Tierethik transdisziplinär: Literatur - Kultur - Didaktik 9783839442593

Do animals need rights? What responsibility do humans have for them? Culture, literature and didactic models provide new

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German Pages 428 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Tierethik und Philosophie
Alte Fragen – neue Antworten
Der Paratext in Immanuel Kants Metaphysik der Sitten und seine (tier-)ethischen Implikationen
Tom Regans Philosophie für Tierrechte
Tierethik und Kulturwissenschaft
Agens oder Patiens
»¿On és la misericòrdia dels animals?«
Rosa Hase: Bildende Kunst und tiersensible Didaktik
»Ahhhhh… – I lost my appetite«
Jägerinnen unter Jägern
»Irrtum und Heuchelei der Pflanzenesser«
»Tiere sind die besseren Menschen«
Tierethik und Literaturwissenschaft
Die Schwierigkeit der Wirklichkeit
Can the Animal Speak?
(Re-)Präsentation und Narration
Tierversuche und Versuchstiere in Clemens J. Setz’ Indigo (2012)
Gegen den Strich gelesen
Tierethik und Didaktik
Literary Animal Studies: Ethische Dimensionen des Literaturunterrichts
Zur Relevanz des Themas »Tierethik« im kompetenzorientierten Deutschunterricht
Die Entwicklung eines tiersensiblen Lehrplans für den Literaturunterricht im Rahmen der Auslandsgermanistik
Skizze einer Tierdidaktik mit anschließendem Unterrichtsentwurf
Der Film Bärenbrüder als Praxisumsetzung einer tiersensiblen Lektüre im Deutschunterricht der 5. Klassenstufe
»Komm, Rudi… Jetzt gehen wir schön in die Wohnung, erst duschen, dann Zähneputzen und dann ins Bett.«
Tierethische und literaturdidaktische Potenziale in Paul Maars Wiedersehen mit Herrn Bello
Die Letzten ihrer Art
Autorinnen und Autoren
Danksagung
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Tierethik transdisziplinär: Literatur - Kultur - Didaktik
 9783839442593

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Björn Hayer, Klarissa Schröder (Hg.) Tierethik transdisziplinär

Human-Animal Studies  | Band 16

Björn Hayer, Klarissa Schröder (Hg.)

Tierethik transdisziplinär Literatur – Kultur – Didaktik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Du sollst nicht töten«, Karl Wilhelm Diefenbach 1902, Städel Museum Frankfurt a.M. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4259-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4259-3 https://doi.org/10.14361/9783839442593 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9

Björn Hayer und Klarissa Schröder

TIERETHIK UND PHILOSOPHIE Alte Fragen – neue Antworten Die Kontinuität der Tierethik von den Anfängen bis zur Gegenwart

Dieter Birnbacher | 25 Der Paratext in Immanuel Kants Metaphysik der Sitten und seine (tier-)ethischen Implikationen

Samuel Camenzind | 43 Tom Regans Philosophie für Tierrechte Subjekte des Lebens im Kontext von intrinsischen und inhärenten Wertdiskursen

Erwin Lengauer | 61

TIERETHIK UND KULTURWISSENSCHAFT Agens oder Patiens Die semantischen Rollen von Wolf und Hund in der Kulturwissenschaft

Dagmar Burkhart | 79 »¿On és la misericòrdia dels animals?« Zur Ethik des Tierverzehrs im Spanien des 16. Jahrhunderts

Teresa Hiergeist | 101 Rosa Hase: Bildende Kunst und tiersensible Didaktik

Ana Dimke | 119 »Ahhhhh… – I lost my appetite« Zu Isabella Rossellinis Green Porno

Denise Dumschat-Rehfeldt | 133 Jägerinnen unter Jägern Rekonstruktion männlicher Herrschaft im Feld Jagd

Ulrike Schmid | 151

»Irrtum und Heuchelei der Pflanzenesser« Zur Wahl sprachlicher Mittel in tierrechtsthematischen Beiträgen

Daniel Gutzmann und Katharina Turgay | 169 »Tiere sind die besseren Menschen« Moralisierungen im Web 2.0 aus tierlinguistischer Perspektive

Pamela Steen | 191

TIERETHIK UND LITERATURWISSENSCHAFT Die Schwierigkeit der Wirklichkeit Cora Diamond über verschiedene Formen moralischen Denkens

Friederike Schmitz | 213 Can the Animal Speak? Sprechende ›Tiere‹ in literarischen Texten

Andrea Klatt | 231 (Re-)Präsentation und Narration Der Löwe in Hans Blumenbergs Poetik der Erinnerung

Kevin Drews | 247 Tierversuche und Versuchstiere in Clemens J. Setz’ Indigo (2012)

Jonas Meurer | 269 Gegen den Strich gelesen Gotthold Ephraim Lessings Fabeln aus Sicht der Literary Animal Studies

Björn Hayer | 281

TIERETHIK UND DIDAKTIK Literary Animal Studies: Ethische Dimensionen des Literaturunterrichts

Gabriela Kompatscher | 295 Zur Relevanz des Themas »Tierethik« im kompetenzorientierten Deutschunterricht Eine Betrachtung aus curricularer Perspektive

Eva Pertzel | 311

Die Entwicklung eines tiersensiblen Lehrplans für den Literaturunterricht im Rahmen der Auslandsgermanistik Eine Fallstudie aus Indien

Anu Pande | 331 Skizze einer Tierdidaktik mit anschließendem Unterrichtsentwurf

Julia Stetter | 347 Der Film Bärenbrüder als Praxisumsetzung einer tiersensiblen Lektüre im Deutschunterricht der 5. Klassenstufe

Janine Eichler | 359 »Komm Rudi… Jetzt gehen wir schön in die Wohnung, erst duschen, dann Zähneputzen und dann ins Bett.« Tierethische Perspektiven auf Uwe Timms Kinderromane in schulischen Lehr- und Lernkontexten

Torsten Mergen | 373 Tierethische und literaturdidaktische Potenziale in Paul Maars Wiedersehen mit Herrn Bello

Andreas Wicke | 391 Die Letzten ihrer Art Ausgestorbene Tiere erzählen vom Artensterben

Berbeli Wanning und Anke Kramer | 403 Autor_innenverzeichnis | 419 Danksagung | 425

Vorwort Björn Hayer und Klarissa Schröder

»Für uns arme Stadtmenschen aus dem 20. Jahrhundert ist die Gefahr, in der Frage Mensch und Kreatur stecken zu bleiben, besonders groß. Die wenigsten unter uns besitzen auch nur einen Hund; die Kühe, deren Milch wir trinken, haben wir nie gesehen. Unser Zur-MieteWohnen hat eine chinesische Mauer zwischen dem Tier und uns aufgerichtet. Die Kinder bei uns wachsen auf und haben nie, wie die draußen auf dem Land, das Seelenvolle und Persönliche in dem Wesen des Tieres kennen gelernt, und es fehlt ihnen die Sinnhaftigkeit und Milde des Gemütes, das auch mit Tieren gelebt hat. Das Weh der Kreatur bleibt uns etwas Fremdes. Gar vielen Menschen ist es gar nicht mehr bewusst, dass sie mithaften für das, was die Kreatur bei uns erduldet. Sie denken auch, dass wir es eigentlich sehr weit gebracht haben. Wir haben ja den Tierschutzverein, wir haben die Polizei, die werden schon die nötige Vorsorge treffen. Wer aber die Augen aufmacht, der erwacht aus dieser Sicherheit und sieht, was alles geschieht, weil keine Menschen da sind, die über die Kreatur wachen. Wie waren wir doch alle so gewiss, dass in unserm Schlachthaus alles aufs beste bestellt sei, weil’s ja jetzt langsam zum Dogma wird, dass Straßburg in jeder Beziehung eine Musterstadt ist. Wir waren gewiss, dass alle Tiere möglichst ohne Qual und Angst getötet würden; und als dann einer letzten Sommer der Sache auf den Grund ging und seine Beobachtungen veröffentlichte, da erfuhren wir plötzlich, dass unser Schlachthaus in mancher Hinsicht eine wahre Tierhölle war und dass es darin zuging, wie es in einem modernen Schlachthaus nicht zugehen darf.«1

Was der Friedensnobelpreisträger und Theologe Albert Schweitzer über die moderne Entfremdung des Menschen vom Tier schrieb, hat heute mehr denn je Geltung. Infolge der fordistischen Umstellung der Wirtschaftsstruktur im frühen 20. Jahrhundert bleibt auch der Agrarsektor nicht von Industrialisierungsprozessen ver-

1

Schweitzer, Albert: »Die zum Leiden verurteilte Kreatur«, in: Erich Gräßer (Hg.), Albert Schweitzer. Ehrfurcht vor den Tieren, München: C.H. Beck 2006, S. 48-57, hier S. 50.

10 | Björn Hayer und Klarissa Schröder

schont. Fortan wird nicht nur der Mensch verstärkt durch Maschinenkraft ersetzt. Auch das animale Wesen erfährt eine Entwertung zur bloßen Ware. Das daraus resultierende Leiden ist mittlerweile in allen Medien präsent.2 Immer wieder dokumentieren Journalist/-innen und Tierschutzaktivist/-innen Bilder von dehydrierten Schweinen auf Tiertransporten, von geschredderten Küken, unzureichend betäubten Rindern3 oder gar Schlachtungen trächtiger Kühe. Aufgrund dieses in der Geschichte der Tierhaltung singulären Ausmaßes massenhafter Qualphänomene, aufgrund dieser – um es mit Schweitzer zu sagen, »Tierhölle« – , die durch Preisdruck und veränderte Ernährungsweisen in der Wohlstandsgesellschaft hervorgerufen wird, stellt sich mehr denn je die Frage nach einer Neuauslotung der Interspeziesverhältnisse. Welchen Beitrag können dazu die Geisteswissenschaften wie auch universitäre oder schulische Bildungseinrichtungen leisten? Sensibilisierung? Vermessungen des Diskursfeldes? Das mitunter. Doch das Spektrum an Potenzialen bezieht weitaus mehr Aspekte ein. Für die Beiträge des vorliegenden Bandes stellen insbesondere jüngere Positionen der Tierethik den Referenzrahmen zur Verfügung. Nachdem Denker des extremen respektive gemäßigten Anthopozentrismus4 bis in die frühe Moderne hinein auf dem »Eigenschaftenansatz«5 insistiert haben, um das Animalum gegenüber dem Humanum abzugrenzen, stellen behaviouristische und neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse die kulturell gewachsenen Konstruktionen von der vermeintlichen Inferiorität von letztgenanntem zunehmend infrage. Kriterien wie Sprachfähigkeit oder das Selbst- bzw. Todesbewusstsein können kaum noch als distinkte Merkmale benannt werden. Nur zwei Beispiele plausibilisieren eine Aufweichung der traditionell zementierten Grenzziehung zwischen den Spezies: Mit manchen Primaten besteht etwa 97%ige, mit Schweinen ungefähr 90%ige genetische Äquivalenz.6 Zudem gilt es zu diskutieren, ob überhaupt bestimmte, vom Standpunkt des Menschen formulierte Maßstäbe als moralisch relevant im Hinblick auf ein etwai-

2

Vgl. Szegin, Hilal: »›Tiere sind meine Freunde‹ – Wirklich? Ethische Überlegungen zur Haustierhaltung«, in: Viktoria Krason/Christoph Willmitzer (Hg.), Tierisch beste Freunde. Über Haustiere und ihre Menschen, Berlin: Matthes & Seitz, S. 88-119, hier S. 92.

3

Vgl. Foer, Jonathan Safran: Tiere essen, Köln: KiWi 2009, S. 293.

4

Vgl. Schmitz, Friederike: »Tierethik – eine Einführung«, in: Dies. (Hg.), Tierethik. Grundlagentexte, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 13-73, hier 32ff. und 37ff.

5

Ebd., S. 50.

6

Vgl. Spiegel Online vom 27.01.2011 (http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/genomvergleich-orang-utan-und-mensch-sind-nahezu-identisch-a-741828.html, letzter Abruf am 23.07.2018).

Vorwort | 11

ges Lebensrecht oder Grundrechte im Allgemeinen angesehen werden können.7 Denn letztlich versteht sich jedwede künstlich behauptete »Dualisierung […] als Produkt diskursivierter Machtverhältnisse«,8 die allein vom Menschen etabliert wurden und diesen samt seiner ausgewählten »Haustiere« privilegiert. Dass wir die einen streicheln und verwöhnen, während wir die anderen ausbeuten, bezeichnet Garry Francione als »moralische Schizophrenie«.9 Iris Därmann spricht diesbezüglich von »einem affektiven Besetzungsabzug, einer radikalen Ungleichbehandlung«.10 Darüber hinaus, so Josef H. Reichholf, »können wir keine klaren Grenzen ziehen, welche Arten nun eigentlich zu den Haustieren zu rechnen sind und welche nicht. Zwischen den echten, vom Menschen gezüchteten Haustieren und den reinen Wildtieren gibt es ein breites, sehr artenreiches Übergangsfeld.«11 Längst plädieren Philosophen wie Tom Regan, Robert Spaemann oder der Rechtswissenschaftler Bernd Ladwig für eine institutionell und juridisch wirksame Aufwertung der Tiere. Eine Haltung der Gnade genügt aus ihrer Sicht nicht. Denn »Tierschutz bedeutet eben immer nur Tiergnade. Was führende Tierethiker stattdessen verstärkt fordern, sind verbindliche, juristische Regeln.«12 Da sich schon Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft im Hinblick auf kognitive Fähigkeiten, moralisches Bewusstsein oder Merkmale wie Religion, Ethnie etc. unterscheiden würden, müsse, um dennoch allen dieselben Zugänge zu Menschen- und/oder Grundrechten zu gewähren, nach Ansicht von ersterem vom Konzept einer »fundamentalen Ähnlichkeit«13 ausgegangen werden. Regan kapriziert diese auf den Terminus

7

Vgl. Francione, Garry L.: »Empfindungsfähigkeit, ernst genommen«, in: Schmitz, Tierethik (2014), S. 153-174, hier S. 173.

8

Schröder, Klarissa/Hayer, Björn: Tierethik in Literatur und Unterricht. Ein Plädoyer, in: Dies. (Hg.), Didaktik des Animalen. Vorschläge für einen tierethisch gestützten Literaturunterricht, Trier: WVT 2016, S. 1-14, hier S. 1.

9

G. Francione: Empfindungsfähigkeit, S. 159.

10 Därmann, Iris: Haustiere und Tierfreunde. Über Nähe und Ferne von Menschen und Tieren, in: Viktoria Krason/Christoph Willmitzer (Hg.), Tierisch beste Freunde. Über Haustiere und ihre Menschen, Berlin: Matthes & Seitz, S. 12-48, hier S. 14. 11 Reichholf, Josef H.: Leben mit Tieren. Eine Vorbemerkung, in: Ders. (Hg), Haustiere. Unsere nahen und doch so fremden Begleiter, Berlin: Matthes & Seitz 2017, S. 7-11, hier S. 11. 12 Hayer, Björn: »Das große Fressen. Ernährung artet derzeit in Glaubenskrieg aus. Vor allem zulasten derer, denen Tier und Klima am Herzen liegen. Ein Plädoyer für Verantwortung«, in: Neues Deutschland vom 24.09.2016 (https://www.neues-deutschland.de/artikel /1026539.das-grosse-fressen.html, letzter Abruf am 20.07.2018). 13 Regan, Tom: »Von Menschenrechten zu Tierrechten«, in: Schmitz, Tierethik (2014), S. 88-114, hier S. 101.

12 | Björn Hayer und Klarissa Schröder

»Subjekt eines Lebens«.14 Diese Gemeinsamkeit teilt der Mensch mit Tieren, insofern »wir […] alle der Welt gewahr [sind]« und das, »was mit uns geschieht, […] für uns von Bedeutung [ist].«15 Somit ist bereits die Fähigkeit, die eigene Situation und Umwelt wahrzunehmen, relevant: »Wenn Kühe vor dem Schlachthof flüchten, verfügen sie augenscheinlich über ein Mindestmass an Bewusstsein. Sie erkennen ihre Feinde samt der Bedrohungslage und treffen aufgrund der Umstände eine Entscheidung. Wer nun behauptet, dass sich Bewusstsein durch einen höheren Grad beispielsweise an mathematischem oder räumlichem Denken auszeichne, ist unredlich und unfair. Denn er erklärt damit menschliche Fähigkeiten zum Mass aller Dinge.«16

Bewusstsein wird somit niederschwellig als eine elementare Art der Perzeptionsfähigkeit definiert, die keinerlei rechtlichen Ausschluss mehr von animalen Kreaturen legitimiere. Für Ladwig und Spaemann ist eine Ausweitung des Moralbegriffs relevant, um die Besserstellung von Tieren – wohlgemerkt ohne die Reduzierung des Menschen – zu begründen. So schließt dieser aus Sicht von ersterem nicht nur Moralfähigkeit, sondern gleichsam Moralbedürftigkeit ein, 17 wobei ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt des Diskurses, jener von Interessen, hinzukommt. Wohingegen Moral im klassischen Sinne, wie der Rechtswissenschaftler nachweist, den mündigen Menschen voraussetzt und somit per se anthropozentrisch sei,18 stelle das Interesse am Wohlergehen eine speziesübergreifende Konstante dar.19 Der Umstand, dass wir alle verletzlich sind und den Wunsch hegen weiterzuleben, schafft im Sinne einer Moralbedürftigkeit die Basis für einen rechtlichen Rahmen. Klargestellt wird in dieser »nicht-idealen« Theorie der Tierrechte20 jedoch, dass dadurch nicht automa-

14 Ebd. 15 Ebd. 16 Hayer, Björn: »Denk auch an die Tiere. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ist willkürlich gezogen. Veganer sind keine Moralapostel, sondern Kritiker dieses Hierarchiedenkens«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16.05.2017 (https://www.nzz.ch/feuilleton/ veganismus-denk-auch-an-die-tiere-ld.1293394, letzter Abruf am 20.07.2018). 17 Vgl. Ladwig, Bernd: »Warum manche Tiere Rechte haben – und wir nicht die einzigen sind«, in: MRM – MenschenRechtsMagazin (2015) 2, S. 75-86, hier S. 80. 18 Vgl. ebd., S. 83. 19 Vgl. ebd., S. 84. 20 »Nicht-ideal« bedeutet, dass der Ansatz nicht per se eine vollständige rechtliche Gleichstellung zwischen Mensch und Tier vorsieht. Er geht zwar auch von einer Aufwertung

Vorwort | 13

tisch für alle dieselben Zugangsmöglichkeiten und Schutzmaxime gelten müssen.21 So weist Ladwig darauf hin, dass selbst in der menschlichen Gesellschaft juristische Differenzierungen vorzufinden seien. Man denke beispielsweise an das lediglich den Erwachsenen vorbehaltene Wahlrecht. An Ladwigs Ansatz knüpft unmittelbar die Frage nach der »Würde der Kreatur« an, wie sie sie in den Verfassungen der Schweiz (seit 1992) und Luxembourg (seit 2018) verankert ist. Um sie zu behaupten, müsse zunächst, so Robert Spaemann, von der Würde des Menschen ausgegangen werden, die nicht nur mit Privilegien, sondern, ausgehend etwa von der Definition im Grimmschen Wörterbuch, ebenfalls mit Pflichten verbunden sei.22 Indem der Mensch somit Verantwortung gegenüber den Tieren wahrnehme, manifestiere sich überhaupt erst dessen Würde. 23 Wie eine mögliche Verwirklichung einer rechtlichen Institutionalisierung aussehen kann, ist Gegenstand einer neueren Richtung, die Versuche einer staatspolitischen bzw. politikwissenschaftlichen Ausarbeitung unternimmt. Hierbei ist vor allem auf Sue Donaldsons und Will Kymlickas Zoopolis hinzuweisen. Auch sie grundieren ihren Ansatz zunächst auf elementare Annahmen des Tierrechtsdiskurses: »Tiere existieren nicht, um menschlichen Zwecken zu dienen. Sie sind weder Diener noch Sklave der Menschen, sondern sie haben ihre eigene moralische Bedeutung, ihr eigenes subjektives Dasein«.24 Daraus folgten »moralischen Grundrechte auf Leben und Freiheit«.25 Obwohl in dieser Vorannahme auf den ersten Blick keinerlei Differenz zu Regan in Erscheinung tritt, distanzieren sich die Autorin und der Autor in einem wesentlichen Punkt von einer »idealen« Tierrechtstheorie. Denn dekliniert man ihnen zufolge die Konsequenzen, die sich aus einer strengen Egalisierung zwischen den Spezies (im Sinne einer »idealen« Theorie) ergäben, weiter

der Tiere aus, jedoch können rechtliche Differenzierungen zwischen den Spezies möglich sein. 21 Vgl. dazu Schmitz, Friederike: »Tierschutz, Tierrechte oder Tierbefreiung?«, in: MRM – MenschenRechtsMagazin (2015) 2, S. 87-96, hier S. 95. 22 Hier wird eine Sittlichkeit annotiert, wonach »die wahre würde des menschen in der genauen beobachtung seiner pflichten bestehe«, s. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, Leipzig: Hirzel 1984, Sp. 2077f. 23 Vgl. Spaemann, Robert: »Tierschutz und Menschenwürde«, in: Ursula M. Händel (Hg.), Tierschutz, Testfall unserer Menschlichkeit, Frankfurt a.M. 1984, S. 71-81, hier S. 76f; vgl. auch Hayer, Björn: »Jenseits der Legitimation: Ein Plädoyer für die Würde des Tieres«, in: Billo Heinzpeter Suder (Hg.), Tiere nutzen? Und Pflanzen?, Winterthur: edition mutuelle 2017, S. 306-309, hier S. 308f. 24 Donaldson, Sue/Kymlicka, Will: Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 16. 25 Ebd., S. 17.

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durch, so würden zum einen alle Beziehungen zwischen Menschen und den bislang domestizierten Tiere gekappt und zum anderen verschiedene Arten wie die »Milchkuh« etc. aussterben. Die Argumentation in Zoopolis hält im Wissen um die jahrtausendealte human-animalische Interdependenz dagegen: »Diese Vorstellung ist […] nicht nur in empirischer Hinsicht von vorneherein zum Scheitern verdammt – denn es ist unmöglich, Menschen und Tiere so voneinander zu trennen, daß sie hermetisch gegeneinander abgeriegelten Bereichen angehören –, sondern sie ist auch in politischer Hinsicht eine Belastung.«26

Alternativ dazu schlagen Donaldson und Kymlicka vor: »Unser langfristiger Plan ist nicht darauf ausgerichtet, die Verbindungen zwischen Mensch und Tier zu trennen, sondern es geht darum, die reichen Möglichkeiten solcher Verbindungen zu erkunden und zu bejahen.«27 Intendiert ist mittels spezifischer Ausgestaltung unterschiedlicher Rechtsstatus, die zwischen den mit uns am nächsten zusammenlebenden Arten und jenen etwa der Wildnis oder im Wald unterscheiden, der »Aufbau neuer Beziehungen der Gerechtigkeit«.28 Was Sympathie für diese Theorie hervorruft, ist eine markante Ambivalenz: Einerseits mutet sie utopisch an, insofern ein Teil der Tiere mitunter wie Staatsbürger/-innen zu behandeln sei, andererseits wohnt ihr ein nötiger Pragmatismus inne. Indem Relationen nicht verschwinden, sondern eben neu ausgehandelt werden, ergeben sich Potenziale für einen sinnstiftenden, gesellschaftlichen Dialog zwischen bis heute oftmals verfeindeter Oppositionen wie Jäger/-innen und Tierrechtsaktivist/-innen. Bis hierhin soll ein grober Überblick über zentrale Positionen und Diskussionen innerhalb der Ethik genügen, da der Hauptfokus des Bandes primär auf deren Implementierung in oder Bezugnahme durch künstlerische Werke liegt. Insbesondere immersive Medien wie Literatur und Film können, so die Grundüberlegung dieser Beiträge, transdisziplinär dazu beitragen, Empathie und Verständnis für andere Kreatur zu befördern. Sie laden zur Identifikation mit dem anderen ein und schaffen somit eine breite Basis für Sensibilisierungsprozesse. Jene Fragen, welche die später noch vorzustellenden Beiträge behandeln, stehen dabei in einem inzwischen klar umrissenen methodischen Rahmen, welcher über die theoretische Ebene der Tierethik hinausgeht. So bewegen sich die Texte in den Koordinaten der Human oder Cultural Animal Studies. Sie sind Ausweis des noch jungen Animal turns in den Kulturwissenschaften. Ihre Ausrichtung versteht sich als Disziplinen übergreifend: Sie umfassen Fä-

26 Ebd., S. 562. 27 Ebd., S. 563. 28 Ebd.

Vorwort | 15

cher wie Geschichte, Zoologie, Theologie und eben auch die Literatur- und Medienwissenschaft. Als einschlägige Werke dieser neuen Perspektivierung von Artefakten sind exemplarisch Roland Borgards (teilweise et al.) Herausgeberbände Robinsons Tiere (2016), Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch (2016), Tier – Experiment –Literatur. 1880 – 2010 (2013), Jochen Thermanns Kafkas Tiere. Fährten, Bahnen und Wege der Sprache sowie der Einführungsband Human-Animal Studies (2017) von Gabriela Kompatscher et al. zu erwähnen. Einen besonderen Mehrwert generieren Sichtweisen des New Materialism: Statt Tiere in kulturellen Artefakten wie bisher als reine Motivspender und Zweckobjekte zu sehen, wird man ihnen zunehmend als Akteuren gewahr. 29 Borgards spricht diesbezüglich von »diegetische[n] Tiere[n] […] die auch als Lebewesen, als fassbare Elemente der erzählten Welt auftauchen«.30 Damit verbunden ist der Terminus der »Animal agency«: »Dieses Konzept besagt, dass Tiere Akteure mit Wirkmacht bzw. Handlungsmacht sind und daher menschliche Gesellschaften beeinflussen und verändern können.«31 Als Folge daraus ergibt sich wiederum eine Aufwertung der animalen Kreatur. Donna Harraway, bezeichnenderweise auch Feminismusforscherin und poststrukturalistisch orientierte Intellektuelle, prononciert dafür die Beziehung als konstitutives Moment für die Zuschreibung eines Subjektstatus: »Durch ihr Ineinandergreifen, durch ihr ›Erfassen‹ oder ihren Zugriff konstituieren Wesen einander und sich selbst. Sie existieren nicht vor ihren Verhältnissen und Beziehungen. Das ›Erfassen‹ hat Konsequenzen. Die Welt ist ein Knoten in Bewegung. Biologischer und kultureller Determinismus sind beides Fälle von fehlplatzierter Konkretheit«.32

29 Vgl. Kompatscher, Gabriela: »Literaturwissenschaft. Die Befreiung ästhetischer Tiere«, in: Reingard Spannring/Karin Schachinger et al. (Hg.), Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen, Bielefeld: transcript 2015, S. 137-159, hier S. 143. 30 Borgards, Roland: »Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung«., in: Herwig Grimm/Carola Otterstedt (Hg.), Das Tier an sich. Disziplinen übergreifende Perspektiven für neue Wege im wissensbasierten Tierschutz, Göttingen: Vandehoeck & Rupprecht 2012, S. 87-118, hier S. 96ff. 31 Kompatscher, Gabriela/Spannring, Reingard et al.: Human-Animal Studies, Münster/New York: Waxmann 2017, S. 220. 32 Harraway, Donna: Das Manifest für Gefährten, Berlin: Merve 2016, S. 12f.

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Damit schließt sich der Kreis der Animal Studies mit der Tierethik – eine Dyade, die in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung noch immer als Desiderat angesehen werden muss. Die Diskussionen der vorliegenden Beiträge gehen dabei stets über einen Wertediskurs hinaus. Im Mittelpunkt steht der Anspruch, die eng damit verknüpften ästhetischen Dimensionen zu verhandeln. Dass Ethik und Ästhetik zusammen gehören, ja, einander geradezu bedingen, ist eine wichtige Vorannahme. Welch gelingende Kombination sie eingehen können, demonstriert ein Gedicht von Markus Hallinger, das in der wegweisenden kookbooks-Anthologie All dies Majestät ist deins. Lyrik im Anthropozän erschienen ist. »Der Hase schießt, Piff Paff mit dem Gewehr. Der Jäger fällt vom Baum. Das reimt sich nicht, kein Sieg, die Waffe passt zum Hasen nicht, geht schief. Das ganze Ding schlägt quer, ein Störfall, überhaupt, ein anderes Kaliber, grad Heckler/Koch, das wird kein Grün, das ist kein Wald, wo s spielt, ein anderes Szenarium, mit echten Waffen drin, und anderen Wörtern und Begriffen. Nix das verfängt, in Fängen wie von Wild; der Hasenfuß, die Pfote weiß der Schnee, der Weißdorn blüht das zynisches Gelände, voll Stacheln, weil die Jäger sind wie sie, – ein jeder Herr ist schrecklich; trägt Beute aus, von Ruß geschwärzt, von Pulverdampf, vom Licht der Sichtgeräte: blau und hungernd … (: Magere Typen, sportlich, Rennfahrer, allesamt nicht vom Aussterben bedroht, keine Elefanten, keine Nashörner, aber blutig, und mit einer Träne im Knopfloch, von ungefähr). Nur ihrer Sprache mächtig.«33

Um die Verfahrensweise der nachfolgenden Beiträge zu exemplifizieren, soll hier eine kurze Analyseskizze vorgestellt werden.

33 Hallinger, Markus: »Der Hase schießt, Piff Paff / mit dem Gewehr. Der Jäger fällt vom Baum«, in: Anja Bayer/Daniela Seel (Hg.), Lyrik im Anthropozän. Anthologie, Berlin: kookbooks 2016, S. 185.

Vorwort | 17

Der Titel lässt uns zunächst an den Struwwelpeter denken, in dem sich das beschriebene Szenario in ähnlicher Weise abspielt. Die poetische Miniatur erzählt von einer utopischen Begebenheit: Ein Hase erschießt einen Jäger, der Gejagte, eigentlich ein sogenanntes »Fluchttier«, wird selbst zum Jäger, zum Rächer und Herrscher über Natur und Mensch. Würde diese unmöglich anmutende Vorstellung in der Realität ihre Entsprechung finden, könnte buchstäblich ein Reim daraus entstehen. Doch »die Waffe passt zum Hasen nicht, geht schief. / Das ganze Ding schlägt quer, ein Störfall, / überhaupt, ein anderes Kaliber«, lesen wir. Verstärkend wirken die Figura etymologica »Nix das verfängt, in Fängen wie von Wild« oder grammatikalischen Dissonanzen wie »der Weißdorn blüht / das zynisches Gelände«. Parallelistisch und anaphorisch verfestigt, wird im zweiten Teil statt der Umkehr der Verhältnisse die triste Wirklichkeit konturiert: »ein jeder Herr ist schrecklich; / trägt Beute aus, von Ruß geschwärzt, von Pulverdampf, / vom Licht der Sichtgeräte«. Jäger werden zunächst als grausam und – für den Standpunkt eines ökosozialen Gender-Diskurses – als maskulin markiert. Wo sie agieren, dominiert phallogozentristisches Machtgehabe mit dem Gewehr. Somit werden Attribute eines klassisch, machistischen Männlichkeitsbildes wachgerufen. Sie sind charakterisiert durch die fehlende Empathie mit ihren Opfern, erweisen sie sich doch letztlich als »nur ihrer Sprache mächtig«, wie die Schlusspointe konstatiert. Man könnte diesen Text mit seiner umgangssprachlichen und anfangs onomatopoetischen Note als allzu leichtfüßig und vielleicht gar kindisch aburteilen, würde man die Verschränkung der tierethischen Implikation mit dem poetologischen Aussagegehalt übersehen. Denn wovon das Poem kundtut, ist die Inkonformität zweier Kommunikations- und Sprachsysteme. Es thematisiert in Analogie zu Rassismus und Sexismus den »Speziesismus«,34 der auf vom Menschen definierte Hierarchisierungs- und Diskriminierungsmerkmale gründet. Der Reim misslingt zu Beginn, weil innerhalb des (traditionellen) humanen Denk- und Sprachkosmos die Ermächtigung der Vierbeiner nicht vorkommen kann oder darf. Der Jäger als extremstes Beispiel zivilisatorischer Hegemonie führt vor Augen, dass der Mensch nie ganz wissen wird, was Tiere wollen oder wie sie sich im Kern verständigen. Viele von ihnen mögen ihm ähnlich erscheinen, aber beide Spezies bleiben auch im Anthropozän Gefangene ihres Wirkungsraumes. Die Grenze der Sprache fällt mit der Grenze des Bewusstseins bzw. der Erkenntnisfähigkeit zusammen. Und dennoch veranschaulicht dieses Gedicht die Leistungsfähigkeit von Literatur: Sie unterstützt trotz der natürlichen wie künstlichen Grenzziehungen emotionale und kognitive Auseinandersetzungen mit dem Fremden. Sie kann den Leser/die Leserin zwar nicht vollends in den Hasen hineinversetzen, aber sie vermag eine

34 Vgl. Ryder, Richard: »Speciesism Again: The original leaflet«, in: Critical Society 1 (2010) 2, S.1-2, hier S. 1.

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Imagination seines subjektiven Empfindens zu konstruieren und einen Raum für Um- und Neudenken zu gewähren. Sprache und Sprachvermögen bilden in diesem Sinn die Voraussetzung für eine Ethik und eine Ethik bildet wiederum die notwendige Grundlage für eine Vorstellungskraft und Aussagefähigkeit, die nicht an der Speziesgrenze Halt macht. Literarische Werke in den Fokus zu nehmen, führt demnach zu praktischen Einsichten, sodass keinerlei Gefahr einer durch Theoriediskussionen beförderten Ablenkungsstrategie, die Friederike Schmitz zurecht benennt,35 zu erwarten ist. Im Gegenteil: Jenseits hermeneutischer Akrobatik bietet der didaktische Teil im letzten Kapitel der vorliegenden Studie einen unmittelbaren Nutzen an: Wie Schröder an Bilderbüchern verdeutlicht, ergibt sich die »Möglichkeiten zur Perspektivübernahme« gerade aus der Beobachtung einer leidenden Kreatur. 36 Dadurch, dass Tiere in literarischen Texten und Medien als Ich-Erzähler oder personale Reflektorfigur in Erscheinung treten, vermitteln sie Lesenden nicht nur Wissenswertes aus deren Leben, sondern berühren gleichzeitig durch das persönliche Schicksal und können somit einen rücksichtsvolleren Umgang mit Tieren anregen. 37 In welcher Weise dieser Umgang innerhalb eines tierethischen Diskussionsrahmens auch kritisch im Unterricht aufgegriffen und reflektiert werden kann, veranschaulichen insbesondere die Beiträge im letzten Abschnitt. Doch welche Möglichkeitshorizonte zur Perspektivenübernahme entwickeln die Aufsätze im Einzelnen? Dieter Birnbacher zeichnet zunächst die Entwicklungslinie der tierethischen Debatten und Positionen von der Antike bis in die Gegenwart nach. Besonders dokumentiert werden dabei sowohl die Begründungsmuster für den Anthropozentrismus bzw. Speziesismus als auch Argumentationslinien, die eine rechtliche Aufwertung des Tieres legitimieren können. Daran anknüpfend beleuchtet Samuel Camenzind Immanuel Kants Pflichtensemantik, wobei allen voran dem Epitext zur Tugendlehre eine forcierte Bedeutung zukommt. Es wird deutlich, dass animale Wesen entgegen klassischer KantInterpretationen, welche oftmals primär auf dessen Vorlesungen rekurrieren, eine herausragende Stellung innerhalb der Moralphilosophie einnehmen.

