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German Pages [256]
Literatur - Kultur - Geschlecht Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte In Verbindung mit Jost Hermand, Gert Mattenklott, Klaus R. Scherpe und Lutz Winckler herausgegeben von Inge Stephan und Sigrid Weigel Kleine Reihe Band 10
BILDER DES HOLOCAUST Literatur - Film - Bildende Kunst
Herausgegeben von Manuel Koppen und Klaus R. Scherpe
® 1997
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bilder des Holocaust: Literatur - Film - Bildende Kunst/ hrsg. von Manuel Koppen und Klaus R. Scherpe - Köln; Weimar ; Wien : Bühlau, 1997 (Literatur - Kultur - Geschlecht: Kleine Reihe ; Bd. 10) ISBN 3-412-05197-7 Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. © 1997 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Umschlagabbildung: Christian Boltanski: Reserve, 1991 Druck und Bindung: MVR Druck, Brühl Printed in Germany ISBN 3-412-05197-7
Inhalt
Manuel Koppen/Klaus
R. Scherpe
Zur Einführung: Der Streit um die Darstellbarkeit des Holocaust
1
Dietrich Harth Gestörtes Einvernehmen. Die antiritualistischen Holocaust-Spiele George Taboris und Joshua Sobols
13
lrmela von der Lühe Das Gefängnis der Erinnerung Erzählstrategien gegen den Konsum des Schreckens in Ruth Klügers weiter leben
29
Barbara Breysach Verfolgte Kindheit. Überlegungen zu Ilse Aichingers frühem Roman und Georges-Arthur Goldschmidts autobiographischer Prosa
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Rüdiger Steinlein Sternkinder und Tote Engel - Bilder des Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur zwischen pädagogischmoralischer Wiedergutmachung und dokumentarischkatastrophischer Wirkungsästhetik
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Inhalt
VI
Susanne zur Nieden „.. .stärker als der Tod" - Bruno Apitz' Roman Nackt unter Wölfen und die Holocaust-Rezeption in der DDR
97
Krystyna Arlas Porras „The Holocaust is also mine." David Grossmans Stichwort: Liebe - Der Roman eines israelischen Schriftstellers der zweiten Generation
109
Willi Goetschel Zur Sprachlosigkeit von Bildern
131
Manuel Koppen Von Effekten des Authentischen - Schindlers Liste: Film und Holocaust
145
Andreas Huyssen Von Mauschwitz in die Catskills und zurück: Art Spiegelmans Holocaust-Comic Maus
171
Oliver Simons Gedächtnislandschaften, Erinnerungsbilder, Spurensicherung - Nachbilder des Holocaust
191
Thomas Macho Erinnertes Vergessen. Denkmäler als Medien kultureller Gedächtnisarbeit
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Autorinnen und Autoren
229
Zur Einführung: Der Streit um die Darstellbarkeit des Holocaust Manuel Koppen / Klaus R. Scherpe Angesichts der Debatten um die Instrumentalisierung des Holocaust für die verschiedensten Interessen, die an eine Politik des Erinnerns geknüpft werden können, und eingedenk des Wissens, daß jede Form gestalteter Erinnerung immer schon Interpretation bedeutet, scheint es merkwürdig unangemessen, die Frage nach dem Authentischen im Zusammenhang der ästhetischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Genozid zu stellen. Für die Nachgeborenen der dritten Generation ist der Holocaust längst zu einem Ereignis geworden, das massenmedial vermittelt ist. Die eigene biographische Verletzung durch die Vergangenheit und das Kulturprodukt 'Holocaust' sind kaum noch zu scheiden. Doch ebensowenig wie eine Gnade der späten Geburt gibt es eine 'Gnade der Differenz' oder eine 'Gnade der Rhetorik'. Während die Überlebenden auf ihrer Nähe zu den Toten und auf ihre durch keinerlei Darstellungen zu ersetzende Zeugenschaft bestehen, müssen die nachfolgenden Generationen das authentische Erleben der Vernichtung im eigenen Erleben wiederentdecken, das jedoch schon immer durch ein Sekundäres, Vermitteltes geprägt ist. Die Auseinandersetzungen um 'legitime' und 'illegitime' Formen kultureller Vergegenwärtigung, um 'angemessenes' Gedenken und die 'korrekte' Interpretation der Vergangenheit, mit denen die Einschreibungen in das kulturelle Gedächtnis überprüft werden, zielen im Kern auf die Frage der Authentizität der jeweiligen Darstellungsund Erinnerungskonzepte. Wie sind 'wirkliche' und vor allem wirksame Aussagen nach und über Auschwitz formulierbar, wenn es unmöglich ist, die Vergangenheit authentisch zu erfahren? In einem Streitgespräch mit Jacques Derrida, Sarah Kofman, Philippe Lacoue-Labarthe und anderen versteht Jean-François Lyotard die Kultur nach Auschwitz als ein Modell: „die Erfahrung eines Sprechens, das dem spekulativen Diskurs Halt gebietet." 1 Mit Adorno glaubt er sich einig, daß von „Erfahrung" im Sinne der „Phänomenologie des Geistes" nicht mehr zu sprechen ist. Es gilt, die „Un-
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denkbarkeit von Auschwitz wiederherzustellen". Er mißtraut der „Magie" der Negation in Adornos Darstellungsverbot, der Verteufelung jeglicher Bilder- und Sprachproduktion nach Auschwitz als Affirmation. Im Unterschied zu Adorno ist Lyotard der Meinung, daß nach dem Ende des spekulativen Diskurses und seiner Resultate nicht nur "subjektives Gerede" den leeren Darstellungsraum füllt, sondern eine Sprache gefunden werden kann, die ohne den Namen 'Auschwitz' zu beschwören, Sätze an Auschwitz anzuknüpfen vermag. Die Regeln der Verknüpfung von Sprache müssen nach dem Holocaust neu gefunden werden. Die Suche nach den Verknüpfungsregeln muß ohne ein „Wir" auskommen. Das ist entscheidend und gegen den deutschen HolocaustDiskurs der verpflichtenden Erinnerung gesprochen. Die „Para-Erfahrung" von Auschwitz hat die Unmöglichkeit des „Wir" erwiesen, und Lyotard hält fest, „daß in Ermangelung dieses Subjekts in der Mehrzahl 'nach Auschwitz* kein Subjekt mehr bleibt, das es für sich in Anspruch nehmen könnte, 'sich' zu nennen, indem es diese 'Erfahrung' nennt." Das gilt für die Philosophie, weniger für die neu zu suchenden Ausdrucksmöglichkeiten von Kunst und Literatur. In der philosophischen Debatte geht es um die Provokation einer Grenzerfahrung und die Bedingungen der Möglichkeit der Konzeptionalisierung von Repräsentationen oder Repräsentationsverboten im kulturellen Kontext. Mit der Entscheidung für narrative und figurative Darstellungen des Holocaust wird eine kulturell zu spezifizierende Erinnerungspolitik gemacht (der Streit um die Denkmäler, der 'story'-Film aus Hollywood: Schindlers Liste), ebenso mit der Behauptung der Nicht-Darstellbarkeit des industriellen Massenmords in den Konzentrationslagern, die das Nicht-Darstellbare tabuisiert und zum Sakrileg erhebt. Voraussetzung für die Qualifizierung moralischer und ästhetischer Argumentationsstrategien ist die Bestimmung von zweierlei Differenz. Zum einen der historischen Differenz im Erleben zwischen der ersten und zweiten Generation der Überlebenden und der der Nachgeborenen, deren 'Nacherleben' vermittelt ist über das gespeicherte Wissen, die Rhetorik der Erzählungen und die standardisierte Ikonographie des Holocaust. Zum andern der Differenz zwischen den nationalen Kulturen, in denen die Holocaust-Erinnerung eine entscheidende Rolle für das Selbstverständnis spielt.2 Das von Lyotard begonnene Streitgespräch zielt auf die Frage nach der Authentizität der Darstellungskonzepte, der Aussagekraft in den nach Auschwitz formulierbaren und verknüpfbaren Sätzen. Hier sollte die Differenz zwischen der ersten Generation der Überlebenden und ihrem Anspruch auf Authentizität einerseits und allen Darstel-
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lungspraktiken andererseits, die Authentizität nur aus dem Postskriptum, der Supplementierung einer originären Erfahrung gewinnen, die undenkbar und nicht die eigene ist, nicht heruntergespielt werden (etwa nach dem Muster 'alles ist Erzählung', 'alles folgt den Regeln der Rhetorik'). „Der Schmerz war der, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen." 1 Für Amery, der die „Gleichnisrede" verweigert, ist die durch die physische Gewalt erlittene Auslöschung von Geist und Zivilisation unteilbar: mitteilbar, aber nicht vermittelbar an andere, schon gar nicht an ein deutsches „Wir" der Gedenkkultur, das die entlastende Identifikation mit den Opfern sucht. Die Authentizität in Texten wie dem über die Tortur liegt in ihrer mit dem eigenen Körper erlittenen „Unterbrechung der Spekulation" (Lyotard) begründet. Daher das Pathos des Primären, das in sich unbestreitbar ist. Demgegenüber können Repräsentationen der nachgeborenen Generationen Authentizität nur unter einer Bedingung gewinnen: der von Derrida so genannten „seriature" 4 , einer Aneinanderreihung von Sätzen, die die Erfahrung des Holocaust, ob gewollte oder nicht, studiert, also ihre Bedingung des Sekundären, der Pluralität, der künstlerischen Konstruktion und der medialen Vermittlung selber zum Thema macht. Die hier gelingende oder mißlingende sekundäre Verknüpfung von Sätzen als Supplement zu einem Namen 'Auschwitz', der als direkte Referenz nicht existiert, folgt den im kulturellen Kontext sehr unterschiedlichen und veränderbaren Verknüpfungsregeln. Claude Lanzmanns Film Shoah von 1985 operiert an der Darstellungsgrenze von primärer Zeugenschaft des Holocaust und sekundärer Vergegenwärtigung des Bezeugten. Es scheint, als wolle Lanzmann Authentizität erzwingen: durch eine Radikalisierung des Bilderverbots, das für ihn auch ein Fiktionalisierungsverbot ist. In der Konsequenz von Lanzmanns radikalem Authentizitätsgebot darf es eine reproduzierte Ähnlichkeit mit den Fakten eigentlich nicht geben. Alle denkbaren „Verknüpfungen" mit Auschwitz in Worten, Sätzen und Bildern müssen so angelegt sein, daß sie Auschwitz als das „Unverknüpfbare" nicht „überwinden" (Derrida), sondern als unverrückbare traumatische Erfahrung bestehen lassen. Um die Repräsentationslogik der Ähnlichkeit zu unterlaufen, arbeitet Lanzmann mit einem anderen, ursprünglicheren Verständnis von Mimesis. „Der Film ist eine Verkörperung, eine Reinkarnation." 5 Wie Amery in der Rekonstruktion des selber Erlittenen sucht Lanzmann die unmittelbare Nähe des Geschehens, besucht er die Orte der physischen Vernichtung und die ihrer Vorbereitung. Diese unbedingte Annäherung als Wiederherstellung und Anverwandlung geschieht durch die Zeugen (Opfer, Täter und bystander), die er an den ursprünglichen Ort des
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Geschehens, nach Chelmno, Treblinka, Auschwitz zurückbringt oder dort, in der Umgebung, ausfindig macht und aufsucht. Der Erinnerung ist ihre subjektive und mediale Bedingtheit und Zufälligkeit zu nehmen, um die Form des Erinnerten wiederzugewinnen. Die für Lanzmann einzig denkbare und zulässige Form der Erinnerung ist die Rede der Zeugen.6 Er inszeniert die Reden der Zeugen, um den Gedächtnisraum seines Films zu füllen: nicht mit Bildern, sondern mit Sätzen, Aussagen, Mimik und Gesten, die das Abwesende bezeichnen, Zeichen setzen und verbinden, Spuren legen. Im Interview bringt er seine Zeugen dazu, die damaligen schrecklichen Erlebnisse nicht nur zu erinnern, sondern nachzuspielen, zu verkörpern, als Körper- und Sprachszenen wiederherzustellen. An die Stelle des verworfenen Illusionismus der Repräsentation tritt die in der Präsenz wirksame Qualität von Mimesis: das mimetische Vermögen des Spiels, die Reaktivierung der sinnlichen und magischen Beziehung zu den Dingen und Vorgängen, die in der Sprache nicht oder nicht mehr formulierbar sind.7 Mit Lanzmanns Shoah wurde eine Art Grenzmarkierung der 'Holocaust-Kultur' gesetzt: eine Grenze nicht der Darstellbarkeit, sondern eine Grenzmarkierung der Darstellungsmittel- und methoden der nachfolgenden Generationen darstellender Künstler, Schriftsteller und Holocaustpolitiker. Lanzmanns mimetisch erzeugtes Pathos des Primären wird abgelöst durch ein Ethos des Sekundären, das in den Darstellungen des Holocaust im Abstand von Jahrzehnten immer wieder neu zu erstellen und zu definieren ist. Die für die postmoderne Literatur typische Gelassenheit, ihre spürbare Ästhetik der Indifferenz und neuentdeckten Erzählfreudigkeit angesichts des Reproduktions- und Zirkulationscharakters der Bilder, Ideen, Empfindungen und Erinnerungen, gilt für die Holocaust-Thematik so nicht. Die immer wieder versuchten 'unmöglichen Anschlüsse' der Sätze, Bilder, Installationen und Museumsräume an Auschwitz als das „Unverknüpfbare" schlechthin schaffen eine unaufhörliche Irritation und Beunruhigung, in der das Trauma der ersten Generation, manifest in den verschiedensten Genres und Schreibweisen, nachwirkt. Problematisch an dieser als postmodern zu kennzeichnenden Situation ist, wie Andreas Huyssen schreibt*, die Allgegenwärtigkeit und Universalisierung von Trauma, Leiden und Opferstatus in allen möglichen Bezugnahmen auf den Holocaust. Um nicht zum grauenhaften Klischee zu verkommen, zum 'Superzeichen Auschwitz', bedarf es einer Multiplizität und Spezifik von Darstellungen, die den Holocaust auch gegen die universalisierten Inanspruchnahmen in Erinnerung halten.
Einleitung
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In den literarischen und künstlerischen Diskursen und in Verbindung mit unterschiedlichen kulturellen Geltungs- und Legitimationsansprüchen taucht das Auschwitz-Trauma oft unvermittelt auf: in Ingeborg Bachmanns, den Geschlechterdiskurs rekonstruierender Erinnerungsprosa zum Beispiel oder in Sylvia Plaths verzweifelten Gedichten der Selbstfindung und Selbstzerstörung.9 Tritt an die Stelle einer direkten Beziehung und historischen Referenz zum Holocaust das unterschiedlich handhabbare und verfügbare Trauma, so finden sich in den verschiedensten Texten, Exponaten und künstlerischen 'Inszenierungen', die Auschwitz rational und emotional als den modernen Zivilisationsbruch schlechthin voraussetzen, aus dem Holocaustdiskurs herausgebrochene Fragmente, abgelagerte Zeichen und Klischees. Diese Erinnerungsstücke werden in Gebrauch genommen, re-semantisiert und derart kontextualisiert, daß sie starke Bedeutungsakzente setzen können etwa dort, um nur das bekannteste Verfahren zu nennen, wo Szenen von vernichtetem Leben, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit im Vordergrund stehen. Das kulturelle Gedächtnis des Holocaust mag als ein wissenschaftlich, kulturpolitisch und repräsentativ reinlich geordnetes historisches Archiv erscheinen.10 Wird es für die aktuellen Lebens- und Überlebensfragen künstlerisch mobilisiert, so funktioniert es eher 'inkorrekt': als „Affektensammlung", wie ein junger Autor schrieb (Maxim Biller), als ungehöriges Spiel mit Bedeutungen, in dem die vorgedachten und vorstrukturierten Standards herausgefordert werden. Die Differenz zur Generation der Zeugen könnte nicht größer sein. Deren durch das Mitleiden und Miterleben erzeugter holistischer Anspruch der Darstellung geht mit der Zeit über in eine kaum zu begrenzende Heterogenität der Erfahrungs- und Darstellungsexperimente. Den Zeugen der ersten Generation muß dieses Fortschreiben und Überschreiben als Frevel am 'primären' Text erscheinen, der ja auch Darstellung ist, aber dennoch für sakrosankt erklärt wurde. Methoden der Profanisierung als eine Art Befreiung von der symbolischen Bedeutungslast des Auschwitz-Komplexes finden sich in verschiedenen Darstellungsversuchen nicht nur bei der jüngeren, der Enkel-Generation der Überlebenden. Bleibt der Holocaust das ausschließliche Thema, so wird das Sprechen über ihn mit in die Thematik hineingenommen. Etwa in dem Versuch, die allzu schlüssigen, rhetorisch wirksamen Verabredungen der deutschen Bewältigungskultur, aber auch gewisse Tabuisierungen der jüdischen Kultur (die Opferrolle, die Erinnerungsrituale, die Legitimation der Besonderheit) auf die Probe zu stellen. Gegenwärtig lassen sich Anzeichen einer neueren 'Holocaust-Kultur' bemerken, für die das Auschwitz-Trauma, wie gebrochen auch
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immer, als emotional aktives Zeichen der eigenen Erinnerungs- und Erlebnisfähigkeit nachwirkt. Eine nicht nur im drohenden Vergessen, sondern auch im übermächtigen Erinnerungsgebot wirksame Shoah wird hier zum zentralen Problem. Die neueren, 'sekundären' Repräsentationsversuche des Holocaust stellen sich selber dar als Repräsentationskritik. Eine Metasprache der Sinnbilder und Sinngebung wird abgelehnt. Denkmäler sollen Anti-Denkmäler sein. Museen sollen nicht nur das Andenken der Toten bewahren, sondern auch jüdisches Leben erinnern. Die Fähigkeit zur Trauer soll wiedergewonnen werden durch die Befreiung vom Tmuerritual. Um Bildersegen oder Bilderverbot geht es in der neueren, in ihrer Genrewahl und im Zeichengebrauch grenzenlos variablen, in jedem Falle aber profanisierten Holocaust-Literatur nicht mehr. Die Überfülle und Übermacht der Bilder, in der der eine Ort des Authentischen nicht mehr einfach gesucht und gefunden werden kann, erzeugt im Zwang zur Wiederholung den Wunsch nach Authentizität: dies nun aber auf der Ebene der eigenen Affekte und Erlebnisse im Umgang mit dem Holocaust-Komplex. Gegen das bislang für kulturell verbindlich gehaltene 'Nacherleben' (die Identifikation mit den Opfern) richtet sich der Anspruch auf Ausdruck und Erlebnis im eigenen Schaffen und in die Wirkungsabsicht. Auch wird die viel problematischere Identifikation mit den Tätern nachgeholt, um den allzu friedfertigen Erinnerungskonsens zu brechen. Wie zuvor im angeblich Nicht-Darstellbaren, so wird jetzt im angeblich Nicht-Erfahrbaren die Herausforderung gesehen, die mobilisierend wirkt. Das maßgebliche Wort der 'Emotionalisierung' will einfach und banal verstanden werden, ist aber aufgeladen mit der theoretischen Leidenschaft der Dekonstruktion und auch Destruktion der für sakrosankt erklärten, ritualisierten Formen des Gedenkens. Nicht die von Adorno verbannten Gedichte nach Auschwitz, sondern Re-Inszenierungen mit Auschwitz und mit der eigenen Betroffenheit sind vorstellbar geworden und werden praktiziert. Sollen Bildnisse derart zu Erlebnissen werden, so sind zweierlei 'Verknüpfungen' denkbar, die in dem genannten Streitgespräch „nach Auschwitz" mit Jean-François Lyotard angedeutet werden. Zum einen Darstellungsversuche, die auch im entlegenen Diskurs oder zufälligen Alltagshandeln, im kulturellen Patchwork, das Trauma affektiv wiederherstellen und dabei die offiziell gültige Holocaust-Gedenkkultur emphatisch negieren. Hier wären jüngere Autoren, Filme- und Theatermacher in Deutschland und in Israel zu nennen wie zum Beispiel Maxim Biller, Robert Schindel, David Grossman oder die Theatergruppe Akko mit ihrer Performance Arbeit macht frei, die der deutsche Regisseur Andres Veiel in seinem Doku-
Ginleitung
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mentarfilm Balagan filmisch kommentiert hat. Zum anderen Darstellungsversuche, die, wie Sarah Kofman bemerkt", an die anonymen Kennummern der Lagerhäftlinge anschließen: den gewöhnlichen Gebrauch der Lettern und Ziffern, die „Ausweitung des Systems", das Auschwitz war (Lyotard). Auschwitz, gedacht als Klimax der Moderne und als Zivilisationsbruch 12 , bringt die subjektiven Erfahrungen und individuellen Sätze zum Verschwinden. Hier setzen Aufsehen erregende Ausstellungsprojekte an, wie zum Beispiel Jochen Gerz' £jtii-Installation von 1978, die die museale Beschriftung und kulturökonomische 'Glattstellung' des KZ Dachau angreift, Christian Boltanskis Foto-Installationen, die das Tötungsprinzip gerade dadurch emotional präzisieren, daß sie es in der Menge des Alltagsmaterials als Holocaust nicht eindeutig codifizieren. Daniel Libeskinds dekonstruktivistische Architektur des Jüdischen Museums als Anbau zum Berlin-Museum begreift die Vernichtung der jüdisch-deutschen Kultur als nie mehr zu substantialisierenden Verlust, als räumliches Erlebnis der Auslöschung: the voided void. Den verschiedenen Darstellungsversuchen gemeinsam ist eine kulturelle Strategie, die gegen das Vergessen und die mit Auschwitz erzwungene Erfahrungslosigkeit auf eine emotionale Rückkoppelung, auf anschlußfähige Tätigkeiten und Erlebnisse setzt. Gerade die Texte und Theaterstücke der zweiten Generation mit ihren emotional aufgeladenen Szenen suchen in einer Radikalkritik der bisherigen Erinnerungspraxis diesen Anschluß an eine nicht erlebte, aber gleichwohl als einschneidend erfahrene Vergangenheit herzustellen. Dabei gehen sie mit dem Ursprungstrauma weitgehend 'auratisierend' um (obsessiv, originär fixiert, mimetisch). Dagegen arbeiten andere künstlerische Versuche, welche die „Para-Erfahrung" von Auschwitz - die unbegreifliche Ziffer von 6.000.000 systematisch Ermordeten - 'strukturell' voraussetzen, mit anderen Rezeptionsstrategien. Sie versuchen, die Generalisierungen (System der Moderne, Masse, Technik, Institutionen, kulturelle und ethnische Eigenart), die in der Erinnerung mit dem Namen Auschwitz verbunden werden, mit den lebensweltlich je präsenten und aktiven Imaginationen und Handlungen zu verknüpfen. An die Stelle der im Prinzip unendlichen, oft nur beschwörenden Suche nach dem Authentischen tritt die Dechiffrierung der 'primären' Holocaust-Zeichen in 'sekundären' kulturellen Bereichen. Politische Reden, Ausstellungen, Mahnwachen und Gedenkveranstaltungen, Erinnerungsspaziergänge, Denkmalsplanungen und Museumsarchitektur werden zum Quellenmaterial für künstlerische Experimente aktueller Holocaust-Kultur. Der „Gedenk-Raum" zwischen Denkmal und Betrachter ist wichtiger als das monumentale Denkmal, so argumentiert James E. Young." Die
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öffentlichen Diskussionen um das in Berlin geplante zentrale Denkmal für die ermordeten Juden sind bedeutsamer als der Bau des Denkmals. Nicht das Eingravieren der Namen von Millionen von Opfern in den Gedenkstein, nicht das Ablegen der Blumen an fremden Gräbern ist eine angemessene Handlung der deutschen Öffentlichkeit, sondern die Suche nach den Spuren eines Scheiterns und Versagens im Zusammenleben von Deutschen und Juden. Die Aufsätze dieses Bandes setzen sich an 'Fallbeispielen' mit Formen der Vergegenwärtigung des Holocaust auseinander, wobei das Darstellungsproblem - für die Generation der Zeugen sicher in anderer Weise als für die nachfolgenden Generationen - immer auch die Frage des Authentischen berührt: in der Suche nach angemessenen oder tabuverletzenden Formen, in der Reflexion der zeichenhaften Vermitteltheit des Geschehens oder in dem Bekenntnis zur Inauthentizität der Darstellungsformen als Möglichkeit einer Annäherung. Wird der Holocaust als 'Zivilisationsbruch' verstanden, dann können die Formen seiner Vergegenwärtigung nicht mehr einer konventionellen Repräsentationsästhetik folgen. Dietrich Harth weist in den Stücken Sobols und Taboris diesen gemeinsamen Bezugspunkt einer mit dem Holocaust gesetzten Katastrophe der Zivilisation nach. Bei beiden Autoren entsteht aus diesem Verständnis der Vergangenheit ein Spiel, das mit theatralischen Mitteln nicht nur die Rituale des Theaters, sondern auch die des Erinnern und der 'Bewältigung' zu durchbrechen sucht. Ein Darstellungsproblem, das sich nicht mit dem Hinweis auf das 'Unvorstellbare' des Geschehens lösen läßt, ergibt sich aber auch dann, wenn die erlebte Vergangenheit vermittelt werden soll und zugleich für den Erinnernden der Widerspruch zwischen Gedächtnisund Vorstellungsbildern auszuhalten ist. Irmela von der Lühe macht deutlich, daß Ruth Klüger in ihrer Autobiographie weiter leben ein „narratives Denken" entwickelt, das sich sowohl gegen den Heiligenschein des 'Unsagbaren' wendet, wie es die Diskrepanz zwischen Erinnerung und Phantasie nicht zu harmonisieren versucht. Die Aporien einer Literatur des Erinnerns an den Holocaust werden bei Ruth Klüger als Denk- und Darstellungsproblem herausgestellt. Wie in Ruth Klügers weiter leben sind auch in Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung und in Georges-Arthur Goldschmidts Erzählungen Die Absonderung und Die Aussetzung Erinnerungen an Jugend bzw. Kindheit verarbeitet, die durch Verfolgung und Bedrohung im Nationalsozialismus geprägt sind. Barbara Breysach erörtert die Darstellungseigenheiten solchen literarischen Erinnerns, indem sie nach den jeweils geschlechtsspezifischen Einschreibungen fragt
Einleitung
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und die Faszinationskraft dieser Texte gerade aus der Verbindung von Triebdiskurs und Verfolgung zu erklären sucht. Wenn die Erinnerung an die eigene Kindheit und Jugend - jenseits der Fragen, die sich aus der unvermeidbaren Interpretation der Ereignisse durch ihre jeweilige literarische Gestaltung ergeben - doch immer die Authentizität des Erlebten beanspruchen kann, so stellt sich die Frage nach dem Authentischen in der Literatur grundsätzlich neu, die nicht aus der eigenen Kindheit und Jugend berichtet, sondern für Kinder und Jugendliche geschrieben wurde. Rüdiger Steinlein zeigt auf, daß zumindest die traditionell erzählten Erinnerungen gerade aufgrund der biographisch verbürgten Authentizität für den (literarischen) Dialog mit den Heranwachsenden stets besonders geeignet schienen. Die intentionale Kinder- und Jugendliteratur, unter dem Primat dessen, was jeweils didaktisch angemessen schien, entwikkelte indes Emplotmentstrategien, die von der Frage nach dem Ort des Authentischen in medialen Repräsentationsformen weitgehend unberührt blieben. Entscheidend blieb - in der DDR wie der BRD ein Bild der Ereignisse, das sich möglichst bruchlos in ethische Maximen und die jeweils kritisch zu 'beerbende' oder zu 'bewältigende' Vergangenheit fügte. Ob sich im Zeichen einer weitgehenden Enttabuisierung des Themas 'Holocaust' auch in der Kinder- und Jugendliteratur grundsätzlich neue Tendenzen abzeichnen, bleibt zu beobachten. Zu den Topoi des Erinnerns gehörte neben dem Tagebuch der Anne Frank vor allem in der DDR eine weitere Kinderfigur, in deren Geschichte sich die Vergangenheit parabelhaft zu verdichten schien: das Kind von Buchenwald. Susanne zur Nieden geht der Frage nach, warum die Rettungsgeschichte eines jüdischen Kindes, nach einer tatsächlichen Begebenheit von Bruno Apitz in seinem Erfolgsroman Nackt unter Wölfen gestaltet, unter den Bedingungen eines staatlich verordneten Antifaschismus bei gleichzeitiger Ablehnung des Staates Israel zu einem zentralen und sinnstiftenden Mythos werden konnte. Für die künstlerische Auseinandersetzung der zweiten Generation mit dem Holocaust scheint indes gerade die Ablehnung kulturell sanktionierter Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsmuster konstitutiv zu sein. Ihr Anspruch auf Authentizität gründet auf einem zuweilen radikalen Verständnis des Holocaust als Teil der eigenen Lebensrealität. Formen und Möglichkeiten, diesen Anspruch zu formulieren und literarisch zu gestalten, spürt Krystyna Adas Porras in David Grossmans Roman Stichwort: Liebe nach. 'Holocaust' denotiert nicht nur ein geschichtliches Ereignis. Das Wort 'Holocaust' ist immer auch ein Zitat, das auf die Zirkulation der Bilder über den Holocaust verweist. Willi Goetschel setzt sich in
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seinem Beitrag mit dieser Zeichenwelt der Bilder auseinander und fragt nach den Sinnaufladungen, denen die Bilder des Holocaust im Prozeß ihrer Reproduktion und Zirkulation unterworfen sind: in Form signethafter Reduktion als Davidstern wie in Gestalt der AnneFrank-Ikonographie mit ihrem Versprechen von Authentizität und Versöhnung. Das Spezifische und Partikulare des Bildes, so scheint es, verliert sich genau in dem Maß, wie es als ein Bild wahrgenommen wird, das die Vergangenheit repräsentiert. Wie jedoch entstehen in einer Ästhetik der Repräsentation, die sich die Reproduktion und Zirkulation der Bilder des Holocaust unhinterfragt zu eigen macht, jene Effekte des Authentischen, die bestimmte Formen der Reinszenierung als 'wahrhaftiges Abbild' der Vergangenheit erscheinen lassen? Manuel Koppen erörtert diese Frage am Beispiel von Spielbergs Film Schindlers Liste und weist nach, daß der Eindruck jenes „So war es" weniger in Rekurs auf eine möglichst genau porträtierte Vergangenheit entsteht, sondern sich der Aktualität des jeweils verwandten Zeichenrepertoires verdankt. Die Diskussion von Spielbergs Film bewegte sich in Europa wie in den USA zwischen den Polen einer Ablehnung massenmedialer Repräsentation des Holocaust als grundsätzlich unangemessener Darstellungsform und emphatischer Begrüßung einer gelungenen, weil massenwirksamen Erzählung des Holocaust. Andreas Huyssen stellt die Frage, ob sich in dieser Polarisierung nicht wieder der alte Gegensatz von Hochmoderne und Massenkultur reproduziert, und diskutiert am Beispiel von Art Spiegelmans Maus einen Bildertext, der die dichotomische Festschreibung der kulturellen Muster unterläuft. Als eine dritte Position in dem Konflikt zwischen Darstellbarkeit und Nicht-Darstellbarkeit des Holocaust bestätigt Spiegelmans Comic auf seine Weise das Repräsentationsverbot, setzt aber gleichzeitig auf die Erzählbarkeit des Geschehens. Das Bekenntnis zur Inauthentizität der Darstellung, das Spiegelmans Arbeiten auszeichnet, findet sich auch bei bildenden Künstlern der zweiten Generation, die zeichenhaft auf etwas verweisen, das sie selbst nicht bezeugen können. Der Holocaust und die nationalsozialistische Vergangenheit spielen - wie Oliver Simons aufzeigt - in den Arbeiten von Anselm Kiefer, Sophie Calle und Christian Boltanski eine zentrale Rolle. Gegenwärtig ist die Vergangenheit nurmehr als Zitat, Verweis oder verborgener Referent. Wenn so in der bildenden Kunst die Zeichen des Holocaust einerseits zirkulieren und oft nur noch auf ein Sekundäres verweisen, andererseits aber immer wieder zur Spurensuche auffordern und in der Auseinandersetzung des Betrachters mit Material-, Körper- und Raumerfahrungen Erinnerungsschichten lebendig halten wollen, so
Einleitung
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stellt sich die Frage nach der verbliebenen Aufgabe von Bildwerken, die gleichzeitig zur Erinnerung aufrufen wollen wie auf eine Repräsentation dieser Erinnerung in den Mahnmalen des Holocaust verpflichtet werden. Denkmäler haben, so Thomas Macho in seinem Beitrag, die fatale Eigenart, das zu Erinnernde dem Vergessen preiszugeben. Macho setzt sich im Spannungsfeld sozial-kommunikativer und kultureller Gedächtnisarbeit mit den aktuellen Diskussionen um die Entwürfe zu Holocaust-Denkmälern auseinander. Die Diskussionen zumindest zielen gegen eine schnelle Signifikation des Vergessens. So könnte der Streit um die Denkmäler - wie Macho am Beispiel des geplanten Denkmals auf dem Wiener Judenplatz argumentiert - allemal fruchtbarer sein als der Gestalt gewordene Erinnerungsappell.
