richtiger‹ Junge/Mann erkannt bzw. anerkannt zu werden, müssen möglichst alle Verhaltensmerkmale erfüllt sein. Abweichungen werden je nach Situation als Anzeichen einer Krankheit, als verrückt oder anormal wahrgenommen, interpretiert und gegebenenfalls auch sanktioniert. Aus solchen Konzeptionen zu Weiblichkeiten, Männlichkeiten und den Geschlechterverhältnissen resultieren Lebensrealitäten, die trotz der in Verfassungen und Menschenrechtserklärungen festgeschriebenen Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts führen.

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Power-Frauen – Männlichkeit als normatives Regulativ: Geschlechter-Defizit-Konzept Mit der Frauenbewegung in den späten 1960er Jahren wurde in der sog. westlichen Welt sowohl die Zwangsheteronormativität als auch die damit verbundenen Geschlechterstereotypisierungen in Frage gestellt, wohingegen jedoch die binäre Verfasstheit der Geschlechterordnung keinesweg hinterfragt wurde. Frauen in den USA, aber auch in Nordwesteuropa machen sich auf den Weg und fordern ein Ende der Ungleichheiten (vgl. Sander 1992). Trotz all der entwickelten »Frauen-Power« orientieren sich die Frauen jedoch zu Beginn der 1970er Jahre in ihren Forderungen nach Gleichheit und Partizipation häufig an damals virulenten männlichen Normalbiografien. Frauen wollen dort arbeiten, wo Männer arbeiten; sie wollen Karriere machen, so wie die Männer. Frauen wollen am öffentlichen Leben partizipieren; sie wollen die Anerkennung, die auch Männern zukommt. Das Begehren, der Lebenswunsch, die Perspektive der Frauen ist somit auf das gerichtet, was viele Männer als selbstverständliche Biografie leben. Dies lässt sich fassen als Geschlechter-Defizit-Konzept: Geschlechter-Defizit-Konzept Frauen erleben sich im Vergleich zu Männern als »defizitär«. Die männliche Normalbiografie gilt als Norm für Frauen. Männliche Geschlechterrollenbilder bleiben unhinterfragt. Die männliche Art und Weise zu leben, zu arbeiten und zu gestalten gilt als Norm. Frauen wollen Männern gleichgestellt sein und so wie diese an dem gesellschaftlichen Leben aktiv und selbstbestimmt gestaltend teilnehmen; dies wird häufig auch als Gleichheitsansatz beschrieben (vgl. Gerhard u.  a. 1997). Frauen betrachten sich vor dem Hintergrund solcher normativer Vorstellungen als minderwertig und sind bestrebt, sich der männlichen Norm anzugleichen. So geht es in den Forderungen der Frauenbewegung häufig darum, dass Frauen sozusagen ihr Recht einfordern, auch die sog. männlichen Eigenschaften zu erwerben und danach zu leben. Die »ideale« Frau ist eine berufstätige, durchsetzungsfähige, starke, rationale und auch Härte zeigende Person und weniger die emotionale, gefühlsbetonte Frau, die als Hausfrau und Mutter lebt. Die traditionelle Rolle des Mannes bleibt jedoch unhinterfragt. Eine Kombination der scheinbar geschlechtstypischen ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Persönlichkeitseigenschaften steht nicht zur Debatte. Alle Debatten um Karriere-Frauen und Alpha-Mädchen als neues Modell für Frauen lassen sich hierunter subsumieren. So titelt der Spiegel in seiner Ausgabe 24/2007 Die Alpha-Mädchen. Wie eine neue Generation von Frauen die Männer überholt (Anonymus 2007). Thea Dorn (2007) proklamiert die neue

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»F-Klasse« und den Tod des »alten Feminismus«. Frauen verabschieden sich vom klassischen Familien- und Partnerschaftsmodell, verschreiben sich der Karriere und gehen ihren Weg, so wie es Männer taten und tun, nur dass Frauen in den allermeisten Fällen keine Hausfrau bzw. keinen Hausmann haben, der ihnen sozusagen den »Rücken freihält«. In Bezug auf die Zuordnung stereotypisierter Eigenschaften zu einem Geschlecht kommt es zu einer normativen Verschiebung. Die Höherbewertung des ›männlichen Prinzips‹ ist augenfällig. Tab. 2: Stereotypisierung der Geschlechterbilder entsprechend des Geschlechter-Defizit-Konzeptes Mädchen/Frauen

Jungen/Männer

Emotional

Rationalität

Passiv

Aktivität

Einfühlsam

Härte

Weich

Stärke

Natürlich

Kultur

Körperbezogen

Geist

Abhängig

Autonomie

Karrierefrau sucht Hausmann: Geschlechtertausch-Konzept In diesem Konzept bleibt Aufteilung der Zuständigkeiten in die traditionellen Rollenklischees wie im traditionellen Geschlechterkonzept erhalten. Lediglich die Rollenbesetzung wird getauscht: Der Hausmann hat die sog. weiblichen Komponenten zu erfüllen, ansonsten ist die Frau nach außen und auf die Berufswelt hin orientiert. Dieser Tausch scheint einfach. In einer Gesellschaft, die bislang jedoch als traditionell geprägt gilt, stellt der Hausmann sozusagen die Verhältnisse auf den Kopf, er bleibt etwas besonderes, die Ausnahme, wie die Zahlen für Luxemburg exemplarisch zeigen mögen. Der Anteil der Hausmänner hat sich von 1991 bis 2011 lediglich von 0,7 auf 3 % erhöht (Statec: Zensus 1991 u. 2011).

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Die Frau, das weibliche, das bessere Wesen: Geschlechter- Differenz-Konzept Hierunter lassen sich all diejenigen Vorstellungen von Geschlecht subsumieren, die von einer dem Manne überlegenen wesenhaften Weiblichkeit ausgehen. Die wesenhafte Weiblichkeit gilt als normatives Muster. Die essentielle Andersartigkeit der Geschlechter »weiblich« ≠ »männlich« wird betont. In diesem Zusammenhang wird die Unvereinbarkeit der Geschlechter betont, es entstehen Frauengruppen, Frauenräume, Frauenveranstaltungen, zu denen Männer keinen Zutritt haben. Frauen wollen unter sich sein und ihre »Schwesterlichkeit« pflegen. Die weibliche Art und Weise zu leben, zu arbeiten und zu gestalten wird männlichen Arbeitsformen ebenso vorgezogen wie das Mitwirken von Frauen in von Männern geprägten Institutionen, die auf Rationalität, Härte, Durchsetzungsvermögen und Konkurrenzfähigkeit basieren. So wird beispielsweise das sog. weibliche Arbeitsvermögen, gekennzeichnet durch Kooperationsfähigkeit, Diskussionsbereitschaft, Einfühlungsvermögen, intuitive Kreativität und Spontaneität, als die ›bessere‹ Form der Arbeitstätigkeit betrachtet. Wie ›haltbar‹ solche Vorstellungen sind und wie sehr sie bis in die heutigen Tage wirken, zeigt sich in einem Essay von Christiane Hoffmann in der Ausgabe des Spiegels vom 15. April 2013, in dem es um den Gedanken geht, dass die Frauenbewegung mit Margret Thatcher Frieden schließen sollte. Unter dem Titel Das Superweib erscheint inmitten des Textes ein Foto, das Margret Thatcher mit den damaligen G–7–Staatschefs beim Gipfel in Versailles im Jahre 1982 zeigt. Im Bildkommentar heisst es: »Im Grunde ihres Herzens hielt sie die Frauen für das überlegene Geschlecht: tatkräftiger, zupackender und pragmantischer« (Hoffmann 2013: 36/37). Hier deutet sich neben der Betonung der Wesenhaftigkeit von Frauen und den damit verbundenen sog. weiblichen Eigenschaften auch an, dass in dem Fall, dass Frauen sog. männliche Eigenschaften annehmen wie z. B. Tatkraft, Frauen diese Eigenschaften ›besser‹ umsetzen können als dies Männern überhaupt möglich ist. Die Zuordnung geschlechtsspezifischer Eigenschaften zu einem jeweiligen Geschlecht wird mit diesem Konzept jedoch nicht grundlegend in Frage gestellt. Die Geschlechtermedaille wird einfach nur umgedreht. Das vermeintlich spezifisch weibliche Wesen rückt auf die Vorderseite, wertet sich auf, sucht und findet seine Anerkennung und schließt – weil nicht sein kann, was nicht sein darf – das andere Geschlecht, aber auch diejenigen Frauen aus, die sich nicht an der Norm »Weiblichkeit« orientieren. Als Vertreterinnen dieser essentialistischen Position gelten Luce Irigaray (1979), Carol Gilligan (1984) oder auch Nancy Chodorow (1985). Die Debatte um die unterschiedlichen Positionen wird auch bei Andrea Maihofer geführt (1997).

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Geschlechter-Differenz-Konzept Frauen sind anders als Männer; Frauen sind besser als Männer; Frauen haben ein spezifisch weibliches Wesen; Männer haben ein spezifisch männliches Wesen; Frauen bestimmen über das, was als »richtige« Frau gilt; Frauen bestimmen normativ, was »Frau-Sein« für alle Frauen bedeuten soll. Im Hinblick auf die oben aufgeführten Persönlichkeitseigenschaften von Frauen und Männern, kommt es zu folgender Veränderung: Tab. 3: Stereotypisierung der Geschlechterbilder entsprechend des Geschlechter-Differenz-Konzeptes Mädchen/Frauen

Jungen/Männer

Emotional

Rationalität

Passiv

Aktivität

Einfühlsam

Härte

Weich

Stärke

Natürlich

Kultur

Körperbezogen

Geist

Abhängig

Autonomie

Abschied von der Wesenhaftigkeit: Geschlechter-Differenzen-Konzept Die Einforderung des spezifisch weiblichen Wesens wird in den USA Ende der 1970er/Mitte der 1980er Jahre vor allem von den »women of colour« und im europäischen Raum seit Ende der 1980er Jahre vor allem von Migrantinnen heftig kritisiert. Debold u. a. (1994: 23) schreiben hierzu: »Die wissenschaftlichen Forschungen haben farbige Mädchen und Frauen bisher fast völlig außer acht gelassen«. Immer mehr Frauen finden sich bzw. ihr ›Wesen‹ in der von den meist westlichen, mittelständischen, weißen Feministinnen postulierten Wesenhaftigkeit von Frau-Sein nicht wieder. Immer mehr werden die Unterschiede zwischen Frauen thematisiert. Scheinbar eindeutige geschlechtsspezifische Verhaltensweisen werden hinterfragt. Das selbstverständliche Reden von »Wir Frauen«, das kollektive Geschlechtssubjekt gerät ins Schwanken. Hierzu haben vor allem die Überlegungen von Judith Butler beigetragen, die 1990 mit

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ihrer Veröffentlichung Gender Trouble (1991) für eine breite und kontroverse Debatte in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung sorgte, in dem sie das essentialistische »Wir Frauen« in Frage stellte (vgl. Gildemeister 2001: 67). Grenzüberschreitungen zwischen bisher eindeutig abgrenzbaren Verhaltensterritorien werden erstmals möglich, ohne als deviant, anormal etc. zu gelten. Tradierte Dualismen wie Frau – Mann, Natur – Kultur, innen – außen, emotional – rational oder sanft – stark werden aufgebrochen und damit auch Vorstellungen von einer dichotomisierenden und hierarchisierenden Ordnung (vgl. Knapp 1990: 23; vgl. Gildemeister/Wetterer, 1992: 242). So lehnt Knapp ab, Frauen als »intuitiv, verharrend, geduldig, kontextbezogen, sorgend, anpassungsfähig, mimetisch, kooperativ, expressiv« mit eigener weiblicher Logik ausgestattet und nicht als »nüchtern, rational kalkulierend, instrumentell, machtbetont, ehrgeizig, aggressiv usw.« (Knapp 1990: 18 f.) zu verstehen. Das Auflösen binärer Oppositionspaare entspricht dem dekonstruktivistischen Ansatz von Derrida (1976: 15) und lässt Raum für Differenzen »aller Art« zwischen Frauen, zwischen Männern, allen anderen Geschlechtern sowie zwischen den Geschlechtern. Eine plurale Perspektive ist eröffnet. Zusammen mit ethnomethodologisch, interaktionistisch ausgerichteten Ansätzen gilt Geschlecht nunmehr als veränderbar und sozial konstruiert. Die Verknüpfung sog. geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen in einer Person über die Geschlechtergrenzen hinweg wird zum zentralen Aspekt. Mit der Infragestellung der Wesenhaftigkeit des Frau-Seins wird auch die Annahme der Wesenhaftigkeit des Mann-Seins brüchig. Dies lässt sich darstellen mit dem Geschlechter-Differenzen-Konzept: Geschlechter-Differenzen-Konzept: Frauen untereinander sind verschieden; Männer untereinander sind verschieden; Frauen und Männer haben kein spezifisch weibliches bzw. kein spezifisch männliches Wesen; Unterschiede zwischen Frauen, zwischen Männern und zwischen den Geschlechtern sind Ergebnisse von Konstruktionsprozessen, an denen alle, jedoch mit unterschiedlicher Dominanz, beteiligt sind. In Bezug auf die Zuschreibung von Persönlichkeitseigenschaften kommt es zu einer Entstereotypisierung.

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Tab. 4: Entstereotypisierung der Geschlechterbilder entsprechend des Geschlechter-Differenzen-Konzeptes Mädchen/Frauen sowie Jungen/Männer und alle anderen können emotional, rational, passiv, aktiv, einfühlsam, hart, weich, stark, der Natur und der Kultur verbunden, körperbezogen, intellektuell, abhängig, autonom, bindungsfähig, bindungsunfähig etc. sein An dieser Stelle wird deutlich, dass die Definition dessen, was mit »alle anderen« gemeint ist, noch aussteht.

Geschlecht im Kontext mit Alter, sozio-ökonomischem Status und ethnischer Orientierung und anderen Dimensionen: Intersektional verfasstes Geschlecht Was ist bislang deutlich geworden? Die Zuordnung gewisser Verhaltensmuster zu einem Geschlecht gilt als Ergebnis sozialer Konstruktionsprozesse; Zwangsheteronormativität ist als Konstrukt zu betrachten ebenso wie die Zweigeschlechtlichkeit und die Vorstellung von heterosexuellem Begehren als naturgegebener Normalität. Weiblichkeit, Männlichkeit und andere Geschlechter sind nicht als in sich homogene und mit bestimmten Merkmalen, mit bestimmten Mustern ausgestattete Ordnungskategorien zu verstehen. Vielmehr sind Merkmale, die bestimmte Geschlechter beschreiben und zu fassen versuchen, als Punkte auf einem Kontinuum zu betrachten. Dies führt zu einem Verständnis der Variabilität der Geschlechter und der Geschlechterordnungen: 1. Es gibt mehr als zwei Geschlechter. 2. Das, was z. B. unter einem typischen Geschlechterverhalten verstanden wird, ist nicht als Abbild gelebter Realitäten zu betrachten: Weiblichkeit, Männlichkeit, Intersex und Transgender können als jeweilige Geschlechter in sich sehr unterschiedlich verfasst sein: Frauen untereinander sind verschieden, Männer, Intersex- und Transgender-Personen ebenfalls. 3. Ebenso wie die Geschlechter in sich variant sein können, sind auch die Geschlechterverhältnisse als vielfältig zu fassen. 4. Eine solche Perspektive der Vielfältigkeit lässt auch Durchlässigkeiten zwischen den immer noch existierenden, auf stereotypsierenden Vorstellungen basierenden Geschlechtergrenzen zu. 5. Scharfe bipolare, antagonistische und dichotome Verfasstheiten von Geschlechtern und Geschlechterverhältnissen sind damit in Frage gestellt. Ein Beharren auf solcherlei Ordnungen bedarf neuer Erklärungen: Weder die

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Natur noch die tatsächlich zu beobachtbaren Realitäten sind hier als Erklärungsansatz geeignet. Die Pluralität von Geschlechtern und Geschlechterordnungen scheint die gelebten Realitäten adäquter zu spiegeln als binäre Orndungen. Dem entspricht auch die zunehmende Einsicht, dass das vermeintlich eindeutige biologische Geschlecht – häufig auch mit dem Begriff »sex« bezeichnet – so eindeutig gar nicht ist. Mit der De-Essentialsierung des Geschlechts geht auch eine bestimmte Entdramatisierung einher. Neben der Geschlechterkategorie, die lange Zeit als die gesellschaftliche Strukturkategorie betrachtet wurde, und dem körperbezogenen biologischen Geschlecht treten nun auch ethnische und sozio-ökonomische Aspekte ebenso wie Alter in den Vordergrund, wenn es um die Definition und die Konstruktion von Weiblichkeiten, Männlichkeiten, anderen Geschlechtlichkeiten und Geschlechterverhältnissen/Geschlechterordnungen geht. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche ›anderen‹ Kategorien neben der Geschlechterkategorie bedeutsam sind. Gudrun-Axeli Knapp (2005) fügt race und class hinzu. Helma Lutz und Norbert Wenning (2001) finden 13 Differenzkategorien, betonen jedoch die Unvollständigkeit der Liste. Leslie McCall (2005) spricht von gender, race, class und fügt die Kategorie der Region hinzu. Unabhängig von der Anzahl der »Sektionen« wird auf diesem Weg die Bedeutung von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« eher entdramatisiert. Der kulturellen Herkunft, dem sozio-ökonomischen Status und dem Alter wird eine mindestens ebenso große Bedeutung beigemessen, wenn es um das Miteinander von Menschen geht. Das Konzept eines intersektional verfassten Geschlechts ermöglicht aber auch Antworten auf die Frage, warum sich während der letzten 40 Jahre so wenig an den gelebten Realitäten verändert hat: Wird Geschlecht als die Strukturkategorie schlechthin verstanden, dann wird anderen Aspekten womöglich zu wenig Bedeutung beigemessen. So spielt es beispielsweise für den schulischen Erfolg von Jungen und Mädchen mit Sicherheit eine Rolle, welchem Geschlecht sie angehören und welche Bilder sie selbst von Frau-Sein, Mann-Sein, den Geschlechterverhältnissen haben. Die Wirksamkeit der kulturellen Herkunft sowie des sozio-ökonomischen Status ist jedoch nicht zu unterschätzen – auch wenn es um Fragen der Konstruktion von Geschlecht geht. Geschlechter, Geschlechterverhältnisse und Geschlechterordnungen in einem intersektionalen Setting zu betrachten – hierin liegen möglicherweise die größten Chancen, Lebensrealitäten jenseits traditioneller Rollenklischees zu fassen.

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Es könnte alles ganz anders sein Die weiter oben dargelegte Annahme der Konstruiertheit und Veränderbarkeit des Geschlechts macht folgenden Spagat deutlich: Im Grunde genommen könnte alles auch ganz anders sein. Mädchen, die in weibliche Rollen gedrängt werden, und Jungen, die immer noch meinen, nicht weinen zu dürfen und immer wieder stark sein müssen – all dies könnte der Vergangenheit angehören. Menschen, die weder weiblich noch männlich oder ihr Geschlecht verändern könnten nicht mehr als Abweichungen sondern als Ausdruck der tatsächlichen Vielfalt menschlicher Existenzweisen verstanden werden. Dem was möglich wäre, entsprechen jedoch nicht die anerkannten Fakten: de facultate ≠ de facto. Aus vielfältigen Möglichkeiten werden je nach kontextuellen Gegebenheiten Lebensrealitäten und Fakten konstruiert. Und noch ein Aspekt ist zu erwähnen: Die im Alltag anerkannten Normalitäten entsprechen oftmals nicht den mittlerweile de jure gegebenen Möglichkeiten: de facultate ≠ de facto ≠ de jure. Und noch ein letzter Gedanke zu dem weiten Feld de Möglichkeiten: Wäre eine Welt ohne Geschlechterkategorien denkbar? Anders gesagt: Was würde es bedeuten, wenn Geschlechterkategorien, ob polypolar oder binär verfasst – die ja gerade auch von den Feministinnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach als die Strukturkategorie von Gesellschaft beschrieben wurde – wenn also die Unterscheidung, ob ein Mensch als einem bestimmten Geschlecht zugehörig betrachtet wird, ebenso bedeutungslos werden sollte wie seine Haar-, Augen- oder Hautfarbe oder die Körpergröße? Oder würde eine solche »Deaktivierung der Geschlechterkategorie« hinsichtlich der Erziehung von Kindern geradezu eine ständige Konfrontation mit der Geschlechterproblematik nach sich ziehen (vgl. Wolff nach Lang 2006: 228 f.). Dieses Argument schwächt sich ab, wenn man bedenkt, wieviele Mädchen/Frauen und zunehmend auch Jungen/Männer sich ständig mit Fragen ihrer Geschlechtlichkeit beschäftigen: Bin ich schön genug? Bin ich stark genug? Bin ich schlau genug? Bin ich attraktiv genug? Eine »Deaktivierung der Geschlechterkategorie« könnte somit hier eher zu einer Entlastung als zu einer zusätzlichen Belastung werden, wenn die oftmals raumgreifenden Bemühungen, dem vermeintlich »richtigen« Geschlechterbild entsprechen zu müssen, wegfallen würden. Was würde fehlen, wenn die Geschlechterkategorie verschwinden würde? So lässt Amélie Nothomb den Protagonisten ihres Romans Der Professor den schweigsamen Besucher Palmède fragen: »Woher kommt es, daß der Mensch das Bedürfnis hatte, das Wirkliche zu klassifizieren?« und meint: »Im Grunde ist ja schon die Idee der Kategorien ganz unglaublich.« (Nothomb 1997: 60 f.)

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Genre und Gender Marlene Streeruwitz’ Partygirl. als feministischer Palimpsest von Edgar Allen Poes The Fall of the House of Usher Aspekte einer Gendered-Narratologie Alexandra Pontzen Im Kontext weiblicher Autorschaft stellt sich die Frage nach Tradition und Tradierung in anderer und prekärerer Weise als bei männlichen Autoren, denn Tradition und Tradierung bezeichnen Defizit und Desiderat feministischer Literatur sowie ihrer Theorie seit deren Anfängen: Das Fehlen einer Tradition weiblichen Schreibens wurde beklagt, ganz abgesehen davon, dass, der Klage zufolge, Literaturkritik und Philologie die Tradierung verweigert hätten. Die Argumentation lautet verkürzt: Weil ein Modell weiblicher Autorschaft fehle, hätten Frauen eine grundsätzliche »anxiety of authorship« (Gilbert/Gubar 1979: 49) zu überwinden, bevor sie überhaupt in den Bann jener »anxiety of influence« (Bloom 1973) gerieten, gegen die sich männliche Autoren per se positionieren müssten. Während der männliche Autor dann indes nur einzelne literarische Väter ›morden‹ müsse, um sich in die Tradition einzuschreiben, gälten die Aggressionen der Autorin der Tradition als ganzer. Angesichts des Fehlens weiblicher und des Monopols männlicher Tradition sei weibliche Autorschaft eine phallische Anmaßung in mehrfacher Hinsicht: Anerkennung scheine nur möglich durch Rekurs auf nobilitierende männliche Tradition; das Streben, sich von dieser zu emanzipieren, und das deklarierte Bedürfnis nach einer gänzlich anderen Literatur hingegen verböten eine Würdigung des Vorgefundenen. Das Projekt, an die Stelle von Traditionsvergewisserung die Voraussetzungslosigkeit einer »weiblichen Ästhetik« (Pontzen 2001: 53 f.) zu setzen, mit dem die zweite literarische Frauenbewegung in den 1970er Jahren antrat, scheiterte bei Publikum und Literaturkritik. Die Erfolge von Jungautorinnen der 1990er Jahre waren umgekehrt durch schlichte Übernahme vorgefundener (trivialer) Erzählmuster erkauft (vgl. ebd.).

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Das Dilemma weiblicher Autorschaft, verstanden als die Unmöglichkeit von Traditionsvergewisserung ohne Selbstauslöschung respektive von Selbstvergewisserung ohne Traditionsauslöschung, reflektiert die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz in ihren Poetikvorlesungen (vgl. Streeruwitz 1997a; Streeruwitz 1998: 21 f.) als weitgehende Machtlosigkeit gegenüber einer ›patriarchalen Poetik‹, die nicht ersetzt, sondern bestenfalls ›entkolonialisiert‹ werden könne: Es muß in einer nicht patriarchalen Poetik um Entkolonialisierung gehen. Darum. Daß nicht einfach nur neu gedacht werden kann. Sondern, wie anders gedacht werden kann. Wie ein Anders-Denken möglich werden kann, obwohl wir keine andere Sprache als die patriarchale kennen. Und wie anders geschrieben werden kann. Obwohl wir keine ande­ re Sprache als die patriarchale kennen (ebd.: 22).

Der für Streeruwitz zentrale Terminus der »Entkolonialisierung« (ebd.) bezeichnet gleichermaßen das Ziel ihrer Sprach- wie Literaturkonzeption. Er gilt nicht nur einer veränderten, subversiven Verwendung der als unhintergehbar begriffenen ›männlichen‹ Sprache,1 sondern auch dem Versuch, traditionelle literarische Verfahren zu unterlaufen: Das erachte ich als [sic!] notwendig für die Überwindung von autoritären Erzählstruk­ turen und für Entkolonialisierung: Dass einerseits die Auflösung und andererseits aber zur gleichen Zeit die vollkommene Erfüllung der Regeln betrieben werden, damit nicht einfach nur die Spiegelposition eingenommen wird, sondern als Konsequenz der Auflö­ sung und Affirmation diese gleichzeitig auch eine Art Neuentwurf mit sich bringt (Kra­ matschek 2002: 25). 2

Das Projekt, alte Genres aufzulösen bei »vollkommene[r] Erfüllung der Regeln« (ebd.), die sie konstituieren, verfolgt Streeruwitz nach viel beachteten dramatischen Werken seit Mitte der 1990er Jahre in Romanen und Erzählungen. Sie versteht ihn auch als Konsequenz aus dem Scheitern ihrer »Kulturrevolution« (Streeruwitz 1998: 54), dem Versuch, in ersten lyrischen Texten zur »vollkommen subjektive[n] Schilderung des Subjektiven« (ebd.) zu gelangen. In der radikalen Abwendung von der Tradition, so reflektiert die Autorin im Nachhinein, »in dem Wunsch, alles, was mich an das väterlich Vererbte erinnerte, über Bord zu werfen, war auch alles verlorengegangen. Ich war mir in der Aufgabe der Sprache selbst unverständlich geworden« (ebd.). 1 | Zur Problematik dieses Konzepts als »typische[r] Aporie postmoderner Feminismen, die patriarchale, hierarchische Binaritäten zugleich behaupten und als Konstrukt ent­ larven«, vgl. Kedveš 2004: hier 19. 2 | So charakterisiert die Autorin das Verhältnis ihrer Theaterstücke zur aristotelischen Poetik im Gespräch mit Kramatschek.

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Daraus resultiere die Frage nach dem Wechselverhältnis von Authentizität und Autorität der Schreibenden und deren Konsequenzen für den Rezipienten, für Streeruwitz »die Frage, wie kann ein Text die Haltung der Schreibenden tragen und dennoch zu verstehen sein. Und das unter Aufgabe aller Mittel literarischer Invasionen« (ebd.). Dass die Erzähltexte des letzten Jahrzehnts formale Experimente wie die Verweigerung des »vollständigen Satzes« (Kedveš 2004: 19 f.) und eine eigentümliche Poetik des Punktes mit guter, d. h. relativ leichter Lesbarkeit verbinden, mag man als Reflex auf diese Überlegungen ansehen. Es hat der Autorin neben breiterer Popularität auch die Anerkennung durch Feuilleton und Literaturwissenschaft3 eingebracht. Die Kommensurabilität der anspruchsvollen Literatur als Unterhaltungsliteratur begünstigt nicht nur Erfolg bei Leserschaft und Kritik, sondern trägt auch dazu bei, dass man Streeruwitz’ kritischen Umgang mit literarischer Tradition eher als emanzipatorisch-kreativen denn als aggressiv-destruktiven Akt wahrnimmt4  – anders als bei Elfriede Jelinek, die ähnlich ambivalent mit literarischer Tradition umgeht, dies allerdings wesentlich radikaler5 und mit weniger Zugeständnissen an die ›Lesbarkeit‹, d. h. den Realismus und an die durch Darstellung von Individualbiografien begünstigte Möglichkeit zur ›einfühlenden Lektüre‹. Die von Streeruwitz erstrebte Gleichzeitigkeit von »Auflösung« (Genette 1993: 411) traditioneller Erzählmuster und »Neuentwurf« (ebd.) anderer auf deren Folie reformuliert ein unter dem Begriff »Palimpsest« (ebd.) subsumierbares Verfahren, mit dem die Handschriftenkunde die Überschreibung eines älteren durch einen neuen Text bezeichnet, sodass der ursprüngliche im Ergebnis nunmehr in Fragmenten »zwischen« (ebd.) dem Überschreibungstext 3 | Vor allen Dingen werden Streeruwitz’ Erzähltexte zunehmend positiv und aner­ ken­n end aufgenommen; die renommierte von Heinz Ludwig Arnold herausgegebene Reihe »Text und Kritik« widmet der Autorin im Jahr 2004 ein Heft, dessen Beiträge den Schwerpunkt ebenfalls auf das erzählerische Werk legen (vgl. Arnold, 2004). 4 | Ihre Essays, Vorlesungen zur Poetik, Interviews und tagespolitische Einwürfe lassen Streeruwitz in den Augen der Kritik respektvoll als »letzte Kämpferin« (Auffermann 2004) erscheinen und sichern ihr auch die Sympathie von Massenblättern wie Stern oder Spiegel, die unter der Überschrift Luder, lebet hoch! zur Eloge der »unbequemen« (Der Stern v. 18. April 2002) Autorin ansetzen oder ihr das Wort überlassen, damit sie »den Klagegesängen von der angeblich neuen Frauenmacht in der Kultur« (Streeruwitz 2003: 116) widersprechen kann. 5 | Jelinek wird, ungeachtet ihrer Belesenheit, ihres kreativen Umgangs mit der literarischen Tradition und der Auszeichnung durch den Literaturnobelpreis nicht als Poeta docta wahrgenommen, vielmehr scheint durch ihre Art literarischer Transformation nicht nur konkrete Tradition in Frage gestellt, sondern die Idee der Tradierung schlechthin (vgl. Pontzen 2007).

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sichtbar ist. In seiner metaphorischen Bedeutung verweist »Palimpsest« auf die komplexen Interrelationen zwischen historisch differenten Texten, von denen der jüngere den älteren in (partiell) zerstörend-überschreibender Weise überlagert.6 In diesem Sinne charakterisiert das Verfahren zugleich das paradox-komplementäre Verhältnis von Tradierung und Zerstörung, in das Streeruwitz ihr Werk zum literarisch-patriarchalen Kanon setzt und das sich in der intendierten Doppelgesichtigkeit ihrer Texte als gleichermaßen lesbar-kommensurable wie kritisch-subversive Lektüre niederschlägt. Auf der strukturellen Folie des Palimpsests, der die Überlagerung von literarhistorischem Prätext (= Hypotext) und zeitgenössisch-feministischem Hypertext vorführt, können mit den Mitteln der Transposition bekannte Genres vom Heftchenroman über die Science-Fiction bis zur Doku-Biografie und dem Entwicklungsroman systematisch kopiert, zitiert und zugleich persifliert oder dekonstruiert werden. Dabei rekurriert Streeruwitz auf die kanonischen literarischen Wertungen einzelner Genres als ›seicht‹ oder ›anspruchsvoll‹ und deren jeweiligen Gender-Bezug und führt, indem sie die Zuordnungsmuster verändert, den Zuschreibungscharakter von ›männlichen‹ Werkbiografien und ›weiblichen‹ Alltagsbiografien vor Augen, so etwa, wenn eine Gattung der so genannten »Höhenkamm-Literatur« wie der Erziehungs- und Bildungsroman der deutschen Klassik, der die humanistische Idee menschlicher Entwicklung zur Reife exemplarisch am männlichen Helden vorführt, als Folie einer gänzlich anders verlaufenden weiblichen Biografie verwendet wird, die dann, demgemäß, mit dem Titel Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre7 auf die Abwertung weiblichen Lebens in den Konventionen des trivialen ›Frauenromans‹ verweist, dem, wie seinem Gegenstand, Banalität vorgeworfen und künstlerische Bedeutsamkeit abgesprochen wird. Die Aufwertung des Trivialen und Banalen mit dem Ziel, den weiblichen Alltag literaturfähig zu machen, nimmt einen zentralen Platz in Streeruwitz’ Poetik und ihrer literarischen Praxis ein. Dort kleidet sie das stofflich wenig Spektakuläre  – Frauenalltag zwischen Haushalt, Kinderbetreuung, Einkäufen und Autofahrten – formalästhetisch so ein, dass der Widerspruch zwischen realer weiblicher Lebenswelt und den falschen Versprechungen, mit denen Unterhaltungsindustrie, Medien und Literatur die weibliche Leserschaft über die 6 | Das metaphorische Verständnis des Begriffs, den Gérard Genette zum Titel seiner großen Intertextualitätsstudie Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (Genette 1993) gemacht hat, findet sich bislang in Nachschlagewerken zur germanistischen Literaturwissenschaft nur vereinzelt (vgl. Nünning 1998: 411). 7 | Der Roman erscheint im Jahr 1996 (Frankfurt a. M.) und ist, anders als der Untertitel behauptet, ein Fortsetzungsroman ausschließlich im (ironisierten) konzeptionellen Sinn, nicht im bibliografischen, wie dann ein Jahr später der Heftchenroman Lisa’s Liebe. (Streeruwitz 1997b).

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Alltagserfahrung der Machtlosigkeit hinwegtäuschen, indem sie sie auf eine glückliche Zukunft8 im Bann der ›romantischen Liebe‹ vertrösten, zugleich vorgeführt und im Gestus affirmativer Demonstration angeprangert wird: Lisa’s Liebe., die Geschichte einer 39-jährigen Volksschullehrerin, die sich in einen Arzt verliebt, imitiert bis in den falschen Genitiv des Titels und die Aufmachung als Fortsetzungsroman im Heftchenformat das Formen- und Ideenreservoir des Groschenromans, sodass die formale Gestalt des Textes den Unterhaltungsanspruch der Lektüre verstärkt, deren Evasionscharakter aber zugleich konterkariert, indem er ihn in seiner Fragwürdigkeit durch Fotostrecken anschaulich und in der Papierqualität ›fühlbar‹ macht. Weniger materialiter als konzeptionell und poetologisch thematisiert das Verfahren des Palimpsests ein spezifisches Verständnis weiblicher Autorschaft, wenn das Genre der Schauer- oder Gespenstergeschichte als Hypotext dient und durch eine literarische Transposition nach Maßgaben feministischer Narratologie überschrieben wird. Denn zum einen illustriert die Gothic Novel über ihre Stoffe und Motive das Angewiesensein auf eine abgelehnte ›mörderische‹, gleichwohl unverzichtbare Tradition; zum anderen allegorisiert das Genre den Vorgang seiner Überschreibung gleichsam als metafiktionalen Kommentar innerhalb der ihm eigenen Konventionen als seine ›Ermordung‹ und ›Wiederbelebung‹  – durch die Autorin: Deren nachahmend-parasitäre Autorschaft entspricht in der poetologischen Lesart einem literarhistorischen Vampirismus, der ein altes, männlich kodiertes Genre erst ermordet, dann wiederbelebt und den eigenen Text zum Revenant seines männlich kodierten Vorbilds macht. Das Schuldigwerden gegenüber den Hypotexten, das, Genette zufolge, jeder literarischen Transposition zugrunde liegt, wie in seinem Diktum anklingt, es gebe »keine unschuldige Transposition« (Genette 1993: 403),9 lässt sich im Kontext von Gothic Novel und weiblicher Autorschaft als bewusst emanzipatorischen 8 | Streeruwitz begreift das Konzept ›Zukunft‹ als gegenwartsverhindernden Erwar­ tungshorizont, entworfen vor dem Hintergrund christlich-jüdischer Trans­ z endenz­ vor ­s tellungen und qua Literatur fortgeschrieben: »Wir leben in Erwartung. Immerhin er­w arten wir eine Ewigkeit. Um diese Erwartung aufrechterhalten und beschreiben zu können, wurde der Begriff Zukunft erfunden. Einer abstrakten Zukunft, in die die Erfüllung jeder Sehnsucht verschoben werden kann. Höchste poetische Anstrengungen werden und wurden unternommen, dieser abstrakten Zukunft ein süßes Bild zu malen. Die Zukunft ist eine Zeit, die sich immer aus der Vergangenheit begründet, die aber, immer selbst schon Geschichte, nie erlebt werden kann. Sehnsucht und Erwartung sind die Chiffren, die auf den Begriff Zukunft hin gebündelt sind. Die wie Überschriften über den Leben lasten und erst in den Grabinschriften erfüllt werden können« (Streeruwitz 1997a: 15 f.). 9 | Meinen Überlegungen liegt die Terminologie von Genettes Modellen von Trans- und Architextualität zugrunde.

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Akt deuten, dazu geeignet, »autoritäre Erzählstrukturen« (Kramatschek 2002: 25) durch ›Entkolonialisation‹ zu überwinden, indem der Zusammenhang von Genre und Gender, von gattungstypischen Erzählkonventionen und der Konstruktion von Geschlechterbildern, vorgeführt, unterlaufen und (implizit) reflektiert wird. Das aber setzt voraus, dass der zeitgenössische Text nicht Originalität beansprucht, sondern als Transposition eines älteren seinen Traditionsbezug verdeutlicht, indem er sich explizit oder wenigstens deutlich wahrnehmbar auf sein literarisches Vorbild bezieht und dies auch seinen Lesern, gleichsam als Rezeptionsanweisung, vermittelt. Eben das geschieht bei dem 2002 erschienenen Roman Partygirl. von Marlene Streeruwitz in exemplarischer Weise: Die Autorin selbst10 und der wahrscheinlich auf sie zurückgehende Klappentext lassen keinen Zweifel daran, dass Partygirl. »eine unheimliche Familiensaga auf der literarischen Folie von Edgar Allen Poes Erzählung ›Der Untergang des Hauses Usher‹« (Streeruwitz 2002: Klappentext)11 erzählt. Versprochen wird eine zeitgemäße Präsentation »wie mit einer Digitalkamera […] in filmisch ver10 |�����������������������������������������������������������������������������   »Umarbeitung« bezeichnet: In einem Interview mit Dagmar Lorenz und Helga Kraft über Partygirl. äußert Streeruwitz: »Das Buch wird, was ich im Seminar [an der University of Illinois] gemacht habe: die Umarbeitung des »Fall of the House of Usher« in ein Theaterstück. Ich jedoch mache ein Prosastück daraus und schreibe Madeline’s Story« (Kraft/Lorenz 2002: 234). Der im Intertextualitätskontext nicht eingeführte Terminus »Umarbeitung« referiert stark auf das handwerkliche Moment und legt nahe, dass zwar die Form, nicht aber der ›Wesenskern‹ von Poes Erzählung verändert werden sollte. 11 |�����������������������������������������������������������������������������   Kaufargumenten, dem Verweis auf Streeruwitz’ bis dato größten Erfolg Nachwelt. und der Ansage, es handle sich um eine Familienchronik, »die vom 19. Jahrhundert bis ins Jahr 2000 reicht und auf der ganzen Welt ihre Schauplätze hat« (Streeruwitz 2002: Klappentext). – Aus intertextueller Perspektive referiert Streeruwitz nicht allein auf Poes Erzählung, sondern indirekt auch auf deren Prätexte: E.T.A. Hoffmanns 1817 im zweiten Teil der Nachtstücke publizierte Novelle Das Majorat und Achim von Arnims 1819 erschienene Erzählung Die Majoratsherren sowie, wie Arno Schmidt nachweisen konnte, die 1812 erschienene Schauererzählung Das Raubschloss. Eine buchstäblich wahre Geschichte von Heinrich Clauren, der, das zeigt Arno Schmidt, Poe v. a. das Motiv des Lebendig-begraben-Seins verdankt. Streeruwitz’ Parallelen zu den Erzählungen von Hoffmann und Arnim liegen weitgehend im Bereich von Motiven der Schauerromantik (wie düster-geheimnisvollen Schlössern/Familiensitzen) und Dekadenz-Symbolik im Kontext angestrebter patriarchaler Herrschaftskontinuität. Inwiefern sie intendiert sind, scheint fraglich. Hervorzuheben ist indes, dass alle genannten Prätexte männlicher Autoren mit männlichen Ich-Erzählern arbeiten und männliche Protagonisten in den Mittelpunkt stellen, während weibliche Figuren thematisch, atmosphärisch und psychisch mit dem Unheimlichen assoziiert sind.

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knappter Prosa« (ebd.) eines geschichtsträchtigen, tradierten Stoffes mit dem Effekt des »Unheimlichen« (ebd.). Das literarische Vorbild mag im Kalkül der Werbestrategen den Ausgleich12 schaffen zu der von Titel und Cover anzitierten ›Seichtheit‹ des Unterhaltungsromans, den, wie mehrfach in Streeruwitz’ Œuvre der Fall, ein stilisiertes Portrait der Autorin ziert.13 Die explizite Benennung des Hypotextes schon im Paratext hat allerdings professionelle Erstleser nicht sonderlich beeindruckt: Ijoma Mangold erwähnt in seiner Besprechung für die Süddeutsche Zeitung (vgl. Mangold 2002: L5) den Hypotext kein einziges Mal; Friedmar Apel setzt in der FAZ die literarische Folie Poe als bekannt voraus, den Inhalt von Partygirl. deutet er nur an, denn: »Der Poe-Leser kann sich das denken« (Apel 2002: 34). Der Gestus eines Kenners, der nicht ausschließen kann, dass auch schlichtere Gemüter zu seiner Rezension greifen, macht die Rezension ähnlich anspielungsreich wie ihren Gegenstand.14 Dankbar hingegen geben die Rezensenten kleinerer Zeitungen den Hinweis auf Poe weiter. Sie machen sich allerdings keine Gedanken über Intertextualität oder eine – im konkreten Fall genderkritische – Poetik der Tradition, sondern geben lesedidaktische Empfehlungen: »Marlene Streeruwitz macht uns vor, wie man mit Literatur aus dem 19. Jahrhundert auch umgehen kann. Vielleicht ist es ihr sogar gelungen, die Neugierde an dem Poe-Text bei einigen Lesern wieder oder neu zu wecken« (Magin-Pelich 2002) Der handfesten Lesart zufolge ist Poes Kurzgeschichte keine transparente ›literarische Folie‹, sondern »diente Marlene Streeruwitz als Vorlage« (ebd.). Hier ist die Welt traditioneller Einflussforschung noch in Ordnung; sie setzt die einseitige Wirkung des älteren auf den neueren Text voraus; eine wechselseitige Kontamination beider Texte gerät nicht in den Blick, noch weniger, dass Streeruwitz’ Roman keine »unschuldige Transposition« (Kraß 2007: 183 f.) sein und es unmöglich machen könnte, Poe

12 |��������������������������������������������������������������������������������   Vorbilder dabei historisch keineswegs jene kanonische Dignität verbürgen, die ihnen inzwischen zugebilligt wird, zeigt, dass literarische Zitierkartelle ein Geschäft auf Gegenseitigkeit bedeuten, wenn auch mit erheblichen Verzögerungen. 13 |������������������������������������������������������������������������������������   weiblichem Eyecatcher verstanden werden, wie sie die Trivialliteratur nutzt, andererseits als indirekte Kritik an der Reduzierung der weiblichen Autorin auf ihr Portrait und/oder als Versuch einer ironisch gebrochenen Ikonographie weiblicher Autorschaft vor dem Hintergrund der Marktgesetze und Medienkonventionen. 14 |�������������������������������������������������������������������������������������   Rezension auf den Titel eines Aufsatzes von Arno Schmidt anspielt, in dem dieser 1964 den Stand der Poe-Forschung kritisiert und eine bis dato unbekannte Quelle des Fall of the House of Usher vorstellt (vgl. Schmidt 1964: 410 f.).

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nachträglich noch ›unschuldig‹ zu rezipieren. – Genau das aber scheint zu passieren, wie verschiedene Kritiken belegen.15 Partygirl. erzählt das Leben von Madeline Ascher in 13 in umgekehrter Chronologie angeordneten Kapiteln vom Jahr 2000, ihrem 60. Lebensjahr, bis ins Jahr 1950, als sie zehn Jahre alt ist.16 Die Stationen der äußeren Biografie reichen von Chicago über Havanna, Berlin, Santa Barbara, Kreta, Arezzo, Wien17 und Perugia zurück bis nach Baden18, in den Ort der Kindheit. Die innere Biografie, deren Problematik sich in Schwindelgefühlen, Panikattacken, Migräne und Essstörungen ankündigt, kreist um zwei Ereignisse: den Geschwisterinzest Madelines mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Roderick, genannt Rick, und die dunkle Vergangenheit der Familie, die zum Selbstmord des Vaters vor den Augen seiner Tochter geführt hat. Inzest und Selbstmord werden als »Urszenen« (Streeruwitz 1998: 44) in psychoanalytischer und poetischer Hinsicht inszeniert; ihre Betrachtung ist der Protagonistin verboten und es bleibt dem Rezipienten vorbehalten, sie zu imaginieren.19 Sie sind ambivalent, gleichermaßen Auszeichnungen wie Makel in der Lebensgeschichte von Madeline. Die verdrängten Erfahrungen, präsent nur in Andeutungen und als vermutete Spätwirkungen, grundieren den Roman atmosphärisch durch ein immer latent vorhandenes, nie gänzlich aktualisiertes Wissen, das von Blickrichtung und Erzähl15 |��������������   dato erste wissenschaftliche Beschäftigung von Andreas Kraß mit dem Roman und seinem Prätext/Hypotext ist in ihrem auf das Moment des (Homo-) Sexuellen fokussierten Blick auf Poes Erzählung von Streeruwitz’ Lektüre beeinflusst (vgl. Kraß 2008: 183 f.). Insofern bezeichnet der Terminus »Relektüre«, mit dem Claudia Kramatschek das Verhältnis von Streeruwitz’ Hypertext zum poeschen Hypotext charakterisiert, treffend die Rezeptionsfolgen des Verfahrens. 16 |�������������������������������������������������������������������������������   abschnitte, in denen häufig erzählte Zeit und Erzählzeit einander angenähert sind; die Leerstellen zwischen den dargestellten Momenten umfassen (fünfmal) drei, sechsmal fünf und einmal sieben Jahre. 17 |�������������������������������������������������������������������������������   18 |������������������������������������������������������������������������������������     Baden, ebenso das neunte Kapitel, das im September 1968 spielt. 19 |���������������������������������������������������������������������������������   Reflex auf die Forderung der Autorin sehen, eine Person müsse, auch als literarische Figur, auf dem Wert des eigenen Geheimnisses beharren: Beichte und Geständnis – exemplarische Formen der Selbst-Entäußerung, denen in Streeruwitz’ Lesart auch die psychoanalytische talking-cure zuzuordnen wäre, die sie ebenfalls ablehnt – seien mit einem »Verlust an Würde verbunden. Ein Verlust an Person im Verlust des Geheimnisses« (Streeruwitz 1998: 44). Aus dieser im Kontext der Poetikvorlesungen entwickelten Konzeption personaler Integrität leiten sich für Streeruwitz auch erzählstrategische Konsequenzen ab, wie die Verurteilung allwissender Erzählinstanzen.

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perspektive vorausgesetzt wird.20 Dem textinternen Mechanismus von Ahnung und Zweifel entspricht das intertextuelle Spannungsverhältnis von Streeruwitz’ Hypertext und Poes Hypotext. Deren zentrale stoffliche Parallelen liegen in der Geschwisterkonstellation, dem Inzestverdacht und einem düsteren Familienfatum.21 In Edgar Allan Poes 1839 erschienener Erzählung Der Untergang des Hauses Usher (Poe 2002) berichtet ein Ich-Erzähler, was er im Hause eines Kindheitsfreundes erlebt hat: Roderick, der letzte männliche Nachkomme der Familie Usher, leidet unter krankhaften Angstzuständen und »abergläubischen Einbildungen über das Haus und dessen Einwirkungen auf ihn« (ebd.: 32). Seine »zärtlich geliebte Schwester« (ebd.: 33) und »letzte Verwandte auf Erden« (ebd.) Madeline war »seine einzige Gefährtin durch viele Jahre« (ebd.) und siecht nun an einem rätselhaften Leiden dahin. Die Nachricht von ihrem Tod verbindet Roderick mit der Bitte an den Freund, der Madeline zuvor nur einmal kurz gesehen hat, ihm bei der Beisetzung der Schwester in einem vielfach gesicherten Kellergemach zu helfen, um die Tote vor den Nachstellungen des Hausarztes zu schützen.22 Als der Erzähler einige Nächte später versucht, seinen nervös angespannten Freund durch Lektüre abzulenken, werden unheimliche Geräusche 20 |� Partygirl. ist aber insofern antifreudianisch, als eine analytische Erzählweise, die sich darauf konzentrierte, die Urszenen im Nachhinein aufzudecken und aus ihnen Späteres abzuleiten, nicht angestrebt wird, worauf auch mehrere Rezensenten hin­g ewiesen haben (vgl. Mangold 2002: L5). Zudem sind die Schlüsselerlebnisse darstellungstechnisch nicht die einzigen Leerstellen des Romans; vielmehr stellt dieser insgesamt Biografie nicht als (Erzähl-)Kontinuum dar, sondern als Abfolge sequenzierter, unverbunden aufscheinender einzelner Momente von hoher Präsenz und Intensität. Aus dieser Art der Präsentation und der umgekehrten Chronologie der Szenen ließe sich u. U. auch schließen, dass sie eine Art inneren Lebensrückblick im Augenblick des Todes der Hauptfigur darstellen. 21 |�������������������������������������������������������������������������������������   Mitte der Wand« (Streeruwitz 2002: 40) des Gebäudes, in dem das Geschwisterpaar am Ende seines Lebens in Chicago lebt, der auf den »kaum wahrnehmbaren Riß« (Poe 2002: 29) im Stammsitz der Familie Usher in Poes Erzählung verweist, wo das Motiv zudem auf die Dekadenz von Haus und Geschlecht und auf die Brüchigkeit des Berichts des Erzählers vorausdeutet. 22 |���������������������������������������������������������������������������   »einen aus Schlauheit und Verlegenheit gemischten Ausdruck« (ebd.: 29) trägt, in seinem Verhältnis zu Lady Madeline wird bei Streeruwitz aufgespalten und verschoben: »Onkel« Helmuth Wonder ist einerseits der Arzt von Madelines Mutter, mit der er früher vermutlich ein Verhältnis hatte und die er nun mit Medikamenten wahrscheinlich nicht uneigennützig ruhigstellt, andererseits versucht er, Madeline zu verführen (vgl. Streeruwitz 2002: 256 f.).

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laut und durch die Tür tritt die ins Leichentuch gehüllte Madeline. Sie stürzt »mit einem leisen, schmerzlichen Stöhnen […] auf ihren Bruder, der während ihres schweren, endgültigen Todeskampfs leblos mit ihr zu Boden« (ebd.: 48) sinkt. In Panik verlässt der Gast das Haus, dessen Mauern er hinter sich zusammenstürzen sieht. Der Inhalt von Poes prominenter Schauergeschichte ist hier möglichst textnah wiedergegeben, um eine Gefahr zu umgehen, der z. B. Eva Leipprand erliegt, wenn sie, verführt von Streeruwitz’ Hypertext, den poeschen Hypotext so referiert: »Die Geschwister […] vernichten sich gegenseitig wie unter Zwang. Er hält sie lebend eingesargt, sie erstickt ihn durch ihre Umarmung« (Leipprand 2002). Leipprands Versicherung, man könne Partygirl. »mit großem Gewinn lesen auch ohne Kenntnis der literarischen Verwandtschaft« (ebd.), mutet fast ironisch an, angesichts des Gewinns, den die Kenntnis eben dieser Verwandtschaft in umgekehrter Richtung bedeutet. Denn, dass es zwischen den Geschwistern Roderick und Madeline Usher zum Inzest gekommen ist, wird in Poes Text allenfalls angedeutet, zum einen durch die genealogische Information, »alle Mitglieder der Familie stammten […] direkt voneinander ab« (Poe 2002: 27), zum anderen durch einen Kontext, der unterschiedliche Bildwelten überlagert und dazu einlädt, Eigenheiten aus der einen in die andere zu übertragen. Der Text demonstriert das Verfahren, wenn er den Mangel an Nebenlinien, Ursache und Folge der Selbstbezüglichkeit, als Erklärung dafür anführt, dass das »Haus Usher« (Schmidt 1969: 425 f.) dem Volksmund die Synekdoche für das Geschlecht geworden ist. Beider Morbidität ist vorgezeichnet, Mauerwerk und Nervenkostüm des »Hauses Usher« sind gleichermaßen marode.23 Der Geschwister-Inzest scheint unter den Vorzeichen der Décadence die sexuelle Entsprechung dieses Niedergangs – exklusiv, narzisstisch und steril.24 Das auch in Poes Novelle Die schwarze Katze verwendete Motiv des Einmauerns respektive Wegschließens der Frau durch den Mann legt nahe, was eine psychoanalytisch-feministische Lektüre insinuiert: dass Roderick es recht eilig hat, sich der Schwester zu entledigen, dass Ausschließlichkeit und Intensität der Bindung vom Wunsch des Mannes grundiert sind, sich vom weiblichen

23 |����������������������������������������������������������������������������   Antlitz und die Fassade des Stammsitzes (u. a. mit ›blicklosen‹ Fenstern) im MehrfachPortrait überblenden, weist Arno Schmidt (1964: 425 f.) hin. 24 |���������������������������������������������������������������������������������   Bezug zu Poes Novelle Die schwarze Katze, in der die Bruder-Schwester- in einer MannFrau-Konstellation gespiegelt ist.

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Pendant zu befreien, und von der zwiespältigen Angst vor dieser Befreiung respektive deren Scheitern.25 Dass das Motiv Scheintot und seine Verbindung mit Geschlechterverhältnis, Todeswunsch und Misogynie eine im 19.  Jahrhundert geradezu topische Verbreitung hat, illustriert die komische Variante des Bildkomplexes bei Wilhelm Busch: »Heißa!« Rufet Sauerbrot »Heißa! Meine Frau ist tot!! Hier in diesem Seitenzimmer ruhet sie bei Kerzenschimmer. […]« Knarr! – da öffnet sich die Tür, Wehe! Wer tritt da herfür? Madam Sauerbrot, die scheinTot gewesen, tritt herein. Starr vor Schreck wird Sauerbrot, Und nun ist er selber tot. – (Busch 1991: 87 f.)

Vor dem Hintergrund dieser intertextuellen Bezüge, die sich wesentlich um den Motivkomplex der »schöne[n] Leiche« (Bronfen 1994) organisieren,26 verändert sich Streeruwitz’ Roman und bekommt, mit Michel Riffaterre zu sprechen,27 zusätzlich zum Sinn auch Signifikanz,28 was sich im Übrigen nicht ausschließlich zugunsten des Hypertextes auswirkt. Der auffälligste Unterschied, der zu Tage tritt, wenn man den Hypertext in ein Verhältnis zu seinem Hypotext setzt, besteht darin, dass Partygirl. die 25 | Zum inzestuösen und homoerotischen Begehren vgl. auch den Aufsatz von Andreas Kraß (2007: 183 f.). 26 | Über den weiteren Zusammenhang von Tod, Weiblichkeit und Ästhetik in der deutschen, englischsprachigen und französischen Literatur des 19. und 20. Jahr­h un­ derts informiert aus feministisch-psychoanalytischer Perspektive Elisabeth Bronfen (1994). 27 |��������������������������������������������������������������������������������   schränkt, »Sinn zu produzieren«, von einem »literarische[n] Lesen«, als dessen »charak­ teristische[r] Mechanismus« Intertextualität gilt und das erst in der Lage ist, »Signifikanz hervor« (ebd.) zu bringen. 28 |�������������������������������������   Partygirl. – im Unterschied zu den Romanen von Jelinek aus dieser Zeit – eine rein »lineare Lektüre« fraglos möglich und für den Leser befriedigend sein kann. Die von Katharina Döbler unter dem Titel Darf man die Bücher von Marlene Streeruwitz ohne Beipackzettel lesen? thematisierten Zweifel zielen auf die Kenntnis der streeruwitzschen Poetik und der dort offengelegten aufklärerischen Intention, die Döbler in den Romanen ohne paratextuelle Hilfe nicht findet (vgl. Döbler 2004: 11 f.).

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Geschichte der Madeline Ascher und die ihres Bruders nur insoweit erzählt, als sie für die Protagonistin relevant ist. Allein dieser formale Status unterscheidet sie von Lady Madeline bei Poe. Die ist zwar für die Erzählung unverzichtbar – und selbst wenn der Inhalt, wie in Arno Schmidts Wortspiel, »aufs Skelett zusammengestrichen« (Schmidt 1969: 414) wird, unabdingbares Zentrum der Handlung: »Lady Madeline wird von ihrem excentrischen Bruder voreilig eingegruftet; erwacht wieder; erscheint dem krankhaft-Sensiblen, und reißt ihn mit sich in den endgültigen Schock-Tod« (ebd.). Gleichwohl tritt sie in Poes Text nur zweimal kurz auf, beide Male ohne ein Wort zu sprechen. In umgekehrter Spiegelung zu Lady Madeline ist bei Streeruwitz Rick, der emotionale Bezugspunkt der Protagonistin, dem sie nachreist und auf den sie ständig wartet, als Figur nur dreimal präsent: Als lang erwartetes Objekt von Madelines Blick, als sie – ihn sehend – sich ihrer Liebe für ihn bewusst wird,29 in dieser Szene bleibt Rick stumm (vgl. Streeruwitz 2002: 385). Bei seinem – in der Chronologie der Handlung – zweiten Auftritt ist Rick für seine im konkreten Sinne ›geblendete‹ Schwester nicht sichtbar (vgl. ebd.: 97 f.)30 und wird es aus erzählperspektivischen Gründen31 auch für den Leser nicht. Seinen prominentesten und mit zweieinhalb vorrangig ihm geltenden Textseiten längsten Auftritt hat Rick in der Eingangsszene des Romans, als er, an einem Stück Pizza erstickend, in Anwesenheit seiner Schwester stirbt – dies in zeitlich und strukturell umgekehrter Entsprechung zu Poes Schlussszenario, wo indes beide Geschwister sterben:32 29 |����������������������������������������������������������������������������   belebter Gegenstand der Liebeserfahrung der Protagonistin, wäre also – wiederum in Entsprechung zu Lady Madeline bei Poe – Projektionsfläche, hier weiblicher Liebe, dort männlicher Ängste. 30 | Kap. Juni 1989. Santa Barbara. – Auch diese Episode lässt sich als Konkretion, also wörtliche Umsetzung, einer poetologischen Äußerung der Autorin lesen, die in ihren Tübinger Poetikvorlesungen den Blick als die Geschlechterdifferenz konstituierend erläutert, indem sie einerseits den Blick Gottes und den Blick zu/auf Gott kontrastiert und andererseits die sich mit der Renaissance eröffnende »Möglichkeit, den Blick auf sich zu richten«, als Männern vorbehalten begreift: »Dieser Blick aber ist der Blick des Menschen, des Mannes, der sich mit Gott misst. Ist Gottes Blick, simuliert. […] es war also der männliche Blick, der sich langsam von einem hingegebenen Hinauf zu einem bewussten Selbst richtete. Der weibliche Blick musste in Passivität erblinden. Sich in sich verschließen« (Streeruwitz 1997a: 17 f.). 31 | Zu den erzählperspektivischen Entscheidungen der Autorin vgl. unten. 32 |�����������������������������������������������������   ’ Roman gedeckt, resümiert Britta Kallin 2005: »But unlike in Edgar Allen Poe’s story the hero does not outlive his sister but Mad survives Rick in Streeruwitz’s version«. – Behrendt deutet den Ausgang, d. h. das Ende des Eingangskapitels von Streeruwitz’ Roman, mit Rekurs auf dessen

G enre und G ender Madeline riß die Tür auf und stürzte zu ihm. Rick saß am Computer. Er schaute auf den Bildschirm und nickte im Takt der Musik aus seinem Walkman. Madeline umarmte ihn von hinten. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und legte ihren Kopf gegen seinen. […] er hustete und legte eine Ecke Pizza in die Schachtel neben dem Bildschirm zurück. Rick hustete (ebd.: 41 f.).

Das Husten und Keuchen des Erstickenden, der nicht mehr zu sprechen vermag, wird kontrafaktisch untermalt von einem Bob-Dylan-Song aus dem Walkman; dessen Worte kommentieren am Ende des Kapitels das Ende von Rick, der in seinen letzten Lebensminuten wieder bei dem von ihm abgelehnten ›eigentlichen‹ Namen »Roderick« genannt wird (vgl. ebd.: 42);33 sodass unheimliche Tradition und popkulturelle Gegenwart aufeinanderstoßen: »May your wishes all come true. May you always do for others and let others do for you. May you build a ladder to the stars and climb on every rung. May you stay forever young« (ebd.: 44). Hier werden nicht allein der amerikanische Traum ewiger Jugend und das (alt-)europäische Konzept vom würdigen Alter, dem Rick in seiner Beschäftigung mit Altertumswissenschaft anhing,34 gegeneinander montiert, sondern auch die Trivialität eines Unfalltodes im Jahr 2000 mit der Unheimlichkeit einer Sterbeszene in einem verfallenden Schloss des 19. Jahrhunderts kontrastiert. Und wie Ricks ganz genderuntypischer Erstickungstod an einem Pizzastück wie die Travestie von Schneewittchens Erstickungstod am Apfelstück anmutet,35 Fortgang, d. h. den Rückblick auf die Handlung, und in Anspielung auf das Bob-DylanZitat in Ricks-Sterbeszene als Vorausdeutung auf Madelines Tod: »Am Schluss ist es daher ein Leichtes, den Anfang zu verstehen: Nach Ricks Tod wird Madeline sich umgebracht haben. May she stay forever young« (Behrendt 2002: V). 33 | »Madeline fragte ›Roderick.‹ ������������������������������������������ Er wollte diesen Namen nicht hören. Er wollte nicht so genannt werden« (ebd.: 43). Gleichwohl spricht Madeline den Bruder in der Sterbeszene nochmals so an – während die aus ihrer Perspektive berichtende Erzählinstanz konsequent von »Rick« spricht (vgl. ebd.). 34 |����������������������������������������������������������������������������   ironischerweise kein neues Leben in Amerika anfangen wollen, »wo niemand etwas wußte und man die ganze Geschichte neu erfinden hätte können« (ebd.) – wie es der Dylan-Song dann als Vision autonomer Wunscherfüllung, der im Zitat implizierten erotischen Inzestwünsche, paraphrasiert. 35 |�������������������������������������������������������   Metamorphosen oder den englischen Roman des 19. Jahrhunderts, finden sich in Partygirl. auch wiederholt Märchenmotive. Auf das Märchen Schneewittchen verweist auch die Spiegelszene in Arezzo, als Madeline, nachdem sie vergeblich auf Rick gewartet hat, in Konkurrenz zu seinem homosexuellen Freundeskreis, im Badezimmer neben Ricks Zimmer vor dem

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so verweist das ebenso ausführlich wie lakonisch realistisch geschilderte Ende der männlichen Figur unter umgekehrten Vorzeichen auf die poetische Vorstellung der »schönen Leiche« (Poe 1984: 89), die als Tod einer schönen Frau für Poe bekanntlich »das poetischste Thema der Welt« (ebd.) darstellte und in The Fall of the House of Usher in seiner unheimlich-gruseligen Spielart variiert wird, wenn die »schlanke, in Weiß gehüllte Gestalt Lady Madeline Ushers« (Poe 2002: 48) mit »Blutspuren auf dem Leichentuch und Spuren verzweifelter Anstrengungen auf dem abgezehrten Körper« (ebd.) ein letztes Mal auf- und zugleich abtritt. Die Entstellung des schönen, jungen weiblichen Körpers durch den Tod zitiert Streeruwitz, banalisiert, radikalisiert und dekonstruiert diese Ästhetik aber, indem sie sie auf den Körper des Mannes überträgt, dessen zu Lebzeiten alterslose, aber dekadent-morbide Schönheit jetzt im Todeskampf das Bild grotesker Vitalität bietet: Sein blasses Gesicht plötzlich rosig. […] Der Kopf rot. Der Hals dunkelrot und die Haut steif über die Sehnen gespannt. […] Das Gesicht blaurot. […] Unter den Haaren waren die Adern an den Schläfen hervorgetreten. Blaue Würmer unter der blauroten Haut. Die Adern schlugen. Pulsierten. […] Sein Gesicht blau. […] Die Augen. Die Zunge. Alles ge­ quollen. Pulsierte. Schlug. Ricks Kopf eine verquollene blaue Masse (Streeruwitz 2002: 42 f.).

Verkehrt werden in Partygirl. gleichermaßen das Erzählte wie die Erzählweise. Denn Streeruwitz’ Roman funktioniert nicht nur als ›einfache‹ oder ›direkte Transposition‹ der poeschen Erzählung (zur Terminologie vgl. Genette 1993: 15 f.), die deren Stoff aufgreift und ins 20. Jahrhundert und an andere Schauplätze überführt, sondern er modifiziert diesen Stoff sowie seine Interpretation und Bewertung durch den Rezipienten auch durch seine Erzählweise.36 Damit knüpft Streeruwitz an Überlegungen zu »feminist poetics of narrative« (Nünning 1994: 102 f.), einer feministischen Narrativik oder, aktueller, »gender-orientierten Erzähltextanalyse« (ebd.) an, wie sie in den späten 1980er Jahren in der Anglistik aufgekommen sind bei dem Versuch, die theoretisch-taxonomischen Erkenntnisinteressen der weitgehend strukturalistischen Erzählforschung mit den gesellschaftskritisch-ideologischen Überlegungen der feministischen StuSpiegel masturbiert: »Sie sah sich im Spiegel. Ihre Hand unter dem Rock. […] Der Slip schnitt ein. Sie hielt ihn mit der anderen Hand weg. ›Ich bin die Schönste. Hier‹, sagte sie sich vor. Immer wieder. Immer schneller. Bis die Lust sie sich zusammenkrümmen ließ« (ebd.: 188; vgl. Pełka 2009: 337 f.). 36 | Abhängig davon, wie stark Rezensenten dies empfunden (und reflektiert) haben, bezeichnen sie Streeruwitz’ Roman in seinem Verhältnis zu Poe als »Analogie« (Auffermann 2002: 50), »freie Improvisation« (Zintzen 2002: 33) oder »feministisch gewendete, ironisch-spielerische Neuerzählung« (Kramatschek 2003: 14).

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dien – heute spräche man von Gender-Forschung – zu verbinden,37 ausgehend von dem Befund, dass die Kategorie ›Geschlecht‹ in der Erzähltheorie kaum Beachtung gefunden hat. Um dies auszugleichen, hat sich die genderorientierte Erzähltheorie schwerpunktartig mit der Frage nach dem Geschlecht heterodiegetischer Erzählinstanzen beschäftigt. Diese nicht am Geschehen beteiligten und häufig nicht personal, d. h. auch nicht körperlich präsenten Instanzen weisen, wie Ina Schabert feststellt, implizit Merkmale auf, die traditionell eher Männern als Frauen zugeschrieben werden: Activity, intellectual superiority, control of events, a disposition to domineer over other persons, such are the conventional attributions which cling to the authorial narrator. In the cultural context of the English novel they are felt to be due to men rather than to women (Schabert 1992: 317).