35 Vgl. Schmitz, Friederike: Tierethik, Münster: compassion media 2017, S. 8f. 36 Schröder, Klarissa: »Moralische Handlungsanforderungen am Beispiel der Haustierhaltung in ›tierfreundlichen Kinderbüchern‹«, in: Dies./Hayer, Tierethik in Literatur und Unterricht (2016), S. 197-211, hier S. 209. 37 Vgl. Bonacker, Maren: »Von mutige Mäusen, wandernden Wölfen und einem dichtenden Schwein. Wenn Tiere zu Kinderbuchhelden werden – Ein Vorwort«, in: Dies. (Hg), Hasenfuß und Löwenherz. Tiere und Tierwesen in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Wetzlar: Happel 20011, S. 7-12.

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Während der Denkkosmos des Königsberger Philosophen jedoch noch einem anthropozentrischen Weltbild verhaftet bleibt, weisen die Schriften Tom Regans bereits auf das posthumane Zeitalter hin. Dieser repräsentiert einen juridischen Diskurs. Im Zentrum stehen, wie Erwin Lengauer erläutert, die Postulierung individueller Rechte auf Basis eines angenommen »inhärenten Werts« eines jeden Tieres. Nachdem mit den ersten drei Beiträgen philosophische Basistexte und -annahmen der Ethik besprochen werden, eröffnet Dagmar Burkharts Aufsatz das Kapitel zu den kulturwissenschaftlichen Analysen von Mensch-Tier-Beziehungen. Anhand einer diachronen Darstellung des Wolfes in Literatur und Film exemplifiziert sie Deutungsstrategien der Cultural Animal Studies. Der gängigen Lesart von Tieren als Motive stellt sie dabei den Ansatz der semantischen Rollen von agens und patiens aus der Kasus-Grammatik entgegen. Da die diskursive Betrachtung der Mensch-Tier-Beziehungen unmittelbar Fragen zur Ernährung aufwirft, geht Teresa Hiergeist in ihrem Beitrag ¿On és la misericòrdia dels animals? Zur Ethik des Tierverzehrs im Spanien des 16. Jahrhunderts der Diskussion um Quantität und Legitimation des Fleischessens im spanischen Raum der frühen Neuzeit nach. Kontroversen, die hierin aufgedeckt werden, reichen bis in die Gegenwart hinein, wenn etwa das paradoxe Verhältnis zwischen den sogenannten »Haustieren« und den »Nutztieren« in den Fokus gerät. Besonders anschaulich bringt die Installation »Hase« der Künstlergruppe Gelitin die gesellschaftlichen Widersprüche auf den Punkt. Als überlebensgroßes »Kuscheltier« in der freien Natur lädt es zur Begehung und Reflexion ein, wobei sich, wie Ana Dimke herausstellt, das Potenzial zur Empathie ergeben kann. Dass im transdisziplinären Spektrum der Tierethik gerade das Medium Film in besonderer Weise dazu geeignet ist, emotionale Erfahrungen zu vermitteln, demonstriert Denise Dumschat-Rehfeldts Analyse von Isabella Rossellinis Green Porno über den Umgang des Menschen mit den Ökosystemen der Weltmeere. Indem sie darin für ein differenziertes Tierbild wirbt, sensibilisiert sie das Bewusstsein der Zuschauer/-innen für die Schutzwürdigkeit des reichhaltigen und individuellen Lebens in der Tiefsee. Untersuchen die vorigen drei Beiträge Interspeziesbeziehungen innerhalb der Welten künstlerischer Artefakte, verhandelt Ulrike Schmid in ihrer Studie die kapitalistischen und patriarchalen Motive der Jagd. In diesem Rahmen gelingt es ihr, eine Typologie unterschiedlicher Jagdbedürfnisse zu veranschaulichen. Ebenfalls an empirischen Befunden orientiert sind die beiden folgenden sprachwissenschaftlichen Aufsätze. Daniel Gutzmann und Katharina Turgay richten ihre Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Mittel in theoretischen Texten, die Argumentationen zur Tierethik zum Gegenstand haben. Kritisieren die ProVertreter/-innen eher mit sachlichen Argumenten den Status quo der beklagenswer-

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ten Haltung animaler Wesen, unternimmt die Contra-Seite vor allem den Versuch der Diffamierung ihrer Gegner/-innen. Das linguistische Interesse des sich anschließenden Beitrags gilt den Alltagsmoralisierungen auf der Internetplattform Facebook, in die Tiere als moralische oder moralisierte Akteure involviert sind. Pamela Steen zeigt dabei auf, wie letztere zu Teilen virtueller Kommunikationsdramaturgien werden. Gerade die menschlichen Deutungsbemühungen für animale Verhaltensweisen geben ideologisch verfestigte Strukturen und Stereotypen zu erkennen. Das literaturwissenschaftliche Kapitel eröffnet Friederike Schmitz’ Text zur Schriftstellerin Cora Diamond, an deren Werken sich zugleich die Stärke fiktionaler Texte für die tierethische Sensibilisierung aufzeigen lässt. Jenseits der rational begründeten Argumentationsstrategien für Rechte und Bedürfnisse unserer Mitwesen machen insbesondere die Aufsätze der Schriftstellerin deutlich, dass ein anderes Mensch-Tier-Verhältnis aus Einstellungen hervorgeht, die letztlich animalische Subjekte schon an sich als moralisch begreifen. Dazu kann die Möglichkeit zur Übernahme der Perspektive des anderen in literarischen Werken einen wichtigen Beitrag leisten, wie Andrea Klatt in ihrer Annäherung sowohl an Beispielen angloamerikanischer Prosa als auch deutschsprachiger Texte von Musil oder Tawada indiziert. In ihrem Beitrag Can the Animal Speak? zeigt sie auf, dass literarische Texte einen Beitrag zum »Tier-Erkennen« leisten können und Tiere durch unterschiedliche Formen des Eintauchens in deren Bewusstsein, obwohl sie selbst nicht sprechen können, eine »ethische Berechtigung« erlangen. Dass diese mit der ästhetischen Komposition eines Werks zusammenhängen kann, belegt Kevin Drews in seiner Untersuchung des Löwen in Hans Blumenbergs Poetik der Erinnerung. Darin wird die Raubkatze nicht als bloßer Symbolträger geoder missbraucht. Vielmehr vermittelt sich gerade durch die Akzentuierung von dessen spezifisch physiologischen Eigenheiten ein Erzählen des anderen, des »Tier[s] jenseits determinierender Attributionen«. Eine Problematisierung von deren Verzwecklichung bietet der von Jonas Meurer analysierte Roman Indigo von Clemens J. Setz. Anhand von Schilderungen verschiedener Tierversuche im 20. Jahrhundert entfaltet der Gegenwartsautor motivisch zentrale Momente seines literarischen Anliegens, die Reflexion von »Leiden und Schmerzen, Mitleid und Verantwortung, Einsamkeit und Entfremdung«. Betrachtet man Tiere als eigenständige Subjekte, so lassen sich kanonische Texte und Textsorten, in denen sie vorkommen, neu interpretieren. Exemplarisch unterzieht Björn Hayer daher die Fabeln Gotthold Ephraim Lessings einer Relektüre, wobei stereotype Kreaturen wie Esel oder Bär zu kommunikationsfähigen Trägern ihrer Interessen werden. Die tierethische Diskussion im Unterricht zu verankern bzw. zu legitimieren, forcieren die didaktischen Beiträge, welche Gabriela Kompatscher einleitet.

Vorwort | 21

Nachdem sie zunächst die Literary Animal Studies methodologisch umreißt, eruiert sie an Beispielen lateinischer Zeugnisse des Mittelalters »Konzepte der Annäherung« an »Tiertexte«, woran sich Didaktisierungspotenziale anschließen. Hierbei kommt der Kultivierung von Empathie sowie dem Nachdenken über ethisch fundierte Mensch-Tier-Beziehungen eine wesentliche Bedeutung zu. Um tierethische Gesichtspunkte in den Deutschunterricht zu implementieren, bedarf es auch einer Begründung auf Basis der geltenden Curricula. Nachdem Eva Pertzel in ihrem Beitrag zunächst Potenziale und Grenzen des Lehrplans am Beispiel Nordrhein-Westfalens auslotet, knüpft sie an Erprobungsformen für das Lernen des Argumentierens an. Da animalische Gefährt/-innen gerade in der Lebenswelt von Jugendlichen einen hohen Stellenwert einnehmen, ermöglicht ihnen dieser persönliche Bezug auf leichte Weise tierethische Positionen nachzuvollziehen oder gegeneinander abzuwägen. Auch im folgenden Beitrag steht die Entwicklung eines »tiersensiblen Lehrplans«, allerdings aus internationalen Perspektive, im Zentrum. Anu Pande stellt eine Fallstudie der Germanistikabteilung der English and Foreign Languages University in Hyderabad vor, bei der junge Studierende neun Hundewelpen vor dem Ertrinken retteten und diese anschließend während der Lektüre tierethischer Texte im Unterrichtsraum versorgten. Pande zeigt auf, dass »tiersensible Texte und die Sensibilisierung der Studierenden in einer Wechselbeziehung stehen.« Daran schließt sich Julia Stetters Korpus möglicher literarischer Werke zur Behandlung in der Schule an. Sie bieten »Anlass zur Kontroverse« und erlauben in besonderem Maße rezeptionsästhetische Zugänge. Gerade die Offenheit der Texte, was das Schicksal der Tiere im Einzelnen anbetrifft, provoziert ein Nachdenken über das rechte Verhalten des Menschen gegenüber seinen Mitwesen. Wie eine konkrete Aufarbeitung eines kulturellen Produkts unter tiersensiblen Vorzeichen erfolgen kann, diskutiert Janine Eichler im Hinblick auf den Film Bärenbrüder. Hierin wird »die Geschwisterlichkeit von Mensch und Tier, die sich auf einem Gleichheitsverständnis gründet«, prononciert. Das Medium lädt zum Perspektivwechsel, zur Aufdeckung von Anthropomorphismen sowie zur Reflexion einer theologisch grundierten Verantwortungsethik ein. Eine besondere Betrachtung der tierischen Andersartigkeit erlaubt Torsten Mergens Untersuchung der Kinderromane Uwe Timms. Im Vordergrund der Werke Rennschwein Rudi Rüssel sowie Die Zugmaus stehen Kreaturen, die entweder vom Menschen vornehmlich als Schädlinge inferiorisiert werden oder als Objekte im Rahmen der Nahrungsmittelproduktion Verwendung finden. Indem die Texte hingegen für Verständnis für vermeintlich niedere Arten sorgen, problematisieren sie zugleich die von Widersprüchen und Ambivalenzen bestimmten Mensch-TierBeziehungen der industriellen Spätmoderne. Geeignet für die Kultivierung des Mitgefühls sind beispielsweise Schreibaufgaben oder szenische Verfahren, in denen sich junge Leser/-innen mit Tieren identifi-

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zieren. Solcherlei methodische Strategien schlägt Andreas Wicke in seinem Aufsatz zu Paul Maars Wiedersehen mit Herrn Bello vor. Hierin trägt mitunter das Durchbrechen der Sprachgrenzen zur Überwindung des Speziesismus bei. Erzählen die bisherigen literarischen Zeugnisse zumeist von animalen Wesen unserer unmittelbaren Lebenswelt, gehen Berbeli Wanning und Anke Kramer Kinderbüchern auf den Grund, die bereits ausgestorbene Arten fokussieren. Letztere werden dabei als Erzählfiguren revitalisiert und avancieren somit zu Identifikationsfiguren. Neben der Vermittlung von evolutionärem Grundwissen bildet allen voran die Sensibilisierung für den Artenschutz ein Kernanliegen der vorgestellten Primärwerke.

Tierethik und Philosophie

Alte Fragen – neue Antworten Die Kontinuität der Tierethik von den Anfängen bis zur Gegenwart Dieter Birnbacher

EINLEITUNG: DIE TRENDWENDE IN DER TIERETHIK In allen früheren Epochen dominierte in unserem Kulturbereich die Auffassung, dass die Beweispflicht bei demjenigen liegt, der meint, nicht nur Menschen, sondern auch Tiere seien um ihrer selbst willen schützenswert. Der Mainstream der europäischen Ethik war bis ins 19. Jahrhundert hinein nahezu durchweg anthropozentrisch orientiert. Dem Menschen wurde nicht nur eine Sonderstellung innerhalb der animalischen Natur zugewiesen, sondern eine Alleinstellung als Gegenstand moralischer Berücksichtigungswürdigkeit. Die Tiere kamen nahezu ausschließlich als Objekte, nicht als Subjekte in den Blick. Die beherrschende Auffassung war, dass gegenüber ihnen allenfalls eine indirekte, aber keine direkte moralische Verantwortung besteht. Wer ein Tier schädigt, ist danach möglicherweise gegenüber den Besitzer/-innen oder Halter/-innen des Tiers verantwortlich, nicht aber gegenüber dem Tier selbst. Das hat sich gründlich geändert. Seit längerem sind derjenige und diejenige beweispflichtig, die meinen, Tiere seien nicht um ihrer selbst willen schützenswert. Selbst in das in Deutschland geltende, stark vom Anthropozentrismus Kants inspirierte Grundgesetz ist im Jahr 2002 – nach langjährigen Widerständen u. a. von Seiten der Forschungsförderinstitutionen – in Art. 20a der Schutz der Tiere aufgenommen worden. Erst damit wurde der Tierschutz ein Staatsziel mit Verfassungsrang. Bis dahin hatte sich das Verfassungsrecht zu der im Grunde paradoxen Konstruktion genötigt gesehen, den Tierschutz mit dem Menschenwürdeprinzip aus Art. 1 GG zu begründen, wenn es darum ging, die mit Verfassungsrang ausgestattete Forschungsfreiheit entsprechend zu begrenzen. Eine der Konsequenzen des neuen Rechtsstatus der Tiere ist aus meiner Sicht eher beklagenswert: Mit der Novellie-

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rung des Tierschutzgesetzes ist die in Deutschland seit langem nicht mehr strafbare Sexualität mit Tieren erneut zu einem Strafdelikt geworden – nicht zum Schutz der Menschenwürde, sondern zum Schutz der tierlichen Würde. Bisher hat sich die rechtliche Aufwertung des Tierschutzes allerdings nur geringfügig auf das in der Praxis geforderte Schutzniveau ausgewirkt. Das Staatsziel Tierschutz koexistiert weiterhin mit Praktiken – und der weitgehenden Akzeptanz von Praktiken –, die unter Tierschutzaspekten als problematisch gelten müssen: der vielfach tierquälerischen Aufzucht, Haltung, Transportierung und Schlachtung von hochgradig empfindlichen Säugetieren in der Fleischproduktion, der mangelnden Kontrolle von Qualzüchtungen bei Schoßtieren, der ausgesprochen forschungsfreundlichen Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie in die nationale Gesetzgebung und der Zoohaltung von Menschenaffen und Meeressäugern. Zwischen der hochherzigen Beschwörung der »Mitgeschöpflichkeit« des Tiers in § 1 des Tierschutzgesetzes und der Praxis des Umgangs mit Tieren besteht weiterhin eine tiefe Kluft. Ablesen lässt sich die gegenwärtige Trendwende und ihre Vorboten u. a. an der philosophischen Diskussion um Tierrechte. Die Idee, Tieren Rechte zuzuschreiben, ist nicht neu. Aber sie hat seit dem 18. Jahrhundert erheblich an Stoßkraft gewonnen. Den Anfang machte Rousseau, der im Vorwort zu seiner Abhandlung über die Ungleichheit von 1755 davon spricht, dass auch die Tiere am Naturrecht teilhaben. 1 30 Jahre später forderte Wilhelm Dietler in einem in Mainz erschienenen Traktat mit dem Titel Gerechtigkeit gegen Thiere zum ersten Mal ausdrücklich die Anerkennung von Tierrechten. Diese sollten nicht so weit gehen, dass es dem Menschen verboten wäre, Tiere zu seiner Nahrung und zu seiner Sicherheit zu töten. Aber der Mensch solle die Tiere lediglich »auf die schnellste, gelindeste, schmerzenloseste Art«2 töten dürfen. Auch dürfe er sie nicht allein zum Zweck des Vergnügens jagen oder seine Launen an Haustieren abreagieren. Während es sich bei den von Dietler postulierten Rechten um moralische, nicht unmittelbar justiziable Rechte handelte, wurde kurz darauf für Tiere auch die Anerkennung juridischer, gesetzlicher oder anderweitig im Rechtssystem verankerter Rechte gefordert. Einer der ersten war der Hegelianer Karl Christian Friedrich Krause, bekannt durch den südamerikanischen Krausismo. In Vorlesungsmanuskripten, die vermutlich zwischen 1820 und 1830 entstanden und später unter dem Titel System der Rechtsphilosophie herausgegeben wurden, spricht Krause von dem »Recht der Thierheit im Verhältnisse zu dem Rechte der Menschheit« und weist den Tieren ein »bestimmtes Gebiet ihres

1

Rousseau, Jean-Jacques: »Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen«, in: Ders., Schriften zur Kulturkritik. Hamburg: Meiner 1978, S. 61-269, hier: S. 72f.

2

Dietler, Wilhelm: Gerechtigkeit gegen Thiere (1787), Neudruck Bad Nauheim: AskuPresse 1997, S. 26.

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Rechts« zu, zu dem u. a. das Recht auf leibliches Wohlbefinden, das Recht auf Schmerzlosigkeit und sogar das Recht auf die »erforderlichen Lebensmittel«3 gehörten. In der Folgezeit sind die für die Tiere eingeklagten Rechte – analog zu den Menschenrechten – erheblich ausgeweitet worden. Tierschutzdenker und -aktivisten wie Henry Salt, Albert Schweitzer und Leonard Nelson haben den weiteren Schritt getan und für Tiere – mit unterschiedlichen Begründungen – ein Lebensrecht (im Sinne des Rechts, nicht getötet zu werden) postuliert. Seitdem ist der Begriff »Tierrechte« und insbesondere der Begriff »Tierrechtler/-in« für die Vertreter dieser Rechte unauflösbar mit der Forderung nach einer weitgehenden Ausdehnung der im allgemeinen nur Menschen zugestandenen Rechte auf Tiere verbunden, einschließlich des Rechts auf Leben, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, Schutz vor Gefangenschaft und des Rechts auf art- und würdegemäße Behandlung.

DIE ANTHROPOZENTRISCHE TRADITION Die Begründung für die Leugnung einer moralischen Verantwortung für Tiere wurde in der westlichen Tradition der Ethik hauptsächlich darin gesehen, dass Tiere bestimmter für den Menschen wesentlicher Fähigkeiten ermangeln: Vernünftigkeit (Augustinus, Descartes, Kant), Zukunftsbewusstsein (Origines), Sprachfähigkeit (Descartes) oder Religionsfähigkeit (Augustinus). Das Nichtverfügen über die jeweiligen Fähigkeiten wurde als hinreichender Grund gesehen, Tieren den Status von Subjekten abzusprechen, gegenüber denen eigenständige menschliche Pflichten bestehen. Allerdings waren die Argumente, die zu diesem Zweck vorgetragen wurden, vielfach nicht besonders überzeugend. Es ist kaum zu glauben, dass sie akzeptiert worden wären, hätte nicht von vornherein ein Vorurteil in dieser Richtung bestanden. Einige der Argumente sind kaum mehr als eine Abfolge von non sequiturs, wie etwa das folgende, mit dem Descartes dafür argumentiert, dass Tieren die Bewusstseinsfähigkeit (cogitatio) abgeht: »Würden Tiere denken wie wir, hätten sie eine unsterbliche Seele; dies wiederum ist nicht wahrscheinlich, gibt es doch keinen Grund dafür, dies für einige Tiere zu postulieren, ohne es für alle zu postulieren. Es gibt aber Tiere, die für eine derartige Annahme schlicht zu unvollkommen sind, man denke nur an Austern und Schwämme.«4

3

Krause, Karl Christian Friedrich: Das System der Rechtsphilosophie. Hg. von Karl David August Röder, Leipzig: Brockhaus 1874, S. 246.

4

Descartes, René: Correspondance. Hg. von Charles Adam und Gérard Milhaud. Bd. 7, Paris: Vrin 1936, S. 227.

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Descartes’ Argument entspricht einem beliebten rhetorischen Kniff: der unzulässigen Verallgemeinerung der gegnerischen Position. Sachlich ist es schlicht ungültig. Aber auch Kant, der wirkmächtigste Vertreter einer rein anthropozentrischen Ethik in der bisherigen Geistesgeschichte, geht von zutiefst zweifelhaften Prämissen aus, wenn er meint, der Mensch könne keine Pflichten gegenüber den Tieren haben, weil diese selbst keine Pflichtsubjekte sein können: »Nun kennen wir aber mit aller unserer Erfahrung kein anderes Wesen, was der Verpflichtung (der aktiven oder passiven) fähig wäre, als bloß den Menschen. Also kann der Mensch sonst keine Pflicht gegen irgendein Wesen haben als bloß gegen den Menschen.«5

Kant setzt voraus, dass Pflichten auf einer wechselseitigen Verpflichtung beruhen und insofern stets reziprok sein müssen: Wem keine Pflichten zugeschrieben werden können, gegenüber dem sollen auch keine Pflichten bestehen. Er bedenkt nicht, dass Pflichten auch gegenüber Menschen bestehen, die schon deshalb als Pflichtsubjekte nicht in Frage kommen, weil sie dauerhaft unmündig sind. In der stoischen und christlichen Tradition wurde der ethische Anthropozentrismus zusätzlich durch die metaphysische Annahme gestützt, dass die Tiere ausschließlich um des Menschen willen da seien. Weil sie für den Menschen geschaffen seien, dürfe der Mensch über sie nach Belieben verfügen. Man kann in diesem Fall von – einem »starken Anthropozentrismus« – sprechen. Nach Seneca existieren »die Tiere (und die gesamte übrige nicht-menschliche Natur) ... um des Menschen, des einzigen vernünftigen Wesens willen«. Nach Thomas von Aquin sind die Wesen, die nur Leben haben, »im allgemeinen für alle Tiere da und die Tiere für den Menschen»...»Unter den verschiedenartigen Verwendungsmöglichkeiten ... scheint jener Gebrauch am meisten notwendig zu sein, bei dem die Tiere sich der Pflanzen, die Menschen sich der Tiere zur Nahrung bedienen, was nicht ohne Tötung jener geschehen kann.«6

Es bleibt jedoch unerklärt, warum – bei Seneca – die Vernunft eine so hohen Rang gegenüber dem Unvernünftigen beanspruchen kann, dass sie sich alles Übrige zu eigen machen kann, und warum – bei Thomas von Aquin – die hierarchische Stufung der Naturwesen eine unbegrenzte Lizenz für die »höherrangigen« Wesen bedeutet, die jeweils »niederrangigen« für sich zu nutzen.

5

Kant, Immanuel: Werke. Akademie-Textausgabe. Bd. 6, Berlin: de Gruyter 1968, S. 442.

6

Bondolfi, Alberto: Mensch und Tier. Ethische Dimensionen ihres Verhältnisses, Fribourg: Universitätsverlag 1994, S. 59.

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Zur Ehrenrettung vieler Vertreter der anthropozentrischen Tierethik sei darauf hingewiesen, dass das, was sie persönlich über Tiere dachten, nicht immer ihren Prinzipien entsprach. So verurteile Thomas von Aquin die bereits zu seiner Zeit in Italien übliche Jagd auf Singvögel. Kant ging sogar noch weiter und postulierte in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, dass einem langgedienten Nutztier – aus »Dankbarkeit für lang geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich als ob sie Hausgenossen wären)«7 – das Gnadenbrot nicht verweigert werden sollte. Die Begründung einer eigentlichen Ethik des Tierschutzes ist – wie der Menschenrechte – wesentlich eine Leistung der Aufklärungsphilosophie, insbesondere von Philosophen, die der christlichen Lehre skeptisch bis kritisch gegenüberstanden und die Moral weniger in der Vernunft als in den Empfindungen begründet sahen: Hume, Voltaire, Rousseau, Bentham und Schopenhauer. Vor dem Zeitalter der Aufklärung waren schutzorientierte Normen nur ganz vereinzelt vertreten worden, häufig aufgrund religiöser Überzeugungen mit außereuropäischen oder pantheistischen Wurzeln: bei dem vom Pythagoreismus beeinflussten Plutarch, bei dem Neuplatoniker Porphyrius und bei dem christlichen Außenseiter Franz von Assisi. Die stärkste Stütze hat die Idee des Tierschutzes in Europa durch die Philosophie Schopenhauers erfahren. In dezidierter Opposition gegen die anthropozentrische Tradition stellt Schopenhauer statt den Differenzen zwischen Mensch und Tier die Übereinstimmungen zwischen beiden in den Mittelpunkt seiner Philosophie. Die menschliche Vernunft ist für Schopenhauer – wie später für Freud – lediglich ein Instrument, dessen sich die animalische Triebnatur des Menschen zur Steigerung ihrer Wirksamkeit bedient. Aber auch Schopenhauer postuliert keine völlige Rechtsgleichheit zwischen Mensch und Tier. Er geht vielmehr von der Annahme aus, dass »in der Natur die Fähigkeit zum Leiden gleichen Schritt hält mit der Intelligenz«.8 Schopenhauer schloss sich insbesondere zwei Auffassungen an, die auch heute weit verbreitet sind: erstens, dass Tiere ohne Erinnerung und Voraussicht in einer ausdehnungslosen Gegenwart leben9 – und sich insofern von Natur aus in dem Zustand befinden, den Mystiker und Heilige erst noch anstreben: sie scheinen »wirklich weise«;10 zweitens, dass sich die Intensität des Leidens wesentlich nach der Fähigkeit zu Erinnerung und Voraussicht bemisst.11 Beide Annahmen sind aus heutiger Sicht nur mit Einschränkungen aufrechtzuerhalten. Nicht nur bei Primaten

7

I. Kant: Werke. Bd. 6, S. 443.

8

Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke. Hg. von Arthur Hübscher. Bd. 4.2, Mannheim: Brockhaus. 1988, S. 245.

9

Vgl. ebd., Bd. 3, S. 64.

10 Ebd., Bd. 6, S. 314. 11 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 64.

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und Meeressäugern, auch bei vielen anderen Spezies (und nicht nur bei Säugetieren) sind Verhaltensweisen beobachtet worden, die auf eine beträchtlich weiter entwickelte Fähigkeit zur Erinnerung und Antizipation schließen lassen, als Schopenhauer annahm. Und aus der Tatsache der begrenzten Intelligenz von Tieren folgt nicht zwingend, dass sie unter Schmerzen, Ängsten und Frustrationen weniger leiden. Wie u. a. Berichte aus der tierärztlichen Praxis nahelegen, spricht viel dafür, dass gerade die mangelnde Fähigkeit, das Zugemutete zu verstehen, es als harmloses oder notwendiges Übel zu erkennen und ein Ende des Leidens abzusehen, die Intensität des Leidens steigert. Die Trendwende zu einer mehr oder weniger selbstverständlichen Anerkennung von Tieren als »moral patients« spiegelt sich nicht zuletzt in der sukzessiven Verschärfung der Kriterien, die an belastende Tierversuche angelegt worden sind. Wie die Debatte über den moralisch angemessenen Umgang mit Tieren insgesamt ist auch die Debatte um die Zulässigkeit und die Grenzen wissenschaftlicher Tierversuche keine neue Debatte. Sie reicht bis zum Beginn der tierexperimentellen Forschung im 17. Jahrhundert zurück. An dieser Debatte waren stets auch Philosophen beteiligt, unter ihnen einige, die selbst Tierversuche durchgeführt haben, wie etwa Descartes mit Versuchen zu Herzfunktion und Blutkreislauf.12 Bemerkenswert ist dabei, dass sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur im Wesentlichen die heutigen Positionierungen finden lassen, sondern auch die dafür ins Feld geführten Argumente. So betont bereits Descartes’ englischer Briefpartner Henry More, dass Tiere, anders als Descartes annahm, empfindungsfähig seien und ihren Empfindungen in ähnlicher Weise körperlichen Ausdruck verleihen wie Menschen.13 Bereits Kant vertrat hinsichtlich Tierversuchen ein strenges Subsidiaritätsprinzip und verurteilte Vivisektionen, »wenn ohne sie der Zweck erreicht werden könnte«. 14 Und Schopenhauer, der während seines Medizinstudiums in Göttingen an Vorlesungen mit Tierversuchen teilgenommen hatte, wurde noch um Einiges konkreter – in der für ihn typischen sarkastischen Weise: »Als ich in Göttingen studirte, sprach Blumenbach, im Kollegio der Physiologie, sehr ernstlich zu uns über das Schreckliche der Vivisektionen, und stellte uns vor, was für eine grausame und entsetzliche Sache sie wären; deshalb man zu ihnen höchst selten und nur bei sehr wichtigen und unmittelbaren Nutzen bringenden Untersuchungen schreiten solle; dann aber müsse es mit größter Oeffentlichkeit, im großen Hörsaal, nach an alle Mediciner erlassener Einladung geschehn, damit das grausame Opfer auf dem Altar der Wissenschaft den größt-

12 Maehle, Andreas-Holger: Kritik und Verteidigung des Tierversuchs. Die Anfänge der Diskussion im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 1992, S. 114. 13 Vgl. R. Descartes: Correspondance, S. 174. 14 I. Kant: Werke, Bd. 6, S. 443.

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möglichen Nutzen bringe. Heut zu Tage hingegen hält jeder Medikaster sich befugt, in seiner Marterkammer die grausamste Thierquälerei zu treiben, um Probleme zu entscheiden, deren Lösung längst in Büchern steht, in welche seine Nase zu stecken er zu faul und unwissend ist.«15

Zu einem erheblichen Teil geht das »Unwissen«, von dem Schopenhauer spricht, heute nicht auf Faulheit zurück, sondern auf den publication bias, die Tendenz zur Veröffentlichung der Ergebnisse erfolgreich durchgeführter, aber nicht der Ergebnisse erfolglos durchgeführter Versuche. Die Folge ist, dass viele Versuche unternommen werden, deren Erfolg von vornherein fraglich ist. Schopenhauers Haltung gegenüber Tierversuchen war im Übrigen ambivalent.16 Ein vollständiges moralisches Verdikt über Tierversuche lag ihm fern, da er von der Nützlichkeit einiger weniger Tierversuche überzeugt war, auch solcher, die ohne Narkose durchgeführt werden müssen, da sie neurologische Fragen beantworten sollen und die Narkose »das hier zu Beobachtende« aufheben würde.17 Auf dem Hintergrund seiner Prinzipien lehnte Schopenhauer nicht nur Tierversuche, sondern auch die menschliche Nutzung von Tieren zu anderweitigen Zwecken nicht grundsätzlich ab. Entscheidend für ihn war, wie weit die den Tieren verursachten Leiden durch die den Menschen ersparten Leiden aufgewogen werden. Bei Misshandlungen von Tieren, wie sie zu seiner Zeit gang und gäbe waren, sah er die Grenze des moralisch Erträglichen allerdings überschritten. Besonders am Herzen lagen ihm dabei die geplagten Zugpferde: »Die größte Wohlthat der Eisenbahnen ist, daß sie Millionen Zug-Pferden ihr jammervolles Daseyn ersparen«.18 Als erster Philosoph forderte er strafrechtliche Sanktionen für die Überforderung von Nutztieren.

EINE ZEITGENÖSSISCHE THEORIEDEBATTE: DER STREIT UM DEN »SPEZIESISMUS« Der Streit um den Speziesismus ist ein Streit darum, wie weit die zwischen Mensch und Tier bestehenden Unterschiede die Ungleichheit der in Bezug auf beide geltenden moralischen Prinzipien rechtfertigen. Das Spektrum der Meinungen in diesem

15 A. Schopenhauer: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 396 f. 16 Vgl. Birnbacher, Dieter: »Schopenhauer«, in: Tina-Louisa Eissa/Stefan Lorenz Sorgner (Hg.), Geschichte der Bioethik. Eine Einführung, Paderborn: mentis 2011, S. 197-212, hier: S. 208. 17 A. Schopenhauer: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 400. 18 Ebd., S. 399.

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Punkt ist weitgespannt: An dem einen Pol fordern Tierrechtler/-innen, Tieren dieselben Rechte zuzuschreiben, die wir üblicherweise Menschen zuschreiben, soweit sie auf Tiere sinnvoll anwendbar sind. An dem entgegengesetzten Pol lehnen konsequente Anthropozentriker/-innen nicht nur die Zuschreibung von Rechten an Tiere als sinnlos oder ethisch unbegründet ab, sondern leugnen auch, dass wir gegenüber Tieren irgendeine direkte moralische Verantwortung haben. Es ist nicht immer ganz klar, worum im Streit um den Speziesismus gestritten wird. Mit dem unschönen Ausdruck »Speziesismus« können nämlich zwei verschiedene Auffassungen gemeint sein: erstens die Auffassung, dass die Zugehörigkeit zu einer biologischen Gattung für sich genommen moralisch relevant und hinreichend ist, die vorherrschende Differenzierung in den moralischen Ansprüchen von Menschen und Tieren zu rechtfertigen (starker Speziesismus); zweitens die Auffassung, dass die Zugehörigkeit zu einer biologischen Spezies mit bestimmten wertungsrelevanten Merkmalen korreliert ist, die ihrerseits eine unterschiedliche Behandlung von Menschen und Tieren rechtfertigen (schwacher oder moderater Speziesismus). In der ersten Bedeutung führt »Speziesismus« – analog zu »Rassismus«, »Sexismus« oder »ageism« – eine pejorative Konnotation mit sich und belegt die ungleiche Behandlung von Mensch und Tier mit dem Vorwurf der Diskriminierung. In diesem Sinn ist der Ausdruck insbesondere durch die Verwendung in Peter Singers fulminanter Streitschrift Animal Liberation von 1974 bekannt geworden.19 In seiner zweiten Bedeutung ist »Speziesismus« analog zu Normen des Umgangs mit Inhabern bestimmter Positionen und Funktionen: Den Individuen bestimmter Spezies kommt danach ein höherer moralischer Status zu, weil sie Fähigkeiten aufweisen, die andere nicht aufweisen, oder weil sie weitergehende Bedürfnisse haben als andere. Wie weit dieserart Speziesismus berechtigt ist, hängt davon ab, wie plausibel die Argumente dafür sind, dass mit den jeweils deskriptiven Eigenschaften (Fähigkeiten, Bedürfnisse) entsprechende normative Eigenschaften (intrinsischer Wert, Rechte) einhergehen. Die kritische Verwendung des Ausdrucks »Speziesismus« scheint, soweit damit der Speziesismus in seiner starken Form gemeint ist, gut begründet. Es ist nicht zu sehen, dass die Zuordnung eines Wesens zu einer bestimmten biologischen Spezies für sich genommen ein hinreichender Grund sein kann, ihm einen besonderen Wert zuzusprechen. Erstens kann man bezweifeln, dass Menschen überhaupt im strengen Sinn eine eigene biologische Spezies ausmachen und nicht vielmehr eine Untergattung der Schimpansen.20 Zweitens darf die Gattungszugehörigkeit nicht als eine

19 Vgl. Singer, Peter: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere. Neudruck, Reinbek: Rowohlt 1996. 20 Vgl. Diamond, Jared: Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen, Frankfurt a.M.: Fischer 2006.