Anmerkungen: 1
Jean-François Lyotard: Streitgespräche, oder: Sprechen "nach Auschwitz". Bremen o.J. S. 14. (Die folgenden Zitate: S. 68 und S. 31) Übersetzung aus: Les fins de L'homme. A partir du travail de Jacques Derrida. Paris 1981. Grundlegend für die sprachanalytische Auseinandersetzung mit 'Auschwitz', die Kritik der "Erfahrung" und eine Ethik "nach Auschwitz": Lyotard: Le différend. Paris 1983 (dt.: Der Widerstreit, München 1987). Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Problemstellung in: Klaus R. Scherpe: Von Bildnissen zu Erlebnissen: Wandlungen der Kultur „nach Auschwitz". In: Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 254-282.
1
Vgl. zu dem Unterschied zwischen einem Holocaust-Museum in Washington, Yad Vashem in Israel und dem Anbau eines Jüdischen Museums an das Berlin-Museum: James E. Young: Die Zeitgeschichte der Gedenkstätten und Denkmäler des Holocaust, in: ders. (Hg.): Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens. München 1994, S. 19-40.
' Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München 1966 (zit. nach der Taschenbuchausgabe 1988), S. 50. 4
Lyotard: Streitgespräche, S. 63.
' Claude Lanzmann: Shoah. Düsseldorf 1986, S. 275. * Vgl. hierzu: Shoshana Felman/Dori Laub: Testimony. Crisis of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History. London, New York 1992, S. 204-283. 7
Ausgangspunkt für die hier neu ansetzende Orientierung über „Mimesis" ist Walter Benjamins Aufsatz „Über das mimetische Vermögen". Hierzu: Klaus R. Scherpe: Das Andere verstehen? Mimesis - ein Vermögen beim Umgang mit dem Fremden. In: Neue Rundschau 107 (1996), S. 36-45.
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Manuel Koppen / Klaus R. Scherpe
Vgl. den Beitrag von Andreas Huyssen in diesem Band „Von Mauschwitz in die Catskills und zurück: Spiegelmans Holocaust-Comic Maus"'. S. 171-190.
' Hierzu: James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Bloomington 1988; dt.: Beschreiben des Holocaust, Frankfurt a.M. 1992, S. 190-215, und verallgemeinernd: Sigrid Weigel: Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Dülmen 1994. 111
Zur Problematik vgl.: Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988, S. 9-19; Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a.M. 1991.
" Lyotard: Streitgespräche, S. 61f. 12
Vgl. Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1992. James E. Young: Die Texte der Erinnerung. Holocaust Gedenkstätten. In: Hanno Loewy (Hg.): Holocaust. Die Grenzen des Verstehens. Reinbek b. Hamburg 1992, S. 213-232.
Gestörtes Einvernehmen Die antiritualistischen Holocaust-Spiele George Taboris und Joshua Sobols Dietrich Harth
Das 'Litauische Jerusalem' (Yerushalyim D'Lita), die Stadt Wilna, verdankte ihren Beinamen einer reichen, lebendigen Kulturtradition und nicht zuletzt der Haskalah, der hebräischen Aufklärung, die dort im 18. Jahrhundert der Talmudist Elijah Ben Solomon Zalman lehrte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Diasporagemeinde Wilnas multinational, polyglott und aufgeschlossen für die Ideen des Sozialismus. Über das Verhältnis dieser Ideen zur Praxis streiten sich die ortsansässigen ideologischen Gruppierungen: hebräische Zionisten auf der einen, jiddische Bundisten (Mitglieder des in Wilna gegründeten Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes) auf der anderen Seite. Den Streit verschärft bald der Druck von außen, der bedrohlich zunehmende polnisch-sowjetische Antisemitismus. „Ein unsichtbarer Faden", heißt es in dem 1931 erschienenen Fotobändchen Ein Ghetto im Osten: Wilna, „zieht sich von Massadah, der letzten jüdischen Festung in Palästina, bis zur Judengasse in Wilna. War es dort der Kampf mit dem Schwert, so ist es hier ein Kampf des Geistes und eigenartiger Kultur." Ein prophetisches Wort, dessen tödlichen Sinn die nahe Zukunft einlösen sollte. Angesichts wachsender Verfolgung und wechselnder Zwingherren - deutsche Besatzung im Ersten Weltkrieg, umstrittene Besitzansprüche der Nachbarstaaten, polnische Annexion (1920) - erinnert sich die jüdische Gemeinde in der litauisch-polnischen Stadt ihrer großen Traditionen. Es ist eine kurze Blütezeit, denn 1939 zwingt Hitlers Überfall auf Polen die Ostjuden zur Flucht. Intellektuelle, religiöse und wirtschaftliche Eliten suchen Schutz im freieren Wilna, das seit Oktober '39 wieder litauisch ist, aber schon im Sommer 1940 unter den Auflagen sowjetischer Eroberer die Freiheit verliert. Als im Juni 1941 Hitlers Armee den mit Stalin vereinbarten Nichtangriffspakt bricht und im Zuge der nach Osten ausgreifenden Expansionskriege Wilna besetzt, zählt die Stadt 80.000 jüdische Einwohner. Viele versuchen vor der deutschen Armee zu fliehen, viele
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werden getötet. Anfang Juli desselben Jahres trifft das deutsche Einsatzkommando 9, eine berüchtigte Todesschwadron, in Wilna ein und beginnt im nahegelegenen Ponar mit Massakern an der jüdischen Stadtbevölkerung. Die deutsche Militärverwaltung befiehlt bald die Einrichtung eines Judenrats, den sie als Geisel mißbraucht. Im August wird das Einsatzkommando 9 durch das EK 3 abgelöst und die jüdische Bevölkerung unter dem Kommando des SS-Offiziers Franz Maurer in einem hermetisch abgeriegelten Ghetto zusammengetrieben. Bis Ende 1941 ermorden die Deutschen mehr als 25.000 jüdische Bewohner, 3.700 Personen werden verschleppt. Anfang 1942 formieren sich im Ghetto bewaffnete und kulturelle Widerstandsgruppen. Die Fareynikte Partizanen Organizatsye (FPO) hat ihr mobiles Quartier in den nahegelegenen Wäldern. Konzerte und Theatervorstellungen im Ghetto sind ausverkauft, ein Literaturpreis wird ausgeschrieben, die Bibliothek feiert die steigenden Zahlen ausgeliehener Bücher; jüdische Manufakturen produzieren für die Deutschen; Maurer ernennt den Chef der Ghetto-Polizei, Jacob Gens, zum Leiter des Ghettos. Unterdessen gehen die Massaker weiter: Im Oktober zählt das Ghetto nur noch 12.000 Einwohner. Im Frühjahr 1943 wird der SS-Mann Hans Kittel zum verantwortlichen Offizier der Sicherheitspolizei für jüdische Angelegenheiten in Wilna ernannt. Unter seinem Kommando erhält am 1. September der jüdische Ghettoleiter Gens - das Ghetto-Theater probt soeben Scholem-Aleichems Tewje, der Milchmann - den Auftrag, 5.000 der Wilnaer Juden für den Abtransport ins KZ zu 'selektieren'. Zwei Wochen später wird Gens von den Deutschen erschossen und kurz darauf die gesamte Ghettobevölkerung - etwa 10.000 Männer, Frauen und Kinder - in Ponar ermordet oder in die Gaskammern anderer Lager deportiert. Der 21jährige Hans Kittel, der nach Kriegsende untertauchen kann, begleitet die Deportationen auf einem Klavier, das er am Ghettoausgang hat aufstellen lassen. Es fällt schwer, sich vorzustellen, daß die mörderische (hier verkürzt wiedergegebene) Chronik der Wilnaer Ereignisse, die Hermann Kruk, der Leiter der Ghetto-Bibliothek, in einem Tagebuch minutiös festgehalten hat, sowie die Kitteische Mischung aus Terror und Kitsch den Stoff für ein Schauspiel bieten könnten. Der israelische, 1939 in Tel Aviv geborene Autor Joshua Sobol hatte den Mut, diesen historischen Stoff in einem dramatischen Triptychon zu verwenden, dessen erster Teil Ghetto (neben Adam, 1989 und Untergrund, 1990), 1984 unter seiner Regie in Haifa uraufgeführt, zu einem internationalen, mehrfach preisgekrönten Bühnenerfolg geworden ist. Wie hat
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Sobol, der auch an anderen Theatern - z.B. in Essen und Bremen selber Regie geführt hat, das gemacht? Bevor ich diese Frage mit einem genaueren Blick in den Text zu beantworten suche, einige Worte über den 1914 in Budapest geborenen Theatermacher George Tabori, der sich in seiner Wahlsprache gern „playmaker" nennt. Tabori emigriert 1936 nach London, erwirbt später die britische Staatsbürgerschaft, schreibt und arbeitet als Journalist und Roman-Schriftsteller in England, der Türkei und im Nahen Osten, verfaßt seit Mitte der 40er Jahre Filmdrehbücher in den USA und kooperiert fast zehn Jahre lang als Theatermacher mit Lee Strasbergs Actor's Studio in New York. Taboris Vater Cornelius wurde, wie die meisten seiner Verwandten, in Auschwitz ermordet. 1969 reist Tabori nach Berlin, um auf der Werkstattbühne des Schiller-Theaters sein ein Jahr zuvor in New York uraufgeführtes Stück Die Kannibalen zu inszenieren. Schauplätze des Dramas sind eine KZ-Baracke und die Bühnen-Situation. Thema ist der Bruch mit dem Tabu, vom Fleisch des andern zu essen. Im Mittelpunkt der Szenen steht der Vater des Autors, den der Sohn, dargestellt von einem Schauspieler, spielt. Die Berliner Inszenierung wurde von der Kritik gelobt, ein großer Erfolg wurde das Stück aber nicht. Taboris grandiose Karriere im westdeutschen Theaterleben, in das er Anfang der 70er Jahre übersiedelte, hat das nicht aufgehalten. 1987 spielt er Die Kannibalen noch einmal im Rahmen eines Theaterprojekts, das Auszüge aus Peter Sichrovskys Dokumentation Schuldig geboren in Szene setzt, mit seiner Gruppe Der Kreis in Wien: eine Antwort auf die Waldheim-Affäre.
II Tabori und Sobol haben manches gemeinsam. Ihre Theaterarbeit vertraut auf die irritierende Macht des Mediums, zieht die Infragestellung stereotyper Freund-Feind-Schemata simplifizierenden Antworten vor, ist work in progress und daher offen für laborähnliche Versuche, in denen das Theatralische meist mehrfach gebrochen erscheint. Ihre Produktionen wurden nicht nur gelobt, sondern waren nicht selten Mißverständnissen und scharfen Angriffen ausgesetzt. Das ging manchmal bis zum Vorwurf des Antisemitismus, und beide haben immer wieder mit Fantasie und Geduld - in Interviews und zahlreichen Schriften - dem Publikum ihre Absichten erläutert. Offener und geheimer Bezugspunkt ihrer Arbeit ist die Zivilisationskatastrophe des Holocaust, auch und gerade in den davon
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ausgehenden Schatten, die auf andere, nicht zuletzt auf jüngste und gegenwärtige Ereignisse des 20. Jahrhunderts fallen. Als Sobol Ende der 80er Jahre Taboris Goldberg-Variationen inszenierte, mochte er sich seiner Arbeit an Ghetto erinnern. Beide Stücke spielen mit der Idee des Welttheaters, kehren aber den heilsgeschichtlichen Mythos Calderons auf radikale Weise um. Taboris farcenhaftes Verwirrspiel mit den Stoffen und Texten der Genesis und der Passion steht unter dem Motto: „Ich kenne meine Bibel, will sagen, ich kenne das Theater.'" Gott, Mr. Jay, ist in diesem Spiel ein zynischer Regisseur, dem alles, selbst die Schöpfung mißlingt, und wenn die Farce mit den Worten „noch mal von vorn" schließt, so verheißt das nichts Gutes. Sobol wiederum legt die Erschaffung der Ghetto-Welt in Luzifers (Kittels) Hände, und der Überlebende, der Puppenspieler und Direktor des Ghetto-Theaters mit dem Namen Srulik, wiederholt am Ende die Frage des Anfangs: „Unsere letzte Vorstellung...?" Die Rückkehr des Endes zum Anfang - Zeichen einer in sich selbst kreisenden, einer ausweglosen Geschichte - ist auch in Taboris Kannibalen ein durchgehendes Element. Das Stück spielt in einem „schwarzen Raum", möbliert mit Tisch, Bänken, Hockern, Pritschen, Ofen und einem großen Kessel; aus dem Off ertönen „die Stimmen Sterbender", „die nach ihren Leibgerichten rufen", während sich der Schauspieler, der in der Rolle des Sohnes den „Onkel" (Taboris Vater Cornelius) darstellt, an den leeren Tisch setzt und die bald darauf eintretenden „Gäste" (die Mitbewohner der Baracke in Auschwitz) erwartet; alle gehen hungrig zu Bett (Theaterstücke I, 4f.). Die Einheit des Orts bleibt während des folgenden Spiels gewahrt. In der Schlußszene ertönt aus dem Off eine Stimme, die den Kannibalismus preist und den „lieben Brüdern in Christo" das „Judenherz, in Aspik oder mit einer pikanten Sauce" empfiehlt. Jetzt ist der Tisch gedeckt: In den Näpfen dampft das von den Hungernden im großen Kessel gekochte Fleisch eines zu Beginn des Spiels im nächtlichen Kampf um ein Stück Brot unbeabsichtigt erschlagenen Leidensgenossen. Auf dem Tisch sitzt, aus den Näpfen fressend, der „Engel des Todes", der Nazi-Scherge Schrekinger (73f.). Er entscheidet über Leben und Tod, indem er unter Mordandrohung die Inhaftierten zwingt, vom Fleisch des andern zu essen: Zwei fügen sich, neun werden in die Gaskammern getrieben, während „die Polka des Anfangs" aus den Lautsprechern lärmt. Auch Sobols Ghetto nutzt als handlungsauslösenden Impuls den Hunger und verwendet (in der letzten Szene) die Requisite des Kessels als paradoxes Zeichen der großen Speisung und des gewaltsamen Todes. Zu Beginn der Handlung entdeckt Kittel unterm Hemd
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der Sängerin Chaja eine Tüte mit einem Kilo gestohlener Bohnen, schüttet diese über den Bühnenboden und schickt sich an, die Sängerin zu erschießen. 2 Da schaltet sich Lina ein, die Puppe, die der Bauchredner Srulik führt. Sie bezichtigt Srulik des BohnenDiebstahls, und es kommt zu einem 'Dialog' zwischen Srulik und Srulik-Lina, der jenes den Ghettobewohnern aufgezwungene Dilemma zwischen Wahrhaftigkeit und Verstellung beschreibt, das sich als Leitmotiv durch das gesamte Schauspiel zieht (2. Szene): Srulik:
Sie lügt.
Lina:
Ich lüge?
Srulik:
Sie wird alles sagen, um mich fertigzumachen.
Lina:
Er wird alles sagen, um am Leben zu bleiben! (zu Kittel) Blasen Sie ihm das Gehirn raus. Befreien Sie die Welt von dieser Ratte!
Kittel:
Jetzt reichts!"
Sruliks scheinbar spontan inszeniertes Spiel macht Kittel zum Zuschauer, dann zum Mitspieler und bringt ihn schließlich auf den Gedanken, die auf dem Boden verstreuten Bohnen innerhalb von dreißig Sekunden einsammeln zu lassen. Er läßt das Ergebnis abwiegen; es fehlen sechzig Gramm, und er befiehlt der auf der Bühne versammelten Gruppe, die Fehlmenge in Form von Kunst abzuzahlen. Von dieser Überlebenskunst durch Kunst (Theaterszenen, Lieder, Tanz), die indessen den Tod nur aufschiebt, handelt der größte Teil der Ghetto-Szenen, während andere die vom oben erwähnten Dilemma überschatteten Auseinandersetzungen zwischen Zionisten und Bundisten, zwischen Widerstandsaktivisten und der Ghetto-Polizei thematisieren. Die Bohnenszene mit ihrer willkürlich herbeigeführten Schuld-undSühne-Zuweisung ist zugleich die Gründungsszene des Ghetto-Theaters, ein Akt, den Gens vor Srulik mit den Worten begrüßt: „Es gibt einen Gott im Himmel. Wie lange schon wollte ich dir ein Theater geben!" (3. Szene). Der sarkastische Witz dieser Worte bleibt Gens, nicht aber den Zuschauern verborgen. Denn der „Gott", der das Theater gestiftet hat, handelt nicht aus Weisheit, sondern - als selbsternannter Herr über Leben und Tod - mit diabolischer Unberechenbarkeit: in der einen Hand das automatische Gewehr, die „Schmeißer", in der andern das Saxophon. Er führt von Anfang bis Ende Regie, und ist doch selbst nur Figur in einem weltumspannenden Schauspiel der Geschichte, dessen Ausgang nach Auffassung des in Ghetto auftretenden Tagebuchschreibers Kruk längst abzusehen ist:
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Das Finale des Stücks steht schon lange fest. Als ihr Narren hier einmarschiertet, schriebt ihr damit bereits den letzten Akt. Ihr werdet ihn zu Ende spielen, bis zur letzten Zeile. (19. Szene)
Kruks Worte beziehen sich auf die Nachrichten über die Niederlagen der deutschen Armee im Winter 1942/43, Nachrichten, die den Ghettobewohnern gerüchteweise zu Ohren kommen und Hoffnungen nähren, die das blutige, von Kittel herbeigeführte Ende jedoch als Selbsttäuschung dekuvriert: Kittel mäht sie alle [die sich, Weißbrot in den Händen, um einen großen Kessel Marmelade scharen] mit einer langen Feuergarbe nieder, auch Gens. Im Abgehen hört er Srulik und Lina. [...] Kittel schießt auf sie. Lina sinkt langsam zu Boden. Sruliks Arm wird von der Kugel zerfetzt. Er kämpft sich über die Körper der Schauspieler und wird zum alten Mann der ersten Szene. (22. Szene: Schluß)
Sruliks letzte Verwandlung bringt das Stück wieder zurück in die Gegenwart. Denn in der ersten Szene, dem Vorspiel, schreibt die Regieanweisung als historische Ereigniszeit „1984" (das Jahr der Uraufführung) und als Schauplatz eine „Rollschuhbahn in einem Park, irgendwo in Paris, New York oder Tel Aviv" vor (in der Fassung der israelischen Uraufführung war es ein Apartment in Tel Aviv). „Immer wieder", heißt es über den alten, einarmigen Mann auf der Rollschuhbahn, „hält er an, schließt die Augen, versucht, sich zu erinnern." Sruliks, des beschädigt Überlebenden Monolog sucht das Vergangene zu vergegenwärtigen und deutet zugleich die einer Revue ähnelnde Dramaturgie des folgenden Spiels an: „Ich kann mich noch erinnern ... an die eine oder andere Szene..." Dann erfolgt die Bühnenverwandlung - Materialisierung des Erinnerten: Aus der Dunkelheit taucht „die Bühne des Ghetto-Theaters in Wilna 1942" auf, ein riesiger Kleiderhaufen stürzt auf die Bretter, Kittel mit der Taschenlampe (Luzifer) stapft durch die Kleider und ruft: Chaos! Mach Licht da! Sortieren! Das Trockene auf die eine Seite, das Nasse auf die andere. Männerkleidung, Frauenkleidung, Kinderkleidung. Alles sortieren! Los! (2. Szene) 4
Diese Travestie der Schöpfungsgeschichte, die in der anschließenden Einkleidungsszene ins Wörtliche übergeht, denn 'Travestie' ist Verkleidung, arbeitet mit einer Transkription und ist daher symbolisch zu lesen. Die Kleiderberge gehören zu den Gaskammern, die es in
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Wilna nicht gab, und stehen für die Leiber der Ermordeten. Kittel, „die Schlange", den Sobol mit dem Teufel gleichsetzt, spielt Gott und stellt zugleich die sprichwörtlich deutsche Ordnungswut dar: ein emblematisches Bild für die ruchlos ins Gegenteil verkehrte Ordnung der Welt, die eher den Namen 'Mordnung' verdient. In dieser sind die habituellen Formen des sozialen und moralischen Umgangs sowie die auf sie gemünzten konventionellen Urteilsnormen außer Kraft gesetzt. Das demonstriert vor allem die Person des Ghetto-Leiters, Jacob Gens, die zwischen den 'Selektions'- Befehlen der Deutschen und dem Willen, möglichst viele zu retten, aufgerieben wird. Gens sucht die Zahlen der zu Deportierenden runterzuhandeln oder auf willkürlich bestimmte Gruppen (z.B. Alte und Kranke) zu verlagern, und er schafft Arbeitsplätze: im Theater, in der Schneiderwerkstatt und Wäscherei - Rettung durch Arbeit. Ein paradoxes Unterfangen, da die Schauspieler in „Ghetto" vor allem für und vor Kittel spielen und die Arbeit - Reinigen und Ausbessern von beschädigten Armee-Uniformen - mit dem deutschen Militär die Unterdrücker unterstützt. Die Spielfigur des jüdischen Unternehmers mit dem sprechenden Namen „Weiskopf', die die Ausbesserungswerkstatt im Ghetto organisiert, steht für das Vergessen. Weiskopfs Wäscherei ist das Symbol der Verdrängung; er glaubt an die Rettung durch eine Arbeit, die ihn zum ersten Mal in seinem Leben reich macht: Nehmt euch [redet er die Ghetto-Schauspieler an] ein Beispiel an mir, Kinder. Ich bin nichts Besonderes. Wir sind begabt, wir Juden, mehr als andere Völker. Wenn mehr von uns machen würden, was ich gemacht habe, und aufhören würden zu jammern und zu klagen, dann hätten wir hier ein produktives Ghetto. [...] Auf diese Weise würden wir überleben. (9. Szene)
Doch als Gens ihn auffordert, die Arbeitsplätze zu vervielfachen, weigert sich Weiskopf aus ökonomischer Berechnung und denunziert den Ghettoleiter vor Kittel. Anders die Schauspieler: Sie verwenden die in Weiskopfs Werkstatt gereinigten und geflickten Kleider ihrer ermordeten Leidensgenossen, später auch die der deutschen Soldaten, als Kostüme. Indem sie sich verkleiden, treten sie nicht nur die Nachfolge der Toten an, sie nehmen auf diese Weise auch ihren eigenen gewaltsamen Tod vorweg. Ihr episodisches Spiel, das bewußt improvisatorisch gehalten ist, kommentiert die Ausweglosigkeit der Situation. In der Insulin-Episode (11. Szene) stehen die von den Schauspielern dargestellten Repräsentanten der Religion, des Rechts und der Medizin vor der
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ethischen Frage, nach welchen Kriterien unter den Kranken auszuwählen ist, wenn die Menge des Serums nur für eine geringe Zahl ausreicht. Die Kultur - Recht, Religion, Wissenschaft - kapituliert vor dieser Frage, und das von Schauspielern gespielte Publikum murrt über den 'ethischen Denksport'. In diese Szene dringt Kittel ein. Er verspricht dem 'Publikum' „gutes Theater" und fordert Gens auf, jedes dritte jüdische Kind im Ghetto für den Todestransport zu bezeichnen. Auf diese Weise bestätigt er die in der vorangegangenen Improvisation vom 'Arzt' dem 'Rabbi' entgegengeschleuderten Worte: „Hier entscheiden Menschen alles. Der Wille Gottes? Das ist der Wille von bösen Menschen." In der verkehrten Welt haben, so ist aus dem weiteren Text zu schließen, Ideen wie 'Recht' und 'Gerechtigkeit' keinen Platz. Verkleidungen sowie ständige Rollen-, Genre- und Szenenwechsel auf jener Ghetto-Bühne, in die sich jede konkrete Bühne (in Tel Aviv, Berlin, New York oder anderswo) unversehens verwandelt, sind in Sobols Stück mehr als dramaturgische Tricks. Sie enttäuschen die Erwartungen an ein historisches oder gar dokumentarisches Drama und geben dem Theatralischen, das in den ausführlichen Regieanweisungen zum Ausdruck kommt, eine eigene Dignität. Sobol selbst hat dies als eine gemäße Form des Widerstands gegen das Böse interpretiert. 5 Seine größte, vielleicht auch zweideutigste Wirkung auf Zuschauer und Kritiker zeigt dieser ästhetische Widerstand in den jiddischen Liedern, die, von wenigen Instrumenten begleitet, die gespielten Episoden skandieren. Der Vortrag dieser Lieder, deren Mehrzahl 1942/43 im Wilnaer Ghetto entstand, hält die Erzählzeit der wie aus dem Stegreif realisierten Szenen an und beansprucht eine andere Art der Aufmerksamkeit vom Zuschauer. Denn die Lieder heben nicht nur die Zeit der Erinnerung auf, sondern appellieren direkt, d.h. im Frontalspiel über die Rampe hinweg, an die Empfindungen des Publikums. Auf Kittels Bemerkung „Dann tanzt du durch den Krieg mit einem Lied im Herzen" antwortet die Sängerin Chaja: „Wenn ich traurig bin, singe ich." (18. Szene) Das ist es: die dem jiddischen Kaddisch eigentümliche Mischempfindung aus Trauer und Hoffnung, gesungen von „a geplatzte strune" (von einer gerissenen Saite), die während des Lied- und Musikvortrags die Sinne der Zuschauer gefangennimmt. Der hin und wieder erhobene Vorwurf, dadurch nähere sich das Stück dem Musical und fördere so eine kulinarische Haltung, ist wohl abhängig von der jeweiligen Inszenierung und daher nicht zu verallgemeinern." Wer wie Sobol die theaterästhetischen Darbietungsformen nutzt, um eine antiritualistische These durchzuspielen (ich komme später darauf zurück), der
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hat wohl das Recht, von Gesang und Tanz als den ältesten Medien der Theatralität auf seine Weise Gebrauch zu machen. Jene Lieder und Tänze hingegen, die hier und da auch in Taboris Kannibalen aufflackern, sind von ganz anderer Art. In Sobols Stück stehen sie noch in einem inneren Zusammenhang mit den szenischen Handlungsepisoden, in den Kannibalen aber unterstützen sie die durchgängige Auflösung, werden zu selbständigen - parodistisch verzerrten, bisweilen auch obszönen - Darstellungshandlungen. Die Männer in der Auschwitz-Baracke spielen nicht eigentlich Theater, sondern proben wie in einer Schauspielschule verschiedene Rollen. Die Rahmensituation ist also verdoppelt: mal Theaterwerkstatt, mal KZ-Baracke. Während Sobol den Überlebenden (Srulik) in der Rahmenhandlung als Erzähler auftreten läßt, dessen bruchstückhafte Erinnerungen das Spiel bebildert, wählt Tabori eine weitaus komplexere Form: Die Söhne der Ermordeten erzählen und spielen die Geschichten ihrer Väter nach, mit der Ausnahme der beiden Überlebenden, die vom Fleisch des andern gegessen haben. Selbst Schrekinger, der wie der Text insinuiert, als Wirt einer Kneipe in Düsseldorf lebt, wird von seinem Sohn dargestellt. Ständige Tempus- und Rollenwechsel erzeugen einen verstörenden Effekt: Mal erzählen die Figuren als Söhne im Vergangenheitstempus, während das Erzählte dilettantisch verzerrt gespiegelt wird, mal reden und agieren sie als Väter im metaphorischen Präsens der KZ-Situation. Räume und Zeiten geraten auf diese Weise ins Schlingern, die Brechung beherrscht das Spiel, nicht die Handlungslogik. Ein leitendes Prinzip ist die Konfrontation zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Bühnensituation und Bühnenfiktion. Die Generation der Söhne vermag den Geschichten der Väter keine sinnstiftende narrative Kontinuität zu verleihen. Für den jähen Rollenwechsel paradigmatisch ist die Regieanweisung zu den Dialogen zwischen Schrekinger-Sohn und Schrekinger-Vater, die von der Figur eines Schauspielers zu verkörpern ist: Die Dialoge zwischen Vater und Sohn gehen im folgenden fließend ineinander über, ohne jede Pause. Nervöse Gesten, krampfhaftes Zucken, das sich bis zu tic-artigen Bewegungen steigert, unkontrollierbares Zittern und unmotiviertes Herausschreien einzelner Worte kennzeichnen in zunehmendem Tempo die Redeweise des Vaters. (70)
Überhaupt besteht der Text zu annähernd einem Viertel - mit steigender Frequenz - aus Regieanweisungen, deren größter Teil sich auf Mienenspiel, Gesten, Körpergebärden, Bewegungen und Stimmlagen
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bezieht; es kommt immer wieder vor, daß die Akteure wie Kleinkinder oder Narren reden und spielen. Der so in den Worttext eingeflochtene Subtext schreibt eine körpersprachliche Ausdrucksebene vor, auf der nicht nur Improvisationen und Spiele mit Requisiten vorgetäuscht werden, sondern auf der auch andere als die in Dialogfetzen und -erzählungen artikulierten Geschichten zur Darstellung kommen. Häufig sind das Episoden nackter physischer Gewalt. An einer signifikanten Stelle simuliert eine solche Episode das Umschlagen des Bühnenspiels in den Ernstfall des unkontrollierten Aggressionsausbruchs und hebt auf diese Weise die Logik des darstellenden Spiels - zum Schein - auf: Winzige, unheilvolle Pause. Dann versetzt der Zigeuner Onkel einen Faustschlag, Onkel stürzt vom Hocker, taumelt zwischen den Bänken hindurch und fällt zu Boden. Was folgt, muß den Anschein erwecken, gewissermaßen privater Natur und außer Kontrolle geraten zu sein: Die Spieler treten aus dem Spiel heraus und zeigen die Brutalität der Unmenschen, die sie vorher nur dargestellt haben; für Augenblicke sind sie weder Väter noch Söhne, sondern haßerfüllte Fanatiker. Es wird privat gesprochen; Haas sagt: „Na, das war doch wohl nicht nötig", oder ähnliches; der Zigeuner stürzt sich auf Onkel, zerrt ihn hoch und kreischt: „Wisch den Fußboden auf, Itzig!" Einige reagieren fassungslos erstaunt, man hört: „Seid ihr verrückt geworden?" und „Um Gottes willen, hört doch a u f ' usw. Klaub, verstört, will Onkel zu Hilfe kommen und wird selber von anderen angegriffen, geschlagen und getreten. Puffi zerrt Onkel die Jacke vom Leib und schlägt damit auf ihn ein. Andere werfen sich dazwischen. Das Licht im Zuschauerraum geht an. Der Inspizient rennt auf die Bühne und trennt die aufeinander Einschlagenden unter Ermahnungen. Keuchend lassen sie schließlich voneinander ab. Onkel liegt zusammengekrümmt zwischen den Bänken, Klaub richtet sich stöhnend vor den Pritschen auf. Der Zuschauerraum wird wieder dunkel, in fließendem Übergang geht das Spiel weiter. Alle außer Klaub setzen sich auf die Bänke und schlagen pantomimisch auf Onkel ein, indem sie die rechte Faust klatschend auf die linke Handfläche schlagen, rhythmisch und unerbittlich. Onkel: Was tut ihr? Ich bin doch nicht er! Ich bin ich, sein Sohn! Sie schlagen ihn weiter. (64) Diese Selbstaufhebung des Theaters mit theatralischen Mitteln zieht sich leitmotivisch durch das ganze Spiel: Die Akteure kommentieren wie im Training wechselseitig ihre Spielweisen oder fordern einander auf, diese und jene Szene auszuagieren bzw. abzubrechen. Der meist höhnische Ton, mit dem das geschieht, denunziert den ästhetischen Schein als kindische Vorspiegelung, wozu auch die
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abundanten Wortspielereien mit Zitaten aus biblischen und dramatischen Texten (von Shakespeare bis Beckett) passen. Es zeigt sich eine andere Wahrheit: Die Suche nach der wahren Erinnerung scheitert am Sujet, an der Unvorstellbarkeit des Holocaust. Die Körpersprache der Gewalt kündigt das Einvernehmen über den Sinn der gesprochenen Worte auf. Ja sie dementiert eines der tragenden Prinzipien des ernsthaften Dramas: das Erzählen einer Geschichte im Medium darstellenden Handelns. Hier triumphiert vielmehr als Farce und Groteske das ausführende Organ, der Körper, über die kunstvolle Verkörperung einer Geschichte: Der unabsichtlich Erschlagene schmort als Vater im Topf und prügelt zugleich als Sohn seine Mitund Gegenspieler. Ein anderer sagt wie Hiob Gott seine Meinung, fragt ihn „warum es so enden muß" - in Auschwitz - und mimt sofort darauf den Clown (45f.). Der Sohn des Erschlagenen fragt: „Wo ist mein Vater?" und erhält zur Antwort: „Wir haben ihn aufgefressen und wieder ausgeschissen. [...] Fleisch ist Fleisch, und mein Vater im Himmel kann mich am Arsch lecken!" (57) Tabori wäre nicht der Playmaker, hätte er nicht das Programm seiner kunstlosen Kunst im Text untergebracht. Es sind die Worte, die er den Darsteller seines Vaters in der Rolle des Sohns über das Schauspielen sprechen läßt: Ich trug keine Maske, ich scheute mich nicht, mich zu entblößen bis auf die Knochen, um zu zeigen, was das ist - der Mensch! Und kratzt man ein bißchen daran, gleich kommt ein Jude zum Vorschein - Beifall - und das war den Damen im Parkett natürlich zuviel. Ihr werdet es nie begreifen, aber als Kind hab ich entsetzlich gestottert - so ... Er stößt unartikulierte Laute aus. die Zunge krümmt und windet sich, die Hände vollführen Flatterbewegungen. Ich habe es überwunden - - schiere W-w-w-willenskraft - Er schlägt sich auf den Schenkel und ins Genick, um das Wort herauszubringen. - - aber selbst dann, als Sieger über meine Behinderung - - jedesmal, wenn ich da oben stand, fühlte ich in mir, da, wo alle Kunst anfängt, hier unten hinter dem Schamhaar - - immer ein Zucken und - - F-f-f-flattern... Um dieses Wort herauszubringen, umkreist er, während seine Zunge konvulsivische Anstrengungen vollführt und die Hände wild gestikulieren, die Bühne; die anderen wenden sich ab und bedecken das Gesicht mit den Händen. Er hält inne und spricht ins Publikum. Und Scham. Pause (34f.)