Streeruwitz begreift den auktorialen Erzählgestus eines allwissenden Erzählers als »literarische Invasion« (Streeruwitz 1998: 54) und teilt, indem sie Gott/den ersten Vater als ersten Autor begreift (vgl. ebd.: 45), Schaberts empirisch gewonnenen Befund von der impliziten Männlichkeit auktorialer Erzählinstanzen, die, in Streeruwitz’ Terminologie, »auf die erste Autorschaft zurückgreift. Die die Welt deutet und trotzdem das Geheimnis nicht preisgibt« (ebd.: 49). In gleicher Weise gilt das Misstrauen der Autorin den Ich-Erzählern, die durch »Minipsychologisierung« (ebd.: 50 f.) und »Quasi-Teilnahme« den Rezipienten in die »Kameraderie des Ich« (ebd.) hineinziehen – Vorwürfe, die sich, obgleich Streeruwitz sie am Beispiel einer Geschirrmittelwerbung erhebt, auf die Erzählkonstellation bei Poe übertragen ließen, wie der Hypertext Partygirl. nahelegt. Dessen Erzählweise verläuft nämlich im Gegensatz zu Poes Rückblickerzählung a-chronologisch und verzichtet auf den personalen männlichen IchErzähler,38 der bei Poe als Komplize des Bruders an der vorzeitigen Einsargung der Schwester mitwirkt, und der in seiner Funktion als Agent des Unheimli-

37 |�����������������������������������������������������������������������   möglichen Forschungsfeldern gibt ebd.: 102 f., später Nünning/Nünning 2004: 1 f. sowie Allrath/Gymnich 2004: 33 f. 38 |�����������������������������������������������������������������������������������   auktorial (vgl. Rutka 2009: 329, Anm. 38). Kraß konstatiert demgegenüber treffend, dass der männliche homodiegetische Ich-Erzähler, der bei Poe als Teil der Geschichte auftritt, bei Streeruwitz aus dem Geschehen selbst ausgelagert, also heterodiegetisch und an die Perspektive von Madeline angenähert werde. Kraß resümiert, es handle sich um einen »auktorialen Erzähler, der die Perspektive der weiblichen Hauptfigur teilt« (Kraß 2007: 197).

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chen im Sinne Tzvetan Todorovs39 auch in Komplizität mit dem Lesenden tritt, wenn er dessen emotionale Reaktionen stellvertretend im Text vorwegnimmt.40 So betrachtet der Ich-Erzähler Lady Madeline, die »im entfernten Hintergrund durch das Zimmer [ging] und verschwand, ohne mich [den Erzähler] bemerkt zu haben […] mit Staunen und nicht ohne Grauen – ein Gefühl, über das ich mir jedoch keine Rechenschaft ablegen konnte« (Poe 2002: 33). Vor diesem Hintergrund bedeutet Streeruwitz’ Entscheidung, aus der Perspektive Madelines in der dritten Person zu erzählen, eine Reaktion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Schauergeschichte aus männlichem Blickwinkel.41 Zugleich kommentiert der veränderte weibliche Blickwinkel des Romans das Erzählen der Schauergeschichte, die von einem (männlichen) Ich verbalisierte Erfahrung, als kanonische Setzung von männlicher Subjektivität als Norm. Die Protagonistin von Partygirl. findet nicht zu einer solchen Ich-Rede; vielmehr verhilft ihr der Modus der ›Erlebten Rede‹, buchstäblich verstanden, zur Sprache ohne dass sie das Wort ergreifen müsste. Die Variante personalen Erzählens findet sich häufiger bei der Autorin, hier wirkt sie als Reaktion auf die Grundbedingung für das Funktionieren des Hypotextes The Fall of the House of Usher als Gothic tale: Das Schweigen der Frau wird erkennbar als Voraussetzung für Unverständlichkeit und Unheimlichkeit des Weiblichen wie auch für das Funktionieren der poeschen Schauergeschichte als Text und Lektüreerfahrung.

39 | Todorov, der das Fantastische wirkungsästhetisch definiert als »die Un­s chlüs­ sigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat« (Todorov 1972: 26 f.), begreift es zugleich als Phänomen der Differenz (vom Realen und Imaginären) und als Genre der Differenz (vom Unheimlichen und vom Wunderbaren). Er unterscheidet als Bedingungen des Fantastischen die »Unschlüssigkeit des Lesers« (ebd.: 31 f.) als außertextuelle Wirkung und die Darstellung der Unschlüssigkeit innerhalb des Textes durch eine Figur, mit der der (naive) Leser sich identifizieren kann. 40 | Diese erzählstrategische Komplizenfunktion eines männlichen Ich-Erzählers existiert in strukturell vergleichbarer Weise in Poes Prätexten bei E.T.A. Hoffmann und Heinrich Clauren, bei letzterem lediglich abgewandelt durch die nachträgliche rationale Erklärung aller unheimlichen Vorgänge, die die Erzählung aus dem Kreis der fantastischen Literatur im engeren Sinne, wie Todorov das Genre definiert, ausschließt. 41 |�������������������������������������������������������������������������������   Blicks einerseits und der Subjekt-Objekt-Verteilung von Betrachter und Objekt andererseits wird bei Poe in fast allen Sätzen des Erzählers über Lady Madeline deutlich: »Ein Art Erstarrung überkam mich, als meine Augen ihren sich entfernenden Schritten folgte« (Poe 2002: 33) und »ich musste erfahren, dass der erste Blick, den ich auf sie getan hatte, wahrscheinlich auch der letzte gewesen war – und ich sie wenigstens als Lebendige nicht mehr sehen würde« (ebd.).

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Die an das Genre gebundene Leseerwartung unterläuft Streeruwitz, indem sie die Sicht der Protagonistin auf die Welt und sich selbst zum Maßstab des Erzählten (und des Erzählbaren) erhebt. Die Kritik hat die Erzählperspektive des Romans, nicht wirklich treffend, als »Erzählperspektive des Bewusstseinsstroms« (Kramatschek 2003: 13) charakterisiert und sich dabei möglicherweise an früheren Äußerungen der Autorin orientiert, die die Bewusstseinsstromtechnik als »Befreiung vom literarischen Super-Ego« (Streeruwitz 1998: 53) und »Befreiung von den Vätern des literarischen Kanons« (ebd.) begreift. In Partygirl. mag Madelines Bewusstseinsstrom zwar den Text organisieren, seine Themen und deren Abfolge ebenso bestimmen wie den Blickwinkel und die emotionale Bewertung, doch wird dieser »Bewusstseinsstrom« (Mangold 2002: L5) einerseits durch Objektivität simulierende Datierungen und Ortsbestimmungen der Kapitelüberschriften von »auktorialer Hand« (ebd.)42 unterbrochen. Andererseits bezeichnet »Bewusstseinsstrom« zwar Organisation und Perspektivik des Erzählten, nicht aber die Form des Erzählens. Mit anderen Worten: Madelines Bewusstsein mag zwar den Fokus des Erzählten darstellen, nicht aber die ›Stimme‹ des Erzählens, denn anders als bei prominenten Beispielen für den stream of conscionsness, die in der Erzähltechnik des Inneren Monologs, d. h. weitgehend präsentisch und in der Ich-Form, umgesetzt sind, wird Partygirl. retrospektiv im Imperfekt und in der dritten Person erzählt, also in einem Modus der Uneindeutigkeit, insofern ›Blick‹ und ›Stimme‹, Perspektive/Fokalisierung und Modus nicht übereinstimmen. Mit den fachtypischen Termini Technici43 lässt sich die Erzählsituation in Partygirl. als personale, in der dritten Person mit einem heterodiegetischen covert narrator, der kein allwissendes Erzählverhalten an den Tag legt und dessen Perspektivzentrum in der intradiegetischen Reflektorfigur Madeline liegt, beschreiben. Es liegt also eine Innenperspektive mit ausgeprägtem Perspektivismus vor; man findet sowohl Innensicht des diegetischen Reflektorbewußtseins als auch (dessen) Außensicht, es dominiert showing, also szenische Darstellung, vor telling, dem berichtenden Erzählen. 42 |��������������������������������������������������������������������������������   sonalen Erzählerin«, unterscheidet also nicht zwischen Fokalisierung/Perspektive und Modus. Mangold, der ebenfalls die »Konstruktion des Romans« (Mangold 2002: L5) als »einzig auktoriale Interpretationshilfe« (ebd.) ausmacht, beschreibt dessen Form zwar treffend: »ein einziger innerer Monolog, zwar in der dritten Person erzählt, aber konsequent aus der Perspektive der Protagonistin« (ebd.), aber ohne das Verfahren der Erlebten Rede beim Namen zu nennen. Roussel, der die Frage der Erzählperspektive ansonsten unbeachtet lässt, nennt das Verfahren einen Streeruwitz »eigentlichen [sic!] Grenzgang zwischen auktorialer und personaler Sprachgeste« (Roussel 2010: 175). 43 |�������������������������������������   discours-Ebene orientieren sich an den Arbeiten von Franz K. Stanzel und Gérard Genette.

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Im Hinblick auf den von der Autorin vertretenen Anspruch, »alle Mittel literarischer Invasionen« (Streeruwitz 1998: 54) aufzugeben, wäre also zu fragen, ob der manipulative Sog einer personalen Erzählsituation mit covert narrator, wie sie mit der Erlebten Rede gegeben ist, nicht latent zur identifikatorischen Lektüre verführt,44 indem der Rezipient in den subjektiven Blickwinkel der ihm als dritte Person präsentierten Figur gezwungen wird und deren Monopol als Wahrnehmungsinstanz keine Korrektur oder Relativierung (durch andere) erfährt. Damit aber auch dies deutlich und die ›Normalität‹ der männlichen Perspektive als selbstverständlich gewordene Setzung bewusst werden kann, muss der Hypotext bei der Rezeption des Hypertextes konstant assoziiert und immer wieder anzitiert werden.45 Dazu dienen u. a. die Namen der Protagonisten, die gleichlautend, aber anders notiert, das englische Usher qua différence ins österreichische Ascher transponieren.46 Den theoretischen Fonds neuerer Lite44 | Immerhin urteilt eine Rezensentin, die »Empathie« mit Madeline – Grundlage einer identifikatorischen Lektüre – breche ab, als »Madeline – in der Rolle der Voyeu­ rin – einen aggressiven Analakt ausdrücklich genießt« (Zintzen 2002: 34). Lässt man einmal beiseite, dass der Entzug von Empathie (und man darf wohl ergänzen: Sym­ pathie) eher auf moralische Vorbehalte gegenüber dem Dargestellten zurückgeht als auf ästhetische Vorbehalte angesichts der Darstellung – denn die Szene gestaltet ästhetisch zwingend und im Wortsinn ›reflektiert‹ den Zusammenhang von Blick-, Rollenzuweisung und Geschlechterzuschreibung im sexuellen Begehren als Akt der Komplizität und Überblendung von Voyeurismus und Exhibitionismus, ähnlich wie die Masturbationsszene vor dem Spiegel (vgl. Streeruwitz 2002: 188) –, so bestä­ tigt der Einwand die Grundthese eines Zusammenhangs von Erlebter Rede und Sym­ pathielenkung. Deren Untersuchung im Kontext feministischer Narrativik regt Ansgar Nünning im Übrigen auch für die Romane Jane Austens an (vgl. Nünning 1994: 116). 45 |������������������������������������������������������������������������������   Effekt einer Bildung oder gar Gelehrsamkeit« (1993: 271) ist, kann die Ignoranz des Lesers dem Text seinen Hypertext-Status nehmen. 46 | Hier mag auch Arno Schmidts Aufsatz aus dem Jahr 1964 Pate gestanden haben, der die Schreibung nicht nur in seinem Titel verwendet, sondern auch begründet als Versuch, dem Anspielungsreichtum und der Vielschichtigkeit von Poes Erzählung zu entsprechen, die die Themen Tod und Vergänglichkeit variiere. Inwiefern Schmidts Hinweis auf den »Stamm Ascher des AT«, den er in Zusammenhang mit der Nase des Helden »vom feinsten hebräischen Schnitt« (Zintzen 2002: 34) bringt, Einfluss auf Streeruwitz’ Entscheidung gehabt hat, die Handlung in einem partiell jüdischen Milieu anzusiedeln und das verdeckt Jüdische des Familienstammbaums zu einem Schlüsselmotiv der Handlung zu machen, ist unklar. Bei Rezensenten fand das Motiv indes Aufmerksamkeit, insofern die Geschwister als »moderne ›Juifs errants‹« (ebd.: 34) charakterisiert werden (vgl. ebd.). Schmidt verschweigt im Übrigen, dass dem Hinweis

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raturtheorien zitiert auch die Abkürzung des Vornamens Madeline als »Mad«, die auf den feministischen Kontext von Gilbert und Gubars The Madwoman in the Attic rekurriert, oder die Apostrophierung der Psychoanalytikerin als »die Doktor Mann« (Streeruwitz 1998: 41), die der Lehre Freuds ihre männliche Perspektive vorwirft.47 Die Aufforderungen zum zwischen den Texten schielenden, vergleichenden Blick lassen nicht nur die Misogynie im Stoff der Schauergeschichte erkennbar werden, sondern machen auch erzähltheoretische Kategorien wie ›Stimme‹, ›Blick‹ und Perspektive als Konstituenten ihres gendertheoretischen Subtextes deutlich. In diesem Sinne bewirkt Partygirl. einen rückwärts kontaminierenden, die Lesart des Hypotextes radikalisierenden Palimpsest-Effekt, dessen Erfolg gerade darin liegt, nicht als solcher identifiziert zu werden. Vielmehr glaubt der Lesende in Poes Text zu finden, was er aus diesem Text, mit Hilfe des Hypertextes, herausliest. Streeruwitz’ Verfahren ›erhellender‹ Transposition ist zwar analytisch inspiriert, tritt aber nicht als analytisch argumentierend in Erscheinung. Wie Poe arbeitet Streeruwitz weitgehend erklärungslos und bildhaft, sie übersetzt allerdings seine ›großen‹, archetypischen Bilder in alltägliche, historisch und geografisch konkrete. Zugrunde liegt der Transposition die Deutung der poeschen Erzählung als Fallgeschichte einer (weiblichen) Unterdrückung oder gar einer Unterdrückung von Weiblichkeit. Streeruwitz überträgt sie in das Ambiente begüterter, intellektuell-künstlerischer Kreise im ausgehenden 20. Jahrhundert und in Handlungssegmente wie Reisen und Parties. Zudem spiegelt sie die condition féminine der Titelfigur in deren Beobachtungen zur gesellschaftlichen, emotionalen und sexuellen Situation von Frauen, die analogisierend als bloße Spielarten derselben archetypischen Grundkonstellation wahrgenommen werden: Leitmotivisch durchzieht den Roman das Thema der Unterordnung respektive Erniedrigung der Frau unter den Mann, das im ersten Kapitel als Element der medialen Gender-Sozialisation durch die populäre Jerry-SpringerFernsehshow eingeführt wird: Auf dem Bildschirm kniete eine Frau vor einem Mann nieder. Die Frau war dick. Sehr dick. Sie hatte Mühe, sich hinzuknien. Sie mußte sich am Boden abstützen. Die Frau lag einen Augenblick auf allen vieren vor dem Mann. Sie richtete sich mühselig auf. Kniete auf ein physiognomisch ›jüdisches Merkmal‹ in Poes Erzählung gleich der Widerspruch folgt: Roderick hatte »eine nach jüdischer Form dezent gebogene Nase, jedoch mit bei Juden selten vorkommenden breiten Nüstern« (Poe 2002: 30). Poes Erzähler umspielt die Frage der jüdischen Herkunft zwar deutlich, möchte sie aber – ebenso offensichtlich – im Unklaren belassen (vgl. Schmidt 1964: 424 f.). 47 |����������������������������������������������������������������������������   verpflichteten Form der Selbst- und Fremderforschung vgl. Streeruwitz 2002: 41.

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A lexandra P ontzen aufrecht vor dem Mann. Sie bat den Mann, sie nicht zu verlassen. […] Sie drehte den Kopf zur Seite. Den Mann über sich ansehen zu können. […] Das Publikum brüllte. […] Hinter Madeline war wieder das Publikum der Jerry-Springer-Show zu hören. Kniete die Frau immer noch vor dem Mann. Hatte sie die Werbung hindurch nicht aufstehen kön­ nen. Oder hatte sie nicht aufstehen dürfen. […] Warum wollte sie [Madeline] solche Bilder nicht sehen. Warum störten sie solche Bilder. Immer noch. […] warum wußte sie, wie sich das anfühlte. Warum wußte sie immer, wie das war. Dazuknien (Streeruwitz 2002: 11 f.).

Der angedeutete biografische Bezug zur Hauptfigur liefert den roten Faden für weitere Beobachtungen von Familien- und Geschlechterkonstellationen,48 denen die Unterwerfung der Frau als strukturelles Muster zugrunde liegt. In einem etwas aufdringlich selbstexplikativen Wortspiel wird es von der Protagonistin auch als Schreckensvorstellung sexueller Unterlegenheit reflektiert: Unter allen Umständen durfte man nicht unterliegen. Sie machte es deswegen auf alle anderen Arten. Alles. Nur nicht in Missionarsstellung. Einmal daruntergelegen. Unterle­ gen. Und es war ja nicht einmal bequem (ebd.: 92 f.).

Gesten und Gespräche des Romans sind im erklärten Sinne banal, erscheinen aber als typisch im Hinblick auf Geschlechterstereotype und konsistent im Hinblick auf deren Kulturen und Epochen übergreifende Verbindlichkeit: Ruft Roderick bei Poe nach seinem Jugendfreund und scheint dessen Anwesenheit Madelines Beerdigung zu begünstigen, so destilliert Streeruwitz daraus das Substrat männlicher Kumpanei und eine Reduplikation der Macht, die sich einerseits darin ausdrückt, die Schwester vom Bruder fernzuhalten, andererseits ihre Anwesenheit an die Präsenz seines Blickes zu binden, der, wie oben erläutert, zum Blick des Erzählers wird. Im Roman wird daraus Ricks ständige Gesellschaft von diversen, immer dubiosen Freunden, die ein Zusammensein der Geschwister unmöglich machen und Madeline sexuell bedrängen, während ihre ständige und so gut wie einzige Beschäftigung darin besteht, vergeblich auf Rick zu warten. Die wartende Frau ist ein häufiges Motiv bei Streeruwitz;49 auf

48 |�������������������������������������������������������������������������������     die Verquickung von katholischer Religion, Patriarchat, Sexualität und Gewalt –, als Madeline in ihrer Pension dem Schreien und Flehen einer Frauenstimme nachgeht: »Hatte die Tür aufgerissen. Die alte Frau Gioberti. Kniend. Am Boden kniend. Vor ihrem Sohn. […] Der Sohn hatte gerade den Gürtel aufgemacht. Die alte Frau hatte am Boden gekniet. Vor einer großen Madonnenstatue an der Wand« (ebd.: 296 f.). 49 |������������   Lisa’s Liebe., wenn die Protagonistin einen Sommer lang vergeblich darauf wartet, dass der Arzt, dem sie brieflich ihre Liebe erklärt hat, ihr antwortet, oder in Nachwelt. (1999), wenn die in Amerika für eine Biografie Anna Mahlers recherchierende

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der Folie Poes erscheint die Wartende als ›lebende Leiche‹, »seelisch Scheintote« (Zintzen 2002: 33) oder ›Tote auf Abruf‹. Umgekehrt beleuchten die detailrealistischen Schilderungen von Übelkeit, Atem- und Herzbeschwerden, Augenschmerzen, Schwindelanfällen, Menstruationskrämpfen, Appetitmangel und Essstörungen – »niemand wollte verstehen, wie schwierig es war, etwas in den Mund zu stecken« (Streeruwitz 2002: 229)  – die geheimnisvolle Kränklichkeit von Poes Lady Madeline und ihre ätherische Attraktivität als Effekte von Anorexie; der poetische Diskurs des Unheimlichen wie der pathografische der Psychoanalyse (in ihrer ›Erfindung‹ der Hysterie), so wird insinuiert, verwandeln die Frau in ihr Objekt als ›schöne Leiche‹ oder als »Patientin« (Zintzen 2002: 34). Das Fazit des Romans ist gleichwohl weniger eine »feministische Anklage« als, so Eva Leipprand (2002), die Dokumentation »völliger Verständnislosigkeit zwischen Männern und Frauen«. Dass diese naturgegeben und unausweichlich wirkt, hat stilistische Ursachen wie das »Würgemal« (Streeruwitz 1997a: 48)50 des Punktes und den programmatisch unvollständigen Satz. Strukturell indes scheint der Effekt wesentlich durch den Fond der poeschen Erzählung begründet. Er lässt das bei Streeruwitz Erzählte als ebenso zwangsläufig wie paradigmatisch erscheinen und verstärkt seine Wirkung: in ästhetischer Hinsicht den poetischen Sog, in ideologischer Hinsicht die Grundsätzlichkeit der geführten Klage. Gleichwohl ist der Preis für Dignität und Totalität des eigenen Erzählanspruches hoch. Zum einen wirkt der Rekurs auf Poe letztlich affirmativ;51 zum anderen schadet der intendierte ›schielende‹ Blick der intertextuellen Lektüre Partygirl. kaum weniger als dem Untergang des Hauses Usher. Denn was bei Poe abstrakt, diffus und unerklärt bleibt, der Inzest, das Unheimliche von Haus und Familie, Krankheit und Tod, füllt Streeruwitz mit Inhalt oder konturiert es durch Andeutungen bis zur Kenntlichkeit. Damit verbunden werden implizite Wertungen auf konkrete Gegenstände appliziert und rezeptionsästhetische Wirkungen wie der ambivalente ›Schauder‹ aus Grauen und Faszination aufgespalten und eindeutig attribuiert. Im Ergebnis dissoziiert Streeruwitz Lust und Grauen: Der Inzest wird zu einer von der Umwelt unverstandenen und perhorreszierten, aus der Perspektive der Frau aber eindeutigen Liebes- und Glückserfahrung, einem unschuldigen

Margarethe ständig auf einen Anruf ihres verheirateten Geliebten wartet, der sie die Reise allein hat antreten lassen. 50 |����������������������������������������������������������������������������������   Unsagbaren im Ausdruck zu Kunstmitteln wie Stille, Pause, dem Punkt als Würgemal und dem Zitat als Fluchtmittel gefunden, um damit dem Unsagbaren zur Erscheinung zu verhelfen«. 51 | Und gäbe dem Klappentext – unwillentlich – recht.

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Paradies der Adoleszenz, das, auf immer verloren, in anderen Beziehungen unerreicht bleibt und dem die Frau Zeit ihres Lebens nachhängt: Niemand würde sie je wieder so betrachten. Stundenlang. Und ihr erzählen. Tagelang. Wie jedes Härchen am Rücken aussah. Wo die Härchen sich zu einem Wirbel zusammen­ drehten. Niemand würde ihr alles wieder und wieder erzählen. Mit den Fingern. Mit dem Mund. Und beschreiben. Wo die Härchen hinführten. Sie war verdorben. Verdorben von ihm. Rick schien es nichts zu machen. Hatte er jemanden gefunden. Beschäftigte sich jemand Nachmittage lang mit seiner Armbeuge. Hatte jemand die Fältchen in seiner Armbeuge studiert. Wußte jemand, wie die Haut in seiner Armbeuge blau schimmerte. Bläulich auf glänzendem Weiß. Schillernd blau (Streeruwitz 2002: 295).

Die ›Schuld‹ des Bruders besteht darin, sich von der inzestuösen Liebe, genauer deren sexueller Spielart ›heilen‹ zu lassen.52 Als höchste Glückserfahrung der Liebenden rückt der Geschwisterinzest in die Tradition romantischer Unbedingtheit und Auserwähltheit. Von der Umgebung pathologisiert und – vergeblich – therapiert, leben in Madelines Inzest-Konzeption das Verständnis von Wagner, Musil und Thomas Mann fort.53 Diese in ihren ideologischen Implikationen nicht unproblematische Verwandtschaft legitimiert in Partygirl. den Inzest ästhetisch und moralisch  – und nicht etwa Feminismus-konforme Topoi wie Androgynität, geschwisterliche Ungeschiedenheit oder entsexualisierte Zärtlichkeit. Konkretisiert sich im Inzest das ganz Andere der nicht gesellschafskonformen Utopie absoluter Liebe positiv, so verschiebt Streeruwitz den negativen Part schicksalhafter Verstrickung auf einen historischen Topos, der inzwischen auch schon zu einem literarischen geworden ist: die NS-Vergangenheit. Poes nebulös dunkles Familienschicksal konkretisiert sich bei Streeruwitz zu einer außerehelichen Beziehung der Großmutter, der die Nachkommen das Familiengut in Baden verdanken und Madelines Vater seine teilweise jüdische Herkunft. Auf die Mitteilung, ein Vierteljude zu sein, reagiert der zuvor aktive und wohl auch überzeugte Nationalsozialist mit Selbstmord (vgl. ebd.: 135, 168 u. 242): Vor den 52 | Seitdem gehört Sexualität zwischen den Geschwistern zu den tabuisierten Themen: »Sie redeten ja nicht. Sie schwiegen darüber. Über Sex wurde seit 30 Jahren nur noch geschwiegen. Und das, was geschwiegen wurde. Das war ein riesiger Berg. Und der Unterschied war nur, daß sie nebeneinander gestanden hatten. Früher. Und darauf gesehen. Auf diesen Berg. Gemeinsam. Und jetzt jeder auf der anderen Seite« (ebd.: 91 f.). 53 | So finden sich, durch die Figurenperspektive relativierte, aber gleichwohl befremdlich anmutende Klischees von Inzest-Romantik der Art »Sie hätte nicht mehr 20 sein wollen. Zu ihrer Zeit. Da war es wenigstens verboten gewesen. Und deshalb etwas wert« (ebd.: 247).

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Augen seiner Mutter und seiner Tochter schießt er sich in den Kopf, eine fehlgeleitete Kugel trifft die Großmutter, die sich schützend über ihre Enkelin beugt, im Hals und lässt sie für den Rest ihres Lebens fast ›verstummen‹. Das Grauen wird verortet in der Vermischung von Täterschaft und Opfertum, die als Allegorie auf das problematisch-verlogene Selbstverständnis Österreichs und seiner Vergangenheit lesbar ist, »bis ins Jahr 2000 reicht und auf der ganzen Welt ihre Schauplätze hat« (ebd.), wie im Klappentext angekündigt. So ausgedrückt, wirkt das ein bisschen billig. Als Individualschicksal der Figur Madeline berührt deren Augenzeugenschaft beim väterlichen Selbstmord zwar, als Schauermotiv wirkt das ›Familienschicksal‹ NS-Zeit leicht abgeschmackt. Hier denunziert die Kenntnis des Hypotextes den Hypertext und desavouiert ihn ästhetisch, insofern man die Kategorie des Ästhetischen zumindest idealiter auch als eine des (guten) Geschmacks begreift. Ein solches negatives Geschmacksurteil ist bis dato nicht über den Roman gefällt worden. Es ist ausschließlich Produkt einer konsequent intertextuellen Lektüre, die zudem die intendierte Signifikanz des Romans als feministischen ›Palimpsest‹ gegen den Strich liest, sich also von der linearen Lektüre als widerständiges Surplus abhebt. Inwiefern die Geschmackskategorie, in der Ethik und Ästhetik sich verbinden, ein Aspekt der Gender-Narratologie sein kann oder umgekehrt ihrerseits auf genderspezifische Implikationen zu untersuchen wäre, ist eine andere Frage.

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Penthesilea, Phantasielea Wilhelm Amann Der Mythos der Penthesilea ist zentraler Bestandteil des Amazonen-Mythos, der in zahlreichen Varianten in Literatur und Kunst seit der Antike überliefert ist und nicht nur in der high culture seit der Moderne, sondern auch in den medialen Formaten der low culture noch präsent ist. Die folgenden Überlegungen skizzieren zunächst zentrale Merkmale des Mythos starker Weiblichkeit, stellen mit Kleists Drama einen Wendepunkt der neueren Rezeptionsgeschichte ausführlicher vor und erörtern vor diesem Hintergrund abschließend populärkulturelle Transformationen. In Anbetracht des Auslegungspotenzials von Mythen greift für den Amazonen-/Penthesilea-Mythos Hans Blumenbergs formale Bestimmung dieses Erzähltypus. Demnach sind Mythen Geschichten mit hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso aus­ geprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: Ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritu­ eller Darstellung wieder zu erkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung. (Blumenberg 1979: 40)

Blumenberg hatte dabei eher den Höhenkamm literarisch-philosophischer Mythen-Rezeption europäischer Provenienz vor Augen. Nichts spräche dagegen, hier auch solche Medienformate einzubeziehen, die unentwegt aus dem im kulturellen Unterbewusstsein abgelagerten Reservoir an antiken Geschichten schöpfen und damit gleichfalls zur Reflexion über den Mythos und seinen Rezeptionsmöglichkeiten auffordern.

I. Zum narrativen Kern des Mythos gehört die Vorstellung eines kriegerischen Frauenvolkes, in dem die herkömmliche Geschlechtertypologie außer Kraft gesetzt wird. In gewisser Hinsicht wendet sich der Amazonen-Mythos somit ge-

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gen eine bereits in frühzeitlichen Sozialordnungen dominierende Auffassung des Weiblichen, die sich in vielen mythischen Erzählungen findet und zu kulturanthropologischen Verallgemeinerungen taugt. Demnach sind Frauen für das Kriegshandwerk ungeeignet, wobei nicht allein die mangelnde physische Konstitution ausschlaggebend gewesen zu sein scheint, sondern mehr noch die Vorstellung von der Frau als lebenspendende und lebenserhaltende »große Nährerin« (Preußer 2010: 35). Die Lebensform des ›Muttertums‹ und die Beschränkung auf die Binnensphäre des Oikos galt und gilt noch heute in den meisten Kulturkreisen als Frauenideal, komplementär dazu werden Aggressivität, Gewalttätigkeit und Machtstreben allein dem Mann zugeschrieben. In dem überwiegend von männlichen Helden bevölkerten Erzählkosmos der antiken Mythologie stellt der Amazonen-Mythos eher eine Randepisode dar, die gleichwohl Aufmerksamkeit erregt hat. Den Legenden zufolge lebten die Amazonen in reinen Frauengemeinschaften, zu denen Männern allein für die Fortpflanzung kurzzeitig Zutritt gewährt wurde. Die erzählerische Fantasie konnte sich von daher vor allem an der  – interkulturalitätstheoretisch gesprochen – first contact scene entzünden: Wie nahmen die Amazonen überhaupt Kontakt mit dem anderen Geschlecht auf? Wie darf man sich die Form der Vereinigung vorstellen? Welche Ritualformen standen dafür zur Verfügung? Und vor allem: Was passierte eigentlich nach dem Zeugungsakt mit den Männern, respektive mit den möglichen männlichen Nachkommen? Auf solche Fragen hat es je nach Gesellschaftsformation und Stand der Geschlechterbeziehungen unterschiedliche Antworten gegeben, die allerdings überwiegend aus der Perspektive potenzieller Opfer der Amazonen überliefert sind. Die Männerfantasien, die hier mehr oder weniger deutlich immer auch Angst- und Straffantasien sind, umfassen in diesem Punkt die ganze Bandbreite der Möglichkeiten des Umgangs zwischen den Geschlechtern: Imaginationen von friedlich-harmonischen Begegnungen der Amazonen und ihren Samenspendern, wobei die aus der Verbindung hervorgegangenen Söhne ihre Kindheit bis zur Geschlechtsreife noch bei ihren Müttern verbringen dürfen, dann gibt es Erzählungen über die Versklavung der Erzeuger und der männlichen Nachkommen und die radikale Version der Tötung aller Männer nach der Vereinigung inklusive der männlichen Nachkommen direkt nach der Geburt. Was die weibliche Nachkommenschaft der Amazonen betrifft, so verbindet sich mit ihrer Aufzucht ein besonderes Ritual, das den Mythos erst recht und zu allen Zeiten zu einer Provokation anthropologisch begründeter Weiblichkeits­ ideale gemacht hat. Da die Mädchen nicht in weiblichen Tätigkeiten, sondern für den männlichen Kampf ausgebildet werden, sollten sie auch physisch diesen Anforderungen entsprechen. Um im Umgang mit Pfeil und Bogen nicht behindert zu sein, wurde ihnen der Mythe zufolge nach der Geburt die rechte Brust abgebrannt, ein Brauch, der den Amazonen ihren Namen gegeben haben soll. Das Ritual der Verstümmelung wird von der Antike bis in die Neuzeit hin-

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ein von den meisten Texten über die Amazonen an prominenter Stelle erwähnt. Exemplarisch kann hier die Darstellung des Isidor von Sevilla genannt werden, der um 600 n. Chr. nach den Bücherverlusten der Spätantike das noch vorhandene antike Wissen gesammelt hatte und in den folgenden Jahrhunderten diesbezüglich als Autorität galt. In seiner Etymologiae heißt es: »[A]mazones dictae sunt, seu quod simul viverent sine viris […] sive quod adustis dexterioribus mammis essent, ne sagittarum iactus inpediretur. […] Nam hoc est amazon […] id est sine mamman.«1 Deutungen des mysteriösen Volks der Amazonen sind entweder realhistorisch/archäologisch oder konstruktivistisch/kulturtheoretisch orientiert. Die Hypothese, es habe Amazonen in einer frühen Phase sozialer Organisation gegeben, ist aus den Klassischen Altertumswissenschaften heraus populärwissenschaftlich aufgearbeitet worden (Fornasier 2007). Mit Mutmaßungen über die Existenz der Amazonen haben seit den 1970er Jahren feministische Bewegungen geliebäugelt. Demnach wären die Amazonen ein Hinweis auf den Gesellschaftstyp des Matriarchats, in dem alle Beziehungen aus der Genealogie der Mütter und dem religiösen Kult einer ›Großen Göttin‹ abgeleitet werden. »Die Lokalisierung einer matriarchalen Gesellschaft in der Frühzeit der Menschheit legitimierte auch eine matriarchale Zukunft oder machte sie zumindest vorstellbar.« (Hartmann 2004: 17; vgl. Preußer 2010: 35) Von seiner problematischen Entstehung im 19. Jahrhundert (Bachofen) und nationalsozialistischer Vereinnahmung hat sich das Matriarchatskonzept später abgekoppelt und zur weiteren Popularisierung des Amazonenmythos oder zumindest des Namens als Symbol beigetragen. Im Kontext westlich-moderner Frauenemanzipation avancierten ›Amazonen‹ zur kollektivsymbolischen Kennzeichnung starker Weiblichkeit im Kampf gegen die erstarrten Strukturen des Patriarchats, allerdings konnte und kann der Name ebenso zur Kennzeichnung feministischen Sektierertums genutzt werden.2 In den Formen schriftlicher Überlieferungen steht der Amazonen-Mythos aber unter den Vorzeichen eines männlichen Konstrukts des Weiblichen. Über die Amazonen weiß man u. a. aus den Historien des griechischen Geschichtsschreibers Herodot aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., aus der im 1. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Universalgeschichte des Diodor, aus der Geographika des Strabon aus der gleichen Zeit sowie aus vielen Kompilationen (vgl. Moser 2008: 1 | »Amazonen werden sie genannt, sei es, weil sie ohne Männer leben, […] oder weil ihnen die rechten Brüste abgebrannt sind, damit nicht der Pfeilschuß gehindert wird. […] Denn ›amazon‹ […] heißt soviel wie ohne Brust.« (Zit. n. Brinker-von-der-Heyde 1997: 405) 2 | Beide Aspekte greifen in der medialen Berichterstattung über die in der Ukraine gegründete Aktivistengruppe ›Femen‹, so z. B. Die Amazonen ziehen blank (Tagesspiegel v. 10. April 2013); Erniedrigte Amazonen (Süddeutsche Zeitung v. 4. September 2013)

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62 f.). Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Darstellung der Aithiopis, einem epischen Gedicht, das einem Arktinos von Milet aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben wird. Diese Aithiopis ist nicht mehr erhalten, war aber ein Fundus, aus dem die Autoren der Antike noch schöpfen konnten. In der davor entstandenen Basiserzählung der abendländischen Kultur, Homers Ilias, werden entgegen der landläufigen Vorstellung die Amazonen nur zweimal beiläufig erwähnt. So zählt für den trojanischen König Priamos der Kampf mit der »Hord amazonischer Männinnen«  – so heißt es in der Übersetzung von J. H. Voß (Ilias III., V. 189) – zu seinen heroischen Taten. Spätere Bearbeitungen des Ilias-Stoffes wie vermutlich die Aithiopis berichten dann ausführlicher vom Kampfeinsatz der Amazonen auf Seiten der Trojaner und schließlich auch von der Begegnung der letzten Amazonenkönigin Penthesilea mit dem Griechenhelden Achill, wobei sie dem Heros im Kampf unterliegt, er sich in das Antlitz der Toten verliebt und ihr daraufhin ein ehrenvolles Begräbnis gewährt. Der Sieg des Achill über Penthesilea war schon in der Antike ein Motiv in der bildenden Kunst, das zu den wichtigsten Überlieferungsformen des Mythos gehört (vgl. Wagner-Hasel 2010: 22 f.). Abb. 1: Attische Schale um 460 v. Chr. (München: Staatl. Antikenslg.)

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Aus dieser knappen Skizze lassen sich zwei Segmente des Amazonen-Mythos, die als Movens der Rezeptionsgeschichte fungieren, relativ deutlich voneinander unterscheiden. Man kann die erzählerische Ausgestaltung des auf dunkle Vorzeiten verweisenden Erzählgerüsts in epischer Form als einen ersten Schritt zur Domestizierung und Relativierung des bedrohlichen Gehalts verstehen. Auf der einen Seite stehen Imagines von martialischen Frauenverbänden, barbarischen Ritualen und geknechteten Männern, auf der anderen Seite das Kräftemessen, das Überwinden, die Liebesthematik, auf alle Fälle der Triumph der Männlichkeit. Beide Segmente thematisieren auf unterschiedliche Weise das Ineinander von Eros und Gewalt im Geschlechterverhältnis, wobei dem barbarischen Verhalten der Amazonen die zivilisationsnäheren Formen des Patriarchats gegenübergestellt werden. Die Bezwingung durch Heroen stellt von daher ein zentrales Sujet für den Mythos dar und betrifft außer Penthesilea auch weniger bekannte Amazonen. So gelingt Herakles in der neunten seiner zwölf Arbeiten der Raub des Gürtels der Amazonenkönigin Hippolyta, und Theseus entführt die Amazone Antiope, über ihr weiteres Schicksal gehen die Überlieferungen auseinander (Moser 2008: 62). Ruft der Amazonen-Mythos zum einen männliche Fantasmen der Bedrohung hervor, so verbindet sich mit ihm zum anderen eine politische Lesart, der zufolge der Mythos der Bekräftigung männlicher Herrschaft seit der Gründung der Polis ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. dient. Im Modus der erzählenden Rede plädiert er für die Bemächtigung der Frauen, für die Zerstörung ihrer primitiven Ordnung und implizit für die Herrschaft des Mannes in der Polis und die Eingliederung der Frau in die Sphäre des Oikos. Zwar wäre diese These für eine synchrone Achse noch zu differenzieren (Wagner-Hasel 2010: 27  ff.), doch gewinnt sie für die diachrone Achse der Rezeption und im Verlauf der Fortschreibung des Geschlechterdualismus an Plausibilität. Der Zweikampf, der Sieg des Achill und der nunmehr sublimierte Eros sind im Mittelalter die maßgeblichen Vorlagen für den Mythos. Penthesileas »Auftreten ist zwingend in jedem mittelalterlichen Trojaroman«, wobei an Stelle der barbarischen, die für eine Integration des Mythos in die höfischen Ideale zweckmäßigeren Anteile überwiegen und die Amazone »fast Züge einer Heiligen« annimmt (Brinker-von der Heide 1997: 400). Auch wenn bis zur Frühen Neuzeit eine Reihe von Variationen in der Ausgestaltung und Anlage der Penthesila-Figur zu verzeichnen sind (vgl. Jünke 2003), so wird doch die eingeschlagene Rezeptionsrichtung nicht mehr verlassen, vereinzelt erscheint in der Renaissance allerdings schon die sehr moderne Gestalt der »heldenhaften Einzelkämpferin« (Moser 2008: 64), die sich weder einem ›alten‹ Frauenkollektiv noch einer ›neuen‹ patriarchalischen Ordnung fügt.

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II. Dreh- und Angelpunkt aller modernen Adaptionen des Amazonen/PenthesileaMythos ist Heinrich von Kleists Trauerspiel Penthesilea von 1808. Seine Kenntnis des antiken Stoffes geht nicht, wie sonst so häufig in der zeitgenössischen Dramenproduktion, auf eine antike Tragödie zurück, in der dieser Mythos thematisiert worden wäre, sondern entstammt den enzyklopädischen Wissensarchiven. Zu nennen ist hier vor allem Benjamin Hederichs Gründliches mythologisches Lexicon (1770), ein Nachschlagewerk, das auch von Schiller und Goethe häufig herangezogen wurde, wenn es um die Überlieferung antiker Mythen ging. In Hederichs Artikel zu den Amazonen wird ganz in der Tradition des Isidor von Sevilla die Etymologie des Namens dezidiert mit der körperlichen Verstümmelung in Verbindung gebracht. Hederich weist auch auf die Rolle der Amazonen im Trojanischen Krieg hin. Der Tradition folgend greifen die Amazonen auch bei ihm auf Seiten der Trojaner in den Kampf ein. Im Artikel Penthesilea gibt Hederich aber dann nicht nur die dominierende, den Heldensieg des Achill betonende Überlieferung wieder, sondern erwähnt auch Erzählungen über die Tötung Achills durch Penthesilea, eine Variante, die dann aber schnell wieder durch ihre Bestrafung relativiert wird.3 Das andere Werk, aus dem Kleist sein Wissen über den Stoff bezog, war das von Claude Marie Guyon im Jahr 1740 verfasste Kompendium Histoire des Amazones, das unter dem Titel Geschichte derer Amazonen seit 1763 auf deutsch vorlag. Guyons Darstellung würde man heute dem Genre des populärwissenschaftlichen Sachbuchs zurechnen. Er geht von der These aus, dass es die Amazonen wirklich gegeben habe (vgl. Borelbach 1998: 53 ff.). Ihm kommt es darauf an, das Verhalten der kriegerischen Frauen aus einer bestimmten lebensgeschichtlichen Situation heraus zu erklären. Rechtsordnung und Tradition des Frauenvolkes erscheinen bei Guyon als Folge des Überfalls marodierender Skythen auf friedfertige Gemeinschaften. Nach der aggressiven Inbesitznahme ihres Landes, der Ermordung aller Männer und der durch Vergewaltigungen erzwungenen Verfügung über ihr Leben beschließen die weiblichen Überlebenden Präventivmaßnahmen gegen zukünftige Unterdrückungsversuche. Bei Guyon heißt es: 3 | »amazŏnes […] Den Namen sollen diese kriegerischen Weiber von dem, a privat. und μαζὸς, d i e B r u s t , haben, weil sie allen Mägdchen gleich nach ihrer Geburt die rechte Brust abgebrannt, damit sie ihnen hernachmals im Fechten keine Hinderung geben könnte.« » penthesiléa […] So erzählen auch wiederum andere, sie habe den Achilles erst selbst erleget, er sey aber solcher auf der Thetis, seiner Mutter, Bitten, wieder lebendig geworden, und habe sodann erst die Penthesilea wieder hingerichtet.« (Hederich 1770: Sp. 203 u. 1940)

P enthesilea , P hantasielea Dieses erschreckliche Blutbad gab zum Ursprunge der Amazonen Veranlassung. Die Weiber dieser unglücklichen Schlachtopfer ihrer eigenen widerrechtlichen Besitzungen glaubten, daß ein eben so trauriges Schicksal auf sie warte. Nachdem Sie aus Ihrem Vaterlande vertrieben, und ihrer Männer beraubet waren, faßten sie einen Entschluß, den ihnen die Verzweiflung eingab. Selbiger bestand darin, daß sie unter einander zusammenhalten, sich eine Königin erwählen, und einen, bis dahin auf der Welt noch unerhörten, Staat ausmachen wollten. Von demselben Tag an, legten sie sich auf die Waffen; übten sich, den Bogen, die Lanze, und den Schild zu führen: und nahmen alles dasjenige, was zu den Krieges- Verrichtungen gehört, vor. (Guyon 1763: 52 f.)

Kleists Innovationen sind am besten durch eine kommentierende Wiedergabe des dramatischen Geschehens der Penthesilea zu vermitteln. Im Erstdruck besteht das Drama aus insgesamt 24 Auftritten unterschiedlicher Länge. Auf dem »Schlachtfeld bei Troja« (Kleist 1987: 144)4 entsteht eine neue Situation durch das Erscheinen eines Heeres von Amazonen, das weder für die Griechen noch für die von ihnen belagerten Trojaner Partei zu ergreifen scheint. Die Kampfkraft der »Furien« (V. 123) versetzt die griechischen Anführer, aus deren Perspektive in den ersten vier Auftritten über die Ereignisse berichtet wird, in Erstaunen. Während sie noch über die Motive des Überfalls rätseln, durch den eine große Anzahl von Griechen bereits in Gefangenschaft geraten ist, tobt eine Verfolgungsjagd zwischen der Amazonenkönigin Penthesilea und Achill. In seiner ersten Szene (4. Auftritt) zeigt sich der von Penthesilea verwundete griechische Held fasziniert von der Erscheinung der Fremden, verweigert sich den Mahnungen des Odysseus und zieht erneut gegen sie in den Kampf. Spiegelbildlich verwirft Penthesilea im Lager der Amazonen den Rat ihrer Vertrauten Prothoe zum Rückzug (5. Auftritt); sie will Achill »überwinden, oder leben nicht« (V. 655). In einem weiteren Aufeinandertreffen zwischen Achill und Penthesilea, das diesmal aus der Perspektive der Amazonen deutlich als Liebeskampf geschildert wird, unterliegt sie ihm (7.- 13. Auftritt). Auf Bitten Prothoes gibt er sich aber gegenüber der aus der Ohnmacht erwachenden Penthesilea als ihr Gefangener aus. In der darauf folgenden Scheinidylle (15. Aufzug) gewinnt der ebenso neugierige wie zugewandte Achill das Vertrauen der sich überlegen wähnenden Penthesilea, die ihm über die Herkunft der Amazonen, ihre Riten und schließlich über seine Erwählung berichtet (V. 1877–2220). Penthesilea schildert – hier greift die Darstellung Guyons – die Gründung des Frauenstaates als Folge des Überfalls kriegerischer Äthiopier auf die in Freiheit lebenden Skythen, wobei alle Männer getötet wurden. Die verschleppten Frauen brachten ihre Peiniger

4 | Zitate aus dem Drama werden im Folgenden nach der Verszählung dieser Ausgabe im Text nachgewiesen.

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um und im scheinidyllischen Dialog mit Achill fährt Penthesilea folgendermaßen fort: Und dies jetzt ward im Rath des Volks beschlossen: Frei, wie der Wind auf offnem Blachfeld, sind Die Frau’n, die solche Heldenthat vollbracht, Und dem Geschlecht der Männer nicht mehr dienstbar. Ein Staat, ein mündiger, sei aufgestellt, Ein Frauenstaat, den fürder keine andre Herrschsücht’ge Männerstimme mehr durchtrotzt, Der das Gesetz sich würdig selber gebe, Sich selbst gehorche, selber auch beschütze: […]. Der Mann, des’ Auge diesen Staat erschaut, Der soll das Auge gleich auf ewig schließen; Und wo ein Knabe noch geboren wird, Von der Tyrannen Kuß, da folg’ er gleich Zum Orkus noch den wilden Vätern nach. (V. 1953–1967)

Im weiteren Verlauf der Darlegung kommt Kleists Penthesilea auch auf den Namen ›Amazonen‹ zu sprechen. Um sich gegen die physisch stärkeren männlichen Nachbarvölker behaupten zu können, zwangen sie sich zur körperlichen Selbstverstümmelung. Das Herausreißen der ihnen beim Bogenspannen hinderlichen rechten Brust gehört nach Kleist zum namensgebenden Gründungsakt der »Amazonen oder Busenlosen« (V. 1989). Dem Fortbestand ihres Staatswesens dienen Raubzüge wie der vor Troja, bei denen junge Männer, egal ob Trojaner oder Griechen, für den Paarungskult des »Rosenfest[es]« (V. 2076) gefangen genommen und hinterher wieder freigelassen werden. Eine Konfrontation mit dem Gesetz der Amazonen zeichnet sich für Penthesilea dadurch ab, dass ihr trotz des Verbots individueller Partnerwahl von ihrer sterbenden Mutter Achill als Bräutigam vorhergesagt worden war. Die Liebesillusion, die Penthesileas Offenheit ermöglicht, endet, als sie ihre wahre Lage erkennt. Zwar können die Amazonen sie vor Achills beabsichtigter Verschleppung gerade noch retten, sie selbst bleibt aber innerlich zerrissen zwischen ihrer Leidenschaft und den Ansprüchen ihres Volkes (16.–19. Auftritt). Achills erneute Aufforderung zum Zweikampf führt in die Katastrophe des Missverstehens: Während Achill sich mit der Aussicht auf ein sexuelles Abenteuer nur zum Schein dem Amazonengesetz unterwerfen will, vermutet Penthesilea den Liebesverrat und gerät in einen rasenden Zustand, »außer sich« (20./21. Auftritt). In den folgenden Szenen (22./ 23. Auftritt) findet das für das gesamte Drama charakteristische Verfahren der Teichoskopie und des Botenberichts seinen Höhepunkt. Aus der Sicht der anderen Amazonenfürstinnen

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wird geschildert, wie Penthesilea »mit schaumbedeckter Lipp« und »durch die Felder tanzend« (V 2568 ff.) Achill hetzt, durch einen Bogenschuss in den Hals tötet und sich anschließend zusammen mit ihren Kampfhunden über seinen Körper hermacht und ihn zerfleischt (V. 2666 ff.). Im letzten Auftritt kehrt sie mitsamt dem zerrissenen Leichnam zu den entsetzten Amazonen zurück und findet nur mühsam ihre Sprache wieder. Einer möglichen Stigmatisierung als wahnsinnig entzieht sie sich mit den Worten: »Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien« (V. 2999). Penthesilea sagt sich »vom Gesetz der Fraun« los, entledigt sich der Insignie des Bogens und begeht, indem sie in ihrer Brust ein »vernichtendes Gefühl« hervorruft, Selbstmord. Im formalen Aufbau folgt das Drama den 24 Gesängen der Ilias. Der Mythos um die letzte Amazonenkönigin ist aber erst – wie bereits erwähnt – durch spätere Bearbeitungen der Kernhandlung des antiken Epos hinzugefügt worden. Wichtig ist vor allem, dass Kleist die von Hederich nur beiläufig erwähnte Tötung Achills durch Penthesilea in den Vordergrund rückt. Mit der starken Profilierung dieser alternativen Lesart rührt Kleist an den verstörenden Kern des Amazonen-Mythos, den man – anders als in der für die Antike relevanten politischen Lesart – am Beginn der Moderne nun auch als eine Verweigerung von Weiblichkeit und als eine Erschütterung der Ordnung der Geschlechter deuten kann. Im Drama mündet die Liebe zwischen Penthesilea, »halb Furie, halb Grazie« (V. 2456), und Achill in einen Geschlechterkampf im wortwörtlichen Sinne. Fantasien über den Geschlechtertausch führen im Drama zur Infragestellung des im Zuge der Aufklärungsepoche anthropologisch neu begründeten Zwei-Geschlechter-Modells, das im Drama durch die Griechen auf der einen und den Amazonen auf der anderen Seite modellhaft gegenübergestellt wird. In der Konstellation Achill/Penthesilea wird diese Opposition durch verschiedene Element eines gender-crossing […] durchlässig. Zwar folgt die Be­ gegnung in der Scheinidylle im 14./15. Auftritt über weite Strecken den rhetorischen Mustern einer Liebeskonversation mit traditioneller Rollenverteilung. Grundsätzlich jedoch kontrastiert das heftige und aggressive erotische Begehren Penthesileas dem zeitgenössischen Bild der passiven und sanften Frau. Umgekehrt wird der homerische Heros Achill an einigen Stellen bis in Physiognomie, Habitus und Empfinden hinein mit konventionell weiblichen Zügen ausgestattet. (Port 2009: 55)

Für feministische Deutungsansätze ist das Drama jedoch nur bedingt geeignet. Der Amazonenstaat ist durch physische wie psychische Unterdrückung der eigenen Natur sowie durch Gewalt und Unpersönlichkeit gegenüber dem anderen Geschlecht gekennzeichnet und reproduziert damit männliche Machtverhältnisse unter umgekehrtem Vorzeichen (vgl. Kaiser 1977, S. 169). Während die Amazonen Gewalt mit Begehren in Verbindung bringen und die Griechen

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damit den Krieg, gerät Penthesilea mit ihrer »unbegriff’ne[n] Leidenschaft« (V. 1689) zwischen die Ordnungen. Neben die Verwirrung des Geschlechts tritt dabei eine Verwirrung des sprachlichen Sinns; diese Erfahrung kommt dann eruptiv in den zur Tat gewordenen Wendungen der »Zerreißung«, des »aus Liebe essen« sowie in Penthesileas Selbstvernichtung durch einen rein sprachlichen Akt, durch die Hervorrufung »eines vernichtenden Gefühls«, zum Ausdruck. Vom ersten Auftritt des verwundeten Achill und der verstümmelten Penthesilea bis zu Achills Zerfleischung am Ende ist das Drama eine Herausforderung der am griechischen Klassizismus gewonnenen ästhetischen Imagination des harmonisch ganzen Körpers. Die vom Stück suggerierte monumentale Körperlichkeit und die spektakuläre Action sind aber im Grunde nur Effekte der Figurenrede. Kleist ging es nicht um die Darstellung von Gewalt als Selbstzweck, er hat vielmehr nach der »Moglichkeit einer dramatischen Motivirung« [sic!] (Kleist 1997: 397) gesucht. Die gezielten Provokationen auf die Normen der idealistischen Ästhetik und Antikenverehrung der Zeit haben ihre Wirkung nicht verfehlt. An die Stelle der mit Hilfe von Furcht und Mitleid zu erwartenden Katharsis werde durch das Stück, so bemerkte damals ein Rezensent des Buches, nur »Entsetzen, Abscheu und Ekel« hervorgerufen (Sembnder 1992: 234). In der Tat lässt sich die Penthesilea als ein Gegenentwurf etwa zu Goethes Drama Iphigenie auf Tauris (1787) oder auch zu Schillers Amazonenstück Die Jungfrau von Orleans (1801) verstehen. Goethes Drama gilt gemeinhin als Versuch, den Gewaltzusammenhang eines Mythos in Humanität und sittliche Freiheit aufzulösen; implizit war damit auch eine Vorstellung erlösender Weiblichkeit verbunden. Gegen eine Versöhnung von Antike und Moderne stellt Kleist das anarchische Potential des Mythos heraus. Insbesondere mit den Motiven der Jagd, der Zerreißung, des dionysischen Rausches der Protagonisten und der Verbindung von Erotik und Gewalt lehnt sich das Stück eng an Die Bakchen (nach 406 v. Chr.) des Euripides an. Die spezifische Modernität von Kleists Stück erweist sich also durch den Rückgriff auf die andere, im Amazonenmythos bewahrte, aber in der Rezeption weitgehend verschwiegene archaische Seite der Antike: Gewalt bis hin zum Kannibalismus, der Rausch des Paarungskultes sowie das Spiel der Geschlechterordnung zwischen den Polen von Patriarchat und Matriarchat. Erstmals aufgeführt wurde die Penthesilea in Berlin 1876, aber nur in abgemilderter Form. An Aktualität gewann das Drama im Kontext des Expressionismus. Im Jahr 1911 gab es gleich zwei Inszenierungen dieses als unspielbar geltenden Stückes, die in die Theatergeschichte eingegangen sind (vgl. Lütteken 2004: 244 ff.). In expressionistischen Kreisen wurde die Amazonenkönigin zur Symbolfigur der Zerrissenheit in der Moderne kurz vor dem Ersten Weltkrieg, eine Zerrissenheit, die auch die Geschlechterrollen betraf. Ein weiterer Rezeptionsstrang führt in die Zeit des Nationalsozialismus. So plante die dem Regime

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nahe stehende Regisseurin Leni Riefenstahl noch 1939 einen Penthesilea-Film, wobei es ihr vermutlich in erster Linie um Bilder von wehrhaften Amazonen im Kontext einer Mythisierung des Krieges ging (vgl. Maurach 2008: 62). Das Projekt wurde nicht realisiert, u. a. weil der durch Kleists Umdeutung stark geprägte Penthesilea-Mythos mit den soldatischen Männerfantasien der Nationalsozialisten nicht vereinbar war. Diesen Punkt hatte wohl Leni Riefenstahl, nicht aber Gottfried Benn übersehen, der sich in dieser Zeit folgendermaßen über Kleists Figur geäußert hat: Ich dachte neulich, was geschähe, wenn heute die Penthesilea erschiene. Eine Frau, die einen Mann liebt, Achill, ihn tötet und mit den Zähnen zerreißt! Zerfleischt! Sind wir denn Hunde, nein wir sind Germanen! Perverser Adliger wagt seine vertierte Brunst Germanenfrauen vorzusetzen! Degenerierte Offiziers- und Junkerskaste besudelt mit schmutzigsten Orgasmen keusches deutsches Heldenweib! Usw. Kurz: Kleist lebte nicht lange. (Gottfried Benn, zit. n. Sembdner 1997: 560)

Neu entdeckt wurde die Penthesilea für das Regietheater seit den 1980er Jahren. Zu nennen ist hier vor allem der Regisseur Hans Neuenfels, der mit seiner Inszenierung einerseits formal die begrenzte theatralische Bilderwelt durch den Einsatz audiovisueller Medien aufbrach und andererseits inhaltlich sehr deutlich den im Stück angelegten Rollentausch der Geschlechter akzentuierte. Solchen innovativen Bühneninszenierungen haben auch neuere literaturwissenschaftliche Ansätze zu Kleists Penthesilea viel zu verdanken. Überhaupt entsprach Kleists Werk im Allgemeinen und die Penthesilea im Besonderen am Ende des 20. Jahrhunderts auf frappierende Weise den Paradoxien und Identitätszersetzungen im Zeitalter postmoderner Lebensformen und bot von daher den Gender Studies und der Untersuchung gesellschaftskonstituierender Geschlechterdifferenzen ein komplexes Diskussionsfeld (vgl. Liebrand 2009).

III. Unterhalb dieser hochkulturellen Rezeption hat sich jedoch auch ein populärer Rezeptionsstrang des Penthesilea-Mythos herausgebildet, der durch zwei zeitlich weit auseinanderliegende Stationen illustriert werden kann. Diese Penthesilea-Erzählungen schließen insofern eher an die vormodernen MythosAdaptionen an, als dabei das Bemühen erkennbar wird, die verstörenden und grenzüberschreitenden Momente so weit wie möglich zurückzudrängen. Dabei geht es zunächst um eine Textsammlung, die drei Jahrzehnte nach Kleists Drama entstanden ist und mehr noch als der Mythenbezug vieler hochliterarischer Texte bis in die mediale Gegenwart hinein das kulturelle Gedächtnis über die Welt der antiken Mythen geprägt hat. Gustav Schwabs

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Sagen des klassischen Altertums sind zwischen 1838 und 1849 in drei Bänden erschienen und gehören zu den Klassikern der Jugendbuchliteratur. Der über die Epochen hinweg fortwährende Erfolg der Restaurierung des humanistischen Bildungsgutes ist vor allem darin gegründet, dass der umtriebige Philologe Schwab die verstreuten Überlieferungen vieler Einzelmythen und die beiden großen Epen, die Ilias und die Odyssee, zu einer einheitlichen großen Erzählung zusammengefasst hat (vgl. Evers 2003). Aus den heterogenen Geschichten entstand eine Chronologie der Mythen, beginnend mit der Erschaffung des Menschen (Prometheus), endend mit dem Eintritt in die Geschichte (Gründung Roms). Indes bleiben die Sagen in manchem der Biedermeierzeit verpflichtet. Der mit Pathos durchsetzte Sprachstil passt noch ganz gut zur generellen Distanz gegenüber den Mythen, doch glättet Schwab auch anstößige Stellen in den Erzählungen, tendenziell eher bei sexuellen Anspielungen als bei Gewaltszenen. Und in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie reintegriert Schwab nach Kleists Provokation den Penthesilea-Mythos in den Bildungskanon? Der Vollständigkeit halber durfte die Geschichte um die letzte Amazonenkönigin in Schwabs Troja-Erzählung nicht fehlen, hier platzierte er unter ihrem Namen ein längeres Kapitel. Über die Kriegsteilnahme der Amazonen heißt es dort zu Beginn: In dieser trostlosen Lage erschien den Belagerten eine Hilfe, von wannen sie nicht er­ wartet worden war. Vom Thermodonstrome, in der kleinasiatischen Landschaft Pontus, kam mit einem kleinen Haufen von Heldinnen die Amazonenkönigin Penthesilea her­ angezogen, die Trojaner zu unterstützen. Es trieb sie zu dieser Unternehmung teils die männliche Lust an Kriegsgefahren, die diesem Weibervolke eigen ist, teils eine unfrei­ willige Blutschuld, die ihr auf dem Herzen lastete und wegen der sie in ihrem Vaterlande übel angesehen war. Sie hatte nämlich auf einer Jagd, als sie nach einem Hirsch mit ihrem Speere zielte, ihre eigene geliebte Schwester Hippolyte mit dem Wurfgeschosse getötet. Nun begleiteten sie die Rachegöttinnen auf allen Pfaden, und kein Opfer hatte dieselben bis auf diese Stunde versöhnen können. Diesen Qualen hoffte sie am ehesten durch einen den Göttern wohlgefälligen Kriegszug zu entgehen, und so brach sie mit zwölf auserlesenen Genossinnen gen Troja auf, die alle gleich ihr nach Krieg und Män­ nerkämpfen dürsteten. (Schwab 2001: 531)

Schwabs Erzähler fällt ein deutliches Urteil über die widernatürliche »männliche Lust« der Amazonen. Mehr erfährt der Leser nicht über die Rituale und Verfassung des Frauenstaates, er erfährt also auch nichts über die mutmaßliche Bedeutung des Namens »Amazonen«, der zentrale Bestandteil der Mythe wird an keiner Stelle erwähnt. Die Vorstellung von Frauen, die sich für ihre Kampfbereitschaft eines Teils ihrer Geschlechtsmerkmale entledigen, war für Schwab offenkundig jugendgefährdend, überdies war sie in der Entstehungszeit der

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Sagen in keiner Weise vereinbar mit dem bürgerlichen, auf die Rolle der häuslichen Mutter zugeschnittenen Frauenbild. Der Widerspruch zwischen den überlieferten Vorgaben des Mythos und einer den kulturellen Normen der Zeit angemessenen literarischen Gestaltung prägt Schwabs Schilderung des Geschehens. Penthesilea wird von Priamos empfangen, erklärt Achill den Krieg und stürzt sich in einen Kampf, der hin und her tobt. Anders als bei Kleist kämpfen die Amazonen auf Seiten der Trojaner und anstelle der Männerjagd gehört neben der widernatürlichen Disposition zum Kampf auch eine »unfreiwillige Blutschuld« und die Aussicht auf Versöhnung der Erinnyen zu den Handlungsmotiven. Dadurch hebt sich Penthesilea von den zwölf sie begleitenden »Heldinnen« ab, sie wird zur tragischen Figur und erhält idealmenschliche Züge: Als die Trojaner von den Mauern herab an der Spitze ihrer Jungfrauen die zarte und doch gewaltige Königin in Panzer und Schienen von Erz gehüllt, einer Göttin ähnlich, einher­ schreiten sahen, strömten sie von allen Seiten voll Bewunderung herbei und konnten sich, als die Jungfrauenschar näher heranzog, an der Schönheit ihrer Fürstin mit Blic­ ken nicht genug ersättigen; denn in ihren Zügen war das Schreckliche wunderbar mit dem Lieblichen verbunden: ein holdseliges Lächeln schwebte auf ihren Lippen, und wie Sonnenstrahlen leuchteten unter langen Wimpern ihre lebensvollen Augen; ihre Wangen bedeckte eine sittsame Röte, und über das ganze Antlitz verbreitete sich mädchenhafte Anmut, beseelt vom kriegerischen Feuer. (Schwab 2001: 532)

Penthesilea wird in diesen Passagen zur klassizistischen Idealschönheit stilisiert. Ihre Erscheinung ist erhaben, in ihrem Antlitz liegt »Anmut«, ein Ausdruck, der am Ende in Achills Betrachtung der ›schönen Leiche‹ wiederkehrt (vgl. 539). Durch den Bezug auf das insbesondere durch Schillers Ästhetik sanktionierte Anmut-Konzept werden die überlieferten Vorstellungen von der mordlüsternen Frau durch ein zeitgenössisches Weiblichkeitsideal ersetzt und die folgenden Handlungen erscheinen in einem anderen Licht. Penthesileas Aktionen sind Ausdruck eines vorübergehenden Rückfalls in kriegerische Verhaltensmuster der Amazonen, von denen sie sich, wie dem Leser nahe gelegt wird, im Grunde bereits entfernt hat. Nur unter diesen Voraussetzungen tritt sie im Kampf als »Männin« (534) und als »Wunderweib« (537) auf. Schwabs Erzählung liegt also eine bestimmte Auslegung des Amazonen-Mythos zugrunde, die auf eine Blockierung seiner noch von Kleist herausgestellten bedrohlichen Seiten zielt. Gleichwohl verweisen Formulierungen wie die, dass in Penthesiliea »das Schreckliche wunderbar mit dem Lieblichen verbunden« sei, auf das angstlustbesetze Fantasma einer Domina-Gestalt und die Nachtseite der biedermeierlich-behaglichen Version des Mythos. Wie sehr Schwabs Erzählung mitsamt seinen latenten Ambivalenzen noch die Transformation des Amazonen-/Penthesilea-Mythos in populärkulturelle

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Medienwelten grundiert, lässt sich an zwei Kunstfiguren verdeutlichen, in die mehr oder weniger offen Versatzstücke des Mythos eingearbeitet worden sind. Es handelt sich dabei sicherlich nicht um die einzigen medienkulturellen Adaptionen, an ihnen werden jedoch exemplarisch Rezeptionsinteressen erkennbar. Abb 2: Xena

Abb 3: Lara Croft

Xena (Abb. 2) ist eine Fantasyfigur, die als TV-Serie (RTL; Erstausstrahlung 1996, Wiederholung 2005), deren Folgen teilweise auf DVD erhältlich sind, als Comicserie sowie als Computerspiel multimedial vermarktet worden ist. Ihre von der Produktionsfirma verbreitete Rahmenbiografie ist deutlich an Schwabs Version angelehnt, die entsprechend der jugendlichen Zielgruppen modifiziert wurde (die folgende Zusammenfassung nach Richard 2004: 37 f.): Im Kampf für das Gute hat die schwarzhaarige, oftmals leichtsinnige Xena immer neue Abenteuer zu bestehen, sie wird dabei durch ihre blonde, umsichtigere Freundin Gabrielle unterstützt. Beide gehören eigentlich zur Adelsschicht der Amazonen, Xena war dort eine Prinzessin, Gabrielle sogar eine Königin, sie haben sich aber von ihrem Stamm losgesagt. Xena verbindet mit ihrer Herkunft eine dunkle Vergangenheit als brutal mordende Kriegerin, die sie stark belastet. Zur Verringerung ihrer Schuld will sie anderen Menschen helfen, indem sie ihre außergewöhnlichen Kampffähigkeiten für gute Zwecke einsetzt. Dafür wird sie von ihrer besten Freundin Gabrielle bewundert, die ihrem Vorbild oftmals aus schwierigen Situationen helfen muss. Während Xena als streitbare,

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mutige Kämpferin auftritt, übernimmt Gabrielle den Part der harmonisch friedliebenden Gefährtin. Ihre enge Freundschaft hängt zudem mit ihren negativen Erfahrungen mit Männern zusammen, beide haben Kinder geboren, die sie früh abgeben mussten. Xena und Gabrielle ergänzen sich also als lebenserfahrene Heldinnen und halten mit ihrer Geschichte für Mädchen ein großes Identifikationspotential bereit, dagegen kommen die zu bestehenden Abenteuer eher den Interessen von Jungen entgegen. Im Film und speziell im Comic wird aber die Unabhängigkeit und Stärke der beiden an eine besondere Bedingung geknüpft, die das Comicporträt deutlich demonstriert. Xena lädt hier den Betrachter nicht nur mit herausforderndem Blick und wehendem Haar in ihre Welt ein, sie präsentiert dazu auch ihren muskulösen Körper, und nicht zufällig rückt dabei ihr wohlgeformter Busen in den Bildmittelpunkt. Während Schwab das physische Kennzeichen der Amazonen als »Busenlose« (Kleist) verschweigt und die Aufmerksamkeit auf die überirdische Anmut lenkt, wird die Verweigerung von Weiblichkeit als der skandalöse Kern des Mythos bei Xena geradewegs dementiert: Körperliche Attraktivität gehört nun zu den wichtigsten Merkmalen einer Amazone. In die gleiche Rezeptionsrichtung weist die mit ausgefeilten Vermarktungsstrategien eingeführte und daher wahrscheinlich bekanntere Medienfigur Lara Croft (Abb. 3). Ihre Rahmenbiografie (vgl. Richard 2004: 10–19) hat zwar mit dem antiken Mythos kaum mehr etwas gemein, dennoch ist Lara Croft als spielerisch-postmoderne Variante einer Amazone leicht zu identifizieren. Gegenüber Xena fällt das völlige Fehlen von sozialen Kontakten auf. In dieser Hinsicht kommt sie der oben erwähnten, bereits in der Renaissance kreierten Einzelkämpferin nahe, wobei diese auf Individualisierung zielt, Lara Croft dagegen erneut typisierend wirkt. Als unzugängliche wie abgehärtete Action-Heldin beherrscht sie ihre in allen Belangen unterlegenen Gegner mühelos. Deutlicher noch als Xena soll sie Vorstellungen von selbstsicheren, unabhängigen Mädchen entgegenkommen. Aber auch im Fall Lara Croft ist die vermeintliche männliche Energie an besondere Körperzeichen gebunden. Ihre Kampfbereitschaft wird erst durch ihr supermodisches Outfit und ihre übertriebenen Proportionen akzeptabel. Die Figur ist mehr ein Konstrukt nach den Vorstellungen des männlichen Bildes von einer tatkräftigen und zugleich sexuell attraktiven Frau, als dass sie zum Vorbild weiblicher Emanzipation taugt. Weder Schwab noch Xena oder Lara Croft haben also den für die Dominanz des Männlichen so beunruhigenden, weil auf die generelle Verweigerung von Weiblichkeit hinauslaufenden Amazonen-Mythos in seinem Kern ausgeschöpft. Die populärkulturelle »Arbeit am Mythos« trägt in den gegenwärtigen medialen ›Phantasilea‹-Gestalten eher regressive Züge gegenüber den in früheren Phasen der Rezeptionsgeschichte des Penthesilea-Mythos entwickelten Deutungsperspektiven.