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verbindliche ontologische Vorgegebenheit missverstanden werden. Gattungsbegriffe sind, anders als die aristotelische Naturphilosophie meinte, keine in den Dingen selbst liegende Unterteilungen, sondern menschengemachte Klassifikationen, die sich auf dem Hintergrund der Erfahrung als revisionsbedürftig erweisen können. 21 Drittens kann weder die Art des Genoms noch der Phänotyp dafür entscheidend sein, wie wir mit einem Individuum umgehen sollten. Ein Wesen mit menschentypischem Genom, das im biologischen Sinne Mensch ist, muss nicht die für den Menschen charakteristischen Fähigkeiten besitzen oder zu ihrem Erwerb fähig sein. Auch wenn die typischen Vertreter dieser Gattung über die Fähigkeit der Vernunft verfügen bzw. auf den Erwerb dieser Fähigkeit angelegt sind, braucht ein bestimmtes Individuum weder über diese Fähigkeit noch das Potenzial dazu zu verfügen. 22 Andererseits kann ein Wesen mit einem eindeutig nicht-menschlichen Genom Fähigkeiten ausprägen, die nahelegen, ihm eine dem Menschen vergleichbaren moralischen Status zuzusprechen. Ein androider Roboter mit Leidensfähigkeit, menschlicher Reflexionsfähigkeit und menschlichem Ausdrucksverhalten würde zweifellos selbst dann, wenn man zögerte, ihm die Menschenrechte zuzubilligen, nicht viel anders zu behandeln sein als ein Mensch. Ihm würden zu Recht dieselben moralischen Privilegien zugeschrieben, die gemeinhin Menschen zugeschrieben werden. Ähnliches würde für hypothetische tierische Mutanten mit typisch menschlichen Eigenschaften wie Vernunft und Moralbewusstsein gelten. Weder ihr Genom noch ihr Phänotyp würde darüber entscheiden, wie wir sie behandeln würden, sondern die Art und Weise, in der sie auf eine bestimmte Behandlung reagieren, wie differenziert ihr Verhalten ist und welche weiteren Potenziale sie aufweisen. Der schwache Speziesismus hat demgegenüber von vornherein bessere Karten. Er begründet die unterschiedliche normative Wertung von Mensch und Tier nicht mit der Gattungszugehörigkeit selbst, sondern mit einigen der mit ihr zusammengehenden Eigenschaften. Danach entscheiden nicht rein biologische Merkmale wie Gattungszugehörigkeit oder Abstammungsbeziehungen über die besondere Wertigkeit des Menschen, sondern die für die Gattung Mensch als Ganze charakteristischen und von den typischen Exemplaren der Gattung auch tatsächlich gezeigten

21 Vgl. Rippe, Klaus Peter: »Primatenhirne. Was soll das Affentheater?«, in: Helmut Fink/Rainer Rosenzweig (Hg.), Künstliche Sinne, gedoptes Gehirn. Neurotechnik und Neuroethik, Paderborn: mentis 2010, S. 241-274, hier: S. 261f. 22 Allerdings kann es sich aus pragmatischen Gründen empfehlen, den betreffenden Individuen den entsprechenden Status in einer uneigentlichen Form zuzuschreiben, etwa als »Quasi-Personen«, vgl. Feinberg, Joel: »Die Rechte der Tiere und zukünftiger Generationen«, in: Dieter Birnbacher (Hg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart: Reclam 1980, S. 140179, hier: S. 165.

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Merkmale, darunter die spezifisch menschlichen kognitiven und moralischen Fähigkeiten und Potenziale. Welche Eigenschaften kommen dafür in Frage? Es ist leichter zu sagen, welche Eigenschaften dafür nicht in Frage kommen. Nicht in Fragen kommen etwa die Eigenschaften, faktisch anerkannt zu werden oder bestimmte metaphysische Alleinstellungsmerkmale aufzuweisen. Das Argument der faktischen Anerkennung begründet die Sonderstellung des Menschen damit, dass diese de facto so gut wie universal anerkannt ist. Die weitverbreitete Neigung, Angehörige unserer Spezies besser zu behandeln als die Angehörigen anderer Spezies, sei für sich selbst ein starker Grund, sie besser zu behandeln.23 Aber gegen diesen Begründungsansatz sprechen zwei schwerwiegende Argumente. Erstens ist nicht klar, ob der behauptete consensus gentium existiert. Zumindest bei einer historischen Betrachtung ist offensichtlich, dass wechselnden Gruppen von Menschen keineswegs derselbe Wert zugesprochen worden ist. Menschenrechte und Menschenwürde wären nicht die Kampfbegriffe, die sie bis heute waren und weiterhin sind, wäre der besondere Status des Menschen in der Tat universal akzeptiert.24 Zweitens ist es grundsätzlich problematisch, Akzeptabilität durch Akzeptanz zu begründen. Auch weitverbreitete Einstellungen können nicht umstandslos und allein deshalb, weil sie verbreitet sind, als berechtigt gelten. John Stuart Mill verwies im Zusammenhang mit dem Status der Tiere etwa auf das unter Aristokraten über Jahrhunderte selbstverständliche Prinzip, dass noch das geringfügigste Leiden eines Aristokraten mehr zähle als die Leiden noch so vieler Kleinbauern.25 Aber auch metaphysische Eigenschaften, die dem Menschen als Alleinstellungsmerkmal zugeschrieben werden, etwa Gottesebenbildlichkeit, Unsterblichkeit oder der Besitz eines »intelligiblen«, jenseits der Erfahrung liegenden Wesenskerns, kommen für eine Begründung nicht in Frage. Alle diese Zuschreibungen greifen auf spekulative Annahmen zurück (der Existenz eines anthropomorphen Gottes, einer unsterblichen Seele, eines »intelligiblen Selbst«), die keine Aussichten haben, von jedem Verständigen akzeptiert zu werden. Falls sich die wertmäßige Sonderstellung menschlicher Lebewesen plausibel machen lässt, müssen diese Plausibilitäten woanders als in diesen weit über die Erfahrungswelt hinausgehenden Voraussetzungen

23 Vgl. Warren, Mary Anne: »The rights of the nonhuman world«, in: Robert Elliot/Arran Gare (Hg.), Environmental philosophy. A collection of readings. Milton Keynes: Open University Press 1983, S. 109-134, hier: S. 112. 24 Vgl. Sapontzis, S. F.: Morals, reason, and animals, Philadelphia: Temple University Press 1987, S. 59. 25 Mill, John Stuart: »Whewell on moral philosophy«, in: John Stuart Mill, Collected Works. Bd. X, Toronto: University of Toronto Press/London: Routledge 1969, S. 165201, hier: S. 168.

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liegen. Nur empirisch aufweisbare Eigenschaften können die Beweislast für diese Sonderstellung tragen. Das weitaus häufigste Argument dafür, dass der menschlichen Gattung eine Sonderstellung innerhalb der Lebewesen zukommt, beruft sich auf die besonderen Fähigkeiten, über die der Mensch verfügt, und zwar diejenigen Fähigkeiten, die gemeinhin mit dem Besitz des Status einer Person verknüpft werden. Diese bestehen im Wesentlichen aus drei – teilweise miteinander zusammenhängenden – Gruppen von Fähigkeiten: kognitive Fähigkeiten, Fähigkeiten der Selbstbestimmung und moralische Fähigkeiten. Zu den ersteren gehören Zukunftsbewusstsein, Selbstbewusstsein und Rationalität, zu den zweiten Willensfreiheit im Sinne der Fähigkeit, Wollen und Handeln durch Prinzipien und andere längerfristige Orientierungen zu steuern, zur dritten die Fähigkeit zu Moralbewusstsein, zur Übernahme von Verpflichtungen und zu moralischer Selbstbewertung. Das Argument besteht darin, dass der Besitz dieser besonderen Fähigkeiten nicht ohne den Besitz eines besonderen normativen Status gedacht werden könne. Diese Fähigkeiten reichen so weit über das, wozu nicht-menschliche Lebewesen fähig sind, hinaus, dass sie förmlich dazu zwingen, den Wesen, die über diese Fähigkeiten verfügen, eine besondere Wertigkeit (etwa die für die Gattung Mensch spezifische »Menschenwürde«) zuzuschreiben, die sie über alle übrigen Naturwesen erhebt. Diesen Wesen sehr viel weitergehende Rechte zuzuschreiben als anderen Naturwesen, sei insofern keine einseitige Privilegierung, sondern eine Würdigung dieses besonderen Status. Wie den Inhaber/-innen höherer Ämter weitergehende Rechtsbefugnisse zukommen als den Inhaber/-innen niederer Ämter, müsse dem Menschen als Gattung bereits aufgrund seiner überlegenen Fähigkeiten auch axiologisch – und daraus resultierend auch normativ – ein höherer Status eingeräumt werden. Aber auch wenn man von der Annahme ausgeht, dass diese besonderen Fähigkeiten einen Wert darstellen, an den Tiere nicht heranreichen, kann man bezweifeln, dass Menschen deshalb besondere Rechte zukommen. Ist die Zuschreibung von Rechten abhängig von den Zuschreibungen von Wert oder sogar proportional der Position in einer wie immer gearteten Werthierarchie – so dass diejenigen, die in dieser Hierarchie höher zu stehen kommen, deshalb auch mehr Rechte haben als diejenigen auf unteren Stufen? Ist der Besitz einer Fähigkeit für sich genommen ein Grund, einem Menschen ein bestimmtes Recht zuzuschreiben, etwa auf die Ausübung dieser Fähigkeit oder auf die dazu erforderlichen Mittel? Das erscheint zweifelhaft. Die Tatsache, dass jemand über eine bestimmte Fähigkeit verfügt, ist für sich genommen kein Grund, ihm die Ausübung dieser Fähigkeit zu ermöglichen. Es könnte ja sein, dass er keinerlei Interesse an der Ausübung dieser Fähigkeit hat oder dass zu erwarten ist, dass er diese Fähigkeit überwiegend zum Schaden anderer ausübt. Sehr viel plausibler ist es, die Zuschreibung von Rechten an den Bedürfnissen und Interessen des betreffenden Menschen zu orientieren, das heißt daran, was er benötigt, um diejenigen Fähigkeiten auszuüben, an deren Ausübung er entweder

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ein intrinsisches Interesse hat oder deren Ausübung ihm zur Erfüllung anderweitiger Interessen dienen kann, sowie daran, wie weit die Ausübung der betreffenden Fähigkeit den Bedürfnissen und Interessen anderer entgegenkommt. Ausschlaggebend für die Zuschreibung von Rechten sind Bedürfnisse und Interessen und weder Fähigkeiten und Potenziale noch eine irgendwie geartete Wertigkeit des Bedürfnissubjekts. Der Hunger ist der Grund für das Recht, mit dem zum Leben Notwendigen versorgt zu werden, und nicht die besonderen Fähigkeiten oder der besondere Wert des Hungrigen. Selbstverständlich sind Fähigkeiten auch dann, wenn man Bedürfnisse und Interesse als primäre Rechtsgründe annimmt, weiterhin relevant. Relevant sind sie aber lediglich indirekt, d. h. soweit die Art und Intensität der jeweiligen Bedürfnisse und Interessen von ihnen abhängen. Selbstverständlich unterscheiden sich Wesen, die über Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zu einer differenzierten inneren Repräsentation ihrer persönlichen Zukunft verfügen, in ihren Bedürfnissen und Interessen grundlegend von Wesen, die über diese Fähigkeiten nicht verfügen. Aber wenn sie infolgedessen über weitergehende Rechte verfügen, dann nicht deswegen, weil sie über die weitergehenden Fähigkeiten oder einen auf diesen basierenden höheren Wert verfügen, sondern weil sie weitergehende und differenziertere Bedürfnisse haben und unter Bedürfnisversagungen nicht nur akut stärker leiden, sondern anders als die allermeisten Tiergattungen unter diesen auch dann leiden, wenn sie noch nicht eingetreten, sondern lediglich erwartet oder befürchtet werden. Insofern gibt es gute Gründe, Menschen in der Tat weitergehende Rechte als Tieren zuzuschreiben. Aber diese weitergehenden Rechte kommen Menschen nicht primär deswegen zu, weil sie diese aufgrund eines besonderen Wertes oder einer besonderen Würde verdienen (so wie sich ein »verdienter« Staatsmann oder eine »verdiente« Wissenschaftlerin Ehre, Würde und bestimmte Privilegien verdient haben) oder weil ihnen bestimmte Fähigkeiten einen besonderen Status verleihen. Ihnen kommen Rechte primär deswegen zu, weil sie sie für ein befriedigendes und erfülltes Leben brauchen, weil die Respektierung dieser Rechte eine notwendige Bedingung eines guten Lebens ist. Nicht ein besonderer Wert ist die Grundlage der Sonderstellung des Menschen innerhalb der Sphäre des Lebendigen, sondern seine infolge seiner überlegenen Fähigkeiten weitergehenden Bedürfnisse. Zwei dieser Gründe sind meiner Meinung nach die wichtigsten: die im Allgemeinen höhere Leidensfähigkeit von Menschen und die größere Teilnahme, die menschliche Zustände in der Regel bei anderen Menschen finden.26

26 Vgl. Birnbacher, Dieter: »Gibt es überzeugende Gründe für eine axiologische Sonderstellung des Menschen?«, in: Adrian Holderegger/Siegfried Weichlein et al. (Hg.), Humanismus. Sein kritisches Potential für Gegenwart und Zukunft, Fribourg: Schwabe 2011, S. 99-116, hier: S. 112 ff.

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Es ist klar, dass die höhere Leidensfähigkeit von Menschen Ungleichbehandlungen von Menschen und Tieren auch dann rechtfertigt, wenn man vom Prinzip der Interessengleichheit ausgeht, demzufolge gleiche Bedürfnisse und Interessen normativ gleich viel zählen, gleichgültig ob sich diese bei Menschen oder NichtMenschen finden. Vieles aber spricht dafür, dass Menschen im allgemeinen leidensfähiger sind als Tiere, insbesondere Menschen, die in einer Kultur aufwachsen, die Kinder und Jugendliche in einer Weise vor Leiden schützt, wie dies in der bisherigen Geschichte kaum je der Fall gewesen sein dürfte. Auch wenn nur wenige so weit gehen dürften wie Nietzsche, der auf seine überspitzte Art behauptet hat, dass gegen »eine schmerzhafte Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens gehalten, die Leiden aller Thiere insgesammt, welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher Antworten mit dem Messer befragt worden sind, einfach nicht in Betracht kommen«, 27

wird man doch annehmen dürfen, dass etwa ein Zugpferd weniger unter seiner Last leidet als ein zu ähnlichen Zwecken eingespannter Mensch. Bei Einschätzungen dieser Art muss man sich allerdings vor Übertreibungen hüten, die bereits deshalb verdächtig sind, weil sie dem menschlichen Wunsch nach Ausbeutung von Tieren entgegenkommen. Ebenso spricht einiges dafür, dass der Tod und das Leiden von Menschen nicht nur von ihren Subjekten als schwerwiegender erlebt werden, sondern auch gravierendere Nebenwirkungen haben, und zwar für das Subjekt selbst infolge seiner Fähigkeit zur Antizipation und für andere aufgrund ihrer Fähigkeit und Neigung zur Identifikation. Menschlicher Tod und absehbares menschliches Leiden werfen auf das Leben ihrer Subjekte einen Schatten, der sich bei Tieren nicht oder nur in Ausnahmefällen findet. Die Antizipation des eigenen Todes und die Tatsache, dass Menschen Todesangst und Angst vor zukünftigem Leiden weit im Vorfeld ihres tatsächlichen Eintretens ausgesetzt sind, ist eines der stabilsten Kennzeichen der conditio humana. Menschlicher Tod und menschliches Leiden wird in höherem Maße zum Gegenstand von Identifikation. Die menschlichen Züge eines Wesens, mag es sich in seinen Fähigkeiten noch so sehr hinter denen der höchstentwickelten Tiere zurückbleiben, laden in einem Maße zur Identifikation und zum Mitfühlen ein, wie es die tierischen Züge eines Tiers nicht tun, und zwar weder bei Tieren noch bei Menschen.28

27 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 5, München: dtv/Berlin: de Gruyter 1980, S. 303. 28 Fichte drückt diese Bereitschaft zur Identifikation mit allem, was »menschliches Antlitz« trägt, so aus: »Dies alles [...] ist es, was jeden, der menschliches Angesicht trägt, nötigt,

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DER STREIT UM DIE BEWUSSTSEINSFÄHIGKEIT Ein Problem, das die Anwendung von tierethischen Prinzipien betrifft und sowohl hochgradig komplex ist als auch hochgradig kontrovers diskutiert wird, ist die Frage, welche Tiere bewusstseinsfähig sind und – zumindest auf der Grundlage »pathozentrischer« ethischer Prinzipien – als um ihrer selbst willen schutzwürdig gelten können. Die Praxis des Tierschutzes und das Tierschutzrecht sind weitgehend von der Überlegung bestimmt, dass Tiere, soweit sie bewusstseinsfähig sind, auch zu Zuständen von Freude und Leid fähig sind, und dass die beiden von Schopenhauer als Grundlage der Moral bezeichneten Prinzipien der Unterlassung von Schädigung (neminem laede) und des Wohltuns (omnes quantum potes juva) insofern auf sie nicht weniger anwendbar sind als auf Menschen. Die Frage, ob und wie weit Tiere leiden können, lässt sich in drei Teilfragen zergliedern, die allesamt, wenn auch in unterschiedlichem Maße, für die Tierschutzdebatte von Bedeutung sind. Die erste Teilfrage betrifft die Reichweite des Leidens: Welche Tiere sind überhaupt leidensfähig? Wo verläuft die Grenze zwischen Tiergattungen, deren Mitglieder leidensfähig sind, und anderen, die nicht leidensfähig sind? Sind alle Wirbeltiere leidensfähig, oder gibt es Ausnahmen, etwa Reptilien und Fische? Sind zusätzlich – wie es das deutsche Tierschutzgesetzt nahelegt – auch einige Weichtiere mit ausgeprägt hohem sensorischen Funktionsniveau, etwa Tintenfische, leidensfähig? Zweitens die Teilfrage der Kategorialität des Leidens: Empfinden diejenigen Tiere, die leidensfähig sind, Schmerzen, Angst und Stress lediglich in Form eines phänomenalen Bewusstseins – als sensorische Zustände – , oder ist ihr Leiden darüber hinaus auch Gegenstand eines intentionalen Bewusstseins, etwa in Form von Gedanken, Einstellungen oder Erinnerungen? Verfügen sie zusätzlich auch über Selbst- oder Ichbewusstsein, sodass sie ihre inneren Zustände auf sich selbst beziehen und sich selbst als Subjekte gegenwärtigen, vergangenen oder zukünftigen Leidens denken können? Die dritte Teilfrage ist die Frage nach der Qualität des subjektiven Empfindens, die »Anfühlfrage« 29 – analog zu Thomas Nagels berühmter Frage, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Diese Teilfrage ist von allen dreien wohl am schwersten zu beantworten. Aber auch die beiden ersten Teilfragen geben Rätsel auf.

die menschliche Gestalt überall, sie sei bloß angedeutet [...] oder sie stehe schon auf einer gewissen Stufe der Vollendung anzuerkennen und zu respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig.« Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts, Hamburg: Meiner 1960, S. 84. 29 Wild, Markus: Fische. Kognition, Bewusstsein und Schmerz. Eine philosophische Perspektive (= Beiträge zur Ethik und Biotechnologie, Bd. 10), Bern: Eidgenössische Kommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich 2012, S. 53.

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Die nicht überwindbare Grenze ist die begrenzte Evidenz, die wir für tierliches Empfinden haben. Die Stellung einer Tiergattung in der Evolution ist in dieser Hinsicht nur begrenzt aufschlussreich. Es ist es nicht ausgemacht, dass sich die Leidensfähigkeit, die sich in einer Tiergattung zeigt, auch in allen daraus evolutiv entstandenen weiteren Tiergattungen zeigt. Sie könnte im Laufe der Evolution auch wieder verlorengehen, so wie sich ja auch die Intelligenz einer Tiergattung (etwa bei einigen Vögeln) nicht immer auf die Gattungen, die aus diesen evolutiv entstanden sind, überträgt. Zuverlässigere Evidenzquellen sind in dieser Hinsicht die Ähnlichkeiten des tierlichen Verhaltens mit menschlichen Verhalten (dessen »Innenansicht« wir als einzige kennen) und die von der Neuroanatomie und Neurophysiologie gelieferten Anhaltspunkte. Auch hier ist Vorsicht angesagt, denn wir haben keine Sicherheit, dass die Korrelationen zwischen neuronalen und mentalen Zuständen, die wir beim Menschen finden, auf Tiere mit teilweise ganz anderer Organisation des Gehirns eins zu eins übertragbar sind. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass unter Etholog/-innen und Zoolog/-innen zwar weitgehende Einigkeit über die Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier besteht, nicht aber darüber, wie diese im Einzelnen zu deuten sind. »Realisten/-innen« unter den Etholog/-innen, die sich aller Deutungen enthalten und Verhalten und neurowissenschaftliche Befunde lediglich beschreiben, beschuldigen gelegentlich andere, die Tieren psychische Zustände und Akte zuschreiben, des Anthropomorphismus, diese umgekehrt die Behaviorist/-innen des Reduktionismus. Zu einer »Kampfzone« unterschiedlicher Deutungen sind gegenwärtig insbesondere die Fische geworden, die, soweit es sich um Knochenfische handelt, in den Schutzbereich der Tierschutzgesetze fallen, bei denen der Schutz aber weltweit vernachlässigt wird, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Bedeutung der Fische für die Welternährungssituation, der wirtschaftlichen Bedeutung des Fischfangs und der Interessen der Sportangler/-innen. Falls Fische leidensfähig sind, kann die Tatsache, dass gefangene Fische auf den Trawlern zu Tausenden einen Erstickungstod sterben, nicht dauerhaft außerhalb des Fokus des Tierschutzes und einer entsprechenden Politik bleiben, wie immer verständlich deren Zögerlichkeit angesichts der bei alternativen Fangmethoden zu erwartenden Kosten sein mag. Sind Fische empfindungsfähig? Eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen zu Verhalten und Neurophysiologie von Fischen 30 legen das nahe. Was das Verhalten betrifft, so zeigen Fische sowohl Anzeichen für sinnlichen Genuss (z. B. wenn man sie in der Nähe des Mauls kitzelt) als auch für Schmerzen (z. B. wenn der An-

30 Vgl. Braithwaite, Victoria: Do fish feel pain? Oxford: Oxford University Press. 2010 und Segner, Helmut: Fish. Nociception and pain. A biological perspective (= Beiträge zur Ethik und Biotechnologie, Bd. 9), Bern: Eidgenössische Kommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich 2012.

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gelhaken die Unterlippe durchbohrt). Manche Fische zeigen eine ausgeprägte Lernfähigkeit, Verhaltensflexibilität (etwa koordiniertes Jagdverhalten) und Impulskontrolle (Belohnungsaufschub) – alles Eigenschaften, die »höhere Tiere« auszeichnen. Was Neuroanatomie und -physiologie betrifft, so entbehren Fische zwar eines Neocortex, dieser fehlt allerdings auch bei Reptilien und Vögeln. Das Fischgehirn besitzt jedoch Organe analog zu Hippocampus und Amygdala, die für Gedächtnis und Angst zuständig sind. Der Ausfall der Amygdala führt zu ähnlichen Verhaltensweisen wie bei Säugetieren. Im Kontext des Tierschutzes ist vor allem bedeutsam, dass die Schmerzleitung bei Fischen der bei Säugetieren analog ist. Auch wenn sich diesen Indizien nicht schlüssig entnehmen lässt, dass Fische Schmerzen empfinden, wenn nicht sogar, dass sie unter diesen leiden können, legen sie diese Annahme doch zumindest nahe.31 Es bleibt die Frage, wie mit den zwangsläufigen Unsicherheiten in der Einschätzung der Leidensfähigkeit umzugehen ist. Der Commonsense und die kulturellen Traditionen sind in dieser Hinsicht gleichermaßen unzuverlässig. Gemeinhin wird die Leidensfähigkeit von warmblütigen Tieren als höher eingeschätzt als die von kaltblütigen, was bereits aufgrund der evolutionären Zusammenhänge wenig glaubwürdig ist (schließlich stammen die warmblütigen Vögel von den kaltblütigen Reptilien ab). Tiere, die als Schoßtiere gehalten werden, werden gemeinhin eher für schützenswert gehalten, als Tiere, die gegessen werden. Größere Tiere werden üblicherweise für schutzwürdiger gehalten als kleine, symbolträchtige Tiere für schutzwürdiger als Tiere ohne kulturelle Bedeutung. Da sich Tiere über ihre inneren Zustände nicht in einer für Menschen verständlichen Weise äußern, sind Hypothesen über diese Zustände systematisch riskant. Aber wie mit diesem Risiko umzugehen ist, dafür bietet die Risikoethik keine eindeutige Handlungsempfehlung. Soviel lässt sich jedenfalls sagen, dass ein ausgeprägt risikofreudiger Umgang mit Tieren, bei denen Leidensfähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, ebenso unangemessen wäre wie ein ausgeprägt risikoaversiver, der, wie es Thomas H. Huxley einmal empfohlen hat,32 im Zweifelsfall stets zugunsten derer entscheidet, die sich über ihre inneren Zustände nicht äußern können. Die erste Strategie würde nichtäußerungsfähige Wesen ungebührlich diskriminieren, die zweite jede Nutzung von Tieren zu menschlichen Zwecken unmöglich machen. Wo das »richtige« Maß eines nach pathozentrischen Maßstäben erforderlichen Schutzes vor Schmerzen und Leiden liegt, ist letztlich nicht vollständig empirisch zu begründen. Aber die Fortschritte, die die Ethologie gegenwärtig gerade auch im Bereich der Fische macht, lassen

31 Vgl. M. Wild: Fische. 32 Vgl. Huxley, Thomas H.: »Animals and human beings as conscious automata« (1874), in: Joel Feinberg (Hg.), Reason and Responsibility. Encino/Belmont, CA: Dickenson 1978, S. 264-272, hier: S. 270.

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darauf hoffen, dass diese Einschätzungen stets fundierter werden und aus ihnen dann auch Konsequenzen für die Praxis gezogen werden.

Der Paratext in Immanuel Kants Metaphysik der Sitten und seine (tier-)ethischen Implikationen Samuel Camenzind

EINFÜHRUNG Das Anliegen dieses Beitrages ist es, mittels paratextueller Analyse einer Entwicklung und Neuakzentuierung in Immanuel Kants Moralphilosophie nachzuspüren, der weder in der Ethik der Mensch-Tier-Beziehung noch in der Kantforschung viel Beachtung geschenkt wird. Die Entwicklung betrifft Kants Pflichtensystematik, in welcher die Pflichten in Ansehung der Tiere von den Pflichten gegen andere in der Vorlesung zur Moralphilosophie (1774/75) zu den Pflichten gegen sich selbst als moralisches Wesen in der Tugendlehre (1797) verschoben werden.1 Die Berücksichtigung dieser Entwicklung ist aus mindestens vier Gründen relevant: Erstens wird durch die Neusituierung der Pflichten in Ansehung der Tiere unter die höchste Pflichtenklasse der Stellenwert der Mensch-Tier-Beziehung in der Tugendlehre aufgewertet. Diese Aufwertung findet zwar innerhalb des kantischen Paradigmas statt, in welchem Tiere moralisch nicht berücksichtig werden, dennoch ist sie in einer theorieimmanenten Analyse bedeutsam. Denn zweitens betreffen die Pflichten in Ansehung der Tiere in der Tugendlehre nicht mehr primär die zwischenmenschliche Ethik, sondern die Pflichten gegen sich selbst und damit die Beziehung des Menschen als vernünftiges Naturwesen (homo

1

Kants Pflichtbeziehung besteht aus Verpflichtungsinstanz (Person), Verpflichtungsgegenstand, Verpflichtungsgrund und Verpflichtungsadressat (Person) (vgl. Heike Baranzke: Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik [= Epistemata, Reihe Philosophie, Bd. 328], Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, hier S. 202). Da Tiere moralisch nicht autonom sind, können sie nach Kant weder sich selbst noch Personen verpflichten, noch können sie von Personen verpflichtet werden Sie kommen nur als Verpflichtungsgegenstand in Frage. Sind Tiere Gegenstand einer Pflicht gegen sich selbst oder gegen andere Personen, spricht Kant von Pflichten in Ansehung von Tieren.

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phaenomenon, animal rationale) zu seiner intelligiblen Persönlichkeit (homo noumenon). Damit lässt sich Kants Position in der Tugendlehre von anderen sogenannten indirect duty views wie bestimmte Formen des Kontraktualismus2 oder anthropozentrischen Positionen unterscheiden, welche wie Kant Tieren keinen moralischen Status zugestehen und Tiere nur ›indirekt‹ mittels Pflichten gegen andere Personen schützen (z.B. mittels Pflicht, fremdes Eigentum nicht zu zerstören). Drittens wird Kant mit Thomas von Aquin und anderen als Vertreter eines bestimmten Verrohungsargumenttypus rezipiert. Die entsprechende Textstelle in der Vorlesung zur Moralphilosophie stammt aus Kants vorkritischer Schaffensphase und ist uns nur von studentischen, von Kant nicht autorisierten Vorlesungsmit- und Abschriften überliefert. Auch wenn diese Textstücke sehr wohl als Ergänzung seiner anderen moralphilosophischen Schriften verwendet werden dürfen (vgl. unten), wird man dem reifen Kant, dessen zentrale Gedanken sich in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und der Die Metaphysik der Sitten (1797) wiederfinden, nicht gerecht, wenn man sich ausschließlich auf die studentischen Vorlesungsmanuskripte stützt.3 Viertens hat diese Verschiebung moralphilosophische Konsequenzen für unseren Umgang mit Tieren, die weiter gehen als es Kant selbst gesehen hat.4 Wobei auch hier die Grenzen durch das Paradigma der indirekten Berücksichtigung festgelegt sind. Warum werden die beiden Textstellen nicht hinreichend voneinander unterschieden?5 Eine mögliche Erklärung könnten die folgenden Überlegungen bieten: Auf der einen Seite wird Kants Moralphilosophie aufgrund der darin vertretenen

2

Vgl. Grimm, Herwig/Camenzind, Samuel et al.: »Tierethik«, in: Roland Borgards (Hg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart: Metzler 2016, S. 78-97, hier S. 88.

3

Wie z.B. Nussbaum, Martha C.: Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge et al.: Harvard University Press 2007; Rowlands, Mark: Animal Rights. Moral Theory and Practice, New York: Palgrave Macmillan 2009 [1998].

4

Vgl. dazu Camenzind, Samuel: »Tierversuche im Kontext der Pflicht gegen sich selbst als moralisches Wesen«, in: Violetta Waibel/Margit Ruffing (Hg.), Natur und Freiheit. Kongressakten des XII. Internationalen Kant-Kongresses in Wien vom 21.-25. September 2015, Berlin: De Gruyter 2018 (im Erscheinen).

5

Eine Ausnahme findet sich in den Abhandlungen von Heike Baranzke, Würde der Kreatur? und ebd.: »Tierethik, Tiernatur und Moralanthropologie im Kontext von §17 Tugendlehre«, in: Kant-Studien 96 (2005) 3, S. 336-363, welche ebenfalls den Paratext zur Stützung ihres Arguments zu Rate zieht, ohne die paratextuelle Analyse als Methode explizit zu nennen.

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autonomozentrischen6 Position in der Tierethik stark kritisiert.7 Die Motivation sich eingehender mit einem Philosophen zu beschäftigen, von dessen Position man glaubt, dass sie historisch überholt und (zumindest theoretisch) bereits überwunden ist, mag darum gering sein. Eine solche Haltung übersieht aber leicht, dass verschiedene Konzepte wie die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Pflichten, das Verbot der vollständigen Instrumentalisierung oder die Konzeption eines moralischen Eigenwerts stark von Kants Moralphilosophie beeinflusst sind und die tierethische Debatte bis heute prägen. Bezüglich dieser Konzepte lohnt es sich jedoch, den kantischen Kontext mitzudenken, da erstens eventuell eine Übersetzungsleistung nötig ist, um diese Konzepte in die Ethik der Menschen-TierBeziehung zu transformieren und sie zweitens ähnlichen Einwänden ausgesetzt sein könnten. Auf der anderen Seite fanden tierethische Fragestellungen lange keine Beachtung in der Kantforschung. Das mag daran liegen, dass ihnen Kant selbst keinen zentralen Stellenwert zusprach. Wer jedoch heute die Frage nach der moralischen Berücksichtigung von Tieren als bedeutungsloses Randphänomen einstuft, der vertritt bereits eine normative Position, die begründungsbedürftig geworden und starker Kritik ausgesetzt ist.8 Während der oftmals vergessene Göttinger Philosoph und Kantianer Leonard Nelson (1932) als einer der wenigen sich schon vor der akademisch institutionalisierten Ethik der Mensch-Tier-Beziehung mit tierethischen Fragen beschäftigte,9 lässt sich seit der letzten Jahrtausendwende eine Zunahme von Publikationen beobachten, die sich mit unterschiedlichen kantianischen Zugängen der Ethik der Mensch-Tier-Beziehung auseinandersetzen.10

6

Da streng genommen nur vernünftigen Wesen, die Subjekte einer moralisch-praktischen Vernunft sind, ein moralischer Status zukommt (vgl. GMS, AA 04: 434), treffen weder die Begriffe »Anthropo-«, »Ratio-«, noch »Logozentrismus« auf Kants Ethik zu. Den Neologismus »Autonomozentrismus« verdanke ich Jens Timmermann.

7

Zur Kritik vgl. stellvertretend für viele Regan, Tom: The Case for Animal Rights, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2004 [1983], hier S. 178ff.; Rippe, Klaus Peter: Ethik im ausserhumanen Bereich, Paderborn: Mentis 2008, hier S. 235ff. und Korsgaard, Christine M.: »Interacting with Animals: A Kantian Account«, in: Tom L. Beauchamp/Raymond G. Frey (Hg.), The Oxford Handbook of Animal Ethics, Oxford: Oxford University Press 2013 [2011], S. 91-118, hier S. 107ff.