Die Szene wirkt grotesk und peinlich, da sie die Kunst in der Selbstentblößung sucht und das pantomimisch in der Überwindung eines körperlichen Gebrechens illustriert. Wie großsprecherisch ist die vorangegangene Selbstanpreisung „Seht euch meinen Mund an, meinen
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herrlichen Mund. Hier betrachtet meine Zunge! Habt ihr jemals so eine Zunge gesehen?" und wie erbarmungswürdig die anschließende Pantomime. Bricht die Darstellung des Kannibalismus mit einem Tabu, so bricht die verkörperte Kunstauffassung mit dem Credo der ästhetischen Sublimierung. Sie entblößt die Scham, um zu „zeigen, was das ist - der Mensch!" Zum Vorschein kommt ein moribundes, kaum zu domestizierendes Tier, das, ist es ein Jude, sich nicht anders als die andern verhält und dennoch von diesen als Paria angesehen wird.
III In seinen späteren Schriften hat Tabori versichert, es komme ihm nicht auf „Ästhetik" an, sondern auf „Anthropologie". 1 Seine Lehrer und Anreger - der Theatermann Strasberg und der Psychotherapeut Perls - hätten diese Aussage wohl unterschrieben. Denn Taboris anthropologisches Theater knüpft als Schauspielertheater Selbsterfahrung an Therapie, um den sinnlichen Kern des Spiels - Stimme und Körpersinne - freizulegen, den die artistische Konvention nur zu leicht verbirgt. Das mag an Grotowsky und Artaud erinnern, doch mit deren Vorliebe für Ritual und Magie hat das anthropologische Theater nichts zu schaffen. Ohnehin würde jeder Versuch, den Holocaust rituell zu inszenieren, nur in jene Sackgasse führen, die Peter Brook „deadly theatre" nennt. Tabori ist nicht von ungefähr ein Bewunderer Becketts; will sagen: die dramatische Rede ist für ihn kein bloßer Spielanlaß, sondern eine Partitur der Widersprüche. Ein Grundwiderspruch liegt für ihn im Zusammenprall zwischen der im Text vorgeschriebenen Rolle und der Person des Schauspielers. Die Person hinter der Maske - so lautet die geläufige Übereinkunft - hat der Spieler, soll er probehandelnd Rolle und Maske (= persona) eines andern übernehmen, unter Kontrolle zu bringen. Die extremen Körperaktionen aber, die Tabori den Schauspielern abverlangt, gehen 'unter die Haut' und 'an die Nieren'. Das schafft eine schmerzhafte Spannung zwischen Spiel und Ernst, die bewußt die Aktion zwischen Absturz und Banalität schlingern läßt, um auf diese Weise Kunststil und kulinarische Haltung zu konterkarieren. Taboris Kannibalen enthalten bereits das Rezept, das auch seinen späteren Produktionen zugrundeliegt. Man kann sich fragen, ob diese Art des Anti-Theaters nicht als eine bloß individuelle Obsession oder antiprofessionelle Deformation zu deuten ist, deren Verfahren zudem auf die von Strasberg entwickelte Programmatik des „sensitive me-
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mory" im Schauspielertraining zurückgreift. Denn was Tabori den Schauspielern und zugleich dem Publikum zumutet, hat mehr mit schmerzhafter Selbsttherapie als mit ästhetischer Formbeherrschung zu tun. Eine Antwort findet sich in seiner „Es geht schon wieder los" überschriebenen Einleitung zur Dokumentation der Shylock-Improvisationen von 1979 (München): Was das Theater die Wissenschaften lehren könnte, ist, daß wahre Erinnerung nur durch sinnliches Erinnern möglich ist: Unmöglich ist es, die Vergangenheit zu bewältigen, ohne daß man sie mit Haut, Nase, Zunge, Hintern, Füßen und Bauch wiedererlebt hat."
Nicht die wissenschaftliche Erklärung der Nazi-Verbrechen, ihre wohlgeordnete historische Erzählung, hebt die „peinigenden Erinnerungen" auf, sondern allein die mit starken Mitteln operierende Simulation der Pein selbst: die „Erinnerung an die Nacktheit" des ganz gewöhnlichen Menschen, die der andere durch Mord aus der Welt schaffen will. Nacktheit, das ist die Entblößung der Scham, die der Onkel, Taboris Vater, in den Kannibalen demonstriert, was aber nicht als Darstellung des christlichen Ecce-homo-Motivs mißzuverstehen ist. Der Text spielt vielmehr mit diesem Motiv wie mit dem des christlichen Abendmahls, um beide zu entritualisieren. Denn den Erschlagenen wie den Mörder verbindet der unter gesellschaftlichen Tabus begrabene Wunsch, sich dem andern in schamloser Nacktheit als Liebender zu offenbaren. Vielleicht ist das als Hinweis auf einen Naturzustand der Unschuld zu verstehen, vor dem alle Unterschiede als bloße Willkür erscheinen. Wie dem auch sei, Tabori spricht hier vom „Geheimnis", das übrigens „auch über dem Verhältnis von Juden und Deutschen" liege und kommentiert das auf seine Weise: Mord ist ebenso sinnlich wie Sex und noch intimer, die äußerste Verletzung der Haut. Er ist, darüber hinaus, für Mörder, Opfer und Zeugen gleichermaßen peinlich. Es mag von Nutzen sein, ihn vom moralischen oder rechtlichen Blickwinkel aus zu betrachten, aber verstanden kann er nur werden durch die Erfahrung. Die Gaskammern waren eine bewußte Methode, den Mord zu entsexualisieren, aber der nackte Menschenhaufen, der zurückblieb, enthüllt sich bei näherer Betrachtung nicht als Dreck sondern als eine Pyramide von Liebenden. In ihren verzerrten Gesichtern und ihren qualvollen Umarmungen liegt ihr Geheimnis verborgen. Wer mag dieses Geheimnis berühren, schmecken, küssen?"
Taboris Verfahren will die Wunde der Erinnerung offenhalten. Es erregt Anstoß und scheut nicht davor zurück, gegen das zu verstoßen,
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was der 'gute Geschmack' vom Theater erwartet: Pietät und einstimmende Unterhaltung. Der Text der Kannibalen spielt offensiv mit dem christlichen Ritual des Abendmahls, Mein Kampf mit dem der Nächstenliebe und Nathans Tod mit dem der religiösen Toleranz. Die Entblößung der Scham aber ist doppeldeutig. Sie erinnert nicht nur an die Geburt der Kunst aus dem Eros. Scham erfaßt auch den Schauspieler, der sich der Tatsache bewußt wird, daß er nicht die eigene, sondern die ihm vom Text, ja von der Theatertradition soufflierte Rede spricht und spielt. Die Offenbarung des Soufflierten als Zitat und Klischee durch den Spieler ist indessen ebenso wenig ein Ausweg wie Taboris Paradox der gestellten Spontaneität. Und so erscheinen seine Figuren als Gefangene nicht nur der Gewalt, sondern auch des eigenen Zeichensystems, das sie mit eben denselben Mitteln zu durchbrechen suchen, die ihre Spontaneität an die Kette legen. Auch Sobols Arbeiten, die dem Pirandello-Typus des Reflexionstheaters nahestehen, verstoßen bewußt gegen die öffentlichen Rituale der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. 10 „Mit Weiningers Nacht und Ghetto", schreibt er im Programmheft des Bremer Theaters, „habe ich versucht, die schwierige Beziehung zwischen Judentum, dem Staat Israel und dem Zionismus darzustellen." Sobols Theater ist nicht anthropologisch, sondern politisch und vertraut auf die Kraft der ästhetischen Erziehung. Es übt Kritik an jener Mythenbildung des kollektiven Gedächtnisses in Israel, die den bewaffneten Widerstand als wichtigstes Identitätszeichen feiern möchte, ohne die Militarisierung des Bewußtseins zu fürchten. „Gens - das bin ich." sagt er in einem Interview" und übernimmt damit die Rolle dessen, der vorschnell als Kollaborateur verurteilt worden ist, weil er mit den Mördern um die Zahl der Überlebenden feilschte und der Kultur dem Ghetto-Theater - eine größere Bedeutung im Kampf um die Selbsterhaltung im Sinne der Selbstachtung einzuräumen bereit war, als dem bewaffneten Widerstand. Sobols Ghetto ist nicht zuletzt ein Kommentar zur Zeitgeschichte, der das Eingreifen des israelischen Staates in den Libanon-Krieg (1984) aus prinzipiellen Gründen nicht gutheißen kann. Was der Autor fürchtet, das ist die Verbreitung und politische Legitimierung ähnlicher rassistischer und aggressiver Verhaltensmuster, wie sie in Nazi-Deutschland zum Massenmord an den Juden geführt haben. In Ghetto ist das Theater Ort nicht nur des moralischen Widerstands, sondern auch des Widerstands gegen die Illusion, den andern mit den Waffen der Gegengewalt schlagen zu können. Sobol vertraut anders als Tabori auf die Fähigkeit des theatralischen Spiels, im Ich des Zu-
Gestörtes Einvernehmen
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schauers das Verständnis für den andern, selbst für den Gegner, freizusetzen: Im israelisch-palästinensischen Konflikt sind Juden und Palästinenser j e weils zum Schatten des anderen geworden. D i e Palästinenser sprechen manchmal von sich als von „den neuen Juden des mittleren Ostens" oder „den Juden unter den Arabern." [...] Wenn es die Rolle des Schauspielers ist, Rollen zu spielen, dann ist es ihre Rolle, sich in unsere Schatten zu verwandeln, so daß wir, wenn wir die Rollen mit unseren Schatten tauschen, uns selbst beobachten und betrachten können. Es gibt
keine
menschliche Erfahrung, die so viel Kraft verleiht und s o belebend ist w i e die, in totaler Freiheit die Rolle des eigenen Schattens zu spielen. 12
Anmerkungen: ' Tabori: Meine Kämpfe, S. 135. !
Eine Anspielung auf einen Vorfall im Ghetto, in dessen Verlauf eine Sängerin, die Hülsenfrüchte organisiert hatte, ermordet wurde.
' Ich zitiere hier und im folgenden Sobols Text nach der vom Autor revidierten Essener Fassung, die im Programmheft des Theaters Bremen abgedruckt ist. ' In der vom Autor autorisierten Mannheimer Fassung lautet Kittels erstes Wort in Übereinstimmung mit Genesis 1.1: „Tohuwabohu!" ' Sobol: Jeder im Ghetto, S. 7. 6
In der 1984 unter Peter Zadeks Regie am Theater der Freien Volksbühne in Berlin realisierten deutschen Uraufführung (Sängerin: Esther Ofarim, Musik: Peer Raben, Choreografie: Hans Kresnik) stand dieser Effekt m.E. zu sehr im Vordergrund. Vgl. auch Marleen Stoessels Kritik an der Rollengestaltung, in: Theater heute 8 (1984), S. 4ff.
7
Tabori: Unterammergau, S. 9.
" Tabori: Ich wollte meine Tochter läge tot, S. 12. ' Tabori: a.a.O., S. 13. 10
Vgl. Gabriella Muskati-Steindler: Yehoshua Sobol e Luigi Pirandello. Concretezza e imaginario in due grandi commediografi del nostro tempo. In: Rassegna Mensile di Israel LIII (1988), S. 21-34.
" Sobol: Jeder im Ghetto, S. 9. 12
Sobol: Im Reich der Schatten. In: Theater heute 4 (1992), S. 68.
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Dietrich H a r t h
Literatur: - Arad, Yitzhak: Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust. New York 1982. - Brook, Peter: The Empty Space [1968]. London 1990. - Ehrmann, Frantisek et al. (Hg.): Terezin. Prag 1965. - Ein Ghetto im Osten: Wilna. 65 Bilder von M. Vorobeichich. Reprint der Ausg. v. 1931. Berlin 1984. - Hermann Kruk - Bibliothekar und Chronist im Ghetto Wilna. In: Laurentius. Von Büchern und Bibliotheken, Sonderheft 1988. - Ohngemach, Gundula: George Tabori. Frankfurt/M. 1993. - Perls, Frederick Solomon: Das Ich, der Hunger und die Aggression [1947]. Stuttgart 1985. - Pinchuk, Ben-Cion: Sovietisation and the Jewish Response to Nazi Policies of Mass Murder. In: Jews in Eastern Poland and the USSR, 1939-46, ed. N. Davies & A. Polonsky. London 1991, S. 124-137. - Pinkus, Benjamin: The Jews of the Soviet Union. The History of a National Minority. Cambridge 1988. - Rokem, Freddie: Memory and History: „The Soul of a Jew" by Jehoshua Sobol. In: Assaph C, No.5 (1989), S. 139-164. - Schoenberger, Gerhard (Hg.): Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 19331945. Frankfurt/M. 1991. - Sobol, Joshua: Ghetto, hg. v. H. Schweizer. Berlin 1984. - Ders.: Jeder im Ghetto mußte durch diese Hölle gehen. In: Theater heute 8 (1984), S. 6-9. - Ders.: Ghetto. In a version by David Lan. London 1989. - Ders.: Ghetto [Programmheft u. Dokumentation], Maxim-Gorki-Theater Berlin 1992. - Ders.: Ghetto [Essener Fassung], Theater Bremen 1992. - Ders.: Das Ghetto Triptychon [Programmheft u. Dokumentation], Nationaltheater Mannheim 1993. - Tabori, George: Hamlet in blue - der deutsche Hamlet. In: Theater heute 6 (1978), S. 17-20. - Ders.: Ich wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren. Improvisationen über Shakespeares Shylock. Dokumentation einer Theaterarbeit, hg. v. A. Welker & T. Berger. München 1979. - Ders.: Unterammergau oder Die guten Deutschen. Frankfurt/M. 1981. - Ders.: Meine Kämpfe. Frankfurt/M. 1993. - Ders.: Theaterstücke I & II. Frankfurt/M. 1994. - Uberman, Iwona: Auschwitz im Theater der „Peinlichkeit". George Taboris Holocaust-Stücke im Rahmen der Theatergeschichte seit dem Ende der 60er Jahre. (Diss.) München 1995.
Das Gefängnis der Erinnerung Erzählstrategien gegen den Konsum des Schreckens in Ruth Klügers weiter leben Irmela von der Lühe Für den ungewöhnlichen und andauernden Erfolg1 von Ruth Klügers Autobiographie weiter leben gibt es gewiß viele Gründe; sie mögen mit der gern als „trotzig" bezeichneten Ausstrahlung der Verfasserin, mit ihrem sarkastisch-lakonischen Stil und nicht zuletzt mit der Tatsache zu tun haben, daß Ruth Klüger offensiv und provokativ als Frau spricht. In einem Interview hat die „späte Erfolgsautorin" erklärt, sie habe sich deswegen nicht früher zur Aufzeichnung ihrer Erinnerungen entschlossen, weil „die Zuhörer fehlten. Man schreibt nicht für sich selbst"2. Tatsächlich durchziehen ihre Autobiographie aber zahllose andere Erzähl- und Schreibbarrieren, die als solche auch formuliert und diskutiert werden. Da ist zum einen die „Tradition" autobiographischer Lagerliteratur, die sich nicht einfach ignorieren lasse, „so daß ich heute nicht von den Lagern erzählen kann, als wäre ich die erste, als hätte niemand davon erzählt, als wüßte nicht jeder, der das hier liest, schon soviel darüber, daß er meint, es sei mehr als genug, und als wäre dies alles nicht schon ausgebeutet worden - politisch, ästhetisch und auch als Kitsch." (79)3 Mit radikaler Aufmerksamkeit begegnet die Autorin dem eigenen Schreiben und seiner möglichen Rezeption, die der Text zugleich appellativ zu steuern versucht: Liebe Leserin, Bücher wie dieses hier werden in Rezensionen oft „erschütternd" genannt. Der Ausdruck bietet, ja, er biedert sich an. Ein Rezensent, der so über meine Erinnerungen schreibt, hat nicht bis hierher gelesen. (199)
Zum Risiko mangelnder Originalität kommt das Risiko einer falschen, einer verkitschten Lektüre; auch damit aber sind die der Autobiographie sich entgegenstellenden Hemmnisse, die zum Gegenstand des Textes selbst werden, noch nicht vollständig benannt. Es sind nämlich genuine Fremdheiten und Diskrepanzen, die in Konfronta-
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tion mit der Vergangenheit aufbrechen, die die Erinnerung zum „Gefängnis" werden lassen und die autobiographische Darstellung immer erneut gefährden. Noch kürzlich hat Ruth Klüger diesen Gedanken so formuliert: Je größer die zeitliche Distanz, desto unverständlicher wurde das Geschehen jener Jahre. Auch mir scheint es manchmal, daß die Erinnerungen, die ich im Gedächtnis herumtrage, mir fremd sind: sie sind der Person fremd, die ich seither geworden bin. Wenn das stimmt, so nähert sich das Lebensgefühl der Überlebenden der KZs immer mehr dem Lebensgefühl derer, die nicht dabei waren. Und vielleicht ist das ein Grund, warum sich heutzutage leichter darüber schreiben, lesen, filmen läßt. Ich meine, die vergangenen fünfzig Jahre stiften eine Gemeinsamkeit, aus der wir alle mit verwandtem Staunen auf das Morden der frühen vierziger Jahre zurücksehen. 4
Den Heiligenschein seiner „Unsagbarkeit"5, den nach Ruth Klüger der Holocaust theoretisch und literarisch inzwischen bekommen hat, destruiert sie in ihrer Autobiographie nachdrücklich; diese Destruktion erfolgt als „narratives Denken" 6 , als ein Erzählen von und in Diskrepanzen und Fremdheiten. Bereits an früher Stelle von weiter leben thematisiert Ruth Klüger die problematische, weil letztlich unaufhebbare Diskrepanz zwischen Erinnerungsbildern und Phantasie. Ihrem Gedächtnis, so erzählt die Autorin, habe sich das Bild ihres Vaters, der höflich grüßend und den Hut ziehend mit der Tochter durch die Straßen Wiens geht, tief eingegraben. In ihrer Phantasie aber, gegen die sie genauso machtlos ist wie gegen ihr Gedächtnis, sieht sie ihn "elend verrecken, ermordet von den Leuten, die er in der Neubaugasse begrüßte, oder doch von ihresgleichen" (27). Zwar hat sie ihren Vater, der sich zunächst aus Wien nach Frankreich hatte retten können, dort interniert und nach Auschwitz deportiert worden war, auch gefürchtet, d.h. zu den irreversiblen Erinnerungsbildern gehört auch das Gefühl erniedrigender, ungerechter Bestrafung (30). Aber im Gegensatz zur Mutter, mit der die Tochter die Erfahrung von Deportation, Lager, Flucht und Rettung teilt, läßt sich aus den Erinnerungen an den Vater keine zusammenhängende Geschichte machen. Die Kindheitsbilder sind nichts als Splitter, Mosaiksteinchen, aus denen sich für die Erzählerin, die erschreckt konstatiert: „Mein Gott, ich bin so viel älter geworden als er je war" (18), kein Ganzes ergibt. Andererseits werden die Kindheitsbilder zum Material für eine retrospektive Deutung der Vaterfigur; der Autobiographin erscheint er als Mensch „mit absoluter und doch falscher Autorität", als „Tyrann von wunderbarer Leuchtkraft"
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(32), als „letzte Instanz in allen Fragen", gleichwohl zwiespältig und unkalkulierbar, als jemand, auf den man sich schließlich nicht verlassen konnte. Die gedankliche und erzählerische Anstrengung der Autorin kann also gar nicht der Rekonstruktion eines aus liebenswerten und furchterweckenden Zügen zusammengesetzten Vaterbildes dienen; denn selbst, wenn es gelänge, wäre es ein Produkt aus „Rührung" und „Eigenliebe". Die Erinnerungsszenen entstammen gleichsam „Rumpelkammern", in denen sie „genüßlich abstaubend" (27) vielfältig montierbares Erzählmaterial findet. Die Diskrepanz zwischen Erinnerungen und Phantasien erscheint der Erzählerin also nicht nur als psychologisches, existentielles Phänomen, das es zweifellos auch ist; die Diskrepanz wird vor allem zum erzählerischen Problem, dessen prinzipielle Unlösbarkeit wiederum Gegenstand des autobiographischen Berichts wird. An mehreren Stellen ihres Buches wird es thematisiert; etwa wenn es zu Beginn heißt, der Vater habe keine „Ellenbogen" gehabt, sich nie vorgedrängt und deswegen einst nur in der zweiten Reihe gestanden, um die nach ihrem ersten Tag aus der Schule kommende Tochter zu erwarten. Diese ihrerseits glaubte, als einziges neueingeschultes Kind nicht abgeholt worden zu sein (18). Des Vaters Erklärung indes erfüllt die eben Sechsjährige mit Stolz: „Warum sich vordrängen, wir hab'n ja nix zu versäumen" (ebd.); dieser Satz habe den Vater zu einer beeindruckend vornehmen Erscheinung und alle anderen, die mit „Ellenbogen" ausgestattet waren, zu ordinären Gestalten gemacht. Das Erinnerungsbild und seine sprachliche Verdichtung sind so tief im kindlichen Erleben verankert, daß es, abgeschottet gegen alles von außen Kommende, gleichsam „zur Unwahrheit" (28) verführt, denn - so die aufschlußreichen Überlegungen Ruth Klügers an dieser Stelle - es setzt „den auf ein später entwickeltes Urteil und weiteres Wissen gegründeten Gedanken" (ebd.) immer nur seine „eigene Beschränktheit" entgegen. Zur Diskrepanz der Affekte kommt also die Diskrepanz zwischen Erinnerung und Phantasie, die sich dem erzählerischen Zugriff als „Beschränktheit", als „Gefängnis" oder „Rumpelkammer" in den Weg stellt. Mit solchen wiederum erzählerisch gestalteten Überlegungen widerstreitet Ruth Klüger gängigen erinnerungs- und autobiographietheoretischen Topoi, nach denen der prinzipiell retrospektive Blick auf Kindheitserinnerungen vom teils diffusen, teils bewußt gesteuerten Empfindungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsanspruch eines sein Leben und Erleben bilanzierenden Ichs geprägt ist. Dagegen besteht die spezifische, die existentiell und ästhetisch schwer zu vermittelnde Erfahrung der Überlebenden darin, daß die retrospektive Rundung, die erzählerische Harmonisierung
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von Erinnerung und Phantasie nicht gelingt, nicht gelingen kann. Von solchem 'Mißlingen' handelt Ruth Klügers Autobiographie auch. Die disparaten, auch emotional widersprüchlichen „Vaterfragmente" (28) lassen sich deswegen nicht zur „Tragödie" machen, weil es zwischen der Erinnerung an den liebenswert-lebenslustigen, aber auch grausam ungerechten Vater und der Phantasie über seinen elenden Tod in der Gaskammer keine Verbindung gibt, weil ein „Nichts" zwischen diesen beiden Elementen klafft. Die Leerstelle, so unterstreicht die Autorin mehrfach, ist eine des Gefühls: es gibt intensive Gefühle für den lebenden und für den sterbenden Vater, aber die Vereinigung dieser Gefühle auf eine „untrennbare Person" gelingt nicht. Sie ist unmöglich, weil die Umstände seines Todes und die Phantasien der Tochter darüber die vorausliegenden Erinnerungen „bis zur Ungültigkeit" belanglos machen (27). So wenig sich gleichwohl diese Erinnerungen auslöschen, so wenig lassen sie sich durch andere ersetzen, und eben dieser Umstand der beharrlich resistenten Erinnerungen läßt Ruth Klüger davon sprechen, daß das Gedächtnis auch ein Gefängnis sei, daß man „umsonst an den in der Kindheit geprägten Bildern" rüttele (27). Mit der Irreversibilität der Kindheitsbilder erfährt sie zugleich die Unmöglichkeit gestaltenden, deutenden Erzählens über das eigene Leben. Die als Gefängnis empfundenen Kindheitsbilder - der Vater als witziger und zugleich strafender Mann, der Kinobesuch mit gelbem Stern, die alltäglichen Diskriminierungen in Wien seit 1938 - erlauben keine Geschichte, nicht einmal ein vom Ende her strukturierbares Erzählen. Der Verlust des Vaters, sein Tod in Auschwitz sowie derjenige des Halbbruders Schorschi während der Deportation nach Riga, sind Einbrüche, die auch im Erzählen nicht geschlossen werden können: weder die Tragödie ist möglich, noch kann die Autorin sich zu rührseligen Erzählungen verstehen, derer es gerade in der sogenannten Holocaust-Literatur genug gibt. In der Literaturkritik7 zu ihrem Buch ist zurecht betont worden, daß weiter leben thematisch und in der erzählerischen Anlage von dem Wissen um die Probleme und Risiken des autobiographischen Erzählens durchzogen sei, und zwar sowohl im Blick auf die individuelle als auch auf die strukturelle Seite dieser Schwierigkeiten. Daß sie selbst sich erst sehr spät und zudem aufgrund eines Unfalls zu ihren Aufzeichnungen entschlossen hat, ist dabei von eher untergeordneter Bedeutung; die durchgängig reflexive Haltung ist es, die ihren Text psychologisch, politisch und ästhetisch singular macht und die Martin Walser von der „nimmermüde(n) Erkenntniskritik"* des Buches hat sprechen lassen.
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Die 'intertextuellen' Relationen zu anderen Werken der 'HolocaustLiteratur' hat Ruth Klüger in ihrer Autobiographie direkt benannt: Primo Levi, Tadeusz Borowski, Elie Wiesel und Peter Weiss. In Interviews" hat sie außerdem Thomas Bernhard, Cordelia Edvardson und Christa Wolf erwähnt. Ein fast gleichzeitig mit ihrem Buch erschienener Aufsatz 10 reflektiert Probleme „des literarischen Umgangs mit dem Massenmord" explizit. Am Beispiel der Texte von Elie Wiesel, Primo Levi und Cordelia Edvardson unterstreicht Ruth Klüger hier das prinzipielle Dilemma der „Memoirenliteratur" bzw. der „Erlebnisbücher". Die jeweiligen Ich-Erzähler sind unvermeidlich Identifikationsfiguren, deren Geschichten den Leser bannen und in Spannung versetzen, gerade weil sie überlebt haben. Der 'gute Ausgang', der diesen Werken strukturell innewohnt, widerstreitet auf paradoxe Weise dem Zeugnisanspruch der Texte, die ja um dererwillen geschrieben wurden, die nicht überlebt haben. Über diese Aporie, so zeigt Ruth Klüger sowohl in diesem Aufsatz als auch in ihrer eigenen Autobiographie, können weder inhaltliche noch erzählerische Maßnahmen hinwegtäuschen. Selbst wenn - wie im Falle von Elie Wiesel - der Überlebende sich selbst zutiefst fremd geworden, wenn er in verzweifelter, traumatisierter Identitätslosigkeit (Levi) zurückgeblieben ist oder wenn - wie bei Cordelia Edvardson - Leerstellen im Gedächtnis als Brüche und scharfe Zäsuren im Text erscheinen: „es besteht ... das Paradox, daß in solchen autobiographischen Berichten das Entsetzen über den Massenmord gerade durch den entsetzten Erzähler, der ja nicht ermordet wurde, geschwächt wird."" Für ihre eigene Autobiographie hat Ruth Klüger daraus die Konsequenz warnender, die Leser und Leserinnen direkt ansprechender Interventionen gezogen. Wiederholt wendet sie sich dagegen, ihre „Befreiung", ihr Überleben, das Ende ihrer „Kindheitsirrfahrten" als ein Happy-End aufzufassen (107), ihre Geschichte wie Anna Seghers' Das siebte Kreuz als Roman des Optimismus und der Zuversicht zu lesen. Die von ihr diagnostizierten Aporien einer Literatur der Erinnerung an den Holocaust nimmt sie dennoch nicht zum Anlaß eines Plädoyers für das Schweigen; und die Überlegungen zu ihren „Vaterfragmenten" bedienen auch nicht das Programm eines „Erzählens vom Fehlen der Worte" 12 bzw. vom Ende der Repräsentation. Das Experimentelle im Duktus ihrer Autobiographie liegt denn auch im antinormativen Bemühen um Darstellung, nicht in der beredten Beschwörung der Unmöglichkeit, Unsagbarkeit oder gar prinzipiellen Undarstellbarkeit des Schrekkens.