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Welches Geschlecht hat die Seele? Überlegungen zu Bernhard von Clairvaux und Mechthild von Magdeburg Uta Störmer-Caysa Welches Geschlecht hat die Seele? Darauf gibt es nicht gleich eine Antwort, sondern zunächst eine Rückfrage: Welches Geschlecht soll denn gemeint sein? Das grammatische oder das natürliche? Ein grammatisches Geschlecht hat das Wort, wenn die Sprache den Genusunterschied der Nomina bewahrt (wie das Lateinische und heute noch das Deutsche und das Französische, anders als das Englische). Ein natürliches Geschlecht haben Lebewesen. Nun ist die Frage, ob die Seele ein Lebewesen sei, viel zu schwierig und abstrakt, um in einem Zuge beantwortet werden zu können. Aber ohne schwierige metaphysische Erwägungen haben sich Menschen immer wieder gefragt, wie sie sich die Seelen vorstellen sollten, zum Beispiel, weil sie Motive, in denen es (wie bei der Auferstehung) auf die vom Körper getrennte Seele ankommt, malen oder in Stein hauen wollten.

Hilfslinien: Das Geschlecht von Allegorien, eine mythische Erzählung und gemalte eidola Die bildliche Vorstellung ist an sich nichts, das dogmatisch schon irgendwie bedenklich wäre oder ein Vorurteil in sich trüge, denn verbildlicht werden in der abendländischen Tradition auch Gedankeninhalte, von denen alle Sprachverwender wissen, dass sie durch und durch abstrakt sind, zum Beispiel die Gerechtigkeit oder die Freiheit. Diese Allegorien werden in der Regel als weibliche Figuren dargestellt, weil iustitia und libertas im Lateinischen, das dem europäischen Denken über mindestens anderthalb Jahrtausende seine sprachliche Form gegeben hat, Feminina sind; die Vorstellung von der allegorischen Personifikation orientiert sich also am grammatischen Geschlecht einer kulturell prägenden Sprache, die nicht die Alltagssprache zu sein braucht – sonst

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müsste der angelsächsische Sprachraum inzwischen kindliche oder androgyne Gerechtigkeits- und Freiheitsstatuen produzieren. Manchmal emanzipiert sich ein Sprachraum in dieser Hinsicht als Kulturraum, sodass konkurrierende Vorstellungen entstehen: In Straßburg schaut ein steinerner Mann als Herr Welt von der Kathedrale auf die Besucher herab; in Worms am Dom ist es eine Frau Welt: Le monde setzt das lat. mundus fort, aber diu werlt ist eben ein Femininum. Wenn aber ein Bild einmal Bild und Kunst ist, zeugt es sich selbst fort und fragt nicht mehr viel nach Sprachlogik: In Totentänzen findet man auch im romanischen Sprachraum Darstellungen, die denen im deutschen Sprachgebiet ähneln, auf denen der Tod reitet, schießt, die Sense schwingt (vgl. Rosenfeld 1972: 327), was sämtlich keine ausgesprochen weiblichen Tätigkeiten sind (vgl. Evans 1972:  382)1 – obgleich der Tod in der Romania grammatisch eine Frau ist und nur im Deutschen männlich. Für die Wörter, die die Seele meinen, gäbe es allerdings solche Sprachverwirrung nicht, denn die deutsche Seele ist grammatisch so weiblich wie die lateinische und französische anima/âme. Was das Mittelalter anlangt, so wurde diese eher weiblich-figürliche Vorstellung vermutlich unterstützt durch die mythische Geschichte von Amor und Psyche, die bei Apuleius im ›Goldenen Esel‹ erzählt wird. Zwar hat Apuleius im lateinischen Mittelalter eine eher schwierige und verzögerte Wirkung (vgl. Plank 2004), aber Martianus Capella, ein lateinischer Autor, von dem man nicht sicher weiß, ob er noch ins 5. oder schon ins 6. Jahrhundert gehört, hat die mythische Vorstellung einer Liebe zwischen Seele und Liebesgott in die Rahmenhandlung seiner allegorischen und belehrenden Erzählung von der Hochzeit des Merkur mit der Philologie eingebaut.2 Dieser Martianus Capella war im Mittelalter so berühmt und bekannt, wie er heute ungelesen ist; man darf damit rechnen, dass schulgebildete Autoren ihn kannten und die mythologische Vorstellung der weiblichen Seele von ihm, dem geachteten Autor, ohne den Vorbehalt aufnahmen, mit dem sie dem heidnischen Spötter Apuleius möglicherweise begegnet wären. 1 | Dass mitunter die Tätigkeiten der fantasierten Allegorien wichtiger sind als das grammatische Geschlecht, zeigt sich auch bei den Illustrationen der Psychomachia des Prudentius. Hier sind in manchen Kodizes sowohl die Tugenden als auch die Laster als Ritter dargestellt (so ist es auch im Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg, die darauf fußt). Vgl. Herrad von Landsberg 1979: 110 f. 2 | Martianus Capella 1978; Übers.: Martianus Capella 2005. Die Rahmenhandlung tritt in den Büchern 1 u. 2 am stärksten heraus und begegnet später immer am Anfang und Ende eines Buches. Sie erzählt Folgendes: Merkur sucht eine Frau, er versucht es bei Sophia, der Weisheit, Mantike, der Wahrsagekunst, und Psyche, die alle schon vergeben sind; nach Beratung entscheidet sich Merkur für die Philologia, wodurch sich die Gelegenheit ergibt, die Vorteile und Erkenntnisse der Artes zu behandeln; Philologia erweist sich dadurch als würdig, die nötige Unsterblichkeit zu erlangen.

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Hinwiederum führt eine andere Spur, wiederum der bildenden Kunst, zu Zeugnissen geschlechtsneutraler oder geschlechtsloser Vorstellung von Seele: Die mittelalterliche Rezeption des antiken (griechischen, etruskischen und römischen) Bildtyps des eidolon, einer Darstellung der Seele als meist geschlechtsindifferentes Menschlein (vgl. Kemp: 138–142).

Das Hohe Lied und seine Geschlechterrollen Das Hohe Lied, zur Erinnerung sei es erwähnt, ist eine Sammlung profaner hebräischer Liebeslieder, die in der Tradition biblischer Überlieferung Salomon zugeschrieben werden, weil der Geliebte zweimal König genannt wird (Hld 1,4: »Zieh mich dir nach, so wollen wir laufen. Der König führte mich in seine Kammern …«; und 1,12: »Als der König sich herwandte, gab meine Narde ihren Duft«) und eine Sänfte Salomons erwähnt wird (3,6 u. 7: »Was steigt da herauf aus der Wüste wie ein gerader Rauch, wie ein Duft von Myrrhe, Weihrauch und allerlei Gewürz des Krämers? Siehe, es ist die Sänfte Salomos, sechzig Starke sind um sie her von den Starken in Israel«; 3,9: »Der König Salomo ließ sich eine Sänfte machen aus Holz vom Libanon«;3 vgl. Reventlow u. a. 1986: 499–514; Ohly 1958: 54 f.). Die allegorische Auslegung auf Gott und Israel, Gott und Kirche reicht weit zurück, vielleicht wirken Motivparallelen innerhalb des Alten Testaments (4 Esra 5,24, 4 Esra 5,26 Israel als Lilie, als Taube; bei Hosea die Metaphorik der Ehe zwischen Gott und seinem Volk, das als Mutter imaginiert wird und als Hure beschimpft). Jes 62,5 spricht auch von einer Ehe zwischen Jahwe und Israel. Auf jeden Fall spricht die Aufnahme in den Kanon selbst dafür, daß es eine solche allegorische Auslegung früh gab (s. u.). Sicher fassen lässt sich das allegorische Verständnis der im hohen Lied besungenen Liebe sowohl im Judentum als auch im Christentum (historisch parallel) seit dem 2. Jahrhundert n. Chr., unter den patristischen Autoren, z. B. bei dem im Mittelalter beargwöhnten, aber dennoch einflussreichen Origenes († 254). Gott in der Rolle des Geliebten, die Kirche oder die Seele in der der liebenden Frau: So kommt die Allegorese dieses alttestamentlichen Buches in die christliche Theologie: von Origenes4 im 3. und Ambrosius5 im 4. Jahrhundert bis hin zu einer bedeutenden Rezeption bei Bernhard von Clairvaux, Hugo und Richard von St. Victor, Bonaventura, Mechthild, in der gesamten Frauenmystik. 3 | Verwendeter Bibeltext: Revidierter Luthertext von 1964. 2. Aufl. Stuttgart. – In der heutigen Theologie wird die Zuschreibung an Salomo auch als bewusste und markierte Fiktion interpretiert (vgl. Fischer 2010: 225 f.). 4 | »Propter haec ergo et huiusmodi oscula dicat anima orans ad Deum: ›osculetur me ab osculis oris sui‹« Origenes 1991: Hoheliedkommentar 182. 5 | Ambrosius, De virginibus ad Marcellinam sororem lib. 1, cap. 6, PL 16, 197B–197D.

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Bernhard von Clairvaux und die Liebe zu Gott und zum Gottessohn Seit Bernhard von Clairvaux, könnte man zugespitzt6 sagen, besitzt die Mystik in den europäischen Sprachen (das Lateinische eingeschlossen) den sprachlich ausgemalten und auch gezeichneten Bildtyp ›Christus und die minnende Seele‹ (vgl. Williams 1989), das Bild der liebenden, als Frau vorgestellten Seele, die sich nach Gott sehnt, der überwiegend in der Person Christi gefasst und also männlich gestaltet wird. Bernhard hat in einem Predigtzyklus, an dem er seit Mitte der 30er Jahre bis zu seinem Tod 1153 arbeitete (vgl. Talbot 1955: 202), das Hohe Lied ausgelegt und damit eine einzigartige Wirkung entfaltet. Er war nicht der einzige, aber der wirkungsmächtigste Autor des beginnenden 12. Jahrhunderts, der sich dem kanonischen Text über die inkommensurable Liebe zuwandte (vgl. Ohly 1958: 152 f.). Dabei war er, wie noch näher gezeigt werden wird, in der Ausfüllung möglicher weiblicher Rollen des Dialogs im Hohen Lied durchaus vorsichtig, und die Seele war nur eine der möglichen Besetzungen dieser Frauenrolle, die er auslegend erwog  – aber diese eine Möglichkeit war es, die einen triumphalen Siegeszug durch die verschiedenen Sparten der theologischen Literatur antrat. Gewissermaßen sogleich hat die Latinität in diesem Fall in die Volkssprachen ausgestrahlt; das Trutperter Hohelied, das wohl in den 1160er Jahren entstand (vgl. Spitz 1999: 67), setzt Bernhards Werk jedenfalls voraus, und vom 13. bis ins 15. Jahrhundert beziffern sich die Texte, die sich aus seinem Bildvorrat bedienen oder die an seiner Hand zur Bildlichkeit des Hohen Liedes hinabgehen und aus ihm schöpfen, nicht nur nach Dutzenden, sondern sogar nach Hunderten. Den Anfang des Hohen Liedes legt Bernhard sehr kleinteilig aus. Er ist ein penibler Philologe und trachtet danach, falsche Vorurteile zu vermeiden. Das Lateinische, aus dem er den Text des Alten Testaments schöpft, kennt einerseits grammatische Geschlechter bei Substantiven, Adjektiven und Pronomina; andererseits gibt es auch ungeschlechtige Pronomina, die auf beide Geschlechter verweisen können (z. B. die Entsprechungen zu ›ich‹ und ›du‹, aber auch zu ›wir‹, ›ihr‹ und ›sie‹), und das grammatische Subjekt kann in der Verbform enthalten sein: In allen diesen Fällen weiß man nicht oder nur aus dem Kon-

6 | Bernhard ist der mit Abstand wirkungsmächtigste unter den Autoren, bei denen die Vorstellung von der weiblichen Seele des Menschen im Hinblick auf den männlich vorgestellten göttlichen Bräutigam für Männer wie für Frauen verwendet wird. Dazu eine einlässliche Untersuchung der Traditionsprozesse und der Folgerungen für Nonnen­ konvente bei Lutter (2005: 150–156). Honorius Augustodunensis, den Lutter (151) auch erwähnt, war als Enzyklopädist erfolgreicher, denn als Exeget, aber auch sein Einfluss auf das folgende Jahrhundert muß ernstgenommen werden.

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text, ob ein Mann oder eine Frau spricht oder besprochen wird. Für Bernhards Auslegung hat das weitreichende Konsequenzen. Der erste volle Vers des Hohen Liedes (Hld 1,2) heißt: »Osculetur me osculo oris sui.« Das bedeutet: »Er/sie/es küsse mich mit dem Kuß seines/ihres Mundes«. Darüber schreibt Bernhard am Anfang der siebten Predigt (II, 2): »Osculetur me, inquit, osculo oris suo. Quis dicit? Sponsa. Quaenam ipsa? Anima sitiens Deum« (Bernhard von Clairvaux 1994: 110 [»Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes« (Cant. 1,1). Wer spricht? Die Braut. Wer ist diese? Die Seele, die nach Gott dürstet«, ebd.: 111]). Zu dieser Position entwickelt er keine Alternative, obgleich die Grammatik sie erfordern würde. Einerseits legt die Tradition für ihn hier die Geschlechterrollen schon fest: Wenn das Hohe Lied auf die Liebe eines Volkes, der Kirche oder der Seele zu Gott bezogen werden soll, so ist der männliche Sprecher, also die im historischen Verständnis als überlegen zu denkende Sprechinstanz, mit Gott gleichzusetzen. Aber wer ist bei dem Wunsch nach einem Kuss der männliche Sprecher? Die Grammatik der am Traditionsprozess beteiligten Sprachen hilft hier nicht weiter; es ist eine andere Auffassung, ein Vorurteil aus der Tradition, die die Rollen festlegt: Bernhard versteht die Liebesvereinigung nämlich als eine geistige und dadurch wissensverleihende Verschmelzung mit Gott: »Et bene scientia quae in osculo datur, cum amore recipitur, quia amoris indicium osculum est. Scientia ergo quae inflat, cum sine caritate sit, non procedit ex osculo« (ebd.: 126 [»Und zu Recht wird die Kenntnis, die im Kuß gegeben wird, mit Liebe empfangen, weil der Kuß das Zeichen der Liebe ist. Die Kenntnis dagegen, die aufgeblasen macht, geht nicht aus dem Kuß hervor, weil sie ohne Liebe ist«, ebd.: 127]). Diese Überzeugung, die die Grundidee seiner gesamten Auslegung ist, kommt immer wieder; zum Beispiel erklärt Bernhard in der achten Predigt, dass die Wissensform, die durch die geistige Vereinigung mit Gott entsteht, selbst der Wissensform der Engel, die ja Geschöpfe sind, überlegen sei. Das begründet er biblisch, und zwar mit der Entrückung des Paulus: »Ego pro certo ad tantum sanctum divini amoris arcanum ne ipsam quidam angelicam admitti arbitror creaturam. Etenim, Paulo [Phil 4,7] hoc ipsum sapiente, pax illa exsuperat omnem, etiam angelicam, sensum« (ebd.: 122 [»Ich bin sicher, daß zu diesem großen und so heiligen Geheimnis der göttlichen Liebe nicht einmal das Engelsgeschöpf Zutritt hat. Denn wie auch Paulus weiß, übersteigt jener Friede jedes Verstehen, auch das der Engel.« Ebd.: 123]). Für den Anfang des Hohen Liedes bedeutet das für Bernhard: Wer hier nach dem Kuss und damit nach einer Form der Vereinigung verlangt, das kann nur die nichtgöttliche Instanz sein, während der Küssende Gott sein wird. So geht er vor, und das ist für ihn aus theologischen Gründen evident; die grammatischen Alternativen bringt er gar nicht erst vor.

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Das ist als Auslegungsunternehmen gewagt, denn an das Kussmotiv schließt sich im lateinischen (und griechischen und hebräischen) Hohen Lied unmittelbar ein Lob der geliebten Brüste an; vom Litteralsinn her dächte man zuerst an die Brust einer Frau, zumal die Brüste mit Wein assoziiert werden, wodurch die Gedankenverbindung zur Milch hergestellt wird. Wenn der erste Sprecher, das erste me, auf eine Frau bezogen wird, dann kommt man ohne Personwechsel schwer aus: »Osculetur me osculo oris sui / quia meliora sunt ubera tua vino frangrantia unguentis optimis« (Cant. 1,1–2). Die Possessivpronomina richten sich im grammatischen Geschlecht nach dem Bezugswort, sodass das natürliche Geschlecht, das hinter dem possesiven »tua« steckt, ebenso wie bei dem »osculum oris sui« nur kontextuell, aber nicht grammatisch erklärt werden kann: »Er/Sie/Es küsse mich mit dem Kuß seines/ ihres Mundes, denn deine Brüste, die nach den besten Salben duften, sind besser als Wein«. Hier, wo man entweder einhält und den ersten Satz einem Mann in den Mund legt oder aber Bernhard für den ersten Teil glaubt und deshalb einen Sprecherwechsel unterstellen möchte, schreibt Bernhard  – man möchte fast sagen: am falschen Ort, nachholend  – eine doppelte Auslegung, bei der die Brüste zuerst einem Mann, und erst dann so, dass sie einer Frau zugehören: »Sequitur: Quia meliora sunt ubera tua vino, fragrantia unguentis optimis. Et haec verba cuius sint, auctor non loquitur, relinquens nobis libere commentari cui potissimum personae conveniant« (Bernhard von Clairvaux 1994: 136 [»Es folgt: Süßer als Wein sind deine Brüste, duftend nach den herrlichsten Salben. Wer diese Worte spricht, sagt der Dichter nicht, vielmehr überläßt er es uns, frei unsere Betrachtungen anzustellen, welcher Person sie am ehesten zukommen könnten.« Ebd.: 137]) Zuerst legt Bernhard so aus, daß die ganze Redepassage der Frau gehört: »Duo sponsi ubera, duo in ipso sunt ingenitae mansuetudinis argumenta, quod et patienter exspectat delinquentem, et clementer recipit paenitentem.« (Ebd.: 138 [»Zwei Brüste hat der Bräutigam, und zwei Beweise seiner wesenhaften Sanftmut sind in ihm: daß er geduldig auf den Sünder wartet und den Reumütigen voll Milde wieder aufnimmt.« Ebd.: 139]) Und jetzt gibt es aber auch die weibliche Version der Brüste, der Redende ist dann der Bräutigam: Sponsa loquente de sponso, repente, dixeram, adest ille; annuit voto, dat osculum, im­ pletque in ea sermonem qui scriptus est: Desiderium cordis eius tribuisti ei, et volunta­ te labiorum eius non fraudasti eum. Quod et probat ex eius uberum repletione. Tantae nempe efficaciae osculum sanctum est, ut ex ipso mox, cum acceperit illud, sponsa concipiat, tumescentibus nimirum uberibus, et lacte quasi pinguescentibus in testi­ monium (Bernhard von Clairvaux 1994: 140 [»Während die Braut über den Bräutigam spricht, steht dieser, wie gesagt, plötzlich vor ihr; er stillt ihr Begehren, küßt sie und

W elches G eschlecht hat die S eele ? verwirklicht in ihr das Wort, das geschrieben ist: ›Was ihr Herz ersehnte, hast du ihr ge­ währt, und was ihre Lippen verlangten, hast du ihr nicht versagt‹ (Ps 20,3). Das tut sich auch kund im Anschwellen ihrer Brüste. Der heilige Kuß ist nämlich von solch wirksamer Kraft, daß die Braut, sobald sie ihn empfangen hat, durch ihn sogleich schwanger wird und zum Beweis dafür ihre Brüste anschwellen und wie von Milch strotzen«, ebd: 141]).

Die Milch hat Bernhard nicht aus dem Hohen Lied, sondern von den Marienattributen hergenommen; die Maria lactans ist ein geläufiger Bildtyp (vgl. Nauerth 1992: 160; Schreiner 1994: 186 f.). Dass bei der Braut des Hohen Liedes an Maria gedacht werden kann, hatten ja schon Origines und Ambrosius vorgeführt. Assoziativ entsteht also in dieser Auslegung eine Engführung von Seele und Maria: Maria ist der einzige sündlose Mensch, die Seele soll so vorbildlich sein – die geschlechtliche Zuordnung in dieser Identifikation zu vernachlässigen scheint offenbar möglich. Aus diesen Stellen ergibt sich folgendes Bild von der schwankenden Geschlechtszuweisung von Sprecherrollen in Bernhards Auslegung des Hohen Liedes: Die Seele, auf die Bernhard die Liebende im Hohen Lied programmatisch bezieht, wird immer weiblich und gegenüber Gott oder Christus als in der unterlegenen, sich sehnenden, wünschenden Position gedacht. Es tut nichts zur Sache, ob der Mensch dazu weiblich oder männlich ist; insbesondere gibt es also nicht etwa männliche Seelen der Männer und weibliche Seelen der Frauen. Die Assoziation zu Maria, die Vorstellungen, die in der Alltagswelt nur weiblichen Körpern zugeordnet werden, können aber wiederum auch dem göttlichen Partner zugeschrieben werden; Brüste und Milch zu haben ist für den himmlischen Bräutigam bei Bernhard offenbar keine entehrende Vorstellung. Das bedeutet wohl, dass man sich die Seele gegenüber Gott zwar nicht männlich vorstellen kann, sobald es um eine zweigeschlechtige Fantasie geht – Gott kann nicht der inferiore Teil sein; aber solange die Seele nur weiblich imaginiert wird, hat Bernhard kein Problem damit, auch dem übernatürlichen Geliebten weibliche Attribute zuzuschreiben, die nur aus einer theologischen Erwägung ähnlicher Eigenschaften (vollkommener Mensch Maria und vollkommener Mensch Jesus als göttliche Person; beide in behütender Funktion gegenüber den Menschen), nicht aber aus der Bildlogik (ein Mann lobt die Brüste seiner Freundin und vergleicht sie mit Wein) begründet werden können. Die Dominante in der gesamten Auslegung besteht in der konsequenten Erotisierung des Gottesverhältnisses. Diese Erotisierung wird in Fantasien entwickelt, in denen sich eine Normallage ausmachen lässt: Die Fantasien von der eigenen Seele, die mit Gott umgeht, sind bei Bernhard immer weiblich; die vom göttlichen Gegenüber sind immer männlich. Das hindert Bernhard aber nicht daran, dem unvergleichlichen Geliebten, mit dem die Seele umgeht, von Fall zu Fall auch weibliche Züge zu verleihen. Theologisch begründbar, aber als Fantasie dennoch überraschend bleiben in Bernhards Auslegungen zum

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Hohen Lied die mehrfachen Überschreitungen der Grenzen natürlicher Bildlogik von Männlichem und Weiblichem. Solche Überschreitungen begegnen aber nicht irgendwo, sondern nur dann, wenn über Unsterbliches (die Seele) und Übernatürliches (die sündlose Gottesmutter, den Gottessohn) gesprochen wird. So ist die Liebe zum übernatürlichen Partner in der aufgebauten Bildwelt hocherotisch, und sie wird auf der Basis eines geschlechtsverschiedenen Begehrens, in Bildern von Mann und Frau, entfaltet; aber zugleich schwanken die Geschlechtsrollen, wird das Übernatürliche mit männlichen und weiblichen Vorstellungen bebildert, was in der Rahmung durch das Hohe Lied auch die Vorstellung von der Seele verändert, denn wenn sie Frau ist neben einem Bräutigam mit fließenden Brüsten, dann ist sie als geschlechtiges Gegenwesen auch etwas in sich Bipolares.

Braut und Bräutigam im Strom der Emanation Mechthild von Magdeburg († 1282) hat ein Werk hinterlassen, aus dem fast alle Angaben zu ihrem Leben stammen (vgl. Peters 1988: 53–58). Demnach hat sie als halberwachsenes Kind eine Vision gehabt und sich einer Heirat verschlossen, stattdessen in Magdeburg in relativer Isolation, vielleicht als Begine, wie die Vorrede zum Fließenden Licht der Gottheit in der Einsiedelner Handschrift sagt,7 gelebt. Später trat sie ins Kloster Helfta ein, wo sie starb. Ihre Aufzeichnungen Das fließende Licht der Gottheit sind in einem niederdeutschen Idiom verfasst worden, aber nur in einer oberdeutschen Fassung erhalten, die im Kreis der Basler Gottesfreunde entstanden ist (vgl. Mechthild von Magdeburg 1993: 184 u. 186 f.). Das Fließende Licht der Gottheit gehört zu den wenigen Büchern des Mittelalters, die autorisierte Titel tragen (vgl. Lehmann 1949: 1 f.). »Eya herre, wie sol dis buoch heissen alleine ze dinen eren?« »Es sol heissen ein vliessende lieht miner gotheit in allú dú herzen, dú da lebent ane valscheit« (Mechthild von Magdeburg 2003: 18). Dieser Titel ist eine Emanationsmetapher, die an die neuplatonische Begründung der Mystik bei Dionysius Areopagita anknüpft; es handelt sich also um eine gelehrte Metapher. Das Werk ist in den ersten Büchern sehr poetisch, wird aber in den späteren eher traktathaft. Die erhaltene volkssprachliche Fassung mit sieben Büchern ist um einiges umfangreicher als die lateinische (Lux

7 | »Anno domini M°CC°L° fere per annos XV liber iste fuit teutonice cuidam begine, que fuit virgo sancta corpore et spiritu, per gratiam a domino inspiratus […].« Übers. von Gisela Vollmann-Profe: »Vom Jahr des Herrn 1250 an wurde dieses Buch im Verlauf von ungefähr 15 Jahren in deutscher Sprache einer gewissen Begine von Gott gnadenvoll offenbart.« (Text und Übersetzung: Mechthild von Magdeburg 2003: 10 u. 11).

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divinitatis) – es muss also zuvor eine kürzere gegeben haben. Die letzte ist wohl in Helfta entstanden, wo Mechthild ihre letzten Lebensjahre zubrachte. Trotz kirchenkritischer Töne ist Mechthild nicht angegriffen worden, sie stand offenbar unter dem Einfluss und dem Schutz mächtiger Leute; den Dominikaner Heinrich von Halle hat sie offenbar auch ihre Werke sammeln und redigieren lassen.8 In Helfta, wo sie schon eine alte Frau war (etwa ab 1270, da war sie mindestens 60), gab es andere Mystikerinnen (Gertrud von Helfta, Gertrud von Hackeborn, Mechthild von Hackeborn), die von Mechthild sprechen, sie hat also den Ruf heiligen Lebens und besonderer Gnade, sonst käme sie nicht in anderen Visionen vor. Der Anfang des Fließenden Lichtes ist eine mystische Dichtung in freien Rhythmen nach dem Vorbild des Hohen Liedes. Dessen Einfluss zeigt sich deutlich an Stellen wie XV. Wie got die sele enpfahet Siest wilkomen, liebú tube, du hast so sere geflogen in dem ertriche, das dine vedern sint gewahsen in das himelriche. [»Wie Gott die Seele empfängt. Sei willkommen, liebe Taube, du bist im irdischen Reich so tapfer geflogen, dass deine Federn ins Himmelreich gewachsen sind.« (Übers. d. Verf.)] XVI. Got gelichet die sele vier dingen Du smekest als ein wintrúbel, du rúchest als ein balsam, du lúhtest als dú sunne, du bist ein zuonemunge miner hoehsten minne. [»Du schmeckst wie eine Traube vom Wein, du duftest wie Balsam, du strahlst wie die Sonne, du bist ein Anwachsen meiner höchsten Liebe.« (Übers. d. Verf.)] XVII. Die sele lobet got an fúnf dingen O du giessender got an diner gabe, o du vliessender got an diner minne, o du brennender got an diner gerunge, o du smelzender got an der einunge mit dinem liebe, o du ruowen­ der got an minen brústen, ane dich ich nút wesen mag! [ »O du gießender Gott in deinem Geben, o du fließender Gott in deiner Liebe, o du brennender Gott in deiner Begierde, o du schmelzender Gott in der Einung mit deiner Liebsten, o du an meinen Brüsten ruhen­ der Gott, ohne dich kann ich nicht sein!« (Übers. d. Verf.)]

8 |  Gisela Vollmann-Profe tendiert zu der Auffassung, dass nicht nur die frühe lateinische Übersetzung, sondern auch die Umsetzung in eine oberdeutsche Schreibsprache und die gesamte handschriftliche Tradition sich dem Umstand verdanke, daß die Domini­ kaner aus der Schrift auch glaubten Nutzen ziehen zu können. Das scheint mir überaus plausibel (vgl. Vollmann-Profe 2000: 155).

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U ta S törmer -C aysa XVIII. Got gelichet die selen fúnf dingen O du schoene rose in dem dorne, o du vliegendes bini in dem honge, o du reinú tube an dinem wesende, o du schoenú sunne an dinem schine, o du voller mane an dinem stande! Ich mag mich nit von dir gekeren. [»O du schöne Rose zwischen Dornen, o du fliegende Biene mitten im Honig, o du reine Taube nach deinem Wesen, ich kann mich nicht von dir abwenden« (Übers. d. Verf.).]

Es ist angesichts des theologisierenden Traditionsprozesses dieser Offenbarungen durchaus nicht sicher, dass die gliedernden Abschnittsüberschriften, in denen die Rolle der Geliebten auf die Seele bezogen wird, zur ursprünglichen Dichtung gehören; doch steht die Polarisierung von Erde und Himmel und die Identifikation von Geliebtem und Gott auch in den dialogisierten Partien. Auch hinsichtlich mariologischer Assoziationen, die Mechthild einbaut, wie es auch Bernhard getan hatte, ist sie im Bild vorsichtiger: Die Rose ohne Dornen ist Maria, und wenn der himmlische Bräutigam die Seele mit diesem Bild anredet, dann lässt der Text sie ihm sein wie Maria; aber Mann ist in dieser Bildlichkeit Mann, Frau Frau. Mechthild dichtet zwar in der Bildlichkeit des Hohen Liedes und in brautmystischen Metaphern und Bildern, aber ihre Imagination ist mit einem hierarchischen Liebesverhältnis besetzt, sie ist eindeutiger in ihrem Bezug als der Prätext: Die Geliebte ist für sie die Seele, der geliebte Bräutigam ist Gott. An einer anderen Stelle, in der assoziativen Anwendung auf menschlichirdische Körpererfahrungen, ist Mechthild konsequenter als Bernhard und unverhüllt: So bringt die Austauschbarkeit von Seele, Maria und Kirche, wie sie in der exegetischen Tradition des Hohen Liedes vorgegeben ist, für Mechthild die Möglichkeit, zusätzliches Identifikationspotential für hörende oder lesende Frauen zu schaffen, weil in diesem Sprachbild die Menschheit gewissermaßen weiblich ist. Was sie hier über Maria schreibt, besitzt nahezu mythische Potenzen; immerhin partizipiert die Gottesmutter bei Mechthild an der Ewigkeit oder doch Überzeitlichkeit und sehr langer Dauer, und das nicht nur nach ihrer Aufnahme in den Himmel, sondern auch vor ihrer Geburt. Man kann hier bei Mechthild den Zwischenschritt ausmachen, der zwischen patristischen Aussagen über Mariae Mittlerstellung und prophetische Begnadung (vgl. Grillmeier 1975: 203; Grundsätzliches bei Angenendt 1997: 124 f.; Schlosser 2000: 236 f.) und Eckharts Lehre über die Gottesgeburt in der Seele liegt. So entfaltet Mechthild im Bild den Gedanken, Maria führe das Vorbild eines mystischen menschlichen Ich vor (vgl. Gorécka 1999: 342): »Vrovwe Sant Maria, dis wunders bist du ein muoter. Wenne geschach dir das?« »Do únsers vatter jubilus betruebet wart mit Adames valle, also das er muoste zúrnen, do underfieng dú ewige wisheit der almehtigen gotheit mit mir den zorn. Do erwelte mich der vatter zuo einer brut, das er etwas ze minnende hette, wand sin liebú brut was tot, die edel sele; und do kos

W elches G eschlecht hat die S eele ? mich der sun zuo einer muoter und do enpfieng mich der helig geist ze einer trútinne. Do was ich alleine brut der heligen drivaltekeit und muoter der weisen und truog si fúr gotz ovgen, also das si nit ze male versunken, als doch etliche taten. Do ich also muoter was maniges ellenden kindes, do wurden mine brúste also vol der reinen unbewollener milch der waren milten barmherzekeit, das ich soegete die propheten und die wissagen, e denne ich geborn wart. Dar nach in miner kintheit soegete ich Jhesum; fúrbas in miner jugent soegete ich got­ tes brut, die heligen cristanheit, bi dem crútze, da ich also dúrre und jemerlich wart, da das swert der vleischlicher pine Jhesu sneit geistlich in min sele.« [»Heilige Maria, Herrin, du bist die Mutter dieses Wunders. Wann geschah das mit dir?« »Als beim Fall Adams die lachende Freude unseres Vaters betrübt wurde, sodass er notwendig zornig sein musste, da fing die ewige Weisheit der allmächtigen Gottheit durch mich den Zorn auf. Darauf erwählte mich der Vater zur Braut, damit er etwas zu lieben hätte, denn seine liebe Braut, die edle Seele, war tot, und dann erwählte mich der Sohn zur Mutter und nahm mich der heilige Geist als Gelieb­ te auf. Da war ich allein die Braut der heiligen Dreifaltigkeit und die Mutter der Waisen, und ich trug sie vor Gottes Augen, damit sie nicht gleich versinken sollten, was dennoch einige taten. Als ich auf diese Weise die Mutter manches verlassenen Kindes war, da füllten sich meine Brüste so mit der reinen, unbefleckten Milch der wahren, großzügigen Barmherzigkeit, dass ich die Propheten und Weissagenden säugte, ehe ich geboren wurde. Danach säug­ te ich in meiner frühen Jugend Jesum. In meiner späteren Jugend säugte ich Gottes Braut, die heilige Christenheit, neben dem Kreuz, wo ich so verdorrte und in Jammer fiel, als das Schwert der fleischlichen Peinigung Jesu geistlich meine Seele zerschnitt.« (Übers. d. Verf.)]

Hier spricht nicht die Seele, sondern Maria, die sich durch die Erzählung des Sündenfalls als einer Vorgeschichte ihrer Erwählung als ideale Stellvertreterin der Seele einführt. Die Bildlichkeit und die narrative Einbettung wirken kraftvoll und besonders; wenn man aber genauer hinsieht, erkennt man überall Theologie und Tradition: Die Frauenrollen der Geliebten, Braut und Mutter gehen für die Marienfigur ineinander über, während als Geliebte Gottes außerdem auch die Seele und die Kirche auftauchen. Aber Maria sagt ›Ich‹, und sie spricht über Kirche und Seele als über andere Geliebte Gottvaters: Es gibt in Mechthilds Text an dieser Stelle klare Grenzen zwischen Maria, der Seele und der Kirche, keine Auswechslung unter der Hand. So verhält es sich auch mit ihren Besetzungen der Rollen der Geliebten der Maria, den göttlichen Personen, die sorgfältig auseinandergehalten werden. Mechthild macht eine handfeste Geschichte daraus: Gottvater hat nach dem Verlust seiner Geliebten schlechte Laune und ein Recht auf eine neue Geliebte, die also her muss, dafür sorgt die ewige Weisheit. Maria eignet sich zur Geliebten nur, wenn sie aus ihrer Sterblichkeit herausgehoben wird.9 Gottvater wurde sie zugeführt, der Heilige Geist nimmt sie ebenfalls 9 | Diese Überlegung halte ich für verstecktes Bildungsgut, denn in der im Mittelalter viel gelesenen Hochzeit des Merkur mit der Philologie des Martianus Capella geht es mit der erwählten Braut ebenso zu, sie muss ihrer Sterblichkeit entkleidet werden. Im

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zur Geliebten auf, was nicht weiter begründet wird. An diesem Punkt soll der Hörer offenbar die Ebene der bildlichen Vorstellung in menschlichen Personifikationen verlassen, auch wenn die Brautmystik diese Bildlichkeit eigentlich vorgibt. Die Entfernung von ihr wird sich noch weiter vergrößern. Zunächst einmal wird der Hörer oder Leser geleitet, noch mit den Mitteln der Imagination weiterzukommen, wie es bisher möglich war – Gottvater als Mann, Maria als Mädchen lassen sich ja problemlos vorstellen. Nur kommt man bei parallelem Vorgehen auf zwei männliche Personifikationen, die sich eine Geliebte teilen; später kommt ein dritter Geliebter dazu, der gleichzeitig der Sohn der Frau ist. Die Ebene der Erzählung von Personifikationen führt also auf ein Geflecht aus Polygynie, Polyandrie und Inzest, denn Maria nennt sich endlich auch die Geliebte der Trinität, obgleich der Sohn sie, wie sie sagt, nur zur Mutter erwählt hat. Maria ist eine, alle anderen tauchen in diesem Beziehungsgeflecht gleichsam vervielfacht auf. Auch die Seele schien eine zu sein – aber was ist die Seele? Eine Gattungsseele? Eine Einzelseele? Das sagt der Text nicht. Potentiell sind die Geliebten Gottes also multiplikativ, das steckt in der Vorstellung einer Seele, die nicht jemandes Seele ist, und auch in der der Kirche, die aus Menschen besteht. Das Skandalon des Litteralsinnes wird nur durch Dogmatik gebändigt: Gott ist einer und liebt als einer, also auch als Sohn, insofern er Gott und Wort ist – in dieser Natur ist auch Christus der Geliebte Mariae, wogegen er als Mensch Sohn ist. Die Kirche hat ein corpus mysticum und ist insofern eine. Nur mit der abstrakten Seele bleibt es schwierig. Aber das Verfahren ist klar: Mechthild  – oder war es ihr Redaktor? – verfährt in dieser Passage, wie Bernhard mit dem Hohen Lied umgegangen ist: Er konstruiert auf der Ebene des Litteralsinnes ein Skandalon, das aufregt und das zum Widerspruch reizt; er baut es aber so, dass der Widerspruch im Nachdenken, im theologischen Befragen, kollabiert. Mechthild konstruiert ihre widerspruchsheischende Bildkonstellation nicht um Geschlechter-Identitäten und damit verbindende Rollenbilder (wie Bernhard es getan hat, als er die fließenden Brüste des Bräutigams erwähnte). Dass das Geschlecht der Seele weiblich ist und die Beziehung des Menschen zu Gott eine sehnsuchtsvolle Liebe mit einem eigenen Eros, wird in Bildern immer wieder variiert, in keiner Vorstellung relativiert. Bei ihr wird das Verhältnis von Einem und Mehrfachem im Bild diskutiert, die Möglichkeiten exklusiven Gottesverhältnisses; und auch wenn die Theologie darauf Antworten hat, bleibt die Beunruhigung darüber, ob Gott – und welcher? – nur die Seele lieben kann oder auch – zum Beispiel – Mechtshilds Seele, doch im Bild. Mystische Frömmigkeit braucht aber die Gewissheit der einzelnen, besonderen, unverwechselbaren Begnadung; sie lebt gewissermaßen davon. MechtFließenden Licht wird durch diese Reminiszenz der hierarchische Unterschied zwischen Geschöpf und Gott betont.

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hild sieht die Garantie für die individuelle (und nicht nur anteilsmäßige) Begnadung im individuellen Erlebnis der Liebe, als deren unverwechselbares Subjekt sich jeder Liebende fühlt. Dabei formt sie in Bildern einen Gedanken vor, den die Frauenmystik in unterschiedlichen Formen immer wieder artikuliert: Das Liebeserlebnis erhebt zu Gott. Das ist ein Gedanke, den die Theologie der Männer auch ausführlich diskutiert hat, z. B. in den Auseinandersetzungen über die vornehmste Kraft der menschlichen Seele. Aber es gibt auch einen Unterschied: Frauen, Mechthild macht es vor, dichten und schreiben über ihr Erlebnis, in dem sie sich als Liebende wahrnehmen, und sie deuten es gleichzeitig als Präformation der Liebe der Seele. Diesen poetischen Kurzschluss macht die männliche Theologie nicht mit – zum einen, weil sie sich an die Begrifflichkeit, die Ebenen der Diskussion, die Schlussregeln halten muss, und da ist nun einmal Leib irdisch und Seele tendenziell himmelfähig; zum anderen, weil Männer keine Frauenkörper haben und also keine empirischen Erfahrungen machen können, die den Liebesempfindungen der Braut im Hohen Lied entsprächen, die sie für den Prototyp auch ihrer eigenen Seele halten. Die Theologenmänner müssen sich also nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus empirischen Gründen dieser Engführung zwischen irdischem Erlebnis und vorgreifender himmlischer Entrückung verschließen (was für die Leidensmystik nicht gilt – Mitleiden mit dem leidenden Christus ist für männliche Subjekte in ganz ähnlicher Weise eine Verheißung von Nähe wie für weibliche die emphatische Liebe). Was ich hier versucht habe zu erklären, lässt sich im Fließenden Licht sehr schön in einem Lied am Anfang des zweiten Buches greifen. In dieser Passage greift Mechthild Bilder, Vorstellungen und Formeln des Minnesangs auf; man glaubt zunächst den Tonfall und Vers des Kürenbergers aufgenommen (z. B. Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinnen (MF 8,1). Ich sturbe gerne vor minnen, moehte es mir geschehen; den jenen, den ich minnen, den han ich gesehen mit minen liehten ovgen in miner sele stan. Swelú brut iren lieben geherberget hat, dú bedarf nit verre gan. (II,2) [Ich stürbe gern aus Liebe, wenn mir das widerfahren könnte. Den, den ich liebe, den habe ich mit meinen lichtvollen Augen in meiner Seele stehen sehen. Wenn eine Braut ihren Liebsten zur Nacht aufgenommen hat, braucht sie nicht weit zu gehen. (Mechthild von Magdeburg 2003: 76 u. 77; Übers. d. Verf.)]

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Die Augen gehören ebenso in den Minnesang wie in die Theologie. Sie bemächtigen sich des Liebesobjekts und bringen die Liebe; der Sehstrahl ist lichtförmig und dadurch Abbild und Teil des einen Lichts, das von Gott kommt und zu Gott hinführt. Aber wer ist das Ich? Offenbar nicht die Seele, denn es sieht den Geliebten in der eigenen Seele – hier ist die Liebende also die Frau. Eine Braut ist im Kontext der Hoheliedauslegung und Brautmystik immer die Seele; aber in Mechthilds Lied beziehen sich die Verse über die Braut bildlogisch auf die Frau, die den Geliebten in ihrer Seele schlafen lässt. Wenn sie sich, wie das Bild fordert, nun dazulegt, ist sie zugleich innen wie außen, Körperhülle für die Seele wie Einwohnerin des Seelenhauses. Damit ist das Körper-Ich mit seinem Erleben die Präfiguration für das innere Seelengeschehen. Vom Standpunkt der Literaturgeschichte mag man es bedauern: Die einzige, die aus diesem natürlichen Vorteil der Frauen, das Geschlecht der Seele zu besitzen, in geistlicher Hinsicht poetisches Kapital geschlagen hat, war im deutschen Sprachgebiet Mechthild.

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Ernstes Spiel mit scharfen Waffen Ritterliches Turnier und männlicher Wettbewerb Dominik Schuh

Einleitung Das Turnier als Schlüsselereignis »3 Tore im Pokal. Gomez trifft für neue Liebe« titelt die Bildzeitung am 18. April 2013 neben einem Bildmedaillon der ›Beschenkten‹ und einem Luft-küssenden Mann im Fußballtrikot. Das Prinzip der ›Veredlung‹ männlicher Wettbewerbsleistung durch Bezugnahme auf ein ermöglichendes – oder zumindest beförderndes  – weibliches Liebesobjekt scheint auch im fortgeschrittenen 21.  Jahrhundert ohne umständliche Erläuterungen transparent. Der innerhalb eines reglementierten und an sich nicht auf die Außenwelt ausgerichteten Wettbewerbs erbrachten Leistung wird eine Bedeutung für eben diese Umgebung zugeschrieben: der Torschuss wird zum Liebesakt, das Fußballspiel zum Element eines heteronormativ organisierten Liebesspiels.1 Eine mediävistische Untersuchung mit einem Beispiel aus der populären Fußballrezeption zu beginnen, erweckt nicht nur auf den ersten Blick den Eindruck eines Anachronismus. Vielmehr scheint im konkreten Feld der Geschlechtergeschichte – oder weiter gefasst, der Gender Studies – die Gefahr einer solchen Zurichtung der Geschichte umso größer, zielt doch der vorliegende Aufsatz darauf ab, die Darstellung ritterlich-männlicher Wettbewerbspraktiken anhand der mittelhochdeutschen Literatur näher zu beleuchten. Dass es durchaus lohnenswert sein kann, diese Gefahr einzugehen, mögen jedoch die folgenden Punkte belegen: 1 | Mögen die obigen Ausführungen in Zügen überpointiert sein, so erscheint doch unzweifelhaft, dass die Assoziation fußballerischer Leistung und sexueller Akti­ vität selbst den Akteuren stets gewahr ist (vgl. Meuser 2008: 114 u. 120–123; aber auch Dietze 2012: 59 ff., die hier spezifisch auf die für Fußballer eingeforderte Heteronormativität eingeht).

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1. Fußball kann – zumindest für einen bestimmten kulturellen Bereich – als öffentlichkeitswirksame und mithin als ›Leitsportart‹ gelten. Im hohen und späten Mittelalter nimmt das Turnierwesen eine vergleichbar prominente Position ein. Es handelt sich in beiden Fällen um gesellschaftliche Massenspektakel, in denen eine (sportliche) Leistungselite vor Publikum gegeneinander antritt. 2. Ungeachtet aller Versuche einer Popularisierung des Frauenfußballs sind sowohl mittelalterliches Turnier als auch zeitgenössischer Fußball Männerdomänen,2 die zugleich als Orte der Repräsentation und der Verhandlung männlicher Geschlechterbilder fungieren und nicht zuletzt stets von sexuellen Assoziationen und Interpretationen begleitet werden (s. o.). Während der zweite Punkt für das Beispiel des Fußballsports weitläufig aus soziologischer Perspektive bearbeitet wurde und sich in zahlreichen populären Geschlechterstereotypen wie Debatten niederschlägt,3 erscheint das Turnierwesen zwar bisweilen als Vergleichs- und Bezugspunkt zeitgenössischer Praktiken ohne jedoch zugleich dieselbe systematische Aufmerksamkeit zu genießen.4 Anhand zweier literarischer Beispiele wird im Folgenden erörtert, inwiefern das Turnier als eine spezifisch ritterlich-männliche Geschlechtspraxis zu verstehen ist und welche Funktion ihm in der hoch- und spätmittelalterlichen Geschlechterordnung zugewiesen werden kann. Mein erstes Beispiel entstammt dem wohl erfolgreichsten mittelhochdeutschen Epos: Wolframs von Eschenbach Parzival (entstanden 1200–1210). Der Erzählung von der Gralssuche und finalen Herrschaftsübernahme des Titelhelden sind zwei Bücher als Vorgeschichte vorangestellt, die sich mit den Ritterfahrten seines Vaters Gahmuret beschäftigen. Das hier zu behandelnde Turnier im zweiten Buch dieser Vorgeschichte (vgl. Parzival: 58,27–101,4) stellt insofern ein Schlüsselereignis der Erzählung dar, als es nicht nur Ort und Zeitpunkt der ersten Begegnung der Eltern des Protagonisten bietet, sondern darüber hinaus auch Anlass ihrer folgenden Ehe ist. Wolfram bringt einen Großteil der im wei2 | So merkt Meuser (2008: 129) an, bereits »die Semantik, die den ›Fußball‹ und den ›Frauenfußball‹ kennt, nicht aber den ›Männerfußball‹« mache deutlich, dass hier ein Allgemeines, Selbstverständliches einer Ausnahme gegenüberstehe. 3 | Meuser (2008: 113 f.) verweist auf eine breite Zahl von Publikationen zur Geschlechterfrage im Fußball und vermerkt ebenso die Bedeutung des Fußballs als Gesellschaftsmetapher und Modell sozialer Realitäten. 4 | So bearbeitet zwar z. B. Ruth Mazo Karras 2003 im Kapitel Mail Bonding: Knights, Ladies, and the Proving of Manhood das Turnier als einen Ort des männ­ lichen Wettbewerbs und der ritterlich männlichen Sozialisation; vor allem für die deutschsprachige Forschung liegt aber jenseits verstreuter Verweise keine syste­m a­ tische Bearbeitung vor.

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teren Verlauf der Erzählung relevanten Figuren in dieser Szene zum ersten Mal in den Mittelpunkt des Geschehens, erst später zu Tage tretende Konfliktlinien werden bereits hier eingebunden (vgl. Bumke 2004: 49 f.); es handelt sich mithin um ein Schlüsselereignis der Gesamterzählung. Dabei fällt zunächst auf, dass sowohl die beiden Hauptakteure – also Parzivals späterer Vater Gahmuret und seine Mutter Herzeloyde – als auch das Ereignis selbst in Relation zu höfischen Idealvorstellungen alles andere als unproblematisch erscheinen. So ist Gahmuret zwar ein außerordentlich erfolgreicher und kampfbegieriger Ritter, zugleich ist er jedoch bereits mit einer heidnischen Königin vermählt, die er aus Abenteuerlust allein – und schwanger – zurückgelassen hat (vgl. ebd.: 48). Herzeloyde wiederum gehört in der Forschung zu den äußerst umstrittenen Figuren, schwankt die Bewertung ihrer Rolle doch zwischen dem Vergleich mit der Jungfrau Maria und einer intriganten Egozentrikerin (vgl. Greenfield 2002: 159). Diese fraglos vielschichtige Figur gibt nun den Anlass für das folgende Turnier: diu künegîn von Wâleis gesprochen hete ze Kanvoleis einen turney alsô gezilt dês manegen zagen noch bevilt swa er dem gelîche werben siht: von sîner hant es niht geschiht. (Parzival: 60,9–60–14)

Als Preis setzt die bereits verwitwete aber wohl noch jungfräuliche Königin »zwei lant unde ir lîp« (Parzival: 60,16) aus und unterwirft ihr Schicksal und das ihrer Herrschaft dem Sieger des Turniers. Ein schon in der Literatur vergleichsweise ungewöhnliches Geschehen, das in der historischen Wirklichkeit nur parodistische Parallelen findet (vgl. Hartmann 2000: 59–61).5 Gahmuret hingegen, der ohne jedes Interesse am ausgesetzten Preis allein um des Kampfes willen seinem Vetter Kaylet zum Turnier nachreist, nutzt den Anlass zu einem besonders prachtvollen Auftritt. Hinter Spielleuten und Knappen reitet er in bester höfischer Manier in die Stadt ein und sorgt dafür, dass ihm allein die Aufmerksamkeit der örtlichen Bevölkerung wie der am Fenster der Burg stehenden Damen gehört. Es gelingt ihm so, schon deutlich vor Beginn des Kampfes und ohne direkten Verweis auf seine ritterlich-kämpferischen Qualitäten, eine her5 | So verweist Paravicini (1999: 12) auf die angebliche Ankündigung einer Prosti­ tuier­­ten als Turnierpreis 1280 in Magdeburg. Hartmann (2000: 60) sieht Her­ze­loy­ des Liebeswerbung (mit Schumacher) im Widerspruch zur »›hochhöfischen Minne­ konvention‹«, der hier nur über die Konstruktion des Eheversprechens als Turnierpreis gesellschaftlich legitimiert werden kann. Karras (2003: 49) merkt an, dass Damen zwar durchaus Turnierpreise überreichen, aber nicht über diese bestimmen konnten.

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ausgehobene Stellung unter den Kombattanten zu beanspruchen. Umso mehr als seine zwischen Lässigkeit und Arroganz changierende Haltung auch seine erotischen Vorzüge herausstreicht: dô leite der degen wert ein bein für sich ûfez phert, zwên stivâl über blôziu bein. (Parzival: 63,13–15) 6

Während sich Gahmuret in sein Lager begibt und das Geschehen aus der Entfernung mitverfolgt, beginnen bereits die ersten Kämpfe unter aufmerksamer Beobachtung der Königin und ihrer Damen: diu rîterschaft sô nâhe was, daz die frouwen ab dem palas wol sâhn der helde arbeit. doch was der küneginne leit daz sich der künec von Zazamanc dâ mit den andern niht endranc. (Parzival: 69,21–26)

Die Erkundigung Herzeloydes nach Gahmuret markiert hier klar ihr minnicliches Verlangen nach dem bislang untätigen Kämpfer. Erst als das Vorturnier bereits in vollem Gange ist, entscheidet sich auch Gahmuret aktiv in das Geschehen einzugreifen  – zügig gelingt es ihm einige in Rang und Kampfkraft hervorgehobene Kämpfer zu besiegen und von ihnen Sicherheit zu nehmen. Dabei sparen die Teilnehmer nicht an Kraft und Gewalt: ine sagez iu niht für wæhe: dâ was diu ruowe smæhe. die werden twanc diu minne dar, manegen schilt wol gevar, und manegen gezimierten helm: des dach was worden dâ der melm. daz velt etswâ geblüemet was, dâ stuont al kurz grüene gras: dâ vielen ûf die werden man, den diu êre en teil was getân. (Parzival: 75,11–20)

Wolframs bildreiche Beschreibung beschädigter Waffen und Rüstungsteile sowie herabfallender Ritter, streicht die Intensität des Turniergeschehens deutlich 6 | Vgl. zur herausgehobenen Stellung von Gahmurets Einzug und seiner Bedeutung in der Erzählung Hartmann 2000: 75, zur Deutung der besonderen Gestik Gahmurets, ebd.: 81 f.

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heraus. Der Verweis auf die Ziele der Teilnehmer, Minne und Ehre, verbindet die bewaffnete Gewalthandlung dabei unmittelbar mit der sozialen und erotischen Wertschätzung für die Akteure.7 Die größte Zuneigung und Aufmerksamkeit scheint dabei der Protagonist Gahmuret zu gewinnen, ein entscheidender Vorteil, hat er doch die Königin selbst für sich einnehmen können. Herzeloyde gibt sich gar dermaßen überzeugt von diesem fremden Kämpfer, dass sie das Turnier vorzeitig für beendet erklären lässt und ohne große Umschweife  – wenn auch nicht ohne Hindernisse –8 um die Ehe bittet. Da der so Bedrängte aber ohne die Absicht einer Eheschließung am Kampfgeschehen teilgenommen hatte, kommt es schließlich zu einer rechtlichen Prüfung des königlichen Ehegesuchs: man sprach ein urteil zehant, »swelch ritter helm hie ûf gebant, der her nâch rîterschaft ist komn, hât er den prîs hie genomn, den sol diu küneginne hân.« dar nâch diu volge wart getân. dô sprach si »hêr, nu sît ir mîn. ich tuon iu dienst nâch hulden schîn, und füege iu sölher fröuden teil, daz ir nâch jâmer werdet geil.« (Parzival: 96,1–10)

Durch einen fachkundigen Urteilsspruch erhält Herzeloyde so den gewünschten Ehemann, dem es zumindest gelingt, ein besonders Privileg zu erwerben,9 während sein Widerstand gegen die Eheschließung vergebens bleiben muss: Als Teilnehmer des Turniers hat er konkludent den Wettbewerbsbedingungen 7 | Dabei unterlässt Wolfram es nicht an anderer Stelle auf klar ökonomische Interessen der Teilnehmer sowie auf im Rahmen des Turniers ausgetragene Feindschaften zu verweisen, zu den o. g. Motiven des ritterlichen Ideals stehen diese dabei keinesfalls im Widerspruch, vgl. dazu Hartmann (2000: 124 f.), der hier z. B. die Teilnahme von »armman«, also besitzlosen Rittern, kommentiert; vgl. auch Paravicini (1999: 12) zu grundsätzlichen finanziellen Regelungen und Turnieren. Auch Jackson (1985: 263) weist materiellen Gewinn als eines der klassischen Motive zur Teilnahme an Turnieren aus (hier mit Bezug auf Ulrich von Lichtenstein). 8 | Denn inzwischen hat bereits eine zweite bzw. dritte Königin ihr Interesse an Gahmuret bekundet und einen Boten mit der Bitte um seine Gunst ausgesandt (vgl. Bumke 2004: 51). 9 | Er erhält die Erlaubnis, einmal in jedem Monat eine Turnierfahrt unternehmen zu dürfen (V. 96,25–97,6); ein Vorrecht, das letztlich auch das Ende seiner Ehe und seines Lebens bestimmt.

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zugestimmt und muss folglich den Preis, die königliche Hand, auch gegen seinen Willen annehmen (vgl. Hartmann 2000: 249).

Geschlechterordnung und symbolische Gewalt Herzeloydes konventionelle Feststellung des gegenseitigen Besitzens und Dienens kann hier keinesfalls als reelle Herrschaftsbeziehung gedeutet werden;10 der Prozess der Eheschließung wirft aber durchaus die Frage nach den Machtpositionen der Beteiligten auf. Der Königin gelingt es ihr Interesse gegen den Willen Gahmurets durchzusetzen  – ungeachtet der Tatsache, dass sie ihre Macht einsetzt, um sich in ein mehr oder minder abhängiges Verhältnis ihm gegenüber zu begeben. Was aber ist Herzeloydes Interesse? Greenfield sieht ihre Motivation zur Suche nach einem Ehemann vor allem in ihrem Witwenstatus begründet; ihre Herrschaft bedarf der Sicherung durch einen geeigneten, kriegsfähigen Herrscher  – nicht zuletzt um sich gegen die Bedrohung durch andere Männer zu schützen (vgl. Greenfield 2002: 168). Wenn sie also alle zur Verfügung stehenden – hier juristischen Mittel – einsetzt, um sich zu vermählen, handelt sie primär aus einer Position der Ohnmacht. Unklar bleibt jedoch, warum sie sich gerade für Gahmuret entscheidet. Zwar informiert uns die Erzählung über ihre affektive Zuneigung gegenüber dem fremden Kämpfer, fragen wir aber nach der Struktur der Geschlechterbeziehungen und der Bedeutung des Turniers, können wir uns mit der schlichten Feststellung (erzählter) Empfindung nicht zufrieden geben. Mit Pierre Bourdieus Arbeiten zur »männlichen Herrschaft« von 1997 und 2005 lassen sich hier tieferliegende Strukturen aufdecken. Bourdieu geht der Frage nach, wie es möglich ist, »daß die Weltordnung, so wie sie ist, […] grosso modo respektiert wird und daß es nicht zu mehr Zuwiderhandlungen oder Subversionen« kommt (Bourdieu 2005: 7).11 Anhand der Geschlechterordnung der kabylischen Gesellschaft macht er dafür 10  |������������������������������������������������������������������������������������   ihrer Unterwerfung unter die »vormundschaftliche Herrschaftsgewalt ihres künftigen Gemahls«. 11  |�������������������������������������������������������������������������������   europäischen und außereuropäischen Konzeptionen von Geschlechterordnung beschäftigen, aber eben nicht originär auf die Gesellschaftsstrukturen des mittel­ alterlichen Europas zugeschnitten sind, so verschärft sich zwar die bereits einleitend angesprochene Gefahr einer anachronistischen Perspektive, strukturelle Parallelen der betrachteten Gesellschaften machen eine Übertragung – zumindest der hier vorge­stellten Ansätze – aber durchaus fruchtbar und sind daher hinsichtlich ihrer Erkenntnismöglichkeiten für die mediävistische Forschung von grundlegendem Nutzen. Dass damit keiner essentialistischen, überzeitlichen Konzeption von Geschlecht oder

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vor allem ein Funktionsprinzip aus: symbolische Gewalt. Diese funktioniert durch den Einklang zwischen der Verfassung des Seins und den Formen des Erkennens, zwischen den inneren Erwartungen und dem äußeren Lauf der Welt [, denn dieser] begründet die doxische Erfahrung. Jeder häretischen Infragestellung enthoben, ist diese Erfahrung die uneingeschränkteste Form von Anerkennung der Legitimität: sie faßt die soziale Welt und ihre willkürlichen Einteilungen, angefangen bei der gesellschaftlich konstruier­ ten Einteilung der Geschlechter, als natürlich gegeben, evident und unabwendbar auf. (Bourdieu 1997: 159)

Die Akzeptanz der Ordnung ergibt sich durch die beständige Reproduktion dieser Ordnung selbst, durch die Wahrnehmung der Ordnung als Gegebene im alltäglichen Erleben, durch die Unsichtbarkeit ihrer Produktionsbedingungen. Im Zuge dieser Somatisierung und Naturalisierung arbiträrer Ordnungsmuster werden die vorgegebenen Wertungen als persönliche Neigungen empfunden (vgl. Bourdieu 2005: 67–69).12 Erwählt sich Herzeloyde den gemäß den Wettbewerbsregeln des ritterlichen Turniers erfolgreichsten Kämpfer aufgrund ihrer Zuneigung zu ihm, so scheint ihre Affektion doch in wundersamer Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Bewertung seiner sozialen Stellung. Angesichts der bourdieuschen Analyse erscheint folgende Stelle aus dem Buch der Ritterschaft des französischen Ritters Geoffroi de Charny (um 1300–1356) fast als Dekonstruktion höfischer Minneideale: Which one of two ladies should have the greater joy in her lover when they are both at a feast in a great company and they are aware of each other’s situation? Is it the one who loves the good knight, and she sees her lover come into the hall where all are at table and she sees him honored, saluted, and celebrated by all manner of people and brought to favorable attention before ladies and damsels, knights and squires […] And if one of the other ladies loves the miserable wretch who, for no good reason, is unwilling to bear arms […] he remains hidden behind everyone else […] she must feel very uneasy [… because she loves a man] whom no one admires or honors […]. (Charny 1996: 121)

»menschlicher Natur« das Wort geredet werden soll, wird schon durch die gewählte Zugangsweise deutlich. 12 |�������������������������������������������������������������������������������������   und größere Männer bevorzugten. Bourdieus Arbeiten zur männlichen Herrschaft (1997; 2005) greifen aber immer wieder das Konzept der amor fati auf, und gerade jenes als natürliches, körperliches Anzeichen empfundene Bedürfnis zur Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen ist hier ein wesentliches Element der symbolischen Gewalt.

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Charny gibt den höfischen Damen klare Anweisungen, welche Art von Mann geeignet sei, sie glücklich zu machen, und er kommt zu dem Schluss, dass es nicht etwa die Eigenschaften des Mannes als Liebhaber, sondern diejenigen als Kämpfer seien, die den Ausschlag geben sollten. Die Wahl der Dame solle in erster Linie der Wahl der höfischen Gemeinschaft folgen. Was Bourdieu als mehr oder minder verschleiertes Prinzip der Inkorporierung gesellschaftlicher Wertungen beschreibt, tritt hier offen zu Tage. Ist es aber diese Wertung der männlichen Ordnung, die dem weiblichen Urteil zugrunde liegt  – oder nach der Vorstellung unseres Gewährsmanns zugrunde liegen sollte –, ist zu fragen, wie diese männliche Ordnung zu untergliedern ist. Hier trifft Bourdieu, der konstatiert, dass männliche Herrschaft stets auch Herrschaft über Männer ist, mit Connell (2005) zusammen, dessen theoretische Überlegungen zu Männlichkeiten nach wie vor den wichtigsten Bezugspunkt der meisten Forschungen zu Männlichkeit(en) bilden. So geht Connell davon aus, dass eben nur eine kleine Gruppe von Männern tatsächlich im Besitz der »hegemonialen Männlichkeit«, also der Vollform des kulturell je gültigen Männlichkeitsideals, sein kann. Die verbleibenden Männer sind von dieser Form aus betrachtet untergeordnet, sie verhalten sich zu den hegemonialen Männern untergeordnet oder komplizenhaft, sofern sie nicht vollständig marginalisiert und damit aus dem jeweiligen System der Männlichkeiten ausgeschlossen sind (vgl. Connell 2005: 76–81).13 Connells Theorie wurde allerdings gerade von Seiten der Historikerinnen und Historiker umfangreicher Kritik ausgesetzt, ein wesentlicher Punkt war dabei die Festlegung auf eine hegemoniale Männlichkeit. Für die Erforschung vormoderner Männlichkeiten sind hingegen Modelle dominanter Männlichkeiten zu bevorzugen (vgl. Dinges 2005: 18–20): So sieht z. B. Ruth Mazo Karras für das späte europäische Mittelalter drei dominante Männlichkeiten: eine ritterlich-adlige, eine städtisch-handwerkliche und eine universitär-gelehrte (vgl. Karras 2003: 17–19 u. a.).14 Dabei stehen diese Männlichkeiten keinesfalls unbeeinflusst nebeneinander; sie nehmen stetig Bezug aufeinander und suchen nach Möglichkeiten der Abgrenzung und der Dominanz über die jeweils andere. Nehmen wir die volkssprachliche Bedeutung von Männlichkeit 13 | Hier handelt es sich um eine extrem verkürzte Darstellung der connellschen Theorie, ein gelungener kurzer Überblick über seine Theorie findet sich z. B. bei Meuser 2008; Dinges 2005 bereitet die Theorie in historischer Perspektive auf und wagt eine kritische Betrachtung ihrer Möglichkeiten. 14 |���������������������������������������������������������������������������������   zugleich ist aber eine starke Differenz hinsichtlich des Verhältnisses zum anderen Geschlecht festzustellen. Interessant erscheint hier wiederum die Metapher der »Männlichkeit als Adel« die sich bei Bourdieu (1997: 172 f. u. a.; 2005: 100 ff.) wiederholt findet und hier auf eine gewisse Gemeinsamkeit des herrschaftlichen Habitus, also der körperlichen Hexis der Herrschenden, verweist, die näher zu betrachten wäre.