8

Vgl. K. Rippe: Ethik, S. 9.

9

Vgl. H. Grimm/S. Camenzind et al.: Tierethik, S. 78f.

10 U. a. Korsgaard, Christine M.: The Source of Normativity, Cambridge: Cambridge University Press 1996; ebd.: »Fellow Creatures: Kantian Ethics and Our Duties to Animals«, in: Peterson, Grethe B. (Hg.), Tanner Lectures on Human Values, Band 25, 2005, Salt Lake City: University of Utah Press, S. 77-110, ebd.: »Interacting with Animals: A Kant-

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Die Ähnlichkeit der beiden Textstellen, der Komplexitätsgrad von Kants Pflichtensystematik und seine eigenen inkonsistenten Pflichtillustrationen dürfen als weitere Gründe angefügt werden, warum die genannte Entwicklung nicht mehr Beachtung fand (vgl. dazu unten). Anlehnend an Gérard Genettes Begriff »Paratext« dient eine paratextuelle Analyse – das Einbeziehen von Titel und Zwischentitel und der Komposition der Tugendlehre – als wertvolles methodisches Mittel, um die Neueinordnung der Pflichten in Ansehung der Tiere unter die Pflichten gegen sich selbst als moralische Wesen in der Tugendlehre zu stützen und die erwähnte Entwicklung deutlicher zu machen. (1) Um dieser Neuakzentuierung der Mensch-Tier-Beziehung in Kants Moralphilosophie nachzuspüren, soll zuerst in Gérard Genettes Konzept des Paratextes eingeführt werden. (2) Danach wird Kants Position die Tiere betreffend skizziert, um (3) anschließend in einem Vergleich der beiden Abschnitte der Vorlesung zur Moralphilosophie und der Tugendlehre Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich des behandelten Gegenstandes, der (Nutzungs-)Kontexte und Tierarten sowie der erwähnten Pflichten und der Argumentation zu erörtern. Den letzten Punkt betreffend, wird sich zeigen, dass Kant mit zwei verschiedenen Verrohungsargumenten argumentiert. Das eine besagt, dass Tierquälerei moralisch falsch ist, weil sie gegenüber menschlichem Leid unempfindlich mache und schlussendlich zu Gewalt an Menschen führe; dieses traditionelle, empirisch-psychologische Verrohungsargument bezieht sich auf zwischenmenschliche Pflichtbeziehungen. Das zweite Verrohungsargument zielt darauf ab, dass Tierquälerei moralisch falsch ist, weil dadurch eine Pflicht gegen sich selbst verletzt wird. (4) Abschließend wird der Paratext in der Tugendlehre unterstützend herangezogen, um diese Verschiebung in der Argumentation sichtbarer zu machen.

ian Account«, in: Beauchamp/Frey, The Oxford Handbook of Animal Ethics (2013), S. 91-118; O’Neill, Onora: »Kant on Duties regarding Nonrational Nature II. Necessary Anthropocentrism and Contingent Speciesism«. in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes 72 (1998), S. 211-228; Wood, Allen W.: »Kant on Duties regarding Nonrational Nature I.«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary Volumes 72 (1998), S. 189-210; Denis, Lara: »Kant’s Conception of Duties Regarding Animals: Reconstruction and Reconsideration«, in: History of Philosophy Quarterly 17 (2000) 4, S. 405-423; H. Baranzke, Würde der Kreatur?; ebd., Tierethik, Tiernatur und Moralanthropologie; Franklin, Julian H.: Animal Rights and Moral Philosophy, New York: Columbia University Press 2005; Timmermann, Jens: »When the Tail Wags the Dog: Animal Welfare and Indirect Duty in Kantian Ethics«, in: Kantian Review 10 (2005), S. 128-149; S. Camenzind: Tierversuche.

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PARATEXT – DAS BEIWERK DES BUCHES Der Begriff »Paratext« wurde vom französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette im Rahmen seiner Intertextualitätsforschung in Palimpseste – Die Literatur auf zweiter Stufe11 geprägt. Genette versteht unter »Paratext« (griech.: para für neben, über etwas hinaus, entlang) auktorial authorisierte Texte an der Peripherie des Basistextes, die sowohl räumlich als auch zeitlich mit ihm in Beziehung stehen. »Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt«12, wobei das Beiwerk äußerlich zum Beispiel als Buchumschlag, aber auch zwischen den Klappendeckel unterschiedlich auftreten und sich unterschiedlich präsentieren kann. Beispiele für paratextuelle Gestaltungsmittel, die sich (auch im Layout) vom ›eigentlichen Text‹ abheben können, sind Autorname, Verlagsangabe, Titel, Untertitel, Zwischentitel, Verlagsangabe, Klappentext, Einleitung, Inhaltsverzeichnis, Widmungen, Motti, Anmerkungen, Fußnoten aber auch Interviews, Kolloquien, nachträgliche auktoriale Selbstkommentare. Paratexte haben eine Schwellenfunktion und werden von Till Dembeck passend als textuelle »Grenzregionen«13 bezeichnet, da sie unterschiedliche Ausdehnungen haben und keine scharfe Grenze bilden. Der Paratext eines Buches lässt sich in (werkinterner) Peritext und (werkexterner) Epitext unterscheiden. Der Unterschied zwischen Peritext und Epitext wird durch ein rein räumliches Kriterium bestimmt. 14 Der Epitext befindet sich »[i]mmer noch im Umfeld des Textes, aber in respektvoller (oder vorsichtiger) Entfernung«. 15 Er umfasst Interviews, Gespräche, private Kommunikation wie Briefwechsel oder Tagebücher und zirkuliert im freien Raum außerhalb des Buches. Für das Vorhaben dieses Aufsatzes ist jedoch vor allem der Peritext von Interesse. Er besteht aus dem Beiwerk, das materiell mit dem Haupttext verbunden ist und sich immer noch »im Umfeld des Textes, innerhalb ein und desselben Bandes«16 befindet. Gemeint sind Titel, Untertitel, Zwischentitel, Inhaltsverzeichnis, Fußnoten, Autornamen bis hin zu Verlagsangaben. Der entscheidende Punkt ist nun, dass das »Beiwerk« in seinen unterschiedlichen Funktionen maßgeblich zur Rezeption eines Buches beiträgt und dem Haupt-

11 Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 [1982], S. 11ff. 12 Vgl. ebd.: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 [1989], S. 10. 13 Dembeck, Till: Texte rahmen, Berlin: de Gruyter 2007, S. 1. 14 Vgl. G. Genette: Paratexte, S. 328. 15 Ebd., S. 12. 16 Ebd.

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text in nichts nachsteht, ja sogar konstitutiv für ihn ist. Jeder der aufgezählten Paratexte steuert das Lesen des Rezipienten und ist sinnstiftend. Die Wichtigkeit des Paratextes bei Kant zeigt sich zum Beispiel in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in welcher zentrale Probleme, Anmerkungen oder Argumentationsschritte in den Fußnoten zu finden sind.17 Zum Beispiel definiert Kant in den Fußnoten, was eine »vollkommene Pflicht« ist,18 worauf wir später noch zurückkommen werden. Oder er merkt an, dass die Aussage »die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst« vorerst nur ein Postulat darstellt19. Die Wichtigkeit des Paratextes lässt sich auch anhand einem für die Tierethik bedeutendem Beispiel illustrieren: Die wohl berühmteste Fußnote der Tierethik stammt von Jeremy Bentham. In einem prognostischen Abschnitt in Introduction to the Principles of Morals and Legislation schliesst er mit der Frage: »the question is not, Can they reason? Nor, Can they talk? But, Can they suffer?«20 Diese Fußnote, die praktisch in jedem tierethischen Werk gewürdigt wird, ist längst zum Haupttext avanciert und hat das restliche Buch zum Beiwerk erklärt. Der Peritext von Kants Tugendlehre wird uns später dazu dienen, die Entwicklung und Aufwertung der Mensch-Tier-Beziehung in Kants Moralphilosophie zu verdeutlichen und zugleich ihre Grenzen aufzuzeigen.

DIE MORALISCHE STELLUNG DER TIERE IN KANTS ETHIK Kants grundlegende Position bezüglich der moralischen Stellung der Tiere ist eindeutig und bleibt über sein ganzes Schaffen hinweg konstant. In Anlehnung an die termini tecnici des römischen Rechts unterscheidet er zwischen Personen und Sa-

17 Vgl. Kühn, Manfred: »Einleitung«, in: Werner Stark (Hg.), Immanuel Kant. Vorlesung zur Moralphilosophie, Berlin: De Gruyter 2004, S. VII-XXXV, hier S. XI. 18 Vgl. GMS, AA IV, S. 421. Kants Schriften werden nach der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Ausgabe zitiert: Gesammelte Schriften, Berlin 1900ff. Die römische Zahl bezeichnet dabei den Band, die arabische die Seitenzahl. Siglen: GMS: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785); MAM: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786); KpV: Kritik der praktischen Vernunft (1788); MST: Metaphysik der Sitten, Tugendlehre (1797): Anth: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798): V-Mo/Kaehler (Stark): Vorlesung zur Moralphilosophie, hrsg. von Werner Stark, Berlin, New York: de Gruyter 2004. 19 Vgl. GMS, AA IV, S. 429. 20 Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. Hrsg. v. J.H. Burns und H.L.A. Hart, Oxford: Clarendon Press 1996 [1789], S. 283.

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chen.21 Personen sind moralisch autonome Wesen, die aufgrund der Anlage der intelligiblen Persönlichkeit moralisch handeln und Verantwortung übernehmen können. Sie besitzen einen absoluten, inneren Wert und damit eine Würde, die sie zum Gegenstand von Achtung macht.22 Tiere hingegen, welche Kant gerne mit dem epitheton »vernunftlos« versieht, zählen mit unbelebter Materie und Pflanzen zur Sachenkategorie. Sie besitzen nach Kant nur einen relativen, das heißt instrumentellen, ästhetischen oder ökonomischen Wert für Personen; darum kann man mit ihnen »nach Belieben schalten und walten«23 und sie sind dem menschlichen »Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zu Erreichung seiner beliebigen Absichten«. 24 Tiere können zwar geliebt, gefürchtet oder bewundert werden, sie sind aber niemals Gegenstand von (moralischer) Achtung.25 Der Befund, dass man Tiere zu beliebigen Zwecken auf beliebige Art und Weise instrumentalisieren darf, muss jedoch präzisiert werden. Denn auch wenn Tiere keinen moralischen Status besitzen, darf man mit ihnen nicht nach Belieben verfahren, wenn eine Handlung mit Tieren eine moralische Pflicht gegen sich selbst oder gegen andere Personen tangiert. Im Paradigma seiner autonomozentrischen Position formuliert Kant klare Pflichten in Ansehung der Tiere, die in der Praxis durchaus mit unserer heutigen Common Sense Einstellung gegenüber Tieren kongruent sind und zum Teil sogar darüber hinausgehen. Sie sollen im nächsten Abschnitt genauer erläutert werden.

MENSCH-TIER-BEZIEHUNG IN DER VORLESUNG ZUR MORALPHILOSOPHIE (1774/75) UND DER TUGENDLEHRE (1797) Die zwei zentralen Stellen, wo sich Kant mit der Mensch-Tier-Beziehung beschäftigt, finden sich im Abschnitt »Von den Pflichten gegen Thiere und Geister« in der Vorlesung zur Moralphilosophie und Paragraph 17 in der Tugendlehre. Dieser zählt zum episodischen Abschnitt »Von der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe: Das was Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten«. Beim Collegium Philosophiae practicae universalis una cum Ethica (Vorlesung über allgemeine praktische Philosophie und Ethik) ist anzumerken, dass es sich

21 GMS, AA IV, S. 428 22 Vgl. GMS, AA IV, S. 428, 435. 23 Anth, AA VII, S. 127. 24 MAM, AA VIII, S. 114; vgl. ebenso V-MO/Kaehler (Stark), S. 345. 25 Vgl. KpV, AA V, S. 76.

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nicht um einen von Kant autorisierten Text handelt, sondern um Vorlesungsmitund Abschriften verschiedener Studenten, die in unterschiedlicher Qualität überliefert und herausgegeben wurden.26 Aufgrund der sorgfältigen Quellenkritik und der genauen Datierung beziehe mich auf die von Werner Stark (2004) herausgegebene Nachschrift des Studenten Johann Friedrich Kaehler, die auf das Wintersemester 1774/75 datiert werden konnte. Weil es sich nicht um ein von Kant autorisiertes Schriftstück handelt, ist bei der (wortwörtlichen) Interpretation Vorsicht geboten. Kant selber stand den Mit-, und Abschriften seiner Studenten durchaus skeptisch gegenüber. 27 Nichtsdestotrotz ist man sich einig, dass diese und andere Vorlesungsabschriften als wertvolle Ergänzung zu Kants Spätwerk herbeigezogen werden dürfen.28 Erstens illustriert Kant darin viele später wieder aufgenommene Überlegungen mit lebensnahen und anschaulichen Beispielen. Zweitens haben sie einen entwicklungsgeschichtlichen Wert, da sie Auskunft über von Kant benutzten Quellen geben und sich anhand von ihnen Entwicklungen im kantischen Denken nachvollziehen lassen.29 Drittens gilt die Disposition der Ethik-Vorlesung als gesichert,30 was für das Vorhaben dieser Arbeit entscheidend ist. Thematisch befassen sich beide Abschnitte mit der Fragestellung, ob ein Verpflichtungsverhältnis zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen besteht. Gemeint sind mit nichtmenschlichen Wesen einerseits »der bloße Naturstoff, oder der zur Fortpflanzung organisierte, aber empfindungslose, oder der mit Empfindung und Willkür begabte Teil der Natur (Mineralien, Pflanzen, Tiere)« und andererseits »geistige Wesen (Engel, Gott)«31 Inhaltlich sind beide Abschnitte nach der christli-

26 In deutscher Sprache von Menzer, Paul (Hg.): Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin: Pan Verlag Rolf Heise 1925 [1924]; Irmscher, Hans Dietriech (Hg.): Aus den Vorlesungen der Jahre 1762 bis 1764. Auf Grund der Nachschriften Johann Gottfried Herders (= Kantstudien Ergänzungshefte, Nr. 88), Köln: Kölner Universitätsverlag 1964; Lehmann, Gerhard (Bearb.): Vorlesungen über Moralphilosophie (=Akademie Ausgabe Bd. XXVII), Berlin: De Gruyter (1974-79); Gerhardt, Gerd: Immanuel Kant. Eine Vorlesung über Ethik, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1990 und Stark, Immanuel Kant (2004). 27 Vgl. P. Menzer: Eine Vorlesung Kants, S. 21; M. Kühn: Einleitung, S. IX. 28 Vgl. Schneewind, Jerome B.: »Introduction«, in: Peter Heath/Jerome B. Schneewind (Hg.), Lectures on Ethics, übers. v. Peter Heath, Cambridge: Cambridge University Press 2001 [1997], S. xiii-xxviii, hier S. xiii. 29 Vgl. dazu z.B. M. Kühn: Einleitung, S. XXVff. 30 Vgl. P. Menzer: Eine Vorlesung Kants, S. 327. 31 MST, AA VI, S. 442.

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chen scala naturae in Wesen, die unter uns (Dinge, Pflanzen und Tiere) und Wesen, die über uns sind (geistige Wesen wie Engel, böse Geister oder Gott), gestaltet. Weiter handelt Kant ähnliche (Nutzung-)Kontexte ab. Nach einer heutigen gebräuchlichen Unterscheidung betreffen diese im Ethik-Kolleg und in der Tugendlehre Tiere für die Lebensmittelproduktion, Heimtierhaltung sowie Tierversuche. 32 Während in der Tugendlehre nur von domestizierten Tierarten (Pferd und Hund) die Rede ist, geht Kant in der Vorlesung neben den domestizierten Tieren Hund, Katze und Esel auch auf Wildtiere (Wolf und Insekten) ein. Unterschieden wird in beiden Abschnitten zwischen direkten (unmittelbare) und indirekten (mittelbare) Pflichten, wobei Kant in der Vorlesung noch unpräzise von Pflichten gegen Tiere spricht. In der Tugendlehre führt er dann terminologisch genauer die Pflichten in Ansehung der Tiere ein.33 In Paragraph 17 als auch in der Vorlesung erwähnt Kant neben negativen auch positive Pflichten, welche die Tiere betreffen, wobei er in der Vorlesung beide Pflichtkategorien mit lebensnahen Beispielen und Illustrationen veranschaulicht. Dem Menschen sei es also nicht nur verboten, Tiere grausam zu behandeln, sondern er soll an ihnen auch Tugenden wie Dankbarkeit, Gutmütigkeit oder Mitgefühl kultivieren, um sich als moralisches Wesen zu perfektionieren.34 So erwähnt Kant eine Erzählung, in der der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz ein Würmchen, das er unter dem Mikroskop untersucht, wieder auf ein Blatt setzt, damit es nach dem Versuch kein Schaden nimmt.35 Die-

32 Diese Kategorisierung ist jedoch mit Vorsicht zu genießen und darf lediglich als heuristische Unterscheidung verstanden werden. Erstens sind Überschneidungen möglich und zweitens soll die Unterscheidung hier nicht als faktische, ontologische Unterscheidung im Sinne der Benutzungstheorie (vgl. Teutsch, Gotthard M.: Lexikon der Tierschutzethik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, hier S. 29) vertreten werden, welche besagt, dass Tiere als Versuchstiere etc. dazu bestimmt sind, um vom Menschen für einen bestimmten Zweck instrumentalisiert zu werden. 33 Die Rede von »direkten« und »indirekten Pflichten« scheint zwar ein hohes heuristisches Potential zu besitzen. Sie ist auch aufgrund von Regans wirkmächtiger Unterscheidung zwischen direct duty views und indirect duty views (vgl. T. Regan: Animal Rights, Kap. 5, 6) in der Tierethik weitverbreitet. Terminologisch ist sie jedoch ungenau (vgl. auch die Kritik von J. Timmermann: Animal Welfare, S. 131f.). Da Pflichten nur zwischen Personen bestehen können und diese immer direkte Pflichten sind, sind strenggenommen indirekte Pflichten gegen Tiere nicht möglich. Tiere sind vielmehr Pflichtgegenstand als Pflichtadressat (vgl. Anm. 1), was in der Formulierung »in Ansehung der Tiere« klarer zum Ausdruck kommt. 34 Vgl. MST, AA VI, S. 446f. 35 Vgl. ebenso Leibniz’ Experiment mit einem Insekt in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV, AA 05, S.160.

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ses sanftmütige Verhalten gegenüber dem Tier übertrage sich nun auch auf den Umgang mit Menschen.36 Das Erwähnen von positiven Pflichten ist darum interessant, weil Kant gemeinhin als Vertreter des klassischen, empirisch-psychologischen Verrohungsarguments rezipiert wird. So zum Beispiel von Mark Rowlands37: »There is a view associated with Aquinas and Kant, among others, according to which a harm such as cruelty inflicted on my dog is wrong not because of the harm it does to my dog, but because the deleterious effect it has upon the person who inflicts the harm. Cruelty and callousness to nonhumans is wrong not in itself, but because it tends to the perpetrator cruel and callous and this can then go on to infect their dealings with other human beings. He who is hard in dealings with animals becomes hard in dealings with humans [...].« 38

Das Verrohungsargument ist ein seit der Antike bekanntes »Schiefe-EbeneArgument«, das salopp formuliert besagt, Gewalt an Tieren führt früher oder später zu Gewalt an Menschen.39 Zweifelsfrei bezieht sich Kant im Ethik-Kolleg auf diese Art von Verrohungsargument: Erstens illustriert Kant seine Ausführungen mit William Hogarths Kupferstichserie Four stages of cruelty (1751). Es handelt sich dabei um ein Lehrstück mit dem Protagonisten Tom Nero, dessen kriminelle Karriere mit Tierquälerei ihren Anfang nimmt und mit der Hinrichtung als Mörder sowie der öffentlichen Sezierung seines Leichnams endet. Zweitens war Kant behördlich verpflichtet, seine Vorlesung gemäss einem Kompendium zu lesen. Er bediente sich dabei Alexander Gottlieb Baumgartners Ethica philosophica40, deren Aufbau Kant

36 Vgl. V-MO/Kaehler (Stark), S. 346. 37 Vgl. auch DeGrazia, David: Taking Animals Seriously. Mental Life and Moral Status, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 41 oder Herzog, Hal: Wir essen und wir streicheln sie. Unser paradoxes Verhältnis zu Tieren, München: Hanser 2012, S. 39. 38 M. Rowlands: Animal Rights, S. 120. 39 Ihre Überzeugungskraft gewinnen Schiefe-Ebene-Argumente aus der Eintrittswahrscheinlichkeit des unerwünschten End-zustands. Ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit Gewalt an Tieren zu Gewalt an Menschen oder zu einem anderem deviantem Verhalten im zwischenmenschlichem Bereich führt, ist Gegenstand der (Moral-)Psychologie und kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Vgl. dazu einführend Merz-Perez, Linda/Heide, Kathleen M.: Animal Cruelty. Pathway to Violence Against People, Lanham et al.: AltaMira Press 2004. 40 Darüber, ob Kant die zweite oder die dritte der drei Ausgaben (1740, 1751, 1763) benutzte, gehen die Meinungen auseinander (vgl. P. Menzer: Eine Vorlesung Kants, S. 326; Stark, Werner: »Nachwort«, in: Ders., Immanuel Kant (2004), S. 376-407, hier S. 389).

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in seiner Vorlesungsdisposition folgte. Kants Abschnitt »Von den Pflichten gegen Thiere und Geister« findet sich ebenfalls wie Baumgartens Abschnitt »Officia erga, que non sunt homines« (von den Pflichten gegen nichtmenschliche Wesen) im Anschluss an Pars I, Cap. 2 »Officia erga te ipsum« (von den Pflichten gegen sich selbst) gegen Schluss der Vorlesung in Pars I, Cap. 3 »Officia erga alia« (von den Pflichten gegen andere Menschen). Der entscheidende Unterschied zur Vorlesung ist nun, dass sich Kant in der Tugendlehre von Baumgartens Disposition emanzipiert und die Pflichten in Ansehung der Tiere nicht mehr am Schluss unter den Pflichten gegen andere diskutiert, sondern er verschob sie ins erste Buch der Tugendlehre zu den Pflichten gegen sich selbst. Kant argumentiert zwar immer noch mit einem Verrohungsargument, jedoch mit einem anderen Typus: »In Ansehen des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Tiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität, im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird; obgleich ihre behende (ohne Qual verrichtetet) Tötung, oder auch ihre, nur nicht bis über Vermögen angestrengte, Arbeit (dergleichen auch wohl Menschen sich gefallen lassen müssen) unter die Befugnisse des Menschen gehören, da hingegen die martervolle physische Versuche, zum bloßen Behuf der Spekulation, wenn auch ohne sie der Zweck erreicht werden könnte, zu verabscheuen sind. – Selbst Dankbarkeit für lang geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich als ob sie Hausgenossen wären) gehört indirekt zur Pflicht des Menschen, nämlich in Ansehung dieser Tiere, direkt aber betrachtet ist sie immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst.«41

Sekundär mag es durchaus eine Rolle spielen, dass andere Personen durch meine Verrohung negativ tangiert werden42, aber primär besteht die Pflichtrelation in der Tugendlehre nicht mehr zwischen Personen, sondern zwischen dem Menschen als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon, animal rationale) und seiner intelligiblen Persönlichkeit (homo noumenon), welche einen absoluten, inneren Wert hat. Es geht Kant in erster Linie also nicht darum, Akte der Tierquälerei zu unterlassen, um Pflichtverletzungen gegen andere Menschen vorzubeugen – so noch im EthikKolleg –, sondern Kants Ausführungen beziehen sich auf das Mitgefühl, das »eine

Da das Kompendium dem gleichen Aufbau folgte, ist diese Unklarheit für das Unterfangen dieser Arbeit unerheblich. 41 MST, AA VI, S. 443. 42 Vgl. dazu auch J. Timmermann: Animal Welfare, S. 133.

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der Moralität, im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage« ist, die es als Pflicht gegen sich selbst zu bewahren gilt, so dass diese nicht abstumpft oder gar gänzlich ausgetilgt wird. Das Mitgefühl ist bei Kant ein sinnliches, ästhetisches Gefühl, dem in moralischen Belangen zwar eine unterstützende Rolle zukommt, das jedoch nicht zu den moralischen Gemütsanlagen moralisches Gefühl, Gewissen, Liebe und Achtung zählt.43 Wer aus reinem Mitgefühl handelt, handelt also nicht moralisch, er handelt nur pflichtgemäss und nicht aus Pflicht. Denn nach Kant qualifiziert sich eine Handlung nur dann als genuin moralische Handlung, wenn sie aus Achtung vor dem moralischen Gesetz geschieht.44 Aber auch wenn das Mitgefühl nur Mittel zum Zweck ist, moralisches Handeln zu unterstützen, besteht eine vollkommene Pflicht gegen sich selbst als moralisches Wesen, dieses zu erhalten. Analog dazu hat der Mensch »[i]n Ansehung des Schönen obgleich Leblosen in der Natur [...]« eine Pflicht gegen sich selbst das Gefühl in sich zu bewahren, das »[...] zwar nicht für sich allein schon moralisch ist, aber doch diejenige Stimmung der Sinnlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens dazu vorbereitet, nämlich etwas auch ohne Absicht auf Nutzen zu lieben [...]«45. Während Kant im Ethik-Kolleg noch argumentiert, dass das Schöne in der Natur oder leblose Sachen nicht sinnlos zerstört werden dürfen, weil andere Menschen daran gefallen oder davon Gebrauch machen könnten46, verschiebt sich sein Argument in der Tugendlehre ebenfalls auf die Bewahrung der »Stimmung der Sinnlichkeit, welche die Moralität sehr befördert«, an sich jedoch nicht moralisch ist. In beiden Fällen (Mitgefühl und ästhetisches Gefühl) hat der Mensch eine vollkommene Pflicht47 gegen sich selbst als moralisches Wesen »reine moralische Gesinnung zu hegen und dieselbige in ihrer Reinigkeit und Stärke zu erhalten.«48 Das ästhetische Gefühl lehrt uns, dass es Dinge gibt, die wir nicht darum schätzen, weil

43 Vgl. MST, AA VI, S. 39ff. 44 Vgl. KpV, AA V, S. 81. 45 MST, AA VI, S. 443. 46 Vgl. V-MO/Kaehler (Stark), S. 348. 47 Kants Pflichtentaxonomie unterscheidet vier Pflichtkategorien: (1) Pflichten gegen sich selbst und (2) Pflichten gegen andere. Beide werden unterteilt in (a) vollkommene (auch notwendige oder engere) Pflichten und (b) unvollkommene (auch zufällige oder weitere) Pflichten. Vollkommene Pflichten sind von enger Verbindlichkeit und lassen im Gegensatz zu unvollkommenen Pflichten keinen (oder zumindest wenig) Spielraum zu, in welchem Masse sie erfüllt werden müssen. Einen Überblick zu Kants Pflichtentaxonomie findet sich in Wood, Allen W.: Kant’s Ethical Thought, Cambridge et al.: Cambridge University Press 1999, S. 324. 48 V-MO/Kaehler (Stark), S. 183.

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sie uns nützen, sondern weil sie einen intrinsischen Wert haben; das Mitgefühl unterstützt uns, moralisch relevante Situationen zu erkennen, und es motiviert uns, anderen zu helfen. Beides sind wertvolle Stützen des moralischen Handelns, welches unter ständiger Bedrohung von selbstsüchtigen Neigungen oder Trägheit steht. Die Situierung der Pflichten in Ansehung der Tiere unter den Pflichten gegen sich selbst als moralisches Wesen ist aus mehreren Gründen relevant. Erstens erfährt die Ethik der Mensch-Tier-Beziehung in der Tugendlehre eine Aufwertung. Da die Pflichten gegen sich selbst als moralisches Wesen »oberstem Rang« einnehmen und zu den »wichtigsten unter allen«49 zählen, wird die Mensch-TierBeziehung an einer systematisch zentralen Stelle zum Thema gemacht. Zweitens handelt es sich bei diesen Pflichten um vollkommene Pflichten. Wie das Selbstmordverbot oder das Lügenverbot dürfen auch das Quälen oder das Überbeanspruchen von Tieren nicht als Kavaliersdelikt angesehen werden – beides sind moralische Vergehen, die absolut zu unterlassen sind und bei denen es im Unterschied zu den unvollkommenen Pflichten (z.B. Hilfspflicht) keinen Spielraum gibt, wie sie zu erfüllen sind. Drittens muss Kant von anderen indirect duty views wie dem Kontraktualismus oder anderen anthropozentrischen Positionen unterschieden werden, da sie bezüglich konkreten moralischen Handlungen, die aus Kants Position folgen divergieren. Dies lässt sich anhand eines von Gilbert Harman50 inspirierten Beispiels zeigen: Man stelle sich eine Gruppe Jugendlicher vor, die sich einen Spaß erlauben wollen, indem sie eine Katze mit Benzin Übergießen und anschließend anzünden. Die Katze erleidet grausame Qualen und erliegt schlussendlich ihren Brandverletzungen. Auch im Paradigma der indirect duty view wird niemand bestreiten, dass die Katze gelitten hat. Nur ist ihr Leiden nicht moralisch relevant. Das Anzünden der Katze ist nur dann ein moralisches Vergehen, wenn die Katze über das Eigentumsrecht einer anderen Person geschützt ist, wenn sich andere Leute daran stören 51 oder wenn die Jugendlichen sich später auch gegenüber Menschen deviant verhalten (traditionelles Verrohungsargument). Zünden die Jugendlichen einmalig eine Streunerkatze im Geheimen an, ohne dass sich dies negativ auf andere Menschen auswirkt, dann hat der Anthropozentrismus kein Argument, diese Tierquälerei moralisch zu verurteilen. Im Unterschied dazu wäre bei Kant das Leiden zwar ebenfalls nicht unmittelbar moralisch relevant, aber Kant würde die sinnlose Tierquälerei nicht billigen, da sie eine Verletzung der Pflicht gegen sich selbst als moralisches Wesen darstellt.

49 Ebd., S. 171. 50 Vgl. Harman, Gilbert: The Nature of Morality, New York: Oxford University Press 1977, S. 4ff. 51 Sog. ästhetischer Tierschutz, vgl. G. M. Teutsch: Lexikon der Tierschutzethik, S. 18f.

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Ein letzter Punkt betrifft die praktischen Folgen, die aus Kants Neusystematisierung der Pflichten in Ansehung der Tiere resultieren. Entgegen Kants eigener Position bezüglich der moralischen Vertretbarkeit von Tierversuchen, dürften »martervolle physische Versuche« nicht mehr durchgeführt werden, selbst wenn den Versuchen ein moralisch gebotener Zweck zu Grunde liegt (z.B. anderen Personen zu helfen).52 Denn aus Kants Pflichtenkonzeption geht hervor, dass Pflichten gegen sich selbst eindeutig Vorrang vor den Pflichten gegen andere haben 53, ebenso haben vollkommene Pflichten systematisch Vorrang vor unvollkommenen Pflichten. Im Vergleich zu gängiger tierethischer Darstellung rücken diese vier Punkte Kant in ein anderes Licht. Woran mag es liegen, dass der hier erörterten Position so wenig Beachtung geschenkt wird? Ein simpler Grund mag sein, dass sich manche Autor/-innen, wenn es um die Mensch-Tier-Beziehung bei Kant geht, nur auf die Vorlesungsmitschriften beziehen – im Unterschied zum deutschsprachigen Raum sind die Lectures on Ethics54 im anglo-amerikanischen Raum stärker verbreitet. Neben der Ähnlichkeit der beiden Textstellen und der Komplexitätsgrade von Kants Pflichtensystematik in der Tugendethik mag es durchaus auch an Kants eigener Pflichtillustrationen liegen, warum die genannte Entwicklung nicht mehr Beachtung fand. So fehlt die Beziehung zwischen der Dankbarkeit für die Dienste eines Nutz- oder Haustieres und der Pflicht gegen sich selbst, das Mitgefühl zu bewahren, auf welcher das späte Verrohungsargument beruht. Zudem zählt »Dankbarkeit« zu den unvollkommenen Pflichten gegen andere und damit zu den zwischenmenschlichen Pflichten.55 Wendet man sich jedoch dem Peritext der Tugendlehre zu, dann sind die Pflichten in Ansehung der Tiere eindeutig bei den Pflichten gegen sich selbst zu verorten.

ZUM PERITEXT DER TUGENDLEHRE Im Folgenden wird der Peritext der Tugendlehre dazu dienen, die Verschiebung und Neusystematisierung der Mensch-Tier-Beziehung deutlicher zu machen. Nach der Einleitung des I. Teils der »Ethischen Elementarlehre« »Von den Pflichten gegen sich selbst überhaupt« (§§ 1-4) folgt das I. Buch »Von den vollkommen Pflichten

52 Ausführlich zu dieser Argumentation siehe S. Camenzind, Tierversuche. 53 Vgl. Forkl, Markus: Kants System der Tugendpflichten. Eine Begleitschrift zu den »Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre« (= Europäische Hochschulschriften Reihe 20, Bd. 615), Frankfurt a. M. et al.: Lang 2001, S. 193. 54 Heath, Peter/Schneewind, Jerome B. (Hg.): Lectures on Ethics, übers. v. Peter Heath, Cambridge: Cambridge University Press 2001 [1997]. 55 Vgl. MST, AA VI, S. 454ff.