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Die durchgängig auch selbstkritische Aufmerksamkeit gilt stattdessen allen literarischen und außerliterarischen Formen der Trivialisierung und Sentimentalisierung des Massenmords. Zwar billigt sie der Filmserie Holocaust, mit der gewiß weltweite Aufklärung habe stattfinden können, eine gute Absicht zu, unmißverständlich ist jedoch ihr Einspruch gegen diesen Film und gegen die ihm vorausgegangene bundesrepublikanische „Bewältigungsliteratur"". Beide erlaubten Lesern bzw. Zuschauern selbstzufriedenes Einverständnis mit ihrer Sensibilität, ihrer Mitleidsfähigkeit; der Schwarz-Weiß-Zeichnung von Tätern und Opfern werde eine 'Trivialpsychologie' unterlegt, die das Denken, die wirkliche Auseinandersetzung geradezu unmöglich mache: „alle etwaigen Denkprobleme, die uns das einzigartige Phänomen der Shoah stellt, lösen sich glatt auf in einer Buttersauce von Sentimentalität" 14 . Wiewohl Ruth Klüger Adorno in diesem Kontext nicht erwähnt und obwohl ihr kritischer Rekurs auf sein berühmtes Diktum in ihrer Autobiographie15 entschieden ablehnend ausfällt, ist die gedankliche Nähe zu Passagen aus dem Aufsatz Engagement unübersehbar: Indem noch der Völkermord in engagierter Literatur zum Kulturbesitz wird, fällt es leichter, weiter mitzuspielen in der Kultur, die den Mord gebar. Untrüglich fast ist ein Kennzeichen solcher Literatur: daß sie, absichtlich oder nicht, durchblicken läßt, selbst in den sogenannten extremen Situationen, und gerade in ihnen, blühe das Menschliche; zuweilen wird daraus eine trübe Metaphysik, welche das zur Grenzsituation zurechtgestutzte Grauen womöglich insofern bejaht, als die Eigentlichkeit des Menschen dort erscheine. Im anheimelnden existentiellen Klima verschwimmt der Unterschied von Henkern und Opfern, weil beide doch gleichermaßen in die Möglichkeit des Nichts hinausgehalten seien, die freilich im allgemeinen den Henkern bekömmlicher ist."
Zwar waren die Vertreter 'engagierter Literatur' für Adorno und Ruth Klüger gewiß andere - bekanntlich bezieht sie sich vor allem auf Hans Scholz, Alfred Andersch und Bruno Apitz -, der Gedanke indes, daß der Völkermord affirmativ zum Kulturbesitz zu werden drohe, wenn er als literarischer Sozialkitsch oder tragisch zurechtgestutzte Opferbiographie gestaltet werde, findet sich auch noch in ihrem Essay Kitsch, Kunst und Grauen." Der Gefahr einer Sentimentalisierung und zugleich Kommerzialisierung des Schreckens ist sich die Literaturwissenschaftlerin und Essayistin Ruth Klüger sehr bewußt, und die autobiographische Erzählerin thematisiert dieses Problem in ihrem Buch immer wieder. Anläßlich der Kindheitsbilder vom Vater und der Barriere der Erinne-
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rung ist darauf bereits hingewiesen worden. Die unaufhebbare Diskrepanz zwischen Erinnerung und Phantasie wird für die Erzählerin des eigenen Lebens immer wieder Anlaß, über dessen Erzählbarkeit nachzudenken. Zur Erinnerungsbarriere, zum Gefängnis, das die eigenen Bilder darstellen, kommt die Barriere normierter, vorgeformter und leicht konsumierbarer Deutungen, die sich der Darstellung und der Rezeption der eigenen Geschichte in den Weg stellen: Da sollen wir Überlebenden entweder zu den Besten oder zu den Schlechtesten gehören. Die Rolle, die so ein KZ-Aufenthalt im Leben spielt, läßt sich von keiner wackeligen psychologischen Regel ableiten, sondern ist anders für jeden, hängt ab von dem, was vorausging, von dem, was nachher kam, und auch davon, wie es für den oder die im Lager war. Für jeden war es einmalig. (73)'"
In der Auseinandersetzung mit erlebten und durchdachten Aporien findet Ruth Klüger nicht nur ein Thema, sondern auch eine Form. Gerade mit der Form ihrer Autobiographie reagiert sie auf die Erfahrung der Aporie: die fünf Teile werden nach fünf verschiedenen Orten (Wien - Die Lager - Deutschland - New York - Göttingen) benannt, ein Verfahren, das ihr im Verlauf der Darstellung wieder problematisch wird. An Orte habe sie sich nie wirklich binden können, sie seien ihr immer - wie später dann die Lager - als Gefängnisse vorgekommen; und Ortsnamen seien für sie „wie die Pfeiler gesprengter Brücken" (79). „Denn Flucht war das Schönste, damals und immer noch" (7). Ihre Erinnerungen seien denn auch weniger an Orte und Ortschaften, eher schon an „Zeitschaften" (79) gebunden, an „Ort(e) in der Zeit, die nicht mehr ist" (ebd.). Wiewohl die Kapitelfolge der Chronologie des Lebenslaufs entspricht, arbeiten die einzelnen Abschnitte mit Zäsuren und Brüchen, mit Rück- und Vorgriffen, mit Reflexionen, Aktualisierungen und essayistischen Einschüben, die der Diskrepanz zwischen Ort und Zeit, den von Ruth Klüger formulierten „Zeitschaften", nachsinnen." Lagergeschichten mit typischen Situationen, geringfügig variierten Motiven und Lesereaktionen bewußt steuernden Emotionen gibt es zur Genüge; auch „Kindheitsmuster" ähneln sich, traumatische Vater-Sohn oder neurotische Mutter-Tochter Verbindungen, Schulkrisen und Verlusterfahrungen lassen sich mühelos aufzählen, aber wie läßt sich gegen diese bekannten Muster, trotz der reflektierten Aporien und im Bewußtsein der Gefahr der Trivialisierung das eigene Leben - als Kind in Wien, als Elfjährige in Theresienstadt und anschließend in Auschwitz und Christianstadt, als Abiturientin und Studentin
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zwischen 1945 und 1947 in Bayern, als Bibliothekarin und Germanistin in Amerika und schließlich in der Erzählgegenwart in Göttingen 1989 - erzählen? Wie läßt sich die Einmaligkeit des eigenen Erlebens darstellen und vermitteln, wo doch diesem Leben Behinderungen und Brüche innewohnen, die unüberwindbar und nicht vermittelbar sind? Vor allem - gerade diese Frage treibt die Autobiographin um - wie läßt sich schreiben, wo ständig das Bewußtsein der Diskrepanz zwischen Erinnerung und Phantasie, wo das Gefängnis der Erinnerung der Gestaltungsabsicht entgegenarbeitet? Die Shoah und die Lebensgeschichte einer, die ihr entronnen ist, erscheinen in Ruth Klügers Autobiographie als ein „Denkproblem"2" und als ein Darstellungsproblem. In beiden Fällen geht es aus naheliegenden Gründen nicht um Lösungen, nicht einmal um Modelle, es geht um narrative Versuche, über und mit dem eigenen Leben in einen Dialog zu treten, und zwar nicht nur mit sich selbst, sondern mit den Leserinnen und Lesern. Die klassische Definition und Funktion der Autobiographie ist denn auch auf Ruth Klügers Text nicht anwendbar; sie selbst hat immer wieder betont, daß sie nicht an einer „Selbsttherapie", an der Begegnung mit sich selbst, sondern an der „Kommunikation"21, am Dialog interessiert sei. Tatsächlich ist die erzählerische Grundhaltung von weiter leben eine fast durchgehend dialogische. Das zeigt sich z.B. daran, daß Ruth Klüger Fragesituationen aufgreift, in denen sich das Bewußtsein einer Umwelt spiegelt, die, scheinbar am 'Schicksal' des Lagerkindes Anteil nehmend, dieses doch gründlich mißversteht. Nicht nur Gespräche über das eigene Leben werden zum integralen Bestandteil der Autobiographie, mit der Figur der Gisela aus Princeton wird eine permanente Dialogpartnerin installiert, die all jene Vorurteile, Vorbehalte und phrasenhaften Reaktionen bereithält, über die Ruth Klüger gleichwohl sprechen, gegen die sie mit ihrem Text Einspruch anmelden will. Der Dialog mit Gisela, die „mir blitzsauber und kellnerartig die Gnade ihrer späten Geburt serviert und mir das Pech meiner frühen Geburt ungnädig übelnimmt" (109), macht aus der Autobiographie These und Antithese, Aussage und Widerrede; er verlagert die Erzählinstanz in eine um Verständigung und Auseinandersetzung bemühte Diskussion zwischen einer, die überlebt hat, mit einer, die diesen Umstand mit dem Hinweis auf das deutsche Nachkriegselend und den Verlust ihres Vaters an der Ostfront quittiert (92). Die erzählerisch-dialogische Konfrontation mit solchen Ansichten gehört zum Kern der Klügerschen Autobiographie, denn die Unsäglichkeiten einer scheinbar wohlmeinenden Umwelt prägen die Erfahrungen und das Denken der Überlebenden fast ebenso stark wie die Lagererleb-
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nisse selbst. In der dialogischen Form, die im übrigen auch die direkte Anrede an Leserinnen und imaginäre Gesprächspartnerinnen kennt - „Doch wenn es gar keine Brücke gibt von meinen Erinnerungen zu euren, warum schreib ich das hier überhaupt?" (110) „Aber ich will euch erzählen, daß meine Mutter kein Glück gehabt hat im Leben" (93) -, wird Erzählung und Deutung des eigenen Lebens durch Reflexion auf die Fremdsicht und die Fremddeutung erweitert; der literarische Raum für die Denk- und Darstellungsprobleme der Shoah wird damit ganz bewußt vergrößert, und wenngleich die nicht selten provokanten Positionen der Erzählerin ihn im Grunde schwer machen, so ist der Wunsch nach diesem Dialog unüberhörbar. Pathos und Provokation durchziehen die Gesprächsform der Autobiographie gleichermaßen, die intime Anrede der Briefform („Liebe Leserin", 199) wechselt mit dem aufrüttelnden Appell einer Rede vor großem Publikum („Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung", 141). Immer wieder konzipiert und kontrolliert die Erzählerin die eigenen Geschichten und Erlebnisse und deren Reflexion auf mögliche Reaktionen ihrer „Durchschnittsgesprächspartnerin" hin: „Diese Durchschittsgesprächspartnerin würde meinen Bericht über Theresienstadt triumphierend mit den Worten quittieren, 'Na eben! Sogar besser als im schönen Wien war's in diesem Ghetto'" (85). Der Alptraum, den Primo Levi in Ist das ein Mensch?22 beschreibt, überlebt zu haben und im engsten Freundeskreis für die Erlebnisse keine Zuhörer zu finden, wird von Ruth Klüger in einen realen Dialog überführt und damit in seiner traumatisierenden Wirkung vielleicht begrenzt. Das Prinzip, die eigenen Erfahrungen und die 'Denkprobleme' mit diesen Erfahrungen durch eine Außeninstanz kommentieren und in aller Regel banalisieren zu lassen, macht indes aus dem eigenen Leben nichts weniger als einen beliebigen Gesprächsstoff, es demonstriert und demontiert vielmehr ein reales Prinzip, das Realitätsprinzip der Verharmlosung bzw. Verdrängung, das „alles Geschehen in [eine] beschränkte Vorstellungswelt" einzuordnen sucht. Eben mit diesen unwahrhaftigen Beschränkungen, die Folge von unreflektierter Deutung, nicht etwa Produkt spezifischer Erfahrungen ist, räumt die Erzählerin entschieden auf:
Alle Kriegserlebnisse sollten auf einen einzigen Nenner, nämlich den eines akzeptablen deutschen Gewissens, zu bringen sein, mit dem sich schlafen läßt. So sind die einen in einer Art Schreckensrührung befangen, in der ihnen alle Lager wie in einem Entsetzensnebel, worin man sowieso keine Einzelheiten erkennen kann, verschwimmen, warum es also versuchen? Die wollen nicht hören, daß ich in Theresienstadt letzten
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Endes ein besseres Milieu für ein Kind vorfand als im Wien der letzten Zeit; das wollen sie nicht hören, weil es die klaren Grenzlinien ihres Denkens verschiebt. Und andere, wie meine Gisela, machen es umgekehrt, und weigern sich, von dem gepolsterten Sofa ihres Alltags aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen. Ungetrübt von Informationen, also von außen kommenden Anstößen, oder Einsichten, also durch Nachdenken verursachten Schwierigkeiten, ziehen sie ihre Schlüsse und merken nicht, wieviel Uneingestandenes ihre Vergleiche belastet. Giselas Besserwisserei war unüberhörbar aggressiv. Sicher hat sie mir unter anderem übel genommen, daß ich bei warmem Wetter keine langen Ärmel trage oder auf andere Weise, etwa durch Armschmuck, die tätowierte Auschwitznummer zu verbergen trachte. (85)
Solche Passagen illustrieren paradigmatisch, wie Aufklärung und Analyse in der Form einer dialogisch angelegten Autobiographie zur erzählerischen Strategie gegen den Konsum des Schreckens werden kann. Damit ist kein normsetzendes ästhetisches Verfahren und kein sich selbst verabsolutierendes Denk- und Deutungsmuster für den Umgang mit den eigenen Erfahrungen oder eine theoretisch geforderte „Kultur der Erinnerung" gemeint. Charakteristisch für Ruth Klügers Versuche ist gerade das genuin Literarische, das NarrativReflexive, das die Verallgemeinerung zwar intendiert, ihr jedoch auch gründlich mißtraut. Die zahllosen provokanten Sentenzen („Erinnerung ist Beschwörung, und wirksame Beschwörung ist Hexerei", 79; „Abhängiger als die Frauen sind nur die Kinder, daher sind die Mütter oft so abhängig von der Abhängigkeit ihrer Kinder", 259), die gezielten Tabubrüche und die nicht selten scharfsinnig-lakonischen Pointen (über die Macht der Männer, die Alltagskultur in Kalifornien oder die Psychiater im Nachkriegsamerika) bezeugen mehr als rhetorisch-stilistische Routine; sie werden ergänzt, bisweilen unterlaufen durch die kritische Instanz der Erzählerin selbst, „denn die Sprache liefert ihre Klischees gratis, die abgedroschenen Phrasen und verbrauchten Wörter fallen einem zu wie Vogeldreck auf den Scheibenwischer" (283). Sprachskepsis, Unzufriedenheit mit den Worten, auch den eigenen, wird indes nicht zur Sprachkrise, schon gar nicht zum theoretisierenden Räsonnement über das Unsagbare. Eher konventionell, im erzählstrategischen Anspruch jedoch ausgesprochen konsequent hat Ruth Klüger in ihrer Autobiographie auf modische, philosophischpsychologisch aufgeladene Begriffe für die Schrecken der Kindheit verzichtet. Weder spricht sie vom „Trauma" noch vom Unaussprechlichen der Erfahrung und der Überlebensschuld; stattdessen ist die Rede von „Todesangst" (237), davon, daß sie selbst in den Augen
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des eigenen Mannes als eine jener „Krebskranken" erscheint, „die die Genesenden daran erinnern, daß auch sie sterblich sind" (234), und schließlich begegnet in zahllosen Variationen ein genuin literarisches Motiv: das Gespenst. Der Vater und der ebenfalls ermordete Bruder haben in ihrem Leben den Platz unerlöster „Gespenster" (28), und es ist gerade die anfänglich beschriebene Diskrepanz zwischen disparaten Erinnerungen, die sich nicht durch Lebenserfahrungen mit Vater und Bruder verändern lassen, und der Phantasie über beider Tod, die gespenstische, weil irreversible Dimensionen annimmt. In der Perspektive der Autobiographin wird so auch Wien zur „Gespensterstadt" (67), und anläßlich eines Besuches in Theresienstadt lange nach Kriegsende sieht sie in den dort auf der Straße spielenden Kindern „meine Gespenster" (104). „Vom Gespenst meines Bruders will ich erzählen" (93), heißt es in direkter Reaktion auf diejenigen, die - wie die Freundin Gisela die Erzählungen der Autorin mit dem Hinweis beantworten, sie habe sich ja schließlich retten können und insofern Glück gehabt. Erst am Schluß des Buches enthüllt Ruth Klüger das gesamte Bedeutungsspektrum ihrer „Gespenster"; sie bezeichnen das extrem Fremde, Angstbesetzte und das unaufhebbar Nahe: „Ich bin lang genug mit Gespenstern umgegangen, um sie mühelos als solche zu erkennen. Doch ist der Umgang mit ihnen auch dann desorientierend, wenn man weiß, wo sie sind. Ich beginne, mich mit ihnen auseinanderzusetzen" (279). Zu den Gespenstern der Vergangenheit gehören nicht nur die Toten, die in Auschwitz ermordeten Familienangehörigen, gespenstisch ist ihre plötzliche, zufällige Gegenwärtigkeit, die sich nicht ahnen, nicht voraussehen läßt. Die tatsächlichen Umstände, unter denen ihr Bruder ermordet wurde, erfährt Ruth Klüger zufällig während eines Abendessens im Kollegenkreise in Princeton. Das Gespräch dreht sich um allgemeine Unerklärbarkeiten der menschlichen Psyche, die der Sprecher am Beispiel des Massakers an einem Transport nach Riga erläutert: Er konnte nicht ahnen, daß sein Exempel mich nicht wegen seiner Allgemeingültigkeit, sondern wegen seiner Einzigartigkeit anging. So habe ich die Einzelheiten über Schorschis Tod, die ich mir als Halbwüchsige in New York zusammenphantasierte, in Princeton zum Cognac aufgetischt bekommen, ohne daß der Erzähler es beabsichtigte. Da war sie wieder einmal, die Diskrepanz zwischen dem geselligen Universitätsbetrieb, der mein eigentliches Zuhause geworden war, dem gemütlichen Essen, und diesen aberwitzigen Geschichten, die es gar nicht geben sollte, die einem
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sogar in der Fiktion, im Macbeth zum Beispiel, als des guten Gruseins zu viel erscheinen. Nackte, frierende Gespenster am gedeckten Tisch. (97)
Der Versuch, sich mit den „Gespenstern" auseinanderzusetzen, den Ruth Klüger mit ihrer Autobiographie unternimmt, wirft immer wieder die Frage nach der Form dieser Auseinandersetzung, also nach der Art des Sprechens und Erzählens auf. „Gespenstergeschichten sollte man schreiben können" (28) heißt es im Kontext der anfänglichen Reflexionen über die „disparaten Vaterfragmente", die keine Geschichte ergeben und so den Vater haben zum „Gespenst" werden lassen, das „unerlöst geistert". „Da der Stacheldraht zwischen uns und den Toten" unübersteigbar ist (97), da sich Gespenster in Bildern und Worten nicht bannen lassen, da sie sich zurückziehen, weil sich ihnen die Lebenden offenbar auf falsche Weise nähern, muß einer wirklichen „Auseinandersetzung" daran gelegen sein, ihnen einen Raum, einen Ort zu schaffen. Dieser Ort wäre die „Gespenstergeschichte", die Ruth Klüger mit ihrer Autobiographie selbst zwar nicht geschrieben, für die sie aber die gedanklichen, bis zum gewissen Grade auch die poetologischen Voraussetzungen geschaffen hat. Denn nicht nur mit der Entscheidung, Autobiographie als Kommunikationsversuch statt als Selbsttherapie zu konzipieren, nicht nur mit der dialogisch-argumentativen Form autobiographischen Erzählens, sondern vor allem mit der Wahl des Gespenstermotivs für die leicht konsumierbaren und schnell wechselnden Begriffe wie 'Endlösung', 'Holocaust', 'jüdische Katastrophe' oder 'Shoah' („immer neue Namen, weil uns die Worte dafür sehr schnell im Munde faulen", 147) wird der Versuch eines Sprechens und Erzählens gemacht, das die Singularität des individuellen Erlebens und dessen Kommunizierbarkeit ohne Konzessionen an den Kitsch zu garantieren versucht. Der scheinbar naive Rückgriff auf Unerklärbar-Mythisches, die Rede von den Gespenstern, die im eigenen, aber auch im Leben anderer herumgeistern, ist alles andere als ein Beitrag zur Metaphorisierung oder gar Mythologisierung des Holocaust"; er verweist vielmehr auf jene „Leerstellen" (263) bzw. unaufhebbaren Diskrepanzen, die durch ihn eine Benennung, eine Deutung erfahren.24 Denn: „Wer mitfühlen, mitdenken will, braucht Deutungen des Geschehens. Das Geschehen allein genügt nicht" (127). Deutungen sind für Ruth Klüger anders als für James E. Young und die neueren Theorien der Erinnerung25 notwendige, wiewohl stets zu überprüfende Versuche, „Leerstellen" zu füllen, Dialoge, Diskussionen und das heißt vor allem Denkräume zu eröffnen. Ihre „Erinnerungskritik" und ihr „erinnerungskritischer Stil"26 bleiben am Dialog orientiert, am „Weiterschreiben", um weiter zu sprechen. Ruth Klügers Kritik an den
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„Wiedergutmachungsphantasien"" der Nachkriegsliteratur, auch ihr nicht eben populärer Spott auf Celan bzw. die Celan-Rezeption (127)", vor allem aber jene Passagen ihres Buches, die sich mit der Gedenkstätten-Kultur befassen, zeigen, welche Formen der „Gespensterbeschwörung" ihr verfehlt erscheinen. Auch hier wird der autobiographische Text zum Dialog; zum Dialog mit Zivildienstleistenden, die sich in Auschwitz als „Zaunanstreicher" (71) betätigen, zum Dialog mit Peter Weiss' berühmter Erzählung Meine Ortschaft und schließlich zum impliziten Dialog mit all jenen bundesrepublikanischen Gedenkstättenpädagogen, die sich von diesen „Antimuseen" (237) die Fähigkeit zum Nacherleben, Mitleiden und zur Wachsamkeit für die Zukunft versprechen. Ruth Klüger setzt Fragen dagegen, die an Grundüberzeugungen der offiziellen Erinnerungskultur rütteln und die sich doch auch als Fragen an die eigene Person zu erkennen geben. So wenig „uns" die Gespenster loslassen, denn das verletzte Tabu des Massen- und des Kindermords, der Holocaust insgesamt sei zum Gespenst geworden, so deutlich sei, daß es in den Gedenkstätten eine Heimat bekommt, „wo es spuken darf' (70). Nicht der Totenehrung, der Bewahrung ihres Andenkens diene das KZ-Museum, sondern der Beschwörung und anschließenden Beschwichtigung des Unbehagens seiner Besucher: Es liegt dieser Museumskultur ein tiefer Aberglaube zugrunde, nämlich daß die Gespenster gerade dort zu fassen seien, wo sie als Lebende aufhörten zu sein. Oder vielmehr kein tiefer, sondern eher ein seichter Aberglaube, wie ihn auch die Grusel- und Gespensterhäuser in aller Welt vermitteln. Ein Besucher, der hier steht und ergriffen ist, und wäre er auch nur ergriffen von einem solchen Gruseln, wird sich dennoch als ein besserer Mensch vorkommen. Wer fragt nach der Qualität der Empfindungen, wo man stolz ist, überhaupt zu empfinden? Ich meine, verleiten diese renovierten Überbleibsel alter Schrecken nicht zur Sentimentalität, das heißt, führen sie nicht weg von dem Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle? (76)
Die Warnung vor dem selbstzufriedenen Konsum des Schreckens gerade an dem Ort, wo er sich vollzog, ist - wie bereits die Frageform signalisiert - kein Plädoyer gegen die Bewahrung der Orte, wohl aber eines gegen deren Entlastungsfunktion und gegen die Gewißheit, daß auf diese Weise den „Gespenstern" beizukommen, daß „Erlösung" möglich sei. Auch in den Gedenkstätten nämlich gelingt nicht, was der Autobiographin in ihrer Auseinandersetzung mit den Gespenstern
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nicht gelang, nicht gelingen kann: Sie können die Diskrepanz zwischen Erinnerung und Phantasie nicht überbrücken, das Gefängnis der Erinnerung nicht aufbrechen; der Versuch, den Gespenstern der Vergangenheit an diesem Ort eine Heimstatt zu geben, verschleiert zudem die Diskrepanz, die zwischen dem Konzentrationslager als Ort der Vernichtung und als Ort der Besichtigung unaufhebbar klafft: Dagegen die Todesaura der KZ-Gedenkstätten, diese Antimuseen, die von Auflösung reden: der Ort so konkret, das Geschehen nur noch der Phantasie zugänglich. Und wer weiß, was die daraus macht. War noch nie verläßlich, unsere Phantasie, die so gern von Perversem und Gewalttätigem träumt. (257)
Das Dialogische und das Antithetische in Ruth Klügers Autobiographie zeigt sich auch in Passagen wie den eben zitierten, denn nicht nur kleidet sie ihre Überlegungen stets in Fragen, häufig lesen sich ihre essayistischen Einschöbe als Antworten auf Fragen, die man ihr gestellt hat oder die sie an sich gestellt glaubt. Durchgängig fragend, wiewohl an pointierten und pointierenden Formulierungen orientiert, ist auch ihr Umgang mit dem Gespenstermotiv. Dabei ist offenkundig, daß es um Befreiung oder gar Bewältigung dieser Gespenster nicht gehen kann, vielmehr setzt sie der musealisierenden bzw. banalisierenden Eingemeindung des „Gespenstes" in moderne Erinnerungskulturen eine literarische Auseinandersetzung entgegen, in der Erzählung und Analyse, Autobiographie und Dialog, fragmentarische Strukturen und konventionelle Motive, Gedicht und Essay nebeneinander stehen. Das Gefängnis der eigenen Erinnerung und die gefährliche Sprengkraft von Phantasien stehen sich unverbunden gegenüber; wirklich gefährlich erscheint indes nur zweierlei; das falsche, auf endgültige Deutungen ausgerichtete Sprechen und das Schweigen. Ruth Klügers Autobiographie kann als Versuch verstanden werden, beide Gefahren zu umgehen, ohne damit dem Relativismus oder der Geschwätzigkeit zu verfallen. In ihrer Bilanz der 'Holocaust-Literatur' konstatiert sie, daß die Fülle der jährlichen Neuerscheinungen zum Thema gerade deswegen Unbehagen oder Ekel auslösen könnte, weil diese Literatur die Leser ausschließe; tatsächlich aber müßte es Bücher geben, die das „aktive Mitwirken" der Leser intendierten; mit anderen Worten: dialogische Bücher. Die Autobiographin hat mit weiter leben die Form narrativer und reflexiver Dialogizität erprobt, die Literaturwissenschaftlerin beendet den erwähnten Aufsatz mit folgendem Vorschlag für eine fortzuspinnende Gespenstergeschichte:
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Wenn ich eine frei erfundene Geschichte zum Thema der jüdischen Katastrophe schreiben müßte, so würde ich keinen realistischen Rahmen wählen. Ich würde eine Gespenstergeschichte erfinden, denn ein Gespenst ist etwas Ungelöstes, besonders ein verletztes Tabu, ein unverarbeitetes Verbrechen. Hier ist ein Anfang zu einer solchen Gespenstergeschichte, den ich zum beliebigen Weiterspinnen freigebe. In einen Hörsaal kommt der Geist eines der vielen Erschlagenen, angezogen vom Thema, erfreut, daß seiner gedacht wird. Er setzt sich aufs Podium vorne hin, läßt die Beine baumeln, wie die Demonstranten auf der Berliner Mauer. Das Publikum starrt ihn mit glasigen Augen an, ohne ihn zu sehen. Der oder die Vortragende spricht vom Unsäglichen, vom Unvorstellbaren, vom Unaussprechlichen. Das Gespenst fragt sich, warum der an ihm verübte Mord unsäglich ist. Es gäbe doch ein deutsches Wort dafür: Genickschuß. Und warum unvorstellbar, wenn es doch keineswegs ein Mysterium war, sondern eine blutige Sauerei, am hellichten Tag. Das Gespenst merkt langsam, daß von ihm gar nicht die Rede ist, sondern nur von der Erschütterung des Sprechers, der seine Fähigkeit zum Mitgefühl dem Publikum zur Schau stellt. Und während vom Pult her die Rede ist von der teuflischen Umnachtung der Mörder, denkt das Gespenst an seinen sonnenhellen Todestag und an die Schützen, die ganz gewöhnlich und keine Dämonen waren. Ich denke mir, daß mein Gespenst langsam merkt, daß das Publikum es mit glasigen Augen anstarrt, ohne es zu sehen. Es gibt eben nicht viel Geisterseher. Aber einer sieht es doch, ein gepflegter Herr, Jahrgang 1920, der in der hinteren Reihe sitzt, einer der damaligen Schützen. Der sieht ihn. Und dann würde ich noch eine junge Studentin erfinden, ersten Semesters, die treuherzig und aus einer echten Beunruhigung über die Parteiabzeichen in der Schatulle auf Großvaters Schreibtisch zu uns gekommen ist. Die Worthülsen des Sprechers haben sie eingeschläfert, trotz ihrer standhaften Bemühungen, gut zuzuhören. Sie sieht durch geschlossene Augenlider unser geknicktes und gekränktes Gespenst den Saal verlassen. Sie steht auf und folgt ihm; der gepflegte Herr aus der hinteren Reihe tut dasselbe, durch eine andere Tür. Der oder die Vortragende hat das Gespenst natürlich nicht wahrgenommen und ärgert sich über die beiden Zuhörer, die den Saal vorzeitig verlassen haben. Das wäre so ein Ansatz, den jeder mit ein wenig Phantasie und Verstand aus eigenem Unbehagen und Mitgefühl fortsetzen kann. Ein unfertiges Bruchstück über die Vergangenheit für die offenen Fragen des Weiterlebens. 2 '
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Anmerkungen: 1
Die Rezeption des Buches bis Ende 1993 dokumentieren und analysieren Stephan Braese, Holger Gehle (Hgg): Ruth Klüger in Deutschland. Bonn 1994 (— Kassiber. Texte zur politischen Philologie 1).
2
Erwin Leiser: Ruth Klüger. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Magazin) vom 29.12.
1
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992. (Im folgenden wird aus der
1995, S. 12. Erstausgabe des Wallstein Verlags zitiert; Seitenzahlen im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.) ' Ruth Klüger: Kitsch, Kunst und Grauen. Die Hintertüren des Erinnems: Darf man den Holocaust deuten? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.13.1995 (Nr. 281). 5
Ebd.
* Tzvetan Todorov: Angesichts des Äußersten. München 1993, S. 307. I
Neben der in Anm.l genannten Dokumentation vgl. Dagmar C. G. Lorenz: Memory and Criticism: Ruth Kiüger's 'weiter leben'. In: Women in German Yearbook 9, 1993, S. 207-224.
' Martin Walser: Ruth Klüger zur Begrüßung. In: Braese/Gehle (Hgg) (Anm.l), S. 32. * Vgl. Braese/Gehle (Anm.l), S. 25 sowie das Interview mit J. Shelliem in: Frankfurter Rundschau vom 30.6.1993. 10
Ruth Klüger: Dichten über die Shoah. Zum Problem des literarischen Umgangs mit dem Massenmord. In: Gertrud Hardtmann (Hg): Spuren der Verfolgung. Seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder. Gerlingen 1992, S. 203-
221. " Ebd., S. 210. II
Vgl. Birgit Erdle: Das Verstummen sprechen: Sprache und Sprachlosigkeit in Texten exilierter und deportierter Schriftstellerinnen. In: Denny Hirschbach/Sonia Nowoselsky (Hgg): Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Künstlerinnen der zwanziger und dreißiger Jahre. Bremen 1993, S. 116-131.