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als einen Beleg für kulturell zugewiesene Bedeutungen, so scheint ritterliche Männlichkeit besonders positiv vertreten:15 Für das Mittelhochdeutsche sind hier »man, manbaere, manhaft/manhaftikeit, manheit« und »manlich/manlîche« zu betrachten; »man« kann allgemein für »Mensch« stehen, für »Mann« in Differenz zu »wîb, frouwe«, aber auch zu »Jüngling«; es kann in besonderer Betonung auf einen »tüchtigen Mann« verweisen, ebenso aber auch auf die soziale Stellung »Ehemann, Dienstmann, Vasall, Lehensmann« oder »Diener«. »[M]anbaere« weist auf die Fähigkeit zum Mann-Sein oder allgemein auf die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht hin. »[M]anhaftikeit, manheit« und »manlich/manlîche« erscheinen als Signifikanten für »Tapferkeit« und »Standhaftigkeit« und stehen der »unmanheit« als feigem Verhalten gegenüber. Während die »manheit« auch auf das Lehens- oder Dienstverhältnis verweisen kann, erscheinen »manlich« und »manlîche« bisweilen in der Bedeutung eines verallgemeinernden »jedermann«, stehen aber auch für das dem Charakter des Mannes Angemessene. Neben hier weniger relevanten sozialen Zuordnungen befinden sich die auf das männliche Geschlecht referierenden Signifikanten in einem engen Zusammenhang mit Tatkraft und Tapferkeit. Sind Männer folglich zunächst Krieger bzw. ist Männlichkeit kriegerisch kodiert, dann sind all diejenigen Männer marginalisiert, die von kriegerischem Handeln ausgeschlossen sind.16 So erscheint es wenig verwunderlich, dass Wolfram den Adel König Utepandragûns herausstreicht, indem er ihn auf einen besonders edlen Boden fallen lässt: wê wie gefüege ich doch pin, daz ich den werden Berteneis sô schône lege für Kanvoleis, da nie getrat vilânes fuoz (ob ichz iu rehte sagen muoz) noch lîhte nimmer dâ geschiht. (Parzival: 74,10–15)

In einer von einer adligen Kriegerelite beherrschten Gesellschaft, werden Kriterien der Männlichkeit zu Merkmalen der Herrschenden, die höchstens parti15 |�����������������������������������������������������������������������������   Quellen, auf denen die verwendeten Wörterbücher beruhen, gerade aus dem ritterlichadligen Kontext stammen, während universitär-klerikale Schriften primär in lateinischer Sprache vorliegen und vorhandene Quellen aus dem städtischen Umfeld seltener Eingang in diese Nachschlagewerke fanden. Als Grundlage der hier gewählten Angaben dient das Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 16 |������������������������������������������������������������������������������   Selzer (2013: 59 f.) im Beispiel einer Nonne, die sich die Anrede »Schwester« durch einen nicht Gerüsteten – einen Kleriker – verbittet.

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ell durch die Beherrschten in Anspruch genommen werden können. Der Ausschluss der nicht-adligen Männer  – hier des Bauern (»vilânes«)  – aus dieser Gesellschaft ist im vorgestellten Fall gar über den konkreten Turnierzeitpunkt hinausgedacht. Sprechen wir also über die Geschlechterordnung im Zusammenhang mit der adligen Turnierpraxis, so ist ganz wesentlich nicht nur von einer Unterordnung des weiblichen unter das männliche Geschlecht – bei gleichzeitiger Verschleierung dieser Unterordnung – zu sprechen, sondern eben auch von einer Binnenordnung der Geschlechter, die sich im Kontext primär über den Ausschluss all derjenigen definiert, die aufgrund ihres Standes von einer ihrem Geschlecht angemessenen Teilnahme ausgeschlossen sind.17

Das Turnier als historisches Phänomen »Without the knight and his lord, there would never have been a tournament, and the knight and the tournament may well have grown up together.« (Crouch 2006: 135)18 David Crouch verweist in aller Kürze auf die enge Verbindung zwischen Rittertum und Turnierwesen. So wenig wie das Turnier ohne Ritterstand und die kulturellen Muster des Rittertums zu denken ist, so wenig kann die ritterlich-höfische Kultur ohne Turnier gedacht werden. Das Turnier erfüllte wesentliche Funktionen innerhalb dieser Kultur, als Ort der Übung und Bewährung und als höfisches Fest. Dabei erscheint es problematisch diese Funktionen und das gesamte Phänomen Turnier in eine historische und eine literarische Seite zu unterteilen  – wie es die Absatzüberschrift andeutet  – vielmehr sind diese Seiten in einem stetigen Wechselspiel miteinander verwoben. Historische Entwicklungen schlugen sich in den Turnierdarstellungen der Literatur nieder (vgl. Mölk 1985: 168 ff.), die tatsächlich durchgeführten Kampfspiele bedienten sich aber zunehmend auch am Repertoire der Literatur. Das wohl eindrucksvolle Beispiel dafür ist die Form des sog. Tafelrundenturniers, das nicht nur dem Namen nach auf den Erzählungen von König Artus und seinen Rittern beruhte (vgl. Crouch 2006: 116–121). Johan Huizinga identifizierte im »Herbst des Mittelalters« gar Turnier und Literatur noch weitgehender: Zur Steigerung der Kampfesspannung setzt er [der mittelalterliche Kampfsport] den An­ sporn aristokratischen Stolzes und aristokratischer Ehre, den romantisch-erotischen 17 | Das zeigt sich nicht zuletzt in den kritischen Stimmen gegenüber nicht-adligen Turnierpraktiken im ausgehenden Mittelalter: vgl. z. B. Jackson 1985: 285 f. Vgl. dazu auch Fleckenstein (1985: 255), der auf die rechtliche Einschränkung der Teilnahme zum Turnier verweist. 18 |�������������������������������������������������������������������������������   darstellung des Rittertums und der ritterlich-höfischen Gesellschaft gewesen.

E rnstes S piel mit scharfen W affen Reiz und den Reiz des künstlerischen Prunks ein. Er ist über Spiel und Körperübung hin­ aus zugleich angewandte Literatur. Wunsch und Traum des dichtenden Herzens suchen nach einer dramatischen Darstellung, nach einer gespielten Erfüllung im Leben selbst […]. (Huizinga 2006: 110)

Mag Huizinga hier auch mit besonderer Emphase eine Differenz von unmöglichem Ideal und höfischer Scheinkultur eröffnen, so ist doch auch ohne diese Wertung eine direkte, gegenseitige Bezugnahme von Turnierwesen und höfischer Literatur festzustellen.19 Das beginnt mit der Darstellung grundlegender Turniermerkmale wie sie z. B. auch in Wolframs Erzählung vom Turnier zu Kanvoleis aufscheinen (vgl. dazu Paravicini 1999: 12 f.): 1. Eine förmliche Einladung; 2. Festlegung bzw. Einigung auf bestimmte Regeln des Kampfes, aber auch der jeweilig ausgesetzten Lösesummen und Preise; 3. die Aufteilung in Turnierparteien; 4. der Formationskampf; 5. scharfe Bewaffnung; 6. die Bestimmung eines Sicherheitsbezirks. All diese Elemente waren selbstverständlich einem gewissen historischen Wandel unterworfen, sodass sie gerade dasjenige Phänomen nicht umschreiben, welches wir heute am stärksten mit dem Turnier verbinden: die Tjost. Während das eigentliche Turnier als ein Gruppen- bzw. Massenkampf aus Übungskämpfen und Kampfspielen des Frühmittelalters entstand und sich wiederum in zahlreiche Formen unterteilen ließe,20 entstand der Kampf Mann gegen Mann mit der Lanze und später mit Mittelplanke erst im 12. Jahrhundert und entwickelte sich im Verlauf des Spätmittelalters zur prägenden Form des Kampfsspiels (vgl. Barber/Barker 2001: 212). Die Dominanz gerade dieser Kampfform könnte dabei zu einem gewissen Teil dem Erfolg der literarischen Kampfdarstellungen zugerechnet werden, ist es doch jene bevorzugte Beschreibung des Protagonisten als erfolgreichem Einzelkämpfer, die hier möglicherweise in die szenische Wettbewerbsform zurückübersetzt wurde. Neben dieser Präsentation des ritterlichen Zweikampfes kamen dem Turnier vor allem im Kontext des hö19 | Vgl. dazu auch Fleckenstein (1985: 249 ff.), der die enge Verbindung von höfischer Liebe und Turnier in Literatur und Historiografie herausstreicht. 20 |�������������������������������������������������������������������������������   der Bezeichnung verschiedener Formen mitzudenken sowie bestimmte Abweichungen je nach Region und Zeitpunkt, sodass mit Turnieren, Stechen, Rennen, Tjostieren etc. nicht zwangsläufig verschiedene oder eben für sich stabile Praktiken bezeichnet sind. Vgl. zu den verschiedenen Turnierformen u. a. Barber/Barker 2001: 212–216.

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fischen Festes zahlreiche weitere Funktionen zu: so z. B. die Möglichkeit des repräsentativen Konsums und der Zurschaustellung herrschaftlichen Reichtums und damit der Reproduktion hierarchischer Positionen im Modus ihrer öffentlichen Ausstellung. Überdies bot das Turnier Gelegenheit zu Verhandlungen, zur Stiftung von Ehen, dem Feiern von Rittererhebungen und politischen Einigungen, die Möglichkeit zum Austausch von Ehrerweisungen und Gaben, die soziale und damit häufig herrschaftliche Bindungen zu stabilisieren geeignet waren (vgl. Fleckenstein 1985: 237 f.). Als Teil der höfischen Festkultur kann das Turnier damit als ein wesentliches Element der feudalen Gesellschaft betrachtet werden. Für unseren Kontext gilt das umso mehr, als das Turnier auch ein Ort der Einübung war: Der Einübung in militärische Formen – wie das gemeinsame Reiten und Angreifen –, aber ebenso in gesellschaftliche Formen.21 Denn im Rahmen des Turniers bekamen junge Adlige, die Gelegenheit, als Ritter für eine begehrte Dame in Erscheinung zu treten, und sich in ihrer jeweiligen Geschlechtsrolle zu üben. Rufen wir noch einmal den engen Zusammenhang von Rittertum und Turnierwesen auf, so erscheint diese Funktion umso bedeutender, ist doch mit der ritterlich-höfischen Kultur im Besonderen eine Disziplinierung und Formung der Geschlechterverhältnisse verbunden.22

Männlicher Wettbewerb als ernstes Spiel Haben wir nun die Spezifika des Turniers als ein historisches Phänomen im Wesentlichen dargestellt, ist in einem nächsten Schritt zu untersuchen, inwiefern die Beschreibung dieser Praxis als ein ›ernstes Spiel‹ angemessen und fruchtbar erscheint. Huizinga legt in seiner kulturtheoretischen Schrift vom Homo Ludens (1966) eine Reihe von Merkmalen des Spiels dar: So ist Spiel für ihn »zunächst und vor allem ein freies Handeln«, es ist »nicht das ›gewöhnliche‹ 21 |����������������������������������������������������������������������������   »Kloster[s] der Minne«, auf das Jackson (1985: 282) verweist: Hier diskutieren Ritter und Dame über den Zweck des Turniers; ob es im Sinne der Minne oder der militärischen Übung durchgeführt wird. 22 |���������������������������������     Überlegungen zur adligen Männlichkeit anhand literarischer Selbstbilder (2000); er beschreibt diese Männlichkeit als eine durch Selbstbeherrschung selbstbewusste; vgl. auch Karras (2003: 47–57), die im Kapitel zur ritterlichen Männlichkeit verschiedene Disziplinierungsfaktoren wie höfische Erziehung und kirchliche Einflüsse aufführt, wobei besonders die disziplinierende Funktion des weiblichen Blicks auf den männlichen Wettbewerb hervorgehoben wird. Auch Jackson (1985: 262) verweist auf die Bedeutung des Turniers für die Ausbildung des Rittergedankens (mit Verweis auf Maurice Keen). Vgl. auch Fleckenstein (1985: 238), der auf die »stimulierende« wie »zivilisierende« Bedeutung der Dame im Turnier hinweist.

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oder das ›eigentliche‹ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz.« (Huizinga 1966: 15) Die Ziele des Spiels liegen »außerhalb des Bereichs des direkt materiellen Interesses oder der individuellen Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten« (ebd.: 16). »Das Spiel sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer.« (Ebd.: 17) Es ist wiederholbar und »erfüllt von Rhythmus und Harmonie« (ebd.: 17 f.). Und, für unseren Kontext von besonderer Bedeutung, »[d]as Spiel ist ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas« (ebd.: 20). Dass diese Merkmale mit den oben beschriebenen Elementen des Turniers übereingehen, scheint offenbar.23 Lässt sich das Turnier somit sinnvoll als Spiel beschreiben, ist doch nach dem Ernst der Angelegenheit zu fragen, befinden sich »Spiel« und »Ernst« im alltäglichen Sprachgebrauch doch im Verhältnis des Gegensatzes (vgl. ebd.: 13 f.).24 Es sollen daher verschiedene Momente des Ernstes im Kampfspiel zur Sprache kommen: 1. Ein erstes Element klingt bereits im Titel des Aufsatzes an: Das Turnier wurde (zumindest lange Zeit und häufig) mit scharfen Waffen ausgetragen und selbst in denjenigen Fällen in denen stumpfe oder gesicherte Waffen eingesetzt wurden, bestand ein erhebliches Verletzungs- und Todesrisiko (vgl. z. B. Barber/Barker 2001: 35).25 Auf diese Weise wurde das eigene Leben oder zumindest die eigene körperliche Unversehrtheit zum Spieleinsatz aller Teilnehmer. 2. Die Bereitschaft das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, verweist dabei auf eine besondere Wertordnung: denn Ehre wurde höher geschätzt als eigenes – oder auch fremdes – Leben. Insofern besteht aber wiederum ein Ernst

23 |�������������������������������������������������������������������������   verwunderlich, dass nicht zuletzt das Turnier in seine Überlegungen zur kulturellen Bedeutung des Spiels mit eingegangen ist. 24 |��������������������������������������������������������������������������������������   Möglichkeit des Zusammentreffens von Spiel und Ernst, z. B. im Sinne des ernstlichen oder ernsthaften Spielens etc. Auch Fleckenstein (1985: 235) bemerkt, bereits hier seien »Spiel und Ernst vereint«. 25 |������������������������������������������������������������������������������   Turnier und »ernstem Kampf« angeführt, während die Belege für gesundheitliche und lebensgefährdende Risiken im Turnierwesen weit verbreitet sind. Jackson (1985: 261) verweist auf Darstellung des Turniers als »gefährliches militärisches Unternehmen« z. B. im Erec, ebenfalls verweist er auf die Verwendung scharfer Waffen in Literatur und hist. Realität (270 f.). Vgl. auch Fleckenstein 1985: 232.

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des ritterlichen Spiels in der Verhandlung um die wichtigste Ressource der adligen Gesellschaft: die Ehre.26 3. Neben Ehre und Leben wurden aber auch unmittelbar materielle Werte eingesetzt und verspielt. Gerade für weniger begüterte Teilnehmer konnten Sieg und Niederlage im Turnier und damit Gewinn oder Verlust von Lösegeldern, Rüstungen und Pferden, von entscheidender ökonomischer Bedeutung sein. Mit den Worten von Geoffroi de Charny ist die Bereitschaft diese Güter einzusetzen wesentlich für die Chance auf Ehre und Ruhm für die Teilnehmer: »And indeed, they [tournaments] earn men praise and esteem for they require a great deal of wealth, equipment and expenditure, physical hardship, crushing and wounding, and sometimes danger of death.« (Charny 1996: 87) Scheint also der Spielcharakter des Turniers auf der Oberfläche sehr deutlich zu sein  – umso mehr als im Verlauf des späten Mittelalters mehr und mehr theatrale, literarische Elemente Einzug erhielten –, verdeckt diese oberflächliche Verspieltheit nur umso mehr die realen Gefahren und Chancen der einzelnen Teilnehmer. Dabei waren die genannten Tatsachen den Zeitgenossen keinesfalls unbekannt – schon die zahlreichen Turnierverbote von kirchlicher Seite beweisen ein hohes Bewusstsein zumindest der körperlichen Gefahren und des ökonomischen Aufwandes (vgl. Barber/Barker 2001: 181 ff.). Die repräsentative Wirkung des Turniers, seine Möglichkeiten für den Einzelnen, wie seine Funktionen für die gesamte ritterlich-höfische Gesellschaft, scheinen jedoch eine höhere Wertung erfahren zu haben. Wer nicht bereit war, Leben und Ehre in diesem Spiel einzusetzen, setzte sich der Gefahr der Marginalisierung, der Exklusion aus der ritterlich-männlichen Gemeinschaft aus. So fasst unser Gewährsmann Geoffroi de Charny die Anforderungen an »Männer von Wert« folgendermaßen: And while the cowards have a great desire to live and a great fear of dying, it is quite the contrary for the men of worth who do not mind whether they live or die, provided that their life be good enough for them to die with honor. (Charny 1996: 127)

Auch in der Literatur finden wir Beispiele für das Risiko, das in der offenen Ernstnahme des Spiels bestand: So verliert der Graf im Moriz von Craûn gleich in mehrfacher Weise seine Position als Ehemann und Hausherr, indem er den im Spielkontext hinzunehmenden Tod eines Ritters zum Anlass großer Trauer nimmt (der Text entstand zwischen 1185 und 1230; die Beschreibung des Unfalls findet sich in den Versen 891 bis 938). Er ist dem Druck des Wettbewerbs nicht 26 | Vgl. hierzu auch die Bemerkungen bei Jackson (2008: 276) zur Bedeutung der Ehre als öffentlicher Anerkennung durch Turnierzuschauer – und Rezipienten der Literatur.

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gewachsen und verliert folglich seine gesellschaftliche Stellung zumindest zeitweise. So lässt sich schließen, dass das Turnier als besonders repräsentatives Beispiel für den ritterlich-männlichen Wettbewerb insgesamt gesehen werden kann. Die oben aufgezählten Risiken, die mit der Teilnahme am Spiel verbunden sind, erscheinen dabei gering im Verhältnis zum Risiko des vollständigen Ausschlusses aus der höfischen Gesellschaft und damit dem Verlust der männlichen Stellung und damit verbundener Vorrechte. Auf der anderen Seite war das Turnier als Ort des Wettbewerbs miteinander – so widersprüchlich es zunächst erscheinen mag – ein Ort der homosozialen Vergemeinschaftung; denn das Recht und die Bereitschaft miteinander in Wettbewerb zu treten, war zugleich verbunden mit der Teilhabe an mann-männlicher Gemeinschaft (vgl. z. B. Karras 2003: 48).27 Verstehen wir das Turnier als einen besonders offen zu Tage tretenden Teil des männlichen Wettbewerbs um Teilhabe an männlicher Herrschaft und als Möglichkeit zu Erlangung der Vorrangstellung in der Gruppe der ehrgleichen Männer, so lässt sich hier deutlich ablesen, in welchem Maß bereits für die Teilnahme selbst als männlich markierte Eigenschaften gefordert werden.

Der weibliche Kampf um das männliche Geschlecht Ist in historischer Perspektive – und zumeist auch in der Literatur – das Turnier klar als ein Ort männlichen Wettbewerbs markiert, sind also regelmäßig Frauen und nicht ritterliche Männer von der Teilnahme ausgeschlossen, so finden sich besonders in der schwankhaften Literatur des Spätmittelalters auch verschiedene Beispiele für davon abweichende Turniere. Im Rahmen humoristischer, karnevalesker Erzählungen kann die gemeinhin gültige Gesellschaftsordnung außer Kraft gesetzt werden, hier treten Bauern, Damen, ja sogar Nonnen in »Turnieren« gegeneinander an.28 Einen in seiner Vulgarität und Schwankhaftigkeit hervorstechenden Text möchte ich als letztes Beispiel einführen: das sog. Nonnenturnier (»der turnei von dem zers«). Dieses Beispiel ist nicht zuletzt be27 | Meuser (2008: 115 f.) erläutert anhand des Fußballspiels eindrücklich die vergemeinschaftende Funktion des mann-männlichen Wettbewerbs. 28 |������������������������������������   Nonnenturnier und Frauenturnier, die sich mit Turnieren unter Frauen beschäftigen; dabei konzentriert sich ihre detailreiche Interpretation auf die »Logik des Falschen, die sich mit aggressiven und sexuellen Handlungen verknüpft« (216); in vielen Punkten kommt sie darin zu vergleichbaren Ergebnissen wie die vorliegende Untersuchung, folgt aber einer anderen theoretischen Grundlage. Mölk (1985: 170 f.) verweist auf mehrere literarische Turnierparodien aus dem französischen 12./13. Jahrhundert, besonders aufschlussreich scheint hier der Zusammenhang von »verweichlichten« Männern und Damen, die turnieren.

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sonders geeignet, die hier diskutierte Thematik um einen wichtigen Aspekt zu erweitern, da es mit einer Erzählung der besonderen Männlichkeit eines jungen Ritters beginnt. Der junge Mann wird durch den Erzähler aufgrund zahlreicher Qualitäten gepriesen: ich wil euch sagen so vil mer: waidenlichen mit dem sper kond er wol in turnei. er was ein ritter frei. sein ungelück was vertret. er was auch liep an dem bett. und welch frauwe es darzu bracht, das er bei ir lak ein nacht, die daucht sich fürbaß immer mere beide hoffertig und here. (Nonnenturnier: V. 25–34)

Wird er hier zunächst aufgrund seiner Fähigkeiten im Turnierkampf gelobt, so erscheint dieses Lob mit Blick auf die folgende Beschreibung seiner sexuellen Leistungsfähigkeit ebenfalls in den Bereich der geschlechtlichen Körperbeherrschung verschoben. Ritterliche Waffenfertigkeiten und männliche Leistungsfähigkeit im Sexuellen werden unmittelbar aufeinanderfolgend gerühmt und im Zuge der anklingenden Speermetapher miteinander verschränkt (vgl. Bloh 2009: 220).29 Dabei steht der so Geehrte aber keinesfalls nur positiv im Fokus der Erzählung, denn die beschriebene Freude, die er den Frauen bereitet, bleibt im Zuge seines promiskuitiven Verhaltens eben je auf die oben benannte, eine Nacht beschränkt. Darüber hinausgehenden Bindungen verweigert sich der Protagonist ganz explizit und zieht sich so auch die Antipathie der, ihm doch allem Anschein nach so zugewandten, Damen zu. Dass ihm zwar körperliche Kraft und Geschicklichkeit, aber nicht in gleichem Maße Verstandeskräfte zu Eigen sind, wird ihm in der Begegnung mit einer besonders gewitzten Dame zum Verhängnis:30 Mit rhetorischem Geschick gelingt es der Dame, ihn zu überzeugen, dass den Frauen das männliche Genital zuwider sei und dass er seine Chancen beim anderen Geschlecht durch die Befreiung von ebendiesem deutlich steigern könne. Das folgende Zwiegespräch zwischen dem Ritter und 29 |���������������������������������������������������������������������������������   und Kampf als Sexualmetaphern sowie auf die Bildtradition von »Minne und Minnedienst als Kampf« (ebd.). 30  |��������������������������������������������������������������������������������������   scheint dabei klar auf die Pointe konzentriert, ohne zu plausibilisieren, warum der ansonsten so fähige Ritter hier überlistet wird. Vgl. dazu Bloh (2009: 217), die diese kompositionelle Schwäche auch als Merkmal des Märe insgesamt konstatiert.

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seinem »zagel« führt dabei zu einer deutlichen Thematisierung geschlechtlicher Ordnung, so spricht sein Genital zu seiner Verteidigung:31 »kund ir des nit verstan? euch ist manig gruß gegeben oft und dick von meinen wegen und habt zwor wirde und ere werlich von mir mere, dan von dem deursten kleinot, das ir an euwerm leip irgen habt, und habt mich des noch nie ergetzet.« (Das Nonnenturnier: V. 186–193)

Der Zagel macht hier deutlich, welche Bedeutung er für den Ritter hat, und obwohl im Vordergrund ganz wesentlich die Frage der weiblichen Zuneigung diskutiert wird, klingt in der Aussage des Zagels mehr an; wenn er aussagt, er sei der wertvollste Schmuck des Ritters und der Grund für die Zuschreibung seines Ansehens, so findet hier klar eine Rückbindung der gesellschaftlichen Position als Mann an die körperlichen Attribute der Männlichkeit statt. Ein Zusammenhang, der umso mehr durch den Fortgang der Erzählung deutlich wird. Der Ritter nämlich zeigt sich allen Argumenten seines Anhängsels gegenüber unbewegt und entmannt sich kurzerhand selbst. Nachdem die Damen der Umgebung davon erfahren, wird er unter Schlägen und Tritten von ihnen aus der Stadt getrieben und fristet in jämmerlichem Elend im Wald sein restliches Dasein. So verliert er seine gesellschaftliche Position völlig und wird als Geschlechtloser ausgestoßen – wohlgemerkt durch eine große Zahl von Frauen, die ihn sicherlich in ihrer Überzahl auch mit seinem Anhängsel hätten besiegen können, sich aber nun erst in der legitimen Position dazu befinden. Der Zagel unterdessen gelangt in einen Nonnenkonvent. Dort hält er sich zunächst im Verborgenen, um der erwartbaren Feindschaft der Bewohnerinnen zu entgehen. Als er das Verstecken leid ist, zeigt er sich und der zweite Teil des Märe nimmt seinen Lauf. Die Nonnen versuchen nicht etwa den verbotenen Eindringling aus ihrer Mitte zu entfernen, sondern sie streben – jede für sich – danach ihn, in ihren Besitz zu überführen. Die Konkurrenzsituation geht bald in unmittelbare Auseinandersetzungen über, die im Rahmen eines »Turniers« geordnet werden sollen. Die Aussicht auf die Inbesitznahme des Zagels aber lässt das inszenierte Kampfgeschehen in Unordnung ausarten: 31 |��������������������������������������������������������������������������   mittelhochdeutschen Literatur, steht dabei aber keinesfalls isoliert, sondern lässt sich in eine Reihe vergleichbarer Geschichten von sprechenden und handelnden Geschlechtsteilen einordnen; vgl. dazu die Erläuterungen bei Dicke (2002: 281–290) zu »anthropomorphisierte[n] Genitalien«.

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D ominik S chuh Da hub sich ein also getans reißen von kratzen und von beißen, das sie kurren als die seuwe. manig rittermessig frauwe die grienen vast als die swein, und möcht auch anders nit gesein. […] Der zagel wart undergeslagen und dieplich auß dem turnei getragen und were des selben nicht geschehen (seit ich die warheit muß jehen) in dem geistlichen orden, der turnei were zu einem streit worden. (Das Nonnenturnier: V. 513–518 u. 563–568).

Statt in regelgemäßen Kämpfen eine Siegerin zu bestimmen, verfallen die geistlichen Damen in eine wilde, ungezügelte Rauferei, die sie mit ganzem Körpereinsatz, mit Nägeln und Zähnen führen. Der Verweis auf die ritterbürtige, adlige Herkunft der Beteiligten streicht die tierische Zügellosigkeit ihres Verhaltens deutlich heraus. Der geburtsständischen Turnierfähigkeit steht offenkundig eine praktische Unfähigkeit zum geordneten, spielerischen Kampf gegenüber. Das Turnier als männliche Wettbewerbsform der höfischen Gesellschaft muss hier zur Groteske verformt werden, die durch ihr ungezügeltes sexuelles Begehren getriebenen Damen können zwar Bezug auf diese Form nehmen, sie aber nicht umsetzen. Ihr Kampf um das männliche Geschlecht selbst bleibt ohne Ergebnis, denn auch die ›Siegerin‹ wird durch einen Regelbruch bestimmt, als eine der Beteiligten mit dem Zagel flieht. Mit dem Verweis, das Turnier hätte sich bei Fortführung zu einem ›Streit‹ ausgewachsen, wird nochmals die Gefahr der Entgrenzung des Kampfspiels aufgerufen. Das folgende Beklagen der eigenen Verletzungen steht im klaren Gegensatz zu Härte und Duldsamkeit, die männlichen Turnierteilnehmern zugeschrieben und abverlangt wird (wie sie etwa Geoffroi de Charny einfordert [s. o.]). Dass ein von (geistlichen) Frauen geführtes Turnier in der völligen Auflösung aller Regeln und Normen des Kampfspiels führt, belegt ex negativo die besondere geschlechtliche Qualität dieser Ausformung männlichen Wettbewerbes.

Fazit Das Turnier als repräsentative Praxis Die vorliegenden literarischen Beispiele, wie ihre historische und theoretische Kontextualisierung, können sicherlich kein umfassendes und abschließendes Bild des Turniers als einer Praxis männlichen Wettbewerbs bieten (schon diese Verallgemeinerung beinhaltet einige Unschärfe [s. o.]), einige abschließende

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Thesen erscheinen mir jedoch hinreichend plausibilisiert: Das Turnier kann als eine körperliche Kulturpraktik verstanden werden, die in ihren Wandlungsprozessen und ihren jeweilig konkreten Aufführungen stetig Bezug auf literarische Vorbilder nimmt; zugleich nimmt die Literatur Turniere immer wieder als Handlungsrahmen und höfische Schlüsselereignisse auf und verknüpft sie vor allem explizit mit geschlechtlichen Praktiken – mit Liebe und Sexualität. In der gesellschaftlichen wie literarischen Praxis der ritterlich-adligen Welt besetzt das Turnier damit die Funktion eines Repräsentations- und Reproduktionsorts geschlechtlicher Ordnung, insofern in ihm männliche und weibliche Ideale eingefordert und ausgestellt und wesentliche Zuschreibungen wirkungsvoll ins Bild gesetzt werden. Über die schlichte Dichotomie von Mann/Frau, männlich/ weiblich wird dabei stets auch die feudale Herrschaftsordnung repräsentiert; ist hier also von idealer Weiblichkeit oder Männlichkeit die Rede, so kann es sich stets nur um ideale adlige Weiblichkeit/Männlichkeit handeln. Wo dem Adelsstand fremde Personengruppen in Erscheinung treten, werden sie als Abwesende oder als Fehlplatzierte markiert. Ihre Marginalisierung verdeutlicht die herrschaftliche Bedeutung des Turniers. Dies gilt im Sinne der Prinzipien der »männlichen Herrschaft« im besonderen Maße für die Gruppe der beteiligten Männer. Liegt doch eine zu betonende Qualität des Turniers darin, dass sie das prägende männliche Tätigkeitsmuster des ritterlichen Adels exponierbar macht: kriegerisches, gewalttätiges Handeln unter Ehrgleichen. Findet kriegerisches Geschehen gemeinhin im gesellschaftlichen Außenraum, jenseits der höfischen Gesellschaft statt und kann so nur in Erzählungen – oder bildlichen Darstellungen – wirksam präsentiert werden, so bietet das Turnier die Möglichkeit, vor den Augen der Gesellschaft und unter – zumindest passiver – Teilhabe des anderen Geschlechts, kriegerisch tätig zu werden. Der Krieg kann zum Spiel gezähmt zum Ehrerwerb in Friedenszeiten fortgesetzt werden. Wird so der homosoziale männliche Handlungsraum des Kampfes dem weiblichen Adel zu einem gewissen Teil verfügbar gemacht, bleibt doch eine klare geschlechtliche Grenze bestehen. Frauen sind hier zwar funktional, als Zuschauerinnen und »schmeichelnde Spiegel«, mitgedacht und integriert, als Akteurinnen ist ihnen jedoch keiner oder zumindest ein äußerst eingeschränkter Handlungshorizont zugewiesen. Es liegt an ihnen (vgl. Charny 1996: 121 [s. o.]), die Wertungsmuster des männlichen Wettbewerbs zu übernehmen und ihre Zuneigung denjenigen zuzuerkennen, die sich in der homosozialen Auseinandersetzung durchsetzen oder zumindest bewähren können. Indem das Ansehen der (bewertenden) Frau an dasjenige des (erwählten) Mannes gebunden wird, wird zugleich im Sinne der symbolischen Gewalt durch sanften Druck die Entscheidung im Sinne der männlichen Ordnung beeinflusst. Die besondere öffentliche Form des Turniers, bestätigt mit großer Aufmerksamkeit in stetiger Abfolge ebenjene Erwartungen an das geschlechtlich angemessene Verhalten adliger Männer wie Frauen und prägt so nichts zuletzt die adlige Jugend, die in

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dieses gesellschaftliche Ordnungssystem hineinwächst. Das Streben nach der erlebten Hochschätzung ritterlicher Männer im Rahmen der direkten Ausstellung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit machte das Turnier bei allem spielerischen Ernst zur beliebten Inszenierung und zu einem Sinnbild ritterlichen Lebens, das bis heute Bestand hat. Indeed they are worthy of praise; nevertheless he who does more is of greater worth. (Charny 1996: 87)

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»Ist ez ein si oder ein er?« Geschlechterbilder in spätmittelalterlichen Verserzählungen Andrea Schallenberg

Grenzüberschreitungen Szene 1: Eine Frau reist, als Mann verkleidet, nach London, um ihren dort im Gefängnis einsitzenden Ehegatten zu befreien; Grund für die Gefangenschaft ist ein Ehebruch mit einer schönen Engländerin, die selbst wiederum verheiratet ist (Ritter Alexander). Szene 2: Ein Mönch flüchtet aus der klösterlichen Gemeinschaft, weil er glaubt, schwanger zu sein; um nicht in Ungnade zu fallen, versucht er einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen (Der Zwickauer: Des Mönches Not). Szene 3: In einem Nonnenkloster entbrennt ein weiblicher Turnierkampf um ein isoliertes, von dem Körper eines Ritters in einer Selbstkastration abgetrenntes männliches Genitale, das sich frei flottierend durch das Klostergebäude bewegt (Das Nonnenturnier). Szene 4: Ein berühmter Philosoph der griechischen Antike  – Aristoteles  – unterliegt der Verführungskunst einer jungen Dame und trägt sie im Vierfüßlerstand auf dem Rücken in der Öffentlichkeit spazieren (Aristoteles und Phyllis). Szene 5: »Ist ez ein si oder ein er?« (V. 39), ›Handelt es sich um ein weibliches oder ein männliches Wesen?‹, fragt ein Kind seinen Vater, als dieser ihm von einem sich herumtreibenden Fabelwesen erzählt; die scheinbar belanglose Frage bleibt offen und unbeantwortet und hinterlässt das furchtsame Kind im Ungewissen ob dessen geschlechtlicher Zugehörigkeit und Identität (Berchta).

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All diese Szenarien entsprechen nicht eben den typischen Bildern von Mann und Frau, den überlieferten Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses, die wir gemeinhin mit der christlichen Kultur des europäischen Mittelalters assoziieren. Zu erwarten wären vielleicht das Bild einer dem Ehemann in Treue ergebenen Ehefrau; die Darstellung einer konsequenten Hierarchie zwischen den Geschlechtern mit einem obligaten Herrschaftsanspruch des Mannes; die Schilderung von Geistlichen und Gelehrten, die, ohne jeden Bezug zu diesseitigen Gelüsten, fromm und gottesfürchtig ein asexuell orientiertes Leben abgeschirmt hinter hohen Klostermauern verbringen; schließlich klare Definitionen darüber, was männlich und was weiblich ist oder zumindest darüber, wie es nach gesellschaftlichen Normen eben zu sein hat. All diese Geschlechterszenarien sind indes Situationen, von denen in der mittelhochdeutschen Literatur de facto in epischer Breite erzählt wird. Der literarische Ort, an dem dies geschieht, ist die fiktive Welt eines neuen Text­typs, der in der literarischen Landschaft des Mittelhochdeutschen um 1200 erstmalig in Erscheinung tritt und sich rasant zu verbreiten beginnt – die mittelhochdeutsche Verserzählung.1 Auch wenn wir in diesem fiktionalen Genre, dies sei hier ausdrücklich betont, auch und vielleicht sogar überwiegend konventionelle Darstellungen der Geschlechterthematik finden, so stellt sich dennoch die Frage, warum sich gerade in der mittelhochdeutschen Verserzählung solch exaltierte, mitunter gar bizarr anmutende Konstellationen, wie ich sie eingangs angeführt habe, in auffälliger Häufigkeit finden lassen. Und es schließt sich die Frage an, ob die skizzierten Grenzüberschreitungen geschlechtlicher Ordnungsmuster die zeitgenössischen Rezipientinnen und Rezipienten in gleicher Weise zu desorientieren beabsichtigen, wie das Kind in der erwähnten Verserzählung über Berchta, das von seinem Vater nicht weiter aufgeklärt und im Ungewissen belassen wird.

Geschlechterdifferenz in der mittelhochdeutschen Verserzählung Zunächst möchte ich das in Rede stehende Korpus kurz vorstellen. Bei der mittelhochdeutschen Verserzählung handelt es sich um einen literarischen Texttyp, der in der germanistischen Mediävistik auch als ›Märe‹, ›Versnovelle‹ oder ›Kurzerzählung‹ bezeichnet wird; er umfasst eine Gruppe von ca. 220 Texten, die, jeweils in Reimpaarversen verfasst, also metrisch gebunden, der welt­lichen 1 | In einem breiteren Kontext habe ich die Bedeutung der Geschlechterdifferenz in den und für die mittelhochdeutschen Verserzählungen in meiner Dissertation untersucht, auf deren Ergebnisse ich in diesem Aufsatz inhaltlich punktuell zurückgreife (Schallenberg 2012).

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Kleinepik des späten 12. bis frühen 16. Jahrhunderts zuzurechnen sind; ihr Umfang ist begrenzt, der einzelne Text kann zwischen ca. 150 und ca. 2.000 Versen umfassen. Typisch ist die Überlieferung in größeren Sammelhandschriften, die aus dem späten 13. bis frühen 16. Jahrhundert datieren. In diesen Sammelhandschriften bilden die Verserzählungen allerdings keine geschlossene Gruppe, sondern stehen mehr oder weniger unvermittelt neben anderen zeitgenössischen Genres und Texttypen der Kleinepik wie Fabeln, Legenden u. Ä. Vermutlich sind sie zunächst auf einzelnen Pergamentblättern verschriftlicht worden, bevor man sie später in Sammelhandschriften zusammengefasst hat. Lediglich einige späte Stücke liegen schließlich auch in Form von Frühdrucken vor. Bis auf wenige Ausnahmen ist die Überlieferung der Texte anonym, die bekanntesten Autoren sind der Stricker, Heinrich Kaufringer, Konrad von Würzburg oder Hans Rosenplüt. Die mittelhochdeutschen Verserzählungen stehen literaturgeschichtlich betrachtet nicht allein, in etwa zeitgleich entstehen zumindest dem Ansatz nach ähnliche Texte auch in den anderen volkssprachlichen Literaturen Europas, verwiesen sei hier nur auf die altfranzösischen Fabliaux, die englischen Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer oder das italienische Decamerone von Giovanni di Boccaccio, welches in der Literaturwissenschaft gemeinhin als gattungsprägender Vorläufer der modernen Novellistik gilt. Außerdem knüpft die mittelhochdeutsche Verserzählung an die Tradition der lateinischen Exempelliteratur an, greift vielfach aber auch Themen und narrative Strukturen der volkssprachlichen höfischen Literatur um 1200 auf. Das soziale Milieu der in den erzählten Geschichten auftretenden Personen bezieht sich auf adlig-höfische, klerikale, städtisch-bürgerliche wie auch auf dörflich-bäuerliche Kontexte.2 Auch wenn die Diskussion um den gattungspoetologischen Status der mittelhochdeutschen Verserzählungen noch an­dauert, so kristallisiert sich zwischenzeitlich jedoch eine jüngere Forschungstendenz heraus, welche den von der älteren Forschung stärker betonten didaktischen und exemplarischen, also dominant lehrhaften Anspruch der Verserzählungen eher zurücktreten lässt, wie er vor dem Hintergrund eines omnipräsenten theologischen Werte­kosmos in der Regel typisch ist für die mittelalterliche Literatur. Vielfach wurde in der älteren Forschung ein besonderes Augenmerk auf das Promythion gelegt, das die eigentliche Erzählung einleiten kann, und/oder das Epimythion, das die Narratio häufig abschließt; diese beiden Bestandteile des Textes beinhalten häu2 | Einen Überblick über Grundlagen und Forschungsstand zur mittelalterlichen Novel­ listik in komparatistischer Perspektive bietet Grubmüller 2006b: 17–39 et passim, vgl. des Weiteren den Sammelband Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext (Chinca/Reuvekamp-Felber/Young 2006), zur mittelhochdeutschen Verserzählung vgl. grundlegend etwa Fischer 1983, Schulz-Grobert 2002 u. Ehrismann 2011: 56–82; zu aktuell entwickelten Editionsprinzipien für die mittelhochdeutsche Novellistik vgl. Ridder/Sappler/Ziegeler 2010.

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fig allgemeine Reflexionen des Erzählers, nicht selten mit wertendem, kommentierendem Gestus unter moralischen Gesichtspunkten.3 Gegenüber dem Anspruch auf Lehrhaftigkeit betont die neuere Forschung grosso modo indes die unterhaltende Intention und den experimentellen Charakter der Verserzählungen. Sie kennzeichnet die erzählerische Innovationsfreude und die spielerischen Freiräume im Hinblick auf die dargestellten Inhalte als ein besonderes Signum des literarischen Texttyps.4 Im Anschluss an diese zunächst gattungspoetologischen Erkenntnisse bietet es sich natürlich an, auf einer inhaltlichen Ebene zu untersuchen, ob sich solche spielerischen Freiräume auch im Hinblick auf den Geschlechterdiskurs in der erzählten Welt wiederfinden lassen, in dem Liebe, Ehe, Sexualität sowie das Verhältnis der Geschlechter eine dominante Thematik bilden. Während ältere Stu­dien zu diesem Themenkomplex vornehmlich stereotype Geschlechterbilder ermittelten – so etwa die listige Frau, das ›übel wîp‹, die treue Gattin, den starken Ritter, den einfältigen Junggesellen, das naive Mädchen etc. – und somit den normativen und affirmativen Charakter der Verserzählungen hervorgehoben haben, wird heute in kulturwissenschaftlich wie erzähltheoretisch orientierten Studien zunehmend der innovative Charakter dieser kleinepischen Stücke auch und gerade im Umgang mit den fiktiven Ge­schlech­terkonstruktionen fokussiert.5 Zur Veranschaulichung der Art und Weise, wie die Verserzählungen mit tradierten Geschlechterbildern umgehen, sei an dieser Stelle zunächst beispielhaft auf einen besonders plakativen Text aus dem Komplex der sog. cross-dressingGeschichten eingegangen. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Texten innerhalb des Korpus, in denen geschlechtliche Grenzüberschreitungen in Form von Verkleidungen eines Mannes als Frau bzw. einer Frau als Mann auserzählt werden (zu dieser besonderen Textgruppe innerhalb des Korpus der mittelhochdeutschen Verserzählungen vgl. Schallenberg 2012: 285–354). Ich wähle hier die späte Verserzählung Die historien von dem ritter Beringer, die nur einfach

3 | Zur Auseinandersetzung zwischen einer konservativeren und einer avancierteren Lesart des Genres, die an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet werden kann, vgl. den Forschungsüberblick bei Schallenberg 2012: 14–32. 4 | Nur beispielhaft sei hier auf die Studien von Udo Friedrich (1996; 2005; 2006) oder Christian Kiening (2008) verwiesen; vgl. auch den Forschungsüberblick zu entsprechenden neueren Untersuchungen bei Kiening 2008: 323–327. 5 | Vgl. hierzu im Überblick Schallenberg 2012: 33–45; exemplarisch können für die ältere Forschungsrichtung etwa die Arbeiten von Londner (1973) oder Jonas (1986) angeführt werden; für die neuere Forschung mögen beispielhaft die Studien von Mireille Schnyder (2000a; 2000b; 2006a; 2006b) stehen.

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in einem Inkunabeldruck von 1465 überliefert ist.6 In dieser Erzählung – ich verkürze im Folgenden stark – überführt eine adlige Ehefrau ihren Ehemann, der in der Öffentlichkeit und zu Hause stets mit seinen auswärtigen ritterlichen Kampferfolgen prahlt, sich tatsächlich jedoch jeglicher Bewährungssituation entzieht, der Lüge; dies gelingt ihr, indem sie ihm auf einer vermeintlichen Turnierfahrt hinterherspioniert. Zu diesem Zweck verkleidet sie sich selbst als Mann – ein absoluter Tabubruch in der christlich-mittelalterlichen Kultur – und besiegt und degradiert ihren Ehemann unerkannt in einem ritterlichen Schlagabtausch. Nach seiner Rückkehr kann sie ihn durch eine verdeckte Anspielung auf diese Niederlage so einschüchtern, dass der ehemals übellaunige und missgünstige Gatte nun zu einem vorbildlichen, zuvorkommenden Ehemann mutiert. An dieser Geschichte wird eine für das Genre typische Ambivalenz in der Zeichnung des Geschlechterverhältnisses sichtbar: Zunächst zeigt die Handlung, wie eine weibliche Figur, die hintergangene Ehefrau, durch eine bewusste Überschreitung der tradierten Geschlechtergrenzen, nämlich das tabuisierte cross dressing, d. h. ihre Verkleidung als Mann, neue Handlungsspielräume gewinnt. Dies geschieht zum einen ganz konkret dadurch, dass es ihr ermöglicht wird, allein auf Reisen zu gehen, zum anderen auf einer sozialen Ebene, indem sie nun ihrem Mann auf gleicher Augenhöhe begegnen und ihm so sein Fehlverhalten verdeutlichen kann. Im Ergebnis allerdings bleibt der gewonnene Handlungsspielraum begrenzt, insofern die eheliche Ordnung, die am Ende der Geschichte wiederhergestellt wird, wenngleich auch auf einem höheren, verbesserten Niveau der Beziehung der Ehepartner untereinander, weiterhin den unhintergehbaren Rahmen für das Geschlechterverhältnis bildet, dessen hierarchische Struktur im Endeffekt nicht im Geringsten angetastet wird (vgl. ähnlich Hotchkiss 1996: 99 f. u. Wenzel 2003).

Gewalt, Sprache und Geschlecht Diese allgemeinen Reflexionen zur Darstellung des Geschlechterverhältnisses in den mittelhochdeutschen Verserzählungen möchte ich im Folgenden vertiefend anhand des Themenkomplexes der Gewalt erläutern. Dabei gehe ich vergleichend auf zwei Erzählungen ein, die den Beginn sowie ein späteres Stadium der Gattungsgeschichte repräsentieren, nämlich zum einen auf Das heiße Eisen des Strickers, entstanden im Zeitraum zwischen 1220 und 1250, sowie 6 | Zu Überlieferung und grundlegender literaturgeschichtlicher Einordnung des Textes vgl. Williams-Krapp 1978 und Grubmüller 1996: 1107–1110. Inhaltlich analysierend vgl. zuletzt Schallenberg 2012: 314–330 (mit weiterführenden Literaturangaben), darüber hinaus Losert 2008: 68–70.

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den Feigen Ehemann von Heinrich Kaufringer aus der Stadt Landsberg am Lech, entstanden etwa um 1400. Gewalt jeglicher Couleur ist ein prominentes Thema in dem in Rede stehenden Textkorpus. Christian Kiening hat die Verserzählungen unlängst als Texte beschrieben, »die sich selbst Aufmerksamkeit verschaffen, indem sie körperliche und verbale Gewalttätigkeiten sowohl ausstellen als auch verschränken« (Kiening 2008: 323); in diesem Zusammenhang hebt er auch die im weitesten Sinne modellhafte Wirkung der fiktiven Texte hervor (vgl. ebd.). Klaus Grubmüller betont in seiner Gattungsgeschichte zur mittelalterlichen Novellistik darüber hinaus, dass in den mittelhochdeutschen Verserzählungen eine exzessive Darstellung von Gewalt ansichtig werde, wie sie in dieser Form in den altfranzösischen Fabliaux nicht erkennbar sei; in der Regel erscheine die Darstellung von körperlicher Gewalt mit dem Ziel einer zeichenhaften Markierung des Körpers oder von Körperteilen im Rahmen einer Strafmaßnahme oder ähnlicher Sanktionierungen von Ordnungsverstößen, zuweilen aber auch in einer mehr oder weniger funktionslosen Art und Weise, gleichsam im Sinne eines literarischen Überschusses (Grubmüller 2006b: 213–223).7 Dass die vielfältigen Darstellungen von Gewalt, wie sie in den Texten sichtbar werden, klar gegendert sind, hat insbesondere Mireille Schnyder in ihren Analysen zu verschiedenen mittelhochdeutschen Verserzählung herausgearbeitet. Sie beschreibt das Verhältnis von Sprache (vgl. zur rhetorischen Gestaltung der mittelhochdeutschen Verserzählungen allgemein: Friedrich 2005), Gewalt und Geschlecht dabei folgendermaßen: Immer wieder ist es die mehr oder weniger geistreiche Sprachgewalt der Frau, der der Mann nicht beikommen kann, bevor er sie nicht auf die deftigste Körperlichkeit herab­ zieht, um da dann die Frau zu überwältigen. […] So geht es immer auch darum, die Frau mundtot zu machen, ihr diese Waffe zu nehmen, gegen die der Mann nicht ankommt. Dabei wird die Sprache der Frau […] als Ausdruck und Mittel ihrer Sexualität gesehen, als sublimierte Form ihres übermäßigen Begehrens (Schnyder 2000a: 274 f.). 8

Nach diesem Modell wird also die Geschlechterhierarchie zunächst durch die (ggf. sexuell konnotierte) Sprachgewalt der weiblichen Figuren scheinbar oder vorläufig umgekehrt, indem es ihnen gelingt, durch die Sprache eine dominan7 | Des Weiteren haben sich mit Aspekten der Darstellung von Gewalt in den mittelhochdeutschen Verserzählungen in jüngerer Zeit u. a. Keller 1999, Classen 2000, Kellner 2004, Altpeter-Jones 2007, Siefkes 2008, Ackermann 2009 und González Miranda 2011 befasst. 8 | Mireille Schnyder zeigt dies für Die halbe Birne (A) (Schnyder 2000a), ähnliche Konstellationen weist sie bei Turandot von Heinz dem Kellner (Schnyder 2000b) sowie dem Rädlein von Johannes von Freiberg nach (Schnyder 2006a; 2006b).

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te Rolle einzunehmen. Dieser Usurpation im Sinne einer Anwendung einer Art von sprachlicher Gewalt (zur Ausdifferenzierung des Phänomens der ›sprachlichen Gewalt‹ in philosophischer Sicht vgl. Krämer 2010) folgt jedoch nach dem Ansatz von Schnyder eine männliche Gegenreaktion, nämlich das Abtöten der weiblichen Stimme, die durch einen männlichen Gegenspieler auf der Handlungsebene förmlich zum Schweigen gebracht wird, sodass der ursprüngliche Zustand der Geschlechterhierarchie – mit einer Dominanz des Mannes – wiederhergestellt ist. Buchstäblich wird dies praktiziert in der Verserzählung Die Rache des Ehemannes, ebenfalls von Heinrich Kaufringer, wenn dort einer Ehefrau, die einen Ehebruch begangen hat, von ihrem düpierten Liebhaber die Zunge abgebissen wird, wozu ihn der betrogene Ehemann zuvor gezwungen hat:9 »[S]i ward irer red beraubt. / […] / die fraw was in der stumen schar. / si sprach: ›läll läll‹ und anders niht; / das was da irer sprache pflicht. / ›läll läll läll läll‹ schrai si ser. / anders kunt si nit reden mer« (Die Rache des Ehemannes: V. 391 u. 396–400 [»sie war ihrer Sprache beraubt. / (…) / Die Frau gehörte jetzt zu den Stummen. / Sie sagte: ›läll, läll‹ und sonst nichts; / das war das, was sie sagen konnte. / ›läll, läll, läll, läll‹, rief sie laut. / Sonst konnte sie nichts mehr sagen.« Grubmüller 1996: 759 u. 761]).10 Dieses Verfahren, die weibliche Stimme zum Schweigen zu bringen, ist jedoch nach Schnyder nicht das einzige Mittel, um die in der fiktiven Welt der Verserzählungen als sprachgewaltig vorgestellte Frau zu entmachten. Die imaginierte Erzählung bzw. das Medium der Schrift nämlich, welches auf einer Metaebene der Kompetenz des als männlich zu denkenden Erzählers zugeschrieben werde, biete eine weitere Variante, so Schnyder, um die weibliche Sprachgewalt einzudämmen (vgl. Schnyder 2000a: S. 276 f.; 2006a: 119–121; 2006b: 529–531). Wie ist dies konkret zu verstehen? Zum einen lässt sich diese These verifizieren mittels etlicher Verserzählungen, in denen auf der Handlungsebene ein Frauenkörper mit Zeichen beschriftet und somit einer männlichen Deutungshoheit unterstellt wird (vgl. hierzu Schallenberg 2012: 144–169, zusammenfassend: 168 f.). Zum anderen geschieht dies, wie Mireille Schnyder dargelegt hat, 9 | Auf diese für den Kontext einschlägige Textstelle verweist auch Müller 2008: 145. In ihrem Aufsatz zu Sprachgewalt und Gewaltsprache in mittelalterlichen Mären untersucht sie die Darstellung von Gewaltakten in mittelhochdeutschen Verserzählungen vor dem Hintergrund der Sprechakttheorie. 10  |  Hier und im Folgenden ziehe ich zum besseren Verständnis bei mittel­h ochdeutschen Zitaten aus den Texten von Kaufringer und dem Stricker die neuhochdeutschen Übersetzungen von Klaus Grubmüller aus seiner Novellistik-Edition (Grubmüller 1996) ergänzend heran. Den Stricker-Text zitiere ich nach der Ausgabe von Fischer 2000, die Kaufringer-Texte nach der Ausgabe von Grubmüller 1996.

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indem die weibliche Stimme auf der Darstellungsebene einverleibt und in den übergeordneten Kontext der schriftlichen Erzählung aufgehoben wird.11 Ohne an dieser Stelle weiter auf Details einzugehen, möchte ich die dargestellten Thesen im Folgenden anhand der genannten Beispiele analysierend überprüfen und weiterführen.

Der Stricker: Das heiße Eisen Bei dem ersten Text handelt es sich um die kurze, nur ca. 200 Verse umfassende Verserzählung Das heiße Eisen von dem Stricker, einem Autor, der literaturhistorisch betrachtet als ›Gründungsvater‹ des mittelhochdeutschen Genres zu Beginn des 13. Jahrhunderts gilt. Der Text ist in sieben Handschriften überliefert und gehört damit zu den verbreitetsten strickerschen Mären (zur Überlieferung vgl. Grubmüller 1996: 1038 f.). Das Heiße Eisen wird den sog. Ehestandsmären des Strickers zugerechnet; es handelt sich dabei um Texte, in denen das Geschlechterverhältnis im Rahmen der christlich geprägten Ehe thematisch im Mittelpunkt steht, welche hier als Mikrokosmos einer universalen göttlichen Ordnung figuriert. Das Motiv der Gewaltausübung findet in diesen Text Eingang vermittels der Schilderung einer Feuerprobe als einem juristischen Gottesurteil. Bei dieser rechtlich-religiösen Praxis des Mittelalters, die in historischen wie literarischen Quellen bezeugt ist, musste der oder die Beschuldigte ein Stück Eisen tragen, das zuvor zum Glühen gebracht worden war. Ein Zeichen Gottes sollte dann Schuld oder Unschuld des Angeklagten verbürgen.12 In der Erzählung des Strickers geht es indessen nicht um einen Rechtsfall, bei dem das Gottesurteil herangezogen wird, sondern um eine eheliche Auseinandersetzung in Bezug auf einen vermuteten Ehebruch, es wird also gleichsam in den Bereich des Zwischenmenschlichen hineinverlagert. Der Text fokussiert einen ehelichen Konflikt, bei dem eine Ehefrau ihren Ehemann ohne einen konkreten Anlass dazu zwingt, sich einem solchen Gottesurteil zu unterziehen, weil sie einen Beweis für seine Liebe und Treue haben möchte; der Mann verlangt im Gegenzug das Gleiche von seiner Frau.

11 |�����������������������������������������������������������������������������   auf, so z. B. wie der gemeinsame Verzicht auf Sprache das Geschlechterverhältnis in einer Ehebeziehung befrieden oder wie die Sprachpotenz einer Ehefrau eine Ehebruch­ situation entschärfen kann (vgl. so für das Ehescheidungsgespräch des Strickers bzw. Die zurückgelassene Hose von Heinrich Kaufringer Ackermann 2009: 172). 12 |�����������������������������������������������������������������������������   Darstellung des Gottesurteils in der mittelhochdeutschen Literatur Ziegler 2004.

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Der Text setzt ein mit einer für den Stricker typischen Eingangsformel: »Ein wîp sprach wider ir man« (Das heiße Eisen: V. 1 [»Eine Frau sagte zu ihrem Mann«; Grubmüller 1996: 45]).13 Dieser Eingangsvers markiert das aktive Vorgehen der Frau, die in dieser Verserzählung, die zu großen Teilen aus wörtlicher Rede aufgebaut ist (zur Dialogstruktur vgl. Werner 1966: insbes. 375–386), sprachlich dominiert. (Während die wörtliche Rede der Ehefrau 106 Verse umfasst, zählt die wörtliche Rede des Ehemannes 68 Verse.) Unter Berufung auf die gottgegebene Attraktivität ihres Ehemannes, der mit Schönheit und guten Eigenschaften reich begabt sei, fordert die Ehefrau ein Zeichen seiner Treue, das sie ihm mit liebevoller Ergebenheit vergelten wolle (vgl. Das heiße Eisen: V. 2–18). Als der Mann einwilligt (vgl. ebd.: V. 19–32), erhebt sie die Forderung, er müsse »daz heize îsen« (ebd.: V. 40) tragen, um die Größe seiner Liebe und seine Unschuld zu beweisen; verweigere er dies, so sei dies ein Zeichen dafür, dass er andere Frauen liebe, sie ihm aber ganz gleichgültig sei (vgl. ebd.: V. 33–50). Mit dieser Argumentation treibt sie ihn wortgewaltig in die Enge und stellt ihn vor ein scheinbar unausweichliches Ultimatum. Ohne zu zögern, willigt der Ehemann ein: Gott (vgl. ebd.: V. 59, ebenso V. 76), so sagt er, möge Zeuge für seine aufrichtige Treue sein (vgl. ebd.: V. 51– 63). Tatsächlich gelingt es dem Ehemann jedoch, sich durch einen Trick aus der Affäre zu ziehen, ohne dass seine Frau es bemerkt; denn er schafft es, sechs Schritte mit dem glühenden Eisenstück zu gehen, ohne seine Hand zu verbrennen, weil er zuvor heimlich ein Holzscheit in passender Größe in seinem Ärmel versteckt hat, das den unmittelbaren Hautkontakt mit dem glühenden Eisen verhindert und ihn vor einer Verbrennung schützt (vgl. ebd.: V. 70–83). Angesichts der Tatsache, dass seine Hand unversehrt, »schoene als ein golt« (ebd.: V. 87), aus der vermeintlichen Probe hervorgeht, muss die betrogene Ehepartnerin den Eindruck gewinnen, als habe das Urteil tatsächlich den Beweis seiner Treue erbracht (vgl. ebd.: V. 84–88). Die Rezipientinnen und Rezipienten, die hier einen deutlichen Wissensvorsprung vor der Protagonistin haben, werden an dieser Stelle jedoch im Ungewissen darüber gelassen, ob der Ehemann untreu war oder nicht, denn er unterzieht sich der geforderten Feuerprobe letztlich ja gar nicht. Möglicherweise will er mit dem Trick seine Untreue vertuschen (vgl. Ziegler 2004: 169), wenn wir davon ausgehen, dass die Feuerprobe in der fiktiven Welt des Strickers tatsächlich als aussagekräftiges Gottesurteil funktionieren soll. Des Weiteren könnte der Trick aber auch auf eine rationale Welthaltung des Ehemannes hindeuten, der seinen Körper – unabhängig von der Tatsache, ob er untreu ist oder nicht – durch die beschriebene Schutzmaßnahme einfach unverletzt wissen möchte,

13 |������������������������������������������������������������������������������������   Rede der Frau anhebt; vgl. Waltenberger 2005: 300.

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wenn er die Feuerprobe als göttliche Urteilsinstanz in ihrer funktionalen Wirkung in Frage stellt.14 Eine solche Deutung gewinnt an Plausibilität, wenn man die strickersche Erzählung mit motivverwandten Texten der lateinischen Exempelliteratur vergleicht, in denen der Feuerprobe eine magisch-metaphysische Wirkung zugeschrieben wird, z. B. bleibt eine Person bei der Feuerprobe unverletzt, nachdem sie zuvor gebeichtet hat, wird aber bei einem späteren Vergehen durch ein kaltes Stück Eisen verbrannt usw. (vgl. Grubmüller 1996: 1039 f.; Kragl 2008: 24); auch im Tristan Gottfrieds von Straßburg bleibt  – hier allerdings eingebettet in eine höchst komplexe Erzählsituation – die schuldhafte Isolde nach listiger Vorbereitung beim Tragen des glühenden Eisens unverletzt.15 Im weiteren Verlauf der Geschichte dreht nun der Ehemann den Spieß um. Die Ehefrau soll nun ihrerseits ihre Treue mit Hilfe der Feuerprobe unter Beweis stellen, er besteht einfach darauf, dass sie dies tut (vgl. Das heiße Eisen: V. 89–94, 102–111 u. 113–115). Die Ehefrau wiederum scheint an die Wirkmächtigkeit des Gottesurteils zu glauben, denn sie gesteht ihm in ihrer Not im Folgenden in einer wortreichen, sich inhaltlich steigernden Beichte ihre ehelichen Verfehlungen, nämlich Affären mit sechs anderen Männern (vgl. ebd.: V. 116–138, 141–154 u. 157–166). Außerdem verknüpft sie ihre Beichte mit einem Bestechungsversuch, wenn sie ihm noch »guoter pfunde dri« (ebd.: V. 158), also eine größere Geldsumme, verspricht, von deren Existenz ihr Mann bisher nichts gewusst habe, um so der Feuerprobe zu entgehen. In ihrer Argumentation rechtfertigt sie ihr Tun mit der Willensstärke von Männern, welche Gott den schwachen und wankelmütigen Frauen nicht habe zuteilwerden lassen, sodass sie für ihr Handeln keine Verantwortung trage (vgl. ebd.: V. 123–134). Aber trotz ihrer ausschweifenden rhetorischen Bemühungen16 vermag sie sich dem Gottesurteil nicht zu entziehen. Obwohl er ihr alle Fehltritte vergibt (vgl. ebd.: V. 139, 155 u. 167), zwingt ihr Mann sie nämlich mit einer verbalen Androhung körperlicher Gewalt zu der Feuerprobe und macht sie damit gleichsam mundtot, wenn er konstatiert: »›[…] / du hâst der rede genuoc getân. / gesprichestu tâlanc wort mê, / dune tragest mir das îsen ê, / zewâre ich tuon dir den tôt.‹ / dô muoste si swîgen durch nôt.« (Ebd.: V. 168–172 [»›(…) / Jetzt ist aber 14 |�����������������������������������������������������������������������������   Heiser hat jüngst, u. a. auch im Hinblick auf Das heiße Eisen, dafür plädiert, rationales Denken und Handeln als zentrales Anliegen der strickerschen Verserzählungen zu betrachten (Heiser 2008: 171–173). 15 |������������������������������������������������������   Heißen Eisen und dem Tristan im Sinne einer parodistischen Bearbeitung spekuliert Strasser 1980: 84–89, 106 f. 16 |���������������������������������������������������������������������������������   Vokabulars und einschlägiger Minneterminologie bediene; vgl. Grubmüller 1996: 1040.

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genug geredet. / Wenn du jetzt noch ein Wort sagst, / bevor Du das Eisen getragen hast, / dann nehme ich Dir wahrhaftig das Leben.‹ / Da mußte sie notgedrungen schweigen.« Grubmüller 1996: 53]) Indem der Ehemann der Ehefrau auf diese Weise das Wort abschneidet und ihr mit dem Tod droht, wendet sich das Blatt in dem ehelichen Machtkampf. Das Handeln des Mannes wird damit allerdings in ein fragwürdiges Licht gerückt, insofern er seine Frau überlistet und bewusst deren Verletzung einkalkuliert, sich selbst aber, wie gesagt, der Feuerprobe gar nicht erst aussetzt. Sei es, weil sie über die bereits gebeichteten Vergehen hinaus noch etwas anderes zu verbergen hat, sei es, weil die rechtliche Praxis des Gottesurteils fehlschlägt und somit als Aberglauben desavouiert werden soll – Ergebnis des nun einsetzenden Prozederes der Feuerprobe ist es, dass sich die Frau, nachdem sie das Eisen aufgenommen hat, so schwere Verbrennungen zuzieht, dass sie ihre ganze Hand verliert (vgl. Das heiße Eisen: V. 173–176). Eine Lesart des Textes würde sodann also folgendermaßen lauten: In der Logik des Gottesurteils, in dem die Rechtsordnung durch ein Zeichen Gottes garantiert werden soll, muss der Körper für das Verhalten des Beschuldigten einstehen, d. h. er wird stellvertretend für die ganze Person zur Rechenschaft gezogen. Der Verstoß der Ehefrau, mit dem das Gottesurteil in Zusammenhang gebracht wird, besteht hier möglicherweise in dem Ehebruch, den ihr der Mann allerdings zuvor verzeiht, zum anderen aber wohl auch in der rhetorischen Anmaßung und der Hybris, die in der Forderung ihres Treuebeweises liegen, oder auch in der Anmaßung, auf der Grundlage eigener Untreue selbst eine Treueprobe einzufordern (zu letzterer Variante vgl. Schnell 2001: 292; Tegeler 2001: 63; Grubmüller 2006b: 89). All diese Vergehen können als Verstoß gegen die mittelalterlichen Regeln ehelicher Ordnung gelesen werden, die nach christlicher Ehedoktrin für die Frau Unterordnung und Gehorsam gegenüber ihrem Mann vorsehen. Weil sich nach mittelalterlichem Verständnis in der von Gott gestifteten Institution der Ehe die gottgewollte Ordnung der Welt spiegelt, bedeuten die Vergehen zugleich einen Verstoß gegen den göttlichen ordo. Anders gesagt: Durch die Zeichenschrift der Verbrennung, die sich dem weiblichen Körper unwiederbringlich einprägt, wird ein Verstoß gegen die gesellschaftliche Ordnung spiegelbildlich gebrandmarkt und zugleich gesühnt. Von daher ist es auch kein Zufall, dass die ungefügige Ehefrau gerade die Aktivität und Macht symbolisierende Hand verliert; denn dieser Verlust zwingt sie körperlich in eben jene Rolle, die sie zuvor nicht hat einnehmen wollen, nämlich die einer passiven und gehorsamen Ehefrau. Zugleich führt der Verlust der Hand sie aber in eine noch stärkere Abhängigkeit von ihrem Ehemann. Damit ist die hoch komplizierte Geschichte aber noch nicht zu Ende. Denn der Ehemann schickt sich an, seine Frau zu verarzten und zu verbinden, nachdem sie ihre Hand verloren hat (vgl. Das heiße Eisen: V. 177–179). Bei dieser Darstellung steht möglicherweise eine Praxis im Hintergrund, die in der mit-

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telalterlichen Rechtskultur fester Bestandteil des Gottesurteils der Feuerprobe ist. Deren Regeln zufolge wird der Unschuldsbeweis nämlich nach drei Tagen erbracht, wenn ersichtlich ist, dass die entstandene Wunde des Probanden oder der Probandin verheilt (vgl. Strasser 1980: 87; Kragl 2008: 23, Anm. 36). Vor diesem Hintergrund wäre eine Verbrennung der Hand der Frau also ohnehin zu erwarten (eine in der Regel realistische Darstellung kann als Gattungsmerkmal der Verserzählungen gelten; zur Frage nach dem Realismus in der mittelhochdeutschen Verserzählung vgl. Fischer 1983: 128–137); interpretiert man den Text sodann unter Rückgriff auf dieses kulturhistorische Faktum, so wäre mit dem Wissen um ihre Verletzung quasi noch kein Erkenntnisgewinn über ihre Schuld oder Unschuld gewonnen. Die Forschung ist sich allerdings uneinig darüber, ob dieser Brauch auch für die strickersche Verserzählung in Anschlag gebracht werden kann.17 Erstaunlich ist nun aber das Verhalten der Ehefrau: Anstatt Reue zu zeigen, weist sie ihren Mann bei dem Versuch, sie zu verbinden, harsch zurück und macht sich somit wiederum die Sprachgewalt, die ihr zuvor entzogen worden ist, zunutze, um ihre eigene Position in dem ehelichen Konflikt, den sie selbst durch ihr Sprachhandeln ausgelöst hat, wieder zu stärken: »[S]i sprach: ›waz hilfet daz bant?  /  mir ist diu hant sô gar verbrant,  /  daz sie mir nu niemer mê / ze nutze werden mac als ê.‹« (Das heiße Eisen: V. 181–184 [»Sie sagte: ›Was hilft der Verband? / Meine Hand ist vollständig verbrannt; / ich werde sie nie mehr / so gebrauchen können wie früher.‹« Grubmüller 1996: 55]) Geht man davon aus, dass die besagte Rechtspraxis einer Dreitagesfrist bis zur Vollendung des Gottesurteils hier im Hintergrund steht, so ist das Verhalten der Ehefrau als Versuch zu werten, gegen die Autorität des Mannes aufzubegehren und sich der gesellschaftlichen, rechtlichen und göttlichen Ordnung, in der diese verankert ist, mit Hilfe der Sprache gänzlich zu entziehen.18 Eine solche Lesart würde auch den merkwürdigen Befund erklären, dass der Ehemann angesichts dieser Weigerung einen Wutausbruch bekommt und eine Hasstirade über seine Frau ergießt (vgl. Das heiße Eisen: V. 185–198). Auffällig ist, dass er erst jetzt, in diesem Moment, in heftigen Zorn gerät (es ist die einzige beschriebene Emotion in dem Text; vgl. Haferland 2013: 115), und nicht schon zuvor, nämlich bei der Beichte seiner Frau oder bei der zeichenbeladenen Verbrennung ihrer Hand. Resultieren die ehelichen Verfehlungen der Frau 17 | Ein Teil der Forschung betont, dass der Stricker der Beweiskraft des Gottesurteils kritisch gegenüberstehe bzw. dessen Untauglichkeit aufweisen wolle, vgl. so zuletzt z. B. Witthöft 2004; 289, Kragl 2008: 23 f., 28–30. 18 | Insofern meine ich nicht, dass der betrügerische Ehemann als ›Sieger‹ aus dem Konflikt hervorgeht und es ein zentraler Aspekt der Erzählung sei, die Naivität (oder gar Boshaftigkeit) der Frau vorzuführen; diese These vertreten im weitesten Sinne Werner 1966: 387–389; Waltenberger 2005: 300; Kragl 2008: 23 f.