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gegen sich selbst« (§§ 5-18). Dieses ist in zwei Hauptstücke unterteil, I. Hauptstück »Von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, als einem animalischen Wesen« (§§ 5-8) und II. Hauptstück »Von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, bloß als einem moralischem Wesen« (§§ 9-15). Paragraphen 16-18 bilden den »Episodische(n) Abschnitt: Von der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe: das, was Pflicht gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten«, wobei in Paragraph 17 die Pflichten in Ansehung der Tiere besprochen wird. Tabellarisch lässt sich die Disposition wie folgt darstellen: Tabelle: Disposition der Tugendlehre Paragraphen

Peritext: Titel

I. Ethische Elementarlehre I. Teil. Von Pflichten gegen sich selbst überhaupt (§§ 1-22) 1-4 5-8 9-15 16-18 19-22

Einleitung Von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, als einem animalischen Wesen Von den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, bloß als einem moralischem Wesen Episodischer Abschnitt: Von der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe: Das, was Pflicht gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten Von den unvollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst II. Teil. Von den Tugendpflichten gegen andere (§§ 23-48)

Da der »episodische Abschnitt«, wo die Mensch-Tier-Beziehung erörtert wird, zwischen den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst und den unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst, eingereiht ist, besteht kein Zweifel, dass Kant die Pflichten in Ansehung der Tiere den Pflichten gegen sich selbst und nicht den Pflichten gegen andere Personen zuordnet, welche erst später ab Paragraph 23 folgen. Neben den vier oben erwähnten Punkten, warum die Pflichtverschiebung relevant ist, lässt sich an der neuen Systematik fünftens auch erkennen, dass sich Kant von Baumgartners Disposition emanzipiert hat und terminologisch genauer geworden ist (vgl. schon oben S. 9). Als Scharnierabschnitt zwischen den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst und den unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst, könnte der »episodische Abschnitt« eine weniger strenge Lesart erlauben, und erklären, dass Kant auch die Pflicht der Dankbarkeit erwähnt, obwohl diese zu den unvollkommenen Pflichten

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gegen andere zählt. Sich Tieren dankbar zu zeigen und ihnen gegenüber Mitgefühl entgegen zu bringen, dient auch dazu, die Dankbarkeitspflicht einzuüben und das Mitgefühl zu kultivieren, was eine unvollkommene Pflicht gegen sich selbst ist. Dieses Kultivierungsargument erzürnte schon Schopenhauer in der Preisschrift über die Grundlage der Moral: »Also bloß zur Uebung soll man mit Thieren Mitleid haben, und sie sind gleichsam das pathologische Phantom zur Uebung des Mitleids mit Menschen. Ich finde, mit dem ganzen nicht-islamisierten (d.h. nichtjudaisirten) Asien, solche Sätze empörend und abscheulich.« 56 Die fünf genannten Punkte machen aus Kant noch keinen Sentientisten oder Biozentristen. Trotz der Neugewichtung und Aufwertung der Mensch-Tier-Beziehung verbleibt Kant im Paradigma der indirekten Berücksichtigung aller moralisch nichtautonomer Wesen – das bedeutet, dass Tiere auch in der Tugendlehre nicht um ihrer selbst willen berücksichtig werden. Dies lässt sich auch mit dem Paratext stützen. Kant betitelt die drei Paragraphen 16-18 mit der Überschrift »Amphibolie der Reflexionsbegriffe«.57 Die Amphibolie (griech. für Doppelsinn, Mehrdeutigkeit) besteht in einer Verwechslung von Pflichtadressat und Pflichtgegenstand. Wer glaubt, Pflichten gegen empirisch nicht erfahrbare Wesen wie Engel zu haben; wer denkt, dass Dankbarkeit dem treuen Haushund selbst geschuldet ist, der irrt sich. Auch Tierquälerei, Überforderung von Nutztieren oder spekulative Tierversuche sind nicht darum moralisch verboten, weil den Tieren (in moralisch relevanter Weise) geschadet wird, sondern weil dadurch eine Pflicht gegen sich selbst als moralisches Wesen verletzt wird. Eine Verwechslung ist jedoch möglich, da uns Tiere in mindestens dreierlei Hinsicht zum Verwechseln ähnlich sind.58 Erstens besitzt auch der Mensch tierliche Anlagen (Tierheit des Menschen), sich selbst zu erhalten, sich fortzupflanzen und mit anderen Wesen sozial zu interagieren. Zweitens sind Menschen wie (viele) Tiere empfindungsfähig und drittens verhalten sich Menschen und Tiere ähnlich. Weil Tiere also ein »Analoga der Menschheit«59 sind, besteht eine Verwechslungsgefahr, wer wem gegenüber verpflichtet ist. Trotz der vielen Gemeinsamkeiten besitzen Tiere nach Kant das moralisch relevante Kriterium – die Moralität – nicht. Darum können Tiere weder von Personen verpflichtet werden, noch können sie nach Kant Personen verpflichten. Anders ausgedrückt heißt das, dass kantische Pflichten gegen Tiere nicht möglich sind. Denn »[...] Moralität [ist] die Bedingung, unter der al-

56 Schopenhauer, Arthur »Preisschrift über die Grundlage der Moral«, in: Ders.: Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Ludger Lütkehaus, Band III, Zürich: Haffmans 1988 [1840], S. 459-632, hier S. 518. 57 Vgl. MST, AA VI, S. 442. 58 Vgl. L. Denis: Kant’s Conception of Duties, S. 407. 59 V-MO/Kaehler (Stark), S. 345.

Der Paratext in Immanuel Kants Metaphysik der Sitten | 59

lein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebendes Glied im Reich der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat«.60 Auch wenn Tiere nach Kant nicht um ihrer selbst willen berücksichtigt werden können, wird ihnen dennoch in der höchsten Pflichtenklasse einen durchaus prominenten Platz eingeräumt. Man könnte nun aufgrund des Peritextes einwenden, dass es bei diesem »episodischen Abschnitt« nur um etwas Nebensächliches, um ein beiläufiges, flüchtiges Ereignis geht. Tatsächlich handelt es sich um einen eingeschobenen, erläuternden Abschnitt – so gebraucht Kant das Wort »episodisch« zumindest in Paragraph 76 in der Kritik der Urteilskraft61. Da das Mitgefühl nur eine der Moralität diensame natürliche Anlage ist und keine genuin moralische (vgl. oben), handelt es sich systematisch betrachtet durchaus um einen nebensächlichen Einschub. Dies macht den systematischen Nebenschauplatz inhaltlich jedoch nicht zwingend bedeutungslos. Denn erstens ist die Frage, gegen welche Wesen Pflichten möglich sind beziehungsweise wer zu den moralisch zu berücksichtigenden Wesen zählt, auch für Kant zentral.62 Sie hat weitreichende Folgen für alle moralisch handlungsfähigen Subjekte, aber ebenso für alle Wesen, die von der moralischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Zweitens sind Tiere in allen möglichen Bereichen der alltäglichen Lebenswelt präsent – sei es gewollt als Haustiere oder als Nutzobjekte in diversen Berufen, oder sei es ungewollt als zufällige Begegnung auf der Straße, als Schädlinge im Garten oder als lästige Nachtruhestörer. Moralische Überlegungen zur Mensch-Tier-Beziehung stellen also auch im Kantianismus nicht ein bedeutungsloses Randphänomen des menschlichen Lebens dar, selbst wenn die Mensch-Tier-Beziehung nur mittelbar über das Mitgefühl und dessen Erhalt durch die Pflicht gegen sich selbst als moralisches Wesen berücksichtigt wird. 63

60 GMS, AA: IV, S. 435. Es handelt sich hier um einen spezifischen, kantischen Pflichtbegriff, der jüngst von Korsgaard in Frage gestellt beziehungsweise durch einen Pflichtbegriff des moralischen Anspruchs ergänzt wurde (vgl. C. Korsgaard: Interacting with animals, S. 109). 61 KdU, AA V, S. 401. 62 Vgl. Esser, Andrea M.: »The Inner Court of Conscience, Moral Self-Knowledge and the Proper Object of Duty (TL 6: 437-444)«, in: Andreas Trampota/Oliver Sensen et al. (Hg.). Kant’s Tugendlehre, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 269-291, hier S. 288. 63 Für wertvolle Hinweise und Korrekturen danke ich Christian Dürnberger sowie der Herausgeberin und dem Herausgeber.

Tom Regans Philosophie für Tierrechte Subjekte des Lebens im Kontext von intrinsischen und inhärenten Wertdiskursen Erwin Lengauer

EINLEITUNG Im modernen Diskurs der Mensch-Tier-Ethik, insbesondere mit Blick auf den Begründungsdiskurs von individuellen Rechten für nichtmenschliche Tiere, stehen die Arbeiten von Tom Regan – neben den utilitaristisch orientieren Schriften von Peter Singer – ab den 1970er Jahren im Mittelpunkt. Wert- und normtheoretische Überlegungen zum Status und damit oftmals verbunden zu Rechten von Tieren reichen jedoch weiter zurück. Der vorliegende Beitrag bietet gezielt einen Überblick über den inzwischen hoch ausdifferenzierten Tierrechtsdiskurs mit Schwerpunkt auf Regans Werk. Der Fokus ergibt sich einerseits aufgrund der zentralen Position seines Ansatzes innerhalb der internationalen akademischen Debatte. Andererseits wegen seines Konzepts von »inherent values«, welches oftmals mit dem prominenten Konzept der (Menschen)-Würde verglichen wurde.

DIE GENESE DES MODERNEN TIERRECHTSDISKURSES Jedenfalls wichtige philosophische Vorarbeiten zum Themenfeld Tierrechte finden sich bereits in den Arbeiten des britischen Intellektuellen und politisch engagierten Humanisten Henry Salt (1851-1939). Neben seinem Werk Animals’ Rights: Considered in Relation to Social Progress von 18921, verfasste Salt 1899 im Bereich der

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Salt, Henry: Animals’ Rights. Considered in Relation to Social Progress, London: Macmillan Press 1892.

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akademischen Philosophie im Fachjournal Ethics mit The Rights of Animals2 auch den ersten für die Tierethik einschlägigen Aufsatz.3 Salts Ansätze bleiben jedoch innerhalb der universitären Philosophie auch aufgrund seines spirituellen Weltbildes bis in die Gegenwart weitgehend unbeachtet. Vergleichsweise wenig Beachtung findet auch die erste Verteidigung von Rechten für Tiere durch einen universitären Fachphilosophen, den Deutschen Leonard Nelson (1882-1927). Der für die Tierethik relevante Band System der philosophischen Ethik und Pädagogik des Neokantianers und Sozialisten erschien erst postum 1932.4 Die englische Übersetzung des Bandes im Jahr 1956 motivierte jedoch Professor Raymond G. Frey in Rights, Interests, Desires and Beliefs im Jahr 1979 zur diffizilen und sehr kritischen Auseinandersetzung mit Nelson sowie weiteren tierethisch relevanten Texten,5 u.a. mit J. Feinbergs Text The Rights of Animals and Unborn Generations.6 Freys Text gilt inzwischen als moderner Klassiker zur Tierrechtsdebatte und fand berechtigt als Übersetzung einen zentralen Platz im ersten deutschsprachigen Sammelband mit Fokus auf die Tierethik. 7 Aber bereits 1980 wurde durch die Pionierarbeit von Dieter Birnbacher der akademisch meistzitierte und grundlegende Text des Rechtsphilosophen Joel Feinberg (1974) im ersten deutschsprachigen Sammelband zu Ökologie und Ethik einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.8 Jedenfalls finden sich bis 1974 in der weltweit wichtigsten Datenbank zur akademischen Philosophie, dem Philosophers Index, nur fünf Einträge, die als Randthemen »Animal Rights« oder »Animal Liberation« behandeln. Erst mit der Publikation von Singers seither vielzitiertem tierethischen Aufsatz All Animals are Equal aus dem Jahr 19749 und Singers in der utilitaristischen Tradi-

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Salt, Henry: »The Rights of Animals«, in: International Journal of Ethics 10 (1900), S. 206-222.

3

Vgl. Magel, Charles: Keyguide to Information Sources in Animal Rights, Jefferson: McFarland 1989, S. 9.

4

Nelson, Leonard: System of Ethics. New Haven: Yale University Press 1956 [1932].

5

Frey, Raymond: »Rights, Interests, Desires and Beliefs«, in: American Philosophical Quarterly 16 (1979), S. 233-239.

6

Feinberg, Joel: »Die Rechte der Tiere und zukünftiger Generationen«, in: Dieter Birnbacher (Hg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart: Reclam 1980 [1974], S. 43-68.

7

Vgl. Krebs, Angelika (Hg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 62011 [1997].

8

Vgl. Birnbacher, Ökologie und Ethik (1980).

9

Singer, Peter: »All Animals Are Equal«, in: Philosophic Exchange 1 (1974), S. 243-257. Nachdruck in: Kuhse, Helga (Hg.): Peter Singer. Unsanctifying Human Life, Oxford: Blackwell 2002, S. 79-104; Krebs: Naturethik (2011), S. 13-32.

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tion konzipierten Klassiker Animal Liberation aus dem Jahr 1975 beginnt die moderne Debatte um Tierbefreiung und Tierrechte.10 Regan publiziert im folgenden Jahr mit Feinberg on What Sorts of Beings Can Have Rights11 und McCloskey on Why Animals Cannot Have Rights12 weltweit seit Salt die zwei ersten philosophischen Fachaufsätze zur Verteidigung von Tierrechten. Weiterhin editierte Regan mit Singer im Jahr 1976 den ersten akademischen Sammelband, der mit Animal Rights and Human Obligations den Begriff »Tierrechte« im Titel führt. Das erste internationale universitäre Symposium zum Thema »Animal Rights« findet ein Jahr später im August 1977 am Trinity College in Cambridge statt. Singer bemerkt im Vorwort des 1979 hierzu erschienenen Bandes Animals’ Rights – A Symposium, diese Veranstaltung könnte von Historikern in hundert Jahren als der offizielle Beginn der modernen akademischen Tierrechtsbewegung datiert werden. 13 Es soll nach Meinung des Sozialwissenschaftlers Harold Guither der Beginn eines stark wachsenden »Radical Social Movement«14 werden, dessen akademisch-theoretische Entwicklung sich in den Worten der Philosophen Lawrence und Susan Finsen unter dem Motto »From Compassion to Respect«15 nachzeichnen lässt. In den wenigen Jahren seit der Veröffentlichung von Singers Animal Liberation bis zur Publikation von Regans The Case for Animal Rights (im Folgenden als CFAR zitiert) im Jahr 198316 erhöhte sich die Anzahl der im Philosophers Index erfassten Treffer zu »Animal Rights« von den genannten fünf auf etwas über 100 Einträge. Bis Mitte 2016 finden sich je nach Suchmodus nun sogar zwischen 600 bis

10 Singer, Peter: Animal Liberation. A New Ethics for our Treatment of Animals. New York: New York Review of Book 21990 [1975], deutsch: Singer, Peter: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, Erlangen: Harald Fischer Verlag 22015 [1975]. 11 Regan, Tom: »Feinberg on What Sorts of Beings Can Have Rights«, in: Southern Journal of Philosophy 14 (1976), S. 485-498. Nachdruck in Ebd.: All That Dwell Therein: Animal Rights and Environmental Ethics, Berkeley: University of California Press 1982. 12 Regan, Tom: »McCloskey on Why Animals Cannot Have Rights«, in: Philosophical Quarterly 26 (1976), S. 251-257. Nachdruck in Ebd.: All That Dwell Therein. 13 Vgl. Paterson, David/Ryder, Richard Dudley (Hg.): Animals’ Rights – A Symposium. Held at Trinity College, Cambridge, 19. Aug. 1977, Fontwell, Sussex: Centaur Press 1979. 14 Vgl. Guither, Harold: Animal Rights: History and Scope of a Radical Social Movement, Carbondale: Southern Illinois University Press 1998. 15 Finsen, Lawrence/Finsen, Susan: The Animal Rights Movement in America: From Compassion to Respect, New York: Twayne Publishers 1994. 16 Regan, Tom: The Case for Animal Rights. Berkeley: University of California Press 1983, in diesem Beitrag wird zitiert aus Ebd.: The Case for Animal Rights: Updated with a New Preface, Berkeley: University of California Press 2004.

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über 900 relevante Eintragungen. Der Begriff »Animal Liberation« jedoch kann sich bis zum heutigen Tag mit knapp 100 Einträgen vergleichsweise nur bescheiden im akademischen Diskurs etablieren. Hierzu besonders lesenswerte Ansätze in der Tradition der Kritischen Theorie finden sich im 2011 erschienenen Sammelband Critical Theory and Animal Liberation von John Sanbonmatsu.17 Singer widmet 1987 dem Verhältnis seines utilitaristisch inspirierten Tierbefreiungskonzepts zum deontologisch-kantianischen Ansatz für Tierrechte einen oft zitierten, ausführlichen Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel Animal Liberation or Animal Rights.18 Regans oftmals wiederholte Ablehnung des Utilitarismus findet sich wohl mit seiner zentralen These »animal liberation is the goal for which the philosophy of animal rights is the philosophy« 19 am besten zusammengefasst. Dies unterstreicht für viele Tierethiker/-innen die begründungstheoretische Notwendigkeit, das Konzept von Rechten für (nichtmenschliche) Tiere klarer in den philosophischen Diskurs einzubringen. Historisch betrachtet waren es nicht nur zu Zeiten von Salt besonders oft Vertreter in der Tradition der Transzendentalphilosophie wie z.B. Joseph Rickaby und David Ritchie, die Konzepte von Rechten für Tiere prinzipiell und entschieden als unmöglich und »absurd« zurückwiesen.20 Auch in der deutschsprachigen kantischen Gegenwartsphilosophie zeigen zwar die Titel der Aufsätze Haben Tiere Rechte? Elemente der Abwägung wie bei Michael Schlitt 199221 und Christian Krijnen 199722. Doch relativ rasch zeigt sich bei Krijnen, dass Tiere prinzipiell keinen Anteil an den transzendentalen Prämissen für den Anspruch auf Rechte haben, ist doch nach Krijnen die »gesetzgebende Vernunft als letztlicher gesetzlicher Grund aller

17 Vgl. Sanbonmatsu, John (Hg.): Critical Theory and Animal Liberation, Lanham: Rowman & Littlefield 2011. 18 Singer, Peter: »Animal Liberation or Animal Rights«, in: Monist 70 (1987), S 3-14; Nachdruck in Palmer, Clare (Hg.): Animal Rights. The International Library of Essays on Rights. Aldershot: Ashgate Publishing Company 2008. 19 Regan, Tom: Defending Animal Rights, Champaign: University of Illinois Press 2001, S. 37. 20 Rickaby, Joseph: »Of the So-called Rights of Animals«, in: Tom Regan/Peter Singer (Hg.), Animal Rights and Human Obligations. Englewood Cliffs: Prentice Hall 21989 [1976], S. 179-180; Ritchie, David: »Why animals do not have rights«, in: Regan/Singer, Animal Rights (1989), S. 181-184. 21 Schlitt, Michael: »Haben Tiere Rechte?«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 78 (1992), S. 225-241. 22 Krijnen, Christian: »Haben Tiere Rechte?« in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 83 (1997), S. 369-396.

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Gründe und damit aller Geltung«23 von Rechten anzusehen. Eindeutig endet auch die Untersuchung Immanuel Kants Beitrag zur Tierschutzethik von Maria Woschnak mit dem eher apodiktischen Resümee, nach dem »Tierechte ebenso widersinnig wie unexekutierbar sind.«24 Der Gerechtigkeit halber sei jedoch auf den markanten argumentativen Wandel bei einer der bedeutendsten kantischen Philosophinnen der Gegenwart verwiesen. Die in Harvard lehrende Christine Korsgaard stellt mit dem 2012 erschienenen Text A Kantian Case for Animal Rights einen klaren argumentativen Rahmen für Tierrechte durch eine neue – verständlicherweise im dominierenden anthropozentrischen Kantianismus hoch umstrittene – Lesart von Immanuel Kants Ethik dar.25 Entspannter und auch argumentativ teilweise etwas einfacher nehmen viele (Rechts-)Philosophen in der analytisch-säkularen Tradition den Zusammenhang von Tieren und Rechten. Bereits 1974 verwendete Feinberg als einer der führenden amerikanischen analytischen Rechtsphilosophen in dem grundlegenden Artikel The Rights of Animals and Unborn Generations den speziesneutralen, argumentativen Zusammenhang von Interesse und Rechten als Basis. Dieser Aufsatz findet sich bereits 1980 in deutscher Übersetzung in dem von Birnbacher herausgegebenen Band zum Thema Ökologie und Ethik. Der Text beinhaltet eine grundlegende, und noch dazu speziesneutrale Definition des Begriffs »Rechte«: »Ein Recht haben bedeutet auf etwas gegenüber irgend jemandem einen Anspruch haben, dessen Anerkennung entweder durch Gesetz oder, wie im Fall moralischer Rechte, durch die Prinzipien eines aufgeklärten Gewissens gefordert wird.«26 Feinberg stellt darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen Rechten und Interessen dar, und schreibt: »Ohne Interessen kann es für ein Wesen keine Güter geben, deren Bewahrung oder Erlangung man ihm schulden würde.«27 Damit wird grundsätzlich ermöglicht, dass auch Tiere Träger von Rechten sein können, sofern man davon ausgehen kann, dass sie über Interessen verfügen. Für die Rechtsphilosophin Helena Silverstein steht Feinberg – mit Regan – daher am Beginn der modernen, intellektuellen Tierrechtsbewegung; bei ihr ist die

23 Krijnen, Christian: »Tiere ohne Rechte und Menschen mit Pflichten«, in: Jan C. Joerden/ Bodo Busch (Hg.), Tiere ohne Rechte? Berlin, Springer Verlag 1999, S. 83-99, hier S. 97. 24 Woschnak, Maria: »Immanuel Kants Beitrag zur Tierschutzethik«, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 1 (2003), S. 153-159, hier S. 159. 25 Korsgaard, Christine: »A Kantian Case for Animal Rights«, in: Margot Michel/Daniela Kühne et al. (Hg.), Animal Law – Tier und Recht: Developments and Perspectives in the 21st Century. Zürich, Dike 2012, S. 3-27. 26 J. Feinberg: Die Rechte der Tiere, S. 141. 27 Ebd., S. 149.

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Rede von »Unleashing Rights« für Tiere.28 Diese Bewegung versucht, einen grundlegenden normativen Wandel von der moderateren reformistischen Tierschutzbewegung zur abolitionistischen Tierrechtsbewegung theoretisch auf sichere argumentative Fundamente zu gründen. Ein Teil dieser inzwischen hoch ausdifferenzierten Debatte versucht dies neben der bereits erwähnten zugrunde gelegten kantischen Ethik durch verstärkte Anknüpfung an klassisch-kontraktualistische Konzepte.29 Erstmals umfassend zeigt sich die argumentative Bandbreite und die hohe argumentative Dichte der Tierrechtsdebatte seit den 1970er Jahren in der besonders beeindruckenden, fünfhundert Seiten umfassenden Anthologie Animal Rights, die 2008 von Clare Palmer herausgegeben wurde.30 Obwohl diese Anthologie in der renommierten Reihe The International Library of Essays on Rights publiziert wurde, wurde dieses gedruckte intellektuelle »Archiv« der Tierrechtsphilosophie bisher weitgehend von der Fachwelt ignoriert.31 Begründungstheoretisch interessant sind des Weiteren die verstärkt akzeptierten, speziesneutralen Konzepte von Rechten in den verschiedenen Bereichen der Philosophie. Am prägnantesten formuliert findet sich eine allgemeine Konzeption bei Peter Koller: »Danach ist ein Recht, ganz allgemein genommen, eine normative Position. […] Dessen ungeachtet ist jedoch allen Rechten eine bestimmte Form gemeinsam, die man als ihre elementare Grundstruktur bezeichnen kann. Jedes Recht, gleichgültig was es im einzelnen bedeuten mag, hat die Form eines dreistelligen Relationsprädikats mit den folgenden variablen Komponenten: (1) dem Subjekt oder Inhaber, (2) den Adressaten und (3) dem Inhalt oder Gegenstand des Rechts.«32

28 Silverstein, Helena: Unleashing Rights. Law, Meaning, and the Animal Rights Movement, Ann Arbor: University of Michigan Press 1996. 29 Vgl. Rowlands, Mark: »Contractarianism and Animal Rights«, in: Journal of Applied Philosophy 14 (1997), S. 235-247; Ebd.: Animal Rights. Moral Theory and Practice. Basingstoke, Hampshire, Palgrave 2009 [1998]. 30 C. Palmer: Animal Rights. 31 Vgl. Lengauer, Erwin: »[Rezension zu] Palmer, Clare (Hg.) 2008. Animal Rights. Series: The International Library of Essays on Rights. Aldershot, Ashga-te«, in: ALTEX ethik 1 (2009), S. 46-47; Ebd.: »[Rezension zu] Rowlands, Mark 2009. Animal Rights. Moral Theory and Practice, 2. Aufl., Basingstoke, Palgrave«, in: ALTEX ethik 2 (2010) 1, S. 38-39. 32 Koller, Peter: »Die Struktur von Rechten«, in: Markus Stepanians (Hg.), Individuelle Rechte, Paderborn: Mentis 2007, S. 86-95, hier S. 86.

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Ausführlich widmet sich der Rechtsphilosoph Matthew Kramer 2010 sowie 2013 der Bedeutung von Interessen und Rechten.33 Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch manche utilitaristisch orientierten Ethiker wie Jean-Claude Wolf und Birnbacher versuchen, ihre normativen Konzepte mit Theorien der Rechte umfassender zu vereinen. Grundlegende Fragen zur Vereinbarkeit von utilitaristischen bzw. konsequentialistischen Ethikmodellen mit Theorien der Rechte finden sich besonders zu Zeiten der Entstehung von CFAR im Zentrum philosophischer Debatten. Frey als Herausgeber von Utility and Rights34 reflektierte mit den damals führenden Theoretikern Leonard Sumner, Joseph Raz, John Leslie Mackie, Richard Hare u.a. ausführlich diese Thematik. Bei moderaten Utilitaristen findet die in einem Aufsatztitel prägnant formulierte These »The Consequentialist Can Recognize Rights «35 überwiegend Zustimmung. Jedenfalls besteht langsam in rechtsethischen Diskursen die Bereitschaft, den philosophisch reflektierten Begriff der Tierrechte verstärkt in die Forschung einfließen zu lassen. Dies zeigt sich z. B. auch in dem von Cass Sunstein und Martha Nussbaum 2004 herausgegebenen Sammelband mit dem Titel Animal Rights: Current Debates, der Texte führender Rechtswissenschaftlerinnen sowie Rechtswissenschaftler und Philosophinnen sowie Philosophen enthält. 36 Sunstein gehört nicht nur zu den meistzitierten Juristen der USA, sondern gilt auch als ein Aushängeschild moderner rechtstheoretischer Ansätze. Für den deutschsprachigen Raum sei auf die umfassenden Arbeiten aus dem Jahr 2016 von Saskia Stucki und Carolin Raspe (2013) verwiesen. 37 Stucki und Raspe sind deutschsprachige Vertreterinnen von starken Personenrechten für Tiere – ein Konzept, welches, seitdem es aufgebracht wurde, im Zentrum der anglo-

33 Kramer, Matthew: »Refining the Interest Theory of Rights«, in: American Journal of Jurisprudence 55 (2010), S. 31-39; Ebd.: »Some Doubts about Alternatives to the Interest Theory of Rights«, in: Ethics 123 (2013), S. 245-263. 34 Vgl. Frey, Raymond (Hg.): Utility and Rights, Minneapolis: University of Minnesota Press 1984. 35 Pettit, Philip: »The Consequentialist Can Recognize Rights«, in: Philosophical Quarterly 38 (1988), S. 42-55. 36 Sunstein, Cass/Nussbaum, Martha (Hg.): Animal Rights: Current Debates, New Directions. Oxford, Oxford University Press 2004. 37 Stucki, Saskia: Grundrechte für Tiere. Eine Kritik des geltenden Tierschutzrechts und rechtstheoretische Grundlegung von Tierrechten im Rahmen einer Neupositionierung des Tieres als Rechtssubjekt, Baden-Baden: Nomos 2016; Raspe, Carolin: Die tierliche Person: Vorschlag einer auf der Analyse der Tier-Mensch-Beziehung in Gesellschaft, Ethik und Recht basierenden Neupositionierung des Tieres im deutschen Rechtssystem, Berlin: Duncker & Humblot 2013.

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amerikanischen Kritik steht. Besonders nach der vielzitierten Analyse von Mary Anne Warren im Jahr 1986 in Difficulties with the strong Animal Rights werden bestimmte Versionen der inhaltlich besonders »starken« Form von Tierrechten kritisiert38, wie z.B. die von Gary L. Francione in 2008 formulierten Thesen in »Your Child or the Dog?«.39 Solch starke Varianten der Tierrechte werden allerdings nur zum Teil von Regan geteilt. Jedenfalls steht aktuell für international führende Rechtsphilosophen wie William Edmundson oder Kramer nicht mehr das prinzipielle normative Konzept von Tierrechten im Fokus der Kritik. Die Idee, Ansprüche der (weitgehenden) Schmerz- und Leidensfreiheit für (nichtmenschliche) Tiere zu sichern, und zwar mit Hilfe von Theorien moralischer und juristischer Rechte, findet selbst Eingang in Konzepte der klassischreformistischen Tierschutzbewegung, beispielhaft dargestellt in Clare McCauslands The Five Freedoms of Animal Welfare Are Rights aus dem Jahr 2014.40 Im Zentrum der inhaltlichen Ausgestaltung von Tierrechten steht für viele Philosoph/-innen die Tötungsfrage, wie schon zu Beginn bei Singer und wie die ausführliche Auseinandersetzung bei Regan zeigt, aber beispielsweise auch bei Tatjana Visak und anderen.41 Doch wie Benjamin Bramble und Robert Fischer es in ihrem hoch aktuellen Sammelband mit dem bezeichnenden Titel The Moral Complexities of Eating Meat aus dem Jahr 2015 ausführlich darlegen, sollte man sich vor allzu schnellen und einfachen Antworten hüten.42 Zur Tötungsfrage gilt es jedenfalls nachfolgend die Stärken und Schwächen der zentralen Argumente von CFAR darzulegen, mit denen sich Regan für einen fundamentalen Respekt und ein starkes Lebensrecht für Tiere ausspricht. Dabei geht er von Tierrechten aus, die mit grundlegenden gesellschaftlichen Implikationen einhergehen sollen, das heißt, die auf radikale Änderungen des derzeitigen Umgangs mit Tieren hinauslaufen. Die weitreichendsten Implikationen in der derzeitigen Gesellschaft wären wohl die vollständige Abschaffung der Nutztierhaltung, der schmerzhaften Tierversuche und der Jagd. Regan fasst die ethischen Forderungen

38 Warren, Mary Anne: »Difficulties with the strong Animal Rights«, in: Between the Species 2 (1986), S. 163-173. 39 Francione, Gary: Animals as Persons: Essays on the Abolition of Animal Exploitation, New York: Columbia University Press 2008. 40 McCausland, Clare: »The Five Freedoms of Animal Welfare Are Rights«, in: Journal of Agricultural and Environmental Ethics 27 (2014), S. 649-662. 41 Vgl. Visak, Tatjana: Killing Happy Animals: An Exploration in Utilitarian Ethics, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013; Visak, Tatjana/Garner, Richard (Hg.): The Ethics of Killing Animals, Oxford: Oxford University Press 2016. 42 Vgl. Bramble, Benjamin/Fischer, Robert William (Hg.): The Moral Complexities of Eating Meat, Oxford: Oxford University Press 2015.

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bereits im Titel seines 2004 erschienenen Buches Empty Cages: Facing the Challenge of Animal Rights zusammen. Das klare, kurze Postulat: »empty cages, not larger cages« erläutert er in Abgrenzung zum herkömmlichen Tierschutz: »Being kind to animals is not enough. Avoiding cruelty is not enough. Housing animals in more comfortable, larger cages is not enough. Whether we exploit animals to eat, to wear, to entertain us, or to learn, the truth of animal rights requires empty cages, not larger cages.« 43 Trotz dieser radikalen Forderungen auch schon im CFAR-Kapitel Implications of the Rights View44 wird Regan im November 1983 durch die Besprechung des bekannten Philosophen Robert Nozick in der New York Times Book Review einer breiteren intellektuellen Szene als der führende neue Theoretiker der modernen Tierrechtsbewegung bekannt.45 Etwas später festigt Regan international seinen akademischen Ruf aufgrund umfangreicher fachlich einschlägiger Besprechungen seiner Monographie.

TOM REGANS ETABLIERUNG VON »ANIMAL RIGHTS« IM PHILOSOPHISCHEN DISKURS Regan, Jahrgang 1938, lehrt nach seiner Promotion im Jahr 1966 von 1967 bis 2001 als Professor für Philosophie an der North Carolina State University und publiziert mit The Moral Basis of Vegetarianism (1975) seinen ersten Aufsatz zur Tierethik. 46 In führenden philosophischen Zeitschriften schafft Regan mit Texten wie Feinberg on What Sorts of Beings Can Have Rights, McCloskey on Why Animals Cannot Have Rights (beide von 1976)47, An Examination and Defense of One Argument Concerning Animal Rights von 197948 und Utilitarianism, Vegetarianism, and Animal Rights aus dem Jahr 198049 präzise Analysen. Diese diffizilen Vorarbeiten

43 Regan, Tom: Empty Cages: Facing the Challenge of Animal Rights, Lanham, MD: Rowman & Littlefield Publishers 2004, S. 5. 44 CFAR, S. 330ff. 45 Vgl. Nozick, Robert: »About Mammals and People. Review of The Case for Animal Rights by Tom Regan«, in: New York Times Book Review vom 27.11.1983, S. 29-30. 46 Regan, Tom: »The Moral Basis of Vegetarianism«, in: Canadian Journal of Philosophy 5 (1975), S.181-214; Nachdruck in Ebd.: All That Dwell Therein. 47 T. Regan: Feinberg; Ebd.: McCloskey. 48 Regan, Tom: »An Examination and Defense of One Argument Concerning Animal Rights«, in: Inquiry 22 (1979), S. 189-219; Nachdruck in Ebd.: All That Dwell Therein. 49 Regan, Tom: »Utilitarianism, Vegetarianism, and Animal Rights«, in: Philosophy and Public Affairs 9 (1980), S. 305-324; Nachdruck in Ebd.: All That Dwell Therein; C. Palmer: Animal Rights.

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münden nach einer intensiven, fast dreijährigen durchgehenden Schreibphase im Jahr 1983 in seinem Opus Magnum The Case for Animal Rights. In den eng gedruckten 420 Seiten erarbeitet Regan in neun Hauptkapiteln ein umfassendes und beindruckend diffiziles Werk zur Verteidigung von Rechten für Tiere. In CFAR mit den stärker empirisch und insbesondere an der analytisch dominierten Philosophie des Geistes orientierten Kapiteln 1 »Animal Awareness« und 2 »The Complexity of Animal Awareness« geht es über Kapitel 3 »Animal Welfare« zu dem ersten stärker begründungstheoretisch orientierten Kapitel 4 »Ethical Thinking and Theory«50. Die grundlegenden Kriterien einer ethischen Theorie bilden 1. Konzeptuelle Klarheit (Conceptual Clarity), 2. Information, 3. Rationalität (Rationality), Unparteilichkeit (Impartiality), Gelassenheit (Coolness) sowie moralische Prinzipien (Valid Moral Principles). Gültige moralische Prinzipien werden nach Regan durch die weiteren evaluativen Kriterien Konsistenz (Consistency), Angemessenheit des Geltungsbereiches (Adequacy of Scope), Genauigkeit (Precision) und Übereinstimmung mit unseren Intuitionen (Conformity with our Intuitions) kritisch hinterfragt und begründet. Jedenfalls formuliert Regan das Ziel einer gut begründeten ethischen Theorie in CFAR; er schreibt: »What we must strive to achieve, to use a helpful expression of the Harvard philosopher John Rawls is reflective equilibrium between our considered beliefs, on the one hand, and our moral principles, on the other.« 51 Nach weiteren kurzen Ausführungen zu den Vor- und Nachteilen von konsequentialistischen und kantischen Theorien leitet Regan zu den ausführlichen Kapiteln 5 »Indirect Duty Views« und Kapitel 6 »Direct Duty Views« 52 über. Während bei Kant und auch in den damals dominierenden moderneren kantischen und kontraktualistischen Theorien nur indirekte Pflichten gegenüber Tieren begründet wurden, konnte für direkte Pflichten gegenüber Tieren bereits im klassischen, hedonistisch orientierten Utilitarismus argumentiert werden. Doch gerade auch die direkten Pflichten in der egalitaristischen Form des modernen Präferenz-Utilitarismus in seiner prominenten Ausformulierung von Singer in Animal Liberation oder Practical Ethics53 betrachtet Regan als hoch problematisch. Denn die utilitaristische Tierethik als konsequentialistisches Konzept verwendet einzelne Tiere (und Menschen) als ersetzbare Gefäße, sprich »Individuals as Replaceable Receptacles«54 und ist daher aus der Perspektive von kategorischen Menschen- und Tierrechten abzulehnen.