" Ruth Klüger: Gibt es ein .Judenproblem" in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: Dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 9-38. " Ruth Klüger: Dichten über die Shoah (Anm.lO), S. 312. " siehe in „weiter leben", S. 122-127. " Zitiert in: Petra Kiedaisch (Hg): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart 1995, S. 53. Die Debatte um Adornos Verdikt ist in diesem Band ausführlich dokumentiert und umsichtig kommentiert. Vgl. außerdem die Beiträge von Klaus Laermann und Detlev Claussen in: Manuel Koppen (Hg): Kunst und Literatur nach Auschwitz. Berlin 1993 sowie neuerdings: Sven Kramer: „Wahr sind Sätze als Impuls...". Begriffsarbeit und sprachliche Darstellung in Adornos Reflexion auf Auschwitz. In: DVjS 70, Heft 3. 1996, S. 501-523. " Vgl. Anm. 4.
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Gegen die z.B. von Viktor E. Frankl und T. Todorov (Anm. 6) beschriebenen „Überlebensstrategien", die die Vermutung nahelegen, die „Besseren" hätten überlebt, hat Ruth Klüger während ihrer Leseieise durch Deutschland mehrfach öffentlich Stellung genommen. Vgl. Braese/Gehle, (Anm.l), S. 28. In welchem Ausmaß die Rezeption des Textes diesen auf „klassische" erzählerische und essayistische Passagen reduziert, untersucht Holger Gehle: „weiter leben" in der deutschen Buchkritik. In: Braese/Gehle, (Anm.l), S. 11-24. Ruth Klüger: Dichten über die Shoah, S. 213. Ruth KlUger im Gespräch mit Marita Pletter. In: Die Zeit vom 3.3.1995. Primo Levi: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht. München 1995, S. 69f. James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt 1992; Dan Diner: Gestaute Zeit. Massenvemichtung und jüdische Erzählstruktur. In: Den.: Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis. Berlin 1995, S. 123-139. Die „Leerstellen" in Ruth Klügers Autobiographie sind deutlich markierte und reflektierte und bieten sich insofern weder einem poststrukturalistischen noch einem „positionalen" Schreib- bzw. Diskurskonzept an. Vgl. für solche Versuche: Neva Slibar: Anschreiben gegen das Schweigen. Robert Schindel, Ruth Klüger, die Postmoderne und Vergangenheitsbewältigung. In: Albert Berger/Gerda E. Moser (Hgg): Jenseits des Diskurses. Literatur und Sprache in der Postmoderne. Wien 1994, S. 337-356. Leslie A. Adelson: Ränderbesichtigung: Ruth Klüger und Botho Strauß. In: Claudia Mayer-Iswandy (Hg): Zwischen Traum und Trauma - Die Nation. Tübingen 1994, S. 85-97. Vgl. zuletzt: Nicolas Berg/Jess Jochimsen/Bemd Stiegler (Hgg): Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte. Philosophie. Literatur. Kunst) München 1996. Darin: Mona Körte: Der Krieg der Wörter. Der autobiographische Text als künstlerisches Gedächtnis. S. 201-214. Martin Walser in Braese/Gehle, (Anm.l), S. 32. Ruth KlUger: Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur? (Anm. 13), S. 12. Vgl. Braese/Gehle, (Anm.l), S. 27. Ruth KlUger: Dichten über die Shoah, S. 220.
Verfolgte Kindheit Überlegungen zu Ilse Aichingers frühem Roman und Georges-Arthur Goldschmidts autobiographischer Prosa Barbara Breysach Ich gehöre zu einer Familie, in der alle solide und heile Schuhe haben. Ich aber weiß, daß man auch mit kaputten Schuhen leben kann. Natalia Ginzburg
In der autobiographischen Holocaust-Literatur existiert eine Anzahl von Werken, in deren Mittelpunkt Jugendliche und Kinder stehen. Für diese mehr oder weniger stark autobiographisch gefärbten Kindheitsdarstellungen erwähne ich beispielhaft Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung, Ruth Klügers weiter leben, Hanna Kralls Sublokatorka (Die Untermieterin), Krystyna Zywulskas Pusta woda (Leeres Wasser), Cordelia Edvardsons Gebranntes Kind sucht Feuer, Sarah Kofmans Rue Ordener, Rue Labat sowie Georges-Arthur Goldschmidts Erzählungen Die Absonderung und Die Aussetzung sowie Imre Kertesz' Roman eines Schicksallosen. Wenn man der Annahme folgt, daß mit dem Ausbruch der Sexualität der „Abschied von den Eltern" (Peter Weiss) und das Ende der Erziehung einsetzen, wenn es stimmt, daß mit der Entdeckung der Triebhaftigkeit auch die Dualität des Trieblebens aus erotischem Verlangen und Todestrieb ihren Lauf nimmt, kann es nicht verwundern, daß diese Texte den Leser mit einer besonders verdichteten Erlebniswelt konfrontieren. Die Todesdrohung der Verfolgung und Vernichtung wurde nicht auf der Grundlage einer intakten Kindheit bzw. einer bereits abgeschlossenen Sozialisation erlebt, vielmehr schrieben sich die Ausgrenzung und Bedrohung in das kindliche Erleben ein. Historisches Los und Triebschicksal sind in den Lebensläufen der Holocaust-Kinder auf engste Weise, wenn nicht unauflösbar miteinander verflochten. Was aber bedeutet das für die literarische Darstellung und ihre
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Analyse? Zu klären ist, ob die Gleichzeitigkeit zweier so mächtiger Lebenszäsuren, zweier so unentrinnbarer Schicksale zu einer Vermischung von Diskursformen führt, die die Darstellung der historischen Ereignisse beeinträchtigt. Führen Stil und Ausdruck die erzählerische Regie über einen Stoff, der, wie der Begriff 'Holocaust-Literatur' suggeriert, unter dem Primat der kollektiven, historischen Erinnerung steht? Wir haben es hier mit Aporien der Darstellbarkeit zu tun, die im Zentrum der jüngsten Forschung stehen. Gibt es die reine, die ungetrübte Darstellung der historischen Abläufe? Ist die Art und Weise, wie sie erlebt wurden, nicht Bedingung ihrer Erzählbarkeit? „Denn die Signifikanz und die Bedeutung, welche die Texte den Ereignissen geben, spiegeln oft nur wieder, wie diese Ereignisse damals von den Opfern begriffen wurden." 1 Demnach werden „die Ereignisse des Holocaust in ihrer literarischen Darstellung nicht nur post factum gestaltet", vielmehr waren sie „schon während sie stattfanden, von den Schemata geprägt..., nach denen sie begriffen und ausgedrückt wurden" 2 . Es wäre falsch, die darstellerische Eigenheit eines Holocaust-Textes gegen seine historische Wahrhaftigkeit auszuspielen. Aber nicht nur das, ich möchte im folgenden auch der These nachgehen, daß sich die Faszinationskraft der oben erwähnten Texte gerade dieser Verquickung von Triebdiskurs und Verfolgung verdankt. Das Lesen versenkt sich in Geschichten einer doppelten Plausibilität. Daß die Holocaust-Erfahrung für Autoren und Autorinnen kein geschlechtsneutraler Hintergrund ist, war bereits Gegenstand verschiedener Untersuchungen, aus denen auch hervorgeht, daß die bei Young analysierte Spannung zwischen den individuellen Erfahrungsmustern und der objektivierbaren Historizität von Erlebnissen zu den Bedingungen von Darstellbarkeit und Lesbarkeit vergangener Ereignisse gehört.' Den skizzierten Phänomenen möchte ich am Beispiel zweier kontrastiv gewählter Werke nachgehen: des Romans Die größere Hoffnung der Österreicherin Ilse Aichinger und der Erzählungen Die Absonderung und Die Aussetzung4 des Deutsch-Franzosen Georges-Arthur Goldschmidt. Aichingers Roman erschien 1948 und ist, von wenigen kürzeren Veröffentlichungen abgesehen, das literarische Debüt einer jungen Autorin, die, ihr Medizinstudium abbrechend, das Trauma ihrer Jugend literarisch bearbeitet. Aichinger reagiert also verhältnismäßig schnell, um einen möglichst präzisen Bericht abzulegen. 5 Georges-Arthur Goldschmidt ist sieben Jahre jünger und debütierte bereits Mitte der 60er Jahre als Schriftsteller in Frankreich. Die hier analysierten Prosatexte sind Goldschmidts deutschsprachige Erstveröffentlichungen, er kehrt mit einer Verzögerung von fast 50
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Jahren zu den Verletzungen seiner Kindheit zurück. Ist in Aichingers Roman das Autobiographische verborgen, aber ohne weiteres dechiffrierbar, so tritt es in Goldschmidts Prosa deutlicher zu Tage. In den Texten beider Autoren spielt sich die Handlung in mittelbarer Folge der Ereignisse ab, nicht auf den Schauplätzen des Holocaust, sondern an geheim gehaltenen Orten, in einem Unterschlupf bzw. in der Halblegalität. Während Goldschmidts Prosa ganz offensichtlich Spiegel einer sexuellen Bedrängnis ist und insofern 'gendered' wirkt, ist dies, wie ich aufzeigen werde, im Falle von Aichingers Roman auf den ersten Blick eher verdeckt, wenn auch nicht weniger wirksam.
II Ilse Aichinger, Tochter einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters, 1921 in Wien geboren, hat die Jahre des Nationalsozialismus in ihrer Heimatstadt erlebt. Aichinger hat durch ihre Anwesenheit ihre Mutter, die bereits seit mehreren Jahren von ihrem Mann in Trennung lebte, vor dem Zugriff der Nazibehörden schützen geholfen. In Gesprächen anläßlich ihres 75. Geburtstages hat die Autorin mehrfach die Bedrohlichkeit der Situation in ihrer Heimatstadt hervorgehoben. Sie war mit ihrer Mutter zusammen in eine Wohnung unweit des Hauptquartiers der Gestapo eingewiesen worden. Aichinger nennt Wien „effektiv" und erinnert daran, daß die Wiener Gestapo besonders gefährlich war. 6 Die Mutter, eine Ärztin, hatte Berufsverbot, ihre Angehörigen wurden sämtlich deportiert, darunter die von Aichinger besonders geliebte Großmutter. Aleksandar Tisma, ebenfalls Kind eines christlichen Vaters und einer jüdischen Mutter, hat das 'Halbjudentum' als ein Schicksal zweifacher Ausgrenzung erlebt und reflektiert. Halbjuden, so pointiert Tisma, waren „nicht zur direkten, absoluten Vernichtung, sondern nur zur Vernichtung ihrer jüdischen Umgebung verurteilt" 7 . Diese 'halbe' Vernichtung mit ihrer schrecklichen Zwiespältigkeit ist der Boden, auf dem Aichinger als junge Frau den Nationalsozialismus erlebt hat, aber auch bereits als Kind den alltäglichen Antisemitismus der Wiener. In ihrer Rede zur Entgegennahme des Großen Österreichischen Staatspreises erinnert die Autorin 1996 an die antisemitische Hetze gegen die Großmutter und die daraus insbesondere für die Kinder resultierende Unfaßbarkeit und Unwirklichkeit des Geschehens. „Der Boden unter unseren Füßen war also nicht da, um sich darauf zu bewegen. Es war der feste Boden, aber ein Boden ohne Gewähr." Die Rassengesetze untergruben die elterliche als schützende In-
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stitution und zerstörten den Familienzusammenhang: „und so habe ich erlebt, was ein 'Mischling' um diese Zeit erlebte und das war vor allem Abschied in vielen Formen, von denen, die auswanderten, die einrückten, die verschickt wurden."' Als die Judenverfolgung ihren Höhepunkt erreichte und Deportation zur Regel wurde, war die Verfasserin ungefähr zwanzig Jahre alt. Ellen, die Protagonistin ihres Romans, die in einer nicht näher benannten Stadt der Verfolgung widerstehen muß, ist mit vergleichsweise ausgesprochen kindlichen Zügen ausgestattet. Diese infantile Charakteristik vermischt sich erst gegen Ende mit der einer heranwachsenden jungen Frau. Das Heranwachsen Ellens, geknüpft an eine zarte Liebesgeschichte mit einem fremden Soldaten, wird durch ihren plötzlichen Tod im Verlauf von Kriegshandlungen abrupt beendet. Im Gesamtbild der Figur sind kindlicher Trotz, Abhängigkeit von der eigenen Phantasie und auch 'Unfertigkeit' die dominierenden Elemente. Die Kindheit Ellens und ihrer Spielgefährten wird in Aichingers in zehn Kapitel unterteiltem Stationenroman als alptraumartig geschlossene Welt dargestellt, die weder ein Dazugehören, ein In-der-WeltSein, noch ein Entkommen, ein Heraustreten aus den Zwängen erlaubt. „Alles ist verloren. Wir kommen nicht mehr über die Grenze." (80)'°, heißt es am Ende des dritten Kapitels Das heilige Land nach einer wilden Kutschfahrt. Dieser resignativen Einsicht widersetzt sich die kindliche Phantasie, die das Hier und Jetzt zum Anderswo macht. „'Wir sind schon darüber', riefen die Kinder. Sie sprangen ab und rannten, ohne sich noch einmal umzusehen, in das Dunkel zurück." (80) Die nationalsozialistische Verfolgung ist als totalitäre Wirklichkeit dargestellt, insofern Kindheit sich auf eben diesem und nicht auf dem der Erwachsenenwelt entgegengesetzten, anderen Schauplatz abspielt. Die Unmenschlichkeit der Rassengesetze ist dadurch gegenwärtig, daß Ausgrenzung und Entwürdigung ganz in das Kindsein hineingenommen sind. Dieser hoffnungslos labyrinthischen Lebenswelt steht eine Logik der Umwertung entgegen, die nur als Negation der Negation begreiflich wird. Aichingers Heldin Ellen ist ein halbjüdisches Mädchen. „Das ist Ellen [...] Zwei falsche Großeltern und zwei richtige. Ein unentschiedenes Spiel" (39), so die anderen Kinder, die damit die spezifische Identitätsproblematik Ellens zur Sprache bringen. Diese ist das Kind einer bereits nach Amerika emigrierten jüdischen Mutter und eines 'arischen' Vaters. Ellen wendet sich konsequent den Kindern mit den vier „falschen" Großeltern zu, die den Stern tragen müssen. Sie begreift - paradoxerweise - Verfolgung nicht als ein Gezeichnet-, sondern als ein Ausgezeichnet-Sein durch den „Stern":
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„Das bedeutet der Stern: alles!" (119), er ist ein Synonym für „die größere Hoffnung". Statt von dem „Nichts" zu sprechen, zu dem das System der Vernichtung seine Opfer macht, läßt Aichinger ihre Kinderfiguren von dem „Alles" sprechen, das der Stern ist. Manfred Karnick hat in seiner Analyse des Aichinger-Romans diesen im Lichte einer „spirituellen Verwandlung der Wirklichkeit in der Literatur der größeren Hoffnung" 11 bzw. als Ausdruck eines „popularisierten Existentialismus" 12 kritisch gesehen. Er unterstellt eine Anpassung an den die Verbrechen verharmlosenden Zeitgeist der ersten Nachkriegsjahre. Tatsache ist aber, daß Aichingers früher Roman der Autorin wenig Resonanz beim Lesepublikum einbrachte, und es von daher fraglich erscheint, das Werk als Ausdruck von Verinnerlichung und Vergangenheitsflucht zu sehen. Peter Härtling und Joachim Kaiser haben dies aus unterschiedlicher Perspektive aufgezeigt." Das „Aichingersche Prinzip Hoffnung" mag anfechtbar sein, aber erst einmal verdient es kritisches Verständnis. Offensichtlich hat Aichinger, aus der spezifischen Perspektive ihres Verfolgtseins und ihres Überlebens in Wien, das Jahr 1945 nicht nur als Befreiung erlebt. Sinnfällig wird dies in ihrer Rede an die Jugend, die von den Existenzbedingungen im Angesicht des Nationalsozialismus handelt: [...] wir mußten auch die Hoffnung, zu fliehen und so vor dem Terror, der rasch um sich griff, gerettet zu werden, in eine Hoffnung verwandeln, die dem Tod standhielt. Damals schloß ich mich einer Gruppe von bedrohten jungen Leuten an. Wir alle waren trotz Bomben und geheimer Staatspolizei von dieser Hoffnung erfüllt. Und als der Krieg immer offenkundiger seinem Ende zuging, bekamen wir Angst vor diesem Ende, Angst vor der Befreiung. Davor, daß wir dann vielleicht nicht mehr im Stand sein würden, jeden Tag als den ersten und letzten zu nehmen [...]"
Auf vergleichbare Weise haben viele Überlebende ihre Erfahrungen aus der Zeit der Verfolgung zum „Archetypus" (James E. Young) ihrer Welthaltung erhoben, so wie etwa auch der Erzähler in Borowskis Erzählung Die steinerne Welt, der nicht mehr zu den bürgerlichen Lebensgewohnheiten des Rasierens, Schuheputzens, Lesens etc. zurückkehren will.15 In der Bildsprache des Romans nimmt die Verlagerung des Verfolgt- und Verlassen-Seins in eine nicht mehr reale Welt der Metaphern, Träume, Phantasmen und Paradoxien vom ersten Kapitel an seinen Ausgang und steigert sich bis zum Ende der Romanhandlung. Ellen rennt, den Stern als Bild vermeintlicher Hoffnung vor sich sehend, in eine tödliche Granate hinein. Die Charakteristik Ellens ist
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mitgeprägt durch Aichingers Auseinandersetzung mit der Widerstandskämpferin Sophie Scholl. So kommt es zu einer Spannungssteigerung in den letzten drei Kapiteln des Romans. Ellen hat jetzt die Wohnung verlassen, die sie zusammen mit ihrer Großmutter bewohnt hatte, sie hält sich auch nicht mehr auf dem Dachboden, dem Versteck der Kinder, auf, sondern hat den Schritt hinaus in die Welt gewagt. Die Ellen-Figur nimmt jetzt kämpferischere Züge an. Waren zunächst die Innenräume mit dem Schrecken der äußeren Bedrohung durchdrungen, so ist jetzt die Außenwelt vom Irrsinn unbewußter, phantasmatischer Strukturen geprägt. Am Ende stirbt Ellen einen Tod im Krieg, der mit ihrem Kampf als Mädchen, als Halbjüdin, als Widerständige kaum mehr Beziehung hat, es sei denn in einem über allen Dingen schwebenden, transzendierenden Sinn. Dem Romanende mit dem schon trivial wirkenden Schlußsatz: „Über den umkämpften Brücken stand der Morgenstern", der zurecht Widerspruch erregt hat16, auf der Handlungsebene einen bestimmten Sinn zuzusprechen, wäre eine nochmalige Überhöhung und Überinterpretation der ohnehin schon ekstatischen Stilistik. Dagmar Lorenz bemerkt in ihrer Aichinger-Studie zur Hauptfigur des Romans: Sie wird [...] nicht in erster Linie als junges Mädchen, sondern als junger Mensch dargestellt. Sie ist nicht an eine geschlechtsspezifische Rolle angepaßt und verfügt über [...] oft mehr Potential als die gleichaltrigen Jungen."
Sie kommt zum Schluß, daß Ellens Geschlecht weitestgehend „keinen Einfluß auf ihre Probleme und Entscheidungen habe".18 Sigrid Weigel relativiert und formuliert, daß bei Aichinger „sehr selten nur geschlechts-spezifische Aussagen" anzutreffen seien.19 Dem widerspricht jedoch bereits die Ordnung der Lebenswelt, in der Ellen sich orientieren muß. Diese ist geteilt in ein sie verleugnendes und ausgrenzendes Vaterland (der Vater dient dem Regime) und ein leeres, verlassenes Mutterland, die Mutter ist in Amerika und die Großmutter nimmt sich das Leben, um der Deportation zu entgehen. Gerade die Darstellungen der Verfolgungssituationen sind bei Aichinger in einen Geschlechterdiskurs eingebunden. Dies ergibt sich schon aus dem autobiographischen Hintergrund der Autorin, denn es ist ja der mütterliche und zugleich jüdische Teil der Familie von den Rassengesetzen bedroht gewesen. Ilse Aichingers Großmutter und andere Familienmitglieder wurden ermordet. Diese für Aichinger überaus wichtige Großmutter taucht als zentrale Romanfigur auf. Die Großmutter hat Ellen strengstens verboten,
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den Stern zu tragen, wozu diese als Halbjüdin auch nicht verpflichtet ist. Sie solle froh sein, daß er ihr erspart bleibe. Aber Ellen wußte es besser. Dürfen, so heißt das Wort: Dürfen. Sie seufzte tief und erleichtert. Wenn sie sich bewegte, bewegte sich auch der Stern im Spiegel. Wenn sie sprang, sprang auch der Stern und sie durfte sich etwas wünschen. [...] Ellen nahm den Saum ihres Rockes zwischen die Finger und drehte sich im Kreis, sie tanzte. (100)
Ellen hat den Stern aus der Nähschachtel der Großmutter entwendet und feiert das Tragen des Sterns ganz naiv als Zugewinn an Weiblichkeit und Nähe zur Großmutter: Sie negiert die nationalsozialistische Realität durch eine weiblich-narzistische Position. Im selben Kapitel ist das erste Mal explizit von Deportationen die Rede. Betroffen ist das Mädchen Anna. „Fahren wir nicht miteinander?" „Nein" sagte Anna, „die Richtung ist verschieden." Sie versuchte, Worte zu finden. „Ich - ich habe die Aufforderung für Polen." Das war es, was sie nicht auszusprechen wagten - die Großmutter, Tante Sonja, alle, alle. (119)
In Aichingers Roman sind Mädchen und Frauen, weibliche Familienmitglieder, von Deportation bedroht. Die Todesdrohung der Vernichtung, vermittelt durch die Metapher 'Polen', kommt als weibliches Drama, als Untergang von weiblichem Narzißmus, zur Sprache. Ein Mädchen spricht aus, was die erwachsenen Frauen verschweigen. Wie nun fügt sich in die geschlechtsspezifische Färbung der Darstellung Ellens Tod ein? In einem Interview hat Ilse Aichinger 1980 einen Hinweis gegeben, der zur Interpretation des Romanschlusses beitragen kann: „Der Krieg ist eine Möglichkeit", sagt sie, „den Tod vor dem Tod zu verstecken, den Tod mit dem Tod zu verdecken. Daß man den Dingen nicht mehr ins Auge schaut, weder dem Leben noch dem Tod. Man sagt ja auch nicht: Ein Soldat ist gestorben, sondern er ist gefallen." 20 Für Aichinger gibt es demnach zwei Todesarten: den Soldatentod und den individuellen, aus dem Leben hervorgehenden Tod. Der Kriegstod ist ein unauffälliger und verdeckter Tod, ein Sterben, das einen Schleier über die Wirklichkeit legt. Ellens Tod ereignet sich in Folge von Kriegshandlungen. Er ist als körperliche Zerstörung dargestellt, die der Transzendenz des Sterns kraß entgegensteht. Der weiblichen Rebellion des Mädchens Ellens stellt sich der entindividualisierte, eher männliche Text des Sterbens im Krieg entgegen.
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Ellens Tod hebt die ohnehin nur begrenzt wirksame Strategie der Negation von Negation auf und bedeutet damit in der Logik von Aichingers Schreibweise einen Verzicht auf eine weibliche Position. Ihre Geschichte wird eingeschrieben in einen geschichtlichen Diskurs, in dem die Frage der sexuellen Selbstfindung verdeckt bleibt, was der Tatsache, daß Verfolgung von Ellen als weibliches Schicksal erlebt wird, diametral entgegengesetzt bleibt. Die Geschlechtlichkeit Ellens ist der Stachel, das Paradoxon der Poetik „der größeren Hoffnung". In der pubertären Wahrnehmung der Mädchenfiguren existiert ein Zusammenhang von jüdischem und weiblichem Schicksal im Nationalsozialismus. Die mehrfach gebrochene Identität eines halbjüdischen Mädchens ist der Subtext von Aichingers Roman, in Ellens Schicksal laufen die Linien verschiedener Perspektiven zusammen. Demgegenüber erscheint die Feminisierung des gelben Sterns als ein Anknüpfen an den Diskurs der traditionellen Geschlechterordnung. Dieser wird bei Aichinger gewissermaßen zitiert, um so zugleich die Erzählweise des vermeintlich geschlechtsneutralen historischen Gedächtnisses in Frage zu stellen. Mir scheint Aichingers Roman ein geeigneter Ausgangspunkt zu sein, um den Umbruch innerhalb der traditionellen Geschlechterordnung im Kontext und in der Folge des Holocaust zu thematisieren.
III Georges-Arthur Goldschmidt wurde 1928 als Kind jüdischer Eltern 1928 in Hamburg geboren. Sein Vater war Oberlandesgerichtsrat, das Elternhaus dementsprechend ein bürgerliches. Die Eltern waren getauft, und so wurden der Autor und auch sein Bruder protestantisch erzogen. Diese unbelastete Kindheit ging im Nationalsozialismus unter, und 1939 entschieden sich die Eltern, beide Kinder angesichts der sich zuspitzenden Bedrohung über den Umweg Italien in ein französisches Kinderheim zu geben. Als Goldschmidt Deutschland verließ, war er zehn Jahre alt, als er in das Kinderheim in Savoyen kam, elf Jahre. Dort wurde seine jüdische Herkunft, die der Heimleitung bekannt war, geheimgehalten. Diese Tatsachen nimmt Goldschmidt in seine autobiographischen Erzählungen auf, sie sind das Material seiner in französisch und deutsch geschriebenen Prosatexte. Der Held der deutsch geschriebenen Erzählungen Die Absonderung und Die Aussetzung, unpersönlich „er" genannt, realisiert erst allmählich, daß das „J" in seinem Paß nicht für Jugendlicher steht, sondern für Jude. Ebenso wie Aichinger und ihr literarisches Spiegelbild ist Goldschmidt und mit ihm sein
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Held traumatisiert durch die neue Ordnung der Rassengesetze. Noch die ironische Schilderung des 65jährigen Autors vermittelt das Gewaltsame und zutiefst Irrationale dieses Eingriffs in das Gefüge der Welt. Aber wer unter seinen Urgroßeltern noch Stehchristen gehabt hatte, wurde als Jude betrachtet. Meine Eltern waren Stehchristen, sie wurden schon als Kinder getauft. Also bin ich nach den Nürnberger Gesetzen, darauf bin ich sehr stolz, ein Volljude. Liegechristen, das waren die Leute, die als kleine Kinder getauft wurden, was mein Fall gewesen ist. Die Stehchristen waren jene, die stehend die Taufe empfingen, d.h. schon denken konnten. Das war Hitlerdeutsch: Stehchristen und Liegechristen. So verrückt war das. Die berühmten Nürnberger Gesetze. 21
Goldschmidts literarische Arbeiten stellen in vielen verschiedenen Varianten den erzwungenen Abschied von den Eltern, das völlige Abschneiden von der Vergangenheit und der vertrauten Umgebung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Allerdings findet diese Zäsur (Die Absonderung) weniger in konkreten Gedanken und Erinnerungen an die Eltern oder Hamburg ihren Ausdruck, wie sie auch erst einem Erwachsenen, der schon zurückblicken kann, möglich wären, sondern vor allem in einer Besessenheit für den eigenen Körper. Während nämlich bei Aichinger der Diskurs der geschlechtlichen Identität und Selbstwahrnehmung im Subtext des Romans und nicht auf der Handlungsebene entfaltet wird, macht Goldschmidt das Problem des „Er-Selbst-Seins" (1/14) zum Ausgangspunkt des Erzählens. Bleibt hinter der Kindlichkeit des Mädchens und seinen harmonisierenden Weiblichkeitsbildern das sexuelle Begehren ein Tabu, entspricht sie so letztendlich doch dem Bild des auch sexuell zum Schweigen verurteilten Opfers, so sind Goldschmidts Held Schuld, Scham und Begehren die ständigen Begleiter. „Die Erfahrung des Autors, der als Kind flüchten mußte, war: nicht der Schuldige flüchtet, sondern der Flüchtende ist schuldig." 22 Das Bild dieser Kindheit ist deshalb von Anfang an stark sexualisiert und niemals 'unschuldig'. Der Elfjährige, der von den Eltern weggegeben wird, um sein Leben zu retten, erfährt dies als Bestrafung. Judesein, sexuelle Empfindungen haben, den eigenen Körper zum Lust-Objekt machen, werden zu einer unheimlichen und unauflöslichen Schuldenlast: [...] wäre er wirklich ein Jude gewesen, er hätte es nie sagen dürfen, wie er auch das andere nie sagen durfte. (1/17) [...] Er hatte in sich
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hineingehorcht und es hatte ihn gewundert, etwas in sich zu haben, vom dem er nichts wußte und nichts fühlte, es war etwas, was den anderen nicht vorgeworfen wurde, und er hatte sofort verstanden, es war das, was er abends im Bett machte, das war es, das Judesein: das Schlimme. (II/14)
Alle Versuche, dieses Anderssein unter Kontrolle zu halten, den Körper 'in ein Korsett zu schnüren', 'sich in eine Gipskluft einzuschließen', sind zum Scheitern verurteilt. Das Abgeschnittensein von der vertrauten Umgebung („Denn es wurde eine ganze Kindheit damit verbracht, sich die Heimat zu vergegenwärtigen", 1/14) findet seine Gegenreaktion in einer obsessiven Beschäftigung mit dem eigenen Körper. Allen aufoktroyierten Beschneidungen widersetzt sich ein masochistisches Lustempfinden. Das Internat in Savoyen akzeptiert der Junge zunehmend als strafende Elterninstitution. Er ist ein Spätentwickler, körperlich gehemmt, ein Bettnässer zudem und wird von den anderen gehänselt. Das Schulheim ist ihm eine überaus strenge, grausam züchtigende Elterninstanz. Das sich immer wiederholende Ritual der körperlichen Bestrafung wächst sich in der Erinnerung zu einem masochistischen Ritual aus, in dem konstante Elemente sich immer wiederholen: das nasse Laken, das Gehänseltwerden, das Geschlagenwerden, das Weinen, das Sich-Abschließen. Mittlerweile sind die deutschen Truppen in der Nähe, er wird von der Heimleiterin gewarnt, die damit ihrer Rolle als Schutz und Zufluchtspenderin nachkommt. Eine Durchsuchung des Dorfes nach Juden steht bevor. Je realer die Bedrohung wird, als desto liebevoller empfindet der Junge die Aufmerksamkeit. Die Köchin des Kinderheims hatte vorgeschlagen, ihn unter ihrem Bett zu verstecken: sie würde dann davorstehen, und kämen die Deutschen, würden sie es mit einer echten Französin zu tun haben. [...] „Sie kommen", sagte die Anstaltsleiterin mit starker, aber zart liebevoller Stimme, als wollte sie ihm, mit den zwei Worten, zu denen sie noch Zeit hatte, zeigen wollen, sie habe ihn trotz allem, trotz der Strafen, doch liebgehabt. (1/170)
Letztlich rettet ihn aber nicht der Schutz der Frauen, sondern eine Selbsterfahrung der männlichen Art. Vor dem aus dem Heim flüchtenden Jungen bauen sich plötzlich drei deutsche Soldaten auf dem Weg auf. Sie erinnern ihn an die Bleisoldaten aus seiner deutschen Kinderzeit. Der Verfolgte betrachtet die Uniformen, die Gürtelschnallen, die Mündung der Maschinenpistolen. Es gelingt ihm, dem starren, kontrollierenden Blick standzuhalten. Er geht an den Soldaten vorbei, hört gierig die deutschen Worte und kehrt unbehelligt zurück ins Heim.
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Er wurde ins Badezimmer geführt, vor der elektrischen Heizung zog man ihn aus, als wolle man ihn wieder für die Prügelstrafe vorbereiten [...] er stand da, nackt, weiß, kindhaft und schuldlos, ein zu hoch geschossener, noch unreifer, kleiner Junge. Er fühlte sein Gesicht vor Röte glühen, vielleicht wußte man, daß er an sich das große Wunder entdeckt hatte. Er sollte keine weitere Nacht im Kinderheim verbringen, die Deutschen könnten sehr gut bei Nacht wiederkommen. (I/176f.)