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aus einer verzeihbaren menschlichen Schwäche, bezeugt ihre grundsätzliche Infragestellung des Gottesurteils einen bewussten Akt der Auflehnung, der für den Mann offensichtlich nicht hinnehmbar ist.19 Die Geschichte endet somit in einem Fiasko – ausgehend von einem erzwungenen Beweis für die gegenseitige Liebe und Treue bricht die eheliche Gemeinschaft auseinander und verharrt im Konflikt. Das Gottesurteil, das ursprünglich die Intaktheit der Ehe verbürgen sollte, hat den gegenteiligen Beweis erbracht und die Brüchigkeit der ehelichen Verbindung erst in ihrem vollen Ausmaß offenbart. Auch der männliche Herrschaftsanspruch in der Ehe wird am Ende nicht eingelöst. Welcher der beiden Ehepartner sich im Verlauf der Ereignisse stärker ins Unrecht setzt, lässt die Erzählung somit offen und überlässt das Urteil den Rezipientinnen und Rezipienten.20 Eine eindeutige Variante bietet allein der unikal überlieferte Schluss in der Handschrift p (Gräflich Schönbornsche Bibliothek Pommersfelden Cod. 2798, Papier, 1373; sie enthält von den strickerschen Verserzählungen nur Das heiße Eisen; zur Fassung in p vgl. Schnell 2001: 292 f.; Kragl 2008: 30 f.). Hier wird als Lehre in einem Epimythion das Verhalten der Frau angeprangert, die bei ihrem Mann vorschnell und unüberlegt nach einem Fehlverhalten suche, das sie selbst an den Tag lege, frei nach dem Sprichwort: ›Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.‹ Gemeint ist hier also die Untreue der Frau (vgl. Das heiße Eisen [p]: V. 173–200). Es macht demnach Sinn, wenn in dieser Textfassung die Episode der medizinischen Versorgung, d. h. das Ansinnen des Ehemannes, einen Verband anzulegen, und die Reaktion der Ehefrau darauf weggelassen werden. Eine ähnliche Art von Lehre findet sich aber in allen anderen Überlieferungszeugen nicht. Zusammenfassend betrachtet ist es in meinen Augen schließlich die mangelnde »triuwe« (vgl. Das heiße Eisen: V. 61 u. 69) beider Ehepartner, die für die unglückselige Entwicklung der Beziehung verantwortlich ist (vgl. ähnlich Grubmüller 1996: 1040). Sowohl die Sprachgewalt der Frau, die jedoch nicht zum Ziel gelangt, als auch die zumindest mittelbare körperliche Gewalt, welche die Frau durch die Bedrohung ihres Mannes erfährt, tragen zur Auslösung des 19 | Möglicherweise handelt es sich auch über einen »Zorn über ihr uneinsichtiges, auch nach dem Scheitern noch anmaßendes Verhalten« (Kragl 2008: 23). 20 |����������������������������������������������������������������������������������   der Geschichte gibt; vgl. Haug 2006: 23. Harald Haferland hat unlängst gezeigt, dass die reduzierte erzählerische Gestaltung des Plots divergierende Lesarten zulässt, welche stets eine psychologisierende Interpretation der Rezipientinnen und Rezipienten erzwingen bzw. diese erlauben; vgl. Haferland 2013: 114–117. In ähnlicher Weise hebt Waltenberger 2005: 300–302 die Ambivalenzen und narrativen Leerstellen hervor, die zu füllen der Text das Publikum bzw. die Leserschaft auffordere. Auch Egerding 1998: 140 betrachtet das offene Ende der Verserzählung in diesem Sinne als Versuch, das Publikum zu einer gedanklichen Auseinandersetzung mit der Materie zu führen.

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Konfliktes bei. Die Komplexität des Textes, welche eine Reflexion des Publikums nachgerade einfordert, ist dabei typisch für den Stricker.

Heinrich Kaufringer: Der feige Ehemann Ich komme nun zu dem zweiten Text: dem Feigen Ehemann von Heinrich Kaufringer. Alle Verserzählungen des süddeutschen Autors Heinrich Kaufringer, der um 1400 in Landsberg am Lech schriftstellerisch tätig war, sind lediglich in einer einzigen Handschrift von 1464 überliefert worden (vgl. Grubmüller 1996: 1269).21 Anders als die strickersche Verserzählung ist die Narratio beim Feigen Ehemann von einem Promythion und einem Epimythion eingerahmt. In 26 Versen wird zu Beginn des Textes ein moralisierender Lehrsatz, den die Erzählung demonstrieren soll, vorgestellt und kommentiert: »Ain schädlin wärlich pesser ist / dann ain schad ze aller frist.« (Der feige Ehemann: V. 1 f. [»Ein kleiner Schaden ist wahrhaftig  /  immer besser als ein größerer.« Grubmüller 1996: 721]) Und weiter: »[U]nder zwaien übeltat /  ist das allweg wol mein rat,  /  ob man aintweders müeste han, / das merer übel sol man lan / und sol das minder übel haben.« (Der feige Ehemann: V. 3–7 [»Wenn man von zwei Übeln, / das ist allezeit mein Rat, / eines ertragen muß, / dann soll man das größere meiden / und das kleinere wählen.« Grubmüller 1996: 721]) Anhand einer Entfaltung von Beispielen, die an Drastik und Absurdität kaum zu überbieten sind und welche die Gewaltthematik der Narratio bereits anklingen lassen, erläutert der Erzähler diese Handlungsmaxime: Man solle eher Hände und Füße opfern, als sich begraben zu lassen; man solle lieber sein Haus dem Erdboden gleichmachen, wenn man dadurch den Untergang einer ganzen Stadt durch eine Feuersbrunst verhindern könne; ein Dieb würde lieber enthauptet, als am Galgen gehängt zu werden (vgl. Der feige Ehemann: V. 7–20). Die nun folgende Geschichte von dem Feigen Ehemann thematisiert ein erotisches Dreieck, eine Ehebruchskonstellation zwischen einem reichen Bürger, seiner schönen und in ihrem Verhalten völlig untadeligen, tugendhaften und ehrbaren Frau sowie einem fremden Ritter. Aufgrund ihres hervorragenden Rufes begibt sich der in Liebesangelegenheiten erfahrene Ritter in die Stadt Straßburg, um der Bürgersfrau ein halbes Jahr lang nachzustellen. In ehrverletzender Weise richtet er das Wort an sie, sodass dies von ihr als ein Akt verbaler Gewalt angesehen wird, die »ir herz gar versert« (ebd.: V. 62 [»sie im Innersten [verletzte]«, Grubmüller 1996: 723]): »[Z]uo ir redt er auch oun schrick / und darzuo in rechtem schimpf, / als er wol kund mit gelimpf, / manig wort in schalkait.« 21 | ����������������������������������������������������������������������������������� 1998: 365–370.

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(Der feige Ehemann: V. 54–57 [»Er sprach auch ohne Scheu mit ihr / und mit viel Charme, / da er sich artig / auf manches galante Wort verstand.« Grubmüller 1996: 723]) Aus Angst, ihr gutes Ansehen zu verlieren, berichtet sie ihrem Ehemann von den unerwünschten Avancen, der daraufhin sogleich Abhilfe verspricht. Sie solle den Ritter beim nächsten Mal nach Hause in ihr Schlafgemach einladen, wo er sich verstecken wolle, um sich an dem aufdringlichen Fremden zu rächen (vgl. Der feige Ehemann: V. 66–80). Bei der nächsten Begegnung auf dem Weg zur Kirche ergreift sie die Gelegenheit, als sie von dem Ritter angesprochen wird, um ihn in ihr Haus einzuladen – nicht ohne dabei unerwähnt zu lassen, dass sie allein sei und bei dem Stelldichein keine Störung durch eine andere Person erwarte (vgl. ebd.: V. 81–112). Als der Ritter in prächtiger Gewandung bei ihr erscheint, trägt er nur einen kleinen Dolch bei sich, wohingegen sich der Hausherr gerüstet mit einem starken Panzer und einem Schwert in einer Truhe versteckt hält (vgl. ebd.: V. 113–136). Um ihren Mann zu ermutigen, der ja in seinem Versteck mithören kann, spricht sie den ritterlichen Gast laut auf seine spärliche Bewaffnung mit einem »messer« (ebd.: V. 147) an, was ja nicht ungefährlich sei, da er von ihrer Verwandtschaft bedroht werden könnte (vgl. ebd.: V. 137–152). Um seine Stärke, seinen Mut und seine Geschicklichkeit im Umgang mit dem Dolch, von denen er felsenfest überzeugt ist, zu demonstrieren, sticht der Ritter in martialischer Art und Weise sechs Mal durch eine in dem Raum befindliche Panzerplatte (vgl. ebd.: V. 153–173) und deklamiert: »›[M]ein tegen ist vil guot.‹« (Ebd.: V. 173 [»›Mein Dolch ist hervorragend.‹« Grubmüller 1996: 729]) Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass dieser Akt der Penetration im gegebenen Kontext eine deutlich sexuelle Konnotation besitzt. Die implizite Drohung des Ritters kündigt verbal einen Gewaltakt an; die »rede« (Der feige Ehemann: V. 175 [das »Wort«, Grubmüller 1996: 721]) des Ritters führt dazu, dass sich der Ehemann in der Truhe so sehr zu ängstigen beginnt, dass er sich nicht mehr traut, hervorzukommen, und von seinem Vorhaben, den unfreiwilligen Liebhaber seiner Frau zu stellen, ganz ablässt, um nicht selbst von ihm verletzt zu werden (vgl. Der feige Ehemann: V. 174–192). Die Dinge nehmen ihren Lauf: Der Ritter vergewaltigt die Ehefrau gegen ihren heftigen Widerstand, auch ihre lauten Schreie vermögen ihren Ehemann in der Truhe nicht zu mobilisieren (vgl. ebd.: V. 193–216). Beinahe genauso schwer wie dieser Akt der sexuellen Gewalt, der einen Ehrverlust für sie bedeutet, wiegt – so lässt es der Erzähler zumindest erscheinen – der demütigende Versuch des Vergewaltigers, die Frau anschließend »mit süesser red« (ebd.: V. 223) zu trösten. Sie muss diese Worte wie Hohn empfinden: »[D]as was ir zuo dem tod getaun.« (Ebd.: V. 224 [»Das brachte sie fast um.« Grubmüller 1996: 733]) Sie antwortet mit zornigen Sätzen, die den unsensiblen Ritter, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht, in die Flucht treiben (vgl. Der feige Ehemann: V. 225–232).

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Die Geschichte endet mit den Ausflüchten des Ehemannes, nachdem ihn seine Frau angesichts seiner Untätigkeit und seines Stillschweigens mit Vorwürfen bedacht und ihn zur Rede gestellt hat (vgl. ebd.: V. 233–247). Die Antwort des Ehemannes schwankt dabei zwischen Naivität und Zynismus: Er versichert ihr, dass er nicht schlecht über sie denke und rechtfertigt sich mit der dem Publikum aus dem Promythion bereits bekannten Handlungsmaxime, dass ein kleiner Schaden besser sei als ein großer. Hätte er reagiert, so hätte dies für ihn den Tod bedeutet, wohingegen seine Frau zwar Schmerzen erlitten hätte, diese würden jedoch vorübergehen, sodass dieser Schaden sehr wohl der geringere sei, so seine lakonische Antwort (vgl. ebd.: V. 248–273). Das folgende Epimythion beendet den Text, der weiblichen Stimme der Protagonistin wird kein Gehör mehr geschenkt, der männlich zu denkende Erzähler übernimmt die Regie und kommentiert das Geschehen abschließend (vgl. ebd.: V. 274–296). Bereits im Promythion wird die Aussage, dass ein kleiner Schaden einem größeren Schaden vorzuziehen sei, durch diesen Erzähler selbst relativiert. Denn er erklärt in Bezug auf diesen Satz und die ihn bezeugenden Beispiele für die erzählte Geschichte: »die triffet dise red an zwar / etwie vil und doch nit gar« (ebd.: V. 23 f. [»auf [die] treffen diese Worte wahrhaftig zu, / jedenfalls irgendwie, aber auch wieder nicht ganz«, Grubmüller 1996: 721]). Diese Relativierung greift der Erzähler im Epimythion wieder auf, wenn er die Unangemessenheit des Sprichwortes im Hinblick auf die gegebene Situation erläutert und dabei das feige Handeln des Ehemannes ohne Abstriche moralisch verurteilt:22 Denn wenn er sein Versteck früher verlassen und sich als Hausherr gezeigt hätte, ohne den ritterlichen Gast anzugreifen, dann wären weder seiner Frau ein kleiner Schaden (gemeint ist die Vergewaltigung) noch ihm ein großer Schaden (der vermeintliche Tod) zugefügt worden (vgl. Der feige Ehemann: V. 274–283). Der Vorwurf, den der Erzähler dem Ehemann gegenüber erhebt, besteht vor allem darin, nicht gehandelt und geschwiegen zu haben,23 obwohl dieser deutlich die Notsituation seiner Frau wahrgenommen habe (vgl. ebd.: V. 284–291). Er wünscht dem Ehemann sodann lebenslängliches Unglück (vgl. ebd.: V. 292– 296).

22 |�������������������������������������������������������������������������   24 f.; Willers 2002: 89 f.; Grubmüller 2006b: 183 f.; anders hingegen Röcke 1988: 310 f.; Pastré 1989: 70; vermittelnd Stede 1993: 64 f.; die Uneindeutigkeit, die durch die inhaltliche Diskrepanz zwischen Promythion und erzählter Geschichte (Narratio) entsteht, betont Friedrich 2005: 231; Kasten (1999: 183 f.) betrachtet dies als eine möglicherweise bewusst konstruierte Konstellation, durch die eine explizite Kritik am exemplarischen Erzählen vorgenommen werden solle. 23 |��������������������������������������������������������������������������   Ehepartnern für den Text betont auch Classen 2003: 86 f.

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Im Vergleich zu dem Text des Strickers, der es den Rezipientinnen und Rezipienten allein überlässt, ein moralisches Urteil zu fällen, findet sich bei Kaufringer ein stark wertender Erzähler, der eindeutig Position bezieht für die in einer doppelten Opferrolle erscheinende Ehefrau (vgl. in diese Richtung gehend auch Friedrich 2006: 60). Dies geschieht aber gleichsam in einem subversiven Gestus, denn der initiale Lehrsatz wird durch die Geschichte selbst wie durch die paradoxe Indienstnahme seitens der Figur des Ehemannes nahezu ad absurdum geführt (vgl. Grubmüller 2006a: 16 f.).

Fazit Ein abschließender Vergleich der beiden Verserzählungen zeigt Folgendes: Beim Stricker wird der vorhandene Konflikt zwischen den Eheleuten anfänglich durch einen aktiven Ehebruch der Frau sowie eine verbale Aggression der Ehefrau gegenüber dem Ehemann ausgelöst, auf die der Ehemann mit einer anderen verbalen Aggression, dem performativen Akt der Drohung, sie zu töten, pariert; mit dem Zwang zur Feuerprobe übt er indirekt körperliche Gewalt gegen sie aus; indem sie sich mittels ihrer Wortgewalt einem Verbinden der Wunde widersetzt, erfolgt eine erneute Gegenreaktion ihrerseits, welche die Gewaltspirale vollendet und zu einer vollständigen Destruktion der ehelichen Ordnung führt. Implizit resultiert aus diesem verbalen Handeln eine Art von Autonomieanspruch der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann, dessen dominante Stellung sie damit negiert. Die Erzählung zeigt ein getrübtes Geschlechterverhältnis und entwickelt keinen versöhnlichen Gegenentwurf. Bei Heinrich Kaufringer erfährt die Ehefrau im Rahmen einer für die mittelalterliche Novellistik typischen Dreieckskonstellation Gewaltanwendung von einem Dritten, und zwar in Form von sexueller physischer Gewalt; um diese zu verhindern, erscheint dem Ehemann nur ein einziger Ausweg plausibel, nämlich selbst körperliche Gewalt anzuwenden. Neu an dem von Kaufringer entwickelten Plot ist die Tatsache, dass es nicht um das listige Verheimlichen eines Ehebruchs geht, wie es in vielen anderen Texten des Genres der Fall ist, sondern gerade um die Verhinderung eines solchen. Dadurch wird die für die Märenwelt eher typische Konstellation mit dem Bild einer sexuell unersättlichen Frau, welche den Ehebruch begeht, wie wir es auch in des Strickers Heißem Eisen kennengelernt haben, umgekehrt und auf den Kopf gestellt. Gleichsam als Reaktion auf dieses genrespezifische Frauenbild unternimmt Kaufringer einen Perspektivenwechsel und rückt das männliche Begehren in den Fokus. In der Erzählung vom Feigen Ehemann wird die Konfrontation zweier männlicher Rivalen zentral, deren narzisstische Selbstverliebtheit und deren Egozentrismus jeweils dazu beitragen, die Ehefrau zum Opfer mangelnder Fürsorge werden zu lassen. Der Ehemann versagt, weil er keine Handlungsalternative sieht

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Abb. 1: Federzeichnung auf der letzten Seite einer süddeutschen Märenhandschrift aus dem 13. Jahrhundert (Ms. germ. oct. 1430, 16v, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz)

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und schließlich des Wortes nicht mächtig ist; sein Schweigen ist es schließlich, dass die Vergewaltigung ermöglicht, die seine Frau in seinem Beisein erdulden muss. Anders als die Protagonistin im Heißen Eisen, die ihren Ehemann auf die Probe stellt, vertraut sie den Worten ihres Mannes, muss aber erkennen, dass sie sich darin getäuscht hat. Erfolgt beim Stricker die Destruktion der ehelichen Ordnung durch die Gewalt der Rhetorik, zeigt Kaufringer demgegenüber, wie durch den Mangel an Sprache und Kommunikation eine eheliche Ordnung gefährdet werden kann. Die Narratio hat allerdings ein offenes Ende, d. h. die Auswirkungen des Vorfalls auf die Ehe werden nicht weiter thematisiert. Durch die Stimme des Erzählers, der sich hier für die weibliche Perspektive einsetzt und damit zum Sprachrohr der Protagonistin wird, ohne dabei ihre Stimme auszulöschen, gewinnt die Erzählung dennoch einen gewissen Abschluss. Der (männliche) Erzähler spricht hier für die Protagonistin, die sich dem männlichen Fehlverhalten, sei es einer überzogenen Aktivität (gemeint ist das Handeln des Ritters), sei es einer überzogenen Passivität (gemeint ist das Nicht-Handeln des Ehemannes), nicht gewachsen fühlt, und verleiht ihrer Position somit eine deutliche Stimme und damit Gewicht.

Ausblick Auch wenn sich die literarischen Geschlechterentwürfe in dem heterogenen Korpus der mittelhochdeutschen Verserzählungen nicht einheitlich darbieten, wie hier anhand der Lektüren von zwei höchst unterschiedlichen Beispielen unter den Aspekten von Sprache und Gewalt sichtbar geworden ist, so kristallisiert sich doch der Befund heraus, dass die Texte zwischen den Polen von ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ deutlich oszillieren, dass sie immer wieder Ambivalenzen und Brüche hinsichtlich der tradierten Geschlechterbilder von Mann und Frau aufweisen. Wenn der erzählerische Fokus das Verhältnis der Geschlechter im Unklaren belässt und bei der moralischen Beurteilung von vermeintlich geschlechtstypischen Handlungsweisen unbestimmt bleibt, so ist die Folge davon, dass auch die Rezipientinnen und Rezipienten beginnen müssen, sich gedanklich aktiv mit der tradierten Geschlechterordnung auseinanderzusetzen; beim Stricker haben wir gesehen, dass es dazu nicht einmal unbedingt der Instanz eines wertenden und kommentierenden Erzählers bedarf. Anders formuliert: Das Genre lotet scheinbar die Räume und Grenzen aus, innerhalb derer sich weibliches und männliches Geschlecht  – zumindest theoretisch  – entfalten könnten. Apodiktische Antworten in der Geschlechterfrage geben zu wollen ist demgegenüber das Charakteristikum der mittelhochdeutschen Verserzählungen eher nicht. Da das Austesten der geschlechtlichen Grenzen jedoch in der fiktiven Welt erfolgt und die jeweilige geschlechtliche Identität der Figuren nicht nachhal-

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tig in Zweifel gezogen wird, bleibt die existente Geschlechterordnung in ihren Fundamenten unangetastet.24 Beispielhaft sei hier auf die Erzählung vom Ritter Beringer verwiesen, in der das cross dressing am Ende selbstverständlich aufgelöst wird. Die Texte verfolgen insofern keine Irritationsstrategie wie der Vater gegenüber seinem Kind in der Verserzählung von Berchta, denn es ist auf der Ebene der Rezeption letztendlich immer unzweifelhaft, was und wie »ein si oder ein er« ist oder doch zu sein habe. Aber gleichwohl: Wenn sich in einer neu aufgefundenen süddeutschen Märenhandschrift aus dem späten 13. Jahrhundert, welche die Berliner Staatsbibliothek 2012 erwerben konnte, auf der letzten Seite die Federzeichnung eines kleinen Teufels findet (Abb. 1; zu dieser Handschrift vgl. Overgaauw 2013), so mag diese rätselhafte Zeichnung (vgl. dazu auch Röcke: 2012) vielleicht genau auf das verunsichernde Moment der Geschlechterbilder in den spätmittelalterlichen Verserzählungen hindeuten, insoweit sie eine gottgegebene Ordnung in ihrer potentiellen Gefährdung durch die Unordnung, eben den ›Geist, der stets verneint‹, sichtbar zeigt.

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24 |�������������������������������������������������������������������������������   2012: 405–410).

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»Et viriliter se defendebat« Images masculines de la femme guerrière aux derniers siècles du Moyen Age Michel Margue Depuis une vingtaine d’années1 dans l’espace anglophone,2 très récemment dans la recherche francophone,3 les médiévistes ont découvert l’implication substantielle des femmes dans l’activité militaire. Il s’agit donc d’un thème de recherche récent, et encore âprement discuté. L’image traditionnelle veut que les femmes, admises à exercer dans certains cas (absences de l’époux, régences, veuvages, mises sous tutelle) des pouvoirs politiques, sont exclues du domaine guerrier. Dans une contribution récente destinée à un large public, Colette Beaune, dont la monographie sur Jeanne d’Arc aborde brièvement la question (cf. Beaune 2004: 161–178), note un changement d’attitude au milieu de la guerre de Cent Ans. Au moment où la pratique féminine de la guerre devient plus fréquente, et »malgré toutes ces réticences qui perdurent entre [!] XIVe et XVe siècle« (Beaune 2014: 85), la nécessité des temps fait que les interdits radicaux des théologiens, juristes et auteurs de littérature politique et donc aussi les préjugés populaires, se trouvent dans une certaine mesure battus en brèche. Toutefois, le cas fameux de Jeanne d’Arc reste, selon sa biographe, exceptionnel:

1 | Version largement remaniée de mon exposé de cours devant l’auditoire des étudiants du Bachelor en Cultures européennes de l’année académique 2012/13. Je remercie vivement Gilles Genot (MA University of Sheffield) de son aide précieuse lors de la mise en forme rédactionnelle du présent article. 2 | Une des premières études sur le sujet: McLaughlin 1990. Voir la bibliographie exhaustive dans Sjursen 2010 et Cassagnes-Brouquet 2014, ainsi qu’une bibliographie sommaire dans Sjursen 2006: 831. Le sujet n’est pas traité de manière explicite dans Bennet/Karras 2013, désormais ouvrage de référence pour l’histoire médiévale des femmes et du genre. 3 | Aurell 2005, et surtout, pour une première synthèse: Cassagnes-Brouquet 2013.

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M ichel M argue L’opinion est donc plus ou moins prête à voir une fille participer à la guerre, mais ce qui surprend dans le cas de Jeanne d’Arc, c’est la durée et le niveau de cet engagement. […] Ce qui surprend aussi, c’est le niveau des responsabilités qu’elle a exercées (Beaune 2014: 85).

Katrin Elizabeth Sjursen, auteure de la dernière synthèse sur le sujet s’exprime également de manière hésitante: It has been widely accepted that medieval women disappeared from »active« partici­ pation in warfare (meaning as warriors or commanders) by the thirteenth century, but chronicle accounts and diplomatic documents indicate that women participated in wars throughout the medieval period (Sjursen 2006: 830).

L’historiographie médiévale étant dominée, tout comme les chancelleries et bureaux d’écriture, par le genre masculin, formé en général aux normes théologiques et juridiques de l’époque, il est clair que toute tentative d’évaluer l’apport des femmes au fait guerrier doit échouer, tant qu’elle se limite à une interprétation primaire des chroniques ou des actes diplomatiques. Celle-ci ne pourra tout au plus que détecter l’un ou l’autre cas d’une intervention féminine qui sera alors invariablement caractérisée d’exceptionnelle ou hors des normes de la société médiévale. Pour aboutir, l’étude du poids politique des femmes doit par contre être située à un autre niveau, celui de la représentation des activités féminines par les hommes. En d’autres termes, elle doit accepter le regard subjectif des hommes au lieu d’essayer de le contourner, afin de l’intégrer dans l’approche méthodologique. Celle-ci ne visera donc plus une écriture de l’histoire des femmes, mais celle de la formation masculine d’une image des femmes. Cette démarche est d’autant plus nécessaire que notre sujet se situe dans un domaine, l’activité militaire, qui, au plus tard depuis la ›féodalisation‹ de la guerre entre le Xe et le XIIe siècle, semble avoir totalement exclu la femme.

Chevaleresses preuses: le modèle littéraire et artistique Afin de mieux situer le contexte de la formation de l’image de la femme guerrière ou chevaleresse, notre brève étude partira des domaines artistique et littéraire, domaines étroitement imbriqués où ce type de représentation est de plus en plus fréquent à partir du XIIIe siècle et le développement du mécénat de cour. Issue de la mythologie grecque pour l’histoire des Amazones et du monde de l’Ancien Testament pour celle de quelques figures féminines d’exception comme Judith, l’image de la guerrière est progressivement intégrée dans la littérature et l’art de cour sur un double mode: d’une part, comme

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représentant l’altérité par rapport au monde chevaleresque masculin, mais d’autre part aussi, et de plus en plus, comme son pendant, voire son prolongement. Ce dernier stade est atteint au XVe  siècle, comme en témoigne par exemple la représentation conjointe du modèle des Neuf Preux et des Neuf Preuses dans l’activité culturelle de la famille des marquis de Saluces/Saluzzo au Piémont. En 1395, Thomas III de Saluces les fait représenter dans une double enluminure de son roman du Chevalier errant4 (cf. Sedlacek 1997: 77– 80) et son fils Waléran dans la double série de fresques de la salle d’apparat de son château de la Manta, vers 1410–1420 (ibid.: 100–108; Favier 2003: 34–35 et 40–41; Levi Momigliano ca. 2009: 12–20). Un autre témoignage en est certainement l’ouverture de l’Ordre de la Jarretière aux femmes, dans l’Angleterre d’Edouard III, à partir du milieu du XIVe siècle, et prélude à d’autres ordres ouverts aux femmes dans toute l’Europe.5 Avant d’être intégrée dans les canons courtois de la fin du Moyen Age, l’image de la chevaleresse inspire aux poètes et chroniqueurs masculins une attitude ambivalente entre attraction, méfiance et rejet, héritée de l’Antiquité grecque. Le meilleur exemple en constitue certainement le mythe des Amazones, femmes féroces et guerrières d’une tribu exotique, que le Moyen Age central reprend de la littérature antique pour en faire un sujet fort répandu. Il sera intégré aux XIIe et XIIIe siècles dans la présentation encyclopédique du monde médiéval, combinant monde fabuleux et monde historique, ainsi que dans les romans courtois où elles deviennent des modèles de chevalerie, incarnant à la fois prouesse et beauté physique à l’image des chevaliers idéaux masculins.6 A l’origine cependant, les Amazones représentent un monde à l’envers, où les femmes détiennent le pouvoir et font la guerre. Cependant, tout au long des XIIe–XIVe siècles, le motif des femmes guerrières perd sa connotation péjorative au fur et à mesure où il est intégré dans la culture de cour. On peut observer cette mutation en suivant la naissance et la diffusion du motif des Neuf Preuses,7 né au dernier tiers du XIVe siècle par extrapolation de celui des Neufs Preux, trois fois trois héros de l’Antiquité païenne, de la tradition biblique de l’Ancien Testament et des modèles chrétiens du Moyen Âge, qui sont intégrés par le poète lorrain Jacques de Longuyon8 dans la matière d’Alexandre le Grand, 4 | Le Chevalier errant, fol. 125 r/v. Les deux enluminures – très souvent représentées – figurent p. ex. dans Favier 2003: 33 et 38. 5 | Aperçu commode dans Cassagnes-Brouquet 2013: 111–135. 6 | Voir en dernier lieu, Geary 2006: 26–42 et Cassagnes-Brouquet 2013: 139–153, et pour le contexte général, le catalogue d’exposition: Historisches Museum der Pfalz Speyer 2010. 7 | La synthèse fondamentale est celle de Sedlacek 1997; voir aussi: McMillan 1979. 8 | Sur les Voeux du paon de Jacques de Longuyon, voir récemment: Gaullier-Bougassas 2010.

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M ichel M argue

dans ses Vœux du Paon datant de 1312/1313 (cf. Schröder 1971; Van Anrooij 2001 et le catalogue d’exposition: Favier 2003). Jehan Le Fèvre, officier du Parlement de Paris et auteur de renom, imagine pour la première fois les Neuf Preuses dans son Livre de Lëesce, composé entre 1373 et 1387, et est donc traditionnellement considéré comme l’inventeur des Neuf Preuses (cf. Sedlacek 1997: 53–57); toutefois, mentionnées incidemment dans le récit, elles semblent déjà être connues à cette époque. Même si elles suivent leur modèle masculin, les Neuf Preuses n’ont pas été créées d’après le schéma des trois triades, mais reprennent majoritairement les personnages des Amazones et sont donc toutes issues de la littérature antique remaniée au goût des XIIIe et XIVe siècles. Par rapport à ces dernières, elles ont cependant perdu leur caractère sauvage et sont en quelque sorte ›civilisées‹ à la mode courtoise. Présentées en catalogue de femmes vertueuses et courageuses, elles auraient en effet été mises en avant par Jehan Le Fèvre pour être opposées au caractère misogyne de certaines œuvres littéraires de la même époque, comme le Roman de la Rose de Jean de Meung (cf. CassagnesBrouquet 2013: 160; Favier 2003: 37). Le motif des Neuf Preuses, repris par Eustache Deschamps puis par Guillaume de Machaut, connut à la fin du XIVe et au XVe siècle un succès comparable à celui de son pendant masculin, et ceci dans tous les domaines de l’art de cour: littérature, enluminures, fresques, sculptures, tapisseries. Comme nous l’avons vu plus haut, elles finissent donc par accéder au même rang de modèle que les Neufs Preux, bien qu’il s’agisse de femmes. Étudiant les tapisseries de la haute noblesse, Birgit Franke insiste par exemple sur le fait que le motif représentant les exploits de femmes guerrières éminentes faisait la prédilection de commanditaires princiers et donc masculins (cf. Franke/Welzel 2001). Les représentations communes des héros masculins et féminins, mais aussi celles de leur rivalité impliquent un traitement égalitaire entre guerriers et guerrières dans l’art, du moins en ce qui concerne leurs vertus chevaleresques. Toutefois, la fusion au sein d’un même rôle guerrier n’est jamais complète: les peintres et poètes prennent toujours soin de bien maintenir la différence, marquée par exemple par des signes toujours nettement visibles comme leur apparence extérieure ou leurs vêtements (cf. Franke 2007: 191–204). A la fin du Moyen Âge, les femmes font donc autant figure de modèle chevaleresque que les hommes, du moins dans les représentations artistiques et littéraires. L’image de la preuse combattante a ainsi fini par compléter la représentation courtoise de celle qui poussait le chevalier à l’exploit, lui offrait un encadrement charmant ou le prix de sa victoire. Ces représentations ont-elles aussi abouti à ouvrir le combat chevaleresque aux femmes dans la réalité des faits? Le passage de la représentation artistique à la réalité des faits et les liens mutuels entre les deux est un phénomène socio-psychologique difficile à juger. A la fin du Moyen Âge le monde courtois s’imagine des rites, des codes et des modèles pour manifester sa puissance et son pouvoir d’intégration - et non pas

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parce qu’il se trouve en situation de crise comme on a pu l’écrire (cf. CassagnesBrouquet 2013: 166 f.), mais parce qu’il s’ouvre à de nouvelles couches sociales et se retrouve en rapide mutation. Mais cette ›codification‹ de la société de cour n’implique pas nécessairement un changement des modes de pensée et de vie. On peut citer à ce sujet l’exemple de Christine de Pisan qui, dans son Livre de la Cité des Dames, montre d’une part favorablement des Amazones luttant à pied d’égalité avec les héros grecs et plaide énergiquement pour former les princesses à la guerre dès leur jeune âge, mais demeure d’autre part très traditionnelle en plaidant pour que le combat reste une affaire d’hommes. Il est temps donc d’étudier dans le détail le cas de quelques exemples de femmes guerrières de cette période charnière que constitue le XIVe siècle, toujours en gardant à l’œil cette tension entre l’image produite par les hommes à leur sujet et la réalité des faits, pour autant qu’on puisse les distinguer. Dans le cadre de ce bref article, nous nous limiterons à deux brèves études, toutes les deux liées à l’histoire des princes de la Maison de Luxembourg, l’archevêque de Trèves Baudouin de Luxembourg (v. 1285–1356) et son neveu Jean de Luxembourg, roi de Bohême (1296–1346).

Laurette de Sponheim et la défense du patrimoine comtal Laurette de Salm, comtesse de Sponheim et dame de Starkenburg (v. 1299–1346), est une parfaite illustration de cette catégorie de femmes des XIIIe – XVe siècles qui, à la suite du décès de leur mari au moment où leurs enfants sont encore mineurs, prennent en main la gestion de leurs seigneuries pour disparaître ensuite de la scène publique au moment où leur fils aîné reprend l’héritage. Ces veuves au pouvoir ne sont pas aussi rares qu’on ne le pensait encore il y a peu et toutes ne se sont pas soumises à l’autorité d’un tuteur. Un des traits communs de leur politique fut de préserver leur patrimoine afin de le transmettre plus au moins intact à leur héritier. Elles mènent donc souvent une activité politique et économique fort énergique, ressemblant en tout point à celle des hommes, et sont donc très souvent liées de près ou de loin à des activités militaires. Toutefois, comme elles se sont rarement adonnées à l’écriture, elles restent souvent bannies des écrits des hommes. Le cas de Laurette de Sponheim, qui a frappé les esprits par une intervention militaire de taille, a toutefois été très bien étudié.9 Après un bref rappel des faits,

9 | Voir entre autres Disselnkötter 1940; Böse 1985; Mötsch 1991; Rosenberger 2005; Mötsch 2010, et surtout Eulenstein 2012: 200–214 pour une solide analyse dans le contexte de la ›Fehde‹.

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nous pourrons donc passer à l’analyse des images (masculines) que les textes médiévaux nous fournissent de cette comtesse énergique. Veuve vers l’âge de 25 ans, alors que ses trois fils étaient encore très jeunes, entre cinq et dix ans, Laurette prend en main la direction de ses deux grands territoires qui se situent de part et d’autre de la Moselle inférieure pour l’un (les terres autour du château résidentiel, la Starkenburg, ainsi que le ›Kröver Reich‹ tenu en engagère de l’Empire) et un peu plus au sud pour l’autre, sur la basse Nahe, avec le pays de Birkenfeld (›Birkenfelder Ländchen‹) et son château éponyme. Ces deux ensembles, qui constituaient un des deux comtés issus du partage du comté de Sponheim, la ›Hintere Grafschaft Sponheim‹ (cf. Mötsch 1987; 1992) n’étaient pas très riches en l’absence de villes et de ressources particulières, mais constituaient un obstacle à la formation territoriale de la terre tréviroise que l’archevêque Baudouin de Luxembourg développait énergiquement en ce premier tiers du XIVe  siècle (cf. Heyen 1985; Nolden 2010). L’archevêque mena une politique agressive et aux multiples facettes à l’encontre des biens et droits de la comtesse, en particulier pour récupérer l’engagère impériale du ›Kröver Reich‹ qui coupait en quelque sorte la principauté ecclésiastique de Trèves en deux, entre Trèves et Coblence. C’est probablement lorsque l’archevêque s’aventura à construire un château non loin de celui de la comtesse sur les terres de celle-ci à Birkenfeld et après qu’une première tentative d’arbitrage entre la comtesse et l’archevêque eut échoué, que la comtesse se résolut à agir, par la voie militaire. Il n’y a que deux textes littéraires qui relatent l’action qu’elle mena contre son rival trévirois, les Gesta Baldewini, continuation des gestes des archevêques de Trèves commanditées vers 1356 par Baudouin même,10 ainsi qu’une chronique de l’abbaye de Sponheim par l’humaniste Trithemius, vers 1500 (cf. Chronicon Sponheimense; Arnold 1991). Par ailleurs, les exposés et la terminologie de certaines chartes réglant le conflit peuvent compléter ce tableau. Tournons-nous vers la relation centrale pour notre sujet, les Gesta Baldewini, d’autant plus intéressantes que l’on peut supposer une influence assez importante du commanditaire dans son élaboration. Les Gesta fournissent une image très limitée de l’épisode qui se déroula à la fin du printemps 1328; nous n’en saurons jamais plus. Le passage qui nous intéresse s’intègre dans une suite de relations sur les actions militaires de Baudouin introduites par un mauvais présage astrologique annonçant de nombreuses guerres et plusieurs hérésies. En 1328, selon l’auteur des Gesta, une cause de conflit apparut, »quaedam dissensionis materia«, entre le seigneur Baudouin et la comtesse de Starkenburg au sujet de certains biens à Birkenfeld. Deux représentants de la comtesse, son oncle Henri de Sponheim, prévôt d’Aix-la-Chapelle, et le chevalier Emicho de 10 | Müller 2010: 118 indique vaguement: »kürzer oder näher nach Balduins Tod … 1354.«

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Stein, »pro comitissa et suis«, jurèrent une trêve (»treugas«) dans les mains de Baudouin en son château de Grimburg. Entretemps, le seigneur Baudouin descendant le fleuve de la Moselle en navire fut cap­ turé par la comtesse de manière perfide (proditorie), sans avoir été averti par l’annonce d’une »Fehde« (non praemunitum, non diffidatum11), pendant la période de trève (pendentibus treugis), et il fut ensuite gardé en captivité par elle dans son château de Star­ kenburg. Il fut libéré après avoir promis de ne plus ériger de château à Birkenfeld de son vivant. Mais il prit soin de ne pas limiter le libre droit à la construction de ses succes­ seurs (Gesta Treverorum 1838: 247).

Plusieurs éléments de cette relation frappent par leur volonté de donner une image positive de l’archevêque et donc, logiquement, une représentation négative de la comtesse. D’abord la brièveté du récit, que l’on pourrait interpréter comme le résultat de la volonté de cacher l’épisode, défavorable au prestige de l’archevêque. Elle ne devrait cependant pas nous étonner puisque les Gesta procèdent en général par la juxtaposition de brefs récits, un peu à l’image d’un cycle d’images, que ce soient des enluminures, des fresques ou des tapisseries.12 Par contre, la tentative de placer la comtesse dans une situation de ›hors-la-loi‹ manifeste une orientation beaucoup plus prononcée. En ce sens, la narration est intelligemment structurée. Elle commence par l’introduction d’un serment de paix ou de trêve – un traité qui n’est mentionné par aucune autre source; ce serment aurait été prêté par les représentants de la comtesse dans les mains de Baudouin. Le but de cette mention est évident: il procure à l’archevêque une supériorité tant politique que morale. Baudouin fait dès lors figure de seigneur auquel la comtesse doit fidélité. Celle-ci est rompue par Lorette de Sponheim, qui se rend coupable de félonie ou de traîtrise – en ce sens, le vocable désignant la »proditio« renvoie aussi bien à la trahison et à la perfidie qu’à l’attaque préméditée. Ainsi Baudouin revêt le rôle de victime: il n’a pas été averti de la rupture de la trêve ou de la paix, une rupture qui aurait dû se faire selon les formes de la déclaration de la ›Fehde‹. Le non-respect des conventions de la ›Fehde‹ fournit à l’archevêque une sortie honorable. Bien plus: n’est mentionné ici qu’une infime partie des lourds engagements et réparations que Baudouin dut contrac-

11 | A������������������������������������������������������������������������������ technique, de dénoncer les liens de fidélité dans le sens d’annoncer la guerre: »to announce a feud«. 12 | Sur le rapprochement entre la manière de raconter de la chronique en images de Baudouin sur l’expédition italienne de son frère Henri VII et la partie centrale des Gesta Baldewini, voir Margue 2010.

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ter ainsi que de la rançon qu’il dut payer.13 La seule promesse faite, celle de ne pas construire de château à Birkenfeld, n’est présentée que comme engageant uniquement lui-même, et non ses successeurs à la dignité épiscopale. Environ un siècle et demi après les Gesta Baldewini, l’humaniste Trithemius, abbé du monastère de Sponheim de 1483 à 1505, présente les mêmes faits sous une autre lumière, plus favorable à la dynastie fondatrice de son abbaye (cf. Chronicon Sponheimense 1969: 313). Pour lui, Baudouin est à l’origine du conflit qui mena à sa perte puisqu’à la suite d’un différend avec la comtesse, c’est lui qui leva une armée pour entamer l’action militaire. La comtesse aurait eu vent de ses plans et l’aurait capturé au moment où il voulait se rendre à Coblence, secrètement, dans un petit bateau. La version de Trithemius rend Baudouin responsable de sa mésaventure, mais son caractère un peu romancé la rend également suspecte. Quant aux documents diplomatiques, les différents contrats d’expiation et engagements de réparations et de paix réglant le conflit ou liquidant la menace d’excommunication pontificale, se cantonnent dans la terminologie juridique qui ne fait guère de différence entre hommes et femmes. Globalement, on ne peut donc manquer d’être surpris de l’absence d’allusions au fait que l’un des partis est dirigé par une femme. Nous ignorons si la comtesse de Sponheim a en personne participé aux actions militaires ou si elle ne les a que initiées, planifiées ou simplement autorisées. Alors que les actes diplomatiques citent quatorze de ses vassaux qui étaient impliqués dans la capture de l’évêque et de ses clercs, les Gesta Baldewini ne mentionnent que la comtesse. Mais ils la présentent à l’image de tous les autres nobles de la région avec lesquels l’archevêque eut maille à partir dans différentes ›Fehden‹, sans faire de distinction entre ces seigneurs et la comtesse. Si elle est discréditée, ce n’est pas en tant que femme, mais en tant que rival non-respectueux des conventions de la guerre entre nobles. Pour le dire de manière positive, elle est méprisée comme félonne, mais reconnue dans son rôle de ›régente‹ pour ses fils mineurs et donc gestionnaire de son patrimoine. Son cas n’est pas sans rappeler celui de la comtesse de Luxembourg Ermesinde, un siècle plus tôt. En 1228, celle-ci fut reconnue coupable pour les raids militaires effectués par ses hommes sous le commandement de son mambour Waléran sur les terres de l’abbaye de Stavelot-Malmédy – ea volente et consentiente selon l’expression de l’acte pontifical de Grégoire IX qui confirma l’interdit jeté par l’évêque de Liège sur ses terres.14 13 | Edition dans Günther 1824: 256–269; commentaire détaillé chez Eulenstein 2012: 207–211. 14 | Wampach 1938: 228f., no 213 du 14 mars 1228. Du point de vue juridique, il est intéressant de noter que la comtesse est rendue responsable des exactions de son mambour, et que l’interdit porte sur les terres de la comtesse et non sur celles du mambour.

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Après une captivité que les historiens estiment à entre 6 et 14 semaines (cf. Böse 1985 ), Baudouin de Trèves fut libéré par la comtesse, grâce à l’entremise de son neveu, le roi Jean de Bohême. Lorette négocia ardemment les conditions de cette libération,15 parvenant à régler un montant des réparations et la sauvegarde de ses droits et terres qui lui permirent de transmettre à son fils une seigneurie intacte. Le combat pour s’extirper des peines religieuses fut plus ardu à mener. Elle réussit pourtant à se libérer de l’excommunication, Baudouin ayant même, comme il avait dû le promettre, soutenu sa cause et payé une partie des frais de son voyage lorsqu’elle se rendit en 1330 à Avignon pour y chercher l’absolution des peines encourues. Manifestement, l’archevêque put lui aussi tirer avantage de la stabilisation de la situation. Dans la lettre de recommandation, où il demanda l’absolution pour la spectabili matrone Lorete comitisse de Spanheym domine de Starkenberg et omnibus suis, qui culpabiles fuerunt et sunt in captivitate, in qua ipsa olim per se et suos me et quosdam meos clericos quodam casu fortuito detinuit et fecit aliquamdiu detineri (Sauerland 1903: 315).

Là encore les termes choisis par l’archevêque, empreints de respect, ne montrent ni sentiment de vengeance, ni misogynie. Bien au contraire: au-delà du formulaire diplomatique de mise, le vocable utilisé pour nommer les conditions de sa capture, casu fortuito, tend plutôt à dédramatiser l’incident survenu. L’évêque de Liège fut choisi comme exécuteur de la pénitence publique que le pape infligea à la comtesse, tout comme de l’absolution de l’excommunication. En juin 1330, Laurette négocia un beau contrat de mariage pour son fils avec la fille du comte palatin de la Maison des Wittelsbach, donc apparentée au roi Louis de Bavière; le mariage de Jean III et de Mathilde eut lieu en septembre 1331. Après 7 années de régence, la comtesse mère se retira peu après dans le château de Frauenburg qu’elle aurait fondé et qui dans l’interprétation populaire symboliserait par son nom la capacité d’une femme à imposer son pouvoir dans un monde dominé par les hommes. Elle y continua à mener la gestion de sa petite seigneurie jusqu’à son décès à la fin de 1345 ou au début de 1346. Pendant ses années de régence, la comtesse Laurette n’a pas seulement fait la guerre à l’archevêque Baudouin. Nous lui connaissons deux autres conflits armés qui l’opposaient à des seigneurs de la région, dont celui qui l’amena à capturer le comte Frédéric de Kyrburg en 1327. Il est piquant de noter que parmi les membres du jury d’arbitrage figurait aussi l’archevêque de Trèves Baudouin. Les hommes de son temps ne semblent donc pas avoir considéré comme inhabituelle l’énergie avec laquelle la jeune comtesse défendait les intérêts de sa famille. Et même si la comtesse ne participa pas nécessairement personnellement 15 | Voir supra, note 13.

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aux combats, son implication et sa responsabilité dans les affaires politiques et même militaires semblent assurées et donc aussi le respect dont elle jouissait comme femme.

Marguerite de Tirol et la défense de la ›patrie‹ Nous serons plus brefs dans la description d’un autre cas d’intervention militaire d’une femme à la tête de sa seigneurie: celui de Marguerite de Carinthie, comtesse du Tirol (1335–1369), déjà évoqué ailleurs (cf. Margue 2012; 2013). Le dimanche des Rameaux de 1347, Charles IV, fraîchement élu roi des Romains, fait une entrée en grande pompe dans la ville épiscopale de Trente.16 A l’entrée du ›Duomo‹, »son« évêque, le fidèle Nicolas de Brünn/Brno, lui fait un accueil triomphal. Mais Charles IV n’est pas seulement venu afficher son pouvoir de manière pacifique. Il vient aussi en juge et guerrier pour reconquérir à l’aide de l’évêque le territoire au nord de Trente, le Tirol, perdu en faveur de ses rivaux de la maison de Wittelsbach, et consolider ses projets impériaux en Italie.17 Pour ce faire, il doit vaincre celle qui a chassé le frère du roi et livré le pays aux ennemis. Car il s’agit bien d’une femme, Marguerite de Tirol, qui, après avoir chassé son jeune époux Jean Henri de Luxembourg, frère cadet de Charles et pion essentiel dans la politique des Luxembourg au Tirol, et après avoir pris pour second mari Louis, margrave de Brandebourg, fils de Louis de Bavière, ose résister au roi, et organise la défense du pays à partir du château de Tirol. Matthias de Neuenburg et le Chronicon Estense18 décrivent en détail la défense du château de Tirol par Marguerite, en l’absence de son mari. La comtesse de Tirol résiste avec succès; ne bénéficiant pas d’un large soutien dans le pays, l’empereur doit se retirer. La description des actions militaires  – proba16 | Chronicon Estense 1937: 145: »Dominus Karolus […] fecit celebrari missam in civitate Trenti […] ubi personaliter extitit vestibus indutus imperialibus cum virga aurea et pila rotunda in manibus, significans dominationem mundi. Finita missa, equitavit paer civitatem […]. L’adventus royal au jour des Rameaux ne laisse aucun doute quant au désir de Charles de manifester le pouvoir impérial en Italie, ce face à son rival Louis de Bavière.« La (re)conquête du Tirol s’intègre ainsi dans un plus vaste projet de politique impériale en Italie; voir Böhmer/Huber 1877: no 317a du 25 mars 1347. 17 | Sur l’importance du comté de Tirol pour la politique italienne de Charles IV et le déroulement détaillé des opérations diplomatiques et militaires: Widder 1993: 90–112. Voir encore: Riedmann 1978: 791–792; Wegner 1996: 213–217 (qui insiste sur l’appel lancé par les potentats du Nord de l’Italie); Baum, 2007; Hörmann-Thurn und Taxis 2007: 48 et 130. 18 | Wegner 1996: 12–80, fournit un aperçu critique commode sur les différentes chroniques ayant traité l’affaire du divorce de Marguerite de Tirol.

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blement centrées à dessein sur le personnage de la comtesse – offre les rares mentions qui montrent l’action et le caractère propres à Marguerite; en général, elle n’est citée que comme marionnette de la politique des Luxembourg ou des Wittelsbach. Face aux troupes du roi et de l’évêque de Trente, renforcées par des contingents de Milan, Vérone, Padoue et Mantoue, la comtesse aurait réalisé des prouesses militaires à la tête d’une poignée de fidèles. Elle aurait fait preuve d’un courage extrême, entreprenant même personnellement des sorties contre les assiégeants. Le Chronicon Estense lui adresse les éloges suprêmes: »et viriliter se defendebat« (Chronicon Estense 1937: 145) elle s’est défendue »avec force« ou, si l’on veut bien donner son sens étymologique au terme, »comme un homme«. Cette manière de décrire l’implication directe de la comtesse dans les opérations militaires ne saurait mieux illustrer l’assimilation de la femme guerrière aux hommes: la guerre amène Marguerite à se comporter en homme. L’exercice du pouvoir, et a fortiori son aspect militaire, appartient dans l’esprit médiéval à l’homme (»vir«), créé à l’image de Dieu, disposant des forces (»vires«) et de la vertu (»virtus«). Pour bien saisir l’épisode du siège du château de Tirol, il faut se rappeler de quelle façon elle accéda au pouvoir. Lorsque le père de Marguerite, Henri de Carinthie, comte du Tirol et duc de Carinthie, renonça à toutes ses prétentions sur la Bohême en faveur des Luxembourg, le roi Jean esquissa un rapprochement avec son ancien rival et ponctua le traité de paix par un mariage entre les deux maisons du Luxembourg et du Tirol. Jean envoya donc en 1327 son second fils Jean-Henri, alors âgé de cinq ans, au Tirol. Trois ans plus tard, il fut marié à l’unique héritière de Henri de Carinthie, Marguerite, qui était son aînée de quatre ans19 . Le comte de Tirol et duc de Carinthie y gagna la somme faramineuse de 40.000 marcs d’argent, pour la dot de sa fille, et les Luxembourg crurent mettre la main sur le Tirol et la Carinthie. En marge du mariage de ces deux jeunes enfants qui ne semblaient être que des pions sur l’échiquier politique, le roi Jean convint d’ailleurs avec Henri qu’en cas de décès de l’un des deux, l’autre exercerait la tutelle du couple comtal mineur.20 A Hall près d’Innsbruck, Jean alla même plus loin en confirmant les privilèges des bourgeois si la »régence« devenait effective (cf. Moser 1989: 11, no 8). Henri de Carinthie était en effet gravement malade, mais il semble qu’il ait gouverné le comté jusqu’à sa mort, le 2 avril 1335. En vertu des stipulations du contrat de 1330, Jean aurait alors dû reprendre la tutelle des enfants mineurs. Toujours retenu par ses activités diplomatiques et guerrières multiples, le roi de Bohême ne fut en réalité guère présent au Tirol; 19 | Pour le malheureux épisode du gouvernement de Jean Henri au Tirol, voir maintenant Hörmann-Thurn und Taxis 2013.  20 | Böhmer 1843: 410 (livre 5, chap. 9): »Convenerunt […] alter tutelam gereret puerorum.«

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c’est son fils aîné Charles qui devait le remplacer à la fin de l’année 1335 au Tirol. Non loin de là, un puissant ami, l’évêque de Trente, veillait. En l’absence des deux Luxembourgeois, père et fils, c’est lui qui gouvernait le pays, comme l’exprime bien la première version de la chronique de Jean de Victring au moment où le chroniqueur montre Nicolas de Brünn exiger la cession de la Carinthie aux comtes de Tirol, »en vertu du droit et au nom des enfants mineurs qui avaient légalement été placés sous sa tutelle«.21 Le Tirol, point de passage obligé pour descendre en Italie, était aux mains des Luxembourg. Mais leur »règne« commença par une défaite diplomatique; ils ne purent pas empêcher les Habsbourg de revendiquer avec succès la succession en Carinthie. Lorsque Charles apparut enfin au Tirol, début 1336, il prit soin de fonder le règne des Luxembourgeois sur des bases juridiques solides. Charles, Jean-Henri et Marguerite s’engagèrent solennellement à garder intact et à ne pas céder à autrui le »dominium seu comitatum Tyrolensem«, tandis que les représentants du pays, nobles et non-nobles, leur jurèrent serment de fidélité. Fin 1336, le roi Jean donna son accord à cet acte et s’y associa (cf. Emler 1892: 144, no 360 du 23 décembre 1336). Née de la crainte que les princes »étrangers« puissent admettre d’autres pertes territoriales comme dans le cas de la Carinthie, cette sorte de »charte du pays« devait unir la nouvelle dynastie au pouvoir à ses sujets. Le futur Charles IV note d’ailleurs l’adhésion des habitants du Tirol au nouveau pouvoir dans son autobiographie: »fuimusque admissi ad regimen illius patrie per terrigenas comitatus supradicti« (Karoli IV 1950: 30). Charles avait donc repris la régence de son père: »eodem tempore misit nos pater noster in comitatum Tyrolis, ut eundem gubernaremus ac fratrem nostrum cum sua uxore, ipsis existentibus in etate puerili« (Karoli IV 1950: 30). Les comptes princiers illustrent la pratique gouvernementale du »régent«, tout comme ses problèmes financiers (cf. Schönach 1905). On y voit également que le marquis de Moravie avait amené au Tirol des conseillers de son entourage bohémien, mais qu’il engagea aussi quelques officiers indigènes. Dans la suite, Charles dut régulièrement réapparaître au Tirol, au début pour se lancer dans une politique d’expansion, puis pour mâter les premières révoltes contre son frère. En avril 1340, une partie de la noblesse du pays s’allia contre Jean-Henri et ses conseillers; il semble que Marguerite ait déjà à cette époque fait partie des projets d’insurrection qui prévoyaient une union avec 21  |  Johann de Victring (1899): 252 (livre VI, chap. 1). Dans son édition, W. Friedensburg a utilisé le brouillon autographe de l’abbé de Victring, plus complet que la version finale éditée par Böhmer 1843. Sur l’histoire de la chronique de Jean de Victring et le niveau élevé d’information de l’abbé qui connaissait personnellement Marguerite Maultasch et avait été doté de nombreuses missions diplomatiques par Henri de Carinthie et Albert II, voir l’introduction à la traduction de W. Friedensburg; cf. Baum 20072: 63 f; Wegner 1996: 12–21.

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les Wittelsbach, grands rivaux des Luxembourg (cf. Haug 1906: 265 f.; Baum 20072: 79–81). Les insurgés furent arrêtés et Marguerite placée sous contrôle d’une garnison bohémiennne au château de Tirol. Quelles étaient les causes de cette insurrection? Les sources s’exprimant à ce sujet ont été passées au crible par Ulrike Wegner; on ne reprendra donc pas ici ce dossier. En résumé, trois types de causes peuvent être retenues: l’incompatibilité entre les deux époux, le mécontentement des nobles du pays face à l’ingérence »étrangère« et aux pressions financières du »régent« Charles, les machinations des Wittelsbach, eux-mêmes intéressés à mettre la main sur les régions alpines. Dans ces conditions, il n’est pas aisé de déterminer quelle initiative revint à la jeune Marguerite. Il semble cependant que la jeune comtesse n’acceptât pas la tutelle des Luxembourg. On sait qu’elle montra un premier sursaut d’orgueil lorsque son tuteur consentit à laisser la Carinthie aux Habsbourg pour des raisons diplomatiques. Jean de Victring, bien renseigné, rapporte qu’elle se serait exprimée en ces termes: »Elle ne voulait pas être spoliée par le roi de Bohême de son héritage (exheredari); un tuteur n’avait pas le droit de lui enlever une partie de sa propriété qui lui revenait iuxta sancta legum et statuta iurium civilium«. Folle de rage, elle aurait même prêté serment sur la sainte hostie de ne pas tolérer ce marchandage (cf. Böhmer 1843). Sous l’emprise croissante des Wittelsbach, Marguerite se détacha des Luxembourg, et de son jeune époux. Une première tentative d’expulser son mari échoua, comme nous l’avons vu. Mais la tutelle de Charles fut encore plus mal supportée que celle de son père Jean, ce d’autant plus que Marguerite était maintenant majeure. La noblesse du pays vit ses privilèges menacés par une ingérence externe et se rabattit sur »sa« comtesse. Les impôts levés par les Luxembourg firent le reste; dès que Charles fut parti, Marguerite jeta littéralement Jean-Henri à la porte (1341). Geste sans précédent, il ne put réussir sans l’aide de la noblesse du pays, qui soutint majoritairement sa comtesse. Pendant deux ans, Marguerite gouverna seul son comté; puis elle se chercha un allié et épousa Louis duc de haute-Bavière, fils de l’empereur. En 1347, Charles IV tenta bien de reprendre le Tirol; mais, comme nous l’avons vu en introduction, Marguerite lui résista. Le Tirol, perdu pour les Luxembourg, ne resta pas longtemps sous la domination des Wittelsbach de Bavière. Après la mort de Louis de Brandebourg en 1361, Marguerite ne put s’imposer comme »régente« de son jeune fils et unique héritier, Meinhard III. Le décès de celui-ci en 1363 la plaça sous la coupe de la noblesse du comté, qui se sentait enfin libérée de l’emprise très stricte de Louis et des Wittelsbach. La comtesse ne put se libérer de cette domination qu’en cédant le Tirol à ses parents de la Maison de Habsbourg, le 26 janvier 1363 (cf. Anno 1363 2013; Riedmann 2013). Revenons à l’image que l’historiographie a laissée de la comtesse, abordée en introduction. Excommuniée temporairement par le pape, ses terres étant frappées

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de l’interdit, prise en tenaille entre les calomnies des Luxembourg et la défense des chroniqueurs pro-impériaux, puis chassée de ses terres par les Habsbourg, Marguerite laisse une image très diverse et très controversée, selon les contextes et causes historiographiques.22 On comprend que l’autobiographie de Charles IV n’a pour cette femme que dédain: »Elle ne mérite pas«, dit le continuateur autorisé de l’empereur, »que le frère du roi reprenne dans ses bras cette femme« »taliter adulteri turpitudine pollutam« (Karoli IV 1950: 58; voir Baum 2007: 47 f.). D’autres chroniqueurs émirent un constat encore plus violent: Matthias de Neuenburg parle d’une »femme à demi-folle«, »uxor semifatua«.23 Très vite, la propagande luxembourgeoise développa l’image d’une épouse infidèle et concupiscente, tandis que se répand, dans le camp adverse, la rumeur de l’impuissance et des maladresses de son mari.24 L’image de la femme aux mœurs débridées connut une fortune rapide. Le terme injurieux de »Maultasch«, qui pourrait renvoyer aux organes sexuels de la femme mais, selon une interprétation récente, également aux critiques vis-à-vis d’une imposition trop lourde25 –, apparut probablement encore à la fin de sa vie.26 Le sens originel en fut vite mal compris et détourné en malformation physique – »Maultasch«, la »grosse bouche«. L’historiographie moderne jusqu’à l’époque récente a souvent suivi l’image peu nuancée d’une femme avide de puissance dessinée par les historiens du Moyen Age.27 Plus récemment, une analyse historique du »mythe« de la femme »vorace« aboutit à une représentation nuancée, qui, dans le contexte actuel de l’affirmation de l’identité du Tirol du Sud, pourrait faire revivre l’image de la »mère du pays«.28 *** 22 | En dernier lieu: Baum 2007: 66–95; voir aussi 1993: 367–408; 2007: 207–245. 23 | Mathias de Neuenburg 1924: 163 (version B, chap. 59). C’est aussi le chroniqueur habsbourgeois qui qualifie pour la première fois Jean-Henri de »impotens« et relate les maladresses du jeune comte, qui »inter alia eius mordendo mamillas«. 24 | Cf. note précédente. 25 | »Maultasch«, transposition vulgaire de »Malus saccus« – mauvais sac, faisant référence aux impôts levés par la comtesse en mal de moyens financiers et qui lui valurent la comparaison avec une bourse d’argent (»Geldsack«). 26 | La première occurence du surnom »Maultasch« se trouve dans la troisième continuation de la Sächsische Weltchronik, rédigée vers 1365, qui n’est connue que par une copie tardive. Il est cependant possible que le surnom remonte à une interpolation tardive. Voir Baum 2007: 79. 27 | Voir p. ex. le jugement de Prinz 1984: 144: »Die Ehe mit Johann-Heinrich war unglücklich, schon wegen des höheren Alters Margaretes und wohl noch mehr durch ihre unverhohlenen Freude an Macht und Herrschaft«. 28 | Voir le dépliant publicitaire de l’exposition de 2007 sur la comtesse: »Damit stellte Margarete die entscheidenden Weichen für die zukünftige Entwicklung des Landes Tirol«

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Dans les derniers siècles du Moyen Âge, les représentations artistiques et littéraires valorisent l’image de la femme guerrière à la cour sur le modèle des guerriers masculins, les héros chevaleresques. Phénomène nouveau, il pose la question du rapport entre les représentations culturelles mentales et la réalité de la vie politique: la femme guerrière est-elle désormais acceptée dans une société où la chose militaire est traditionnellement réservée aux hommes? Rares sont les cas concrets de femmes menant la guerre que la documentation provenant presque exclusivement d’hommes – et très souvent des hommes d’Église – permet d’analyser. Les deux cas ici passés en revue, ceux de Laurette de Sponheim et de Marguerite de Tirol, présentent des images fort différentes. La première semble entièrement reconnue dans son rôle politique et militaire, la seconde est rangée dans la catégorie de virago, femme excessive menaçant l’ordre moral, social et politique. Trois enseignements majeurs me semblent devoir être retenus à ce sujet. En premier lieu, le fait que de nombreuses femmes sont désormais engagées à des titres fort divers dans la vie politique et donc aussi dans l’activité militaire. Elles ont dans ce domaine rejoint les hommes qu’elles suppléent dans leur rôle de seigneur, gestionnaire d’un patrimoine qu’il s’agit de défendre et de transmettre intact à leurs héritiers. Les femmes y jouent des rôles très divers, de conseillère, de catalyseur, de responsable politique voire stratégique jusqu’au de commandant des troupes. Il vaut donc mieux analyser les différentes dimensions de la marge de manœuvre d’une femme engagée dans la vie politique plutôt que de se limiter à l'étude de l’action militaire au sens restreint du terme. En second lieu, ce phénomène est reconnu et largement accepté parce qu’il reste limité à certains domaines d’application. Parmi ceux-ci, la régence d’une veuve pour ses héritiers mineurs et le gouvernement d’une héritière d’un patrimoine tombé en quenouille représentent des cas particulièrement nombreux et révélateurs. L’action politique et militaire de la femme est acceptée par la société si elle défend ses terres et ses droits, que ce soit au niveau ›national‹, comme Jeanne d’Arc, au niveau de la principauté territoriale comme Marguerite de Tirol ou au niveau de la seigneurie à l’image de Laurette de Sponheim et tant d’autres. Dans ces cas, les hommes acceptent la femme guerrière, la soutiennent même ou la combattent à armes égales parce qu’elle reprend une fonction masculine. Enfin, constat évident mais qu’il convient toujours de souligner, l’image des femmes guerrières est une construction masculine qui la déforme à sa guise selon son auteur et le genre du texte écrit. »Virago« ou »egregia bellatrix«, rivale dénigrée ou détentrice de seigneurie respectable, l’image des guerrières et leur mémoire restent du domaine de la création littéraire des hommes tant que les femmes n’auront pas conquis celui-ci.

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Sous le feu des projecteurs Le spectacle Marie-Antoinette revu par Antonia Fraser et Sofia Coppola Sonja Kmec

Introduction »Qu’ils mangent de la brioche!« La célèbre réplique que la reine de France Marie-Antoinette (1755–1793) aurait donnée lorsqu’elle apprit que les insurgés réclamaient du pain est aussi apocryphe (cf. Castle 2003: 236) que symptomatique pour l’ensevelissement de cette figure historique sous une chape de représentations, selon la métaphore déployée par Susan S. Lanser (2003: 278). Jacques Revel a démontré comment la »reine de papier […] remplaçait progressivement la reine ›réelle‹« de son vivant (cité dans ibidem: 279) et le recueil d’études édité par Dena Goodman (2003) décortique les représentations sexuées et genrées qui se sont empilées au fil des siècles, sans chercher à dévoiler la »vraie« nature de Marie-Antoinette. Au contraire, Marie Antoinette, la biographie d’Antonia Fraser publiée en 2001, et l’adaptation filmique homonyme de Sofia Coppola sortie en salle en 2006 tentent de déconstruire la légende noire afin d’offrir une lecture alternative du personnage, chacune par les moyens qui lui sont disponibles: la (re-)lecture de sources primaires et la contextualisation historique pour la première; l’intertextualité (y compris au niveau de la bande originale du film, délibérément anachronique) et la liberté créatrice1 pour la seconde. D’un point de vue commercial, la biographie et le biopic s’appuient mutuellement. Le film 1 | Ainsi, vers la fin du film, Marie-Antoinette se présente toute seule au balcon devant la foule envahissant Versailles et s’incline en écartant les bras à la manière du Christ crucifié, une figure humble et prête à être martyrisée, tandis que la biographie de Fraser (2001: 352) relate que le roi et la reine se montraient ensemble aux insurgés. De même, les derniers mots du film, I am saying goodbye, prononcés par Marie-Antoinette sont empruntés à sa belle-sœur Elisabeth, rapportés par le biographe de cette dernière, Martial Debriffe (cité par Fraser 2001: 354).