50 CFAR, S. 121ff. 51 Ebd., S. 135. 52 Ebd., S. 150-232. 53 Singer, Peter: Praktische Ethik, Stuttgart: Reclam 32013 [1979]. 54 CFAR, S. 208.

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Das 5. Kapitel enthält weiterhin zwei zentrale begründungstheoretische Begriffe. Erstens handelt es sich dabei um die Definition des relativ unstrittigen Begriffs der »moral agents«: »Moral agents are individuals who have a variety of sophisticated abilities, including in particular the ability to bring impartial moral principles to bear on the determination of what, all considered, morally ought to be done and, having made this determination, to freely choose or fail to choose to act as morality, as they conceive it, requires. Because moral agents have these abilities, it is fair to hold them morally accountable for what they do, assuming that the circumstances of their acting as they do in a particular case do not dictate otherwise.« 55

Unter moral agents versteht Regan demnach Individuen, die die Fähigkeit besitzen, auf Basis moralischer Prinzipien festzustellen, welche Handlung moralisch geboten wäre, und frei zu entscheiden, entsprechend zu handeln. Nur auf Basis dieser Fähigkeit können moral agents für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden. Komplexer wird es jedoch bei dem Begriff der »moral patients «. Diesen fehlt die Fähigkeit, moralische Prinzipien zu formulieren und anzuwenden oder zu entscheiden, welche Handlung die moralisch richtige wäre. Demnach können sie auch nicht für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden. »Moral patients, in a word, cannot do what is right, nor can they do what is wrong.«56 Beispiele für moral patients können etwa Kleinstkinder und Babies sowie geistig behinderte oder erkrankte Personen sein. Damit können auch Menschen unter Umständen als moral patients gelten. 57 Komplizierter wird es, weil Regan moral patients in zwei Kategorien unterteilt: a) in bewusste und fühlende Individuen, die zwar Schmerz und Genuss erfahren können, denen aber weitere geistige Fähigkeiten fehlen; b) Individuen, die darüber hinaus weitere kognitive Fähigkeiten und ein Willensvermögen besitzen, wie z.B. ein Gedächtnis oder Überzeugungen. Tiere sind in beiden Kategorien vertreten. 58 Abschließend erläutert Regan, dass er sich in weiterer Folge beim Gebrauch des Begriffs moral patient nur auf die oben definierte Kategorie b) bezieht. Im begründungstheoretisch international am intensivsten diskutierten Kapitel 7, »Justice and Equality« betitelt, finden sich die zentralen Begriffe im Unterkapitel 7.5. Dabei handelt es sich zunächst um den Begriff »inhärenter Wert« (inherent value) und um ein Kriterium: das »Subjekt-eines-Lebens Kriterium« (subject-of-a-life

55 Ebd., S. 151. 56 Ebd., S. 152. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. ebd., S. 53

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criterion). Insgesamt bezeichnet Regan in der Encyclopedia of Ethics59 sein kantisches Konzept als »Inherentism«, und in Defending Animals findet sich der Hinweis auf die zentrale Rolle des genannten Begriffs: »an idea that is central to my theory of rights: inherent value.«60 Ebenso klar kommt dies im neuen detaillierten Vorwort von CFAR im Jahr 2004 zum Ausdruck: »If The Case has a central thesis, it is the respect principle, according to which all subjects-ofa-life, both human and nonhuman, share the fundamental right to be treated with respect. From this follows that no subject-of-a-life may be harmed merely on the grounds that others will benefit.«61

Welche Individuen erfüllen nun das Kriterium »subject-of-a-life«? Einerseits, so Regan, natürlich alle moral agents, aber auch die moral patients der Kategorie (b). »Individuals are subjects-of-a-life if they have be liefs and desires; perception, memory and a sense of the future, including their own future; an emotional life together with feelings of pleasure and pain; preference- and welfare- interests; the ability to initiate action in pursuit of their desires and goals; a psycho-physical identity over time; and an individual welfare in the sense that their experiential life fares well or ill for them, logically independently of their utility for others and logically independently of their being the object of anyone else’s interests.«62

Und Regan verknüpft Individuen, welche das »Subject-of-a-life-Kriterium« erfüllen, direkt mit dem deontologisch gebrauchten Begriff »inherent value«: »Those who satisfy the subject-of-a-life criterion themselves have a distinctive kind of value – inherent value – and are not to be viewed or treated as mere receptacles.«63 Dass dieses Konzept in der kantischen Tradition der Selbstzwecklichkeit steht, zeigt sich einige Seiten weiter: »To borrow part of a phrase from Kant, individuals who have inherent value must never be treated merely as a means to securing the best aggregate consequences.«64 Dem zentralen normativen Begriff »inherent value« kommt dabei eine besondere Bedeutung innerhalb der Konzeption von Re-

59 Regan, Tom: »Animals, treatment of«, in: Lawrence Becker (Hg.), Encyclopedia of Ethics, New York: Routledge 2001, S. 70-74, hier S. 71. 60 Ebd.: Defending Animal Rights, S. 48. 61 CFAR, S. xxvii. 62 Ebd., S. 243. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 249.

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gan zu. Denn Lebewesen, die über diesen Wert verfügen, wird der Status der Unverfügbarkeit verliehen. Dieser Begriff wird von Kritikern Regans intensiv analysiert. Rem B. Edwards beispielsweise erläutert die wichtige Unterscheidung zwischen intrinsischen und inhärenten Werten: »Intrinsically valuable things are experiences like pleasures or preference satisfactions. Inherently valuable things are individual subjects of a life.«65 Die wohl gründlichste Arbeit zur Analyse des Begriffs erschien schon 1988 von Lilly Russow unter dem bezeichnenden Titel Regan on Inherent Value. Sie weist auf die Unklarheit des Begriffs »inherent value« hin: Traditionell gelte etwas, dessen Erfahrung als an sich gut betrachtet wird, als inhärenter Wert, wie der Genuss beim Hören eines guten Liedes. Regan wende den Begriff aber nicht auf Erfahrungen, sondern auf Wesen an. »If one wanted to do this while preserving some link with the traditional concept, one might suggest that a subject of experiences, a conscious being, has inherent value in that its experiences have intrinsic value. But this would not be the concept of inherent value that Regan wants, because it would make inherent value dependent on (although not necessarily reducible to) intrinsic value. […] so too could one being have more inherent value than another if it were capable of having more intrinsically valuable experiences.«66

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der auf Fragen der Philosophie des Geistes spezialisierte Philosoph Mark Rowlands: »Inherent value is simply incommensurable with intrinsic value: the two simply cannot be compared; they cannot be assessed by the same scale of measurement. […] Individuals who satisfy the subject-of-a-life criterion, have according to Regan […] inherent value. Thus, according to Regan, the inherent value of an individual subject-of-a-life is incommensurable with the intrinsic value of that subjects experiences or other mental states. Therefore, Regan argues, the former can never be overridden or outweighed by the latter.«67

Genau diese Fragestellungen behandelt auch der im Sommer 2016 erschienene, erste Sammelband zu Regans Tierrechtstheorie mit dem Titel The Moral Rights of Animals. Er erschien damit mehr als dreißig Jahre nach der Publikation von CFAR und umfasst 14 Beiträge. Initiiert vom analytischen us-amerikanischen Philosophen

65 Edwards, Rem: »Tom Regan’s Seafaring Dog and (Un)Equal Inherent Worth«, in: Between the Species 9 (1993), S. 231-235, hier S. 231. 66 Russow, Lilly Marlene: »Regan on Inherent Value«, in: Between the Species 4 (1988), S. 46-54, hier S. 47. 67 M. Rowlands: Animal Rights, S. 62.

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Mylan Engel68 werden in diesem Band die Konzepte und Implikationen von CFAR auf ihre Aktualität und Plausibilität analysiert. Insbesondere Aaron Simmons versuchen im Beitrag Do All Subjects of a Life Have an Equal Right to Life? ein starkes egalitäres Lebensrecht zu verteidigen.69 Besonders spannend und gleichzeitig vermittelnd ist dort jedoch der Ansatz von Alaistar Norcross. Der Utilitarist versucht in Subjects-of-a-Life, the Argument from Risk, and the Significance of SelfConsciousness mit bewundernswerter Argumentationskraft die Theorie von Regan mit Elementen von Singers Argumentation zu verbessern.70 Theoretisch besondere Beachtung zu diesem Thema verdient auch der Aufsatz von Lisa Bortolotti aus dem Jahr 2010, der das Konzept »Subject-of-a-Life« im Kontext des Personenbegriffs und von Fragen der Intentionalität erörtert. 71 Leider eher polemisch gerieten die Kritiken der radikalen Tierrechtsphilosophin Julia Tanner in The Epistemic Irresponsibility of the Subjects-of-a-Life Account (2009)72 sowie des teilweise undifferenziert argumentierenden Rechtswissenschafters Francione,73 der sich mit dem oftmals intensiv diskutierten Dilemma von Comparable Harm and Equal Inherent Value: The Problem of Dog in the Lifeboat befasst. Abschließend sei zur teilweise grundlegenden Bedeutung philosophischer Diskurse für soziale Bewegungen und differenzierte öffentliche Diskurse auf die Analyse von Steven Buechler verwiesen. Sein Urteil »The importance of cognitive appeals is effectively explored in the animal rights movement, in which protesters have strategically opted for logical, rational arguments specifically to deflect criticism of sentimentality and playing to emotions«74 konnten andere Sozialwissen-

68 Engel, Mylan/Comstock, Gary (Hg.): The Moral Rights of Animals, Lanham, MD: Lexington Books 2016. 69 Vgl. Simmons, Aaron: »Do All Subjects of a Life Have an Equal Right to Life?«, in: Engel/Comstock, The Moral Rights (2016), S. 107-117. 70 Vgl. Norcross, Alastair: »Subjects-of-a-Life, the Argument from Risk, and the Significance of Self-Consciousness«, in: Engel/Comstock, The Moral Rights (2016), S. 163174. 71 Vgl. Bortolotti, Lisa: »Can the Subject-of-a-Life Criterion Help Grant Rights to NonPersons?«, in: Matti Häyry (Hg.), Arguments and Analysis in Bioethics. Amsterdam: Rodopi 2010, S. 241-248. 72 Vgl. Tanner, Julia: »The Epistemic Irresponsibility of the Subjects-of-a-Life Account«, in: Between the Species 9 (2009), S. 1-31. 73 Francione, Gary L.: »Comparable Harm and Equal Inherent Value: The Problem of Dog in the Lifeboat«, in: Between the Species: 11 (1995), S. 81-89; G. Francione: Animals as Persons. 74 Buechler, Steven: Understanding Social Movements: Theories from the Classical Era to the Present, Boulder, CO, Paradigm Publishers 2011, S. 205.

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schaftler/-innen seit der Entstehung der Tierrechtsbewegung in den 1980er Jahren in knapp 200 veröffentlichten Forschungsarbeiten bestätigen. Dort gelten neben Singers Animal Liberation insbesondere die deutlich komplexeren Argumentationen von Regan in CFAR als philosophische Grundlagenwerke, die einer neuen humanistisch-emanzipatorischen Bewegung sowohl gesellschaftlichen als auch umfassenden akademischen Respekt verschaffen. Dieser Beitrag ist in Memoriam meinem langjährigen Freund und Lehrmeister Prof. F. M. Wuketits gewidmet.

Tierethik und Kulturwissenschaft

Agens oder Patiens Die semantischen Rollen von Wolf und Hund in der Kulturwissenschaft Dagmar Burkhart

ANIMAL STUDIES UND KULTUROLOGIE Tiere sind nicht nur in der Natur, sondern auch in der Kultur omnipräsent. Diese Allgegenwart adäquat darzustellen, ist Aufgabe der Kulturologie und der Cultural Animal Studies. Kultur bedeutet die Veränderung der äußeren und inneren Natur durch kreative Arbeit und Gestaltung. Es geht dabei um Sinn stiftende Horizonte, Entwürfe, Vorstellungen und ihre Realisierung in verbalen, visuellen und musikalischen Artefakten. Sie sind der Gegenstand der Kulturwissenschaft, und ihre Interpretation bedarf einer Kommunikationsgemeinschaft. Gefordert wird für die kulturwissenschaftliche Tier-Betrachtung die Abwendung von einer immanenten Motiv-Geschichte und stattdessen Kontextualisierung und Historisierung der Artefakte sowie Analyse der Art ihrer Repräsentation. 1 Dem ist zuzustimmen, denn bedeutsam in Hinblick auf die gesteigerte Wirkung im Rezeptionsakt ist sowohl der Kontext als auch der ästhetische Mehrwert von Kunstwerken. Giorgio Agamben bezeichnet in seinem Buch Das Offene die kulturelle Grenzziehung zwischen Mensch und Tier als »anthropologische Maschine«, die einerseits »die Erzeugung des Humanen mittels der Opposition Mensch/Tier« intendiert, andererseits aber auch eine »Zone der Unbestimmtheit«2 hervorbringt. Diese Wider-

1

Vgl. Borgards, Roland: »Tiere und Literatur«, in: Ders. (Hg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart: Metzler 2016, S. 225-244, hier S. 228, 241.

2

Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Übersetzt von Davide Giuriato, Frankfurt a.M: Suhrkamp 2003, S. 46f.

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sprüchlichkeit im Verhältnis zu höher entwickelten Tieren spiegelt sich in den disparaten Funktionen, die wir ihnen zuschreiben: Sie sind einerseits als so genannte Nutztiere3 Kleidungs- und Nahrungslieferanten oder Versuchsobjekte im Labor, andererseits aber auch Gefährten und Partner des Menschen.4 Dagegen werden Säugetiere in ihrer ursprünglichen Existenz als frei lebende, autonome Akteure in der Natur zunehmend zu einer Randerscheinung, während die Zahl derer, die in Abhängigkeit vom Menschen leben, zunimmt. Es wäre daher angemessen, die Begrifflichkeit von agens und patiens in die Animal Studies einzuführen. Die Begriffe agens und patiens stammen aus der Kasus-Grammatik.5 Das Agens ist eine semantische Rolle. Agens bezeichnet ein belebtes Wesen, das sich seiner Handlungen bewusst ist. Das belebte Wesen handelt willentlich und intentional. Die Handlung bewirkt eine Veränderung. Das Agens ist für die Handlung bzw. die Folgen der Handlung verantwortlich. Es besitzt agency, Handlungsmacht. Das Wort agens ist vom lateinischen Verb agere ›handeln‹ abgeleitet. Das Gegenteil von agens ist patiens (von lateinisch pati ›erleiden‹). Beispiele: Die Autorin schreibt einen Roman. Der Junge schlägt den Hund.

Im ersten Satz ist »die Autorin« und im zweiten Satz »der Junge« Agens (und Subjekt), »Roman« und »Hund« dagegen sind Patiens und Objekt. Dass die Tiere in der Kultur und den Cultural Animal Studies immer schon Objekte sind, weil sie in Kunstwerken und diese analysierenden Studien als Gegenstand der Gestaltung bzw. Interpretation fungieren, ist ein Faktum. Innerhalb des jeweiligen künstlerischen Systems jedoch nehmen Tiere die semantische Rolle eines Agens oder Patiens ein. Als sehr ergiebig erweist sich hier das Paradigma Wolf/Hund. Seine ästhetische Verarbeitung geschieht in Texten (Mythos, Märchen, Fabel, Sage, Literatur), in Filmen, Musik, bildender Kunst, Fotografie, Comics und Werbung. Dabei können Tiere auf mindestens dreierlei Weise gestaltet werden: • realistisch • phantastisch • metaphorisch, allegorisch, zeichenhaft.

3

Vgl. Wolf, Ursula: »Die Mensch-Tier-Beziehung und ihre Ethik«, in: Dies. (Hg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart: Reclam 2013, S. 170-192, hier S. 178.

4

Vgl. Haraway, Donna: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago: University of Chicago Press 2003.

5

Vgl. Primus, Beatrice: Semantische Rollen, Heidelberg: Winter 2012.

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DER WOLF ALS HYPOSTASIERUNG DER WILDEN NATUR Die Auswahl des Paradigmas lässt sich damit begründen, dass der Wolf nicht nur in textuellen und visuellen Medien eine herausragende Rolle spielt, sondern dass auch in der realen Welt ein anhaltender, öko-zoologischer, emotional aufgeladener Wolfs-Diskurs zu konstatieren ist. »Menschen und Wölfe waren, seit sie sich in den eiszeitlichen Steppen Eurasiens begegneten, aufeinander bezogen«, denn »sie teilten denselben Lebensraum, jagten dieselben Beutetiere, wendeten gleiche Jagdstrategien an« und sie »ähnelten sich in ihrem Sozialverhalten«, schreibt der Kulturhistoriker Eckhard Fuhr in seinem Buch Rückkehr der Wölfe. Mensch und Wolf »entwickelten deshalb ein ›Verständnis‹ füreinander, das es so in keiner anderen Mensch-Tier-Beziehung gibt.«6 Zu Zeiten der Monarchie waren die Untertanen verpflichtet, Wölfe zu töten. So genannte Wolfssteine zeugen als Denkmäler von der Ausrottung. Seit der Jahrtausendwende geschieht in Deutschland das Gegenteil: nämlich die Wiederansiedlung der Wölfe nach EU-Recht und das so genannte Wolfsmanagement in den Ländern, wobei die Wölfe sich ihr Habitat selbst aussuchen. Bundesländer noch ohne Wolfspopulationen heißen »Wolfserwartungsländer«. Was in überlieferten Texten auffällt, ist die Ambivalenz der Wolfsgestalt als Agens: einerseits die Attribuierung Stärke, Kraft, Animalität, positives Sozialverhalten im Rudel; andererseits Blutgier, Gefährlichkeit, angsteinflößende Wildheit und Fremdheit des Raubtiercharakters. Ein positives Wolfsbild zeigt sich in Mythen wie dem römischen Stadtgründungsmythos (Romulus und Remus, gesäugt von einer Wölfin), in der nordischen Mythologie, wo die Wölfe Geri (»Gierig«) und Freki (»Gefräßig«) als ständige Begleiter des Göttervaters Wodan/Odin auftreten, sowie in dem türkischen AsenaMythos, d.h. dem Mythos von der Wölfin als Totemtier der zehn alttürkischen Stämme. Ein negatives Wolfsbild ist in biblischen Texten zu verzeichnen, wo der »reißende Wolf« als Gegenbild zum friedlichen Schaf dominiert. Negativ konnotiert ist er ferner in Märchen, Fabeln, Sprichwörtern und Redensarten. Vor allem der hungrige Wolf (Redewendung »einen Wolfshunger haben«) gilt als die verkörperte Gier (Gieremund heißt die Wölfin im Tierepos), als ein zu Verstellung und Täuschung fähiges Raubtier. So entstand die übertragene Bedeutung Der Wolf im Schafspelz (Matth. 5,15) – die bildliche Umschreibung für einen falschen Propheten, einen Scheinheiligen. Homo homini lupus, Jeder ist des anderen Wolf will heißen »Jeder denkt nur an

6

Fuhr, Eckhard: Rückkehr der Wölfe, München: Riemann 2014, S. 12.

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sich, an seinen eigenen Vorteil«.7 Schließlich kommt es sogar zur Gleichsetzung mit dem Übel: Wer vom Wolf spricht, findet ihn an seiner Tür meint »Wer das Übel nennt, wird von ihm ereilt«.8 Wenn man den Wolf nennt,/ So kommt er gerennt9 findet sein Äquivalent im Sprichwort Wenn man vom Teufel spricht, so kommt er.10 Im spätmittelalterlichen niederdeutschen Versepos Reynke de vos (Reineke Fuchs), einem treffenden »Hof- und Regentenspiegel« und einer »unheiligen Weltbibel«,11 wie Goethe gesagt hat, der unter dem Eindruck der Französischen Revolution eine Nachdichtung in Hexametern verfasste, verkörpert der Wolf Isegrim ( »Eisengesicht«) den feudalen Baron. In der Agens-Rolle symbolisiert er Kraft, Rücksichtslosigkeit, Gier, Grimmigkeit, Bösartigkeit, aber auch Tölpelhaftigkeit, weshalb er vom listigen Fuchs immer wieder hereingelegt und in einem unfairen Zweikampf als Patiens besiegt wird. Eine ähnliche Rolle wie im Tierepos spielt er auch in Märchen, z.B. in Three Little Pigs, Der Wolf und die sieben Geislein oder Rotkäppchen. Und noch in dem 1936 entstandenen musikalischen Märchen Petja i volk (Peter und der Wolf) des russischen Komponisten Sergej Prokof’ev wird er überlistet, gefangen genommen und in den Zoo transportiert. Loriots Textversion des Märchens endet allerdings mit der Freilassung des Wolfs. Zur Zeit der Aufklärung gewinnt die Opposition Freiheit/Unfreiheit, Mündigkeit/Unmündigkeit (Kant), Wildheit/Gezähmtheit bzw. Natur/Kultur (Rousseau) an Bedeutung. Die Opposition Wolf/agens vs. Hund/patiens ist am prägnantesten in einem aus der Antike überlieferten Fabel-Text herausgearbeitet, den Jean de La Fontaine 1668 in einer gereimten Versversion mit dem Titel Le Loup et le Chien (Der Wolf und der Hund) veröffentlicht hat: Ein hungriger Wolf trifft auf eine wohlgenährte Dogge, die er in seinem ausgezehrten Zustand jedoch nicht angreifen, sondern nur demütig ansprechen kann. Der Hund, der darauf als Schmeichler antwortet, will den Wolf von seiner komfortablen Lebensweise als Haushund überzeugen und auf den Hof locken. Signifikant ist vor allem die Textstelle am Schluss, als der Wolf nach den Fellverletzungen am Hals des Hundes fragt und dieser zugeben muss, dass sie von seiner Kette stammen:

7

Röhrich, Lutz: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bde. I-III. Freiburg: Herder 1992, hier Bd. III, S. 1741.

8

Ebd., S. 1742.

9

Simrock, Karl: Die deutschen Sprichwörter, Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1988, S. 599.

10 L. Röhrich: Das große Lexikon, Band III, S. 1611. 11 Langosch, Karl: Reineke Fuchs. Übertragung und Nachwort von Karl Langosch, Stuttgart: Reclam 1967, S. 282.

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»Der Wolf glaubt schon im Paradies zu sein. Er weint vor Glück und will den Hund begleiten. Da sieht am Hundehals er eine Stell’, Wo abgeschabt erscheint das schöne Fell. ›Was ist das?‹ fragt er. – ›Nichts!‹ – ›Wieso?‹ – ›Ach, Kleinigkeiten!‹ – ›Nun was denn?‹ – Drauf der Hund: ›Das Halsband meiner Kette rieb mich wund‹. – ›Wie? Was? In Ketten dienet Ihr? Lauft nicht, wohin Ihr wollt?‹ – ›Nicht immer. Doch was tut’s?‹ – ›Es tut so viel, dass mir Die Lust vergeht nach Eurem schönen Sold. Ich ging nicht mit um eine ganze Kuh!‹ Und Meister Wolf hat sich getrollt Und läuft noch immerzu.‹12

Der Wolf als Agens begreift, dass der Hund unfrei ist (Patiens), und verzichtet auf die Bequemlichkeit des Hundelebens, weil er seine Autonomie nicht aufgeben will. Quintessenz: Ein armes Leben in Freiheit ist besser als ein reiches Leben in Gefangenschaft. Aber die Freiheit des Wolfs als Agens hat ihre tödlichen Risiken. Dies veranschaulichen etwa Gemälde wie Loup mort (Der tote Wolf, 1721) von Jean-Baptiste Oudry, La chasse au loup (Wolfsjagd, 1725) von François Desportes, wo zehn Hunde gegen einen Wolf kämpfen, oder Le loup en piège (Der Wolf in der Falle, 1732), ein Kupferstich von Jacques Philippe le Bas nach Oudry, der die nach ethischen Gesichtspunkten grausamste Art der Tötung von Wildtieren durch Fangeisen veranschaulicht. Anfang des 20. Jahrhunderts sind es vor allem die Gemälde des gebürtigen Polen Alfred von Wierusz-Kowalski, einem Maler der Münchner Schule, die durch ihre Expressivität und Dynamik herausragen. Die ständige Gefährdung als Agens in der freien Natur zeigt auch die Erzählung von Hermann Hesse (1907) Der Wolf, in der die Isotopie »Frost« und daraus folgend die Isotopie »Hunger« dominieren: »Noch nie war in den französischen Bergen ein so unheimlich kalter und langer Winter gewesen. Seit Wochen stand die Luft klar, spröde und kalt. […] Das war eine schwere Zeit für die Tiere der Gegend. Die kleineren erfroren in Menge, auch Vögel erlagen dem Frost, und die

12 La Fontaine, Jean de: »Les Fables I-XII (1668-94). Der Wolf und der Hund«, in: Fabeln. Übersetzt von Theodor Etzel, Berlin: Propyläen 1923, S. 8-10, hier S. 10.

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hageren Leichname fielen den Habichten und Wölfen zur Beute. Aber auch diese litten furchtbar an Frost und Hunger […]. Es war ein Preis auf die Wölfe gesetzt, das verdoppelte den Mut der Bauern. Und sie erlegten zwei von ihnen. Der dritte entkam und rannte so lange, bis er halbtot auf den Schnee fiel. Er war der jüngste und schönste von den Wölfen, ein stolzes Tier von mächtiger Kraft und gelenken Formen. Lange blieb er keuchend liegen. Blutig rote Kreise wirbelten vor seinen Augen, und zuweilen stieß er ein pfeifendes, schmerzliches Stöhnen aus. Ein Beilwurf hatte ihm den Rücken getroffen […]. Mit zerbrochenen Gliedern schleppten sie ihn nach St. Immer hinab. Sie lachten, sie prahlten, sie freuten sich auf Schnaps und Kaffee, sie sangen, sie fluchten. Keiner sah die Schönheit des verschneiten Forstes, noch den Glanz der Hochebene, noch den roten Mond, der über dem Chasseral hing und dessen schwaches Licht in ihren Flintenläufen, in den Schneekristallen und in den gebrochenen Augen des erschlagenen Wolfes sich brach.«13

Der Text basiert auf semantischen Oppositionen: Kälte/Frost draußen versus Wärme (Schnaps, Kaffee) in den Häusern, sowie Schönheit (der Natur, des Wolfes) versus unschöne Roheit (der Menschen). Er gewinnt seinen ästhetischen Reiz aus der Rhythmisierung der Sprache und den Äquivalenzen auf der Laut-, Wort- und Syntaxebene, die ihn als ein poetisches Artefakt der Moderne ausweisen. Die Künstlerin Susanne Haun wurde davon inspiriert und schuf eine Serie von Aquarellen, die im Internet zugänglich sind. Während 1894/95 in England Rudyard Kiplings phantastische Jungle Books mit einem von Wölfen aufgezogenen Jungen als Protagonisten erscheinen, ist Ende des 19. Jahrhunderts in den USA ein erhöhtes Interesse an der Natur zu beobachten: Nationalparks wurden gegründet, und eine literarische Bewegung von Naturschriftstellern entstand. Texte wie Ernest Th. Seton’s Wild Animals I Have Known und William J. Long’s School of the Woods popularisierten das neue Genre, indem sie Tiercharaktere schufen, aus deren Perspektive, oft in Ich-Form, erzählt wurde. Im März 1903 publizierte John Burroughs einen Artikel mit dem Titel Real and Sham Natural History (Wirkliche und vorgetäuschte Naturgeschichte) im Atlantic Monthly, in dem er Autoren von animal stories wegen ihrer sentimentalen und anthropomorphisierenden Art der Repräsentation des »wildlife« kritisierte.14 Er löste damit eine sechs Jahre dauernde Kontroverse aus, an der sich später auch Roosevelt betei-

13 Hesse, Hermann: »Der Wolf«, in: Herman Hesse, Sämtliche Werke, Bd. 6, Die Erzählungen 1900-1906 [1903], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 126-129. 14 Vgl. Burroughs, John: »Real and Sham Natural History«, in: Atlantic Monthly 91 (1903) 545, S. 298-310, hier S. 299.

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ligte. Aber er verunglimpfte auch das boomende Genre realistischer animal fiction als »yellow journalism of the woods«15. Jack London, der seit Jahren ein erfolgreicher Tierschriftsteller war und seine Privatbriefe mit »Wolf« unterzeichnete, wurde mit seinem 1906 erschienenen Roman White Fang (in deutscher Übersetzung Wolfsblut) in die Kontroverse hineingezogen. White Fang ist die Geschichte eines Wolfsmischlings. Sein »Körper war schlank und langgliedrig«, und »seiner Erscheinung nach war er ein echter Wolf.« Dass er von seiner Mutter Kiche »ein Viertel Hundeblut in seinen Adern hatte, sah man ihm nicht an, für seine geistigen Fähigkeiten spielte es aber durchaus eine Rolle.«16 Die Wölfe werden in dem Text keineswegs idealisiert. Gleich zu Beginn zeigt der Erzähler sie als das, was sie charakterisiert: Sie sind karnivore Beutegreifer, die in der vor Kälte erstarrten Wildnis Alaskas ums Überleben kämpfen. Kiche, ein Alpha-Tier, führt ein hungriges Wolfsrudel an, das auf zwei Abenteurer stößt und diese umzingelt. Nach und nach verschwinden deren sechs Schlittenhunde, und schließlich kehrt auch einer der Männer nicht an den Lagerplatz zurück, während der andere dank eintreffender Hilfe überlebt. Später wird White Fang geboren und von Kiche in einer Höhle großgezogen, und von da an dominiert die von seiner Wolfsnatur (dem Recht des Stärkeren) bestimmte Perspektive die Diegese. Er wird als Jungtier von dem Indianerhäuptling Gray Beaver gefangen und lernt, sich im Indianerlager gegen rivalisierende Hunde zu behaupten. Während einer Hungersnot läuft White Fang in die Wälder, um sich (Agens) von eigener Jagdbeute zu ernähren, kehrt aber wieder zu Gray Beaver zurück. Doch bald macht White Fang die Erfahrung menschlicher Niedertracht, nachdem er dem Indianer von einem perfiden Schausteller für eine Flasche Schnaps abgekauft worden ist und fortan in Hundekämpfen eingesetzt wird. Der Roman gipfelt in der Rettung des Wolfs aus dem tödlichen Kampf mit einer bissgewaltigen Bulldogge durch den Ingenieur Weedon Scott, und der dankbaren Anhänglichkeit an seinen Retter. Als er schließlich dessen Familie in einem weiteren Kampf auf Leben und Tod vor dem Angriff eines entlaufenen Sträflings bewahrt, erhält er (nunmehr wieder Agens) den Ehrennamen »The Blessed Wolf«17. Die Kritiker beurteilten den (übrigens in einer ausgesprochen poetischen Sprache verfassten) Text weniger positiv als Londons ersten Roman Call of the Wild (1903), das Narrativ von einem sich Wölfen anschließenden Hund, weil sie die

15 Carson, Gerald: »Theodore Roosevelt and the ›nature fakers‹«, in: American Heritage Magazine 22 (1971) 2 (http://www.americanheritage.com/content/tr-and-%E2%80%9 Cnature-fakers%E2%80%9D, letzter Abruf am 20.07.2018). 16 London, Jack: Wolfsblut. Neu übersetzt, mit einem Nachwort von Lutz-W. Wolff, München: dtv 2015 [White Fang, 1906], S. 140-142. 17 Ebd., S. 256.

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Umkehrung der Handlung als einen Originalitätsmangel empfanden. Eine neue Qualität erhielt die Diskussion, als 1907 der amtierende amerikanische Präsident Theodore Roosevelt, ein exzessiver Jäger, unter Burroughs Einfluss die Autoren von Tiergeschichten der Naturfälscherei bezichtigte und sie als »nature fakers« beschimpfte. Roosevelt warf den Schriftstellern vor, ihre Leser und besonders die Jugend irrezuführen, und verlangte sogar ein Publikationsverbot. Jack London wehrte sich 1908 in einem Zeitschriftenaufsatz, in dem er seine nach wissenschaftlichen Erkenntnissen (Darwins) verfassten Texte verteidigte und betonte, seine Protagonisten »were not directed by abstract reasoning, but by instinct, sensation, and emotion, and by simple reasoning. Also, I endeavored to make my stories in line with the facts of evolution.«18 Roosevelt indes verkannte den kategorialen Unterschied zwischen faktengetreuem Bericht und fiktionaler Erzählung. Für literarische Texte nämlich gilt, »dass auch wir im Körper von Tieren wohnen können – durch den Prozess, den man poetische Imagination nennt«, lässt John Maxwell Coetzee in seinem metafiktionalen Text The Lives of the Animals (Das Leben der Tiere) seine Protagonistin Elizabeth Costello betonen.19 Die Popularität des immer wieder aufgelegten und mehrfach verfilmten Textes Wolfsblut hält bis heute unvermindert an. Diese Tatsache und die Bekanntheit des Autorennamens machte sich auch die Werbung zunutze: Zum Beispiel verwendete die 1981 von einem Deutschen gegründete Firma für Outdoor-Kleidung Jack Wolfskin neben dem Schriftzug mit dem Vornamen Londons und dem suggestiven englischen Wort für »Wolfsfell« einen Wolfstatzen-Abdruck als Logo, um Wildnis und Abenteuer zu suggerieren und den Kommerzaspekt zu verschleiern. Mann und Wolf Es gibt eine Reihe von Filmen, die das von Kampf, Mut und Bewährung bestimmte Verhältnis Mann und Wolf thematisieren. Einer davon ist Kevin Costners Film Dances with Wolves (1990, Der mit dem Wolf tanzt20). Hier lässt sich der im Bürgerkrieg desillusionierte Leutnant John Dunbar an die äußerste Grenze der Zivilisation versetzen, denn er will den Wilden Westen erleben, bevor es ihn nicht mehr gibt. Er findet den Außenposten verlassen und verwüstet vor, doch Dunbar nimmt die Herausforderung an. Einsamkeit und die diffuse Angst vor den Indianern be-

18 London, Jack: »The Other Animals«, in: Ders. (Hg.), Revolution and Other Essays, New York: Macmillan 1910 [1908], S. 235-266, hier S. 238. 19 Coetzee, John Maxwell: Das Leben der Tiere. Übersetzt von Reinhild Böhnke, Frankfurt a.M.: Fischer 2000 [The Lives of Animals, 1999], S. 56. 20 DANCES WITH WOLVES (1990) (USA, R: Kevin Kostner).