Die Episode leitet nur scheinbar das Ende der Kindheit ein, doch setzt sich im zweiten Band Die Aussetzung das Drama der Einsamkeit mit allen Folgen der ständigen Introspektion und körperlichen Entfremdung fort. Gleichwohl ist die Begegnung mit den Verfolgern eine Bewährungsprobe im Prozeß der geschlechtlichen Identifikation. In die Geschichte der antijüdischen Verfolgung, in die Geschichte des Exils eines vom Holocaust bedrohten Jungen ist der Geschlechterdiskurs in Goldschmidts Prosa untrennbar eingeschrieben. Die Nacktheit des Körpers wird zum Exil, so wie die französische Sprache einerseits und die französische Alpenlandschaft andererseits eines sind. Goldschmidts namenloser Held trägt den Körper des in seinem physischen So-Sein Bedrohten durch die Landschaft seiner Kindheit. Er wird in der französischen Schule gezüchtigt, so wie er als Jude von den Deutschen gedemütigt und verfolgt würde. Im Heim schützt man zwar sein Leben", aber setzt ihn in seinem Anderssein der Demütigung und Lächerlichkeit aus. Um welchen Preis, so mag man fragen, gelingt Kindern und Heranwachsenden, die noch der Erziehung bedürfen, das Überleben? Viele Überlebensgeschichten bezeugen, daß sie der List der Selbsterhaltung fähig sind. Auch Sigmund Freud räumte der Not der Verhältnisse erzieherische Funktion ein: Die Selbsterhaltungstriebe und alles, was mit ihnen zusammenhängt, sind leichter zu erziehen; sie lernen es frühzeitig, sich der Not zu fügen und ihre Entwicklungen nach den Weisungen der Realität einzurichten [...] Die Sexualtriebe sind schwerer erziehbar, denn sie kennen zu Anfang die Objektnot nicht. Da sie sich gleichsam schmarotzend an die anderen Körperfunktionen anlehnen und am eignen Körper autoerotisch befriedigen, sind sie dem erzieherischen Einfluß der realen Not zunächst entzogen [...]."
Die Not des Exils erzwingt zwar erfolgreich den Abschied von den Eltern, führt aber nicht zu einer körperlichen Selbstkontrolle. Für
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Goldschmidts literarische Spiegelfigur gilt, daß er, um sich seiner selbst lustvoll zu vergewissern, immer wieder bedrohliche Konfrontationen sucht und so masochistisch an das Trauma des Verfolgtseins fixiert bleibt. Der Körper des pubertierenden Jungen, der dem sexuellen Begehren, dem eigenen und dem der anderen, in Permanenz ausgesetzt ist, wird zum tatsächlichen Ort der Verfolgung. Bemerkenswert ist die Erzählweise Goldschmidts, die Tatsache auch der Rückkehr zur deutschen Muttersprache. Mit einer Verzögerung von fünf Jahrzehnten, einer Strategie Peter Handkes folgend: „Alles über sich erzählen und doch nichts verraten", beginnt der Autor, deutsch zu schreiben." Die Zweisprachigkeit Goldschmidts ist mit Sicherheit ein Schlüssel zu seinem autobiographischen Werk. Nicht nur in dem allgemeinen Sinne, daß die Existenz zweier Sprachen die Sensibilität für die eine durch die andere schärft, wie es Goldschmidt in seinem Aufsatz erläutert hat: „Man betrachtet eine Sprache durch die andere."" Sondern auch in dem Sinne, daß die Trennung von Deutschland und den Eltern ein Eintauchen in eine andere Sprache ermöglichte. Der Beginn des Schreibens war an die französische Sprache gebunden und zugleich „Übertragung (diesmal im Freudschen Sinne des Wortes) in eine Sprache [...], in welcher die Erinnerung alles erfinden mußte, ohne es erlebt zu haben" 27 . Umgekehrt ist die Entdeckung des Deutschen als Erzählsprache eine Rückübertragung auf die Sprache des Erlebens, aber, wie der Autor auch betont, keine Rückkehr zur Kindheit. Mein eigenes Schreiben, insofern es um die Kindheit kreiste, drang nicht bis zur Kindheit vor, gerade weil sie in der anderen Sprache stattfand, der Sprache, die mir verboten, aus der ich auf Befehl ausgeschlossen worden war.
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Ausgeschlossen aus dem Deutschen, der Ausdrucksweise der Empfindung, wurde Kindheit zu einem Anderswo, zu etwas beunruhigend Unzugänglichem und Unerschließbaren. Vielleicht erklärt sich von daher auch, daß die Bildwelt der Prosa, die Landschaftsbeschreibungen etwa, bei aller Zartheit der Empfindung immer eine Distanzierung durch die Dominanz, die Unerbittlichkeit und die Dynamik des Trieblebens erfahren.
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IV Goldschmidts Erinnerungen faszinieren gerade in der Art und Weise, wie sie die Erfahrung eines in das französische Exil genötigten Jugendlichen auf der Folie sexueller Obsessionen artikulieren. Die Flucht aus Deutschland, der Verlust der Muttersprache, die Stigmatisierung des Jungen in dem französischen Heim, die Entdeckung der jüdischen Identität, die Bedrohung durch die Deportation und die Nachricht vom Morden in den Konzentrationslagern kurz vor der Befreiung Frankreichs sind Erfahrungen, die in die körperliche Wahrnehmung des Jungen einfließen. Sie sind dieser pubertären Körpersprache aber nicht vorgängig, sondern erhalten in dieser erst ihre Konkretion. Im Bild des Gezüchtigten, für seine Körperlichkeit Gestraften, mit der Figur des Knaben, dessen Körperbegehren aus ihm herausdrängt und der zum immer wiederkehrenden Entdecktwerden verurteilt ist, hat Goldschmidt seinen Archetypus des Nazi-Verfolgten geschaffen. Beide Autoren, Aichinger ebenso wie Goldschmidt, zeigen in ihrem literarischem Werk Kinder als Opfer des nationalsozialistischen Rassismus, die sich vor allem aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität bedroht und schuldig fühlen bzw. in ihrem Geschlecht das Angriffsobjekt der Verfolgung vermuten. Trägt diese Parallelität von Triebschicksal und historischem Schicksal einerseits zur Faszinationskraft ihrer Werke bei, so ist der Artikulation der geschlechtlichen Identität auch ein Widerstandsmoment gegen den Opferstatus inhärent. Im Falle Goldschmidts ist dieses deutlicher und skandalöser als bei Aichinger, deren literarische Leistung mehr noch darin liegt, das Trauma verfolgter Kinder schon 1948 einer Öffentlichkeit zuzumuten, die hierauf lange noch mit Begriffs- und Sprachlosigkeit reagierte.
Anmerkungen: 1
James E. Young (1992): Den Holocaust interpretieren. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt/M., S. 16.
1
Young (1992), S. 20.
' Vgl. dazu die Aufsätze von Sander L. Gil man und Karen Remmler in dem von ihnen herausgebenen Sammelband Reemerging Jewish Culture in Germany. Life and Literature. Since 1989. New York University Press 1994. Vgl. auch Sigrid Weigel (1995): Der Ort von Frauen im Gedächtnis des Holocaust. Symbolisierungen, Zeu-
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genschaft und kollektive Identität. In: Sprache im technischen Zeitalter. Heft 135, S. 260-268. 4
Georges-Arthur Goldschmidt (1991): Die Absonderung. Zürich. Im Text zitiert als (I). Ders. (1996): Die Aussetzung. Zürich. Im Text zitiert als (II).
!
Ilse Aichinger im Gespräch mit Richard Reichensperger aus Anlaß ihres 75. Geburtstages am 30.11.1996 im Literarischen Colloquium Berlin.
' Ilse Aichinger 1995 im Gespräch mit Andreas Knaeschke, am 12.12.1995, SFB. I
Aleksandar Tisma (1996): Zwiespältiges Schicksal. In: Aichingers Gegenwart. Pressedienst zum 75. Geburtstag von Ilse Aichinger. Frankfurt/M.
' Ilse Aichinger (1996): Der Boden unter den Füßen. Rede aus Anlaß der Entgegennahme des Großen Österreichischen
Staatspreises. In: Pressedienst.
' Ilse Aichinger (1990): Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist. In: Samuel Moser (Hg.): Ilse Aichinger. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 23. 10
Dieses und alle folgenden Romanzitate aus der Ausgabe: Ilse Aichinger (1991): Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/M.
" Manfred Karnick (1986): Die größere Hoffnung. Über jüdisches Schicksal in deutscher Nachkriegsliteratur. In: Stéphane Moses/Albrecht Schöne (Hg.): Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Frankfurt/M., S. 381. " Karnick (1986), S. 382. " Peter Härtling (1990): Ein Buch, das geduldig auf uns wartet. In: Samuel Moser (Hg.), S. 141-146. Joachim Kaiser (1990): Freundschaftlicher Widerspruch. Ebd., S. 146-149. M
Ilse Aichinger (1991): Rede zur Verleihung des Weilheimer Literaturpreises 1988. In: Die größere Hoffnung, S. 279f. Ruth Klüger hat Aichingers Roman gerühmt, weil er „nicht nur von der Einschränkung, sondern auch von der Freiheit handelt und daß die Schutzpatronin dieses Romans nicht nur die Angst, sondern auch deren Zwillingsschwester, die Hoffnung, ist." In: Pressedienst.
" Tadeusz Borowski (1987): Die steinerne Welt. In: Bei uns in Auschwitz. Erzählungen. München, S. 204-208. " Vgl. Karnick (1986), S. 375. 17
Dagmar Lorenz (1981): Ilse Aichinger. Königsstein/Ts., S. 8.
" Ebd. " Sigrid Weigel (1987): Schreibarbeit und Phantasie: Ilse Aichinger. In: Inge Stephan/Regula Venske/Sigrid Weigel (Hg.): Frauenliteratur ohne Tradition. Neun Autorinnenporträts. Frankfurt/M., S. 26. 20
Hermann Vinke (1990): Sich nicht anpassenlassen ... Gespräch mit Ilse Aichinger über Sophie Scholl. In: Samuel Moser (Hg.), S. 30.
II
Georges-Arthur Goldschmidt/Hans-Ulrich Treichel (1991): Jeder Schriftsteller ist zweisprachig. Ein Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter. Heft 131. September 1994, S. 276.
" Hans-Ulrich Treichel ( 1994) im Gespräch mit Georges-Arthur Goldschmidt, Ebd. S. 274.
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" In vielen Selbstaussagen unterstreicht der Autor diese Tatsache, so am 31.08.1996 im Gespräch mit Hans-Ulrich Treichel, Wilfried F. Schoeller und Hubert Winkels im Literarischen Colloquium Berlin. Vier Franzosen, so Goldschmidt, hätten ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihn zu retten. " Sigmund Freud (1980): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe Bd. 1, S. 348. 25
Vgl. George-Arthur Goldschmidt (1991): Ein Stuhl mit zwei Lehnen/Une chaise ä deux dossiers. In: Sirene. Zeitschrift für Literatur. Heft 8, S. 79.
K
Ebd.
" George-Arthur Goldschmidt (1991): Seine eigenen Texte übersetzen? Nachwort zu „Ein Garten in Deutschland". Frankfurt/M., S. 184. " Ders. (1991) In: Sirene, S. 83.
Sternkinder und Tote Engel Bilder des Holocaust in der Kinder- und Jugendliteratur zwischen pädagogisch-moralischer Wiedergutmachung und dokumentarischkatastrophischer Wirkungsästhetik Rüdiger Steinlein
Daß die Vernichtung der europäischen Juden durch die von Deutschen organisierten und betriebenen Todesfabriken samt allen Vorstufen zwischen 1933 und 1939 (dem Beginn von planmäßigen Deportationen aus Österreich und dem 'Protektorat Böhmen und Mähren') in erheblichem Maße auch Kinder betraf, hat bereits, während dieser Genozid noch stattfand, zu literarischen Reaktionen geführt. Das Schicksal jüdischer Kinder wird zum Sujet lyrischer Dichtung. Der von Anfang November 1943 datierte sechste Gesang des lied vunem ojsgehargetn jidischn volk (Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk) Jizchak Katzenelsons trägt den Titel Die Ersten und handelt von der Deportation jüdischer Waisenkinder aus Warschau: „Zuerst warn Kinder dran mit Sterben. Waisenkinderchen, verlaßne Brut'". Diesem Text des großen jüdischen Dichter-Chronisten der Shoah folgt 1944 die Ballade des deutschen Emigranten Johannes R. Becher Kinderschuhe aus Lublin2. Sie ist ein lyrisches Dokument der Betroffenheit, aber von gänzlich anderem Status als Katzenelsons Großer Gesang. Zunächst schon allein deswegen, weil diese Ballade von der Vernichtung jüdischer Menschen (Kinder) und der Schuld der deutschen Vernichter von einem Nichtjuden stammt, einem nicht aus rassischen, sondern politisch-ideologischen Gründen verfolgten Angehörigen der Täternation, der sich hier mit den Handlangern und Henkern seines eigenen Volkes auseinandersetzt; vor allem in Gestalt des zynisch-'humorvollen' Wachmannes und der pervertierten „deutschen Tante" als Kindergärtnerin, die jedoch Funktionärin der Vernichtung der ihr übergebenen Kinder statt deren Beschützerin ist. Bechers Kinderschuhe aus Lublin bilden unter den frühen Texten der Holocaustliteratur einen Sonderfall auch insofern, als es sich bei
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den 36 vierzeiligen Strophen zwar nicht im engeren Sinne um (intentionale) Kinder- und Jugendliteratur (im folgenden: KJL) handelt, diese Ballade jedoch sowohl ihrem Thema als auch ihrer Rezeptionsgeschichte nach zu einem bedeutsamen Stück zumindest der Kinderund Jugendlektüre wurde (Kinderschuhe aus Lublin gehörte in der DDR zum schulischen Lektürekanon). Besungen wird in der klassischen Balladentradition des 18. und 19. Jahrhunderts im Bild eines endlosen Zuges von Kinderschuhen, die als Zeugen in einem imaginären Gerichtsverfahren gegen die deutschen Mörder und Henker auftreten, das Schicksal jüdischer Kinder, die - von einer deutschen Kindergärtnerin (der „deutschen Tante") bis zuletzt zynisch über ihr wahres Schicksal getäuscht - in die Gaskammer geschickt werden: und es war eine deutsche Tante
's ist Zeit, ihr Piippchen, angetreten!
die uns im Lager von Lublin
Was füllt euch ein denn, hinzuknien.
empfing und „Engelspüppchen" nannte,
Auf, laßt uns singen und nicht beten!
um uns die Schuhchen auszuziehn,
Es scheint die Sonne in Lublin!"
und als wir fingen an zu weinen,
Es sang ein Lied die deutsche Tante.
da sprach die Tante: „Sollt mal sehn,
Strafft sich den Rock und geht voraus,
gleich wird die Sonne prächtig scheinen,
und dort, wo heiß die Sonne brannte,
und dämm dürft ihr barfuß gehn...
zählt sie uns nochmals vor dem Haus.
Stellt euch mal auf und laßt euch zählen,
Zu hundert, nackt in einer Zelle,
so, seid ihr auch hübsch unbeschuht?
ein letzter Kinderschrei erstickt...
Es wird euch nicht an Wärme fehlen,
Dann wurden von der Sammelstelle
dafür sorgt unsere Sonnenglut...
die Schuhchen in das Reich geschickt. 1
Was, weint ihr noch? 's ist eine Schande! Was tut euch denn, ihr Püppchen, weh? Ich bin die deutsche Märchentante! Die gute deutsche Puppenfee.
Soweit ich sehe, handelt es sich bei diesen Versen um die erste wenn auch nur andeutende, so gleichwohl unmißverständliche - Darstellung des Vergasungsvorgangs in einem Text, der der KJL im weiteren Sinne zugeordnet werden kann. Daß Kinder als Protagonisten gewählt werden (auch das partiell erzählende lyrische Ich ist ein Kind), hängt natürlich auch mit dem enormen Abscheu- und Mitleidseffekt zusammen, den gerade diese Figurenwahl zu erzeugen vermag. Die Shoah wird hier zum Sujet einer balladenhaft inszenierten Warn- und Schreckgeschichte mit kinderliteraturtypischen Stilund Erzähleigentümlichkeiten. Der Holocaust erscheint im Licht kin-
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dertümelnder Diminutive, einer schlichten Kreuzreimtechnik und als Werk von bösen Märchenfiguren, die hier jedoch nur als Karikaturen des Märchenbösen vorkommen. Die berechtigte Empörung über die Repräsentanten des kaltblütigen, erbarmungslos zynischen und mit Lügen und Verstellung arbeitenden Mordsystems bedient sich auf peinlich plakative Weise des traditionellen Motiv- und Symbolrepertoires der Ballade (Wiedergängermotiv, Gericht der Toten über die Lebenden) und des Märchens (die böse Fee, die Hexe, die die Kinder verführt wie in Hänsel und Gretel oder zu ihrem Unglück wird wie in Dornröschen), ohne diese Intertextualität allerdings literarästhetisch so kunstvoll zu brechen, wie dies Paul Celan in seiner Todesfuge tut. Bereits ein Jahr nach Kriegsende, 1946, liegt dann jener Text vor, der als erste kinderliterarische Verarbeitung des Holocaust gelten kann: Die umfangreiche Erzählung von den Schicksalen jüdischer Kinder aus den Niederlanden Sterrekinderen. Die Autorin, Clara Asscher-Pinkhof, ist als niederländische Jüdin selbst Verfolgte und Opfer gewesen. Ihre Episodenerzählung - bei aller literarästhetischen Stilisierung von lebensgeschichtlich-autobiographisch fundierter Authentizität - bildet eine typische Stationenfolge ab von der Einschränkung der Lebensverhältnisse niederländischer Juden unter deutscher Okkupation über die Ghettoisierung bis zur Deportation in ein KZ (vermutlich Bergen-Belsen) als letzte Durchgangsstation zum Vernichtungslager Auschwitz.4 Sternstadt - Sternhaus - Sternwüste Sternhölle lauten die Titel der vier Teile der Erzählung, die in mythisierender Andeutung den Weg der Opfer ins Inferno schildern und deren Helden namenlos bleiben, jedoch eindeutig als Kinder erkennbar sind, aus deren Wahrnehmungshorizont und Erlebnisperspektive im wesentlichen erzählt wird. Dazwischen jedoch finden sich auch immer wieder Passagen berichtend-informierenden Charakters wie die folgende über die Lebensbedingungen des Lagerorchesters. Die Bedrohung, unter der das alles steht, wird eher durch sprachliche Reduktion auf nüchternen Berichtsstil denn durch Pädagogisierung oder gar Dramatisierung unterstrichen: Tanz am Sonntag Der Kommandant hört gern Musik und möchte, daß sein Lager ein Musterlager ist. Alle Handwerkszweige sind vertreten und natürlich auch die Kunst. Es gibt Künstler genug unter den vertriebenen Juden, und es sind manche darunter, deren Namen einst volle Säle sicherten, wenn sie auf den Programmzetteln standen. Nun konzertieren sie in einer ausgeräumten Baracke, in eigens angefertigten Uniformen, dunkelblauen Overalls, die
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auf dem linken Ärmel eine gestickte Leier schmückt. Den ganzen Tag müssen sie proben, wie andere Insassen des Lagers graben oder Kartoffeln schälen. Arbeit ist Arbeit - nicht wahr? Übrigens hat der Kommandant Lieblingssolisten, eine besondere Gruppe, die vorläufig nicht abtransportiert werden. Die Männer spielen um ihr Leben. 5
Allerdings stand dieser Inauguraltext kinderliterarischer Holocaustliteratur deutschen Kindern weder in den späten 40er noch auch in den 50er - den Jahren des Wiederaufbaus und des 'Wirtschaftswunders' zur Verfügung. Seine Rezeptionsgeschichte im Land der Täter beginnt erst 1961 mit der deutschen Erstausgabe für die Bundesrepublik und der nach heftigen Kontroversen in der Jury erfolgten Auszeichnung mit dem deutschen Jugendbuchpreis des Jahres 1962.6 In der DDR waren die Sternkinder bis in die 80er Jahre hinein ein i i bellus non gratus', da sie sich nicht des allein vom kommunistischen Klassenstandpunkt als legitim geltenden Emplotmentmodells 'antifaschistischer Widerstand' bedienen und den Holocaust nicht aus der Perspektive der herrschenden Faschismustheorie darstellen und erklären - als eine so notwendige wie barbarische Folgeerscheinung des radikalisierten faschistischen Klassenkampfes, dem die kommunistische Seite mit heroischem Widerstand entgegentritt. 7 Die Lücke, die im kinder- und jugendliterarischen Holocaustdiskurs der deutschen Nachfolgestaaten des Dritten Reiches die Ausgrenzung und Nichtberücksichtigung von Sternkinder hinterließ, wurde bekanntlich von einem anderen - erstmals 1947 im niederländischen Original erschienenen - Text gefüllt, dessen deutsche Rezeption in der Bundesrepublik im Jahr 1950 beginnt: Das Tagebuch der Anne Frank.1 Insbesondere die 1956 auf deutsche Bühnen gelangende Dramatisierung des Tagebuchs der Anne Franlc sorgte für einen Betroffenheitsschub in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit, wie er durch ein literarisches bzw. Medienereignis erst wieder mehr als 20 Jahre später mit der Ausstrahlung der Holocaust-Serie im Herbst 1979 ausgelöst wurde. So erwähnt Theodor W. Adorno in seinem Essay Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? (1959) die Reaktion einer Theaterbesucherin, die ihre Betroffenheit in dem bezeichnenden Ausruf zusammengefaßt haben soll: „Aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen."'" Die Einschätzung, daß dieser Text eine Lücke innerhalb des kinder- und jugendliterarischen Holocaustdiskurses gefüllt habe, erklärt sich daraus, daß das Tagebuch der Anne Frank nur in dem Sinne KJL darstellt, als es von einem jungen Mädchen im Alter von 13 bis 15 Jahren geschrieben wurde. Ein Beitrag zur intentionalen KJL ist es jedoch nicht,
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weil es primär gar nicht für ein gleichaltriges Lesepublikum bestimmt war. 1948 erscheint im Ostberliner Verlag Neues Leben (dem 1946 gegründeten Verlag der Freien deutschen Jugend, FDJ) unter dem Titel Morris. Geschichte einer Freundschaft eine Holocausterzählung, die vom Verlagsprofil her gesehen speziell für ein junges Lesepublikum zwischen 14 und 20 Jahren gedacht ist, mithin ein Stück Jugendliteratur repräsentiert. Es handelt sich um das literarische Debüt Ralph Giordanos. Der damals 25jährige Autor, selbst Verfolgungsopfer, entwirft in dieser zwischen dem Morgen des 10. November 1938 und dem Frühsommer 1945 in Hamburg spielenden, deutlich autobiographisch gefärbten Novelle ein katastrophisch-apokalyptisches Verfolgungs- und Vernichtungsszenario, das der deutsch-jüdische Titelheld in einem Kellerversteck zu überleben vermag. Die eigentlichen Schreckensorte des Holocaust sind hier nicht direkt Schauplatz der Handlung, bilden jedoch deren bedrohlichen Horizont. Es gibt im übrigen keine Anzeichen dafür, daß dem dünnen Heftchen der Originalausgabe von 1948 eine nennenswerte Rezeption unter Jugendlichen oder auch Erwachsenen beschieden gewesen wäre. Diese frühen, dem Bereich der KJL mehr oder weniger zuzurechnenden Holocausttexte haben - bis auf die Ballade Bechers - ein Merkmal gemeinsam, das zunächst außerliterarischer Art ist, mir jedoch für die Entstehung eines deutschsprachigen kinder- und jugendliterarischen Holocaustdiskurses nach 1945 bedeutsam zu sein scheint: Sie sind authentisch in dem Sinn, daß sie von Angehörigen der Opferseite stammen und deren eigene traumatisierende Erfahrungen und Erlebnisse mit verschiedenen Stufen des Holocaust zur Grundlage haben. Vor allem in Form des Überlebendenberichtes unterschiedlicher Grade literarisch-ästhetischer Bearbeitung - vom schlichten Bericht (Ich bin ein Stern) bis zur autobiographischen Erzählung (Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, Dank meiner Mutter) oder auch zur kunstvoll stilisierten Erzählprosa (Isabella - ursprünglich alles andere als ein Stück Jugendliteratur!) - werden diese lebensgeschichtlich authentisierten Erzählungen einen wesentlichen Bestandteil der KJL zu Judenverfolgung und Holocaust bilden.
II Wie heikel das Zusammenspiel von eigenem Erlebnishorizont, Wissen und Nichtwissen bzw. Verdrängung, auch noch junger Menschen
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nach 1945 einerseits und kinder- oder jugendliterarischen HolocaustThematisierungen andererseits gewesen sein muß, erhellt aus einem Blick in erwachsenenliterarische Erinnerungsversuche an die Befindlichkeit als Kind oder Jugendlicher während des Nationalsozialismus oder auch unmittelbar nach ihm. Den Holocaust als Kindheitserfahrung erinnern und aus solch erinnerter Erfahrung erzählen können, sollte - so wäre zu schließen doch die authentischste Grundlage gerade auch einer Darstellung für nachgeborene Kinder und Jugendliche sein. Ein wesentlicher Teil etwa von Jurek Beckers erzählerischem Werk kreist um diese Problematik, ohne daß der Autor allerdings daraus die Konsequenz gezogen hätte, speziell für ein junges Lesepublikum zu schreiben. Wiewohl selbst als Kind Opfer, mithin also eigentlich im Besitz authentischen, nämlich selbsterlebt-erlittenen Erinnerungsmaterials, verkehren sich im Fall Beckers nach dessen eigenem Bekenntnis die Ursache-Wirkungsrelationen. Literarische Fiktionalisierungen des Holocaust bzw. seiner Begleitumstände wie Folgen beruhen nicht auf verbürgtem Erinnerungsmaterial, sondern die Übergänge werden fließend. Solche Erinnerungen können genausogut aus Fiktionen geboren sein, ja werden geradezu als Effekte des Narrations- und Fiktionalisierungsprozesses erwartet. Er habe - gesteht Becker - „Geschichten über Ghettos geschrieben, als wäre ich ein Fachmann." Vielleicht habe ich gedacht, wenn ich nur lange genug schreibe, werden die Erinnerungen schon kommen. Vielleicht habe ich irgendwann auch angefangen, manche meiner Erfindungen für Erinnerungen zu halten. Ohne Erinnerungen an die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt du nicht kennst."
Die Motivation Beckers, zu einem Autor, einem Erzähler - und zwar gerade auch einem Erzähler des Holocaust - zu werden, liegt für ihn darin begründet, von Kindheit an in einem „Erzählwettbewerb" gestanden zu haben, dessen Gegenstände immer wieder auch dem Holocaust als Familienschicksal entnommen waren. Dabei kann der werdende Erzähler aber nicht auf den Unheils- und Leidensgehalt seines Materials und seiner Sujets bauen, die er im übrigen den Erzählungen anderer entnimmt, sondern ist von vornherein mit Formproblemen, genauer: dem Problem der wirkungsästhetisch effektivsten Form der Narration konfrontiert: Ich war von Kindheit an eigentlich in einem Erzählwettbewerb. Wenn ich uninteressant war, hat man mir das deutlich zu spüren gegeben [...] Und ich erinnere mich auch, daß ich manchmal eine Geschichte erzählt habe
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und nicht zufrieden war mit der Resonanz und darüber nachgedacht habe, woran das lag: „An der Geschichte kann's nicht liegen, die ist gut, das weiß ich, sonst hätt ich sie ja nicht erzählt, oder sonst hätte der, der sie mir erzählt hat, nicht so einen Erfolg bei mir gehabt: also muß ich daran was tun."12
Die Authentizität auch des Erzählens vom Holocaust erscheint also von vornherein gekoppelt an die Anforderung, den größtmöglichen ästhetisch-erzählerischen Reiz zu erzielen. Sie untersteht mithin einem artistischen Prinzip, vor dem jeder Bonus für eine Authentizität verfällt, die allein aus dem Selbsterlebtunderlittenhaben des Erzählten resultieren soll bzw. daraus abgeleitet wird. In einer Podiumsdiskussion aus dem Jahre 1992 hat Jurek Becker diesen Sachverhalt sehr drastisch formuliert: Ich will Ihnen eine furchtbare, eine mich schmerzende Erfahrung berichten, die ich vor einiger Zeit gemacht habe. Ich sitze vor dem Fernseher und sehe eine Fernsehsendung über Zeugen von Auschwitz. Dort erinnern sich Leute an die furchtbarsten Begebenheiten, die man sich vorstellen kann, manche sind gerührt, manche weinen bei der Erinnerung. Erzählen die unglaublichsten Geschichten, und ich sitze vor dem Fernseher und denke, wie langweilig."