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est réalisé avec le soutien de l’historienne (y compris sur The Making of Marie Antoinette, en bonus du DVD). En contrepartie, il contribue au marketing de la traduction française de Fraser, parue un an après la sortie du film. Tandis que la couverture originale du livre comporte le portrait de l’archiduchesse d’Autriche peinte par Martin Mytens, celle de la version française montre une photo de l’actrice principale du film, Kirsten Dunst, en Marie-Antoinette. Une effigie en substitue une autre. Contrairement à ce qu’affirme la newsletter de Columbia University, Coppola a donc bien eu une conseillère historique, même si elle a refusé l’aide d’une autre: »Sofia Coppola rejected the advice of ›stuffy professors‹ like historian Caroline Weber. Thus the portrait of the queen, as played by Kirsten Dunst (left), has little to do with the historical figure (right)«.2 Le lien de causalité implique que le film aurait été plus »correct«, si la réalisatrice avait suivi les conseils d’experts, mais l’opposition entre l’actrice incarnant MarieAntoinette et la »vraie« figure historique révèle une certain myopie concernant la médiation de l’histoire. En effet, la figure historique a disparu à jamais, l’illustration qui fait face à la photo de Kirsten Dunst sur la page Internet en question est donc également une image, en l’occurrence l’extrait (buste) d’un portrait en pied, peint par Jean-Baptiste Gautier Dagoty en 1775. Suite à l’avènement au trône de Louis XVI, Marie-Antoinette est ici représentée dans de riches parures, drapée d’une cape fleurdelysée, sa main droite posée sur un globe terrestre: l’image symbolise la dignité royale et le pouvoir. Il est vrai que le contraste avec l’image de Kristen Dunst – coquette et entourée de courtiers – est flagrant, mais il n’en reste pas moins qu’on a affaire à deux images, l’une produite par Coppola, l’autre par Dagoty – les deux sélectionnées par Caroline Weber ou du moins servant ses propos (cf. Weber 2006). L’objectif de cet article n’est pas de confronter l’interprète de Marie-Antoinette à son modèle historique, mais d’examiner comment la biographie de Fraser et le biopic de Coppola mettent en exergue les multiples rôles octroyés à Marie-Antoinette par ses contemporains, en accordant une attention plus particulière aux représentations de genre véhiculées tant au XVIIIe qu’au XXIe siècle. Nous comparerons donc l’image publique de la reine esquissée par les pamphlétaires, pornographes et mémorialistes, mais aussi l’image projetée par la reine elle-même, à leurs réinscriptions par Fraser et Coppola. Ces images font référence à un savoir commun, à des valeurs et normes que les auteurs et les lecteurs sont supposés partager – y compris les rôles et relations de genre. Or, si la biographie de Fraser et le film de Coppola sont assez proches de nous et donc plus simples à décoder, les écrits du XVIIIe siècle le sont beaucoup moins. Les mots et symboles qu’ils utilisent par exemple pour désigner l’homosexua2 | Anonymus: The Details Matter: Barnard College Historian Caroline Weber Appraises Sofia Coppola’s Marie-Antoinette (24.10.2006). In: Columbia News. Online www. columbia.edu/cu/news/06/10/weber.html [31.08.2014].

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lité féminine ou la maternité ont une signification différente aujourd’hui. Il est donc important de contexualiser ces sources. Quant à l’importance de la catégorie de genre pour toute analyse historique, Joan Scott et Éléni Varikas (1988) montrent que la catégorie (ou le prisme d’analyse) de »genre« aide à décrypter les stratégies narratives qui permettent la domination sociale des femmes et l’oppression des corps. La catégorie de genre est donc un outil et une méthode d’analyse de discours. Elle permet d’analyser des identifications et appropriations individuelles, très complexes et souvent contradictoires ainsi que des fantasmes inconscients liés à ce qui est considéré comme »anormal«. Les catégories de genre n’existent pas en dehors des textes et images analysés (cf. Scott 2012: 14). Elles sont construites à des fins stratégiques, notamment la consolidation de structures hiérarchiques. Ces rapports de force n’opposent pas simplement un sexe à un autre, les hommes aux femmes, mais s’articulent aussi à l’intérieur d’un genre. C’est dans cette optique que nous allons aborder le thème fédérateur du livre de Fraser, à savoir: quelles catégories de genre sont mobilisées dans la construction de l’image de Marie-Antoinette? À quelles identifications et fantasmes collectifs les sources font-elles référence? Et quels changements et ruptures peut-on observer en comparant les libellistes de l’époque prérévolutionnaire et révolutionnaire aux biographes d’aujourd’hui? Pour commencer, il est utile de grouper les étiquettes accolées à Marie-Antoinette. D’ailleurs, le choix même de l’appeler »Marie-Antoinette« est déjà une prise de position, son nom de baptême étant Maria Antonia Josepha Joanna, archiduchesse d’Autriche; toute jeune, elle signait ses lettres »Antoine« afin de se distinguer de ses sœurs qui étaient toutes appelées Marie, en honneur à la Sainte Vierge (cf. Fraser 2011: 7). Les révolutionnaires français l’appelaient »Antoinette Capet«, éliminant la référence catholique et octroyant un nom de famille dérivé d’Hugues Capet, le duc des Francs qui s’était élevé, au Xe siècle, au rang de roi. Le Comte de Fersen, l’amant de la reine selon tous les biographes depuis Stefan Zweig (1932), adressait ses lettres à »Josephine« ou la désignait, dans son journal intime, simplement par le pronom »Elle« (Fraser 2001: 242 f.). Aujourd’hui encore, elle nous reste connue sous le nom de Marie-Antoinette et nous utiliserons également cette désignation, tout en soulignant que le personnage est insaisissable. Le centre est »décentré«. Comment alors l’aborder? Ce problème est à la base de l’écriture biographique depuis qu’elle a été remise en question par les sociologues et les structuralistes (cf. Dosse 2011: 216–230). Il convient donc de savoir d’abord en quelle mesure Fraser et Coppola succombent à l’ »illusion biographique« (Bourdieu 1986) et restent fidèles au registre classique de la biographie que François Dosse a nommé l’»âge héroïque«, qui fait du personnage principal un héros à défendre contre toutes les légendes noires (cf. Dosse 2011: 133–211). Ensuite, nous examinerons plus en détail comment Fraser déjoue et Coppola joue avec les épithètes qu’ont été attribuées à Marie-Antoinette, regroupées ici en trois parties thématiques: l’Autrichienne (un pouvoir

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politique redouté), l’aristocrate dépensière (symbole de l’Ancien Régime) et la femme libidineuse (un danger pour la moralité publique).

Face à l’»illusion biographique« 1. Des anecdotes sans intérêt? La biographie était une des »idoles de la tribu des historiens« que François Simiand (1960: 117 f.) comptait combattre dans un article phare, réimprimé en 1960 par les éditeurs de l’influent journal Annales. Economies, Sociétés, Civilisations. Simiand se demandait pourquoi ne pas éliminer complètement, du moins de l’histoire scientifique, ces tra­ vaux consacrés à des biographies pures et simples du moindre petit cousin d’un grand homme, et ne pas envoyer se rejoindre, dans l’histoire anecdotique et le roman histo­ rique, les »Affaires du collier« avec toutes les »Familles de Napoléon«, alors que nous n’avons pas encore de travaux suffisants sur l’état de l’industrie et de l’agriculture au temps de Turgot et que nous sommes presque totalement ignorants de la vie écono­ mique de la France sous la Révolution et l’Empire? (Ibidem: 118)

Ignoré lors de sa parution originale en 1903 par la »tribu des historiens«, l’article influençait les sociologues durkheimiens, pour qui la question de l’individu n’avait aucune pertinence (cf. Dosse 2011: 216). Les adeptes de l’école des Annales acquiescent: l’écriture de l’histoire sociale et l’histoire des mentalités ne s’intéresse aux individus uniquement en tant que portail d’entrée vers un monde inconnu (cf. Febvre 1942; Corbin 1998). Bourdieu semble enfoncer le dernier clou dans le cercueil du genre biographique en dénonçant l’histoire cohérente et totalisante qui en découlerait: Produire une histoire de vie, traiter la vie comme une histoire, c’est-à-dire comme le récit cohérent d’une séquence signifiante et orientée d’événements, c’est peut-être sacrifier à une illusion rhétorique, à une représentation commune de l’existence, que toute une tradition littéraire n’a cessé et ne cesse de renforcer (Bourdieu 1986: 70).

Or l’avènement du nouveau roman montre – comme l’a formulé Alain RobbeGrillet – que »le réel est discontinu, formé d’éléments juxtaposés sans raison dont chacun est unique, d’autant plus difficiles à saisir qu’ils surgissent de façon sans cesse imprévue, hors de propos, aléatoire« (Ibidem). Cette critique bourdieusienne, reprise par la recherche féministe et postmoderniste, accuse l’écriture biographique de vouloir donner une image cohérente d’un sujet unifié et autonome, qui serait maître de son destin (cf. Epstein 1991a: 4 f.). De fait,

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les innovations à l’intérieur du genre biographique sont nombreuses, tant du côté littéraire qu’historiographique (cf. Dosse 2011: 251–325) et sociologique, où l’article de Simiand est toujours considéré comme »un point de référence incontournable« (Chantegros et al. 2012: 14). Il est certain que ni Fraser ni Coppola n’ont pour objectif de nous apprendre du nouveau sur l’économie française, même si l’exemple de Marie-Antoinette peut servir à illustrer les stratégies d’édition des libellistes ou les liens entre la mode, la consommation des biens de luxe et le secteur artisanal qui lui est dédié. Le fonctionnement de la vie de cour, sa théâtralité et le souci du maintien des apparences transparaît tant dans le livre que dans le film. Enfin, l’observation minutieuse des rôles de genre dépasse de loin le cadre de la figure de Marie-Antoinette. Reste à savoir comment la subjectivité de cette dernière est appréhendée, si son histoire est totalisée – dans un souci de cohérence – ou si des paradoxes persistent. L’entité du sujet est-il affirmé ou sa fragmentation et sa pluralité sont-ils mis en avant?

2. Auteur – sujet – lecteur/spectateur Tandis que Fraser multiplie les sources primaires et donc les perspectives, Coppola adopte de façon conséquente le point de vue de son héroïne. Dans les deux cas, l’entité du sujet reste intacte. Il évolue certes au fil du temps, mais sans jamais entrer en contradiction avec soi-même. Tandis que Fraser s’emploie à démontrer le mal-fondé des accusations des pamphlets en citant des contrearguments, Coppola est tout aussi efficace dans sa défense du personnage et s’applique à en montrer la »réalité«. Ainsi Le Lever d’Aurore, le premier traité accusant directement la reine de promiscuité (cf. Hunt 2003: 124; Thomas 2003: 105), n’est pas mentionné; s’y substitue la représentation de l’événement même. Marie-Antoinette et son entourage regardent le lever du soleil se miroitant dans les bassins d’eau de Versailles: une scène empreinte d’innocence et de romantisme, rappelant plutôt les modèles littéraires qui avaient inspiré la reine à faire cette sortie (cf. Fraser 2001: 174) que son dénigrement après-coup.  La seule fois où une image alternative et dérangeante de la reine est projetée, elle est clairement désignée comme fictive. Ainsi voit-on, vers la fin du film, Versailles de loin avec en bruit-de-fond les insurgés et une voix qui s’emporte: »And when they went to the queen to tell her her subjects had no bread, do you know what she said?«, suivi d’un gros plan sur le visage de la reine, installée dans sa baignoire portant un collier de diamants (une allusion à l’Affaire du collier, voir Maza 2003), les lèvres grotesquement peintes en noir, lançant d’une moue dédaigneuse: »Let them eat cake«. Ces deux scènes sont immédiatement définies comme issues d’un pamphlet lorsqu’on voit Marie-Antoinette qui s’agace »That’s such nonsense, I would never say that«, puis lorsque la duchesse de

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Polignac lit à voix haute des extraits de pamphlets. Elles sont installées dans un petit salon, en compagnie de la princesse de Lamballe qui fait de la broderie et qui a l’air choqué en entendant les diffamations sexuelles, tandis que la reine se contente de la question rhétorique résignée: »Don’t they ever get tired of those ridiculous stories?« Les pamphlets sont donc déconstruits comme purement fictifs en opposant le cliché à la »réalité«. Fig. 1: Marie-Antoinette (Matteo Civaschi/Gianmarco Milesi: Das Leben in 5 Sekunden. 200 Biographien von Gott bis Pippi Langstrumpf. 2e éd. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2013, p. 60)

Le film s’arrête en 1789, en plein milieu des événements dramatiques que l’on sait, mais il contient néanmoins une narration bien bouclée: celle du couple royal. Le dauphin et l’archiduchesse se rencontrent en tant qu’étrangers au début du film, puis se rapprochent progressivement pour former à la fin un couple soudé, entouré de ses enfants. Un bonheur conjugal à mille lieux de la propagande révolutionnaire qui dénonce le roi comme impuissant et cocu et la reine comme sexuellement vorace et impudique (cf. Thomas 2003). Tel était également le but avoué de Fraser, dont le récit va jusqu’à la mort de la reine et inclut sa commémoration posthume: »I have hoped to unravel the cruel myths and salacious distortion surrounding her name« (2001: xvii f.). Coppola rejoint

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cet objectif dans sa tentative  – comme l’admet Anna Backman Rogers  – »to salvage the figure of Marie-Antoinette from a historical legacy that has served to perpetuate her status as a figurehead of hatred« (2012: 81). Tant la biographie que le biopic se situent donc dans une logique de vouloir »sauver« ou rendre justice, une logique que Dosse attribue à »la période […] d’âge héroïque de la biographie [qui] est certes dépassée au plan épistémologique, mais pas pour autant révolue« (2011: iii). Par ailleurs, »la relation biographique« (Boyer-Weinmann 2005) entre le biographe et la figure biographée n’est pas très transparente. D’après Erik H. Erikson it would seem that even the best trained historical mind could not ›live in the historical process‹ without underscoring and erasing, professing and denying, even loving and hating, and this without trying to know himself as so living and so knowing (cité par Weiland 1991: 206; voir aussi ibidem: 214, note 44).

La subjectivité du biographe est un lieu commun depuis Freud, mais peu de biographes l’assument vraiment, critique Hildesheimer (2011). Ainsi Fraser conclut-elle son introduction sur l’exclamation royaliste »Vive la Reine« (2001: xxi), mais elle ne mentionne pas sa propre descendance aristocratique (Antonia Fraser étant la fille de Frank Pakenham, 7th Earl of Longford, elle porte le titre honorifique de »Lady Antonia«). De plus, les sentiments amoureux qu’elle attribue à Marie-Antoinette et au comte de Fersen ressemblent étrangement aux émotions que partagent l’auteur et son amant (plus tard époux) Harold Pinter, telles qu’elles sont décrites dans ses propres mémoires (Fraser 2010). Antonia Fraser et Marie-Antoinette ne partagent pas seulement le même prénom, mais  – au dire de la première – également une liaison extraconjugale qui leur fit connaître le bonheur. Pourtant, Fraser ne mentionne jamais sa propre subjectivité. Le »nécessaire pacte biographique entre l’auteur et son lecteur« (Boyer-Weinmann, citée par Dosse 2011: iv; voir également Lanser 2003: 286) n’est donc pas respecté.

3. Film postmoderne ou film d’époque? D’après Backman Rogers, si la biographie de Fraser est »révisionniste« (2012:80), le film de Coppola s’en démarque par son approche »postmoderne« (ibidem: 81), qui réussirait à subvertir les codes du film d’époque (cf. ibidem: 94). Le côté iconoclaste est indéniable. Coppola heurte délibérément les sensibilités des puristes par l’insertion d’anachronismes volontaires (la musique extradiégétique, sniffer ce qui ressemble à de la cocaïne) ou plus discrets (baskets Converse All Star, bouteilles de bière). Or, en déduire que l’approche de Coppola »eschewed any pretense to accuracy or truth often associated with the ›heritage style‹« (ibi-

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dem: 81) me semble exagéré. La scène d’ouverture rompt certes le »quatrième mur«, lorsque l’actrice fait un clin d’œil à la caméra (cf. ibidem: 83), mais cette scène – rappelant par ailleurs une photographie de mode de Guy Bourdin – se déroule avant même l’affichage du titre du film et se situe en dehors de la trame narrative du film, qui par la suite est très linéaire et n’ébranle plus le »quatrième mur«. De même, le caractère »punk« du film se limite à la présentation du titre. La typographie du titre joue sur l’intertextualité: les lettres en rose vif semblent découpées de journaux et rappellent autant des tentatives de chantage (Le Corbeau, un film de Henri-Georges Clouzot, 1943) que la presse à sensation – ainsi que la typographie de l’album punk Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols de 1977, qui contient une parodie de l’hymne national britannique désacralisant voire déshumanisant la reine (d’Angleterre)  dans sa deuxième strophe: »God save the Queen / She ain’t no human being«. Or, le choc visuel du titre et du générique restent des éléments isolés, qui sont mis en avant pour rendre le produit plus »sexy«, mais sans avoir d’impact véritable sur le reste du film. Le décor se veut réaliste, le film étant tourné à Versailles même; si certains détails historiques ou vestimentaires sont incorrects, ces erreurs n’apparaissent pas aux spectateurs non-initiés. La construction de l’image de la femme comme marchandise, utérus et fantasme – considérée par Backman Rogers comme »ways in which historical ›truth‹ is created and sustained« (ibidem: 82) – se retrouve dans le livre de Fraser, connue par ailleurs pour son étude sur les femmes anglaises au XVIIe siècle (cf. Fraser 1984). On peut bien sûr y lire un commentaire sur la construction de l’image féminine par le cinéma, mais cette réflexion n’est pas encouragée activement. Par ailleurs, la théâtralité est omniprésente sans pour autant conduire à une mise en abîme du film lui-même. Coppola expose le spectacle qu’était Versailles en général et Marie-Antoinette en particulier. »[T]raditionally, the body of the queen belonged to the public domain«, remarque Chantal Thomas (2003: 106) et Coppola juge le conseil que Marie-Thérèse donna à sa fille, »All eyes will be on you« (cf. Fraser 2001: 58), si crucial qu’elle l’intègre dans la bande d’annonce du film. L’importance du dressage et de la construction du corps de MarieAntoinette est également soulignée par Pierre Saint-Amand (2003: 261– 262). Il semble en effet que Marie-Antoinette utilisait son corps – de manière consciente et disciplinée – comme un »masque« (Hunt 2003: 121) ou une armure. Se faire belle, la plus belle, était une stratégie de pouvoir où le théâtral se substituait au politique (cf. Saint-Amand 2003: 262) ou alors – comme Caroline Weber l’interprète – où le théâtral devenait éminemment politique (cf. Weber 2006). La reine usurpait graduellement le »rôle spectaculaire« du roi et devenait »the nexus of a theatrical system of communication. The cynosure of every eye, the queen became the condition of visibility of the court, the sole guarantor of representation. And she wielded her power as an effect of this representation« (Saint-Amand 2003: 262). Ce »rôle spectacu-

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laire« se retrouve chez Fraser et a été fidèlement transposé par Coppola dans de nombreuses scènes: le »lever« et le »souper« royal; les visites à l’Opéra, où Marie-Antoinette bien qu’assise dans sa loge devient une actrice qu’on applaudit ou conspue; le bal masqué; la montée sur scène de la reine au Petit Trianon; l’exhibition finale au balcon. Il s’avérait que la reine était prise à son propre piège et que le spectacle devenait de plus en plus dégra­ dant, l’adoration s’étant mue en aversion (ibidem: 263).

Bref, Coppola ne déconstruit son propre film (ou le genre du film d’époque) qu’en surface. Elle saisit l’esprit du temps tel que l’état de la recherche actuel le comprend et le porte à l’écran. Ceci est d'autant plus frappant si l'on compare son film à Marie Antoinette de Woodbrigde Strong Van Dyke, qui ne respecta pas l’interprétation de Stefan Zweig (1932). Zweig avait choisi comme sous-titre Bildnis eines mittleren Charakters – traduit en anglais par The Portrait of an Average Woman, laissé de côté dans sa version française – afin de souligner la médiocrité du personnage, qui aurait été ignoré par l’Histoire s’il n’avait pas vécu les circonstances exceptionnelles de la France révolutionnaire. Portés à l’écran en 1938 par le réalisateur hollywoodien Van Dyke, les propos de Zweig se retrouvent inversés: Marie-Antoinette devient le moteur de l’histoire et la cause principale de l’écroulement de la monarchie française. D’après l’analyse de Laura Mason (2003) cet effondrement est imputé tant au manque de virilité de Louis XVI (qui n’a su se faire respecter ni par ses sujets ni par son épouse) qu’à la sexualité dangereuse de Marie-Antoinette, le film reflétant ainsi les anxiétés de l’Amérique des années 30 quant aux relations de genre. La question se pose si le film de Sofia Coppola s’approprie de manière analogue les sensibilités et les codes des genres de la culture populaire occidentale3 du début du XXIe siècle. En quoi le film s’appuie-t-il sur des interprétations avancées par Fraser ou comment arrivet-il à s’en défaire? D’un point de vue narratif, Coppola colle fidèlement à la trame tracée par Fraser, mais laisse de côté la petite enfance de la protagoniste et les événements se produisant après le départ forcé de Versailles en octobre 1789. Le sous-titre de l’ouvrage de Fraser, The Journey, renvoit au topos littéraire du »hero’s journey« (Campbell 2008), du parcours de l’héro(ïne) qui se cherche et finit par trouver sa vraie grandeur dans l’adversité, ici dans la captivité et le procès que lui intente le Tribunal révolutionnaire en 1793. Le film abandonne ce sous-titre, mais garde l’idée d’un parcours à obstacles. Il commence par le voyage initiatique de la jeune archiduchesse d’Autriche transformée en dauphine de France dans une 3 | Le film étant coproduit par les Etats-Unis, le Japon et la France et adaptant le livre d’une historienne issue de l’aristocratie anglo-irlandaise, on ne saurait parler d’un contexte de production purement américain.

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zone »liminoide«, une île du fleuve-frontière que fut le Rhin (Fraser 2001: 70; Backman Rogers 2012: 86). Les relations et dialogues entre personnages principaux sont pour la plupart dérivés directement des sources primaires exploitées par Fraser. Dû en partie aux contraintes du média, le film articule les clichés de manière différente que le livre d’histoire, mais poursuit le même but: polir l’image de la reine calomniée.

Les légendes noires et leur démontage 1. L’Autrichienne – un pouvoir politique redouté Le sobriquet contemporain le plus répandu fut probablement celui d’»Autrichienne«, repris par les pamphlétaires insinuant que Marie-Antoinette exerçait une influence politique importante en faveur de l’Autriche. Cette appréhension reflétait la peur des conseillers et de la cour que la Dauphine puisse s’immiscer dans la politique externe du Royaume, cherchant par exemple à empêcher que la France ne vienne en aide à son allié polonais, qui fut d’abord attaqué par l’Autriche, puis réparti entre celle-ci, la Prusse et la Russie en 1772. Après la chute de la monarchie, lorsque la guerre entre la France et l’Autriche éclatait, ces anciennes rumeurs furent réchauffées et Marie-Antoinette fut accusée de comploter en faveur de son pays natal. Dans son procès, le Tribunal révolutionnaire l’accusa d’avoir détourné, pendant des années, l’argent de la couronne française pour l’envoyer en Autriche. Le reproche xénophobe est souvent lié de manière intrinsèque à d’autres accusations, notamment celle de dépenser trop ou de se comporter en nymphomane (cf. Hunt 2003: 118; Royer/Humbert 2010). Ainsi le pamphlet L’autrichienne en goguette4 ou l’orgie royale mêle les différents registres de la propagande, qui se renforcent les uns les autres: la méfiance visà-vis de la princesse étrangère, l’ébriété et le dérèglement des mœurs. Joignant au cliché de l’épouse dilapidatrice celui de la mauvaise conseillère politique, la caricature intitulée La poulle d’Autru/yche porte comme légende: »Je digère l’or l’argent avec facilitée [sic!] mais la constitution je ne puis l’avaler«.5 A l’époque »poule« (The artfl Project, Dictionnaires d'autrefois, s.v. poule. Online: www. artfl.com [31.08.2014]) n’avait pas encore la signification de »prostituée«, comme Madelyn Gutwirth le suppose (1992: 232); pour une fois prodigalité financière et 4 | »goguette. n. f. Il ne s’emploie plus que dans cette expression: Être en goguette. Être dans l’excitation joyeuse que donnent des libations un peu trop abondantes« (The artfl Project, Dictionnaires d'autrefois, s.v. poule. Online: www.artfl.com [31.08.2014]). 5 | Annie Duprat: Marie-Antoinette. In: Le Musée de l’Histoire Vivante. Online: www. museehistoirevivante.com/expovirtuelle/expoMA/Animations/Textes/partie2/-B-p2. htm [31.08.2014].

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sexuelle n’étaient pas liées. Par contre, la dilapidation matérielle et la déchéance politique de la France trouvèrent une origine commune. En effet, les libellistes s’accordaient à imputer l’échec de la Constitution  – et donc de la monarchie constitutionnelle – à Marie-Antoinette. La Constitution de septembre 1791, que Louis XVI finissait par accepter à contrecœur, transmit la souveraineté du roi à la nation, mais accordait au roi le droit de veto suspensif. Or, lorsqu’il se servait de ce droit, on soupçonna les manigances de son épouse, bientôt surnommée »Mme Véto« (Hunt 2003: 130). L’abolition de la monarchie un an plus tard (en septembre 1792) fut imputée aux abus que Louis XVI aurait faits de ce droit de véto. Cependant, dans le procès qu’on intenta au roi, il ne fut guère question de son abus de pouvoir, mais surtout de sa fuite. Au contraire, l’immixtion dans des questions d’État fut un des principaux reproches qu’on fit à Marie-Antoinette (cf. Royer/Humbert 2010). L’indignation que souleva son influence politique – réelle ou imaginée – doit être remise dans le contexte des discours misogynes de l’époque, notamment la »tradition inventée« de la Loi salique, examinée récemment par Eliane Viennot (2012b). Cette loi interdisait aux filles de roi de lui succéder, contrairement aux règles de successions de l’Angleterre ou de l’Autriche. La Loi salique – prétendue dater du Ve siècle – fut inventée dans les années 1480 par des clercs, donc des universitaires, cherchant à enrayer »la tendance naturelle des monarques à agir selon leur bon plaisir« (Viennot 2012b: 81). Depuis, de manière rétrospective, les reines qui avaient exercé le pouvoir pendant ces mille ans furent soit effacées des chroniques, soit vilipendées. Grâce à d’autres sources, Viennot a réussi de retracer pas moins de vingt-et-un règnes (cf. Viennot 2012b: 82; Viennot s. d.), auxquels s’ajoutent les reines-mères régentes lors de la minorité de leur fils. Les plus célèbres de ces reines furent vilipendées entre autres par un livre attribué à Louise de Keralio (1791), qui inclut Marie-Antoinette comme dernier exemple de ces femmes au pouvoir, considérées comme des monstres, agissant contre leur nature (cf. Viennot 2012a). Paradoxalement, Keralio sera elle-même également accusée d’avoir agi dans la sphère publique contre sa nature de femme (cf. Hunt 2003: 132). La Révolution exaltait la fraternité et l’égalité de tous les hommes, mais les femmes en restaient explicitement exclues (cf. Gutwirth 1992: 297– 303; Landes 1988). D’après Antonia Fraser, l’idée que les actions de la femme devraient se confiner à la sphère privée, chère à Rousseau et Montesquieu, influença Marie-Antoinette elle-même, qui se considérait surtout comme mère et épouse. Or, cette image (sur laquelle nous allons revenir) n’amadouait guère les Républicains, pour qui elle restait (en tant que génitrice) le symbole de la monarchie héréditaire. Quant à ses loyautés face à l’Autriche, Fraser cherche à montrer que MarieAntoinette fut tiraillée entre des attentes de loyauté divergentes. D’un côté, elle fut la fille de l’impératrice Marie-Thérèse d’Autriche et la sœur de ses successeurs, les empereurs Joseph II et Léopold II. Emprisonnée, elle resta la tante

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de l’empereur François II. Selon la logique dynastique, elle devait agir comme une sorte d’ambassadrice pour défendre les intérêts autrichiens et intervenir auprès du roi pour promouvoir l’alliance ou en tout cas prévenir qu’une guerre éclate entre les deux pays. D’après Fraser, Marie-Antoinette ne réussissait pas vraiment à faire valoir son point de vue, entravé par des conseillers du roi, farouchement anti-autrichiens. D’un autre côté, en tant que dauphine, puis reine de France, Marie-Antoinette était bien sûr censée avoir les intérêts de la France à cœur. Fraser dessine donc l’image d’une opposition sourde entre l’expectative de servir sa maison natale et le devoir d’obéir à son mari – les deux prescriptions émanant d’ailleurs des lettres de sa mère et se rejoignant dans le devoir de produire un héritier à la couronne (cf. Fraser 2001: 55). Coppola transpose ce déchirement très fidèlement: la voix de l’impératrice – incarnée ou plutôt désincarnée par l’ancienne égérie »rock’n roll« Marianne Faithfull – ne se limite pas à des enquêtes sur la vie sexuelle de sa fille, mais la pousse également à s’immiscer dans le choix des ministres. Si les peurs articulées par les pamphlets et rumeurs de l’époque étaient donc fondées, Fraser insiste sur le fait que Marie-Antoinette n’arrivait pas à s’imposer sur le plan politique, sauf pour quelques mois en 1787 où Louis XVI »présentait tous les signes d’une dépression grave« (2001: 299) et la reine réussit à faire entrer Étienne de Loménie de Brienne au conseil, épisode qui n’apparaît pas dans le film, où Marie-Antoinette est entièrement apolitique. Cette appréciation suit le jugement du délégué prussien que la reine »has quitted her frivolous Society and occupies herself with affairs, but as she doesn’t have a systematic brain, she goes from caprice to caprice« (cité par Fraser 2001: 300). Si Fraser montre une femme sans aucun instinct politique, elle le fait d’un point de vue du début du XXIe siècle: en le regrettant et en cherchant des excuses, notamment le fait qu’on avait négligé son éducation (ibidem: 23 f. et 38).

2. L’aristocrate dépensière – symbole de l’Ancien Régime L’accusation la plus célèbre, celle qui a traversé les siècles et a fait de  MarieAntoinette le symbole de l’Ancien Régime, est sans doute sa réaction face aux émeutes de la faim, suite à la flambée des prix du pain en 1789: »Qu’ils mangent de la brioche«. Fraser la rejette dès le début: Not only was the story wrongly ascribed to Marie Antoinette in the first place, but such ignorant behaviour would have been quite out of character. The unfashionably philan­ thropic Marie Antoinette would have been far more likely to bestow her own cake (or brioche) impulsively upon the starving people before her (Fraser 2001: xviii).

Comme il est impossible de prouver qu’une phrase n’a jamais été prononcée, l’auteur a recours au caractère irréprochable de la reine porté en garant de la véracité de ses propos, même si elle risque de se contredire: »ignorant« Marie-

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Antoinette le fut souvent, »unfashionable« jamais. Coppola prend, comme on l’a vu, également la défense de la reine en montrant la consternation de la reine confrontée avec cette image »ridicule«. Néanmoins, l’image de la reine dépensière (et ignorante quant aux coûts réels de ses dépenses) est centrale au film. Pendant des longues séquences on voit défiler les couturiers, les diamants et les gourmandises – filmés jusqu’au dégoût. Néanmoins le film laisse entendre, en se calquant sur Fraser, que la vraie cause du déficit d’État ne fut pas ce goût du luxe, les jeux d’argent ou les gratifications distribuées aux favorites  – qui n’avaient rien d’extraordinaire pour la cour de France (cf. Fraser 2001: 152 et 167) –, mais l’engagement militaire de la France en Amérique (cf. ibidem: 181). Marie-Antoinette devient un bouc émissaire ou »scapegoat  »: l’expression revient au moins à deux reprises chez Fraser (cf. ibidem: 269 et 350). Sous l’Ancien Régime, où le roi était intouchable, les fautes furent généralement imputées soit au ministre principal, en particulier s’il était d’origine étrangère  – comme le cardinal Mazarin au XVIIe siècle – soit à la maîtresse royale, comme la marquise de Pompadour, également vue comme dépensière. Or, comme Louis XVI n’avait ni ministre étranger ni maîtresse, Marie-Antoinette devint la cible favorite des critiques (cf. Thomas 2003: 106 et 111). Comme Fraser, Coppola semble s’apitoyer sur la pauvre fille riche dans sa cage dorée, tout en y ajoutant – si le spectateur y est sensible – une critique de la société de consommation et des loisirs, des privilégiés d’aujourd’hui (nous tous, à l’échelle mondiale), qui deviennent obèses comme Louis XVI, apathiques ou asphyxiés, qui font de l’agrotourisme comme Marie-Antoinette, qui se réfugia dans son hameau, pour faire semblant d’être proches de la nature.

3. La femme libidineuse – un danger pour la moralité publique Malgré le fait que toute publication était soumise à une stricte censure, Hector Fleischmann a compté 126 pamphlets qui traitaient la reine de »libertine«. Moins de dix pourcent antidataient la chute de la Bastille, mais les accusations principales avaient été développées bien avant 1789 (cf. Hunt 2003: 124). Le libertinage, c’est-à-dire la »débauche et la mauvaise conduite« (The artfl Project, Dictionnaires d'autrefois, s.v. libertinage. Online: www.artfl.com [31.08.2014]), signifiait le non-respect des normes et conventions (sexuelles, religieuses, budgétaires) que le commun des mortels se devait d’obéir. Souvent de contenu érotique, voire pornographique, les pamphlets se déjouaient des interdits. La censure les obligeait d’imprimer à l’étranger, à Amsterdam, Londres ou Cologne, mais elle signifiait aussi un rendement certain, comme le roi et ses officiers tendaient d’acheter toutes les copies afin de réduire la diffusion (cf. ibidem: 125). Les premiers pamphlets mentionnant Marie-Antoinette narguaient la nonconsommation de son mariage, très dangereuse pour elle, comme un mariage

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non consommé pouvait à tout moment être annulé, mais aussi dangereux pour le roi, présumé incapable de produire un héritier. Lorsque Marie-Antoinette donna naissance à un héritier en 1781, des rumeurs – encouragées par certains milieux de la cour – couraient que le vrai père de l’enfant était le Comte d’Artois, le frère du roi (cf. Thomas 2003: 105). L’adultère – tout à fait accepté de la part d'un roi de France, dont la prouesse sexuelle fut même vantée comme symbole de sa puissance – fut une accusation létale pour une reine, qui risquait de voir ses enfants délégitimés. Antonia Fraser souligne au contraire l’attitude pudibonde (2001: 105 et 131) de la reine, qui n’aurait eu qu’un seul amour dans sa vie: le comte de Fersen (cf. ibidem: 133, 241–245 et 315–317). Cette liaison était si discrète qu’elle échappait à la fois au roi et aux pamphlétaires. Elle se traduit chez Coppola par une rencontre amoureuse qui reprend tous les registres de la comédie romantique. Les deux œuvres, pourtant, s’accordent à dire que l’épanouissement sexuel et le dévouement romantique se rejoignaient dans cette relation hétérosexuelle et monogame (partager le lit du roi faisait partie des devoirs, pas des plaisirs). Dans ce sens ils reflètent l’idéal romantique du couple complémentaire qui émergea avec Rousseau au XVIIIe siècle (cf. Laqueur 1990), mais qui reste dominant en ce début du XXIe siècle. Cette histoire à l’eau de rose est aux antipodes de l’image de la reine libidineuse. Les libelles dénonçaient des orgies, la bestialité et le tribadisme6 (pratique lesbienne) de la reine, cherchant à expliquer pourquoi elle favorisait certaines femmes, malgré leur rang relativement peu élevé, telle la princesse de Lamballe (surintendante de sa maison) ou la comtesse (puis duchesse) de Polignac (gouvernante des enfants royaux). Le but de ces pamphlets, en vers ou en prose, accompagnés de gravures très explicites, était souvent (pas toujours) politique, comme Lynn Hunt l’a montré. En dénonçant les vices sexuels des courtisans, on s’attaqua à leur corruption politique. De nombreux libellistes liaient maladies vénériennes et vénalité des offices (cf. Hunt 2003: 127). L’homosexualité féminine était en plus considérée comme une double transgression, poussant une femme à délaisser le mâle et à usurper son rôle (cf. Colwill 2003: 148). L’homosexualité – considérée à l’époque comme une pratique, pas une façon d’être – n’est pas mentionnée par Coppola, si ce n’est par le biais de la lecture des pamphlets, ce qui la met au même niveau que la phrase »qu’ils mangent de la 6 | En 1762, »tribade« est défini comme »Femme qui abuse d’une autre femme«. En 1798, le dictionnaire ajoute: »on évite ce mot«. En 1835, il est précisé: »Femme qui abuse de son sexe avec une autre femme. On évite d’employer ce mot« et 100 ans plus tard, il est dit de manière plus opaque »Femme qui a des goûts contre nature«. De l’acte physique on est passé au goût, parallèlement à l’invention de l’homosexualité comme identité unique. The artfl Project: Dictionnaires d'autrefois, s.v. tribade. Online: www. artfl.com [31.08.2014].

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brioche«. Cette interprétation rejoint celle de Fraser, qui déclare d’un ton décidé que les amitiés féminines de la Reine n’avaient aucune connotation sexuelle: This kind of friendship, common among young women of the time, was heavily influ­ enced in its expression by the style of Rousseau’s epistolary novel La Nouvelle Héloïse. It was a thing of hearts and flowers, not bodily embraces, and in 1771 about as far as could be imagined from the outright lesbian practices of which both Marie Antoinette and the Princesse de Lamballe were later accused (2001: 109).

De même, la »dépendance émotionelle« que la reine affichait pour la comtesse de Polignac à partir de 1775 n’avait rien de physique: What Marie Antoinette wanted at this point was an intimacy based on sentiment rather than sex; nothing in her life so far had made her look on sex as anything but duty and a rather disagreeable duty at that. The pattern of intense friendships […] had been set by the Princesse de Lamballe. This was another, deeper version« (ibidem: 155).

En fait, il est absolument impossible de savoir quels étaient les vrais désirs de Marie-Antoinette. Entre le sujet biographique et la personne »extra-discursive« qui vécut il y a plus de 200 ans, il reste une brèche incomblable. Epstein insiste dans sa critique de la biographie sur ce »precious remainder« qui »resists semiotic encoding (because it is in some sense or aspect unknown or unknowable« (1999b: 222). Une image différente de la sexualité de Marie-Antoinette est possible, comme le montre Chantal Thomas dans son roman Les Adieux à la Reine (2002), adaptée au cinéma par Benoît Jacquot (2012). Directrice de recherche au CNRS ayant travaillé sur l’époque (cf. Thomas 1989 et 2003), l’auteur évite l’écueil de l’histoire totalisante en racontant l’amitié entre la reine et un personnage fictif, sa lectrice Sidonie Laborde. L’affection et le désir que la reine éprouve pour la duchesse de Polignac sont défléchis sur ce personnage, sans risque de figer l’image de Marie-Antoinette. En même temps, le succès du roman (Prix Femina) et du film montrent une certaine acceptation sociale des relations homosexuelles au début du XXIe siècle au moins auprès d’une partie de la population, les manifestations en France contre la loi du 17 mai 2013 ouvrant le mariage aux couples de personnes de même sexe montrant une forte polarisation de l’opinion publique. René Girard argumente dans La Violence et le Sacré (cité par Hunt 2003: 131) qu’une société en crise de valeurs a besoin d’une victime expiatoire, qui sert à définir clairement ce que la communauté considère comme indésirable, contre nature, voire inhumain. Afin d’ériger des frontières entre le »bien« et le »mal«, d’autres frontières doivent également être renforcées, dont celles entre les genres. Alors que la révolte sociale grondait, le désir homosexuel devint une abomination, le caractère efféminé du roi, jugé trop bon et trop faible, répréhen-

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sible et les femmes au pouvoir inacceptables. L’inceste était le crime de loin le plus monstrueux dans ce registre et Marie-Antoinette en fut accusée non seulement par les pamphlétaires, mais également dans le cadre de son procès. Son fils, appelé Louis XVII par les Royalistes, fut enlevé à l’âge de sept ans et élevé par des Républicains. Lors du procès de Marie-Antoinette, il accusa sa mère de l’avoir abusé sexuellement. Cette accusation  – que Fraser cherche bien sûr à réfuter – était très opportune pour le Tribunal révolutionnaire, parce qu’elle permettait de démolir l’image positive la plus puissante que Marie-Antoinette s’était elle-même construite: celle de mère. En 1787, elle avait commandité un portrait officiel à Elisabeth Vigée-Lebrun, la représentant entourée de ses enfants. Sa fille aînée et le dauphin Louis-Joseph (mort deux ans plus tard) se tiennent auprès d’elle, tandis que le futur Louis XVII, né en 1785 est sur ses genoux. Le berceau vide évoque le récent décès du dernier enfant, intervenu pendant la réalisation du tableau. Grâce à cette œuvre, où elle apparaît en mère et en souveraine et qui figure en bonne place au Salon de Peintures de l’année, Marie-Antoinette espère regagner un peu de sa popularité, suite à la propagande néfaste de l’Affaire du collier,7 même si le tableau n’arrive pas à éliminer tout signe de prodigalité (cf. Schama 1986: 178). En termes politiques, l’accusation d’inceste semble moins importante que celle d’avoir tourné le roi contre son peuple et causé des massacres d’innocents, d’avoir conspiré avec l’étranger et l’ennemi de la France. À un niveau symbolique, la charge d’inceste détruit l’image de la bonne mère et permit de détrôner la mère du (futur) roi pour laisser la place à la nation ou à la Révolution comme mère du peuple (cf. Hunt 2003: 122 f.).

Conclusion Le spectacle qu’offrait Marie-Antoinette ne cesse de fasciner. Symbole de tous les maux qui accablèrent la France sous l’Ancien Régime, elle est devenue un signe mondial pour la dissipation féminine et l’immixtion des femmes au pouvoir (cf. Saint-Amand 2003: 253–257). Michelle Obama est la dernière d’en payer les frais (Longbottom 2012). Antonia Fraser s’est investie dans la tâche de redorer le blason de la reine. Elle dépeint un sujet cohérent en soi, poursuivant son »hero’s journey«, même s’il s’agit en l’occurrence d’une descente aux enfers. Elle cherche à rendre justice à la mémoire de la reine injustement calomniée et Sofia Coppola la suit dans cette démarche. Les clins d’œil postmodernes ne sauront détromper: malgré quelques recadrages et décentrages, le sujet est loin d’être »un sujet éclaté, en miettes, dispersé« du type barthien (cf. Dosse 2011: 337). Le biopic de référence qui offre en effet des »biographèmes« à la Barthes 7 | La Reine Marie-Antoinette et ses enfants. In: Château de Versailles – Aperçu des Chefsd’œuvre. Online: www.versaillespourtous.fr/fr/un_chef_d_oeuvre_18.php [31.08.2014].

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(1971), c’est-à-dire des pièces exprimant différentes facettes d’un individu sans la prétention de le définir dans son entièreté, est I’m not there de Todd Haynes (2007), comportant six acteurs (dont une femme) pour interpréter le rôle de Bob Dylan. Marie-Antoinette reste un film assez classique, tout comme ses représentations de genre. Peu importe la réalité historique de la vie intime de Marie-Antoinette – impossible à connaître  – chaque biographe et réalisateur qui s’approprie son histoire en révèle davantage sur les normes et valeurs de sa propre époque et ses convictions personnelles que sur celles de la dauphine, puis reine de France. En l’occurrence Fraser et Coppola se plient à l’hétéronormativité dominante et mettent en avant deux couples: d’un côté Marie-Antoinette et son époux (qui se rapprochent peu à peu au fur et à mesure que leur entourage les abandonne); d’un autre côté Marie-Antoinette et son amant (qui partagent une belle histoire d’amour, marquée de dévotion romantique). Contrairement à Stefan Zweig (1932), qui avait concédé des relations saphiques avant l’arrivée du comte de Fersen, ou à Chantal Thomas (2002), qui laisse entendre un désir lesbien, l’homosexualité est aussi tabou pour Fraser et Coppola qu’elle était symbole de toutes les abominations pour la propagande révolutionnaire. Par ailleurs, Marie-Antoinette est dépeinte comme politiquement inapte et vigoureusement défendue contre toute accusation d’avoir influencé la politique royale en faveur des intérêts autrichiens. En même temps, la reine perd toute autorité et toute agency, des traits que d’autres auteurs lui accordent volontiers. Marie-Antoinette devient ainsi une simple spectatrice de son propre spectacle.

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La femme et le langage Marion Colas-Blaise Nombreuses sont les études qui se penchent sur les rôles sociaux traditionnellement impartis aux femmes. Les médias, le discours publicitaire ou la littérature de masse sont des vecteurs privilégiés de visions stéréotypées, plus ou moins localisables avec précision, plus ou moins prégnantes. Un des enjeux majeurs de la réflexion concerne alors la frontière, toujours fragile, entre les effets bénéfiques du stéréotype qui, en mettant à contribution les schèmes collectifs préexistants, facilite la communication dans une communauté dont il contribue à renforcer la cohésion et la solidarité internes, et ses effets maléfiques, quand une image dévalorisée de la femme influence négativement l’interaction entre les groupes (cf. à ce sujet Amossy 1991; Amossy/ Herschberg Pierrot 1997). Comment évaluer, par exemple, l’usage que fait de l’image de la femme la promotion, en 1921, des soupapes de la marque Schrader: parlera-ton de discrimination à propos d’une représentation de la femme connotant la légèreté, la fluidité, le mouvement et la vie, qui se surimprime au moins à l’image de la femme ailée propagée par la sculpture grecque La Victoire de Samothrace (vers 220–185 av. J.-C., Paris: Musée du Louvre) et dote ainsi les soupapes d’une épaisseur historico-culturelle? On sait que la différenciation est à la base de la construction du sens, et dans Le Petit Robert, seule la deuxième acception du lexème »discrimination« fait état de la négativité dont il peut se charger.1 Les relents sexistes sont alors liés à la prise en charge du discours publicitaire par un soubassement axiologique qui reconduit le rapport conflictuel entre l’homme, pourvu d’une compétence (économique, sociale, culturelle) considérée comme dominante, et la femme, qui est posée comme dominée. En l’occurrence, les traits »légèreté et fluidité du mouvement« forment l’intersection entre les encyclopédies liées au domaine de réalité de la mécanique et celui de la femme. Pour que le discours revête une tonalité sexiste, sans doute suffit-il que les traits soient présentés comme 1 | Cf. Le Petit Robert: »Le fait de séparer un groupe social des autres en le traitant plus mal«.

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définitoires du type de femme valorisé positivement et que s’opère un double glissement: de la femme esthétisée à la femme objet de désir, de la femme à la mécanique, c’est-à-dire au substitut métonymique que l’homme peut posséder. Dans les limites de cette réflexion, on se propose de montrer que la langue, un »instrument de pouvoir« plutôt qu’un »simple instrument d’information et de communication« (Adam/Bonhomme 1997: 98), opère comme un »miroir culturel« et peut, à ce titre, prêter ses formes de contenu et d’expression à la (re)mise en circulation de représentations stéréotypées, voire les alimenter et les renforcer. La problématique sera approchée sous deux angles: l’attention sera focalisée sur le discours non seulement sur la femme, mais aussi, plus ou moins incidemment, à propos de la femme, en réponse à la question suivante: y a-t-il une discrimination sexuelle qui passe par un lexique spécifique, indépendamment, même, des référents-thèmes abordés? On montrera, ensuite, que de nombreuses études se penchent sur l’usage que la femme fait de la langue, en particulier dans une situation dialogale, et quêtent les traces d’une déformation significative »sexuée«.

Ce qu’on dit…: la voix de la doxa C’est la »rumeur publique« sous-jacente aux mots de la langue qu’il importe de capter, en adoptant notamment la perspective de la pragmatique »intégrée »: sa réflexion sur les topoi »extrinsèques« (cf. Amossy/Herschberg Pierrot 19: 98 f.) exhibe les on-dit constitutifs des proverbes, slogans et idées reçues, voire les non-dit – les représentations latentes que le récepteur explicite en activant un fonds donné en partage au sein d’une collectivité et qui sont, de ce fait, soumises aux variations historiques et sociales. Ainsi s’expliquent les »dissymétries sémantiques« qui proviennent, selon Yaguello, de la »péjoration généralisée de tout ce qui sert à qualifier ou à désigner les femmes »: ainsi, note-t-elle, »une femme galante est une femme de mauvaise vie, un homme galant est un homme bien élevé«. Semblablement, »une honnête femme« est une »femme vertueuse«, un »honnête homme est un homme cultivé« (Yaguello 1978: 141 f.). Le poids des collocations routinières est tel que  l’expression »un homme facile« surprend, tout comme la qualification de l’homme à l’aide de l’adjectif »faible« antéposé (ibidem: 142). Les mots s’assemblent comme mécaniquement au sein de constellations figées, selon des lignes de frayage (re)connues et supportées par un soubassement idéologique, la solidification étant, précisément, à l’origine du stéréotype (cf. Barthes 1975: 63). L’usage courant déploie une large palette de dénominations de la femme qui alimentent la »langue du mépris«, selon Yaguello, d’autant plus sûrement qu’elles perpétuent deux modèles, celui de la vierge Marie ou Madone et celui

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d’Ève, créature de Satan, à l’origine de tous les péchés, et reconduisent une dichotomie stable: le type de la maman vs celui de la putain (1978: 151).2 Parmi les formes discursives qui prêtent main-forte à la perpétuation de schèmes collectifs puissants, on retiendra les proverbes, qui transitent de bouche en bouche en résistant aux déformations3 grâce aux procédés mnémotechniques (notamment, la structure binaire, leur brièveté, leur clôture), mais aussi grâce à la prétention à la généricité universelle et à leur caractère didactique (cf. Schapira 1999). Du point de vue rhétorico-argumentatif, la lecture métaphorique, exigée par une impertinence disqualifiant la lecture littérale et appelant à la relecture, a elle-même pour effet indirect d’éluder le questionnement des relations (de pouvoir) entre les sexes: le problème est posé comme résolu et comme offrant, dans son évidence, une base fédératrice, qui emporte l’adhésion, à la question débattue dans le texte.4

Les discours scientifiques et le poids de l’idéologie Les articles consacrés à l’homme et à la femme montrent avec éclat que le discours lexicographique propose une radiographie des représentations stabilisées collectives, qu’il répercute un soubassement idéologique, mais peut aussi contribuer à précipiter les changements qui affectent une société donnée. L’intérêt réside, précisément, dans les infléchissements, de proche en proche, que constate 2 | Selon Yaguello, la femme est enfermée dans deux rôles: celui de la maman ou de la »femme ›honnête‹, la femme au foyer, la bonne pondeuse, la bonne ménagère«; celui de la putain, ou l’»objet de consommation, réel ou imaginaire« (1978: 151). Plus largement, les dénominations sexistes puisent une légitimité dans une catégorisation qui projette sur la réalité une grille de lecture: la femme-maman, la femme-objet de désir, la femme dépravée (putain), la mocheté, la femme animal, la femme-nourriture, la femme-poupée (ibidem: 156 f.). 3 | Le figement donne lui-même prise à des opérations de dé- et de recontextualisation, de défigement et de détournement plus ou moins subversives. 4 | Ainsi, l’expression »se taper« implique un nom complément [+ humain]; ainsi, sur une affiche (www.jeunesudf80.org), sa convocation dans un message politique parlant de la constitution européenne, provoque un heurt entre l’isotopie »humain« et l’isotopie »discours institutionnel«; face à cette allotopie, le lecteur doit réduire l’écart à travers une réorganisation. La relecture a recours, notamment, à la sélection des composantes sémantiques compatibles entre »se taper un être humain« (une femme) et »discours institutionnel« et à leur projection sur l’interprétation correspondant à »discours institutionnel«, au profit de l’interprétation inédite »se faire plaisir en adoptant la Constitution«.

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l’étude comparative (cf. Yaguello 1978: 167). De ce point de vue, les options retenues par Le Nouveau Petit Robert (2004)5 sont révélatrices d’une évolution qui permet, désormais, de s’affranchir de certains tabous: ainsi, contrairement, par exemple, au Larousse de 1940 (ibidem: 167), il faut attendre le deuxième regroupement de sens apparentés pour que la femme soit définie en référence à l’homme. Le statut socio-professionnel de la femme se trouve inséré dans le premier bloc, (entre la »femme fatale« et la »femme au foyer«). Plus étonnante, la mise en perspective subjectivante qui imprime sa marque à certains discours sur la langue, dont on attendrait une plus grande neutralité ou scientificité. Certes, on sait que dans ses Remarques sur la langue française, 1647, Vaugelas prend explicitement appui sur le parler de la partie la plus saine de la cour et la règle de l’accord – »pour une raison qui semble être commune à toutes les langues, que le genre masculin étant le plus noble, doit prédominer toutes les fois que le masculin et le féminin se trouvent ensemble«6 – ne fait qu’attester le caractère normatif, plutôt que descriptif, d’un discours grammatical entretissé de considérations qui ressortissent à un système axiologique du tri et de la hiérarchisation.7 C’est plutôt le débat sur les relations entre le 5 | Cf. Le Nouveau Petit Robert: »I. Être humain appartenant au sexe féminin qui peut, lorsqu’un ovule est fécondé, porter l’enfant jusqu’à sa naissance.« femme fatale […] (Satut socio-professionnel) Femme qui travaille, gagne sa vie. Le travail des femmes. Les femmes veulent la parité des métiers, des fonctions et des salaires. Métiers de femmes (traditionnellement dévolus aux femmes). Cette femme est avocate. Cette femme est professeur, c’est une professeur. Pays gouverné par une femme. Une femme d’affaires. Femme politique, femme d’État. Le P.-D. G. est une femme. Une femme de lettres. femme au foyer : femme qui n’exerce pas de profession et reste chez elle, parfois pour élever ses enfants. II. Femme unie à un homme par mariage. III. (Dans des expr.) Domestique. 6 | Pour une définition du genre »non sexuée«, qui n’est pas marquée par une idéologie naturaliste sexiste, voir par exemple Rousseau 1998: »Le genre est une catégorie grammaticale qui sert à signaler, par le phénomène de l’accord, des relations sémantico-syntaxiques; elle assure la cohésion syntaxique du groupe nominal et facilite la coréréfence«. 7 | On y opposera des témoignages – antérieurs et postérieurs – d’une volonté de (ré) équilibrage: en témoignent, au Moyen Âge, des expressions comme »toutes et tous«, »celles et ceux«, »créatures humaines«, »la personne qui …«, »quiconque, femme ou

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genre grammatical et le sexe, appelé »genre naturel«, s’inscrivant en faux contre l’arbitraire du signe défendu par la vulgate saussurienne, qui retiendra notre attention. D’éminents linguistes y ont en effet contribué: Damourette et Pichon, mais aussi Bally, qui s’attirera les critiques de Lévi-Strauss ou de Dumézil.8 Ainsi, Raoul de la Garanderie projette sur la distinction de genre une bipartition fondée en nature9 et dans Le langage et la vie, Bally installe la différence de genre au cœur même du signifié, avant même qu’il ne se charge de connotations dans un contexte socioculturel donné: On se préoccupe […] de découvrir dans les sociétés évoluées comme les nôtres, des traces de la mentalité primitive: superstitions, magie, symbolisme, contradictions com­ mandées par des sentiments collectifs, etc. La langue fournirait, je crois, des indices abondants de ces survivances. […] On pourrait citer les genres des substantifs, qui personnifient en quelque sorte les objets, en font des personnages de contes de fées (le soleil, la lune) et attribuent souvent un seul sexe aux êtres sexués (un moineau, une hirondelle); l’araignée évoque des représentations différentes selon que son nom est du féminin, comme en français, ou du masculin, comme en russe; le neutre fait des per­ sonnes des êtres inséxués (allemand das Weib, das Kind) (cité par Durrer 2002: 75).10

homme«, »car lorsque l’homme et la femme sont …«, »alors chaque homme et chaque femme doit …«, »il ou elle doit savoir que la contrition …« ou, à propos de Marie: »Ô Dame des patriarches, des apôtres, des martyrs, des confesseurs, des vierges, de tous les saints et de toutes les saintes«; ou encore »avocate pour venir à notre secours«. On y ajoutera, dans Le Livre des métiers (1271), les expressions »écrivaines, peintres, miresses, botanistes, mais aussi bouchères, maréchales-ferrantes, chaudronnières, meunières, laitières, métayères, barbières«. Au XVIII e, voir La Requête des Dames à l’Assemblée nationale de 1789 qui montre à quel point la question de l’accord est ressentie comme épineuse: »2. Tous les privilèges de sexe sont entièrement abolis. 3. Le sexe féminin jouira de la même liberté, des mêmes avantages, des mêmes droits et des mêmes honneurs que le sexe masculin. 4. Le genre masculin ne sera plus regardé, même dans la grammaire, comme le genre le plus noble […].« 8 | Sur tout ceci, voir l’article de Durrer 2002 consacré aux femmes et au langage selon Bally. 9 | Le genre grammatical refléterait des attributs naturels de l’homme, en représentant soit »l’activité, la précision et la limitation« pour le masculin, soit »le sens […] vague ou très étendu« dans le cas du féminin. À ce sujet, voir Durrer 2002: 76. 10 | Ailleurs (1940: 197), Bally ajoute: »[…] nous apercevons souvent la réalité à travers le prisme de la langue; […] C’est ainsi qu’en français les êtres et les choses doivent être masculins ou féminins, et quoiqu’on le conteste souvent, cette estampille sexuelle les présente à l’esprit sous un aspect où la fantaisie trouve son compte […]« (cité par Durrer 2002: 80)

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Cette position paraît proche de celle qui sous-tend la définition de la »sexuisemblance« selon Damourette et Pichon, même si ces derniers – à la différence de Bally – éludent une réflexion sur le caractère »donné« ou »construit« de la »réalité« dont la langue serait le »reflet«: Les substantifs nominaux y sont, nous le voyons, répartis en deux groupes distincts et bien définis. Les uns (chien, évêque, sang, dragon, foin, couvent) sont masculins, c’està-dire expriment des substances de sexe masculin ou comparées par la langue à des êtres mâles; les autres (vie, filles, femmes) expriment des substances du sexe féminin ou comparées par la langue à des êtres femelles. Le répartitoire qui établit ces deux groupes a reçu de nous le nom de répartitoire de sexuisemblance. (Cité par Damouret­ te/Pichon 1970: 347)11

La langue par et pour les hommes  De l’»idéologie naturaliste sexiste« à la caractérisation discriminante d’un »parler« spécifiquement féminin, il n’y a parfois qu’un pas. En taxant le langage de la femme de naturellement conservateur – »la femme a, par instinct, le sens de la tradition, le respect de l’usage admis et transmis, le goût inné de la pureté, qui lui fait éviter tout ce qui est vulgaire et bas« (L’Illustré, 1937; cf. Durrer 2002: 97) –, Bally se rapproche, fût-ce implicitement et sous certains rapports, des travaux de Jespersen dont les jugements péremptoires ont suscité de la part de la linguistique générique de vives critiques: Ce facteur [la plus grande inventivité linguistique des hommes] ne saurait être dissocié d’un autre: la plus grande pauvreté du vocabulaire féminin par rapport au vocabulaire masculin. […] La plupart de ceux qui ont l’habitude de lire des ouvrages en langue étran­ gère ont certainement pu constater que dans l’ensemble, ceux qui étaient écrits par des hommes présentaient plus de difficultés que ceux écrits par des femmes, parce qu’ils contiennent davantage de mots rares, dialectaux ou techniques, etc. Ceux qui désirent apprendre une langue étrangère feront bien, dans un premier temps, de lire beaucoup 11 | Damourette/Pichon (1970: 371) écrivent de même: »A vrai dire, peu importe de savoir si la forme d’où le français a tiré ce vocable [la mer] était mare ou, comme l’a supposé Darmsteter, maris. L’essentiel, c’est qu’il est passé au féminin dans notre langue, alors qu’il demeurait au masculin dans d’autres langues romanes. Et il semble difficile d’expliquer cette modification autrement que par des besoins métaphoriques conformes à l’esprit national, la mer ayant été conçue par nos ancêtres, de même que par nous, comme quelque chose de féminin. La mer est d’aspect changeant comme une femme, journalière, d’humeur mobile comme une jolie capricieuse, attirante et dangereuse comme une beauté perfide.« Cité par Durrer 2002: 80.

L a femme et le langage de romans écrits par des femmes, car ils y rencontreront précisément ces mots et ces formules de tous les jours dont l’étranger a besoin avant tout: ce qu’on peut appeler la petite monnaie d’une langue. (Jespersen 1976: 239)

Un certain imaginaire »androcentré« décline ainsi des dichotomies réductrices, largement subsumables par l’opposition conservatisme versus innovation, qui confèrent leur soubassement à un »style masculin« et un »style féminin«.12 Simone de Beauvoir ou Marie Cardinal en témoignent avec éclat: les femmes elles-mêmes ressentent vivement le carcan de la langue qu’elles n’habitent pas: »Je sais que le langage courant est plein de pièges. Prétendant à l’universalité, il porte en fait la marque des mâles qui l’ont élaboré. Il reflète leurs valeurs, leurs prétentions, leurs préjugés.« (Beauvoir 1976: 13) – Je me sens sans arrêt à l’étroit dans le vocabulaire, soit parce qu’il me manque des mots, soit parce que les mots français sont tellement investis par les hommes qu’ils me trahissent quand c’est moi, une femme, qui les emploie. (Cardinal 1977: 96; cité par Yaguello 1978: 64 f.)

La langue de l’homme, c’est la langue de l’autre, non pas celle avec laquelle on entre en résonance pour se dire en disant l’autre, mais celle qui vous prive d’un plan de l’expression et réduit à néant vos visées identitaires. On s’attardera, ici, sur deux des réactions que la circulation de ces représentations provoque en retour: la déconstruction des simplifications confortables par des linguistes souvent féministes, qui luttent contre la »gender blindness« à travers la description minutieuse d’activités interactionnelles mixtes; l’élaboration, par les linguistes, de modèles explicatifs susceptibles de rendre compte des différences observées et d’impulser une nouvelle logique.

12 | Cf. Yaguello (1978: 57) au sujet des stéréotypes à la base d’une typologie sociale: elle mentionne l’»usage de l’argot et de la langue verte, la pratique du jeu de mot […] à caractère sexuel, le goût de l’injure, de l’insulte, un vocabulaire plus riche et plus étendu, la maîtrise des registres techniques, politique, intellectuel, sportif, le quasi monopole de la parole publique, le contrôle des conversations mixtes, l’exclusivité des formes de communication rituelles et codifiées, un discours autoritaire et catégorique […], une plus grande liberté par rapport aux normes, plus de créativité«, en les opposant aux »traits connotés défavorablement: purisme, non-créativité, goût de l’hyperbole, maîtrise de registres relevant de domaines mineurs, parole timorée, non assertive, bavardage, incapacité de manier des concepts abstraits, hypercorrection, peur des mots«.

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Le mythe de la femme bavarde […] bien plus souvent que les hommes, les femmes n’achèvent pas leurs phrases, sim­ plement parce qu’elles commencent à parler sans avoir réfléchi à ce qu’elles allaient dire. (Jespersen 1976: 241)

Deux critères au moins, tant quantitatif que qualitatif, permettraient de reconnaître le parler typiquement féminin: outre la faconde, le penchant pour la médisance. C’est ce qu’attestent à l’envi les proverbes qui bravent les barrières spatiales et temporelles,13 mais aussi les rôles thématiques dont on affuble les femmes: même si commère peut aussi désigner un homme, on notera avec Rosier/Mailleux (2002: 250) que la »péjoration est à chaque fois un emploi dérivé de termes liés aux bruits et à la gent féminine«. C’est contre cette vision stéréotypée de la femme tendant, de par son essence même, vers un parler marqué par un triple excès – le parler-trop, le parler-mal de et le parler-pas-assez, ou de manière trop futile ou émotive14 – que s’inscrivent en faux des études consacrées à l’interaction verbale mixte. Ainsi, choisissant comme critères le temps de parole, les chevauchements, les interruptions, les réponses 13 | L’échantillonnage proposé par Yaguello (1978: 50 f.) témoigne du caractère »universel« des représentations en »libre circulation«: »La langue des femmes est comme une épée, elles ne la laissent jamais rouiller« (Chine). Le silence est le plus beau bijou d’une femme mais elle le porte rarement« (Angleterre. »Le rossignol oubliera de chanter plutôt que la femme de parler« (Espagne). »Il y a mille inventions pour faire parler les femmes, mais pas une seule pour les faire taire« (France). On ajoutera dans la rubrique »médisance« la phrase d’Augier (Les lionnes pauvres): »Quand les femmes ne prêtent plus à la médisance, elles s’y adonnent« (cité par Dournon 2002: 384). 14 | Cf. Gourmont 2006: 54 et 47 f.: »Toute la mimique est l’œuvre des femmes. Même silencieuse, une femme parle encore, et souvent avec une sincérité que n’ont pas ses paroles; même immobile, elle parle encore et souvent avec plus d’éloquence que par des mots ou des gestes. La conformation de son corps fait que sa respiration est un langage; le rythme de sa poitrine dit l’état de son âme et les degrés de son émotion.« Ailleurs, il note aussi: »L’enfant balbutie des mots avant de connaître les objets dont ces mots sont le signe.[…] Si l’on admet ce jacassement primitif, on admettra volontiers que la femme a dû y prendre une grande part, en même temps qu’elle excitait par ses rires et par son attention la verve des mâles. La femme est peu capable d’innovation verbale; nulle jamais parmi celles qui furent tout de même de bons écrivains, ne se créa une langue dans le sens où l’on dit cela de Ronsard, de Montaigne, de Chateaubriand ou de Victor Hugo; mais elle redit bien, et souvent mieux qu’un homme, ce qui fut dit avant elle. Née pour conserver, elle s’acquitte de son rôle en perfection.«

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minimales et le choix des sujets, Monnet 1998 met en évidence, après d’autres, la dominance conversationnelle de l’homme; celle-ci se manifeste en termes de quantité de paroles émises, par l’augmentation du nombre des interruptions en contexte mixte et leur confiscation, de manière nette, par le locuteur masculin, indépendamment même du statut social de l’interlocuteur féminin. Ces études interrogent non seulement la distribution des types de phrase – les femmes poseraient plus de questions que les hommes –, des silences ou des réponses minimales, elle-même »genrée«, mais encore la qualité des interventions ou les effets de sens véhiculés en fonction de la place occupée au sein même de l’interaction. Il apparaît que, accentuant la fonction phatique selon Jakobson au détriment de la fonction référentielle (1963: 217), les interventions féminines se chargent souvent d’une valeur d’appoint, de soutien à la conversation par confirmation et confortation du déjà-dit, plutôt que d’en infléchir le cours.

Trois modèles explicatifs Si les pratiques conversationnelles constituent un révélateur privilégié d’une dissymétrie entre l’homme et la femme, l’important consiste à construire, dans la foulée, des modèles explicatifs, propres, dans certains cas, à jeter les bases d’actions concertées qui débouchent sur une redéfinition des rapports. La mise en évidence de traits distinctifs tels que ceux répertoriés par Labov 1966, quand il propose une radiographie du parler new-yorkais, ou par Lakoff 1975 appelle une réflexion qui, schématiquement, peut adopter une triple perspective. Ainsi, dira-t-on que les différences à la base de l’identité sexuelle ont des causes génétiques, biologiques? On n’a pas hésité à mettre au compte de l’explication essentialiste des traits distinctifs tels que l’intonation, le timbre, la hauteur de la voix, voire le débit et le ton (cf. Yaguello 1978: 55). Abondent dans ce sens même ceux qui, sous le couvert d’une approche »(inter)culturelle«, procèdent, comme l’explique C. Monnet en passant au crible les écrits de Tannen 1993, à une »naturalisation« des différences constatées, en leur attribuant le statut de faits incontestables, sinon immuables parce que trouvant leur ancrage dans la différence des sexes.15 Dans ce cas, considérera-t-on à la suite de Labov 1966 que l’insécurité linguistique, qui peut se manifester par de l’hypercorrection, un important degré de conformité aux modèles de prestige – constitutifs d’un »capital symbolique« –, l’évitement des formes linguistiques stigmatisées, une évaluation erronée de son propre discours, ou encore l’intonation ascendante de 15 | Ainsi, en vertu du modèle (inter-)culturel, les différences de socialisation et l’»incommunication« qui en résulte seraient elles-mêmes à placer dans la dépendance de visions du monde – de façons d’être au monde et à l’autre, par exemple sur un mode coopératif ou compétitif – caractéristiques; à ce sujet, cf. Monnet et Singy 1998: 15 f.