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stimmen sein Leben. Das einzige Lebewesen in seiner näheren Umgebung ist ein Wolf, den Dunbar wegen seiner Fellfärbung »Two Socks« nennt. Langsam entsteht eine distanzierte Freundschaft zwischen den beiden Einzelgängern. Allmählich kommen sich auch der amerikanische Soldat und die Lahote-Indianer näher und fassen Vertrauen zueinander. Sie geben ihm den Namen »Der mit dem Wolf tanzt«, er lernt ihre Sprache, übernimmt ihr Naturverständnis (ohne aber ihren grausamen Umgang mit besiegten Feinden zu verstehen), und findet in einer bei den Indianern aufgewachsenen Weißen seine Gefährtin. Doch die fragile Idylle hat ein Ende, als die Armee den »Indianerfreund« aufspürt und gefangen nimmt. Die Indianer befreien ihn und ziehen weiter, während Dunbar als Deserteur zum Gejagten wird. Dass die Soldaten aus Langeweile den Wolf erschießen, ist nur das konsequente Ende eines elegischen, auf Jack Londons Wolfsroman anspielenden und den Mythos vom Edlen Wilden fortspinnenden Anti-Western. Auch in dem 3-D-Film Wolf Totem (Le dernier loup/Der letzte Wolf, 201521) nach dem 2004 veröffentlichten Bestseller-Roman Der Zorn der Wölfe von Lü Jiamin geht es um den Gegensatz nomadisch vs. sesshaft, wild vs. zivilisiert, wobei »wild« im Sinne von »naturnah« positiv konnotiert ist. Der französische Regisseur Jean-Jacques Annaud unternimmt hier, nach seinen Filmen Der Bär (L’Ours, 1988) und Zwei Brüder (Two Brothers/Deux frères, 2004), erneut den Versuch, das Verhältnis zwischen Mensch und Tier auszuloten. Was in Kostners Film die Indianer waren, sind hier nomadische mongolische Schafzüchter, und eine strukturelle Ähnlichkeit zu den Armeeangehörigen bei Kostner findet sich in Annauds Film zu den chinesischen Siedlern bzw. den Vertretern der Zentralregierung. In beiden Fällen sind es Außenseiter, die mit den Repräsentanten des Wilden, nämlich den Nomaden und Wölfen, sympathisieren. In Annauds von Eisensteinschen choreographischen Szenen mit Wölfen, Gazellen, Schafen, Pferden und Reitern geprägtem Film widersetzt sich der im Rahmen der Kulturrevolution zu den Nomaden geschickte chinesische Student Chen Zhen der Partei-Direktive, dass alle Wölfe in der Region ausgerottet werden sollen. Nachdem er Einblick in das mythologische und ökologische Naturverständnis der Nomaden gewonnen hat und die direkte Konfrontation mit einem Wolfsrudel für ihn zum Erweckungserlebnis geworden ist, rettet er ein Wolfsjunges und zieht es heimlich auf. Als der Wolf alt genug ist, ein autonomes Leben (Agens) führen zu können, wird er von der Schwiegertochter des Clan-Ältesten frei gelassen.

21 WOLF TOTEM/LE DERNIER LOUP (2015) (CHN, F; R: Jean-Jacques Annaud).

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Frau und Wolf oder die Dekonstruktion des Rotkäppchen-Sujets Mit den von weiblichen Autoren verfassten Büchern zum Wolfsthema entstand ein eigenes Genre autobiografisch fundierter Frauenliteratur, wobei die Frau im Wolf die eigene innere Wildheit erkennt – der Wolf als feministische Metapher der Selbsterfahrung. Den Anfang machte Die Wolfsfrau (Women Who Run with the Wolves: Myths and Stories of the Wild Woman Archetype, 1992) der amerikanischen Ethnologin und Psychoanalytikerin Clarissa Pinkola Estés.22 Später folgten Bücher wie Wolfssonate (2003) der französischen Pianistin Hélène Grimaud 23 oder Wolfsspirit (2012) der Wildbiologin Gudrun Pflüger.24 Dazu zählt auch das erschienene Buch Wolfsküsse. Mein Leben unter Wölfen (2011) von Elli Radinger, die das Wolf Magazin herausgibt und jedes Jahr mehrere Monate im YellowstoneNationalpark beim Wolfsmonitoring verbringt: »Seine handtellergroßen Pfoten landeten auf meinen Schultern. Ich hielt den Atem an − dann leckte er mir mit seiner rauen, heißen Zunge über das ganze Gesicht. Ich wurde von einem Wolf geküsst«, lautet die titelgebende Schlüsselstelle ihres Buches.25 Der 2016 beim Sundance Festival in den USA uraufgeführte Film Wild der deutschen Regisseurin Nicolette Krebitz ist mit all seinen Bezügen zu den Vorgängertexten und -filmen als hochkomplexes Palimpsest entworfen.26 Bereits der Titel verweist er nicht nur auf das deutsche und englische Adjektiv »wild, ungezähmt«, sondern auch auf Jack Londons Begriff für »Wildnis«, nämlich »the Wild«, repräsentiert vornehmlich durch den Wolf als Agens. Er ist es, der eines Tages in einem Park auftaucht, an dem jeden Morgen und jeden Abend eine junge Frau vorbei läuft. Ania (Lilith Stangenberg) bewegt sich teilnahmslos durch ihren grauen Alltag. Eine lange Busfahrt, ein Agenturjob, der sie unterfordert, einsame Abende in einem Plattenbau von Halle-Neustadt. Ania starrt den Wolf an. Der Wolf schaut ruhig zurück, dann verschwindet er im Unterholz. Ania blickt ihm lange nach. Dem Zuschauer drängen sich Allusionen auf: Ruf der Wildnis. Die Schöne und das Biest. Rotkäppchen. Die mit dem Wolf tanzt etc. Ania hängt ein Steak ins Gebüsch. Aber der Wolf bleibt erst einmal verschwunden. Doch dann inszeniert sie mit Hilfe von vietnamesischen Textilarbeite-

22 Vgl. Estés, Clarissa Pinkola: Die Wolfsfrau. Übersetzt von Mascha Rabben, München: Heyne 1993 [Women Who Run with the Wolves: Myths and Stories of the Wild Woman Archetype, 1992]. 23 Vgl. Grimaud, Hélène: Wolfssonate. Übersetzt von Michael Killisch-Horn, München: Blanvalet 2006 [Variations sauvages, 2003]. 24 Vgl. Pflüger, Gudrun: Wolfspirit, Ostfildern: Patmos 2012. 25 Radinger, Elli H.: Wolfsküsse. Berlin: Aufbau 2011, S. 28. 26 Vgl. WILD (2016) (D, R: Nicolette Krebitz).

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rinnen nächtens eine Lappjagd, kann den Wolf betäuben und nach Hause schaffen. Danach ist der Wolf Gefangener in ihrer Wohnung, man hört das Keifen der Hausmeisterin: »Was stinkt hier denn so?« Der Wolf lebt allein in einem Zimmer, Ania nebenan, bis er sich in ihrer Abwesenheit durch die Wand beißt. Nun sind alle Türen offen, auch die Küche. Ania und der Wolf nähern sich an. Eines Tages führt eine Blutspur ins Bad, der Wolf folgt ihr, die nackte Ania erwartet ihn. Das Ganze erweist sich jedoch als erotischer Traum. Während die Frau die letzten Verbindungen abbricht, die sie bisher noch gehalten haben, zum Arbeitsplatz, zur Zivilisation, zur Wirklichkeit, entsteht »etwas Unerklärliches, ein nicht ganz auflösbares Rätsel, das seine eigene Wahrheit hat, vielleicht im gemeinsamen Ursprung zweier Lebensformen, im fernen Echo der Evolution«27, bemerkt der Filmkritiker Thomas Kniebe. Das heißt, die vorher in Zivilisationszwängen und einer erstickenden Gesellschaft gefangene Frau wird nach dem Vorbild des Wolfs zum Agens, das dem »Ruf der Wildnis« folgt, allerdings mit ungewissem Ausgang. Der Film endet damit, dass Frau und Wolf das Haus verlassen, draußen vor der Stadt im Freien übernachten und am Morgen gemeinsam aus einer Wasserstelle trinken. Außer Texten und Filmen, in denen der Wolf realistisch erscheint, tritt er auch als metaphorisches, phantastisches oder zeichenhaftes Wesen auf. Der Name »Christian Wolf« in Friedrich Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre (1792) etwa soll die Doppelnatur des Menschen bezeichnen. Ähnlich in Hermann Hesses Steppenwolf (1927) und in Jack Londons (von Nietzsches ÜbermenschBegriff beeinflusstem) Roman Seewolf (1904), eine Metapher, die in jüngster Zeit in dem Scorsese-Film The Wolf of Wallstreet (2013) nachklingt. Die Faszination durch das Wilde, Unheimliche des karnivoren Wolfes als Agens und der in der Volksmythologie verankerte Glauben an vielfältige Metamorphose-Möglichkeiten hat die phantastische Sagengestalt des Werwolfs, des in einen Wolf verwandelten Menschen (wer = althochdeutsch »Mann«, verwandt mit lateinisch vir), hervorgebracht. In Lucas Cranachs Darstellung auf einem Holzschnitt von 1512 etwa figuriert er als kannibalistisches Ungeheuer. Ein Beispiel aus dem Sagen-Band der Brüder Grimm geht so: »Ein Weib hatte die Gestalt eines Wärwolfs angenommen und war also einem Schäfer, den sie gehaßt, in die Heerde gefallen und hatte ihm großen Schaden gethan. Der Schäfer aber verwundete den Wolf durch einen Beil-Wurf in die Hüfte, so daß er in ein Gebüsch kroch. Da

27 Kniebe, Thomas: »Wölfe kommen überall hin«, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.04.2016; siehe http://www.sueddeutsche.de/kultur/neu-im-kino-wild-die-liebe-zwisch en-frau-und-wolf-1.2945749, letzter Abruf am 14.06.2018.

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ging der Schäfer ihm nach und gedachte ihn ganz zu überwältigen, aber er fand ein Weib, beschäftigt, mit einem abgerissenen Stück ihres Kleides das aus der Wunde strömende Blut zu stillen.«28

Stephen King hat das Sujet 1983 im Stil von Kalendergeschichten in seinem Band Circle of the Werewolf29 verarbeitet, nach dem der Gothic- oder Horrorfilm Silver Bullet (1985)30 entstand. Dagegen wurde der Werwolf-Film Wolf (1994) mit Jack Nickolson interpretiert als Satire auf die Konkurrenzkämpfe in amerikanischen Unternehmen der 1990er Jahre.31 Eine ludistisch-komische Variante der Lykanthropie stellt Christian Morgensterns Gedicht Der Werwolf (1905) dar, in dem sich der Autor über die deutsche Grammatik, den sinistren Werwolf-Glauben und auch schulmeisterliches Gebaren lustig machte. In einer absurden Diegese mit einem Gemisch aus Metasprache und Primärsprache bittet ein (Wer-)Wolf einen Dorfschullehrer um Deklination (deutsch: Beugung): »Der Werwolf Ein Werwolf eines Nachts entwich von Weib und Kind, und sich begab an eines Dorfschullehrers Grab und bat ihn: Bitte, beuge mich! Der Dorfschulmeister stieg hinauf auf seines Blechschilds Messingknauf und sprach zum Wolf, der seine Pfoten geduldig kreuzte vor dem Toten: ›Der Werwolf‹, – sprach der gute Mann, ›des Weswolfs‹ – Genitiv sodann, ›dem Wemwolf‹ – Dativ, wie man’s nennt, ›den Wenwolf‹ – damit hat’s ein End’. Dem Werwolf schmeichelten die Fälle, er rollte seine Augenbälle. Indessen, bat er, füge doch zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!

28 Grimm, Wilhelm/Grimm, Jacob: »Der Werwolf«, in: Deutsche Sagen, Bd. 1, Berlin: Nicolai 1816, Nr. 214; siehe www.literaturnetz.org/5473, letzter Abruf am 20.07.2018. 29 King, Stephen: Cycle of the Werewolf, Plymouth: Land of Enchantment 1983. 30 SILVER BULLET (1985) (USA, R: Dan Attias). 31 Vgl. WOLF (1994) (USA, R: Mike Nichols).

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Der Dorfschulmeister aber mußte gestehn, daß er von ihr nichts wußte. Zwar Wölfe gäb’s in großer Schar, doch ›Wer‹ gäb’s nur im Singular. Der Wolf erhob sich tränenblind – er hatte ja doch Weib und Kind! Doch da er kein Gelehrter eben, so schied er dankend und ergeben.«32

DER HUND ALS REPRÄSENTANT DER BEHERRSCHTEN NATUR Zur Begründung des Paradigmas lässt sich anführen: Die frühe Domestikation des Wolfes zum Hund war in der Geschichte der Menschheit ein erster radikaler Schritt der Naturbeherrschung. Den Hunden als Haus- und Nutztieren bzw. Gefährten oder »companian species«33, wie Donna Haraway sie genannt hat, kommt daher eine herausgehobene Stellung zu, die sich bereits in Schriften und bildlichen Darstellungen Altägyptens wie der griechischen und römischen Antike zeigt. So erkennt etwa der alte Hund Argos in Homers Odyssee34 seinen Herrn nach zwanzig Jahren Abwesenheit wieder, trotz Verkleidung und Verstellung. Künstler aller Zeiten haben Hunde als Wesen »mit Du-Evidenz«35 gestaltet. Der Hund mit seiner Nähe zum Menschen ist jedoch in der textuellen und visuellen Tradition nicht nur ein Symbol der Treue und der Wachsamkeit. Er wird in der Mythologie (wie etwa der antike Höllenhund Kerberos oder im Gefolge der Hekate) mit der Unterwelt in Verbindung gebracht und hat, vor allem als schwarzer Hund, in der europäischen populären Überlieferung die Konnotation des Dämonischen (z.B. als Begleiter des Doctor Faustus im Volksbuch). Er fungiert aber auch als Symbol des Unterwürfigen, Elenden, Verächtlichen, denn er hat die Unabhängigkeit und Wildheit eingebüßt, die am Tier als Agens bewundert wird. In den meisten Religionen (mit Ausnahme des Buddhismus) gibt der Hund kein positives Bild ab, weil man in ihm den unreinen Aasfresser sah. So hat sich in vielen Kulturen (mit Ausnahme v.a. Chinas, siehe den Roman Die Sandelholzstrafe

32 Morgenstern, Christian: »Galgenlieder (1905)«, in: Ausgewählte Werke, Leipzig: Insel 1975, S. 275f. 33 D. Haraway: The Companion Species Manifesto. 34 21. Gesang, Verse 409-421. 35 Geiger, Theodor: »Das Tier als geselliges Subjekt«, in: Forschungen zur Völkerpsychologie und Soziologie 10 (1931), S. 283-307, hier S. 293.

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des Nobelpreisträgers Mo Yan36) ein Nahrungstabu herausgebildet, das den Verzehr von Hundefleisch verbietet, oder wie in Gerhard Hauptmanns Drama Die Weber nur als Notessen zulässt. Den Hunden zum Fraß vorgeworfen zu werden, wie etwa Isebel im Buch der Könige, galt als die schändlichste Strafe. Daraus erklären sich die zahlreichen, Geringschätzigkeit ausdrückenden Schimpfwörter, Wortzusammensetzungen und Attribute: Lumpenhund, blöder/feiger/falscher Hund, hundsgemein, hundeschlecht, hundemüde, Hundeleben, Hundewetter. Auch Sprichwörter und Redensarten zeigen eine negative Axiologie des Hundes: auf den Hund kommen, auf dem Hund sein »gesundheitlich am Ende sein, sich am Ende der Kräfte fühlen«; vor die Hunde gehen »verkommen, zuschanden werden«; Da liegt der Hund begraben »das ist die Ursache der Schwierigkeiten, des Übels«37. Aus menschlicher Sicht positiv bewertete Wesensmerkmale wie Treue, Anhänglichkeit, überbordende Emotionalität bestimmen den Hund für die Patiens- und nicht für die Agens-Rolle. In Fabeln wie Hund und Wolf oder Märchen wie Der alte Sultan38 wird dem Hund mangelnde Autarkie bzw. totale Abhängigkeit vom Menschen zugeschrieben. In einer Reihe von Texten ist diese Patiens-Rolle mit ethischen Aspekten des Tierleids untermauert. Auf diese Weise hat etwa Marie von Ebner-Eschenbach in ihrer später mehrmals verfilmten Geschichte Krambambuli (1883)39 das Thema des wegen seiner Treue leidenden Hundes behandelt. In dem dramatischen Erzähltext wird ein reinrassiger Jagdhund gegen zwölf Flaschen »Krambambuli«, d.h. Danziger Kirschbranntwein, erworben, und der Käufer, ein Revierjäger, benennt den Hund nach diesem Getränk. Krambambuli ist in quasi menschlicher Tragik hin und hergerissen zwischen seinem alten Herrn, einem Säufer und Wilderer, und seinem neuen Besitzer, dem Jäger Hopp. Hopp, der Krambambuli zwei Monate lang brutal gezüchtigt hat, um von ihm akzeptiert zu werden, verstößt den Hund, als dieser, emotional hin- und hergerissen, sich in einer duellartigen Szene im Wald für seinen

36 Mo Yan: Die Sandelholzstrafe. Übersetzt von Karin Betz, Frankfurt a.M.: Insel 2009 [Tánxiāng xíng, 2001]. 37 L. Röhrich: Das große Lexikon, Band II, S. 755-766. 38 Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (1812), Frankfurt a.M.: Insel 1974, Nr. 48, S. 277-280, siehe http://www.zeno.org/ Literatur/M/Grimm,+Jacob+und+Wilhelm/Märchen/Kinder-+und+Hausmärchen+(181215), letzter Abruf am14.06.2018. 39 Ebner-Eschenbach, Marie von: »Krambambuli (1883)«, in: Meistererzählungen, Zürich: Manesse 1990, S. 101-119; KRAMBAMBULI (1940) (D, R: Karl Köstlin); KRAMBAMBULI (1998) (D, A; R: Xaver Schwarzenberger).

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alten Herrn, den Wilderer, entscheidet. Das Tier, das dem erschossenen Wilddieb bis ans Grab gefolgt ist, umschleicht dann doch Hopps Haus, wird aber von diesem nicht mehr aufgenommen; schließlich liegt er verwildert und verhungert vor der Tür. Die Erzählung Tschangs Träume (1916) des russischen Nobelpreisträgers Ivan Bunin dekonstruiert das Hund-Mensch-Thema noch weiter.40 Bei Bunin wird der Hund Tschang, eine typische Patiens-Kreatur, von seinem Besitzer, einem vereinsamten, alkoholabhängigen russischen Schiffskapitän zum Alkoholiker gemacht, und teilt fortan dessen elendes Leben: »Sechs Jahre sind vergangen, seit Tschang die Welt und den Kapitän, seinen Herrn, kennenlernte […]. Und wieder einmal geht eine Nacht zu Ende – Traum oder Wirklichkeit? – und wieder bricht der Morgen an – Wirklichkeit oder Traum? Tschang ist alt geworden und Tschang ist ein Säufer. Tag und Nacht dämmert er stumpf vor sich hin.«41

Auch in dem erfolgreichsten Hundetext, Jack Londons Ruf der Wildnis (The Call of the Wild), der gleich nach seinem Erscheinen 1903 auf Empfehlung von Hermann Löns ins Deutsche übersetzt wurde, wird ein Hund zum Patiens. Es ist die Geschichte von Buck, einem Mischling aus Bernhardiner und schottischem Schäferhund, der Ende des 19. Jahrhunderts zur Zeit des Goldrauschs am Klondike auf dem Gehöft eines Richters in Kalifornien lebt. Buck (nach der Neuübersetzung von Lutz Wolff) »war weder ein Haus- noch ein Zwingerhund. Ihm gehörte das ganze Anwesen.«42 Er führt − Tendenz zur Agens-Rolle − eine »wahrhaft königliche Lebensweise« voller »Anerkennung« und »Würde«43. Eines Tages wird er von dem Gärtnergehilfen seines Besitzers geraubt und nach Alaska verkauft, wo man ihn gewaltsam zum Schlittenhund abrichtet und er das »Gesetz von Knüppel und Reißzahn«44 kennenlernt (Patiens). Nach zahlreichen Erlebnissen mit wechselnden Herren wird Buck von John Thornton, einem Abenteurer, vor einem besonders brutalen Schlittenführer in Schutz genommen, und die beiden sind von da an ein unzertrennliches

40 Burkhart, Dagmar: »Das Tier als das Andere in der russischen Literatur«, in: Claudia Schmitt/Christiane Solte-Gresser (Hg.), Literatur und Ökologie. Neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: Aisthesis 2017, S. 403-415, hier S. 408. 41 Bunin, Iwan: »Tschangs Träume «, in: Ein Herr aus San Francisco und andere Erzählungen. Übersetzt von Ottomar Schwechheimer/Walter Richter-Ruhland, München: Goldmann 1960 [Sny Čanga, 1916], S. 31-48, hier S. 31. 42 London, Jack: Der Ruf der Wildnis. Neu übersetzt, mit einem Nachwort von Lutz-W. Wolff. München: dtv 2013 [Call of the Wild, 1903], S. 8. 43 Ebd., S. 9. 44 Ebd., S. 21, 31, 95, 127.

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Paar. Nachdem der von Buck geliebte, ja angebetete45 Thornton bei einem Indianerüberfall ums Leben gekommen ist, schließt sich der nun herrenlose Hund einem Wolfsrudel an. Buck als Agens wird zum Überhund stilisiert. Die »hundertfünfzig Pfund, die er wog, bestanden nur aus Kraft und Männlichkeit.«46 »Er lebte von Dingen, die lebten, allein, ohne Hilfe. Kraft seiner Stärke und seines Mutes triumphierte er in einer feindlichen Umgebung, wo nur die Starken überlebten. Deshalb entwickelte er einen großen Stolz auf sich selbst, der seinen Körper mit ansteckte. Er zeigte sich in all seinen Bewegungen, im Spiel aller Muskeln. Er drückte sich wie Sprache in seiner Haltung aus und ließ seinen herrlichen dichten Pelz noch herrlicher schimmern.«47

London, der Darwin gelesen hatte, vermeidet es, seinem Buck Denkfähigkeit anzudichten. Stattdessen versucht er, die vom Instinkt geleitete Handlungsweise des Tiers zu beschreiben: »Auf alle Geräusche und Sinneseindrücke, die eine Handlung verlangten, reagierte er wie der Blitz.« Wahrnehmen, entscheiden und reagieren fielen zusammen auf einen einzigen Augenblick. »Eigentlich bildeten Wahrnehmung, Entscheidung und Reaktion natürlich eine Abfolge; aber die Zeitabstände dazwischen waren bei ihm so gering, dass alles simultan erschien.« Sprachlich ist der Roman von Vitalismus geprägt: Bucks »Muskeln waren mit Lebenskraft aufgeladen und schnappten wie Stahlfedern zu, wenn sie ins Spiel kamen.« Das »Leben durchströmte ihn mit seiner herrlichen Flut, unbändig und freudig, bis man glauben konnte, es würde ihn vor Ekstase zerreißen und sich großzügig über die Welt ergießen.«48 Im Original wird der poetische Stil geprägt durch Alliterationen, rhythmische Sprache, Wiederholungen, richtungweisend schon am Textanfang, als von den Goldgräbern und ihren Hunden die Rede ist: »These men wanted dogs, and the dogs they wanted were heavy dogs, with strong muscles by which to toil, and furry coats to protect them from the frost.«49 Da Buck am Ende dem Ruf seiner Ahnen, der Wölfe, folgt und in die Wildnis zurückkehrt, handelt es sich bei Call of the Wild weniger um einen durchgängig realistischen Text, sondern eher um ein Evolutionsmärchen. In den meisten Hundetexten dominiert die Zivilisation, die Menschenwelt. Rainer Maria Rilkes Gedicht Der Hund (1904) beispielsweise thematisiert den Versuch

45 Ebd., S. 93 u. 97. 46 Ebd., S. 105. 47 Ebd., S. 118. 48 Ebd., S.119. 49 London, Jack: Call of the Wild, New York: Macmillan 1903, S. 7.

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des Tieres, seine beschränkte Welt »unten« zu transzendieren, da es stets in Berührung mit einer anderen Welt – der Welt der Menschen »oben« – steht. »Fast mit einem Flehen« hält er sein »Gesicht« hinein. Der abschließende Vers zeigt jedoch unmissverständlich, dass »aufschließende Erkenntnis«50 für den Hund unmöglich ist: Würde er Eingang in die Welt der Menschen und ihrer Bilder finden, so »wäre [er] nicht«.51 Rilkes subtiler Prosatext Eine Begegnung (1906) kreist um das Geheimnis des Wiedererkennens von Mann und Hund, oder das gegenseitige Erkennen des anderen Wesens im philosophischen Sinn, wobei die Augen und die ineinander gleitenden Blicke eine zentrale Rolle spielen. Obwohl der Hund von dem brennenden Wunsch beseelt ist, alles für den Menschen tun zu dürfen, trennen sich ihre Wege wieder.52 Solch ein Hund, der in »seiner Untergebenheit aufgeht«, ruft bei Robert Walser Staunen hervor über die Domestizierung, die er »gleichzeitig faszinierend und unheimlich« findet.53 In seiner vergleichenden Erzählung Der Jagdhund (1914) ist für ihn der Karrenhund (wie etwa auf dem sozialkritischen Gemälde Auf dem Weg zum Markt von Carl Reichert, 1918) ein »prächtiger, pflichtbewusster Kerl«, »ganz die Treue und der Eifer selber«, während der Jagdhund als »der glühende, eingefleischte Verfolger« erscheint, »entsetzlich hingegeben seiner grausamen Aufgabe«.54 Während Thomas Mann noch in seiner Erzählung Tobias Mindernickel (1898) einen komplexbeladenen Hundeschinder als Protagonisten gewählt hat, gerät die Hund-Mensch-Geschichte in dem stark autobiographischen Text Herr und Hund zur Idylle:55 1918, also im letzten Weltkriegsjahr, entstanden, wird hier eine großbürgerliche Welt beschworen, die dem Horror der bellistischen Zeitumstände entgegensteht. Neben Naturbeschreibungen in Stifterscher Manier sind es vor allem die genauen Beobachtungen tierlichen Verhaltens und ihre Vertextung in zum Teil emphatisch-poetischer Sprache, die das Narrativ zu einem Kunstwerk machen. Dominierend ist das Vergnügen, welches der Herr und sein Hühnerhund Bauschan beim Spielen, das sie »beide zum Lachen“ bringt, empfinden; vor allem aber beim Spazierengehen in den Isarauen, wo der Hund seinen Jagdtrieb ausleben kann.

50 Kurz, Martina: Bild-Verdichtungen, Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht 2003, S. 286. 51 Rilke, Rainer Maria: Gesammelte Werke, Stuttgart: Reclam 2015, S. 491. 52 Vgl. Rilke, Rainer Maria: Eine Begegnung, in: Ders., Kleine Schriften, Frankfurt a.M.: Insel 906, S. 499-513. 53 Gisi, Lucas Marco/Sorg, Reto: »Ein Spatz schreibt für die Katz. Robert Walsers merkwürdige Tiergeschichten«, in: Dies. (Hg.), Robert Walser: Der kleine Tierpark, Berlin: Insel 2014, S. 147-157, hier S. 155. 54 Gisi/Sorg, Robert Walser (2014), S. 33. 55 Vgl. Mann, Thomas: »Herr und Hund. Ein Idyll«, in: Thomas Mann, Werke in 12 Bänden. Die Erzählungen 2, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1967 [1919], S. 401-471.

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Doch ist auch mit patriarchalischem Gestus56 von »zäher Treue« des Hundes die Rede, dessen Leben größtenteils aus Warten auf den Herrn besteht. Die Diktion schwankt zwischen Verachtung der Schwächen des nach Meinung des Herrn erziehungsbedürftigen Tiers und Bewunderung für seine Eigenarten. So bemerkt der Erzähler: »Wunderliche Seele! So nah befreundet und doch so fremd, so abweichend in gewissen Punkten, daß unser Wort sich als unfähig erweist, ihrer Logik gerecht zu werden.« Bei dieser Einsicht in das Wesen des Tiers wird es ihm dann »unheimlich und dunkel«.57 Während in den Herr-Hund-Narrativen in der Regel ein hierarchisches Machtverhältnis besteht, handelt es sich bei den Kind-Hund- bzw. Frau-HundBeziehungen auf Gemälden (z.B. Marie L. C. Breslaus Freunde, 1891) wie in Texten, Filmen und Comics um ein eher herrschaftsfreies Verhältnis. Der Hund – etwa die Collie-Hündin Lassie im Roman von Eric Knight (1943) und seinen zahlreichen Verfilmungen58 – ist Spielkamerad eines Jungen. Oder aber – wie in Virginia Woolfs Flush. A Biography (1933) – er fungiert als Gefährte einer Frau. Hier erzählt die Biographin mit feiner Ironie die Geschichte des rothaarigen Spaniels Flush, der vom weitgehend frei lebenden Landhund zum Boudoirhund und eifersüchtigen Intimus der Schriftstellerin Elizabeth Barrett wird. Die aus Flushs Perspektive gestaltete Erzählung, eine Parodie des Genres Biographie, ist u.a. deshalb von Bedeutung, weil sie das hierarchische Denken Mann – Frau – Tier im viktorianischen Zeitalter zum Anlass nimmt, indirekt die Lage der eingeschränkt lebenden Frau mit der des Haushundes zu vergleichen: Zwischen ihnen »bestand ein Band, eine unbequeme, doch aufregende Verbindung«; denn »in ein und demselben Model gemacht, ergänzte vielleicht ein jeder von beiden, was im andern nur schlummerte.« Flush, »behaart wie Faun«, seiner geliebten Miss Barrett in Treue ergeben, »zog es vor, sämtlichen Düften« draußen »zu entsagen, um an ihrer Seite zu liegen«.59 Stärker noch als Flush oder der Hund Rollo in Fontanes Roman Effi Briest (1896) fungiert in Marlen Haushofers futuristisch-feministischer Robinsonade Die

56 Jacob, Hans-Joachim: »Tiere im Text. Hundedarstellungen in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld von ›Human-Animal Studies‹ und Erzählforschung«, in: Textpraxis 8 (2014), siehe http://www.uni-muenster.de/textpra xis/hans-joachim-jakob-tiere-im-text, letzter Abruf am 20.07.2018. 57 T. Mann: Herr und Hund, S. 422, 425, 427. 58 LASSIE COME HOME (1943) (USA, R: Fred M. Wilcox). 59 Woolf, Virginia: Flush. Eine Biographie. Übersetzt von Karin Kersten, kommentiert von Klaus Reichert, Frankfurt a.M.: Fischer 1994 [Flush. A Biography, 1933], S. 30, 38, 107, 127.

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Wand (1968, Verfilmung 201360) der Hund als Partner einer vereinsamten Frau: »Luchs stand mir am nächsten, er war bald nicht nur mein Hund, sondern mein Freund, mein einziger Freund in einer Welt der Mühen und Einsamkeit. Er verstand alles, was ich sagte, wußte, ob ich traurig oder heiter war, und versuchte auf seine einfache Art, mich zu trösten«.61 Später dann die realistische Relativierung: »Er verstand fast alles, was ich sagte, dem Sinn nach. Wer weiß, vielleicht verstand er auch schon mehr Wörter, als ich dachte.« Die Nähe zwischen der hinter einer rätselhaften Glaswand eingeschlossenen Frau und dem Tier nimmt zu: »In jenem Sommer vergaß ich ganz, daß Luchs ein Hund war und ich ein Mensch.« Aber Luchs (er ist kein Wolf, kein Agens, sondern ein Hund) erweist sich als abhängiges und ängstliches Patiens-Geschöpf: »Seit ich mich so viel mit ihm befaßte, war er ruhiger geworden und schien nicht dauernd zu befürchten, ich könnte mich, sobald er fünf Minuten wegging, in Luft auflösen.« Sie begreift, »daß dies die einzige große Angst seines Hundelebens war, allein zurückgelassen zu werden«. 62 Als Luchs von einem männlichen Eindringling erschlagen wird, hat die Frau keinerlei Skrupel, diesen zu erschießen. Wie der Wolf tritt auch der Hund nicht nur in realistischer Darstellung, sondern auch als metaphorisches, phantastisches oder zeichenhaftes Wesen auf. Nicht erst in der schwarzen Komödie Der Hund begraben (2016) von Sebastian Stern63 wird der Hund in metaphorischer Funktion für menschliche Verhältnisse eingesetzt, sondern schon Schriftsteller wie Kafka bedienten sich der Hund-Mensch-Metapher. Der für Kafka-Texte wie Die Verwandlung oder Ein Bericht für eine Akademie typische Stil der Allegorese bestimmt auch die aus dem Nachlass edierte Erzählung Forschungen eines Hundes.64 Diese Schreibweise, bei der das Phantastische mit Realistischem gemischt wird, unterstreicht den Verfremdungseffekt. Die von dem Hund im Brustton der Überzeugung vorgetragenen fragwürdigen Forschungsergebnisse und Einsichten parodieren in ihrer Beschränktheit die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis. Sowohl Fabeln und Märchen wie auch ihre heutige Abwandlung in Form von Comics wie etwa die Peanuts kennen den sprechenden, ja philosophierenden Hund, der bereits bei Miguel de Cervantes in El coloquio de los perros (Der Dialog der Hunde, 1613) eine Hauptrolle spielt. Es handelt sich hier um eine pikareske Autobiographie, die der im Schlachthof von Sevilla geborene und in vielen »Berufen«

60 DIE WAND (2012) (A, R: Julian Pölsler). 61 Haushofer, Marlen: Die Wand, Stuttgart u.a.: Ernst Klett 2003 [1968], S. 39f. 62 Ebd., S. 217f. 63 DER HUND BEGRABEN (2016) (D, R: Sebastian Stern). 64 Kafka, Franz: Forschungen eines Hundes. Nachgelassene Schriften und Fragmente II, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1992, S. 423-482.

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tätige Hund Berganza seinem Kollegen Cipión vorträgt, der im Tipps für eine wirkungsvollere sprachliche Gestaltung gibt. 1813 hat E.T.A. Hofmann diesen als satirisches Kunstgespräch und Gesellschaftskritik angelegten Text in seiner Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza fortgeschrieben. Vollends zeichenhaft wird dann der Hund im Sprachspiel der konkreten Poesie: Gemeint ist Ernst Jandls ottos mops (1963), ein monophones Sprechgedicht auf den Vokal 0 mit artifiziell verknappter Diegese, voll Witz und hoher poetischer Sprachintensität, die v.a. durch Wiederholungsfiguren auf der Wort- und Silbenebene, z.B. durch das Palindrom »otto«, bewirkt wird: »ottos mops trotzt otto: fort mops fort ottos mops hopst fort otto: soso otto holt koks otto holt obst otto horcht otto: mops mops otto hofft ottos mops klopft otto: komm mops komm ottos mops kommt ottos mops kotzt otto: ogottogott«65

Ottos Mops, d.h. Eigentum von Otto und damit in der Patiens-Rolle, zeigt Trotzreaktionen, und wird von seinem Herrn verjagt, der dies jedoch bald bereut und auf das Zurückkommen des Mopses hofft. Als der Hund zurückkehrt, bringt er jedoch durch Vomieren zum Ausdruck, was er von dem hierarchischen Verhältnis HerrHund hält: Patiens will nicht länger Patiens, sondern Agens sein.