Das Bild des Holocaust und dessen Authentizität kann also, wenn es mehr sein soll denn ein - wie auch immer aufgrund der mitgeteilten Fakten mitleiderregendes - Sichaussprechen Betroffener, nicht in erster Linie Ergebnis eines Erinnerungsaktes und seiner 'einfachen' erzählerischen Versprachlichung sein, sondern unterliegt notwendigerweise einem wirkungsästhetischen Kalkül, ist auch und vor allem Effekt einer bewußten narrativen Strategie. Anders formuliert: Im Bereich der literarischen Produktion von Bildern des Holocaust kann die einfache Authentizität des Repräsentierten nur Ausgangsmaterial bilden; überführt werden muß dieses aber durch entsprechende künstlerische Operationen in die Qualität der reflexiven oder ästhetischen Authentizität. Die Probe darauf in Beckers eigenem Œuvre liefert seine GhettoErzählung Die Mauer, die ein schockartiges Erlebnis des kindlichen Ich-Erzählers und seines Freundes enthält: das in aller Regel tödlich endende Ertapptwerden außerhalb der Ghettomauern durch einen nicht näher zuordenbaren deutschen Wachposten. Der jedoch besinnt sich eines besseren und hilft den beiden Jungen über die Mauer zurück ins Ghetto, wobei er persönlich allerhand riskiert. Die atembe-
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raubende Episode ist wie alles mit einem unüberhörbar koalisierenden und leise selbstironischen Unterton erzählt; der Schock der Begegnung mit dem Deutschen, die leicht hätte tödlich enden können, wird von Jurek Becker auf artistisch-raffinierte Weise gestaltet. Ob diese Episode um einen menschlich reagierenden, mithin einen 'guten Deutschen' nun verbürgt ist oder nicht, sie erhält die Qualität literarisch-ästhetischer Authentizität anstelle „lebensgeschichtlich fundierte[r] Authentisierung" 14 ausschließlich als Effekt der Erzähl weise; sie ist also nicht der außerliterarischen Tatsache geschuldet, daß es sich bei Becker um einen Angehörigen der Opferseite handelt, der selbst wichtige Kinderjahre im Ghetto verbringen mußte. Diese Authentizität des erzählten kindlichen Schockerlebnisses ist eine Folge der eigentümlichen narrativen Inszenierung der beteiligten Figuren, die in der deutschsprachigen Holocaust-Literatur eigentlich nur noch Johannes Bobrowski beherrscht.' 5 Ein prominenter Text zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976), bietet von Seiten einer Angehörigen der Täternation eine Quelle für das Studium der komplizierten Genese, Verflechtung und Überlagerung von Wissen, Ahnen, Halbwissen oder auch Nichtwissenwollen dessen, was das Dritte Reich als einen universalen Bedrohungszusammenhang ausmachte, der bis in den Alltag auch der Deutschen hineinreichte. Für unser Thema von zentraler Bedeutung ist die Rekonstruktion der Erinnerung des Novemberpogroms 1938, bei dem die Kindfigur Nelly etwa neun Jahre alt war, zu einem ,,innere[n] Bild, dessen Authentizität unleugbar ist".16 Diesem „inneren Bild" - eben auch ein Erinnerungsbild - wird ausdrücklich die Qualität des Authentischen zugesprochen. Seinen authentizitätsverbürgenden Kern bilden Menschen: Zu Nellys großem Staunen und Schrecken kamen Leute aus der Tür der abgebrannten Synagoge [...] Gäbe es diese Leute nicht - ein inneres Bild, dessen Authentizität unleugbar ist -, würdest du nicht mit dieser Sicherheit behaupten können, daß Nelly, ein Kind mit Phantasie, an jenem Nachmittag bei der Synagoge war [...] Die Juden, in Nellys Erinnerung beinlos wegen ihrer langen Kaftane, gingen unter Lebensgefahr in die zerstörte Synagoge und holten ihre heiligen goldenen Schätze heraus. Die Juden, alte Männer mit grauen Bärten, wohnten in den kleinen, armseligen Häuschen am Synagogenplatz. Ihre Frauen und Kinder saßen vielleicht hinter den winzigen Fensterchen und weinten (Blut, Blut, Bluhuhut, Blut muß fließen knüppelhageldick...). Die Juden sind anders als wir. Sie sind unheimlich. Vor den Juden muß man Angst haben, wenn man sie schon nicht hassen kann. Wenn die Juden jetzt stark wären, müßten sie uns alle
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umbringen. Um ein Haar wäre Nelly eine unpassende Empfindung unterlaufen: Mitgefühl! Aber der gesunde deutsche Menschenverstand hatte seine Barriere dagegen, als Angst. 17
Die Authentizität oder - um Christa Wolfs Begriffsschöpfung zu verwenden - „subjektive Authentizität" solchen Erinnerns beruht weniger in dessen fotografieähnlicher Bildhaftigkeit als in der fraglosen und so spontan wie zwingend sich einstellenden Sicherheit beim Auftauchen der Szene, genauer: beim Auftauchen der Erinnerung als Prä-Holocaustszene: Das hast du so erlebt! Es hat die Qualität einer 'mémoire involontaire', die auch kritischer Reflexion standhält, so daß ausgeschlossen werden kann, daß dieses authentisch wirkende Erinnerungsbild sich letztlich doch nur der 'Ein-Bildung' des phantasiebegabten Kindes Nelly verdankt. Gleichrangig aber eignet diesem Erinnern die Qualität schockhafter Wahrnehmung wie der daraus hervorgehenden intensiven, schmerzlichen, skrupelhaften und schonungslosen Selbstprüfung, die gerade im Fall einer Angehörigen der Täternation unerläßlich erscheint, über deren bis in die pietistische Seelenerkundung zurückreichende Tradition aber hier nicht weiter gehandelt werden soll. Der erinnerte Schrecken, der Wahrnehmungsschock („Zu Nellys großem Staunen und Schrecken") ist hier geradezu das Authentizitätssiegel für die gesamte Erinnerung, die den Holocaustkomplex aufruft. Im Unterschied zu Jurek Beckers fiktionalisierend-narrativen Erinnerungsszenarios fungiert der authentizitätssichernde Schock im Fall Christa Wolfs, deren Erzählung aus der Perspektive einer Angehörigen der Täternation organisiert ist, als moralische Wirkungsgröße und nicht als literarästhetisch handhabbare. Eine andere kindliche Begegnung mit dem Holocaust findet sich in Uwe Johnsons Jahrestage-, vor allem in jener Erinnerungspassage, die den Holocaust-Schock festhält, dem die zwölfjährige Gesine Cresspahl beim Anblick eines jener Fotos ausgesetzt war, die die Alliierten nach der Befreiung der KZs machten. Der Besitz eines funktionierenden Schockmittels ist nachzuweisen, desgleichen eine garantierte Wirkung. Das Schockmittel war eine Fotografie, die die Briten im Konzentrationslager Bergen-Belsen gemacht hatten und abdruckten in der Zeitung, die sie nach dem Krieg in Lübeck laufen ließen. Die Wirkung hat bis heute nicht aufgehört. Betroffen war die eigene Person: ich bin das Kind eines Vaters, der von der planmäßigen Ermordung der Juden gewußt hat. Betroffen war die eigene Gruppe: ich mag zwölf
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Jahre alt sein, ich gehöre zu einer nationalen Gruppe, die eine andere Gruppe abgeschlachtet hat in zu großer Zahl (einem Kind wäre schon ein einziges Opfer als Anblick zuviel gewesen). Der Schock kann nachgewiesen werden an der Verkrüppelung von Reaktionen."
Was hier beschrieben wird, ist sozusagen die medienvermittelte Urszene der Betroffenheit. Die Konfrontation mit dem Holocaust im fotografischen Bild als Authentizitätsdokument par excellence ist eine Mea/reaktion: Das Foto löst genau das Maß an moralischer Betroffenheit, Verstörung und Scham bei der etwa zwölfjährigen Betrachterin aus, das es nach dem Willen der - in diesem Fall - britischen Besatzungsmacht auch hervorrufen sollte. Allerdings blieb das - wie bekannt - eher die Ausnahme. Die Mehrheit der Deutschen reagierte anders, nämlich mit Verleugnung und Verdrängung.19 Es ist sicherlich kein Zufall, daß das Foto mit seinem zwar nicht näher beschriebenen, aber leicht vorstellbaren Abbild des Grauens und Elends (vermutlich handelt es sich um Leichenberge und/oder Elendsgestalten von überlebenden Häftlingen) gerade bei einem Kind eine derartige Schockwirkung auszulösen vermag. Es verfügt noch nicht über die Schutz- und Abwehrmechanismen der Erwachsenen, die diese aufrichteten, um eine Wahrnehmung der von Angehörigen ihrer Nation angerichteten und von den Deutschen zu verantwortenden Massenmordes nicht zuzulassen, und die die Besatzungsmächte mittels der geballten Wirkung authentischer Realszenarios - sei es durch Lokaltermine an einem Ort des Grauens wie Buchenwald, sei es durch Fotografien oder Dokumentarfilme - zu durchbrechen suchten. Im Gegensatz zu den noch stark beeindruckbaren Kindern gilt für die Mehrzahl der erwachsenen Deutschen, was Arthur Koestler 1953 so beschrieben hat: Die volle Wahrheit ist in das Bewußtsein des Volkes nicht eingedrungen, weil sie zu schrecklich ist, als daß man ihr offen ins Gesicht sehen könnte. Die Last der Schuld wäre, wenn man sie erst einmal in das Bewußtsein eintreten ließe, einfach zu schwer zu tragen, sie würde den Stolz des Volkes zerschmettern und das Bemühen lähmen, wieder zu einer europäischen Großmacht zu werden. Viele gutwillige und intelligente Deutsche reagieren deshalb, wenn man in ihrer Gegenwart auf Auschwitz und Belsen zu sprechen kommt, mit eisernem Schweigen und dem gekränkten Gesichtsausdruck einer viktorianischen Lady, in deren Gegenwart man das anstößige Wort Geschlecht einfach nicht. 20
erwähnt hat. [...] über solche Dinge redet man
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Zumal die Kinder - so die vorherrschende Ansicht - sollten mit derlei Scheußlichkeiten gar nicht weiter behelligt werden. Entsprechend finden sich in der KJL nach 1945 auch über einen längeren Zeitraum so gut wie keine Spuren dieses ungeheuerlichen Geschehens. 'Judenverfolgung', der Genozid an den europäischen Juden (seit den 80er Jahren amerikanischem Begriffsgebrauch folgend auch 'Holocaust' genannt) sind - in welcher Form und welchem Stadium auch immer bis um 1960 in der Bundesrepublik mehr oder weniger ein Tabuthema. Keine Politik, keine Zeitgeschichte - dafür abendländische Werte und heile oder auch kindliche Eigen- und Phantasie-Welt satt galt hier als Gebot der Stunde.21 Ausnahmen, die vor allem in der SBZ/ DDR zu verorten sind, bestätigen die Regel. Darin spiegelt sich natürlich das Problem des mangelnden öffentlichen Interesses an einer gerade kinder- und jugendliterarisch vermittelten Form, auf das peinvolle und zunächst so erfolgreich verdrängte Thema Judenverfolgung/Holocaust zu reagieren, dem weiter sich zu stellen man in der Bundesrepublik aufgrund eines allgemeinen offiziellen Bekenntnisses zur Verantwortung und der Übernahme von Wiedergutmachungszahlungen an den jungen Staat Israel enthoben zu sein glaubte. Das gilt in ähnlicher Weise auch für den anderen westlichen Nachfolgestaat des Täterregimes - Österreich, dessen Staatsvolk sich durch Hineinschlüpfen in den Opferstatus der unangenehmen Aufgabe weitgehend entzog, sich mit der eigenen braunen und 'eliminatorischen' Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die DDR schließlich sah sich auf der Seite der 'Sieger der Geschichte', und die dort erscheinende KJL nahm sich des Themas in Form von antifaschistischen Widerstandsgeschichten an; ansonsten erklärte man sich für den Holocaust und seine Folgen offiziell für nicht zuständig.22
m Neben der Allgemeinliteratur, die den Holocaust auf eine vielbeachtete Weise thematisierte und repräsentierte wie Celans oder Nelly Sachs' Lyrik, existierten bereits in den frühen Jahren zumindest 'jugendliteraturtaugliche' Texte, die allerdings entweder nicht übersetzt wurden (Ausnahme: Das Tagebuch der Anne Frank) oder aber in der SBZ/DDR erschienen und deswegen im anderen Teil Deutschlands als Lesestoffe für Kinder und Jugendliche keine Rolle zu spielen vermochten (etwa Johannes R. Bechers Ballade Kinderschuhe aus Lublin in der BRD). Ansonsten blieb dieses finsterste Kapitel der
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jüngsten deutschen Geschichte in der KJL, die in Deutschland zur Verfügung stand, bis um 1960 ein Un-Thema; allerdings mit einigen bezeichnenden Ungleichgewichten zwischen BRD und DDR. So erschien z.B. zeitgleich mit Ralph Giordanos Erstling, der Holocaust-Erzählung Morris, ebenfalls in Ost-Berlin ein Kinderbuch des Journalisten und Mitbegründers der Frankfurter Rundschau Walther Pollatschek, das den programmatischen Titel Die Aufbaubande (1948) trägt. Die in einer zerstörten deutschen Stadt der ersten Nachkriegsjahre agierende und sich „Aufbaubande" nennende Kindergruppe hat ein jüdisches Mitglied, den etwa 13jährigen Simon Bloch, der dem KZ entronnen ist und über dessen Schicksal einige Grundinformationen in die Erzählung eingestreut sind. In der alten BRD entwickelt sich - in Übereinstimmung mit der offiziellen Betroffenheitskultur und deren Ritualen eines allgemeinen exkulpierenden Schuldeingeständnisses - eine kinderliterarische Emplotmentstrategie, die auf der Rettung der Opfer durch Kinderfreundschaften und deutsche Helferpersonen beruht, die sich schützend um die verfolgten jüdischen Mitbürger stellen. Die Verfolgten, Geheime Freundschaft, Und alle gingen vorüber, Jeanette Leon, das Mädchen mit dem Stern lauten programmatische Titel derartiger Erzählungen aus den Jahren 1959 bzw. 1961. Unter den wenigen um 1960 einschlägigen Texten dominieren also diejenigen, die in pädagogischer Absicht über die Konstruktion von Freundschafts- und Helfergeschichten eine entlastende Identifikation der jungen deutschen Leser mit den dargestellten jüdischen Opfern herzustellen suchen. Dabei entsteht auch in der KJL das, was in anderem Zusammenhang treffend als „Erlebnisraum"" bezeichnet wurde, der besser vielleicht sogar 'Mitleidsraum' Judenverfolgung hieße; wohlgemerkt ein kinderliterarischer Erlebnis- und Mitleidsraum nach den Gesetzen und Regularitäten von KJL. Die Beliebtheit des Freundschaftsmotives bleibt dabei von der frühen Phase bis in die 80er und 90er Jahre ungebrochen. So gelangte etwa noch 1990 Tilde Michels Kindererzählung Freundschaft auf immer und ewig? (1989) auf die Auswahlliste zum Jugendliteratur-Preis dieses Jahres. Sie bedient das notorische Freundschaftsthema - hier in Gestalt der Freundschaft zwischen einem 'arischen' und einem jüdisch-deutschen kleinen Schulmädchen in den ersten Jahren des Nationalsozialismus -, ohne daß nennenswerte inhaltliche oder erzählstrukturelle Modernisierungen bemerkbar wären. In diesem Emplotmentbereich scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Das liegt natürlich auch am funktionellen, systembedingten Konservativismus der Kinderliteratur und der verbreiteten Neigung, bewährte Handlungsmodelle, wenn gerade Konjunktur ist, immer wieder zu nutzen."
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IV Mit jener aus Selbsterfahrung gespeisten literarischen Erinnerungsarbeit, wie sie die Texte von Christa Wolf oder Uwe Johnson kennzeichnet, geht eine andere Entwicklung einher, der sich in der Folgezeit das Gros kinder- und jugendliterarischer Texte zum Holocaust verdanken wird: die gewissermaßen inauthentische „Belletristifizierung"M der Thematik durch eine Reihe von narrativen Emplotmentstrategien, d.h. Erzähl- und Handlungsmodellen aufgrund eines relativ begrenzten Repertoires von Motiven, von Figuren- und Konfliktkonstellationen, das zwar am zeitgeschichtlichen Wissen über den Holocaust und seinen Vorstufen sowie dem damaligen Stand der Forschung zum Nationalsozialismus orientiert erscheint", meist jedoch aus moralisch-pädagogischen bzw. ideologischen Rücksichten auf kinder- und jugendliterarische Lektürezuträglichkeit 'herabgesetzt' wird. Von zumindest fragwürdiger Authentizität ist diese in der BRD in den späten 50er Jahren beginnende Textproduktion für Kinder und Jugendliche - in der DDR setzt sie aus anderen Gründen und bereits früher ein - auch insofern und in einem ganz ursprünglichen Sinn, als sie nicht von Autoren verfaßt wird, die unter dem Schock und dem Trauma der Verfolgung aus rassischen Gründen stehen, sondern von solchen, die - ohne der Opferseite anzugehören - sich aus wie auch immer honorigen Gründen veranlaßt sehen, das Thema vor einem jungen Lesepublikum zur Sprache und zur Darstellung zu bringen. Das birgt natürlich insbesondere dort, wo diese Autoren Deutsche sind, also Angehörige der Täternation, Probleme der Legitimation wie der Kompetenz für derartige kinder- und jugendliterarische Repräsentationen des Holocaust in seinen verschiedenen Stadien; Probleme, die sich in vielen original deutschsprachigen Beiträgen aus den 50er und frühen 60er Jahren als symptomatische Verzerrungen, beschönigende Ausweichmanöver, kurz: als auf die Darstellung durchschlagende Tabuisierungen, Wahrnehmungsdefizite und Thematisierungsverzichte bemerkbar machen." Es handelt sich dabei vorwiegend um Texte der westdeutschen KJL wie die oben genannten, die man als Wiedergutmachungsliteratur bezeichnen könnte; um 'Mitleidsbücher', Freundschafts- und Helfergeschichten, die vor allem eins verraten: das Bemühen um 'moral correctness'." Die KJL stellt also - in Wechselwirkung mit bestimmten Teilen des öffentlichen Schulddiskurses im Land der Täter - ihr eigenes Bild des Holocaust her. Das Authentische in welcher Form der Verschriftlichung auch immer" spielt dabei keine erhebliche Rolle, vielmehr das moralisch-emotional Wirkungsvolle, zum neuen Selbstverständnis
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Passende: die Täter, ein Volk von Hintergangenen, Ahnungslosen oder aber Hilfsbereiten, nicht von Mitwissern und Komplizen des Verbrechens. In den kinder- und jugendliterarischen Verfolgungsszenarios stehen sich jüdische Opfer, deutsche Verfolger und deutsche Helfer gegenüber. Der gesellschaftliche Kontext und damit das wahre Ausmaß des antisemitischen oder auch des „eliminatorischen" (Goldhagen) Verfolgungsdrucks und Vernichtungswillens wird dabei vor allem in der ersten Phase nicht recht erkennbar. Es geht hier gar nicht um eine mit dem Anspruch auf (mimetische) Authentizität auftretende Fiktionalisierung des Holocaust, sondern um seine moralisierende Umfunktionierung und Instrumentalisierung für die Bewußtseins- und Gewissensbildung der jungen Generation in Deutschland. Und die sollte bei den jungen Lesern zunächst durch solche Emplotmentstrategien und Schreibmodelle befördert werden, die mit einem geringstmöglichen Aufwand an Schreckensdarstellung den größtmöglichen Empörungs- und Mitleidseffekt erzielten. Integraler Bestandteil dieses Emplotmentverfahrens ist es, die Täter nicht als 'aus der Mitte' der deutschen Gesellschaft stammend zu kennzeichnen, sondern sie durch soziale Marginalisierung wie eine Randgruppe erscheinen zu lassen. Die Repräsentanten des NS-Fanatismus (bevorzugt Studienräte) bzw. des NS-Bösen wirken dann wie die sprichwörtliche 'kleine radikale Minderheit' im eigenen Land, der die gutwillige Mehrheit hilflos ausgeliefert ist.
V In leichter Abwandlung von Gottfried Benns bekanntem Aperçu, daß das Gegenteil von Kunst gut gemeint sei, läßt sich in bezug auf die hier in Rede stehenden Texte sagen, das Zeichen ihres produktionswie wirkungsästhetischen Mangels an Authentizität sei ihre pädagogisch-moralische Intentionalität. Die Auseinandersetzung um diesen Punkt wird seit einiger Zeit geführt.1" Die Verteidiger der zeitgeschichtlichen KJL verweisen - sicher nicht zu Unrecht - auf deren Nützlichkeit, ja Notwendigkeit und dabei auf die unterschiedliche Wertigkeit von ästhetischen und pädagogischen Belangen. In dieser Argumentationsperspektive wäre Authentizität kein vorrangiges Kriterium etwa gegenüber dem Geltendmachen moralisch-pädagogischer, didaktischer Stimmig- und Wirksamkeit bzw. auch faschismustheoretischer Adäquanz des jeweils zugrundeliegenden Bildes vom Nationalsozialismus." Betrachtet man hingegen diese kinderund jugendliterarischen Belletristifizierungsversuche der Judenverfolgung im Zusammenhang des allgemeineren literarischen (und ki-
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nematographischen) Holocaust-Diskurses, so rückt das Kriterium der Literarizität wiederum in den Vordergrund. Und dann weisen diese Texte deutliche Spuren der literarästhetischen Insuffizienz wie des Veraltens auf.32 Die ihnen zugrundeliegenden Erzählmodelle und Emplotmentstrategien sind inzwischen fragwürdig bzw. obsolet geworden. Bestenfalls wirken viele dieser Bücher heute schlicht unerheblich, ansonsten in ihrer Bemüht-, um nicht zu sagen Beflissenheit, womit das nationalsozialistische Unrecht moralisch verurteilt und zugleich das Gros der Deutschen entlastet wird, auch peinlich." Daß gerade jene älteren Texte deutscher Autoren zugleich auch so veraltet wirken, hängt also wohl in erster Linie damit zusammen, daß sie sich der Absicht verdanken, wenigstens auf kinder- und jugendliterarischem Gebiet durch moralischen Partipris einen Beitrag zur Wiedergutmachung zu leisten. Noch eine Darstellung wie Hans Peter Richters vielfach ausgezeichnete Episodenerzählung Damals war es Friedrich (1961) krankt ja ersichtlich daran, daß ein sich betroffen und verantwortlich fühlender Angehöriger der Täternation mit aufklärerischem Elan jungen Lesern 'Bilder aus dunkler Zeit' vor Augen zu führen sucht. Dazu studiert er auch fleißig jüdisches Leben, jüdische Traditionen sowie den 'Fahrplan des Holocaust' seit 1933 und entwirft ein Szenario, das es vor allem der Opferseite rechtmachen will. Allerdings bleibt diese Erzählung trotz ihrer Verdienste um Aufklärung, die sie einmal gehabt haben mag, blaß und hölzern; alles an diesem pädagogisch-didaktischen Gebrauchstext ist hinkonstruiert auf möglichste Problemvollständigkeit bei gleichzeitiger Anschaulichkeit und Lesbarkeit. Darüber hinaus weist Richters Judenverfolgungserzählung mit tödlichem Ausgang für den Titelhelden eine Implikation auf, die der pädagogisch-didaktischen Aufklärungsintention geschuldet ist und als solche mit der Holocaust-Problematik als Shoah im Widerstreit liegt. Das Schicksal des deutschen Juden Friedrich Schneider und seiner Familie fungiert als warnender, verallgemeinerbarer Modellfall für Intoleranz und Inhumanität. Es ist strukturiert nach den Notwendigkeiten eines Lehrstücks: „Damals waren es die Juden ... Heute sind es dort die Schwarzen, hier die Studenten ... Morgen werden es vielleicht die Weißen, die Christen oder die Beamten sein ..." - so lautet das aus einer Mischung von Kassandra und moralischer Oberlehrerhaftigkeit bestehende Motto des Textes. Der Holocaust fungiert als Betroffenheit und Mitleid erregendes Exempel in der Tradition der moralischen Warn- und Beispielgeschichte, dessen Rezeption zu Nach- und Umdenken Anlaß geben soll. Zu besonderer Fragwürdigkeit aber muß - zumindest aus heutiger Sicht - auch ein derart gutgemeintes jugendliterarisches Unter-
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nehmen wie Richters Erzählung geraten, wenn die israelische Literaturwissenschaftlerin Zohar Shavit in ihr einige antisemitische Klischees aufdecken kann, die sich dort trotz aller guten Absichten eingeschlichen haben." Dabei steht die literarästhetisch-strukturelle, dabei durchaus kinder- und jugendliteraturkonforme Einfachheit dieser mittlerweile über 35 Jahre alten Erzählung in einem bezeichnenden Bedingungsverhältnis zu ihrer Rezeptionshäufigkeit. Sie ist seit geraumer Zeit Bestandteil des Schullektürekanons der mittleren Klassenstufen. Die K J L zum Thema 'Holocaust' folgt also eigenen Prämissen und nimmt ihre eigene Entwicklung, die mit dem allgemeinen literarischkulturellen Holocaustdiskurs zwar einige Bedingungen teilt, jedoch überwiegend den besonderen Gesetzen des kinder- und jugendliterarischen Subsystems folgt. Zu den fundamentalen Existenzbedingungen der K J L gehört es, daß sie pädagogischen und Zielen der Wertevermittlung verpflichtet ist. Auch und gerade im Fall eines kinderund jugendliterarischen 'Belletristifizierens' von Holocaust, das stets ein realitätsillusionierend-vergegenwärtigendes Erzählen ist, spielen pädagogisch-moralische Wirkungsabsichten und Rücksichten eine entscheidende Rolle: Was soll, darf, kann jungen Lesern aus dem Gesamt des katastrophischen Ereigniszusammenhanges 'Holocaust' mitgeteilt, und d.h. auch zugemutet werden? Im Gegensatz zur Allgemeinliteratur wird hier bis in die 90er Jahre keineswegs der „pädagogische [...] Ausweg, der mit der Darstellung des 'Äußersten' im Blick auf den Rezipienten experimentiert", bevorzugt." Die Darstellung des finalen Vernichtungsaktes bzw. seines engsten Umfeldes in den Todeslagern wird erst sehr spät zu einem möglichen Sujet: Auschwitz, Treblinka und Majdanek sind die längste Zeit gerade kein Gegenstand kinder- und jugendliterarischer „Inspiration" (Elie Wiesel). Stattdessen sorgt das Verfolgungs- und Rettungsmotiv in Verbindung mit kriminalistischen Handlungsmomenten immer wieder für emotions- und identifikationslenkende Spannung; z.B. durchaus gelungen in Leonie Ossowskis erfolgreichem (und auch verfilmtem) Jugendroman Stern ohne Himmel (1978) oder in Klaus Kordons Erzählung Hände hoch, Tschibaba (1985). Eine spezielle Variante hiervon bilden die Beiträge der K J L der D D R zum Thema, die dem Modell antifaschistischer Widerstand verpflichtet sind (Erika Michel-Wag-
ner: Wo ist Ruth?, 1962; Auguste Lazar: Die Brücke von Weißensand, 1965; Peter Abraham: Pianke und ders.: Fünkchen lebt, 1981
bzw. 1988 u.a.). Dabei wird die Spannung daraus gewonnen, ob es der antifaschistischen Seite (die moralisch überlegen, aber von ihren materiellen und organisatorischen Möglichkeiten her der Nazi-Bar-
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barei hoffnungslos unterlegen ist) und ihren Vertretern gelingt, ihr aufopferungsvolles und gefährliches Rettungswerk zugunsten der verfolgten Juden (Kommunisten und/oder KZ-Häftlinge usw.) zu vollbringen. Bei näherer Betrachtung erweist sich die für die KJL der DDR charakteristische Verquickung von antifaschistischem Widerstand und Holocaustthematik - genauer: die Unterordnung der letzteren unter den ersteren - als das grundlegend ideologisch-legitimatorische Emplotmentmodell dieser Literatur; und trotz des scheinbar höheren Grades an Realismus und Authentizität in der Darstellung des Vernichtungswillens der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Tötungsmaschinerie, der damit verbunden zu sein scheint, sind diese Texte nicht weniger pädagogisch-didaktisch und ideologisch präformiert als die bevorzugten Modelle der entsprechenden westdeutschen KJL, nur eben mit anderer Akzentsetzung. Als pädagogisch vertretbar und erwünscht gilt in erster Linie die Beförderung von Betroffenheit sowie die Sensibilisierung für Menschenrechtsverletzungen. Hinzukommt in der ersten Zeit sicherlich auch das Moment der entlastenden Identifikation mit den Opfern, denen in diesen Texten eine entscheidende, moralisch überlegene Position eingeräumt wird - allerdings um den Preis, daß die Verfolgten in diesen narrativen kinderliterarischen Szenarios meist Opfer und nichts als bemitleidenswerte Opfer sind, deren moralischer Kredit mit dem Grad ihrer Wehrlosigkeit steigt. Zugleich werden diese kinderliterarischen Versuche auch dafür verwendet, das gerade für die BRD der 50er Jahre notorische Fehlen von Aufklärung über die Judenverfolgung unter dem Nationalsozialismus etwas zu kompensieren. Hilfsweise werden in diesen Kinder- und Jugendbüchern immer wieder versäumte Zeitgeschichtslektionen nachgeholt wie in Damals war es FriedrichUnd in den kinder- und jugendliterarischen Texten aus der DDR, die Judenverfolgung und Holocaust thematisieren bzw. narrativ vergegenwärtigen, geht es um die Stärkung antifaschistischer Einstellungen eben auch am abschreckenden Beispielfall nationalsozialistisch-antisemitischer Barbarei."
VI Wie in einem Fokus wird die Situation der KJL zum Thema 'Holocaust' in den Bemühungen um eine Verbreitung von Clara AsscherPinkhofs Sternkinder in der Bundesrepublik sowie in der Auseinandersetzung um die Verleihung des deutschen Jugendbuchpreises
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1962 an diesen wichtigen Text kinderliterarischer Holocaustliteratur erkennbar. E s geht u m die Frage: W a s müssen Kinder in Deutschland (West) über die Judenverfolgung wissen und wie muß das literarisch dargeboten werden? Bezeichnenderweise war die Mehrheit der Jury zunächst einmal strikt dagegen, die zur Debatte stehende Erzählung der Niederländerin (und Überlebenden des Holocaust) Clara AsscherPinkhof überhaupt für eine Preisvergabe in Betracht zu ziehen. Das sei kein T h e m a f ü r junge Leser. Diesen Dissens macht dann Erich Kästner zum Gegenstand seiner engagierten Argumentation pro Sternkinder, die in F o r m eines programmatischen Vorwortes der deutschen Erstausgabe beigegeben ist. (Der Kinderroman existiert wohlgemerkt auf niederländisch bereits seit 1946!) Dabei geht es Kästner in erster Linie u m seiner Ansicht nach dringend gebotene Aufklärung deutscher Jugendlicher (und Erwachsener!) über dieses verdrängte Kapitel unmittelbarer Vergangenheit: Diese Sternkinder sind so wichtig, so erschütternd und so schrecklich wie das Tagebuch der Anne Frank. Die Erwachsenen und die Halbwüchsigen müssen es lesen [...] Und auch die Schulkinder, wenigstens die älteren, sollten erfahren, wie damals Kindern mitgespielt wurde [von wem konkret veranlaßt, sagt Kästner wohlweislich nicht - die „Willing executioners" werden nicht benannt - das Verhängnis vollzieht sich im Passiv]. Sie werden Fragen stellen und von den Eltern und Lehrern Auskunft erwarten. Die Aufgabe ist schwer. Aber sie ist unabwendbar. Den Abgrund der Vergangenheit zu verdecken, hieße den Weg in die Zukunft gefährden. Wer die Schuld aus jenen Tagen unterschlüge, wäre kein Patriot, sondern ein Defraudant. Wer aus der schuldlosen Jugend eine ahnungslose Jugend zu machen versuchte, der fügte neue Schuld zur alten.3* Und die Begründung der Jury für die Zuerkennung des Deutschen Jugendbuchpreises 1962 an Sternkinder spielt zwar auf das Authentizitätsmoment an, daß die Autorin das von ihr literarisch verarbeitete Grauen selbst erlebt habe, hebt dann jedoch sehr bezeichnend auf die dichterische Qualität der Erzählung ab, die gleichgesetzt wird mit poetisierender Sinnstiftung: Der Stern, unter dem diese Kinder leben, ist Hitlers Judenstern. Mit einer tiefbewegenden Schlichtheit und Wahrhaftigkeit beschwört die Autorin, die selber jüdische Kinder auf ihrem Leidensweg begleitete, die Bilder jener Zeit. Keines der Sternkinder trägt einen Namen; sie sind namenlose Geschwister ihres Schicksals. Der Gewalt und dem Schrecken
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ausgeliefert, bleiben sie doch Kinder, von einem unzerstörbaren Vertrauen oft wunderbar beschützt. Von solchem Vertrauen durchleuchtet, wird das furchtbare Geschehen zu dichterischem Gleichnis und einer Botschaft von Hoffnung und Versöhnung."