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la réponse affirmative, mise en évidence par Lakoff 1975, portent les stigmates des jeux de pouvoir et de domination, de nature essentiellement socio-économique, qui confinent la femme dans une situation de subordination? Position que Labov (1998: 34) lui-même relativise en mettant l’insécurité linguistique des femmes en relation directe avec leur volonté d’ascension sociale. Enfin, focalisera-t-on l’attention, avec Fishman, sur les tensions inhérentes à une situation de domination, mais également sur les potentialités de développement et donc sur les stratégies (par exemple, celle du questionnement insistant) auxquelles la femme recourt pour (r)établir l’équilibre (cf. Singy 1998: 14 f.)? Au-delà des analyses, ou parallèlement à elles, les interventions concrètes sur la langue peuvent être considérées comme la clef d’un changement des mentalités.

»Madame le ministre est présente«? Agir sur le statut de la femme dans la société en agissant sur la langue – notamment la langue française –, ou comment la féminisation des noms de métier et de fonction devient un enjeu majeur: c’est en ces termes qu’on pourrait résumer les batailles que les féministes livrent depuis la fin des années 70, faisant du Québec un pays précurseur, de la Belgique et de la Suisse Romande des élèves attentifs, qui prennent le chemin de la »désexisation« des textes officiels dès 1988 pour la première,16 au moment de la publication du guide de Formulation non sexiste des actes législatifs et administratifs en 1991 pour la seconde. Le Luxembourg n’est pas en reste,17 qu’il s’agisse de la création d’un Ministère de la Promotion Féminine en 1995 ou de la publication, en 1999 et, dans une version remaniée, en 2002, du dictionnaire trilingue Métiers, Titres et Fonctions. Enfin, en France, les étapes qui ponctuent le cheminement des ajustements, depuis la circulaire publiée au Journal Officiel en mars 1986, qui est réactivée par Jacques Chirac et Lionel Jospin en 1997, à la circulaire de mars 1998 et au Guide d’aide à la féminisation des noms de métiers, titres, grades et fonctions intitulé Femme, j’écris ton nom (1999), portent la marque des résistances, polémiques ou volées de formules percutantes. Certes, il ne s’agit pas de remplacer l’inscription du Panthéon par »Aux grandes personnes, la patrie reconnaissante«; certes, pour citer Maurice Druon (1997) de l’Académie française, »une cigogne mâle reste une cigogne. 16 | Pour la Communauté française de Belgique, voir aussi l’Avis du Conseil supérieur de la langue française relatif à la féminisation des noms de métiers, fonctions, grades ou titres, d’avril 1993. Online: www.cfwb.be/franca/publicat/pg016.htm. 17 | On notera la publication en 1990, dans Traduction et Terminologie, revue internationale de la CEE, éditée au Luxembourg, d’un article d’Houdebine 1990, Professeur à l’Université René Descartes (Paris).

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Et l’on ne voit pas que La Fontaine eût écrit dans une fable Monsieur la souris«. Pour autant, les formes féminines pompières et entraîneuses font-elles sourire?18 L’Académie française allègue le poids de la langue – »le genre dit masculin est le genre non marqué« – et celui de l’usage: c’est un »maître, écrit Druon, auquel on n’impose pas aisément fantaisie« et qui, pour ceux qui doutent de la capacité de création de la langue, rechigne à intégrer une ingénieuse ou une proviseuse. Les contre-arguments dont Rey-Debove19 ou Houdebine se font le chantre fusent, tout comme les propositions concrètes. Appuyées à la règle générale qui gouverne la distribution du genre pour les noms d’animés,20 celles-ci peuvent être déclinées en six points: Règles (code écrit): 1. Emploi d’un déterminant féminin: une, la, cette… 18 | Cf. idem: »Libre aussi aux autorités culturelles de la Communauté française de Belgique, en mal de démagogie féministe, d’avoir publié un édit d’où il ressort qu’une femme entraîneur d’une équipe sportive s’appellerait désormais une entraîneuse, ou qu’une femme appartenant aux équipes de lutte contre les incendies deviendrait une pompière.« 19 | Cf. la réponse aux Académiciens de Rey-Debove 1998, entre autres secrétaire générale de la rédaction des Dictionnaires Le Robert de 1977 à 1994: »L’arrivée des femmes dans la vie économique, politique … est chose relativement nouvelle. Notre vocabulaire, nos façons de parler, portent encore les marques trop visibles d’un monde régi par les hommes. Certaines tournures de langage ou expressions peuvent apparaître comme discriminatoires à l’égard des femmes soit parce qu’elles tendent à occulter leur présence ou à la faire apparaître comme exceptionnelle, soit qu’elles véhiculent des stéréotypes sexuels. Le langage d’aujourd’hui doit savoir refléter l’évolution de la société« (www.administrationmoderne.com/pdf/management/ressources/femmes_ langage.pdf [31.08.2014]). 20 | En vertu de cette règle, les individus de sexe masculin sont désignés par des noms masculins, les individus de sexe féminin, par des noms féminins. Les noms épicènes (tels que libraire, esclave…) invitent à indiquer le sexe par une opposition de nature morpho-syntaxique ou l’ajout d’un terme classificateur (ex.: un moustique mâle/ femelle). S’y ajoutent des cas de »disparité«: des cas d’interversion exceptionnels (ex.: un mannequin, une sentinelle), les noms péjoratifs (ex.: un souillon, une canaille), les masculins génériques et à valeur universelle (ex.: les époux, l’homme), les noms dépourvus d’un pendant féminin ou masculin (ex.: un otage, un témoin, une connaissance, une victime, une créature, une star, une vedette), qui peuvent donner lieu à des accords et à des enchaînements hasardeux: »Madame le Ministre est présente«, »Une nouvelle victime a été retrouvée. Il travaillait …« On notera que la féminisation, qui vise à lever des ambiguïtés, peut être à l’origine de périphrases lourdes (ex.: une femme professeur).

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M arion C ol as -B l aise 2. Les noms masculins terminés par un »e« muet sont invariables (noms épicènes) ex.: une architecte 3. Les noms masculins terminés par un »é« ont un féminin en »e« ex.: une chargée de mission 4. Les noms masculins terminés par une lettre autre que le »e« muet ou un »é« ont un féminin identique au masculin: ex.: une médecin ou une femme médecin Parfois: une huissière (avec ajout d’un accent grave) une mécanicienne (avec doublement de la dernière lettre) 5. Les noms masculins ferminés par »teur«: – ont un féminin en »teuse«, si le »t« appartient au verbe de base ex.: une acheteuse – ont un féminin en »trice«, si le »t« n’appartient pas au verbe de base ex.: une directrice 6. Les noms masculins en »eur«: – ont un féminin en »euse«, si le verbe de base est reconnaissable ex.: une vendeuse – ont une forme identique pour le masculin et le féminin ex.: une professeur Cependant: au Canada: une professeure, une auteure (au lieu de * une autrice), une docteure, une ingénieure Note: une éditrice, bien que le »t« n’appartienne pas au verbe de base

»Madame Michu n’est pas plus sotte que Monsieur Glandu« (Rey-Debove)  Continuant à susciter des réactions de méfiance, voire de rejet, les pratiques tardent à se généraliser. En conclura-t-on que l’action sur la langue doit faire fond sur un infléchissement des représentations sexistes en circulation?21 La bataille du féminisme se gagne, estime Forel 1992, sur le terrain des mentalités, ajoutant avec Aebischer que »si donc sexisme il y a, ce n’est pas dans la langue qu’il faut le traquer mais bien dans ce que l’on veut dire«.

21 | Cf. Rey-Debove (1998) au sujet de ce qu’il faut éviter: les termes qui excluent les femmes (ex.: les hommes d’affaires, les hommes politiques); les termes qui peuvent donner l’impression que les femmes ne sont pas prises en considération (ex.: le candidat); les

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Seraient en tout cas à proscrire les prises de position exacerbées, les crispations qui entraînent un durcissement des positions et un avivement des tensions. Sans aller jusqu’à considérer avec Forel et Aebischer que la langue n’est »qu’un instrument plus ou moins adéquat, [qui] s’adaptera«, on conçoit avec elles l’intérêt d’une contextualisation affinée des choix linguistiques: s’il ne s’agit pas de miser sur l’assimilation effrénée à l’autre masculin, il ne s’agit pas davantage d’élire systématiquement la position contraire en favorisant la mise en scène spectaculaire de la référence au sexe. Il est sans doute avantageux d’évaluer la situation avec circonspection: »[I]l est des situations, écrit Forel, où l’on estime que la variable sexuelle n’a aucun rôle à jouer et où, au contraire, la faire intervenir serait faire preuve de sexisme«. Elle ajoute plus loin: la solution linguistique la plus efficace pour éviter d’être sexiste consiste à avoir des séries à trois termes, dont le premier sert à se référer à un sexe uniquement, le second à l’autre sexe exclusivement, et le troisième indistinctement à l’un et/ou l’autre sexe et permet donc de ne rien dire sur le sexe des référents (1992: 37).

Désormais, pour parler politique, on disposera d’une triade composée des lexèmes ministre, femme-ministre et homme-ministre. Aux locuteurs de les convoquer à bon escient. De belles joutes interprétatives en perspective!

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Zur Problematik des generischen Maskulinums im Deutschen Positionen und kritische Analyse Heinz Sieburg

Einleitung und Problemaufriss Die Problematik des generischen Maskulinums steht von Anfang an im Zentrum sprachfeministischer Forschung und Kritik. Fragen nach der geschlechtsbezogenen Bedeutung von Wörtern wie Sprecher oder Student sind unter sprachfeministischem Vorzeichen nicht allein solche von Sprachstruktur und Sprachgebrauch, sondern vor allem solche nach Geschlechtergerechtigkeit und der Humanisierung von Gesellschaft. Angestoßen von der Frauenbewegung in den USA etabliert sich die feministische Linguistik Ende der 1970er Jahre auch in Deutschland.1 Ihr Ziel ist die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft2 – durch Sichtbarmachung der Frau in der Sprache. Zwei Schritte dienen dazu, dieses Ziel zu erreichen: 1. eine kritische Sprachanalyse zur Aufdeckung patriarchalischer und sexistischer Strukturen und 2. die Überwindung dieser Strukturen durch Initiierung eines als geschlechtergerecht und demokratisch apostrophierten Sprachwandels.3 Theoretischer – und gesellschaftskritischer – Ausgangspunkt ist die (implizite) Vorstellung klar abgrenzbarer und in sich homogener Geschlechter – wobei 1 | Den Beginn markiert der Beitrag von Senta Trömel-Plötz (1978) und die sich daran anschließende Kontroverse (vgl. Sieburg 1997: 23 ff.). 2 | Diesem Ziel ist ohne jede Einschränkung zuzustimmen! 3 | Gerade wegen des unterschiedlichen Ansatzes als ›Doppel‹ zur Einführung empfehlenswert: Samel 2000 u. Klann-Delius 2005; als kontrastive Studie empfohlen sei auch Nübling 2000.

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ein weibliches, machtloses und deprivilegiertes Geschlecht einem männlichen, machtvollen und dominanten gegenübergestellt wird. Zugleich gelten Sprachen wie die deutsche als Korrelate tradierter patriachalischer Gesellschaftsstrukturen. Sie dienen, so der sprachfeministische Standpunkt, der Aufrechterhaltung der Ungleichheit der Geschlechter, indem sie Frauen und deren Leistungen systematisch unsichtbar machen. Sprache ist insofern »Männersprache«.4 Aus heutiger Sicht wirkt die stark vergröbernde Reduktion der Vielfalt historischer und kultureller Erscheinungsformen von Weiblichkeit und Männlichkeit wie ein Zerrbild gesellschaftlicher Wirklichkeit. Die hier vertretene essentialistische Auffassung von Geschlecht ist durch die Entwicklung der Gender-Theorie längst überholt und auch der zugrunde gelegte Sprachbegriff wird der Komplexität von Sprache nicht annähernd gerecht.5 Zu berücksichtigen ist aber, dass wohl erst durch Überzeichnungen, Simplifizierungen und Provokationen der Sprachfeminismus seine Breitenwirkung entfalten, Solidarisierungseffekte erzielen und Sprachwandel bewirken konnte. Generische Maskulina sind Personenbezeichnungen, die grammatisch die Genuskategorie Maskulinum tragen, aber (geschlechts-)neutral verwendet werden in Fällen, in denen das Geschlecht von Personen oder Gruppen als irrelevant angesehen wird oder unbekannt ist, bzw. wenn Personen beiderlei Geschlechts gemeint sind: Viele Franzosen sind Feinschmecker. Die Gewinner stehen noch nicht fest. Neben Substantiven sind auch bestimmte Pronomen als generische Maskulina zu bezeichnen: Jeder ist eingeladen. Derjenige, der sich zuerst meldet, bekommt den Preis. Denjenigen, den man achtet, verrät man nicht.6 Wörter wie Bürger oder Student können neben der generischen (neutralen, geschlechtsabstrahierenden) Bedeutung auch eine geschlechtsprofilierende (spezifische) Bedeutung haben, wenn sie auf männliche Personen allein be4 | Vgl. hierzu Titel wie Das Deutsche als Männersprache (Pusch 1984) oder Französisch – eine Männersprache? (Saliter 2003). 5 | »Was die Analysen des Sprachsystems anlangt, wird häufig unterstellt, dass sprachliche Strukturen unmittelbares Abbild gesellschaftlicher Machtstrukturen sind […]. So wird dann das gesamte Deutsche zu einer ›Männersprache‹. Die damit korrelierende Annahme besagt, dass nur der Mächtige die Sprache in ihrer Struktur bestimmt, die weniger Mächtigen oder gar Ohnmächtigen keinerlei Einfluss nehmen; dies ist eine insgesamt recht einlinige [!] und wenig überzeugende Deutung sprachhistorischer Entwicklungsprozesse, denen sich ein Systemzustand verdankt.« (Klann-Delius 2005: 137) 6 | Insbesondere das Indefinitpronomen »man« gilt innerhalb der feministischen Linguistik als problematisch und soll durch das Neuwort »frau« ergänzt oder ersetzt werden. Argumentationsgrundlage ist die etymologische und lautliche Nähe zu »Mann«. Durchgesetzt hat sich die Verwendung von »frau« außer in spezifischen Kontexten oder als Zitatwort (bislang) allerdings nicht. Noch weniger »frauche«, »jedefrau« etc.

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zogen werden (Der Student heißt Philipp.). Aufgrund der ausdrucksseitigen Formgleichheit von generischen und geschlechtsprofilierenden Personenbezeichnungen ergibt sich eine zumindest potentielle Mehrdeutigkeit, woraus (hörerseitig) Referenzunsicherheiten und in der Sprachpraxis vereinzelt Kommunikationsdefizite entstehen können. Die generische Funktionsweise entsprechender Formen ist aus sprachfeministischer Sicht allerdings zweifelhaft: Da bei Personenbezeichnungen das natürliche und das grammatische Geschlecht meist übereinstimmen, eine enge assoziative Verbindung zwischen grammatischem und na­ türlichem Geschlecht besteht, werden, so die feministische Sprachkritik, generische Formen […] gerade nicht neutral, sondern als maskuline Formen, die auf ein männliches Geschlecht der bezeichneten Person oder Gruppe verweisen, verstanden. (Klann-Delius 2005: 26)

Die im Zitat referierte sprachfeministische Auffassung, generische Maskulina seien eigentlich nicht ›neutral‹, steht, wie gezeigt werden soll, in deutlichem Widerspruch zur sprachlichen Alltagspraxis und setzt im Kern (postulatorisch) als gegeben voraus, was (Zwischen-)Ziel und zugleich Bedingung des intendierten Sprachwandels sein soll. So soll durch eine systematische Umkodierung generischer zu geschlechtsprofilierenden Vorstellungsgehalten die Notwendigkeit des Umbaus der Sprache, vorzugsweise im Sinne der Feminisierung durch Splitting (Studentinnen und Studenten), hergestellt werden. Denn je öfter, so das Kalkül, Maskulina geschlechtsprofilierend in Dubletten wie Studentinnen und Studenten verwendet werden, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei Alleinstellung (Studenten) tatsächlich ausschließlich auf Männer bezogen verstanden werden. Kritisiert wird also das, was zugleich intendiert wird. Anders gesagt, – die berechtigte Voraussetzung zur Feminisierung der Sprache wird durch den Prozess der Feminisierung erst erzeugt. Problematisch daran ist aber letztlich nicht der Umbau als solcher, sondern der damit notwendig einhergehende Verlust generischer, also vom Geschlecht abstrahierender und damit beide Geschlechter einschließender Ausdrucksmittel. Es geht hier damit auch nicht um ›weibliche‹ oder ›männliche‹ Positionen, sondern allein um die Frage kommunikativer Leistungsfähigkeit und sprachlicher Angemessenheit. Kritisch am generischen Maskulinum ist aus sprachfeministischer Sicht weniger das damit verbundene Missverstehenspotential (in gewissem Sinne soll das ja sogar verstärkt werden), sondern die Annahme, die Verwendung dieser Formen führe zur »Unsichtbarkeit von Frauen und ihrer Leistungen in den betreffenden Sprachen« (Hellinger 1985: 4) oder sei ein Instrument »männliche[r] Herrschaftssicherung« (Samel: 2000: 20): [D]ie Äußerung dient ihren Zwecken in der Kommunikation: unter Ausschluß von Frauen über Männer zu sprechen oder Männer anzusprechen und zugleich die Rückzugsmög­

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H einz S ieburg lichkeit offen zu halten, daß auch Frauen eingeschlossen waren. (Trömel-Plötz 1978: 53)

Verbunden damit ist der Vorwurf, Frauen hätten weniger Chancen des Identifiziertwerdens – mit (vermeintlich) weitreichenden Konsequenzen: »Identifiziertwerden ist […] die Voraussetzung zur Gewinnung einer Identität, die wiederum Voraussetzung für psychisches, soziales, wenn nicht sogar biologisches Überleben ist.« (Pusch 1979: 87) Sofern nicht die Existenz des generischen Maskulinums prinzipiell geleugnet – und zum ›pseudo-generischen‹ Maskulinum umgedeutet – wird, gilt dessen Verwendung als sexistisch, androzentrisch, als Akt der ›Vergewaltigung‹ der Frau durch Sprache.7 Es wäre verfehlt, diese zweifellos radikalen Positionen als stellvertretend für den gesamten Sprachfeminismus zu werten. So wird der Begriff der Vergewaltigung – auch innerhalb der feministischen Linguistik – inzwischen abgelehnt, um das (eigentliche) Gewaltdelikt nicht zu verharmlosen.8 Unter diesem Vorzeichen wäre allerdings auch der Begriff der Entpatrifizierung, der in bewusster Nähe zu dem der Entnazifizierung gebildet wurde, ebenso wie der der ›Herrensprache‹ kritisch zu überprüfen. Überhaupt wäre eine ›begriffliche Abrüstung‹ nicht nur der Sache selbst angemessen, sondern auch einer zielorientierten Diskussionskultur zuträglich. Begriffe wie androzentrischer (auf den Mann bezogener) oder sexistischer Sprachgebrauch im Zusammenhang mit der Verwendung generischer Maskulina sind sachlich irreführend (der generische Sprachgebrauch abstrahiert ja gerade von der Bedeutung Mann), sind eher agitierend und diffamierend als informierend – und schreiben das Konzept des Geschlechterkampfes begrifflich fort. Nicht zuletzt setzen sie den weit überwiegenden Teil der Sprachgemeinschaft (Frauen wie Männer) moralisch ins Unrecht. Die eigene sprachfeministische Position vor diesem Hintergrund als demokratisch zu apostrophieren, grenzt an Zynismus.

Realitäten des Sprachalltags Mit Blick auf die alltagssprachlichen Realitäten scheint die phasenweise erhitzte Diskussion um das generische Maskulinum (vordergründig) eher weltfremd und in einem unguten Sinne akademisch. Auch wenn der nachstehend angeführte Zeitungsartikel und die daran anschließende Belegsammlung nicht im strengen methodologischen Sinne als repräsentativ betrachtet werden können, sind sie es doch in einem faktischen: 7 | Luise Pusch (1984: 60) spricht von »›Genus-Vergewaltigung‹«; vgl. auch TrömelPlötz 1984. 8 | Vgl. Samel 2000: 129.

Z ur P roblematik des generischen M askulinums im D eutschen So wird der Nesthocker selbstständig Nachgefragt: Experten beantworteten Leserfragen am TV-Telefon Was tun, wenn die erwachsene Tochter nichts tut und keinen Gedanken ans Ausziehen verschwendet? Gibt es eine Selbsthilfegruppe für Eltern von Nesthockern? Dies sind zwei der Leserfragen, die zwei Psychologinnen während der zweistündigen Telefonakti­ on beantworteten.9

Das Beispiel verdeutlicht zunächst die hohe Auftretensfrequenz generischer Maskulina. Dass diese aber tatsächlich auch generisch verwendet werden, wird deutlich, weil Nesthocker textintern auf Tochter, Experten auf Psychologinnen referiert. Ob die ›Leserfragen‹ von weiblichen oder männlichen Lesern gestellt wurden, ist nicht erkennbar, im Textzusammenhang aber auch irrelevant. Pflegeschüler und Pflegeexperten berichten indes, dass es in der Praxis oftmals völlig anders aussehe und die Pflegeschüler als billige Ersatz- und Arbeitskräfte missbraucht würden. (Passauer Neue Presse v. 29. Juli 2014); »Jeder Westler ist ein Rassist« (Der Spiegel v. 14. Juli 2014); Ein Sänger den die Ladies lieben. Chris de Burgh spielt vor rund 1800 Zuhörern (Trierischer Volksfreund v. 12. August 2014); Erstmals wird der Präsident der Türkei direkt von den Bürgern gewählt […]. Für die rund 2,8 Millionen Türken im Ausland … (taz v. 1. August 2014); sterne . »Reiner Schmuck, vom Träger oft mit Bedeutung versehen«, erläutert der Tattoo-Experte. Fragen Sie, ob sie für etwas stehen oder ob sie die Frau nur noch schöner machen sollen. (Men’s Health 8 [2014]); Ovolactovegetarier ergänzen noch den Verzehr mit Eiern. […] Rohköstler verzehren alle Gemüse im rohen Zustand (Ayurveda 3 [2014]); Jagd auf Steuerbetrüger (Süddeutsche Zeitung v. 30. Juli 2014); Der Kornkreis fasziniert Verschwörungstheoretiker, Esoteriker und Neugierige (Bild v. 30. Juli 2014); Profis ranlassen. Hautärzte und Profi-Visagisten wiederum setzen beim Verfeinern des Hautbildes auf Mikro-Dermabrasion (Frau im Leben 8 [2014]); Kaley entschied sich für Tennis und spielte sich bis in die nationale Rangliste der US-amerikanischen Amateure hoch (Cosmopolitan 8 [2014]); Nur zehn Prozent der Soldaten sind Frauen (Emma v. Juli/August 2014); Schwieriger noch als für die Deutschen, die Reue zeigten und um Vergebung baten, war die Aussöhnung für die Polen (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30. Juli 2014); Die EU beschuldigt Russland […] prorussische Separatisten in der Ostukraine zu unterstützen (Die Welt v. 30. Juli 2014); Professoren und ihre Neurosen: Assistenten-Bashing. Was ist dran? (Zeit Cam­ pus v. Juli/August 2014); Ganz Deutschland jubelt über den WM-Sieg und ein Spielteil­ nehmer von lot to 6 aus 49 kann sich doppelt freuen: Der noch unbekannte Tipper aus Niederbayern … (glücksblatt. Lotto-Magazin v. 15. Juli 2014).

Die Belegsammlung weist nach, dass generische Maskulina in der Sprachöffentlichkeit offensichtlich als ebenso normal wie unproblematisch aufgefasst werden. 9 | Trierischer Volksfreund v. 15. August 2014.

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Nicht nur im Bereich der Printmedien sind entsprechende Formen hochfrequent, und zwar grundsätzlich unabhängig von der politischen Grundorientierung, dem intendierten Adressatenkreis, dem Anspruchsniveau oder der regionalen Zuordnung. Vergleichbares gilt für Hinweis- und Reklametafeln, öffentliche Aushänge und Schilder, seien sie privat oder amtlich initiiert, ebenso wie für den weit überwiegenden Teil der belletristischen oder wissenschaftlichen Literatur. Und nicht nur im schreibsprachlichen, sondern auch im sprechsprachlichen Bereich ist der Gebrauch des generischen Maskulinums nicht nur sprachüblich, sondern wird offensichtlich von der breiten Mehrheit auch als ›unverdächtig‹ betrachtet. Das heißt andererseits nicht, dass der Thematik generell keine Relevanz in der Sprachpraxis zukäme. Gerade in bestimmten studentischen und akademischen Zusammenhängen, in schulischen und vorschulischen Erziehungskontexten, aber auch in gewerkschaftlichen und administrativen Konstellationen lassen sich Tendenzen eines Sprachwandels nachverfolgen, die als Wirkung der feministischen Linguistik zu sehen sind – und die im Kern die Vermeidung und Ersetzung des generischen Maskulinums zum Inhalt haben. Von daher lohnt es sich, die sprach- und gendertheoretischen Positionen und Wirkungen des Sprachfeminismus darzustellen und kritisch zu analysieren.

Linguistische Implikationen Aus linguistischer Sicht sind zunächst zwei Aspekte zentral: die Frage nach dem Zusammenhang von Genus und Sexus und die Beurteilung der generischen Maskulina vor dem Hintergrund der Gesamtsprachstruktur.

Genus-Sexus Das Deutsche zählt, wie etliche andere Sprachen auch (z. B. Französisch, Italienisch, Polnisch), zu den Genussprachen und verfügt grammatisch entsprechend über die Kategorie Genus. Innerhalb der Grammatik sind drei Genera, nämlich Maskulinum (z. B. der Baum), Femininum (z. B. die Wolke) und Neutrum (z. B. das Buch) zu unterscheiden. Die Genuskategorie ist, außer bei den Substantiven und Artikeln, im Pronominalsystem (dieser, diese, dieses; welcher, welche, welches) wirksam. Im Bereich der Linguistik gilt heute als unstrittig, dass die Genusverteilung prinzipiell arbiträr erfolgt, also kein wesensmäßiger Bezug zwischen dem Genus und der ›außersprachlichen Wirklichkeit‹ besteht (es könnte demnach genauso gut die Baum oder der Wolke heißen).10 Das Genus von 10 | Jacob Grimm ging gemäß seiner romantischen Sprachauffassung dagegen noch von einem ›natürlichen‹ Zusammenhang zwischen dem Genus und dem Bezeichneten

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Substantiven lässt sich im Allgemeinen nicht voraussagen und ist im (fremdsprachlichen) Sprachlernprozess grundsätzlich mit jedem einzelnen Substantiv zu lernen. Ausnahmen von dieser Regel bestehen aber in Hinblick auf einige Sachgruppen. (So sind etwa die Typenbezeichnungen von Autos Maskulina, von Motorrädern Feminina.) Auch Ableitungssilben am Wortende (Suffixe) determinieren grundsätzlich die Genuszuordnung. So sind z. B. Ableitungen mittels -chen und -lein immer neutral (das Blümchen, das Wölklein), solche auf -heit feminin (die Schönheit, die Freiheit) und solche auf -er maskulin (der Wagenheber, der Lehrer). Die Genuskategorie ist hier morphologisch determiniert, also von der Form der Ableitungssilbe, nicht aber von dem, was bezeichnet wird, bestimmt. Dem grammatischen ›Geschlecht‹ (Genus) steht auf der Seite der Natur das biologische Geschlecht (Sexus) gegenüber, differenziert in die beiden Kategorien weiblich und männlich.11 Dass in einigen wenigen Wortschatzsegmenten eine klare Relation zwischen beiden Kategorien besteht, hier also kein arbiträres Verhältnis vorliegt, ist offensichtlich. So ist die Form der Mann ebenso motiviert wie die Frau. Gleiches gilt auch für Verwandtschaftsnamen (der Onkel, die Tante; der Neffe, die Nichte etc.). Auch bei bestimmten Nutztieren zeigt sich diese Situation (der Hengst, die Stute). Andererseits weist aber das biologisch überschüssige Neutrum wiederum auf eine prinzipielle Differenz in der Genus/Sexus-Relation hin. Irritierend könnte wirken, dass auch Personen im Deutschen Neutra sein können (das Mitglied, das Weib, das Mädchen). Bei Mädchen, ebenso wie bei Frauchen, Herrchen (von Haustieren), Jüngelchen oder Fräulein, ist das Genus – wie oben gesehen – wiederum morphologisch determiniert. Offensichtlich rangiert hier die grammatische Kategorie Genus über der biologischen Kategorie Sexus. Genus/Sexus-Divergenzen finden sich bezogen auf Personenbezeichnungen auch in Beispielen wie die Person, die Wache, die (Fach-)Kraft, die Hoheit, die Geisel. Da diese Feminina auf biologisch unterschiedliche Geschlechter referieren, sind sie generische Feminina. Generische Neutra sind demgegenüber z. B. Mündel, Mitglied, Opfer. Die Existenz generischer Maskulina ist vor diesem Hintergrund zunächst unauffällig und bietet keinen Anlass, daraus Schlüsse in Hinblick auf eine (vermeintlich) sexistische Struktur der Sprache zu ziehen. Allerdings übersteigt die Zahl der maskulinen Personenbezeichnungen die der femininen und neutralen. Auch das ist kein Anlass zu Bedenken, sofern als Voraussetzung akzeptiert wird, dass Wörter wie Atomgegner oder Richter eben morphologisch determiniert sind, ein wesensmäßiger Zusammenhang zwischen Genus und Sexus auch in diesen Fällen nicht besteht – und jedenfalls aus, verstanden als »eine der phantasie der menschlichen sprache entsprungene ausdehnung des natürlichen auf alle und jede gegenstände« (Grimm 1831: 343; zit. n. Sieburg 1997: 12). 11 | Die Kategorisierung in (nur) zwei Geschlechter ist keineswegs unumstritten. Näheres dazu weiter unten.

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einer generischen Verwendungsweise entsprechender Wortbildungen sprachlogisch nichts im Wege steht. Gestützt wird diese Position dadurch, dass generische Maskulina auch Grundlage unterschiedlicher Ableitungsmodelle (Derivationen) und Zusammensetzungen (Komposita) sein können: Die unmarkierten Maskulina eignen sich deshalb auch als geschlechtsunspezifische Teile von Komposita und Ableitungen wie in lehrerhaft, ärztlich, Assistentenstelle, Bür­ gertum, Arbeiterklasse. Mit Sicherheit keine geschlechtsspezifische Bedeutung haben sie als Basiswörter motivierter Feminina wie Lehrer-in: denn die Bedeutung von Lehrerin ist nicht etwa: ›weiblicher Mann, der lehrt‹. (Stickel 1988: 340 f.)

Sprachstrukturell stehen im Deutschen neben dem hochproduktiven Ableitungssuffix -er auch weitere Suffixe zur Bildung maskuliner Personenbezeichnungen zur Verfügung, so auch -ent (Student, Rezipient), -or (Professor, Agitator), -ant (Fabrikant, Asylant), -ist (Kommunist, Feminist), -eur (Saboteur, Spediteur). Bei all diesen Maskulina ist das biologische Geschlecht der bezeichneten Person eine nachrangige Größe. Entsprechend wird in der Wortbildungsforschung die Grundbedeutung dieser Konstrukte etwa angegeben mit ›jemand, der…‹. Entsprechend: Leser – ›jemand, der liest‹.12 Das steht zwar im Einklang mit der sprachlichen Alltagspraxis, kollidiert aber mit der sprachfeministischen Auffassung, nach der hier wohl die Paraphrase ›Mann, der …‹ (Leser = ›Mann, der liest.‹) anzusetzen wäre.

Oppositionen und Ambiguitäten Im Deutschen können Bildungen wie Leser oder Student unterschiedliche Bedeutungen annehmen, je nachdem, ob sie neutral oder geschlechtsprofilierend (oppositiv) verwendet werden: Leser Leser-in

→ →

›weiblich‹ und ›männlich‹ (sexusneutral) n ur ›männlich‹ (sexusspezifisch, oppositiv) nur ›weiblich‹

Somit inkludieren Formen wie Leser oder Student in generischer Verwendung semantisch die movierten Formen Leserin, Studentin, können bei geschlechtsprofilierender Verwendung aber andererseits oppositiv neben diesen stehen. Das Verhältnis ist demnach vergleichbar dem von Tag und Nacht.13 In bestimmten Kontexten kann Tag in einem übergeordneten Sinne die Nacht mit einschlie12 | Vgl. Wellmann 1975: 62 oder Klein/Solms/Wegera 2009: 80. 13 | Dieses Beispiel verwendet auch Kalverkämper 1979.

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ßen (Ich habe drei Tage krank im Bett gelegen.), in anderen Fällen jedoch nicht (Die Tage waren heiß, die Nächte kühl.). Tag hat im ersten Fall eine umfassende Bedeutung (Tag + Nacht), im zweiten Fall aber eine eingeschränkte, oppositive (Nicht-Nacht). Analog meint Leser, je nach Kontext, zum einen Leser + Leserin, zum anderen Nicht-Leserin. Zu konstatieren ist hier also eine Asymmetrie in Hinsicht auf die Verwendungsmöglichkeiten beider Formen. Entsprechende Verhältnisse lassen sich auf grammatischer Ebene auch etwa für die Tempora angeben. So hat das Präsens als unmarkierte Kategorie im Tempussystem eine umfassende Bedeutung: »Sein Anwendungsbereich überschneidet sich mit dem des Futurs und des Präteritums.«14 (Es regnet seit drei Tagen; Es regnet sicher auch morgen noch.). Zudem kann der Singular (generalisierend) auch für den Plural stehen (  jede Person = alle Personen). Die angeführten Beispiele zeigen, dass unterschiedliche ›semantische Streuungen‹ der allgemeinen Sprachstruktur und damit der inneren Sprachlogik entsprechen. Der Vorteil der einen Seite, umfassender anwendbar zu sein, wird durch den Vorteil der anderen Seite, eindeutiger zu sein, aufgehoben. Hinter diesen rein strukturellen Verhältnissen – oder auch Teilbereichen daraus – das Wirken einer patriarchalen Macht zu vermuten, ist eine im Kern romantischmythische, hingegen keine zeitgemäße Sprachauffassung. Semantische Überschneidungen korrelieren mit semantischer Mehrdeutigkeit (Ambiguität). Die Ambiguität von Bildungen wie Leser ist mit Blick auf die Gesamtsprachstruktur nicht als eine (patriarchalisch motivierte) Besonderheit aufzufassen, sondern entspricht den allgemeinen Gegebenheiten und Funktionsweisen der Sprache. Dies gilt auch insofern, als Polysemien (Mehrdeutigkeiten) auf vielen Ebenen der Sprache vorhanden sind. Das gilt für Synonyme wie Bank (›Sitzmöbel‹ versus ›Geldhaus‹) und Homonyme wie modern (›aktuell‹ versus ›verrotten‹) oder August (›Vorname‹ versus ›Monat‹). Auch Wortbildungen sind nicht selten ambig, wie sich in Fällen wie Milchglas (›Glas für Milch‹, ›milchiges, intransparentes Glas‹) oder Hörer (›Teil des Telefons‹ versus ›Person, die [zu-]hört‹) zeigt. Schließlich sind auch die meisten Pronominalformen, Flexive und Ableitungssilben ambig, insofern als sie sich auf unterschiedliche grammatische Kategorien beziehen. So steht die Artikelform die sowohl für Feminina im Singular Nominativ als auch Akkusativ, aber auch – unabhängig vom Genus (und Sexus) – für unterschiedliche Formen im Plural (die Frauen, die Männer, die Kinder). Ambiguität ist demnach ein auf unterschiedlichen Sprachebenen vorkommendes hochfrequentes Phänomen. Dass dadurch die kommunikative Leistungsfähigkeit erkennbar beeinträchtigt werden würde, lässt sich nicht behaupten. Grund hierfür ist, dass Mehrdeutigkeiten in aller Regel durch sprachliche oder situative Kontexteinbindung bzw. das ›Weltwissen‹ der Sprachteilhaber 14 | Dudenbd. 4 2009: 505.

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disambiguiert werden. Der Satz Im Regal standen Wein-, Bier- und Milchgläser vereindeutigt das Wort Milchglas ebenso wie das Wort Einwohner eindeutig als generisch zu verstehen ist in einem Satz wie Luxemburg hat ca. 500.000 Einwohner. Aber auch sonst können generische Maskulina aufgrund des Kontextes letztlich nur dann als uneindeutig aufgefasst werden, wenn man sie als uneindeutig auffassen will. Gerade dieser Sachverhalt, dass nämlich die Gebrauchsweise von maskulinen Personenbezeichnungen in aller Regel durch den Kontext (im weiten Sinne) disambiguiert wird, wird aus sprachfeministischer Sicht meist übergangen. Asymmetrien provozieren vergleichende Wertungen, so auch mit Bezug auf Relationen des Typs Student – Studentin. Nach sprachfeministischer Lesart ergibt sich hier – wenig überraschend – ein für die movierte Form unvorteilhaftes Bild. Semantisch ist Student unmarkiert, Studentin dagegen markiert. Vom sprachfeministischen Standpunkt aus stehen sich eine Normalform und eine Abweichung von der Norm gegenüber. Normabweichung, so die Argumentation, sei aber gegenüber dem Normalen grundsätzlich als negativ, zweitrangig gedacht, was indirekt die Nachrangigkeit der Frau in der Sprache beweise. Die Fragwürdigkeit einer solchen Interpretation ist, wie Miorita Ulrich zeigt, schon dadurch erweisbar, dass sich ›aus ähnlich guten Gründen‹ auch genau das Gegenteil behaupten ließe: Am wenigsten aber dürfen Frauen sich durch den Gebrauch des Maskulinums in Neutra­ lisierungsfällen benachteiligt beziehungsweise in ihrer Würde verletzt fühlen. Denn in solchen Fällen ist eben der feminine Terminus der Opposition markiert, charakterisiert, das heißt sprachlich positiv, wohingegen der maskuline Terminus neutral, nicht charak­ terisiert, das heißt sprachlich negativ (etwa ›nicht unbedingt Femininum‹) ist. (Ulrich 1988, zit. n. Sieburg 1997: 320)

Dass die Behauptung, die Struktur, bzw. das System (langue) der deutschen Sprache sei sexistisch, aus linguistischer Sicht offensichtlich keine überzeugende Grundlage hat, besagt grundsätzlich noch nichts über die Ebene der Aktualisierung der Struktur im Sinne der konkreten Sprachverwendung (parole). Und in der Tat finden sich in der sprachfeministischen Literatur einschlägige Beispiele, die eine sprachkritische Bewertung zwingend erscheinen lassen.

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Kritische Fallbeispiele (1.)Ingrid Samel (2000: 132) macht darauf aufmerksam, dass noch in den 50er  Jahren des vorigen Jahrhunderts versucht worden sei, Schweizerinnen das Wahlrecht mit der Begründung zu verweigern, die Schweizer Verfassung enthalte nur das Maskulinum, demnach sei nur »jeder Schweizer« stimmberechtigt. Dass sich in diesem Fall – und in ähnlichen Fällen – eine sexistisch-frauenfeindliche Auffassung zeigt, steht außer Zweifel. Allerdings ist die Verallgemeinerung dieses Belegs »als ein gutes Beispiel dafür, daß das Maskulinum nur dann generisch verwendet wird und Männer wie Frauen umfaßt, wenn es Männern nützt« (ebd.), völlig abwegig. Vielmehr ist der Beleg als ein abstruses Beispiel für eine eklatante (frauendiskriminierende) Interpretation zu werten, die schon vom linguistischen Standpunkt aus als völlig unhaltbar angesehen werden muss. Der Form nach ist jeder Schweizer zweifelsfrei (auch) ein generisches Maskulinum (›jede Person Schweizer Nationalität‹), woraus sich der (Rechts-) Anspruch des Gemeintseins auch von Frauen ebenso zweifelsfrei ableiten lässt wie der von Männern. Einer schlüssigen (exkludierenden) Interpretation von jeder Schweizer im Sinne der Geschlechtsspezifikation (›jeder Mann Schweizer Nationalität‹) hätte dagegen eine eindeutige (disambiguierende) Formulierung vorausgesetzt: jeder männliche Schweizer. Jeder Schweizer ›funktioniert‹ insofern nicht anders als jeder Patient, jeder Bürger, jeder Angestellte, jeder Mensch. Gerade hier zeigt sich aber auch, dass die Bekämpfung der generischen Gebrauchsweise des Maskulinums – ohne Not – auf eine Preisgabe einer für Frauen nützlichen (Rechts-)Position hinauslaufen kann. Das generische Maskulinum bedeutet in diesem Sinne also nicht, wie im Sprachfeminismus vertreten, eine Einschränkung der Frauen, sondern im Gegenteil eine mit Männern gleichberechtigte Teilhabe des durch Sprache bezeichneten Anspruchsraumes. Zu fordern wäre demnach nicht die Abschaffung, sondern viel eher die Stärkung des generischen Maskulinums – verbunden mit einer Umkehrung der Beweislast. Nicht Frauen müssten beweisen, dass auch sie gemeint sind, sondern Männer, dass sie allein gemeint sind. Um Referenzunsicherheiten zu vermeiden, wäre demnach als Sprachregel sinnvoll: ›Soll ausdrücklich nur auf männliche Personen referiert werden, setzt dies eine formal eindeutige Markierung voraus.‹ Anders formuliert: Solange die geschlechtsprofilierende Funktion maskuliner Personenbezeichnungen nicht eindeutig bezeichnet wird, referiert die Bezeichnung prinzipiell auf beide Geschlechter, bzw. ist das Geschlecht der bezeichneten Person(en) irrelevant – was in der Konsequenz auf dasselbe hinausläuft.15 15 | Das trifft sich im Grundsatz mit einem Vorschlag den Hans-Heinrich Lieb und Helmut Richter anlässlich der Novellierung des Berliner Hochschulgesetzes

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(2.) Wenn der Arzt im Praktikum schwanger wird … Das vorangestellte Beispiel wird in der sprachfeministischen Literatur als Beleg dafür angeführt, das generische Maskulina eben nicht nur ›männlich‹ dem Genus nach seien, sondern die bezeichnete Person (hörerseitig) auch als Mann gedacht werde. Als generelle Aussage ist das, wie unten nachgewiesen werden soll, sicher nicht haltbar.16 Es zeigt sich hier aber, dass die wahrgenommene Bedeutung von Wörtern u. U. der intendierten zuwiderlaufen kann. Die sich rezipientenseitig (also beim Hörer/Leser) einstellende innere Widersprüchlichkeit dieser Formulierung war produzentenseitig (also bei Sprecher/Schreiber) sicher nicht intendiert. Das Wort ›schwanger‹ disambiguiert Arzt in diesem Fall aber eindeutig als weiblich, sodass hier die Bezeichnung Ärztin angemessener wäre. Wahlweise wäre auch die disambiguierende Formulierung Wenn ein (weiblicher) Arzt im Praktikum schwanger wird… möglich. Das im Sprachfeminismus favorisierte Modell der Feminisierung mittels Splitting erweist sich in diesem Fall natürlich als nicht anwendbar (*Wenn eine Ärztin oder ein Arzt im Praktikum schwanger wird …).

Semantisierungsprozesse Das voranstehende Beispiel wirft die Frage auf, wieso überhaupt maskuline Personenbezeichnungen – irregulär, also gegen die Absicht des Sprechers/Schreibers – als ›männlich‹ wahrgenommen werden können. Oder anders, nämlich psycholinguistisch gefragt: Welche morphologischen und semantischen Mittel begünstigen die Evokation des mentalen Konzeptes ›Mann‹ in Formen wie der Sprecher, der Lehrer?17 (1.) Hinzuweisen ist hier auf den Artikel »der«, der üblicherweise zur Kennung des maskulinen Genus in der Grundform (Nominativ Singular) herangezogen wird. Eindeutig und aussagekräftig ist der Zusammenhang zwischen der Artikelform und dem Genus aber nicht. Grammatisch korrekt ist sowohl die gemacht haben. Sie schlagen vor, öffentlichen Texten folgenden Satz voranzustellen: »Personenbezeichnungen, die sich geschlechtsneutral oder geschlechtsspezifisch ver­stehen lassen, sind in diesem Gesetz/dieser Verordnung geschlechtsneutral zu verstehen, soweit sich nichts anderes ergibt; dies gilt insbesondere für Personen­ bezeich­n ungen, die durch Bezug auf Amt, Dienstleistung, Status, Funktion oder Beruf von Personen bestimmbar sind.« (Lieb/Richter 1990: 153). 16 | Der Vorstellungsgehalt von »Arzt« in Sätzen wie »Geh’ damit besser mal zum Arzt« oder »Jeder Arzt hat die Pflicht, Leben zu retten.« – ist sicher ein anderer. 17 | Streng genommen ist die so formulierte Frage bereits problematisch. Denn hier sind die Formen, aus darstellungstechnischen und -ökonomischen Notwendigkeiten isoliert vorgestellt, eine Sprecher-Absicht ist daher (unter dieser entkontextualisierten Voraussetzung) ja gar nicht erkennbar.

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Form der Mann wie auch die Form der Frau, nur dass im zweiten Fall andere Kasus (Genitiv, Dativ) grammatikalisiert werden. Andererseits ist die Artikelform die – wie bereits oben gezeigt – nicht allein auf Feminina zu beziehen, sondern dominiert den Plural aller Genera. Das besagt aber letztlich – so oder so – nicht viel, wenn man davon ausgeht, dass Artikel die primäre Funktion haben, eine Bestimmtheitsrelation auszudrücken und der bestimmte (der, die, das) dem unbestimmten Artikel (ein, eine, ein) gegenüberzustellen ist. Weitere Funktionen wie Kasus-, Numerus- und Genusmarkierungen sind demgegenüber nachrangig und entsprechend formal weniger deutlich markiert – und sollten deshalb auch nicht überbewertet werden.18 Dass es die Frau, aber das Weib bzw. die Person aber der Mensch heißt, hat sicher keinen Einfluss auf die Konzeptionalisierung der jeweiligen Person. Dass eine feste sexusorientierte Verkoppelung zwischen Substantivbegleitern (wozu nicht nur der Artikel zählt) und der Personenbezeichnung nicht besteht, erweist etwa auch die Reihung dieser, der, (irgend-)ein Spaziergänger. Noch deutlicher wird die semantische Verschiebung im Plural. Im Vergleich zum Singular verblasst hier das Merkmal ›männlich‹ fast gänzlich: Der Leser war von dem Buch begeistert. – im Vergleich zu Weltweit waren alle Leser von dem Buch begeistert. Die Verwendung des Plurals bewirkt notwendigerweise eine Entkonkretisierung der personalen Referenz und führt entsprechend zu einer Abstrahierung vom Konzept des Geschlechts (Sexus). Insbesondere im Plural ist Beidbenennung daher letztlich nichtssagend: Weltweit waren allen Leserinnen und Leser von dem Buch begeistert. (2.) Die Deutung von er-Bildungen als ›männlich‹ wird, so lässt sich vermuten, zudem durch die Endung -er begünstigt, auch wenn Beispiele wie Mutter, Tochter oder Schwester dagegengehalten werden könnten. Die generelle Assoziierung von er-Bildungen mit ›Mann‹ in (isolierten) Beispielen wie Sprecher dürfte auf einer mentalen Kontamination mit der geschlechtsprofilierenden Zweitbedeutung dieser Bildungen beruhen. Die ›männliche‹ Lesart scheint zudem begünstigt durch die – im Hintergrund wirkende – oppositive Partner-Form Sprecherin. Deutlich wird dies an Formen wie der Gast, der Star, der Zögling, die zwar ebenfalls Maskulina sind, aber nicht moviert werden können (*Gästin, *Starin, *Zöglingin) – und eben einen unverkennbar generischen Referenzbezug haben. Es wäre allerdings ein Fehlschluss daraus abzuleiten, dass nichtmovierbare Maskulina prinzipiell sexusneutral referieren. Das lässt sich an Beispielen wie Feigling oder Skinhead leicht zeigen.

18 | Elisabeth Leiss (1994, zit. n. Sieburg 1997: 325) beschreibt die Zusatzfunktionen als ›Packlast‹ und formuliert als Analogie: »Doch so wie niemand auf die Idee kommt, einen Esel mit seiner Packlast zu verwechseln, genausowenig darf der Artikel mit diesen zusätzlichen grammatischen Funktionen, die er transportiert, verwechselt werden.«

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(3.) Gerade dies gibt aber einen deutlichen Hinweis darauf, dass weniger das Genus und die morphologische Struktur für die geschlechtsbezogene Wahrnehmung eines Wortes verantwortlich sind als vielmehr die Semantik der Wortbildungsbasis. So sind Begriffe wie Teetrinker, User oder Schlafwandler – selbst kontextisoliert – zweifellos weit weniger mit dem semantischen Merkmal ›männlich‹ verbunden als etwa Soldat, Entdecker oder Rassist. Aus dieser Erkenntnis heraus kann der Versuch abgeleitet werden, maskuline Personenbezeichnungen generell nach dem Grad der Ausprägung des Merkmals ›männlich‹ zu ordnen. Ein solcher Versuch ist mit der nachfolgenden Tabelle bezweckt. Da diese überwiegend auf Introspektion beruht, ist die Zuordnung in etlichen Fällen sicherlich angreifbar. Zudem kommt es sicherlich insgesamt zu einer deutlichen Verschiebung in Richtung ›geschlechtsabstahierend‹, wenn die Bezeichnungen, anders als hier, als Pluralformen gedacht (und dargestellt) werden. Dennoch erweist sich die aus der Tabelle ableitbare Aussage vermutlich für die meisten Sprachteilnehmer (beiderlei Geschlechts) grundsätzlich als plausibel. Gezeigt werden soll nämlich, dass die Semantik maskuliner Personenbezeichnungen als im Kern unabhängig von der morphologischen Struktur und der Genuszugehörigkeit gedacht werden kann (und sicher auch gedacht wird). Die Notwendigkeit, mittels Splitting einen stärkeren gedanklichen Einbezug von Frauen zu ›erzwingen‹ ist logischerweise dort am größten, wo das semantische Merkmal ›männlich‹ am stärksten ausgeprägt ist (Spalte vier). Ob das aber angesichts der hier aufzulistenden Belege mit der Intention der Frauenförderung zu vereinbaren ist, lässt sich anzweifeln.19 Die in der linken, ersten Spalte aufgelisteten Begriffe sind auch kontextisoliert ohne das Merkmal männlich konzeptionalisiert. Auch wenn diese formal dem in diesem Beitrag thematisierten Muster nicht entsprechen, sind sie funktional als generische Maskulina anzusehen. Hierunter fallen unterschiedliche neuere Entlehnungen, deren geschlechtsneutrale Bedeutung – wie oben bereits angedeutet – auch dadurch begünstigt sein dürfte, dass Movierungen (bisher) nicht sprachkonform sind (*Fan-in, *Star-in, *Täufling-in). Die rechte, vierte Spalte versammelt dagegen Begriffe, bei denen die Referenz auf männliche Personen stark ausgeprägt ist. Hierunter fallen Bezeichnungen für (historisch und/oder aktuell) typisch männliche Berufe (Küfer, Kutscher, Bauarbeiter), Bezeichnungen, die vornehmlich in einem historischen Kontext gedacht werden (Entdecker, Kolonialist, Neandertaler) und auch viele mit zweifellos negativer Bedeutung (Rassist, Hassprediger, Denunziant). Zwischen diesen Polen dürfte die breite Masse der generischen Maskulina einzugruppieren sein (Spalte zwei und drei).

19 | Zu diesem Punkt unten mehr.

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Befürworter, Vegetarier, Schlafwandler, Internetbenutzer, Weltbürger, Besucher, Teetrinker, Nachbar, Globalisierungskritiker, Studienabbrecher, Brillenträger, Langschläfer, Akteur, Flüchtling, Eigentümer, Schauspieler, Fernsehzuschauer, Westler, Europäer, Pilger, Konsument, Sonnenanbeter, Proband, Einwohner, Däne, Bonner, Wallone (etc.), Wähler, Bankkunde, Sommerfrischler, An­­hänger, Passagier, Rohköstler, Dialektsprecher, Autofahrer, Demonstrant, Schüler, Nesthocker, Vermittler, Praktikant, Dolmetscher, Sportler, Pendler, Spezialist, Vielflieger, Verlierer, Feinschmecker, Zivilist, Hausbesetzer, Vielfahrer

1

Gast, Star, Fan, Mensch, Engel, User, Follower, Liebling, Zögling, Täufling, (Geist) …

4 Einbrecher, Fernfahrer, Bischof, Soldat, Brandstifter, Rassist, Kolonialist, Hassprediger, Mörder, Narr, Boxer, Söldner, Ritter, Trinker, Rebell, Reservist, Schlepper, Anführer, Faschist, Skinhead, Entdecker, Küfer, Schmied, Bauarbeiter, Kutscher, Held, Neandertaler …

3 Fotograf, Drückeberger, Sporttaucher, Insider, Biologe, Lehrer, Professor, Bademeister, Feigling, Angeber, Attentäter, Entführer, Ausbilder, Spion, Doppelgänger, Ermittler, Funktionär, Klient, Theoretiker, Sänger, Feind, Komiker, Künstler …

geschlechts← abstrahierend / profilierend →

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Eine relativ geringe Tendenz zur Evozierung des semantischen Gehalts ›männlich‹ zeigt sich – bezogen auf Spalte zwei – bei den meisten eher modernen Begriffen bzw. Wortbildungen (Studienabbrecher, Globalisierungsgegner, Internetnutzer), mit Blick auf relativ unspezifische Bezeichnungen (Anhänger, Bankkunde, Konsument) sowie Herkunftsbezeichnungen (Däne, Bonner, Wallone). Tendenziell stärker mit dem Vorstellungsgehalt ›männlich‹ zu verbinden sind Bezeichnungen in Spalte drei, der u. a. Berufe in ehemaligen Männerdomänen (Bademeister, Professor, Biologe) zugeordnet wurden, sowie Schimpfwörter, die nach der allgemeinen Sprachpraxis wohl in erster Linie auf Männer zu beziehen sind (Drückeberger, Angeber, Feigling). Auch an der folgenden Reihe lässt sich nachweisen, dass die Semantik maskuliner Personenbezeichnungen – auch bereits völlig kontextisoliert – deutlich differieren kann: Liebling, Täufling, Zögling, Winzling, Flüchtling, Neuling, Prüfling, Fremdling, Schönling, Naivling, Schreiberling, Sonderling, Feigling20 (mit gradueller Zunahme des Merkmals ›männlich‹). Wenn immer nur Jungen/Männer als Feigling ›tituliert‹ werden, verbindet sich mit dem Wort zwangläufig das Konzept ›männlich‹. Wenn andererseits mit dem Wort Zuschauer offensichtlich Personen beiderlei Geschlechts gemeint sind, verbindet sich damit das Konzept ›geschlechtsneutral‹. Die Bedeutung von Begriffen ist eben abhängig von dem, worauf sie bezogen werden. Graduelle Zuordnungen der gezeigten Art basieren daher zweifellos auf dem ›Weltwissen‹, also den durch Vermittlung und eigener Lebenserfahrung gesammelten Wissensbeständen jedes Einzelnen. Da diese Wissensbestände individuell differieren (können), ist von unterschiedlichen Wahrnehmungsmustern auszugehen. Zu überprüfen wäre, inwieweit diese mit sozialen Faktoren wie Bildungsstand, Alter, Sozialstatus, Ethnizität etc. korrelieren. Im gegebenen Zusammenhang interessanter noch ist die Frage nach dem möglichen Zusammenhang zwischen Geschlecht und Sprachbedeutungswahrnehmung. Der Ansatz der feministischen Linguistik legt einen solchen Zusammenhang nahe. Die alltagsprachlichen Befunde stützen diese Hypothese jedoch (bisher) nicht. Wenn aber die Bedeutung von Wörtern abhängig ist von den gesellschaftlichen Realitäten, dann gilt es, diese Realitäten (zum Besseren) zu verändern. Der Ansatz des Sprachfeminismus, Gesellschaftsveränderung mittels Sprachveränderung zu provozieren, ist mindestens fragwürdig, – wie auch im Nachstehenden gezeigt werden soll.

20 | Dass Fleischer/Barz (2012: 237) aufgrund einer Google-Recherche Formen wie Fremdlingin, Lieblingin und Neulingin aufführt, kann hier unbeachtet bleiben.

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Modelle zur Umgestaltung der Sprache Unter dem Aspekt ›Gendering‹ können unterschiedliche Strategien der sprachlichen Umgestaltung benannt werden. Diese sind Ergebnis (sprach-)feministischer Sprachkritik: die (partielle) Feminisierung durch Beidbenennung mittels Splitting (alle Studentinnen und Studenten), die totale Feminisierung (generisches Femininum) sowie die Neutralisation (die Studierenden). Hinzu kommt eine nur theoretisch-experimentelle Lösung, auf die im Folgenden aber als erstes eingegangen werden soll.

Experimentelle Lösungen Auf Luise Pusch geht der Vorschlag zurück, auf Movierungsformen wie Studentin ganz zu verzichten und die Geschlechtszuordnung über die Artikel zu steuern: der Student (männlich), die Student (weiblich), das Student (generisch). Hintergrund ist eine deutliche Negativbewertung der Ableitungssilbe: Festzuhalten bleibt also, daß die movierte Form zur Bezeichnung weiblicher Menschen eine sprachliche Diskriminierung sozusagen ersten Ranges darstellt. Das hochproduk­ tive Suffix -in konserviert im Sprachsystem die jahrtausendealte Abhängigkeit der Frau vom Mann, die es endlich zu überwinden gilt. (Pusch 1984: 59) 21

Die Abschaffung der Movierungssuffixe (auch -euse, -ess etc.) würde zu einer ähnlichen Situation führen wie bei der/die Angestellte. Entsprechend würde es dann (für weibliche Personen) heißen: »Sie ist eine gute Student. Ihre Leistungen sind beachtlich und ihre Professor ist sehr zufrieden mit ihr: Früher war sie übrigens Sekretär bei einer Architekt.« (Pusch 1984: 62) Von der Frage der Durchsetzbarkeit dieses Modells kann hier abgesehen werden. Unzureichend ist es insofern, als das Artikelsystem eine solche Differenzierung nicht in allen Kasus leisten kann22 (und funktional – wie gesehen – auch nicht leisten soll). Grundsätzlicher Vorteil ist aber die Nutzung der Dreigliedrigkeit des Genussystems zur Grammatikalisierung der dreigliedrigen Referenzmodi ›generisch‹, ›weiblich‹, ›männlich‹ und die damit verbundene ›Symmetrisierung‹ der gegebenen asymmetrischen Strukturen. Puschs Vorschlag aufgreifend und (morphologisch in eine andere Richtung) weiterdenkend, wäre aber auch eine alternative Lösung theoretischexperimentell vorstellbar. Movierungsformen dienen im Deutschen zwar weit 21 | Im Vergleich zur Nicht-Umsetzung ihres Vorschlags sieht sie im -in allerdings das »kleinere Übel« und plädiert für dessen Forcierung (vgl. Pusch 1984: 64). 22 | Wie in den einzelnen Fällen flexivisch zu verfahren wäre, erörtert Pusch nicht.

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überwiegend zur Bildung von Feminina (aus Maskulina), aber eben nicht nur. Auch die umgekehrte Ableitungsrichtung ist möglich. So leitet das Allomorph -(e)rich Maskulina aus femininen Basen ab (Ente-rich, Täub-erich, Gäns-erich, Schnecke-rich). Entsprechende Beispiele sind zwar selten, semantisch aber eindeutig und könnten zur Übertragung auf andere Referenzbereiche produktiv genutzt werden. Entsprechend denkbar wäre: der Student (generisch) / die Student-in (weiblich) / der Student-erich (männlich). Entsprechend: Die Wahl der beiden Studenten fiel auf unterschiedliche Kurse. Während sich die Studentin Lea bei Doktorich x einschrieb, fiel die Wahl des Studenterichs Ben auf den Kurs der Professorin y. Das Gesamtparadigma hätte demnach die folgenden Formen: Singular Maskulinum

Neutrum

Femininum

Nom.

der Studenterich

der Student

die Studentin

Gen.

des Studenterichs

des Studenten

der Studentin

Dat.

dem Studenterich

dem Studenten

der Studentin

Akk.

der Studenterich

der Student

die Studentin

Nom.

die Studenteriche

die Studenten

die Studentinnen

Gen.

der Studenteriche

der Studenten

der Studentinnen

Dat.

den Studenterichen

den Studenten

den Studentinnen

Akk.

die Studenteriche

die Studenten

die Studentinnen

Plural

So experimentell dieser Vorschlag auch sein mag: Durch Inserierung eines (systemkonformen) eigenen maskulinen Paradigmas wäre das Ideal der Symmetrie bei der Genuszuordnung erreicht, eine Funktionsfähigkeit in allen Kasus und Numeri gewährleistet und gleichzeitig die geschlechtsabstrahierende Funktion beizubehalten. Da die maskuline Movierungsform – spiegelbildlich zur in-Movierung – nur zu verwenden wäre, wenn der Bezug auf eine männliche Person eindeutig ist, wäre die Vorkommenshäufigkeit und der Umfang der sprachlichen Umgestaltung zudem begrenzt.23 Bezogen auf die praktische Umsetzung dieses Vorschlags ist jeder Zweifel gerechtfertigt. Einen gewissen heuristischen Wert hat er dennoch – und darüber hinaus auch potentiell einen praktischen Nutzen. Denkbar wäre hieraus ein

23 | Aufgrund des oben Dargestellten, gibt es (hier) keinen Grund, das Artikelsystem zu verändern.

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Testverfahren zur Überprüfung der (generischen) Funktion maskuliner Personenbezeichnungen abzuleiten. Durch eine einfache Austauschprobe ließe sich so nämlich ermitteln, in welchen Fällen die alleinige Referenz auf männliche Personen eindeutig wäre (geschlechtsprofilierender Sprachgebrauch) und in welchen Fällen nicht (generischer Sprachgebrauch): Beispiele: Die Studenten (Studenteriche?) der Universität Graz. – Die Einwohner (Einwohneriche?) der Stadt Köln. – Bauarbeiter (Bauarbeiteriche?) haben einen harten Job. – Fußballfreunde (Fußballfreunderiche?) aufgepasst. – Liebe Kunden (Kunderiche?) – Der Schriftsteller (Schriftstellerich?) Thomas Mann – Hanna geht morgen mit ihren Kollegen (Kollegerichen?) ins Theater. – Die Ureinwohner (Ureinwohneriche?) Amerikas nennt man Indianer (Indianeriche?). – Lass’ uns heute Abend zum Italiener (Italienerich?) gehen. – Der Beruf des Kutschers (Kutscherichs?) ist ausgestorben. – Jeder Schweizer (Schweizerich?). Sicherlich falsch wäre die Lösung: Wenn der Arzterich im Praktikum schwanger wird…

(Partielle) Feminisierung / Beidbenennung mittels Splitting Die aus sprachfeministischer Sicht optimale Möglichkeit, die ›Sichtbarmachung von Frauen und ihrer Leistungen‹ zu gewährleisten, ist das Verfahren der Beidbenennung (partielle Feminisierung). Durch systematisches Splitting (Schülerinnen und Schüler, Kundinnen und Kunden) soll die als sexistisch interpretierte Doppelfunktion maskuliner Personenbezeichnungen im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit überwunden werden. Zugleich wird als vorteilhafte Möglichkeit gesehen, dadurch die generische Funktion zu tilgen, da die forcierte Beidbenennung zu einer kognitiv-semantischen Umkodierung zur ausschließlich geschlechtsprofilierenden Funktion der Maskulina führen würde (s.o). Bei der Frage einer systematischen Feminisierung mittels Beidbenennung sind folgende Einwände zu erwägen: (1.) Splittingformen stehen der Sprachökonomie entgegen und führen zu einem schwerfälligen Sprachduktus, vor allem wenn sie kongruierend auf nachstehende Satzglieder ausgreifen. Damit verbunden ist die Gefahr, den eigentlichen Aussageinhalt zu verunklaren und Fehldeutungen zu begünstigen. – Jeder Schüler und jede Schülerin, der bzw. die seine bzw. ihre Hausaufgaben vergessen hat, soll das seinem Lehrer bzw. ihrer Lehrerin sagen. – Eingeladen sind alle Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie die Elternvertreterinnen und Elternvertreter. Eben weil solche Dubletten schwerfällig wirken und sprachökonomisch ungünstig sind, haben sich auf Ebene der geschriebenen Sprache unterschiedliche

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Formen von ›Sparschreibungen‹ mittel Schräg- oder Bindestrich oder Klammerung herausgebildet: – –

Jede/r Schüler/-in, der/die, seine/ihre Hausaufgaben vergessen hat, soll das seinem/seiner/ihrem/ihrer Lehrer/-in sagen. Eingeladen sind alle Schüler(innen), Lehrer(innen) und Elternvertreter(innen).

Abgesehen davon, dass entsprechende Verkürzungen in vielen Fällen die Durchsichtigkeit von Satzstrukturen erschweren, besteht der Nachteil, dass sie nicht (vor-)lesbar sind. Die Überführung in gesprochene Sprache macht die Vollformen jedenfalls wieder zwingend. Eine weitere Möglichkeit bieten Schreibungen mit Binnen-I (Majuskel-I), welches die anderen Formen der Sparschreibung ersetzt, jedoch nicht in allen Fällen verwendbar ist: –

Eingeladen sind SchülerInnen, LehrerInnen und ElternvertreterInnen.

Zur Vermeidung der (umständlichen) Splittingformen in der Mündlichkeit wurde vorgeschlagen, das Binnen-I durch vorangestellten Knacklaut [Ɂ], wie er im Deutschen auch ansonsten vor vokalischem Anlaut üblich ist, hörbar zu machen. Die Praktikabilität dieses Verfahrens ist allerdings sehr begrenzt und die Gefahr des Missverstehens groß.24 (2.) Das Verfahren der Beidbenennung ist auf den Bereich der Wortbildung praktisch nicht übertragbar. Der dadurch bedingte Parallelismus von gesplitteten und ungesplitteten Formen ist – systematisch – unbefriedigend: die Briefe unserer Leserinnen und Leser → unsere Leserbriefe, die Ausdrucksweise der Künstlerinnen und Künstler → die künstlerische Ausdrucksweise. Da das Deutsche eine ›Wortbildungssprache‹ ist und Komposita sowie Derivationen einen beträchtlichen Anteil am Wortschatz haben, ist dieser Punkt nicht unerheblich. In Wortbildungen fungieren generische Maskulina systematisch als Basiselemente. Konsequenterweise wurde die Wortbildung grundsätzlich ebenfalls als Gegenstandsbereich der Feminisierung identifiziert und als 24 | Auch wenn es anekdotisch wirkt … Ich erinnere mich an einen österreichischen Kollegen, der während eines Gastvortrags den Österreicherinnen vorwarf, sie seinen vergleichsweise wenig aufgeschlossen anderen Kulturen gegenüber, am Lernen von Fremdsprachen nur mäßig interessiert und dergleichen. Schon während des Vortrags war der Unmut, insbesondere bei den weiblichen Zuhörern unverkennbar. Verschiedene Zuhörerinnen machten ihr Missfallen an der – wie sie meinten – frauenfeindlichen Position des Vortragenden im Anschluss auch sehr deutlich. Worauf dieser durchaus bestürzt, aber zugleich auch entwaffnend, entgegnete, er habe doch immer das große I gesprochen. (Offenbar hatte das aber niemand bemerkt.)