Das eigentliche Skandalon auch der Erzählung Asscher-Pinkhofs, daß nämlich diese Kinder von Deutschen und ihren Handlangern massenhaft vernichtet wurden, verschwindet hier in Wendungen, die sehr demjenigen ähneln, was Adorno als „Jargon der Eigentlichkeit" analysiert und kritisiert hat; es erscheint entschärft und überhöht zu poetischer Wahrheit, „zu dichterischem Gleichnis".4"
VII Eine Sonderstellung innerhalb der frühen deutschsprachigen KJL zum Holocaust nimmt - gerade auch im Vergleich mit motiv- und themenverwandten späteren Texten von Autoren der Opferseite wie Yuri Suhls Auf Leben und Tod oder Uri Orlevs Der Mann von der anderen Seite - der im Warschauer Ghetto während der entscheidenden Jahre 1942/43 spielende Jugendroman Die toten Engel (1963) des österreichischen Autors Winfried Bruckner ein. Die Handlung spielt nahezu ausschließlich unter den jüdischen Opfern, wobei Kindern eine bedeutsame Rolle als Handlungs- und Sympathieträgern zufällt. Auf deutscher Seite figurieren vor allem je zwei namentlich kenntlich gemachte Angehörige der SS-Wachmannschaften sowie Offiziere der Wehrmacht (paritätisch mit jeweils einem BilderbuchZyniker und Repräsentanten des Nazi-Bösen sowie einem menschlich bzw. nichtfanatisch reagierenden Komplement oder auch Gegenpol besetzt). Dieser Roman setzt auf ein durchgängig spannendes, realistisches und nichts beschönigendes Emplotment: Elend, Verfolgung, Widerstand im von der endgültigen Räumung bedrohten Ghetto und schließlich das heroische wie auch rührende Ende der kindlichen und jugendlichen Protagonisten durch Erschießen während Widerstandsaktionen bzw. durch den Abtransport nach Auschwitz. Jüdische Besonderheiten, etwa kulturell-religiöser Art, kommen im Zuge der Handlung nicht vor. Hier liegt auch eine Schwäche in puncto 'objektiver', sachgemäßer Authentizität der Darstellung. Zumindest entsteht ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn etwa eines der jüdischen Kinder die Rettung aus auswegloser Situation von katholischen Heiligen erhofft. Denn es wird nirgendwo erwähnt, daß es sich bei dem kleinen Michel Bronsky um einen
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konvertierten Juden handeln könnte, was sich im Gesamtzusammenhang des Romans im übrigen auch sehr merkwürdig, ja gezwungen ausnähme. Aber selbst dieser um Realismus bemühte Jugendroman, der in der intentionalen Jugendliteratur nicht-jüdischer Provenienz zum Thema bis heute sicherlich einer der härtesten und konsequentesten ist und sich intertextuell-intermedial zwischen Hemingways Wem die Stunde schlägt bzw. Stephan Hermlins daran orientierter Holocaust-Erzählung Zeit der Gemeinsamkeit (1949) und einen Film wie Konrad Wolfs Sterne (1959) einordnen läßt, mildert den Schluß mit versöhnend-sinngebenden Momenten. Eine Gruppe überlebender Kinder ist zusammen mit ihren erwachsenen Betreuern Lersek und Pavel sowie der Krankenschwester Wanda an einem Sammelplatz zum Abtransport zusammengetrieben und wartet darauf, in die Waggons verfrachtet zu werden. Unter ihnen befindet sich auch der siebenjährige Michel Bronsky, der beginnt, einige Heilige anzurufen, auf deren helfende Macht er unbedingt vertraut: „Liebe Heilige", flüsterte Michel, „macht bitte, daß ein Wunder geschieht. Ein ganz großes Wunder, das uns hier wieder herausholt." Er hatte den Kopf tief gesenkt, und die Kinder wagten nicht mehr, ihn anzublicken. Die Lokomotive stieß dunkle Wolken aus. „Nichts", sagte Michel leise, „nichts. Aber vielleicht haben sie mich nicht gehört. Die Lokomotive hat einen so starken Lärm gemacht. Glaubst du, daß sich Heilige von einer Lokomotive stören lassen?" Ein Trupp Deutscher machte Meldung. Die Soldaten standen stramm. Auf der Straße brüllte jemand einen Befehl, und Stiefel traten gegen den Boden. „Wir könnten einstweilen etwas singen", sagte Wanda leise, „nur, bis die Lokomotive aufgehört hat." „Gut", sagte Michel, „wenn die anderen mittun. Aber nur, bis die Lokomotive aufgehört hat." Sie setzte mit ganz langsamer Stimme an, und die Kinder summten mit, und dann sangen sie, und ihre hellen Stimmen wehten weit herüber über den Bahnsteig. Sie sangen ihr Lied von den Blumen und den Schmetterlingen und dem Wind, der die Blumen in den Schlaf wiegt. Die Soldaten und Eisenbahner standen ganz still, und ihre Gesichter waren weiße Flecken. „Sie weinen", sagte Lersek einmal. Pavel schluckte. „Na und?" fragte er. „Die Deutschen", sagte Lersek. Sie sahen hinüber mit einem schnellen, unruhigen Blick, und sie sahen die Soldaten, die noch immer strammstanden und denen Tränen über die Gesichter rannen. Die Kinder sangen. Es war ein helles, fröhliches Lied von Wiesen und Schmetterlingen.41 Nicht zuletzt handelt es sich bei diesem rührenden Schlußtableau mit anständigen, weil vor Rührung weinenden Wehrmachtsangehörigen
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und Eisenbahnern, d.h. mit anständigen Deutschen", um eine Inszenierung, die ihre Wirkung aus Reminiszenzen an den Opfergang des Arztes und Pädagogen Janusz Korczak zieht, der bekanntlich mit seinen Schutzbefohlenen den W e g nach Auschwitz in die Gaskammer antrat. Damit wird erreicht, daß die Perspektive der totalen Vernichtung der Kinder (Holocaust), die hier durch das Bild der dunklen Rauchwolken aus dem Lokomotivschornstein metonymisch herbeizitiert wird, aufgehoben erscheint in der tröstenden Gewißheit, daß es doch noch Menschlichkeit in der Unmenschlichkeit gibt. Wenn schon diese Kinder nicht überleben, so doch die elementare Mitmenschlichkeit.
VIII Eines der Hauptprobleme des kinder- und jugendliterarischen Holocaust-Diskurses ist - gerade weil er sich der verlebendigend-sinnstiftenden Individualisierung 'verschrieben' hat - der Umgang mit der „Dialektik der Moderne" (Zygmunt Bauman), die dem fabrikmäßigen Massenmord an den europäischen Juden und seiner Organisierung - unter dem Superzeichen 'Auschwitz' gefaßt - innewohnt. Die KJL erzählt Schicksale, um Leiden einfühlbar, mitvollziehbar zu machen, zum Zwecke der Sensibilisierung für bzw. Immunisierung gegen Inhumanität, Rassismus, Ungerechtigkeit aller Art, die Menschen an Menschen verüben. KJL ist also - theoretisch formuliert dem Ziel verpflichtet, in ihren jugendlichen Rezipienten eine humane Wertorientierung zu befördern, moralisch relevante Wirkung zu erzielen. Dazu bedient sie sich einfühlungsfördernder Emplotmentstrategien, die geeignet sein sollen, Anteilnahme, Betroffenheit, Rührung, Erschütterung hervorzurufen. Gerade im Fall der Holocaustthematik handelt es sich dabei vielleicht weniger um Katharsis im klassischen Sinne, da junge Leser - und je jünger sie sind desto weniger - keine 'Reinigung' von schuldindizierenden Affekten benötigen; viel eher stellen sich bei ihnen kollektiv vermittelte Abwehrreaktionen gegenüber dem Thema ein: 'Schon wieder das ...'. Irritierend ambivalente, inhaltlich oder strukturell-literarästhetischnarrativ subversive Darstellungstendenzen, „Wirkungsstrategien der eher 'kalten', strukturell gedachten Präsentations- und Rekonstruktionsversuche, die aber gleichfalls auf eine emotionale (und nicht nur kognitive) Affizierung ausgerichtet sind" 43 , trifft man demgegenüber - erwartungsgemäß - in Texten der KJL nicht an. Der Pakt zwischen Text und Leser ist klar auf die Befriedigung moralisch unbedenkli-
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eher bzw. geradezu förderungswürdiger emotionaler Bedürfnisse und auf die schuldentlastende Bestätigung grundlegender moralischer Werte angelegt, zu denen die personifizierte nationalsozialistische Mentalität und Ideologie immer wieder eine wirkungsvolle Negativfolie abgibt. Dabei ist dann das Prinzip des Emplotments und der narrativen Entfaltung wie Verknüpfung in der Mehrzahl der kinder- und jugendliterarischen Holocausterzählungen das der moralisch-didaktischen Synthetisierung von Figuren, Zeichen, Motiven und Handlungsräumen - und deren Repertoire ist bekanntlich recht begrenzt". So gibt es auch auf dem Gebiet der KJL zum Holocaust fast ausschließlich Spielbergs, aber keinen Claude Lanzmann; d.h. es herrscht ziemlich unumschränkt „die Repräsentationslogik der Ähnlichkeit" 45 im Verein mit pädagogisch-moralischen Intentionen. Abschließend soll an einigen Texten der kinder- und jugendliterarischen Holocaust-Inszenierung erörtert werden, in welchem Ausmaß trotz des - systembedingten - Beharrungsvermögens, das diese Literatursparte und ihre Hervorbringungen auch in bezug auf den Holocaust auszeichnet, in letzter Zeit - nicht zuletzt auch durch Texte aus anderen KJL-Bereichen (z.B. neues Mädchenbuch/Adoleszenzroman) - Innovationen in thematischer wie erzählstruktureller Hinsicht erkennbar werden. Sie verbinden sich vor allem mit der wenn auch vergleichsweise direkt in die Handlung einbezogenen, dort in Szene gesetzten und thematisch gemachten - Schockwirkung von dokumentarischem Bildmaterial. In Jaak Dreesens kleiner Erzählung Am anderen Ufer der Flusses (1991/95) gerät die etwa fünfzehnjährige, seit jeher als sensibel bis sonderbar geltende Mirjam, Tochter aus einer gutsituierten belgischjüdischen Familie, in einen seit Wochen andauernden icomaähnlichen Zustand der Bewußtlosigkeit, und keiner weiß, warum. Im sechsten Abschnitt der Erzählung wird dann die traumatisierende Urszene mitgeteilt. Im Alter von vielleicht fünf Jahren wird Mirjam, die wieder einmal zu Besuch bei ihrer Großmutter ist, abends Zeugin eines Dokumentarfilmausschnitts im Fernsehen. Die Großmutter sitzt allein vor dem Fernseher und wähnt die Enkelin längst im Schlaf, als diese überraschend ins Zimmer tritt: Im Fernsehen läuft ein Schwarzweißfilm. Mirjam sieht einen Eisenbahnzug. Sieht müde, hungrige Menschen. Kinder mit großen Augen, die tief in den Höhlen liegen. Ein Kommentator sagt: „Der erste Tag der Fahrt nach Auschwitz war schon schrecklich." (27f.)
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Das Motiv des bildvermittelten Wahrnehmungsschocks ähnelt durchaus demjenigen, von dem Johnsons Heldin Gesine Cresspahl beim Anblick jener Fotografie aus einem KZ ereilt wird. An der Beschreibung des Dokumentarfilms fällt bei genauerem Lesen ein kleines Detail auf, das aber sehr viel über die Funktion und die Logik dieser literarisierten Dokumentarfilmsequenz aussagt: Die entsetzte Heldin sieht jüdische „Kinder mit großen Augen". Hierbei nämlich handelt es sich um einen erstrangigen Traumatisierungs- wie Mitleidssignifikanten, der immer wieder auch in kinderliterarischen Holocaust-Inszenierungen bemüht wird. So befinden sich in Margot Benary-Isberts Kinderromanen um Flüchtlingselend der ersten Nachkriegszeit Die Arche Noah und Der Ebereschenhof (1948/ 49) unter den von amerikanischen Quäkern betreuten DP-Kindern auch „dunkeläugige Judenkinder" [sie], denen die Heldin Margret ihre ganze mütterliche Fürsorge zukommen lassen möchte 46 ; und zwar funktioniert das ganz gemäß der Wirkungslogik von Kinderbildern im Holocaust-Diskurs: „Die bekannten Fotos von jüdischen Kindern etwa sind dabei besonders geeignet, Opferstatus, absolute Unschuld und brennenden Wunsch nach Erlösung sentimental zusammenzuschließen."" Das gilt auch für Myron Levoys 1982 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichneten, im New York des Jahres 1944 spielenden Jugendroman Der gelbe Vogel (1977/81), in dem Filmeindrücke eine bedeutsame Rolle spielen. Sie nämlich fügen der individuellen Begegnung des Helden Alan Silverstein mit einem durch das Erlebnis von Gestapo-Brutalität traumatisierten jüdischen Opfer, dem etwa zwölfjährigen Mädchen Naomi, den filmvermittelten Anschauungsschock einer authentischen Deportationsszene aus Warschau hinzu. Hier liegt dann auch der Schlüssel zum Verständnis der ansonsten kryptischen Widmung des Romans: „Für das Mädchen mit den dunklen Augen". Nach dem Durchbruch einer entscheidenden Erinnerung Naomis an den Tod ihres Vaters, den Gestapo-Schergen bei einer Hausdurchsuchung vor den Augen der verzweifelten Tochter verursachen, geht der Held mit dem noch ganz aufgewühlten Mädchen durch die Straßen: Naomi sagte nichts, aber von Zeit zu Zeit blickte sie auf Alan [...] Wieder überkam ihn die gespenstische Vorstellung, er hätte ein solches Mädchen schon einmal gesehen oder gekannt. Mit diesen großen schwarzen Augen. Da zuckte etwas in seiner Erinnerung - es hatte mit den Nazis zu tun, irgendwie mit dem Zusammentreiben von Juden, wart mal... wart doch mal ... Und dann kam die Erinnerung zurück. Er hatte einmal eine Wochen-
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schau im Kino gesehen, ebendie, bei der sein Vater geweint hatte. Da war ein Mädchen mit großen schwarzen Augen gewesen, die Soldaten hatten sie in einen Lastwagen verfrachtet. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und für einen winzigen Augenblick genau in die Kamera geblickt. Sie sah aus wie Naomi, die gleiche Stirn, die gleichen Augen und die Trauer darin. Es waren Dutzende von Juden gewesen, die für den Transport zum Konzentrationslager gewaltsam in den Lastwagen verladen worden waren. Aber das Mädchen hatte Alan direkt angeschaut, und er hatte sich auf seinem Sitz gewunden, ganz erfüllt von dem wilden Wunsch, ihr zu helfen. Es war natürlich nicht Naomi, der Schauplatz war Warschau in Polen gewesen. 4 "
Das Faktum einmal beiseite gelassen, daß es während des Krieges unmöglich war, daß derartiges Dokumentarmaterial aus noch nicht befreiten Gebieten an die Alliierten gelangte - das filmvermittelte Déjà-vu als zentrales Motiv in einem prominenteren Text der Jugendliteratur zum Thema 'Holocaust' ist bezeichnend. Im übrigen zählt derartiges zu den wirkungsvollen Erzählstrategien, wie die Figur des Mädchens im roten Mantel in Schindlers Liste zeigt, das eine ähnliche Funktion erfüllt. Eine andere Spielart kinderliterarisch vermittelten ikonischen Schocks, der sich einiger Signifikanten aus dem Komplex bzw. der Konstellation des Superzeichens 'Auschwitz' und des ihm zugrundeliegenden filmischen-fotografischen Dokumentarmaterials bedient, liegt in dem seinerzeit Aufsehen erregenden fotorealistischen Bilderbuch Rosa Weiss (1987) vor, das die kleine Titelheldin als mitleidige und dann mehr und mehr teilnehmende Beobachterin jüdischen Elends in einem KZ bis an dessen Stacheldraht und zuletzt auch in den Tod während dort stattfindender Kampfhandlungen führt. Die Begegnung mit (ver-)hungernden jüdischen Kindern am KZ-Stacheldrahtzaun, deren Verbildlichung auf eine der bekannten Fotografien zurückgreift4*, ist natürlich eine so effektvolle wie realiter nahezu unmögliche Szene; ein im Bilderbuchbereich wirkungsästhetisch so neuartiges wie natürlich auch umstrittenes Inszenierungsverfahren, um Betroffenheit herbeizuführen. (Abb. 2 u. 3)
IX Wie stellt sich Intention und Beschaffenheit des kinder- und jugendliterarischen Holocaustdiskurses in den 90er Jahren dar, nachdem einige Aufmerksamkeitsschübe durch Deutschland gegangen sind, die auch - in Form einer wachsenden Zahl einschlägiger Titel (bis
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1995 etwa 150) - ihre Spuren in der KJL hinterlassen haben? Die 'Hitlerwelle' der 70er Jahre, der breitenwirksame Durchbruch der Holocaust-Thematik mit der Ausstrahlung der Holocaust-TV-Serie 1979/80 und schließlich die Steigerung dieser öffentlichen Aufmerksamkeit für das peinvolle Thema durch Spielbergs Film Schindlers Liste (1992) sind hier in erster Linie zu nennen. Die Wissens- und damit auch die Rezeptionsvoraussetzungen in bezug auf das Thema Judenverfolgung/Holocaust haben sich gerade auch unter Kindern und Jugendlichen seit 1960 - dem Beginn der bundesrepublikanischen Bemühungen um Aufklärung in diesem Bereich50 erheblich gewandelt. Wo zunächst entweder tabula rasa oder auch tabula deformata (durch 'wilden' Geschichtsunterricht in Gestalt von elter- oder großelterlichen Erzählungen gerade auf Seiten der Täternation) herrschte, hat sich inzwischen ein - wie auch immer problematisches - 'Wissen' etabliert, das sich zu nicht unerheblichen Teilen gerade einem audiovisuellen Holocaust-Diskurs verdankt. Das audiovisuelle Element ist dabei auch aus dem schulischen Geschichtsunterricht nicht mehr wegzudenken. Das will bedacht sein, wenn von den Rezeptionsvoraussetzungen für die entsprechende KJL heute die Rede ist. Es existiert bei den jungen Rezipienten solcher Texte mittlerweile ein zeichenbestimmtes Vor-Wissen von der Sache. Als Signifikanten fungieren etwa: Synagogenbrand, Judenstern, Ghetto, Deportation, Eisenbahnschienen/Schienenstränge, Viehwaggon, Lager/Lagertor, Rampe, Selektion, Gaskammer, abgeschnittene Haare, Schuh- und Leichenberge, Verbrennungsöfen, Schornstein u. ä. m., was durch die einschlägigen filmischen wie fotografischen Dokumentarmaterialien und die audiovisuellen Realinszenierungen transportiert und im kulturellen Geschiehts-Bilder-Bewußtsein abgelagert wurde. Erzählungen für junge Leser, die ihre Handlung und ihr Personal in diesem Zusammenhang ansiedeln, müssen es sich nicht mehr in erster Linie angelegen sein lassen, Aufklärung über die basalen Fakten des Holocaust in seiner ganzen Breite zu betreiben, sondern können (oder müssen) andere Ziele verfolgen, dabei aber in Rechnung stellen, daß heutzutage in jedem Fall bestimmte Bilder und Vorstellungen in den Köpfen der Rezipienten vorhanden sind - und zwar zumal von der Sphäre der endgültigen Vernichtung, von den Todeslagern. Gerade in ihr sucht einer der ambitioniertesten jugendliterarischen Versuche der letzten Jahre zum Thema Holocaust seinen Fluchtpunkt. Zu den ambitioniertesten deutschsprachigen Texten muß er allein schon deswegen gezählt werden, weil er mit der stillschweigenden kinder- und jugendliterarischen Konvention bricht, den Holocaust im engeren Wortsinn von
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Ermordung/Vernichtung der europäischen Juden in den T o desfabriken' nur indirekt bzw. andeutend aufzurufen, anstatt ihn zum zentralen Erzählgegenstand zu machen. Es handelt sich bei diesem Text um Gudrun Pausewangs Katastrophenroman Reise im August (1992), der mit der zwölfjährigen Alice Dubsky als Zentralfigur 5 ' die Deportation einer Gruppe (hessischer?) Juden im Viehwaggon nach Auschwitz-Birkenau erzählt (mit vielen Rückgriffen in die Vorgeschichte dieser Katastrophe seit 1933); eine 'Reise', die für alle in der Gaskammer endet, wohin sie vom Erzähler - für Jugendliteratur zum Thema unerhört und hart am Rande des Bruchs des hier noch gültigen Tabus - auch tatsächlich begleitet werden: Im Duschraum drängten sich die Körper der nackten Frauen und Kinder zusammen. Alice sah sie durch die offene Tür. Noch bevor sie selbst im Raum war, begriff sie, daß es zum Duschen sehr eng werden würde [...] „Ob die paar Brausen für so viele ausreichen werden?" hörte sie Ruth fragen. Dann wurde sie von denen, die nach ihnen kamen, in den Raum hineingeschoben. Alice warf einen Blick auf die Decke. Da waren wirklich nicht viele Brausen zu sehen - längst nicht genug für so viele Menschen. Aber vielleicht spritzten sie nach allen Seiten und regneten breit herab? [...] Jetzt öffnete sich quietschend eine andere Tür als die, durch die sie den Duschraum betreten hatte. Herein drängte eine Schar nackter Männer. Ihnen folgten ein paar gestreifte und ein Uniformierter, die neben der Tür stehenblieben. Erschrocken wichen die Frauen zurück. Es wurde noch enger im Raum [...] Sie sah, wie [...] der Uniformierte und die Gestreiften den Raum verließen. Die schwere eiserne Tür fiel ins Schloß. Alice legte den Kopf in den Nacken. Gleich, gleich würde sich nun Wasser aus der Brause dort oben über sie ergießen. Wasser des Lebens. Es würde sie säubern von dem Schmutz und dem Grauen der Reise, würde sie wieder so rein machen, wie sie vorher gewesen war. Sie hob die Arme und öffnete die Hände."
Das sind die Schlußsätze der Erzählung, die ein für die Jugendliteratur bis dahin undenkbares Szenario entwerfen, das seinerseits natürlich bereits häufig Gegenstand z.B. filmischer Repräsentation war. Die Autorin spielt mit dem Widerspruch zwischen der positiven Erwartung der Heldin und dem Wissen der Leser, daß aus diesen Duschköpfen kein Wasser hervorströmen wird - stattdessen aus quadratischen Öffnungen in der Decke der Körnchenstrom des tödlichen Zyklon B." Pausewangs Holocausterzählung entwirft ein für die Autorin auch sonst nicht untypisches Katastrophenszenario 54 , das jedoch hier über den gewissermaßen ikonischen Tabubruch (Abb. 1) hinaus" auch in-
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sofern einen neuen Akzent setzt, als diese Initiationsreise der kindlichen Heldin nicht nur im narrativ vergegenwärtigten Tötungsraum Gaskammer, sondern damit auch in der sicheren und endgültigen Vernichtung endet. Das hat es in dieser radikalen und kompromißlosen Form in der KJL bisher nicht gegeben. Ein Stück Sinnhaftigkeit selbst solchen Sterbenmüssens blieb immer garantiert.56 Entsprechend überwiegen die noch im Unglück sinnverheißenden und/oder zumindest moralisch befriedigenden Schlüsse, wobei es immer wieder der Phantasie der Leser überlassen wird, ob es zu einer positiven, rettenden Wendung kommen kann oder nicht (z.B. in A. Venemas Esther und Thomas u.a.). Die Darstellung des innersten Kreises der Hölle, das Hinführen der jungen Leser bis in diesen letzten Tabubereich war nur mit der pädagogischen Intention individualisierender Veranschaulichung auch noch des Schrecklichsten im Dienste humanisierender, Zeugnis ablegender Erinnerung zu rechtfertigen, wie dies beispielhaft im Nachwort zu dem amerikanischen Holocaust-Roman The Devil's Arithmetic (dt. unter dem Titel Chaja heißt Leben 1989) formuliert wird: Ein Roman kann das Unfaßbare nicht faßbar machen, aber er kann Zeugnis ablegen und dazu beitragen, die Erinnerung wachzuhalten. Ein Erzähler kann versuchen, dem Leser anhand einiger menschlicher Schicksale das Schicksal von Millionen Menschen näherzubringen. Und kann daran erinnern, daß rings um die Schornsteine immer noch die Schwalben zwitschern."
Es geht hier nach wie vor um sinnstiftendes Erinnern, Eingedenken, Mitleiden- und Mitfühlen-Machen. Es kann mit guten Gründen angenommen werden, daß dies auch ein wesentlicher Schreibantrieb für Gudrun Pausewang war, obwohl die Autorin darauf verzichtet hat, ihrem Text eine programmatische Erklärung beizufügen. Die Frage ist, ob Pausewangs Holocaust- als Katastrophenerzählung eine neue wirkungsästhetische Emplotmentstrategie einführt bzw. verfolgt. Selbstverständlich schlägt auch Reise im August einen „moralischen Pakt" zwischen Text und Leser vor und betreibt dessen Zustandekommen." Dieser Pakt impliziert nicht zuletzt auch Wirkungsabsichten, die meist über Identifikationsprozesse zwischen Lesern und Figuren im Text zum Tragen kommen sollen; hier also über das Einnehmen der Erlebnisperspektive der kindlichen Heldin Alice (die nicht in ein Wunderland gerät - es sei denn, man läse das mit bitterer Ironie). Was aber bewirkt solche Identifikation mit einer Heldin, die am Ende vernichtet wird? Trauer, Wut, schlechtes Gewissen darüber,
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nicht nur zu den Überlebenden zu gehören (das wäre eher eine Reaktion, die für überlebende Opfer und ihre Nachkommen vielfach bezeugt ist), sondern überdies noch zur Täternation? Soll, kann daraus ein Erkenntnis anstoßender Lektüreschock erfolgen? In jedem Fall wird die objektiv unheilschwangere Szene auf ihrem Höhepunkt, kurz vor dem Eintreten der denkbar schlimmsten Wendung (katastrophe) abgebrochen oder besser: wie eine filmische Schlußeinstellung eingefroren; es gibt keinen versöhnlichen, nicht einmal einen nachdenklich-resümierenden Ausblick (wie in Joseph Vilsmaiers ebenfalls katastrophisch endendem Stalingrad-Fi\m - von Schindlers Liste und ihrer Apotheose des moralisch positiven Helden ganz zu schweigen).
X Der kinder- und jugendliterarische Beitrag zur „Bewältigungs"- und Gedächtniskultur" des Holocaust in Deutschland (wobei einige bezeichnende Unterschiede zwischen BRD und DDR zu bedenken sind) besteht also in erster Linie darin, den Nachkommen der Tätergeneration ein immer wieder erneuertes Bild von den Leiden der Opfer und ihrer Nachfahren (mittlerweile bis in die dritte Generation) wie der Rolle, die die Deutschen dabei gespielt haben, zu übermitteln: narrativ-fiktionale Mimesis der Verletzungen, der Traumatisierung durch soziale (letztlich 'eliminatorische') Praktiken der Ausgrenzung und Vernichtung und der Verstrickung von Angehörigen der Täternation. Authentizität besteht hier in der historiographischen oder auch biographischen Belegbarkeit des Erzählten; am glaubwürdigsten natürlich in den verschiedenen Formen von Überlebendenerzählungen, die bis heute einen quantitativ bedeutenden Anteil an der für Kinder und Jugendliche vorgesehenen Holocaustliteratur haben, selbst wenn sie ursprünglich gar nicht für dieses Publikum geschrieben wurden. Und noch etwas ist mit dieser Literatur, mit der von ihr betriebenen 'Belletristifizierung* des Holocaust bzw. des Holocausterlebnisses und der Holocausterfahrung zwangsläufig verbunden: die Forderung nach Konsumierbarkeit, die mit Sicherheit beim Gros des jungen Lesepublikums ganz weit oben rangiert. Es muß auch diesen Texten gelingen, einen Leseanreiz zu schaffen und zu erhalten. Das Gewicht des Themas allein bewirkt - gerade in der KJL - noch gar nichts, wie Jurek Becker so provokant wie zurecht vermerkt hat. Auch die Holocaustthematik unterliegt im kinder- und jugendliterarischen Bereich dem wachsenden Konkurrenzdruck anderer und je nach Aktualität wech-
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selnder Problemthemen wie Ausländerhaß/Neonazismus, Drogen, Dritte Welt, Umwelt usw. M Nur zögernd wendet sich die deutschsprachige KJL den Problemen der Nachgeborenen des Holocaust zu (was z.B. in der israelischen KJL schon lange der Fall ist). Zuletzt wird dieser Aspekt in dem Jugendroman von Hilde Lermann Die Sache mit Armin (1996) thematisiert, einer 1957 in München spielenden präadoleszenten Liebesgeschichte zwischen Hanni, der Tochter eines Münchener Studienrates (und ehemaligen Wehrmachtsangehörigen), und Armin, dem Sohn der jüdischen Künstler- und Bohemefamilie Silbermann, die dem Holocaust zumindest teilweise entkommen ist. Auch dieser erst jüngst erschienene Text entwirft einen konkreten, in der Realität der frühen Bundesrepublik durchgängig verortbaren Handlungsraum, dessen Atmosphäre mit dem Bemühen um mimetische Authentizität herbeizitiert wird; darin eine Pubertätsgeschichte, in die der Holocaust seine Schatten wirft, abgewehrt durch den zum alltäglichen Ressentiment zurückgestutzten, hinter bemühter Pseudounvoreingenommenheit nur schlecht verdeckten Antisemitismus und eine ihm korrespondierende kleinbürgerlich-muffige Misoxenie. Dieser vorläufig letzte Jugendroman mit Holocaustthematik praktiziert eine Form unterhaltend-engagierenden, durchaus ironisch perspektivierenden, persiflierenden Erzählens, das als solches gleichweit von den Mitleids- und Zeigefingerbüchern der 50er und 60er Jahre entfernt ist wie von den literarischen Experimenten im Diskurs der Postmoderne. Es verdankt sich weniger der Orientierung an den Erzählstandards der allgemeinen Holocaustliteratur, ist vielmehr genrespezifisch für den jugendliterarischen Adoleszenzroman, dessen Besonderheiten es für die Darstellung des nach wie vor schwierigen und belasteten Themas nutzt. Aber vielleicht steckt gerade darin bereits ein Stück zukünftigen, innovativen (postmodernen) Umgangs auch der Kinderund Jugendliteratur mit diesem Teil des deutschen 'nationalen Erbes'.
Anmerkungen: ' Jizchak Katzenelson Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk (1943/44), aus dem Jiddischen iibs. von Wolf Biermann u.d. T. Großer Gesang vom ausgerotteten
jüdi-
schen Volk, Taschenbuchausgabe München 1996, S. 63. 1
Erstmals veröffentlicht in der Oktobernummer der in Moskau erscheinenden Zeitschrift Internationale
Literatur.
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R ü d i g e r Steinlein
1
Kinderschuhe aus Lublin. In: Johannes R. Becher: Werke in 3 Bänden. Berlin-Ost
4
Die beiden letztgenannten Stationen spielen eine wichtige Rolle etwa im Schicksal
1971, B d . l . S . 314-319. der Familie von Anne Frank, die nach ihrer Verhaftung im August 1944 nach BergenBelsen und von dort aus teilweise nach Auschwitz deportiert wurde. !
Stemkinder. Hamburg 1986, S. 110.
* Für die Sparte .Jugendbuch" und ausdrücklich nicht „Kinderbuch"! 7
Sehr charakteristisch ist die heftige Kritik, die Ursula Kühn in ihrer 1971 an der Humboldt-Universität eingereichten Dissertation an den Sternkindern
übt. Sie hat den
etwas krausen Titel: Die spezifischen bewußtseinsbildenden Potenzen der Wirklichkeitsbezeichnung in der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur der DDR über den antifaschistischen Widerstandskampf unter besonderer Berücksichtigung der literarischen Gestalten. S. 92ff. * Heidelberg 1950. Die Lizenzausgabe für die DDR erscheint erstmals 1957 in Ostberlin bei Union, dem Verlag der Ost-CDU. ' Die Uraufführung der von dem amerikanischen Ehepaar Hackett-Goodrich besorgten Dramatisierung fand am 5.10.1955 in New York statt. Ein Jahr später, am 1.10.1956, erfolgte die deutsche Erstaufführung in Berlin (West). 10
In: Theodor W. Adorno: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt/M. 1963, S. 143.
" Zit. n. Frank Schenke: Die Kinder mit dem gelben Stern - Schilderungen von Kindheit in den Texten Jurek Beckers. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien 1/97, S. 16. 12
Ebd. S. 15.
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Colloquium „Kunst und Literatur nach Auschwitz", FU Berlin Januar/Februar 1992, Podiumsdiskussion vom 3.2.92, Transskript des Tonbandmitschnitts (unveröff.), S. 6.
" Andreas Huyssen: Von Mauschwitz in die Catskills und zurück: Spiegelmans Holocaust-Comic Maus, in diesem Band, S. 171-190. " Jakov Lind oder Edgar Hilsenrath wären mit ihren 'blutigen' Holocaust-Satiren Eine Seele aus Holz (1962) oder Der Nazi