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Ziel formuliert »die Bausteine der Wortbildung (zurück) [zu] erobern« (Pusch 1984: 64). Eine konsequente Umsetzung dieses Anspruchs wurde jedoch mit Blick auf die Unlösbarkeit dieser Aufgabe nicht ernsthaft in Angriff genommen. Da Wortbildung als Prozess der Synthetisierung aufzufassen ist (die Tür des Hauses → die Haustür), das Splittingverfahren dagegen ›entsynthetisiert‹, sind beide Mechanismen praktisch nicht kompatibel. Möglich aber unökonomisch wäre immerhin über Durchkoppelungsbindestrich durchsichtig gehaltene Formen wie Leserinnen-und-Leserbriefe, Anwältinnen-und-Anwaltskammer. Realistische Optionen für die sprachliche Alltagspraxis sind sie jedoch nicht. Erst recht trifft das zu auf Formen wie (Welt-)Meisterinnen-und-Meisterschaft oder künstlerinnen-und-künstlerisch. Eine Feminisierung von Wortbildung, beschränkt auf Komposition, findet sich dennoch bisweilen in der Schriftlichkeit. Sparschreibungen machen Formen wie Künstler/innen/café, KünstlerInnenverbände, Sprecher(innen)gruppe immerhin noch handhabbar. In komplexeren Komposita sind aber auch dem Grenzen gesetzt: Bürger(innen)meister(innen)kandidat(inn)en. (3.) Systematisches Splitting führt zu einem Verlust der kommunikativen Leistungsfähigkeit und damit zur Verarmung der Sprache. In der Konsequenz bewirkt das Verfahren der Beidbenennung eine semantische Umpolung der generischen zur ausschließlich geschlechtsprofilierenden Funktion maskuliner Personenbezeichnungen. Wenn systematisch von Schülerinnen und Schülern gesprochen wird, wird die Einzelform Schüler tendenziell nicht mehr als generisch erkannt. Genau das ist zwar die Strategie des Sprachfeminismus, allerdings ist der Preis dafür insofern hoch, als die kommunikativ sinnvolle und notwendige Funktion generischer Personenbezeichnung dadurch deutlich eingeschränkt würde. Das Splittingsverfahren könnte diesen Verlust nur bedingt und allenfalls unter enormem formalen Aufwand wettmachen. Betroffen sind vor allem Kommunikationsfelder, in denen das Geschlecht der Bezeichneten faktisch unbekannt ist. Die dadurch entstehenden Benennungsunsicherheiten sind durch das Splitting-Verfahren kaum zu bewältigen. Der Satz Auf dem Fahrradweg stehen schon wieder zwei Falschparker wird alltagssprachlich als generisch interpretiert. Eine Interpretation von Falschparker als ›männlich‹ hätte die Umformung zwei Falschparker und/oder Falschparkerinnen zu Folge. Der gut mögliche Fall, dass die Falschparker unterschiedlichen Geschlechtern angehören, ist hierdurch aber – streng genommen – nicht einmal abgedeckt. Im Satz Alle Passagiere kamen mit dem Schrecken davon ist faktisch vom Geschlecht der Passagiere abstrahiert, – möglicherweise weil unbekannt ist, ob nur Männer oder nur Frauen an Bord waren. Die Umformung Alle Passagiere und/oder Passagierinnen kamen mit dem Schrecken davon, wäre zwar logisch korrekt, konstruktionell aber mindestens sperrig. Unsicherheiten und Unkenntnis bezogen auf das Geschlecht bestehen vielfach auch mit Blick auf historische Zusammenhänge: Die Höhlenzeichnungen stammen von den Nean-

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dertalern (Neandertalern und/oder Neandertalerinnen?). Die Hunnen (Hunninnen und/oder Hunnen?) haben die Goten (Gotinnen und Goten?) im Zuge der Völkerwanderung verdrängt. Problematisch sind auch Fälle, in denen Movierung zu Fehldeutungen führen kann. Der Satz Sie ist unsere erfolgreichste Mitarbeiterin ist mehrdeutig insofern, als nicht erkennbar ist, ob hier nur auf weibliche oder eben auf alle Mitarbeiter referiert wird. (Größer ist das Lob bei generischer Lesart.) Eindeutig dagegen ist: Sie ist unser bester Mitarbeiter. Sätze des Typs Frauen sind die besseren Autorinnen; Die meisten Studentinnen sind weiblich sind sinnlos, da Autorinnen und Studentinnen immer nur Frauen bzw. weiblich sein können. Die meisten Studenten sind männlich, ist dagegen ebenso möglich wie Die meisten Studenten sind weiblich. Sinnlos auch: Frau Merkel ist die bislang erfolgreichste Bundeskanzlerin. Ein Problem wäre der Verlust generischer Funktionsweisen insbesondere auch in Textformen, für die Prägnanz und Kürze konstitutiv ist. Dies gilt etwa für Überschriften und Schlagzeilen des Typs Einbrecher entkam unbekannt. Sowohl die Umformung in Einbrecherin oder Einbrecher als auch die Sparschreibung Einbrecher-in sind hier keine befriedigende Alternative. Auch bei Aufschriften, Beschilderungen, Hinweistafeln oder bei Bezeichnungen für Vereine, Verbände, Hilfswerke und dergleichen würde ein Verlust der generischen Funktion eher Verwirrung stiften oder Missverständnisse provozieren bzw. zu unökonomischen Umformungen nötigen: Fußgänger(innen) andere Straßenseite benutzen (Straßenschild), Ärzte und Ärztinnen ohne Grenzen (Hilfswerk). Kaum zu bewältigen ist zudem die Abgrenzung gegenüber ›juristischen Personen‹ wie Zulieferer, Hersteller, Kunde, Arbeitgeber, Verkäufer, Investor, Gesellschafter, Teilhaber, Klient, Mittelständler, Sponsor etc. Diese können sowohl auf natürliche Personen als auch etwa auf eine Firma, Institution, Behörde usw. bezogen sein. Die Grenzen sind hier oft fließend: Der Verkäufer übernimmt die Gewährleistung des Herstellers gegenüber dem Kunden; Der Arbeitgeber stellt sicher, dass der Arbeitnehmer… Aber auch über diese (speziellen) Fälle hinaus bleibt festzuhalten, dass der Verlust der generischen Funktion zu einer erheblich umständlicheren Sprachstruktur führen würde. Sachlich ist das nicht vertretbar, wenn das Geschlecht der Bezeichneten für den Aussageinhalt irrelevant ist, – zumal die Feminisierung eine Fokussierung auf die Geschlechtszugehörigkeit der Bezeichneten erzwingt, die u. U. zu einer Verschiebung der Aussageabsicht führt. So steht etwa im obigen Beleg … ein Spielteilnehmer von lotto 6 aus 49 kann sich doppelt freuen, das ›Doppelt-Freuen‹ im Mittelpunkt. Das Geschlecht des ›Sich-Freuenden‹ zu markieren, lenkt davon unnötig ab: Ein Spielteilnehmer oder eine Spielteilnehmerin von lotto 6 aus 49 kann sich doppelt freuen. Dass der Verlust der generischen Funktion auch gegen die genderpolitischen Interessen des Sprachfeminismus und der Frauen ausschlagen kann,

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wurde bereits oben am Beispiel ›Jeder Schweizer‹ gezeigt. Deutlich wird das aber auch im Folgenden. (4.) Ein konsequentes Splitting führt die Idee des Sprachfeminismus ad absurdum. In sprachfeministischen Darstellungen ist die Problematik ausgeblendet, wie mit tendenziell oder manifest negativ konnotierten Personenbezeichnungen umzugehen ist. Ein konsequentes Splitting würde zwar auch hier der Forderung nach »einer Sprache von Männern und Frauen, in der beide Geschlechter dieselben Chancen des Gemeintseins haben« (Samel 2000: 48), genügen, damit zugleich aber die Zielsetzung der Frauenförderung konterkarieren: Unfallverursacher und Unfallverursacherinnen; Kinderschänderinnen und Kinderschänder, Faschist(inn)en, Volksverhetzer/-inn/en. Offensichtlich ist die Frage der Feminisierung an diesem Punkt nicht zu Ende gedacht. Dieser innere Widerspruch lässt sich auch nicht durch das in Diskussionen bisweilen vorgebrachte Argument auflösen, Gewaltverbrecher etc. seien eben meist männlich, eine Beidbenennung daher nicht angebracht. Die Betonung des Mehrheitsarguments hier steht im Widerspruch zur sonstigen Argumentationslogik, die das Splitting insbesondere in Fällen favorisiert, in denen Frauen unterrepräsentiert sind (Ingenieurinnen und Ingenieure). Eine systematische Ausklammerung des Bereichs der Negativbezeichnungen vom propagierten Verfahren der Beidbenennung käme aber einer Art ›positiver Diskriminierung‹ gleich und würde die überholte Formel vom schutzbedürftigen ›schwachen Geschlecht‹ de facto wiederbeleben. Ein systematisches Splitting der Negativbezeichnungen würde andererseits ein problematisches und sachlich in vielen Bereichen kaum vertretbar negatives Licht auf ›die Frau‹ in der Gesellschaft werfen. Das zeigt sich an feminisierten Sätzen wie: Die Neofaschistinnen und Neofaschisten rotteten sich grölend zusammen. Sparschreibung wirkt hier noch problematischer – und vom Effekt her sexistischer: Neofaschist(inn)en rotteten sich grölend zusammen. Entsprechendes gilt für Sätze wie: Die meisten Kinderschänder(innen) sitzen im Gefängnis; ›Westler(innen) sind Rassist(inn)en‹. Mit Blick auf den alltäglichen Sprachgebrauch erweist sich der Bereich der Negativbezeichnungen keinesfalls als quantité négligable; die folgende Auswahl deutet das an: Dieb, Attentäter, Umweltzerstörer, Entführer, Saboteur, Faschist, Rassist, Bankräuber, Mörder, Unfallverursacher, Falschparker, Kinderschänder, Verkehrssünder, Geisterfahrer, Schwadroneur, Angeber, Brandstifter, Versager, Opportunist, Leisetreter, Duckmäuser, Sonderling, Chauvinist, Extremist, Steuerbetrüger, Steuerhinterzieher, Kriegstreiber, Kriegsgewinnler, Sonderling, Feigling, Temposünder, Vandale, Trickbetrüger, Taschenspieler, Hasardeur, Giftmischer, Denunziant, Schwerverbrecher, Speichellecker, Kidnapper, Ignorant, Opportunist, Rechtsverdreher, Winkeladvokat, Säufer, Drogendealer, Schmuggler, Geiselnehmer, Schlepper, Bauernfänger, Rosstäuscher, Bombenleger, Einschleimer, Menschenverächter, Ruhestörer, Spielverderber, Stalker,

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H einz S ieburg Plagiator, Despot, Simulant, Quacksalber, Spekulant, Trittbrettfahrer, Schurke, Aufwiegler, Wegelagerer, Verführer, Intensivtäter, Bandit, Verleumder.

Die Liste ließe sich noch deutlich erweitern, insbesondere bei Einbeziehung weiterer Kompositionsformen (Taschendieb, Ladendieb, Tagedieb, Hühnerdieb…) oder Schimpfwörter (Penner, Dummschwätzer, Dünnbrettbohrer). In all diesen Fällen – wo immer möglich – zu splitten, würde wohl auf den berechtigten Widerstand vieler Sprecherinnen (und auch Sprecher) treffen. Der Sache der Geschlechtergerechtigkeit wäre dadurch letztlich nicht gedient. (5.) Das systematische Splittung ist sozial- und gendertheoretisch rückständig. Sowohl unter sozial- als auch unter gendertheoretischer Perspektive erweist sich das Splitting als rückwärtsgewandte Aufrechterhaltung eines gesellschaftlich und auch theoretisch längst überholten homogenisierenden und essentialistisch gedachten bipolaren Geschlechtermodells. Ausgangspunkt des Sprachfeminismus war das Differenzmodell, dass noch von einer klaren Dichotomie in sich einheitlicher Geschlechter und einer streng am Frau/Mann-Schema orientierten Gesellschaftsstruktur ausging. Splittingformen bilden dies nach und dramatisieren den Faktor Geschlecht zugleich zur dominanten gesellschaftsstrukturierenden Größe – unter Ausblendung von Wirkungen und Wechselwirkungen, die durch Strukturkategorien wie Klasse, Ethnizität, Religion, Alter usw. entstehen.25 Im Kern läuft das streng dualistisch orientierte Verfahren der Beidbenennung zudem auf eine intensivierende Normierung und Zementierung eines Zweigeschlechtermodells hinaus. Die von Judith Butler kritisierte ›heterosexuelle Zwangsmatrix‹ wird hierdurch auch sprachlich manifest und perpetuiert. Eine essentialistische, die weibliche und männliche Natur betonende Auffassung der Kategorie Geschlecht gilt heute als überholt. Unter dem Begriff ›Gender‹ (soziales Geschlecht) hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Geschlecht primär als Resultat von außen einwirkender sozialer Faktoren zu sehen ist. Poststrukturalistische Theorien gehen hier noch weiter und lösen Geschlecht als dominante Sozialkategorie zugunsten einer Betonung des Individuums praktisch auf. Aus einer zunehmenden Auseinandersetzung mit Fragen der traditionellen Geschlechterordnung resultiert auch eine kritische Haltung gegenüber dem exklusiven – und exkludierenden – Zweigeschlechtermodell (Frau/Mann-Schema). Kritisiert wird, dass dadurch alle Personen, die sich hier nicht zuordnen können oder wollen, ausgeschlossen bleiben (z. B. Intersexuelle oder Transgender). Die Queer-Theorie leitet daraus auch Folgerungen für den Umbau der Sprache ab, der sich dezidiert gegen das als veraltet wahrgenommene bipolare Konzept der Beidbenennung richtet. So soll zur Kenntlichmachung der ansonsten sprachlich nicht symbolisierten Geschlechter das ›Gender Gap‹ dienen. Dieser 25 | Vgl. dagegen den Ansatz der Intersektionalität.

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›Geschlechter-Zwischenraum‹ erfolgt in Form eines Unterstrichs zwischen Ableitungsbasis und Movierungs-in (Lehrer_innen). Dem Unterstrich wird hier die Funktion beigemessen, einen »Raum für alle ›anderen‹ Geschlechtlichkeiten« (Baumgartinger 2008: 34) symbolisch zu eröffnen. Dem zwar entgegengesetzt, aber sozialpolitisch mit derselben Zielsetzung verbunden, ist die Strategie der ›Entgeschlechtlichung‹, die in Form eines Sterns (*) statt des Unterstrichs symbolisiert werden soll.26 Und mittlerweile gibt es auch immer mehr Strategien, die ins Sprachsystem eingreifen, einerseits, um Geschlechtervielfalt sichtbar zu machen, wie etwa der »_« und anderer­ seits mit dem Versuch, Sprache zu entgeschlechtlichen, d. h. geschlechtliche Markie­ rungen aus der Sprache zu entfernen, wie es etwa der »*« tut. […] Diese und noch viel mehr sprachliche Strategien sind mittlerweile realisiert und in Ver­ wendung, um einer Sprache die Realität von mehr als nur zwei kleinlich eingegrenzten Geschlechtern Mann/Frau aufzuzwingen. (Baumgartinger 2008: 28 u. 35)

Nicht nur unter theoretischer, sondern auch unter sozialanalytischer Perspektive erscheint die Beidbenennung wie ein Anachronismus. Ignoriert werden die in den vergangenen Jahrzehnten erzielten Fortschritte in Bezug auf die gesellschaftliche Gleichstellung der Frau. In weiten Bereichen ist die historisch zu konstatierende Benachteiligung jedenfalls bereits überwunden. Die permanente und schematische Herausstellung feminisierter Sprachformen im Sinne des Kampfes eines gesamtheitlich deprivilegierten weiblichen Geschlechts um gesellschaftliche Akzeptanz wirkt auch unter dieser Prämisse abgestanden. Wenn gilt, dass »letztlich nicht die Sprache verändert werden, sondern eine Veränderung des Denkens oder des gesellschaftlichen Zustandes bewirkt werden« soll (Samel 2000: 52), dann ist unter den zum Positiven veränderten Bedingungen ein stures Festhalten an der Beidbenennung in der Gefahr, zum Selbstzweck zu verkommen. Ein konsequentes Splitting, angewandt auf ›Allerweltsbezeichnungen‹ wie Sprecherinnen und Sprecher; Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer, Leserinnen und Leser, Schwimmerinnen und Schwimmer produziert gegenüber der generischen Sprachform jedenfalls keinerlei Erkenntnisgewinn oder sozialen Fortschritt. Hierdurch sichtbar zu machen, dass auch Frauen reden, Fahrrad fahren, lesen, schwimmen etc. (können), ist an Banalität kaum zu überbieten. Produziert werden hierdurch letztlich nur inhaltsleere Redundanzformeln.

26 | Statt »Liebe_r Leser_in, der_die das gerade liest« steht dann »Lieb* Les*, * du das gerade liest« (Baumgartinger 2008: 35).

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Neutralisation Neutralisation bezeichnet ein Verfahren, dass die sprachpraktischen Nachteile des Splittings durch Verwendung genusunspezifischer Bezeichnungen zu umgehen sucht; allerdings um den Preis, das Anliegen der ›Sichtbarmachung der Frauen in der Sprache‹ letztlich aufzugeben. Aus sprachfeministischer Sicht ist das gegenüber dem ›(pseudo)generischen‹ Maskulinum allerdings vorzuziehen, da hier immerhin eine strukturelle Symmetrie und darüber die Chancengleichheit in Bezug auf das Identifiziert-Werden als gegeben angenommen wird. Als ›neutral‹ gelten Formen wie die Studierenden, die Mitwirkenden, die Angestellten, da diese im Singular formgleich sowohl als Maskulinum wie auch als Femininum verwendet werden können: der/die Studierende, der/die Mitwirkende, der/die Angestellte. Linguistisch sind diese Formen Konversionen aus Partizipien (Präsens und Präteritum). So basiert Studierende auf dem Partizip Präsens (studierend), Angestellte dagegen auf einem Partizip Präteritum (angestellt). Problematisch sind diese Bildungen insofern, als auch hier im Singular eine Beidbenennung meist nicht zu umgehen ist: jede bzw. jeder Studierende, ein Angestellter bzw. eine Angestellte. Sparschreibungen sind teilweise möglich, teilweise aber auch undurchsichtig: jede/r Studierende, ein(e) Angestellte(r). Das Sprachsystem kommt der Neutralisation insofern entgegen, als viele Personenbezeichnungen des beschriebenen Typs bereits fest im Wortschatz verankert sind und diese bezogen auf die verbale Grundform eine er-Erweiterung meist ebenso ausschließen wie eine in-Movierung in der Konversionsform (*Ansteller, *Angestelltin; *Mitwirker, *Mitwirkendin). Entsprechend auch Reisende, Streikende, Vermisste, Alleinerziehende, Liebende, Besserverdienende, Trauerende, Betroffene, Ertrinkende etc. Das Verfahren der Neutralisation ist strukturell zwar auf eine Vielzahl von Personenbezeichnungen mit verbaler Basis anwendbar, das Ergebnis allerdings oft unbefriedigend. So ist die Ersetzung von Köchen oder Köch(inn)e(n) durch Kochende nicht ohne Sinnverlust möglich. (Nicht jeder, der kocht, ist ein Koch.) Entsprechend auch bei Bäcker → Backende, Maurer → Mauernde. In anderen Beispielen ist die semantische Adäquatheit immerhin größer: Lehrer → Lehrende, Dozenten → Dozierende, Promovenden → Promovierende. Allgemein durchgesetzt hat sich Studierende (oft auch in Studierendenparlament). Kaum möglich sind Neutralisationen bei Personenbezeichnungen mit substantivischer Basis: Schüler → *Schulende, Sportler → *Sportlernde, Attentäter → *Attentäternde. Aufgrund der zahlreichen Restriktionen erweist sich das Modell der Neutralisation insgesamt als wenig produktiv. Überhaupt lässt sich auch hier wieder fragen, wieso generische Maskulina mit hohem Aufwand vermieden oder umgangen werden sollen, oder – konkreter – wieso in einer Reihe (viele) Angestellte,

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Fachkräfte und Mitarbeiter, die ersten beiden Wörter als gendergerecht, das dritte aber als sexistisch betrachtet werden sollte.

(Neu-)generisches Femininum Als Alternative zu den Strategien der Beidbenennung und Neutralisation gilt die Aufwertung und Ausweitung der in-Movierungen zum ›generischen Femininum‹. (Zur Unterscheidung gegenüber (eigentlichen) generischen Feminina wie Person, Geisel, Hoheit, Majestät wird im Folgenden allerdings der Terminus (neu)generisches Femininum verwendet.) Der Verdacht, dass die mit dem (neu-)generischen Femininum verbundene »Umkehrung der androzentrischen Position« (Samel 2000: 76) zum Teil einer verqueren Auge-um-Auge-Logik im Sinne einer ausgleichenden Un-Gerechtigkeit geschuldet ist, liegt so fern nicht. Skepsis hervorrufen kann auch die Propagierung dieses Modells im Sinne eines taktischen Manövers zur Überlistung und Disziplinierung des Mannes. Die Position Luise Puschs referierend, heißt es bei Samel (2000: 77): »Denn da die ultimative Bedrohung für den Mann die Feminisierung ist, werde er versuchen, dem zu entgehen, und bereit sein, bei der Entwicklung einer für beide Geschlechter gerechten Sprache zu kooperieren.« Sieht man von diesem ideologischen Hintergrund ab, lässt sich vom linguistischen Standpunkt aus einwenden, dass der propagierte Sprachgebrauch einen inneren Widerspruch produziert, der so beim generischen Maskulinum nicht gegeben ist. Während nämlich männliche Studentinnen als Aporie (als Widerspruch in sich) gesehen werden müssen, funktioniert weibliche Studenten systemkonform. Dass allein die Ableitungsbasen (Studenten) als generisch zu interpretieren sind, nicht aber die Ableitungsprodukte (Studentinnen), wird auch dadurch unterstrichen, dass männliche Studenten nicht als tautologisch aufzufassen sind, weibliche Studentinnen aber sehr wohl. Daraus folgt, dass die Gleichsetzung von Formen des generischen Maskulinums mit denen des Femininums Ungleiches vergleicht. Aus einem eher sprachspekulativen Blickwinkel erweist sich der Vorschlag dennoch als interessant. Zu fragen und zu prüfen wäre so nämlich, welche Auswirkungen die konsequente semantische Umkodierung des Merkmals ›weiblich‹ zu ›geschlechtsneutral‹ auf die Vorstellungen hätte. Ein solcher Testfall böte aus psycholinguistischer Sicht die Möglichkeit zu überprüfen, ob und wie sich im Laufe der Zeit (oder in der Generationenfolge) die mit diesen neu-generischen Bezeichnungen verbundenen Assoziationen verändern. In zugespitzter Weise aufgeworfen wird damit aber hier auch die Frage, inwieweit kognitive Konzepte von sprachlichen Formen determiniert werden oder sich nach den gesellschaftlichen Realitäten (Weltwissen) ausrichten. Bei der praktischen Umsetzung ergibt sich auch – und stärker noch als beim Splittingverfahren – die

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Paradoxie, dass sich im Bereich der Negativbezeichnungen (›Westlerinnen sind Rassistinnen‹, ›Professorinnen und ihre Neurosen‹) die sprachpolitische Absicht (zumindest in einer Übergangsphase) das Gegenteil des Beabsichtigten hervorbringen würde. Zwar hat Vorschlag einer totalen Feminisierung keine realistische Chance auf eine allgemeine Akzeptanz, dennoch wird er in einigen Bereichen praktiziert. Prominentestes Beispiel hierfür ist die Universität Leipzig, an der 2013 die Grundordnung konsequent auf feminine Personenbezeichnungen (neugenerisches Femininum) umgestellt wurde.27

E xkurs In einem kürzlich gesendeten Beitrag des Deutschlandfunks28 heißt es als Bilanz nach einem Jahr: »Trotz heftiger Kritik zieht die Rektorin aber ein positives Fazit:« Es haben durchaus etliche Professorinnen der Universität es auch positiv wahrgenom­ men, dass sie als Professorinnen gesehen werden und es gab von den vielen Hundert Zuschriften, die ich bekommen habe, vielleicht 10 bis 15 Prozent Ermutigung, auch sol­ che innovativen Wege zu gehen. (O-Ton der Rektorin Beate Schücking)

Die kritische Resonanz ›besorgter älterer Herren‹, von der in diesem Beitrag weiter berichtet wird, dürfte als Argument wohl eher wenig Eindruck machen. Mehr dagegen vielleicht der Einwand von Ilse Nagelschmidt (Germanistikprofessorin und Direktorin des Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung in Leipzig): Heute ist aus meiner Sicht das generische Femininum nicht mehr an der Tagesordnung. Für mich wäre es viel besser gewesen, wenn wir das Gender Gap entsprechend auch in der Grundordnung ausgewiesen hätten. So haben wir den alten Differenzgedanken weiblich/männlich auch in unserer Grundordnung weitergetragen. (O-Ton)

Das Leipziger Beispiel wirft grundsätzlich auch die Frage auf, welche ›Instanz‹ eigentlich legitimiert ist, diese und ähnliche (umsemantisierenden) Sprachein27  |  Grundordnung online unter www.zv.uni-leipzig.de/fileadmin/user_upload/ UniS t ad t ak ademis che _ angelegenhei t en/pd f/Gr undor dnung _UL _130806.pdf [31.08.2014]. 28 | DLF-Magazin Campus & Karriere v. 8. August 2014; online unter www. deutschlandfunk.de/universitaet-leipzig-heftige-reaktionen-auf-das-generische.680. de.html?dram:article_id=294077 [31.08.2014].

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griffe vorzunehmen. Da Kommunikationsprozesse prinzipiell zweiseitig sind und Senderseite (Produzenten) und Empfängerseite (Rezipienten) verbinden, wäre zu prüfen, ob nicht die Rezipientenseite – etwa durch eine basisdemokratische universitätsweite Abstimmung – mit in die Entscheidung über den Umgestaltungsprozess einbezogen werden könnte/sollte.

Fazit Die hier vertretene Position soll nicht verstanden werden als ein generelles Votum gegen jegliche Form des Splittings oder sonstiger Verfahrensweisen der Feminisierung. Anliegen war vielmehr die Problematiken einer generellen Ausweitung dieser Praxis und die dadurch letztlich bewirkte Überbetonung der Geschlechterdifferenz aufzuzeigen. Dass in hier ausgeklammerten Bereichen wie der Beidbenennung in Stellenausschreibungen oder auch bezogen auf die Entwicklung angemessener Berufsbezeichnungen für Frauen der sprachfeministische Ansatz zum gesellschaftlichen Fortschritt beigetragen hat, steht außer Zweifel. Ebenso, dass Splitting (oder Neutralisation) bei persönlicher Adressierung schon aus Gründen der Höflichkeit geboten ist – und sicher auch in den Fällen, wo die Explizitmachung der Mitwirkung beider Geschlechter durch Beidbenennung gegenüber der genderunspezifischen Form als ein Mehrwert zu sehen ist. Die Beurteilung solcher Notwendigkeiten dürfte von Fall zu Fall variieren. Eine zum puren Schematismus geronnene generelle Beidbenennung dagegen depraviert dieses Instrument nur. Sie ist weder praktikabel noch funktional schlüssig, noch logisch stimmig, noch theoretisch angemessen, noch zeitgemäß.

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Gibt es Männer- und Frauensprachen in der Südsee? Sabine Ehrhart

Ethnologische Zeugnisse für getrennte Sprachen von Männern und Frauen – welcher Wahrheitsgehalt? Im Rahmen meiner Forschungen auf dem Gebiet der Ethnolinguistik stoße ich immer wieder auf Erzählungen über Gemeinschaften, in denen die Männer und Frauen angeblich verschiedene Sprachen verwenden. Diese Gesellschaften liegen meist in von Europa weit entfernten Gebieten und der Wahrheitsgehalt solcher Aussagen der sprachlichen Trennung nach dem Geschlecht ist daher oft von anderen Regionen der Welt aus schwer zu überprüfen. Daher ist es in diesem Bereich besonders wichtig, zwischen Mythos und Realität zu unterscheiden. Folgende Fragen stellen sich dem Beobachter, welcher für Männer und Frauen unterschiedliche Kommunikationssysteme beschreiben will: –

Sind die Sprachbereiche zwischen den Sprachen der Männer und denen der Frauen völlig getrennt? In welchen Typen von Gesellschaft ist dies überhaupt denkbar? – Wie findet die für das Überleben notwendige Kommunikation zwischen den Gruppen statt? Kann die Sprache der jeweils anderen Gruppe verstanden werden, ist eine der beiden Sprachen weniger esoterisch als die andere oder bedient man sich einer neutralen dritten Sprache? – Durch welche historischen Gegebenheiten kann es zu einer solchen Sprach­ trennung nach Gender-Zugehörigkeit kommen? In diesem Zusammenhang wird regelmäßig als Beispiel die Gruppe der BabaNyonya zitiert, eine seit dem 15. Jahrhundert bestehende Gemeinschaft in der Meerenge von Malacca in Malaysia. Diese Gruppe kennzeichnet sich durch

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Ehen zwischen sehr mobilen chinesischen Händlern mit in der Gegend um die Stadt Malacca sesshaften Frauen, die stärker in der einheimischen malaischen Kultur verwurzelt waren, auch wenn sie nicht immer malaischer Abstammung waren, sondern auch chinesische, indische und europäische Vorfahren hatten. In der sehr komplexen hybriden Kultur dieser Familien war das Chinesische die stärkste Sprache auf der Männerseite und auf der Seite der Frauen dominierte das Malaische. Zu einer völligen Trennung der Sprachen ist es nicht gekommen, es hat sich vielmehr eine Mischsprache gebildet, die von einigen Beobachtern Peranakan genannt wird. Der Name dieser Bevölkerungsgruppe ist aus Baba (chinesisch »Vater«) und Nyonya (eine Abänderung einer portugiesischen Wurzel »donha« für »Frau«) zusammengesetzt, was genau auf die traditionelle Geschlechtertrennung in der Abstammung hinweist. Heute bewegen sich die Nachfahren dieser Gruppe eher auf eine Annäherung an die traditionelle chinesische Kultur hin. In China und Japan werden ebenfalls Beispiele von Gemeinschaften erwähnt, in denen jeweils der weibliche und der männliche Teil verschiedene Sprachen oder Sprachvarianten verwenden, aber die Zeugnisse darüber sind meist Lesern asiatischer Sprachen reserviert und Forscher in der europäischsprachigen Welt sind darüber nicht gut genug informiert, um wissenschaftlich fundierte Aussagen machen zu können, die über anekdotenhafte Bemerkungen hinausgehen könnten. Seit 1988 forsche ich im Südpazifik und habe mich in diesem Bereich auf die Kreolistik spezialisiert, also die Untersuchung der Entwicklung von neuen Kulturen und Sprachen, die sich aus der Begegnung von Vertretern oft sehr verschiedener Gruppen ergeben. Gleichzeitig habe ich auch ein Wörterbuch einer autochthonen melanesischen Sprache aus der Familie der austronesischen Idiome verfasst, dem Bwatoo, und mich dabei mit Traditionen und Kontaktpunkten zwischen den Kulturen befasst (zwischen europäischen und pazifischen Kulturen, aber auch innerhalb der Sprachgruppen der einzelnen Kontinente). Ziel meines vorliegenden Beitrages soll es sein, festzustellen, inwieweit eine (tatsächliche oder symbolisch angelegte) Trennung zwischen der Frauen- und der Männerwelt in den mir bekannten Kulturen bei den Abläufen des Alltagslebens für die Ausbildung oder Beibehaltung von verschiedenen Sprachen, Sprachmustern, Gewohnheiten oder Sprachvarietäten verantwortlich sein kann.

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Südpazifik Beispiele für abgesonderte Lebensbereiche zwischen Männern und Frauen mit Herkunft aus verschiedenen Kulturbereichen In allen drei großen geografischen Zonen des Südpazifiks werden getrennte Frauen- und Männersprachen erwähnt, also in Mikronesien, Melanesien und Polynesien. In diesem Bereich sind traditionellerweise die Männer- und Frauenwelten sehr stark getrennt, Männer und Frauen führen völlig unterschiedliche Aktivitäten aus und ihre Bezugsgruppen sind die Gleichaltrigen desselben Geschlechts, ihre Interaktionsmuster weisen daher nur wenige Berührungspunkte auf. Ein zentrales Problem ist daraus folgend die Nicht-Neutralität des Forschers oder der Forscherin in diesem Bereich und die damit verbundene Unzugänglichkeit für das Gebiet der jeweils anderen Gruppe, in der sozialen Aufteilung dieser Region. Als über zehn Jahre direkt in der Region lebende Forscherin hatte ich den Vorteil, dass ich in der Funktion als Vertreter(in) der Wissenschaft zu Männerkreisen Zugang hatte und mit den Wortführern der Häuptlinge sprechen konnte, mich aber auch nach einiger Zeit des wachsenden Vertrauens in Frauenkreisen bewegen durfte. So konnte ich in begrenzter Weise Einblick in beide Kreise gewinnen. Ich werde in der Folge zwei Kontaktsprachen mit Varianten in Bezug auf Gender nennen, die von Kollegen erforscht wurden und danach auf weitere zwei eingehen, die ich selber untersucht habe. Eine vertiefte Behandlung der Methodik der Feldarbeit und der sprachökologischen Grundlagen für Untersuchungen im Bereich der Kontaktsprachen findet sich in Ehrhart/Mühlhäusler 2007.

1. Ngatik in Mikronesien Das berühmteste Beispiel in Mikronesien ist das Ngatikese Pidgin, auch Ngatikese Men’s Language genannt. Wir verdanken seine Beschreibung Darell Tryon, der dort 1997 Feldarbeit geleistet hat: Ngatikese Men’s language, also known as Ngatikese Pidgin, is spoken on the island of Ngatik, the main island in the Sapwuahfik Atoll, situated about 90 miles south-west of Ponape (Pohnpei) in the Caroline Islands of Micronesia. (Tryon 2001: 345)

Nach der mündlichen Tradition, die ebenfalls von Tryon zusammengetragen wurde, entstand Ngatikese Men’s Language nach einem heftigen Kampf zwischen europäischen Seeleuten und der mikronesischen Bevölkerung auf der Insel Ngatik. Von den Einheimischen überlebte kein einziger Mann und die englischen Seeleute bildeten mit den überlebenden Frauen der Insel den Aus-

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gangspunkt für die heutige Inselbevölkerung. Bei den Männern hat sich ein Pidgin ausgebildet, das besonders bei denen für sie reservierten Tätigkeiten angewendet wird: »Pidgin is commonly used by the male population of Ngatik today, especially when they are engaged in communal activities such as fishing, and house- and boat-building.« (Tryon 2001: 346) Allerdings zeigt uns Tryons kurze Skizze der Sprache deutlich, dass im Ngatikese Pidgin die Durchmischung der beiden Sprachen stärker ist als in den anderen Kontaktsprachen im Südpazifik: »As stated above, Ngatikese Pidgin cannot really be described as an English-based pidgin in that English contributes less than half of its lexicon and morphosyntactic markers.« (Ebd.: 346) Normalerweise haben die Pidgins im Südpazifik, welche das Englische oder das Französische als Ausgangspunkt haben, 90 bis 100 % lexikalische und morphosyntaktische Elemente aus den europäischen Sprachen und sind damit leichter untereinander verständlich, beim Ngatikese ist das einheimische Element jedoch so stark, dass man die Sprache von Ponape ebenfalls kennen muss, um es zu verstehen. Es ist jedoch zu bemerken, dass die Verständlichkeit der anderen Kontaktsprachen eher relativ ist und oft nur an der Oberfläche stattfindet. Ein Europäer, der z. B. mit einer pazifischen Kontaktsprache in Kontakt kommt und deren lexikalische Bausteine größtenteils etymologisch von der europäischen Sprache her ableiten kann, ist weniger darauf vorbereitet, dass genau diese bekannten Elemente im neuen Kontext der Kontaktsprache auf völlig neue Art und Weise zusammengebaut wurden und in diesem Zusammenhang eine ganz andere Bedeutung haben können, als dies beim ersten Eindruck erscheinen mag. Insbesondere der Ausdruck von Zeit, Modus und Aspekt kann sehr stark von den europäischen Strukturen abweichen und bestimmte Aspekte können in der Kontaktsprache z. B. grammatikalisiert sein, während ihre sichtbaren Strukturen noch an Präpositionen oder Konjunktionen der europäischen Sprache erinnern, die bei der Genese der neuen Sprache mitgespielt hat. Weiter ist das soziolinguistische Argument der Paar- und Familiensprachen als ein wichtiger Einflussfaktor anzusehen. In ihrem Buch von 2005 hat Varro aufgezeigt, in wie weit Familienstrukturen und Sprachenpolitik zusammenhängen, und zwar in einer Wechselbeziehung: Familien sind Orte, an denen Sprachen aufeinandertreffen und neue Formen des Zusammenlebens ausprobiert werden, gleichzeitig sind sie Teil der Gesellschaft als Ganzem und daher auch von den zentrifugale oder zentripetalen Strömungen abhängig, welche diese durchlaufen. In den feinziselierten ethnografischen Beschreibungen von Casa Grande e Senzala (1933; 1978 für die franz. Ausgabe) zeigt Gilberto Freyre beispielsweise für Brasilien, dass durch die engen familiären Bindungen und das durch die portugiesische Tradition der Offenheit den Fremden gegenüber sehr gering gehaltene Hierarchiegefälle zwischen den Sprechern der verschiedenen Sprachen (in der Gründungszeit hauptsächlich europäische Männer und indianische Frauen, später auch Frauen, die mit der afrikanischen Einwanderung

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gekommen waren) ganz besonders intensive Kontaktphänomene entstanden, aber keine Kreolsprachen, die eher auf einem starken diglossischen Ungleichgewicht aufbauen. John McWhorter nimmt 2000 in The Missing Spanish Creoles: Recovering the Birth of Plantation Contact Languages diesen Fragenkomplex für Lateinamerika noch einmal auf und er kommt ebenfalls zum Schlussfolgerung, dass relativ ausgeglichene Verhältnisse in der Ehe von verschiedenen Partnern auf dem südamerikanischen Kontinent die Ausbildung von Kreolsprachen verhindert haben, die häufig in Situationen von ausgeprägter Domination, Unterdrückung und Entwurzelung entstanden sind, wie sie zum Beispiel in den Plantagengesellschaften herrschten (vgl. dazu auch Chaudenson 1992).

2. Saint-Louis in Melanesien Das Tayo ist eine Kreolsprache, die von den rund 1.000 Bewohnern des melanesischen Stammes von Saint-Louis in Neukaledonien und einigen ihrer nächsten Nachbarn gesprochen wird (vgl. Ehrhart 1993b; 2012). Es entwickelte sich ab 1860 aus einer Verkehrssprache in den Internatsschulen der katholischen Mission im Süden der Insel, dabei spielten Einflüsse anderer sozialer Gruppen der Umgebung, insbesondere die der Einwanderer aus verschiedenen französischen Regionen und von Überseegebieten wie La Réunion ebenfalls eine Rolle (vgl. Speedy 2007). In verschiedenen Veröffentlichungen – einem Buch auf der Grundlage meiner Dissertationsarbeit und mehreren Artikeln – habe ich diese Sprache der Wissenschaft zugänglich gemacht und ich verweise an den sprachlichen Strukturen oder an den Details der Kontaktsituation interessierte Leser darauf. Im Rahmen unserer Thematik ist es vor allem interessant, dass die Jugendlichen zunächst in nach Geschlechtern getrennten Internaten erzogen wurden. Die jungen Männer der Klosterschule stammten aus ganz Neukaledonien und brachten daher mindestens ein Dutzend völlig verschiedene und untereinander nicht verständliche Sprachen mit in die missionarische Reduktion, deren Ziel die Ausbildung von Katechisten und einheimischen Priestern sein sollte. Die jungen Frauen stammten gemäß der mündlichen Tradition des Stammes häufig aus Beziehungen zwischen europäischen Siedlern und melanesischen Frauen. Für diese Mädchen stellte es sich als schwierig oder sogar als unmöglich heraus, von den sonst recht streng getrennten ethnischen Gemeinschaften auf Vater- bzw. auf Mutterseite akzeptiert zu werden, und sie wurden daher von den europäischen und melanesischen Klosterschwestern im Schwesternhaus erzogen, welches sich ebenfalls in unmittelbarer Nähe der Missionskirche von Saint-Louis befand, also in einer Art von drittem Raum. Sie sprachen häufig nur oder zumindest hauptsächlich Französisch, verfügten aber in vielen Fällen auch über mehr oder wenig umfangreiche passive Kenntnisse in einer oder

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sogar in mehreren melanesischen Sprachen. Die Gründung des Stammes von Saint-Louis geht auf die Verbindung zwischen diesen beiden, zunächst nach Geschlechtern streng getrennten Gruppen zurück: Die jungen Männer und Frauen bildeten so im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Familien, welche heute noch eine zentrale Stellung in Saint-Louis innehaben. Diese neue Stammesgründung eines besonderen Typs ist auf eine spontane Anziehungsbewegung zwischen den beiden Gruppen hin zurückzuführen und keineswegs auf die Planung durch die katholischen Patres und Nonnen. Besonders zu bemerken ist hierbei, dass laut der mündlichen Tradition die Frauen meist sehr gut Französisch sprachen und dies ihren Männern (in begrenztem Maße) und vor allem ihren Kindern und Enkelkindern zu vermitteln suchten. Die Männer der ersten Generation sprachen oft sehr wenig Französisch oder häufig eine Pidginvariante davon, die als Verkehrssprache ausreichend war. Das Verständnis für mehrere melanesische Sprachen war in der Gründungsphase bei allen Stammesbewohnern noch stark ausgeprägt, Informantinnen, die um die Jahrhundertwende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert geboren waren, sagten mir, dass sie in ihrer Kindheit insgesamt ein Dutzend melanesischer Sprachen in der Familie gehört und auch verstanden hatten, ohne immer auch darauf aktiv reagieren zu können. Dies entspricht der multilingualen im Pazifik weit verbreiteten Praxis des Dual-Lingualismus (vgl. Lincoln 1979), auch rezeptiver Bilingualismus genannt, nach welchem Menschen in verschiedenen Sprachen kommunizieren, in dem sie jeweils eine Sprache aktiv gebrauchen, die sie sehr gut beherrschen und dem anderen zuhören und ihn verstehen, wenn er in seiner für ihn dominanten Sprache spricht. In Saint-Louis waren also für die erste Generation die Sprachen der Männer und Frauen zumindest schwerpunktmäßig unterschiedlich verteilt. In den Familien wurde nicht immer die Sprache des Partners beherrscht, zumindest nicht am Anfang der Ehe und nicht in einer perfekten, praktischen und produktiven Ausprägung. Danach kann man mit der Zeit eine Annäherung der Sprachgruppen feststellen, wobei die Geburt der Kinder sicherlich eine zentrale und verbindende Rolle gespielt hat. Diese erlebten die Mischsprache mit häufigem Code-switching zwischen den Sprachen der Eltern als kommunikative Norm und sie bauten diese weiter aus. Nach und nach schwächte sich der Gebrauch der verschiedenen melanesischen Sprachen immer weiter ab und ab 1925 nahm die Anzahl ihrer Sprecher im Stamm nach und nach immer mehr ab und es entwickelte sich eine allen gemeinsame Kontaktsprache auf der Grundlage der Sprachelemente, welche die verschiedenen Familienmitglieder jeweils mitgebracht hatten. Dies waren vor allem Elemente der französischen und der melanesischen Sprachen, welche bei der Ausbildung der neuen Identität dieses Stammes mit einer besonderen Geschichte eine zentrale Rolle gespielt hatten. Diese Entwicklung erinnert an die klassische Definition von Kreolsprachen als zur Muttersprache gewordene Pidgins oder erste einfache Kontaktsprachen,

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welche noch keine völlige alleinumfassende Verwurzelung in der Umwelt der Sprecher eingenommen hatten. Auch heute wird das Tayo noch als Hauptsprache im Stamm von Saint Louis gesprochen, allerdings sind nur noch geringfügige Varianten zwischen der Realisierung von Männern oder Frauen zu erkennen.

3. Pitkern und Norf’k in Polynesien Die Nachfahren der Meuterer von der Bounty Mühlhäusler (1996; 1998; 2002) hat in intensiver Weise die Sprachgeschichte der Nachfahren der Meuterer von der Bounty studiert. Auf der Stamminsel Pitkern lebten zunächst englische Seefahrer mit Tahitianern zusammen. Nach sehr kurzer Zeit und zahlreichen gewalttätigen Akten waren von der polynesischen Bevölkerung nur noch der weibliche Teil übrig, die Männer, welche von den englischen Seeleuten als Rivalen eingeschätzt wurden, waren alle eines mehr oder weniger unnatürlichen Todes gestorben. Einige Zeit werden wohl das Tahitianische der Frauen und das Englische der Männer – dieses bereits mit dem Einfluss einer karibischen Kreolsprache – mehr oder weniger nebeneinander existiert haben. Relativ schnell war der Vorherrschaft der Männersprache zu erkennen und am Ende der ersten Siedlergeneration war nur noch ein europäischer Mann mit sehr starker Autorität am Leben, der seine Sprechweise energisch durchzusetzen versuchte, auch unter Bezugnnahme auf die Bibel, das einzige schriftliche Dokument, das in der Gründungsphase auf Pitkern vorhanden war. In der weiteren Geschichte spielen vor allem die Expansion (Auswanderung eines Teils der Bevölkerung auf die Insel Norfolk) und die Fluktuierung der jeweiligen Einflussbereiche eine Rolle (in manchen Phasen wird das europäische Erbe höher bewertet, in anderen das pazifische). In der heutigen Zeit, also über 200 Jahre nach der Meuterei, kann man nicht mehr von getrennten Sprachen sprechen, es hat sich vielmehr eine gemeinsame Kontaktsprache herausgebildet, die Männer und Frauen gemeinsam verwenden. Mühlhäusler (im Artikel mit Ehrhart und Mair 2007) geht auf die Besonderheiten ein, die sich auch heute noch in der Sprache der Frauen und Männer jeweils erhalten haben: The ambivalent attitudes towards Tahitian language and culture are reflected in several areas of language mixing. First, it is remarkable that words of Tahitian origin tend to be predominant in marked domains of language: taboo words, negative characterisations, undesirable and unnatural phenomena and properties. Examples include: eeyulla gari hoopaye

»adolescent, immature, wet behind the ears« »accumulation of dirt, dust, grime, grease, etc.« »mucous secreted in the nose«

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S abine E hrhart howa-howa »to soil one’s pants from a bowel movement, have diarrhoea« hullo 1) »a person of no consequence«, 2) »having nothing of any value; dirty, poor« iti »any of the wasting diseases, but mainly referring to tuberculosis« iwi »stunted, undersized« loosah »menses, menstruation« maioe »given to whimpering or crying a lot, like a child, but not necessarily a child« nanu »jealous« pontoo »unkempt, scruffy« po-o »barren or unfertile soil« tarpou »stains on the hands caused from peeling some fruits and vegetables« tinai 1) »to gaze at with envy«, 2) »an avaricious person« toohi »to curse, blaspheme, or swear« uuaa »sitting ungraciously« uma-oola »awkward, ungainly, clumsy« The dominance of the British males can be seen in the way the new environment was na­ med: no Tahitian place names are found on Pitcairn. However, a surprisingly large pro­ portion of Pitcairn localities and its fauna and flora are named after English speaking individuals: Adam’s Rock Down-under-Johnny-fall Ed’s fence Austin grass Big Jack Hilda flower Hattie tree Izzie Fish Frederick George

»John Adams’ fishing site« »the cliff from where John Mills fell in 1814« »an enclosure belonging to Edward Young« »Hilo grass« (introduced by Austin Young »Indian mallow« (probably named after Jack Evans who introduced it as goat feed) »tiger lily« (introduced by Hilda Young) »pink orchid tree« (after the missionary Hattie Andre) named after Isobel Coffin a kind of fish a small pointed sea shell

Whereas the lexicon is suggestive of the wish of the Pitcairners to distance them from their Tahitian heritage (something also manifested in their switch to European dress, food, pastimes and religion), there are other linguistic features suggesting close in­ tegration. For instance, words of English, Tahitian and other provenance do not differ, as they do in most contact languages, in their susceptibility to morphosyntactic rules, suggesting a full integration of the two languages; this corresponds to the definition of a mixed language and similar integration of two languages is in evidence in Pidgins

G ibt es M änner - und F rauensprachen in der S üdsee ? that arose in egalitarian circumstances such as the numerous village-to-village trade Pidgins of pre-colonial Papua New Guinea.

Anhand dieser Beschreibung wird ersichtlich, dass die Verteilung des Wortschatzes und der Ortsnamen sehr stark verbunden ist mit dem sozialen Status der Dominierten und Dominierenden, was in diesem Falle an das Geschlecht der Sprecher gebunden ist. Die Frauen haben die schwächere Stellung und sind viel weniger bei der Namensgebung beteiligt als der männliche Teil der Inselbevölkerung; gleichzeitig ist die Unterdrückung in der Ehe nicht so stark wie in den kolonialen Plantagen mit Sklavenhaltung, die Kreolsprachen oder Pidgins entstehen ließen und bestimmte Elemente können so aus beiden Sprachen in einer Mischsprachen mit einer ihr eigenen neuen Grammatik einfließen.

4. Palmerston Island William Marsters und seine drei polynesischen Frauen Eine vergleichbare Situation zu Pitcairn habe ich auf einer anderen Insel Polynesiens beobachtet und beschrieben, nämlich auf Palmerston Island. Palmerston English wird von den Bewohnern der Insel Palmerston auf den Cook-Inseln gesprochen. Es handelt sich hierbei um eine Kontaktsprache, die Elemente einer von der Mitte des 19. Jahrhunderts stammenden britischen Variante des Englischen und des Polynesischen verbindet. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts liess sich der englische Seemann William Marsters mit seinen drei aus der Nordgruppe der Cooks stammenden polynesischen Frauen auf dem zu diesem Zeitpunkt unbewohnten Palmerston-Atoll nieder. Er zwang seine Frauen und die aus dieser Verbindung stammenden Kinder, in seiner Gegenwart das Polynesische aufzugeben bzw. zu vermeiden und nur Englisch zu sprechen. Laut der mündlichen Tradition gelang dies den Frauen aus der ersten Siedlergeneration nur teilweise, sie verharrten eher in einer pidginähnlichen Lernervarietät des Englischen, die heute noch von den Nachfahren in humoristischer Weise zitiert wird. Bei Abwesenheit des Patriarchen ist es wahrscheinlich, dass das Polynesische weiter erklang und die sich vor allem mit den Müttern aufhaltenden Kleinkinder zumindest passiv weiterhin Kenntnisse dieser Sprache erwarben. In der allerersten Generation der Marsters kann man also von einer nach Geschlecht getrennten Sprachpraxis auf Palmerston sprechen, allerdings konnte die Kommunikation theoretisch zumindest dennoch auf mehreren gemeinsamen Kanälen stattfinden: – Ein erster Kanal auf Englisch, das lediglich durch sein Statut (L1 – mehr oder weniger entwickelte L2) und seinen Ausbau gendermäßig unterschied, der

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mündlichen Tradition nach verlief die Kommunikation auf diesem Kanal ohne größere Schwierigkeiten – Ein zweiter virtueller Kanal auf Polynesisch, denn in einem 2007 wiederentdeckten historischen Dokument zur Inselgeschichte wird darauf hingewiesen, dass William Marsters aufgrund seiner guten Sprachkenntnisse in Samoa als offizieller Übersetzer zwischen dem Polynesischen und dem Englischen fungierte. Zum zweiten Kanal ist jedoch zu bemerken, dass in der mündlichen Tradition von Palmerston diese Fähigkeit des sonst häufig mit Stolz erwähnten Vor­vaters nicht präsent ist, zumindest in den Zeugnissen, die ich zusammentragen konnte. Die polynesische Sprache variiert zwischen den verschiedenen Inselgruppen, das gegenseitige Verstehen ist jedoch ziemlich stark ausgeprägt und zwischen Samoa und den Bewohnern der Nordgruppe der Cooks, von der die Frauen von Marsters stammen, besteht eine relativ nahe Verwandtschaft. Zusammenfassend kann man sagen, dass bei einer oberflächlichen Betrachtung der Beziehungen auf Palmerston in der ersten Generation eine Trennung zwischen den Sprachsystemen auf der männlichen und der weiblichen Seite festzustellen ist. Sobald man jedoch eine detaillierte Analyse vornimmt, sieht man, dass allen Gruppen praktisch die Gesamtheit der Sprachsysteme (Polynesisch und Englisch) zur Verfügung standen. Unterschiede bestanden in der Ausprägung der Kenntnisse in den jeweiligen Sprachen und vor allem in der Begrenzung der Zugangsbestimmung oder der Sprachwahlfreiheit in Abhängigkeit von der Situation der Sprecher: eine dominante Situation für Marsters, der die Sprachpolitik der Insel als Diktator bestimmte und eine schwache Position für seine Frauen, die ihre Sprachen nur in bestimmten für Marsters nicht zugänglichen Nischen weiter erklingen lassen konnten. Die Sprachkontaktlage veränderte sich im Laufe der Generationen: Eine in den ersten Jahrzehnten noch relativ labile Mischsprache mit Elementen aus dem Englischen und dem Polynesischen festigte sich aufgrund der soziohisto­ ri­ schen Rahmenbedingungen und insbesondere in der Phase der starken Iso­lierung der Insel während der 30er und 40er Jahre des 20.  Jahrhunderts, welche die Bevölkerung zwang, vor allem Ehepartner von innerhalb der Insel­ gemeinschaft zu suchen. Das Palmerston-Englisch kann seit etwa 1940 als eigenständige Inselsprache angesehen werden. Es wird heute nicht nur von den ca. 50 ständigen Bewohnern von Palmerston gesprochen und verstanden, weitere 400–500 Menschen auf anderen Inseln der Cookgruppe haben eine zumindest partielle Kenntnis der Sprache und weitere 1.000 ungefähr in der Diaspora der Cookinsulaner im gesamten Südpazifik (Neuseeland, Australien, Französisch Polynesien) verwenden dieses sprachliche System.

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Ausblick Identität und Empowerment Leser aus dem europäischen oder nordamerikanischen Kulturraum, die mit der aktuellen Diskussion um die Gender-Frage vertraut sind, mögen Schwierigkeiten haben, sich mit der relativen strengen Aufteilung in eine Männer- und eine Frauenwelt nach biologischen Prinzipien abzufinden, wie sie dieser Artikel beschreibt. Ich habe versucht, die Stimmen der Betroffenen zu Wort kommen zu lassen – für meine persönlichen Feldstudien sind das 20 oder 25 Jahre Kontakt zu den Familien auf Palmerston oder in Neukaledonien – ohne sie im Sinne des dominierenden Diskurses aus dem europäischen oder amerikanischen Kulturraum allzu stark einzufärben. Es fällt dem außenstehenden Betrachter von Kulturen im Südpazifik sicherlich auf, dass die Männer- und Frauenwelten stärker getrennt sind als in manchen Gesellschaften, wie man sie auf anderen Kontinenten finden kann. Dennoch sind auch hier völlig getrennte Sprachen unmöglich und unrealistisch. Kleinkinder werden im Südpazifik traditionell von Frauen aufgezogen und daher sind vor allem den männlichen Stammesmitgliedern aus ihrer frühen Kindheit, oft bis zum Alter von sieben Jahren, auch Grundzüge von Frauensprachen oder Redeweisen in der Gruppe der Frauen vertraut. Für begrenzte Bereiche innerhalb der Lebensumwelt im Stamm konnte ich allerdings beobachten, dass im Sprachgebrauch für bestimmte Begriffe sehr starke Tabus herrschen und bestimmte Ausdrücke in einer Frauengruppe nicht gebraucht werden, wenn ein männliches Wesen in der Nähe ist, dabei zählen alle Altersgruppen als ausschlaggebend für das Einsetzen des Tabus. Es wäre in diesem Zusammenhang interessant zu untersuchen, inwieweit die Neugier gerade beim Zugang zu eigentlichen verbotenen Sprachen oder Sprachelemente einen starken Motivationsfaktor zum Erlernen darstellt und ob die Ausgeschlossenen einer Gruppe nicht jeweils versuchen, Elemente des für sie eigentlich Unzugänglichen zu erhaschen. Bei Flüchen und Schimpfwörtern in vielen Sprachen der Welt kann dies z. T. belegt werden, diese Untersuchungen könnte man auf Tabubereiche in der pazifischen Umgebung ausdehnen. Wichtig ist auch die Unterscheidung nach passiver und aktiver Kompetenz in einer Sprache. In meinen longitudinalen Familienbeobachtungen habe ich festgestellt, dass das Zusammenleben von Menschen mit sehr verschiedenen Ausgangssprachen im Regelfall immer zu einer Annäherung führt. Dies wird sich nicht immer als eine Praxis des ausgeglichenen Bilingualismus auswirken, oft wird das passive Verstehen der Sprache des anderen ausgebaut, ohne dass dies durch konkrete Produktionen in der neuen Sprache sichtbar wird. Ich habe dies in der Partnerbeziehung von gemischten Paaren beobachtet und auch in der intergenerationellen Kommunikation zwischen Eltern und Kindern oder Großeltern und Kindern sehen können.

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Gleichzeitig gibt es aber auch weitere, im System angelegte Querverbindungen und Möglichkeiten für bestimmte Individuen, die Grenzen zwischen der Männerwelt und der Frauenwelt zu überschreiten, wie sie in den traditionellen Strukturen des Pazifik angelegt waren. Ich habe die besondere Position erwähnt, die ich als Forscherin hatte, mit dem Zugang zu Männerwelt für die Weitergabe der sprachlichen und kulturellen Traditionsregeln und dem Zugang zur Frauenwelt mit den für diese Gruppe üblichen Gesten des Alltags. Institutionell hat sich in Polynesien eine Funktion des Vermittlers auf Lebenszeit herausgebildet, nämlich die der »mahus« oder »rérés«, die auch als »le troisième sexe« bezeichnet werden. In jeder Großfamilie wird üblicherweise ein männliches Baby von Geburt an dazu ausgewählt, als Frau erzogen zu werden. Er wird gleichzeitig auch mit Elementen der Männerwelt vertraut gemacht und hat im Erwachsenenalter eine Vermittlerfunktion, besonders bei Streitfällen innerhalb der Familie. Diese Grenzfälle und die damit verbundenen neuen Identitäten im Rahmen der Welt im Umbruch, die auch vor dem Pazifik nicht Halt gemacht hat, wären ein interessantes Thema für weitere Forschungen auf dem Gebiet der Männer- und Frauensprachen.

Literatur Baltes-Löhr, Christel (2006): Migration und Identität. Portugiesische Frauen in Luxemburg. Frankfurt a. M./London. Blanchet, Philippe (2000): La Linguistique de terrain – Méthode et théorie. Rennes. Butrageño, Pedro Martín (Hg.; 2004): Cambio lingüístico – Métodos y problemas. El Colegio de México (Mexiko). Calvet, Louis-Jean (1996): Une ou deux langues? In: Etudes créoles 19, H. 2, S. 69– 82. Ders. (1998): Les langues de Saint-Barthélemy: approche écolinguistique. In: Plurilinguismes 15, S. 95–132. Ders. (1999a): De la (socio)linguistique urbaine à l’écologie linguistique. In: Centro de Estudios sobre Comunicación Interlingüística e Intercultural 26. Ders. (1999b): Pour une écologie des langues du monde. Paris. Ders. (1999c): La guerre des langues et la politique linguistique. Paris. Ders./Chaudenson, Robert (1998): Saint-Barthélemy: une énigme linguistique. Paris. Charpentier, Jean-Michel (1979): Le Pidgin Bislaman et le multilinguisme aux Nouvelles-Hébrides. Paris. Ders. (2004): Les pidgins/créoles du Pacifique-Sud et les langues austronésiennes. In: Faits de langues. Revue de linguistique 23/24: Les langues austronésiennes, S. 379–395.

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S abine E hrhart Tryon, Darrell Trevor (2001): Ngatikese Men’s Language. In: Andrew Pawley/Malcolm Ross/Ders. (Hg.): The Boy from Bundaberg: Studies in Melanesian linguistics in honour of Tom Dutton. Canberra, S. 345–359. Ders./Charpentier, Jean-Michel (2004): Pacific Pidgins and Creoles  – Origins, Growth and Development. Berlin/New York. Varro, Gabriele (2005): Sociologie de la mixité. De la mixité amoureuse aux mixités sociales et culturelles. Paris/Berlin.

Autorinnen und Autoren

Amann, Wilhelm (Dr. phil.) ist Germanist an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte sind kulturelle Globalisierung/Regionalisierung sowie Diskursanalyse. Ausgewählte Publikationen: Ökonomie – Narration – Kontingenz. Kulturelle Dimensionen des Markts. Hg. zus. m. Natalie Bloch u. Georg Mein. München 2014; Heinrich von Kleist. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2011; Gegenwartsliteratur und Globalisierung. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Hg. zus. mit Georg Mein u. Rolf Parr. Heidleberg 2010. Baltes-Löhr, Christel (Prof. Dr.) ist universitäre Gender-Beauftragte der Universität Luxemburg, Leiterin des Instituts für Geschlechterforschung, Diversität und Migration und koordiniert das European Migration Network – National Contact Point – Luxembourg. Sie vertritt Luxemburg als Gender-Expertin in der EU-Helsinki-Group »Women and Science«. Aktuelle Publikationen u. a.: Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz. Hg. zus. mit Erik Schneider. Bielefeld 2014; darin: »Immer wieder Geschlecht – immer wieder anders. Versuch einer Begriffsbestimmung« (S. 17-40) und »Erzieherische Angebote. Von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen« (S. 337-366). Colas-Blaise, Marion (Prof. Dr.) est professeure à l’Université du Luxembourg, où elle enseigne la linguistique, la sémiotique et la critique littéraire. Elle a publié seule ou en collaboration plusieurs ouvrages collectifs et de nombreux articles en sémiotique littéraire (notamment sur Julien Gracq) et visuelle, en linguistique de l’énonciation, en pragmatique et en analyse des discours: Le sens de la métamorphose. Avec A. Beyaert-Geslin. Limoges 2009; La question polyphonique ou dialogique en sciences du langage. Avec L. Perrin et al. Metz 2010; Médias et médiations culturelles au Luxembourg. Avec G. M. Tore. Luxembourg 2011; Dire/montrer. Au cœur du sens. Avec H. de Chanay et O. Le Guern. Chambéry: Université de Savoie 2013. Elle codirige la revue de sémiotique »Signata – Annales des sémiotiques. Annals of Semiotics« (Université de Liège et Université du Luxembourg) et la collection »Sigilla« (Presses de l’Université de Liège).

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A eschlecht ‹ in l iteratur unD g eschichte Ehrhart, Sabine (Prof. Dr.) ist Professorin für Ethnolinguistik an der Universität Luxemburg und dort schwerpunktmäßig in der Lehrerausbildung für Grundschulen und Gymnasien Luxemburgs tätig. Sie leitet Forschungsprojekte zum Umgang mit der sprachlichen und kulturellen Vielfalt in Luxemburg, und ist auf internationaler Ebene in Netzwerken mit dem Indischen Ozean, dem Südpazifik, Sibirien und Osteuropa aktiv. Ausgewählte Publikationen: Europäische Mehrsprachigkeit in Bewegung: Treffpunkt Luxemburg. Bern 2014 (Hg.); L’écologie des langues de contact – Le tayo, créole de Nouvelle-Calédonie. Paris 2012; Plurilinguisme et Formation des Enseignants: Une approche critique / Plurilingualism and Teacher Education: A critical approach. Bern 2010 (Hg. zus. m. Christine Hélot u. Adam Le Nevez). Kmec, Sonja (Prof. Dr.) ist Professorin der Luxemburgistik und Kulturwissenschaft an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte sind Geschlechtergeschichte und Erinnerungskulturen. Ausgewählte Publikationen: Räume und Identitäten in Grenzregionen. Politiken – Medien – Subjekte (Mithg.). Bielefeld 2014; Das Gespenst des Feminismus. Frauenbewegung in Luxemburg gestern – heute – morgen (Hg.). Marburg 2012; Across the Channel, Noblewomen in Seventeenth-Century France and England. Trier 2010. Margue, Michel (Prof. Dr.) ist Professor der Geschichtswissenschaft an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Mittelaltergeschichte, Historiografie und Memory Studies. Ausgewählte Publikationen: De la Mer du Nord à la Méditerranée: Francia Media, une région au cœur de l’Europe (ca. 840 – ca. 1050) (Mithg.). Luxemburg 2011; Peripheral Memories. Public and Private Forms of Experiencing and Narrating the Past (Mithg.). Bielefeld 2012; Die Erbtochter, der fremde Fürst und die Stände. »Internationale« Heiraten als Mittel der Machtpolitik im Spannungsfeld zwischen Hausmacht und Land. In: Die Erbtochter, der fremde Fürst und das Land. Die Ehe Johanns des Blinden und Elisabeths von Böhmen in vergleichender europäischer Perspektive / L’héritière, le prince étranger et le pays. Le mariage de Jean l’Aveugle et d’Elisabeth de Bohême dans une perspective comparative européenne. Actes du colloque international 2010. Hg. v. Michel Pauly, Luxemburg 2013, S. 27-45. Pontzen, Alexandra (Prof. Dr.) ist Professorin für deutsche Literatur des 18.– 21. Jahr­ hunderts und Medienkulturwissenschaft an der Universität DuisburgEssen. Forschungsschwerpunkte: Künstlerliteratur und Werkbegriff, Poetik des Unschicklichen, deutsch-jüdische und Gegenwartsliteratur, Gender-Fragen, literarische Emotionspsychologie, Intermedialität. Wichtige Buchpublikationen u. a.: Alternde Avantgarden. Heidelberg 2011; Schuld und Scham. Jahrbuch Literatur und Politik. Bd. 3. Hg. zus. m. Heinz-Peter Preußer. Heidelberg 2008; Das Gelobte Land. Erez Israel von der Antike bis zur Gegenwart in Quellen und Darstellungen. Hg. zus. mit Axel Stähler. Reinbek bei Hamburg 2003; Künstler ohne Werk.

A utorinnen und A utoren Modelle negativer Produktionsästhetik von Wackenroder bis Heiner Müller. Berlin 2000. Schallenberg, Andrea (Dr. phil.) ist Gymnasiallehrerin am Hardtberg-Gymnasium in Bonn; bis 2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Germanistische Mediävistik, Kulturwissenschaften, Gender-Forschung, Literatur- und Sprachdidaktik. Publikationen: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen. Berlin 2012. Schößler, Franziska (Prof. Dr.) ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Ökonomie und Literatur; Drama und Theater (mit Schwerpunkt Gegenwartsdramatik); kulturwissenschaftliche Literaturtheorie; Gender Studies. Ausgewählte Publikationen: Börsenfieber und Kaufrausch: Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld 2009; Einführung in die Gender Studies. Berlin 2008; Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen 2006. Schuh, Dominik beendete sein Studium der Geschichte und der deutschen Philologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2011 mit dem Ersten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. Von Oktober 2011 bis Dezember 2012 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der JGU Mainz beschäftigt. Zeitgleich begann er ein Dissertationsvorhaben zu laikalen Männlichkeiten im späten Mittelalter. Seit Januar 2013 arbeitet er im Projekt »Akademische Integrität« an der Universitätsbibliothek Mainz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Geschlechtergeschichte (Geschichte der Männlichkeiten), Geschichte des Rittertums, historische Kulturwissenschaften sowie Methoden der Vermittlung wissenschaftlicher Arbeitstechniken. Sieburg, Heinz (Prof. Dr.) ist Professor für germanistische Mediävistik und Linguistik an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Mediävistik, deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters, Wortbildung und Soziolinguistik. Ausgewählte Publikationen: Vielfalt der Sprachen – Varianz der Perspektiven. Zur Geschichte und Gegenwart der Luxemburger Mehrsprachigkeit (Hg.). Bielefeld 2013; Literatur des Mittelalters. Berlin 22012; Medien des Wissens. Interdisziplinäre Aspekte von Medialität. Hg. zus. m. Georg Mein. Bielefeld 2011. Störmer-Caysa, Uta (Prof. Dr.) ist Professorin für ältere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Höfische Literatur, Mystikforschung und Lehrhafte Literatur. Ausgewählte Publikationen: Kudrun (Hg.; Übers.). Stuttgart 2010; Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen.

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›g eschlecht ‹ in l iteratur unD g eschichte Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin, New York 2007; Einführung in die mittelalterliche Mystik. Stuttgart 2004; Meister Eckhart. Deutsche Predigten. Eine Auswahl (Hg.; Übers.). Stuttgart 2001.

Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß Juli 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Oktober 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

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Lettre Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing April 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Juni 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke November 2014, 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4

Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen November 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2

Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2

Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe Oktober 2014, 280 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4

Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Juli 2014, 340 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5

Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3

Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, 508 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3

Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen August 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1

Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6

Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis August 2014, 376 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6

Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen September 2014, 584 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2508-0

Martina Wernli Schreiben am Rand Die »Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau« und ihre Narrative (1895-1936) Dezember 2014, 450 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2878-4

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