65 Jandl, Ernst: »ottos mops«, in: Ernst Jandl: Poetische Werke, Bd. 4, München: Luchterhand 1997 [1963], S. 60.

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SCHLUSS Rilkes achte Duineser Elegie, in der nicht weniger als eine dichterische Weltdeutung angestrebt wird, geht von der Einsicht aus, dass die Unterschiedenheit von Mensch und naturhafter Kreatur unaufhebbar sei. Durch sein Bewusstsein von allem naturhaft-kreatürlichen Dasein getrennt, ist dem Menschen damit zugleich »das Offene« verschlossen, das die Kreatur, »frei von Tod«, mit »allen Augen sieht«. 66 Dem reflektierenden Menschen aber steht, wie es in der ersten Duineser Elegie heißt, eine immer schon »gedeutete Welt«67 gegenüber. Als selbstreflexives animal symbolicum verwendet er Kulturtechniken und schafft Kunstwerke. Die Aufgabe der Kulturwissenschaft besteht nun darin, die Erzeugnisse dieser symbolischen Arbeit zu ordnen und zu vergleichen, zu analysieren und wertend zu interpretieren. Und hier ist der Ort, wo sich eine Fülle von Anschlussmöglichkeiten sowohl für die theoretische Pädagogik wie auch für die praktische Tätigkeit des Unterrichtens ergeben.

66 Rilke, Rainer Maria: Gesammelte Werke, Stuttgart: Reclam 2015, S. 779. 67 Ebd., S. 757.

»¿On és la misericòrdia dels animals?« Zur Ethik des Tierverzehrs im Spanien des 16. Jahrhunderts Teresa Hiergeist

DIE KULTURELLE VERORTUNG DES FRÜHNEUZEITLICHEN VEGETARISMUS Die Frage nach der Legitimität des Tierverzehrs bildet im Spanien des 16. Jahrhunderts gewiss kein Kernthema. Zu sehr sind die machthabenden Eliten nach der Reichsgründung 1492 mit der Neuordnung und Verwaltung, 1 während der Aneignung der Territorien in der sog. Neuen Welt mit der Realisierung imperialistischer Ideen2 und im späteren Verlauf des Jahrhunderts mit der wirtschaftlichen Rezession, der Inflation und den mehrmaligen Staatsbankrotten beschäftigt,3 als dass sie zum Politikum werden könnte. Auch in der breiten Bevölkerung ist sie kulturell nicht verankert, steht für diese ob der eher extensiv betriebenen Landwirtschaft, der häufigen Missernten und der nicht seltenen Hungersnöte doch eher zur Debatte, ob sie sich überhaupt ernähren kann.4 Nichtsdestotrotz sind Überlegungen zur Moral des Tieressens nicht inexistent: Jenseits der Aristokratie und des Bauernstands konstituiert sich um die Jahrhundertmitte mit den humanistisch gelehrten Bürgerlichen und Klerikern eine Schicht, 1

Fernández Colado, Ángel: Historia de la Iglesia en España. Edad Moderna, Toledo: Instituto teológico San Ildefonso 2007, S. 18.

2

Vgl. Aguiar, Daniel Marcos/Bretón, Lorenzo Montiel: Historia del comercio. De los albores del Comercio a las Grandes Superficies, Madrid: Ministerio de Agricultura, Pesca y Alimentación 2003, S. 144.

3

Vgl. Martínez Ruiz, Enrique/Giménez, Enrique et al.: La España moderna, Madrid: Ismos 1992, S. 152-158 und S. 287.

4

Vgl. Marcos Martín, Alberto: España en los siglos XVI, XVII y XVIII. Economía y sociedad, Barcelona: Crítica 2000, S. 15-17 und Delumeau, Jean: La peur en Occident. XIVe-XVIIIe siècles, Paris: Fayard 1978, S. 214.

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bei welcher der Samen des Vegetarismus auf fruchtbaren Boden fällt.5 Die Schriften Competencia de la hormiga con el hombre (1559) von Cipriano de la Huerga, El Crótalon (1552) von Cristóbal de Villalón und Disputa de l’Ase (1417/1518) von Anselm Turmeda6 integrieren allesamt Stellungnahmen gegen den Fleischkonsum. Diese inhaltliche Parallele ist allerdings nicht ihre einzige Gemeinsamkeit, denn sie stimmen auch hinsichtlich der Gattung – alle drei sind philosophische Dialoge –, der Wahl der Protagonisten – in ihnen treten sprechende Tiere auf –,7 hinsichtlich des unprätentiösen Stils und der pädagogischen Intention überein. Die folgenden Ausführungen intendieren die Profilierung und Kontextualisierung der humanistischen Vegetarismusdiskussion im 16. Jahrhundert. Profiliert

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Eine intensive humanistische Aktivität prägt sich in Spanien erst ab der Regentschaft der Katholischen Könige aus, während der Gelehrte beginnen, einen regen Kontakt mit Italien zu pflegen und zahlreiche Bücher von dort zu importieren. Vgl. Menéndez Pidal, Ramón: Historia general de las literatura hispánicas, vol.2, Barcelona: Barna 1951, S. 330. Die Produktion humanistisch geprägter Texte erreicht zwischen 1530 und 1550 eine Hochphase, wohingegen sie danach mit dem gegenreformatorischen Einfluss etwas abnimmt. Vgl. Hölz, Karl: »Exégesis bíblica y erudición filológica en el humanismo español«, in: Víctor García e la Concha/Javier San José Lera (Hg.), Fray Luis de León. Historia, humanismo y letras, Salamanca: Ediciones Universidad Salamanca 1996, S. 145-158, hier S. 158.

6

Das Abfassungsdatum von Disputa de l’ase liegt bereits in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, jedoch legt das 16. Jahrhundert ein besonderes Interesse für den Text an den Tag, erscheinen doch zahlreiche Übersetzungen – 1509 auf Katalanisch, 1544 auf Französisch, 1586 auf Kastilisch und 1606 auf Deutsch (vgl. Marinela, García/Lucia, Martín: »Algunes fonts occidentals de l’obre d’Anselm Turmeda, Disputa de l’ase«, in: Revista de Filología Románica 13 [1996)], S. 181-214, hier: S. 182) –, so dass man davon ausgehen kann, dass er den Nerv der Zeit trifft.

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Tierdialoge sind in philosophischen und unterhaltenden Kontexten des 16. Jahrhunderts in Spanien keine Seltenheit, neben den bereits genannten erscheinen der anonym veröffentlichte Diálogo de las Transformaciones de Pitágoras (~1530-1550), Francisco de Sosas Endecálogo contra »Antoniana Margarita« (1556), oder Miguel de Cervantesʼ »El coloquio de los perros« (1613). Sie verhandeln dabei die gleichen Aspekte wie zwischenmenschliche Dialoge, nämlich die Offenheit, Pluralität und Subjektgebundenheit von Wahrheit (vgl. Ferreras, Jacqueline: Les dialogues espagnols du XVI e siècle ou l’expression littéraire d’une nouvelle conscience, vol.2, Paris: Didier 1985, S. 1008), allerdings fungieren die Tiere häufig als neutrale, weil von der Perspektivität der menschlichen Wahrnehmung nicht limitierte Instanzen zur Reflexion moralischer Fragen. Wird in dieser Gattung nun auch der Umgang mit Tieren verhandelt, so profitieren sie von ihrer Sprecherrolle, so dass ihre Worte eine erhöhte Glaubwürdigkeit erreichen.

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werden sollen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Dialoge, um sie bewerten und einordnen zu können. Hierfür werden zunächst die Diskurse rekonstruiert, die im 16. Jahrhundert mit dem Fleischessen verknüpft sind und anschließend wird aufgezeigt, wie die genannten Texte sich zu ihnen positionieren, um hieraus Schlüsse über ihre moralische Haltung gegenüber Tieren zu ziehen. Ziel ist es, zur Sensibilisierung für das historische Gewordensein und für die ideengeschichtlichen Wurzeln der heutigen tierethischen Diskussionen beizutragen.

DISKURSE RUND UM DEN FLEISCHKONSUM Das Fleischessen wird im Spanien des 16. Jahrhunderts in unterschiedlichen Kontexten thematisiert. Erstens besitzt es in der Medizin Relevanz. Diese basiert im 16. Jahrhundert primär auf dem Prinzip der Humorallehre, wonach die Gesundheit vom ausgewogenen Verhältnis der vier Körpersäfte (Blut, Phlegma, gelbe und schwarze Galle) abhängig sei.8 Mehrere Faktoren beeinflussen, so die Annahme, das Gleichgewicht dieser Flüssigkeiten, etwa die Persönlichkeit, das Alter, die Jahreszeit, das Klima und nicht zuletzt die Ernährung.9 Was das Fleisch anbelangt, so geht etwa

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Dementsprechend heißt es bei Pere d’Olesa: »Pienso que la salud consiste en que el cuerpo humano tenga una complexión y composición dispuestas de tal forma que los espíritus y humores estén en la debida cantidad y en proporción equilibrada entre sí y en relación con los órganos principales, así como las cosas necesarias para realizar sus funciones sin alteración alguna. La enfermedad consiste en que el cuerpo humano esté alterado en su complexión y constitución o de cualquier otra manera que dañe sus funciones de modo sensible« (d’Olesa, Pere: Summa totius philosophiae et medicinae, Valencia: Salvaynach 1536, s.p., Hvg. d. Verf.) [Ich denke, dass die Gesundheit darauf beruht, dass die körperliche Konstitution so beschaffen ist, dass die Körpersäfte in angemessener Menge und in ausgewogenem Verhältnis zueinander und den wichtigsten Organen stehen, und dass alles Notwendige vorhanden ist, damit diese ihre Funktionen problemlos ausführen können. Die Krankheit beruht auf der Tatsache, dass die körperliche Konstitution des Menschen aus dem Gleichgewicht ist oder dass seine Funktionen auf eine andere Art und Weise empfindlich geschädigt werden; Übers. d. Verf.].

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Huarte de San Juan formuliert: »Viviendo los hombres en regiones destempladas, sujetas a tales mudanzas del aire, al invierno, estío y otoño, y pasando por tantas edades, cada una de su temperatura, y comiendo unos manjares fríos y otros calientes, forzosamente se ha de destemplar el hombre y perder cada hora la buena templanza de las primeras calidades« (Huarte de San Juan, Juan: Examen de ingenios para las ciencias, Madrid: Cátedra 1989, S. 170) [Wenn die Menschen mit rauen Bedingungen zu kämpfen haben und dem Wetterwechsel, dem Winter, dem Sommer und dem Herbst ausgeliefert sind und so viele

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Oliva Sabuco in Nueva filosofía de la naturaleza del hombre (1587) davon aus, dass es den Körper stärke, wohingegen es die Seele träge mache; umgekehrt schwäche pflanzliche Nahrung die Physis, rege dafür aber den Geist an.10 Hieraus leitet sich ab, dass denjenigen, die einer körperlichen Arbeit nachgehen, der Fleischverzehr empfohlen wird, wohingegen man geistig Arbeitenden, vor allem Philosophen, davon abrät. Überdies schlussfolgern die Mediziner, dass Personen mit geistigen Defiziten durch eine fleischreiche Ernährung das innere Ungleichgewicht verstärkten, was Geisteskrankheiten bedinge; für Melancholiker wiederum, die ohnehin zum Geistigen tendierten, sei Fleischverzicht schädlich.11 Fleisch kann also je nach Situation und Veranlagung ein Heilmittel, aber auch ein Krankmacher sein. 12 Zweitens ist das Essen von Tieren in der spanischen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts sozial konnotiert: Während sich die Ärmeren mangels Alternativen weitgehend vegetarisch ernähren, stehen Fleisch und Fisch bei der aristokratischen Oberschicht permanent auf dem Speiseplan.13 Der Großteil der Spanier/-innen führt

Abschnitte mit unterschiedlichen Temperaturen, mit kalten oder warmen Speisen erleben, sind sie gezwungenermaßen aus dem Gleichgewicht und verlieren die Ausgeglichenheit; Übers. d. Verf.]. 10 Daher empfiehlt er zur Kräftigung des Körpers Fleisch, zur Stärkung des Geistes hingegen Wurzeln, Mandeln, Kakaoschoten, Pinienkerne, Melonen oder Zitronen (vgl. Sabuco, Oliva: Nueva filosofía de la naturaleza del hombre, Madrid: Fernández 1728, S. 205). Hierbei ist auch die Form der Lebensmittel entscheidend, denn letztere ähneln laut Autor dem menschlichen Gehirn und sind damit für die Entfaltung einer positiven Wirkung auf das Denken prädestiniert. 11 Vgl. Haussleiter, Johannes: Der Vegetarismus in der Antike, Berlin: Töpelmann 1935, S. 367. 12 Dieses Prinzip des justo medio gilt in der Medizin der damaligen Zeit für alle Lebensmittel. So affirmiert etwa Huarte de San Juan: »ninguno [manjar] hay […] que absolutamente sea bueno ni malo, sino tal cual fuere el estómago donde cayere; porque hay estómagos, dice Galeno, que se hallan mejor con carne de vaca, que con gallinas y truchas, y otros que aborrecen los huevos y leche, y otros se pierden por ellos« (Juan Huarte de San Juan: Examen de ingenios para las ciencias, S. 480) [Es gibt keine Speise, die absolut gut oder schlecht wäre, sondern das hängt davon ab, in welchem Magen sie landet; denn es gibt, laut Galenos, Mägen, die Rindfleisch besser verarbeiten können als Hühnchen oder Forelle, und andere, die Eier und Milch verabscheuen, und wieder andere, die genau darauf versessen sind; Übers. d. Verf.]. 13 Vgl. Dinzelbacher, Peter: Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart: Kröner 2000, S. 181 und Hüster Plogmann, Heide: »…der Mensch lebt nicht von Brot allein. Gesellschaftliche Normen und Fischkonsum«, in: Dies. (Hg.), Fisch und Fischer aus zwei Jahrtausenden, Muttenz: Römermuseum Augst 2006, S. 193.

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ein karges Leben auf Basis von Getreide, Gemüse, Bohnen und Kichererbsen, wohingegen dem Adel bis zu drei Mal täglich Braten und Schnitzel serviert werden.14 Doch nicht nur das Fleisch an sich, auch die einzelnen Sorten sind gesellschaftlich markiert: Während die unteren Stände bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen sie Tiere konsumieren, zu Schaf-, Trockenfleisch und Innereien greifen,15 landen bei der Oberschicht, wie etwa das Kochbuch Libro de guisados des aragonesischen Hofkochs Ruperto de Nola (1929) zeigt, teure Sorten wie Hirsch, Wildschwein, Lamm, Rind und Schwein, aber auch ausgefallenere Arten wie Pfau und Zibetkatze auf dem Teller. 16 Die Vorliebe für exotische Mahlzeiten verstärkt sich mit der Kolonisierung Lateinamerikas, in deren Kontext Truthähne oder Gürteltiere als überseeische Nahrungsquellen erschlossen werden. 17 Insgesamt bildet der Fleischverzehr im 16. Jahrhundert also eine Bühne zum Ausagieren gesellschaftlicher Distinktions- und Herrschaftsansprüche, so dass es nicht verwundert, dass vor allem die Regent/-innen ihn exponieren, um ihre Idoneität zu akzentuieren.18

14 Vgl. Almodóvar, Miguel Ángel: El hambre en España, Madrid: Oberon 2003, S. 66-67. Da pflanzliche Lebensmittel in hohem Maße wetter- und plagenabhängig sind, bedeuten schlechte Ernten Hungersnot und Krankheit und zwingen die Bauern massenweise zur Landflucht (vgl. J. Delumeau: La peur en Occident, S. 214), während die Höflinge dank ihres Jagdprivilegs stets mit ausreichend Nahrung versorgt sind (vgl. Martínez de Lagos, Eukene: Ocio, diversión y espectáculo en la escultura gótica. Las iglesias navarras como espejo de una realidad artística medieval, Bilbao: Editorial de la Universidad del País Vasco 2007, S. 243). 15 Vgl. Meier, Frank: Mensch und Tier im Mittelalter, Ostfildern: Thorbecke 2008, S. 130. 16 Diese soziale Konnotierung der einzelnen Sorten schlägt sich auch im Verkaufswert nieder: Wo der Preis für Lamm 1491 von den Behörden auf 18, für Schwein auf 14, für Rind auf 14 maravedies pro arralde (ca. zwei Kilo) festgelegt ist, geht die gleiche Menge Schaf für 11 maravedies über den Ladentisch (vgl. D.M. Aguiar/L.M. Bretón: Historia del comercio, S. 98). 17 Vgl. Etzlstorfer, Hannes: »Immigranten bei Tisch. Ananas, Kartoffeln, Truthähne und andere Köstlichkeiten«, in: Ders. (Hg.), Küchenkunst und Tafelkultur, Wien: Brandstätter 2006, S. 113-120, hier: S. 117. Auch originelle Rezepte und ungewöhnliche Zubereitungsformen werden populär, wie Zeugnisse von extravaganten Würzungen oder vom Verzehr ungeborener oder lebendig gebratener Tiere belegen (vgl. ebd.: »Fleisches Lust. Von allerlei Fleisch und sonstigen tierischen Zutaten«, in: Ders., Küchenkunst und Tafelkultur [2006], S. 69-90, hier: S. 70). 18 Felipes II Fleischhunger ist so ausgeprägt, dass er sich vom Papst von der Pflicht entbinden lässt, an den Fastentagen auf das Nahrungsmittel zu verzichten und auch Carlos V

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Diese symbolische Botschaft verhallt in der spanischen Gesellschaft nicht unkommentiert, sondern erfährt vor allem von derjenigen sozialen Klasse Kritik, die im Kampf um den gesellschaftlichen Einfluss in Konkurrenz zum Adel steht, den Klerikern. Der Arcipreste de Talavera etwa geht in Corbacho o la reprobación del amor mundano (1438) mit der aristokratischen gula hart ins Gericht, geißelt sie als Mangel an Selbstbeherrschung und Geistesstärke, wenn er nach einer ausführlichen Aufzählung der von den Adeligen vertilgten Speisen konstatiert: »Con esto veréis los sentidos gozar, las voluntades correr, el seso desvariar, el entendimiento ofuscar, alegría, placer, agasajo, y, después, llorar«.19 Umgekehrt avanciert der Verzicht auf die Fleischesdekadenz zum Inbegriff christlicher Tugendhaftigkeit und Askese.20 Das Fasten, also die Versagung von Wein, Fleisch und teils auch Tierprodukten, fungiert damals als Mittel, um sich als sittsam und besonnen zu stilisieren, sich zu purifizieren und Gott näher zu kommen, 21 d.h. um eine geistige Größe zu demonstrieren, welche die physisch ausagierte Macht der Aristokratie gleichsam moralisch überflügelt.22 Insofern beziehen sich der aristokratische und der klerikale Umgang mit Fleisch dialektisch aufeinander.

soll ungeheure Fleischmengen zu sich genommen haben (M.Á. Almodóvar: El hambre en España, S. 94). 19 Vgl. Talavera, Arcipreste de: Corbacho o la reprobación del amor mundano, Barcelona: Linkgua digital 2012, S. 57. In der Führungsriege der Katholischen Kirche ist von einer asketischen Lebensweise allerdings wenig zu spüren. So ist etwa Papst Leo X für seine opulenten Bankette bekannt (vgl. Etzlstorfer, Hannes: »Die schmackhafte und die schwarze Kunst. Kulinarik und Buchdruck in der Renaissance«, in: Ders., Küchenkunst und Tafelkultur [2006], S. 207-228, hier: 213-221) und auch Bartolomeo Scappis päpstliches Kochbuch Dell’arte del cucinare (1570) lässt auf alles andere als eine karge Küche schließen. Die Exposition gesellschaftlicher und politischer Macht rangiert dort vor der distinktiven Abgrenzung vom Adel. 20 Vgl. H. Plogmann: Der Mensch lebt nicht von Brot allein, S. 193. Zur damaligen Zeit besteht etwa das halbe Jahr aus Fasttagen, da die Kirche den Gläubigen den Verzicht auf Fleisch, auf Wein und teilweise auch auf Tierprodukte an allen Mittwochen, Freitagen und Samstagen, an den Festen hoher Heiliger sowie in der Zeit vor Ostern und Weihnachten vorschreibt (vgl. F. Meier: Mensch und Tier im Mittelalter, S. 114). 21 Vgl. Mennell, Stephen: Die Kultivierung des Appetits. Die Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a.M.: Athenäum 1988, S. 49-50. 22 Besonders fromme Christ/-innen treiben diesen Grundgedanken sogar noch weiter und übertrumpfen die allgemeinen Speisevorschriften durch dauerhaftes Fasten (vgl. Pulz, Waltraud: Nüchternes Kalkül – verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert, Köln: Böhlau 2007, S. 175). Diese Form der Askese, die bisweilen Halluzinationen hervorruft und den Hungertod zur Folge hat, gilt als Zeichen von Heiligkeit und

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Eine zusätzliche religiöse Einschränkung des Tierverzehrs bedingen die moralisch motivierten Speiseverbote.23 Sie basieren auf der Annahme, dass die Fauna unreine Arten integriere, deren negative Eigenschaften sich auf den Essenden und die Essende übertragen könnten. So wird etwa vom Verzehr von Ottern oder Amphibien abgeraten, da sie als Grenzgänger zwischen Land und Wasser als monströse Tiere gelten;24 von Feldhasen, Mäusen oder Ratten wegen ihres ausschweifenden Sexualverhaltens25 oder von Elstern, Adlern und Bären, da ihnen eine Verbindung zum Teufel nachgesagt wird.26 Die Angst, die kulturell attribuierte Eigenschaft des Tiers könne durch die Einverleibung auf den Menschen übergehen, beruht auf der quasi-magischen Vorstellung einer Untrennbarkeit von innen und außen. Einen vierten Kontext, in dem der Fleischverzehr im 16. Jahrhundert präsent ist, stellen philosophische Abhandlungen anthropologischen Einschlags dar. In Anlehnung an stoizistische Modelle proklamieren zahlreiche Schriften eine InterspeziesHierarchie,27 aus der sie das Recht auf Ausnutzung und Konsum ableiten. 28 Legitimiert wird diese Haltung häufig vor allem über zwei Argumente: Zum einen sei der Ge- und Verbrauch von Tieren gottgewollt, zumal dieser den Menschen als Krönung seiner Schöpfung hervorgebracht29 und ihn im Buch Genesis selbst zum dominium terrae aufgerufen habe. In dieser Linie spricht beispielsweise Juan Vallés in seinem Jagdtraktat Libro de acetrería y montería vom »poderío que [Dios] puso en el hombre sobre todos los animales de la tierra«30 und auch Pedro Fernández de Andrada rechtfertigt die Pferdenutzung in seinem Reitereitraktat Libro de la gineta de España transzendent: »Despues que el sumo hazedor dio fin a la creación del

erreicht in Spanien im Kontext der Gegenreform etwa mit Teresa von Ávila eine besondere Ausprägung (vgl. Egger, Irmgard: Diätetik und Askese. Zur Dialektik der Aufklärung in Goethes Romanen, München: Fink 2001, S. 197-199). 23 Vgl. H. Etzlstorfer: Fleisches Lust, S. 75. 24 Schroer, Silvia: Die Tiere in der Bibel. Eine kulturgeschichtliche Reise, Freiburg: Herder 2010, S. 142. 25 Vgl. Corvol, Andrée: Histoire de la chasse. L’Homme et la Bête, Paris: Perrin 2010, S. 94-97. 26 Vgl. H. Etzlstorfer: Fleisches Lust, S. 75. 27 Vgl. Lennkh, Sabine: Die Kodifikation des Tierschutzrechts. Modellvorstellungen, Baden-Baden: Nomos 2012, S. 35. 28 Vgl. Linzey, Andrew: Christianity and the Rights of Animals, London: SPCK 1987, S. 25-29. 29 Vgl. Arendt, Dieter: »Der Mensch in animalischer Perspektive«, in: Friedrich Niewöhner/ Jean-Loup Seban (Hg.), Die Seele der Tiere, Wiesbaden: Harrassowitz 2001, S. 133. 30 Vallés, Juan: Libro de acetrería y montería, Madrid, Biblioteca Nacional (~1556), ms. 3382; S. 20.

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mundo, hizo señor del al honbre, para que todas las cosas criadas le obedeciessen, y sirviessen, pues avian sido hechas para bien y contento suyo«. 31 Zum anderen sei der Konsum unproblematisch, da sich Tiere aufgrund ihrer eingeschränkten Intelligenz substanziell vom Menschen unterschieden und damit nicht als moralische Objekte in Betracht gezogen werden müssten.32 Dementsprechend heißt es in Juan Luis Vivesʼ Tratado del alma (1587), einer christlich-humanistischen Schrift, deren Intention unter anderem in der Stilisierung des Menschen als gottähnliche Krone der Schöpfung besteht: »¿Cómo no distinguir la inmensa diferencia que hay entre los hombres y los animales? Aparte otras pruebas de menos valor, un hombre practica muchas artes manuales, produce obras tan diversas y admirables de invención y ejecución, recorre con su pensamiento todo el mundo, disfruta de razón y de lenguaje, en todo lo cual resplandece cierto poder e imagen de la inteligencia divina.«33

Die philosophischen Schriften charakterisiert folglich häufig ein starker Anthropozentrismus, der ex negativo freilich gerade die verdrängten Bedenken angesichts des Tierverbrauchs freilegt. Diese vier Diskurse – der medizinische, soziale, religiöse und philosophische –, deren Gebrauch je nach sozialer Provenienz des Sprechers und je nach Situation variiert, vermischen sich im alltäglichen Sprechen und Handeln und beeinflussen dadurch die gesellschaftliche Bewertung des Fleischessens. Das folgende Kapitel arbeitet heraus, wie sich die humanistischen Tierdialoge zu ihnen verhalten, auf sie Bezug nehmen und sie für ihre Zwecke funktionalisieren.

31 Fernández de Andrada, Pedro: Libro de la gineta de España, Sevilla: de la Barrera 1599, S. 6. 32 Vgl. Carpenter, Amber D.: »Eating Your Own. Exploring Conceptual Space for Moral Restraint«, in: Cecilia Muratori/Burhard Dohm (Hg.), Ethical Perspectives on Animals in the Renaissance and Early Modern Period, Florenz: Sismel 2013, S. 21-46, hier S. 44. 33 Vives, Juan Luis: Tratado del alma, Buenos Aires: Espasa Calpe 1945, S. 120. »Wie kann man den enormen Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht ausmachen? Neben anderen wertloseren Nachweisen, geht der Mensch vielen manuellen Künsten nach und schafft Werke, die unterschiedlicher und bewundernswerter an Genialität und Ausführung nicht sein könnten, er kann in seinen Gedanken die ganze Welt bereisen und verfügt über Vernunft und Sprache, wobei in allem gewisse Macht und das Antlitz der göttlichen Intelligenz wiedergespiegelt werden« (Übers. d. Verf.).

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ZUR RHETORIK UND PRAGMATIK VEGETARISTISCHER POSITIONIERUNGEN Competencia de la hormiga con el hombre des Klerikers Cipriano de la Huerga34 stellt die Diskussion zweier Ameisen über das Verhältnis von Menschen und Tieren innerhalb der Schöpfung dar, wobei die damals topischen Argumente zur Untermauerung der anthropologischen Differenz (die Intelligenz, die Vernunft, die Gottesnähe) ausgerechnet von den winzigen Insekten systematisch ad absurdum geführt werden.35 Dabei kommt in Zusammenhang mit der Kritik der menschlichen Hybris auch der Fleischkonsum zur Sprache, nämlich in einer Passage, die eine freie Übersetzung aus Plutarchs »Gryllus« darstellt: »Pero el hombre, arrebatado del deleyte y de la gula, todas las cosas quiere experimentar, todas las gusta, y como ninguna le sea propia o conbeniente, él solo entre los animales es sepulchror de todas en general. Lo primero, come carne no forçado de la neçessidad, pudien-

34 Die Verbindung des Autors zum Humanismus ist dahingehend gegeben, dass er von 1531 bis 1539 sowie von 1544 bis 1545 Artes und Theologie an der neu gegründeten und als progressiv geltenden Universität in Alcalá de Henares studiert, wo er als erster Absolvent die Doktorwürde der Theologie erlangt (vgl. Asenio, Eugenio: De Fray Luis de León a Quevedo y otros estudios sobre retórica, poética y humanismo, Salamanca: Ediciones Universidad Salamanca 2005, S. 83). Er bekleidet einige Jahre das Amt des Rektors des colegio de San Bernardo, bevor er 1551 die prestigereiche cátedra de Sagrada Escritura an seiner Heimatuniversität besteigt und dort unter anderem Dionisio Vázquez, Juan de Valdés und Fray Luis de León unterrichtet (vgl. Morocho Gayo, Gaspar: »Cipriano de la Huerga, maestro de humanistas«, in: Concha/Lera, Fray Luis de León [1996], S. 173-194, hier: S. 174 und 178). 35 Die Wahl von Ameisen als Protagonisten mag zum einen der Tatsache geschuldet sein, dass sie in den Naturgeschichten und in der Bibel traditionell als arbeitsame und organisationstalentierte Wesen beschrieben werden (vgl. Fuente, Fernández/Francisco, Javier: »Introducción«, in: Cipriano de la Huerga: Competencia de la hormiga con el hombre. Obras completas, vol.8, León: Secretariado de Publicaciones de la Universidad de León 1994, S. 11-107, hier: S. 38), zum anderen mag sie dem neuen naturforscherlichen, empirischen Interesse zuzuschreiben sein, das in der Renaissance aufkeimt und sich von der Winzigkeit der Insekten als Beweis der Genialität der göttlichen Schöpfung in besonderer Weise fasziniert zeigt (vgl. Raffles, Hugh: Insectopedia, New York: Vintage 2011, S. 125). Dementsprechend heißt es in Pedro Mexías Silva de varia lección: »Aunque la hormiga es animal muy conocido y por lo mismo lo pudiéramos desechar, es tan chiquito y tan olvidado, que todavía parecerá que hacemos algo si dixéremos algunas cosas della« (vgl. Mexía, Pedro: Silva de varia lección, Madrid: Cátedra 1989, S. 347).

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do sustentarse de las plantas y de los frutos con provecho y con suauidad agena de todo fastidio y lo que más es, sin fatiga ni trabajo. Pero él, como forçado de sus appetitos, siguiendo çiegamente en todas las cosas el deleite, se apaçienta de mantenimientos peregrinos y no conoçidos y de horrendas muertes y suçias de otros animales, haziendo aquesto con mayor crueldad que las más brauas fieras del campo, porque la sangre, las muertes, las carnes despedaçadas, son propio manjar de las águilas, de los leones, de los dragones. Mas del hombre, habían de ser como propio manjar solas las yervas, los frutos de los árboles y de las bides […]. [N]i en el aire ni el agua ni en la tierra ay animal alguno que por los engaños y astuçias del hombre no sea muerto y cruelmente despedaçado y comido, y no contento con esto, para declarar más su locura y gula desenfrenada, ninguno ay por marauilla que de tan ynnumerables géneros de manjares esté contento ni satisfecho, mayormente si se hallan en la tierra donde viue y se pueden hauer sin dificultad alguna. Mas antes, çercando el mar y la tierra, de regiones no conoçidas y muy apartadas, buscan nueuos manjares como nueuos despertadores de la gula, y no perdonando al cuidados, a los dineros, a la fatiga y trabajo, así suyo como de otros.«36

Der Abschnitt konstruiert die Fleischessenden als hedonistische Egoist/-innen, die ihre Gelüste auf Kosten der Tiere ausleben. Diese Abwertung vermitteln die Isoto-

36 C. Huerga, Competencia de la hormiga con el hombre, S. 82-83. »Aber der Mensch, mitgerissen von Genuss und Gefräßigkeit, möchte alles ausprobieren, alles schmecken und, da er mit nichts zufrieden ist, wird er als einziger unter den Tieren zur Grabstätte für alle anderen. Erstens, weil er Fleisch isst, ohne dass ihn die Notwendigkeit dazu zwingen würde, weil er sich ja auch von den Pflanzen und Früchten gut, angenehm und ohne Ärger und vor allem ohne Anstrengung und Arbeit ernähren könnte. Aber er, gleichsam gezwungen von seinem Appetit, folgt blind in allen Dingen dem Genuss, er weidet sich an fremden und unbekannten Nahrungsgrundlagen und an den schrecklichen und schmutzigen Toden anderer Tiere und er tut dies mit größerer Grausamkeit als die wildesten Feldraubtiere. Denn das Blut, die Tode, das zerstückelte Fleisch sind das natürliche Essen der Adler, der Löwen, der Drachen. Der Mensch hingegen sollte eigentlich nur Gräser und die Früchte der Bäume und Sträucher essen. [...] Weder in der Luft, noch im Wasser noch an Land gibt es irgendein Tier, das wegen der Listen und Tricks des Menschen noch nicht gestorben, grausam zerstückelt und gegessen worden wäre, und, weil er sich damit noch nicht zufrieden gibt, um seine Verrücktheit und zügellose Gefräßigkeit noch mehr unter Beweis zu stellen, gibt es niemanden, der trotz so unzähliger Nahrungsmittel immer noch unzufrieden ist, vor allem, wenn sie sich in dem Land befinden, wo er lebt und wenn sie einfach zu haben sind. Vielmehr umzingelt man Meer und Land unbekannter und weit entlegener Regionen, um neues Essen zu finden, neue Ermunterungen zur Gefräßigkeit, und dafür ist kein Aufwand, kein Geld, keine Müdigkeit und keine eigene und fremde Arbeit zu schade« (Übers. d. Verf.).

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pien der Sinnlichkeit (»deleyte«, »gula«, »experimentar«, »gustar«, »appetito«) und der Unzivilisiertheit (»locura«, »desenfrenada«, »las más brauas fieras«), wobei meist eben diese Lexeme die grammatikalische Subjektposition innehaben (»arrebatado«, »forçado de sus appetitos«, »siguiendo çiegamente«), so dass der Mensch instinktgesteuert erscheint und damit gerade eine Eigenschaft trägt, die in philosophischen Kontexten häufig als Beweis der Inferiorität der Tiere dient. Überdies erfährt in der Passage die Grausamkeit eine besondere Betonung: erstens inhaltlich, zweitens durch das affektiv aufgeladene Vokabular (»sepulchror«, »horrendas muertes y sucias«, »mayor crueldad que las más brauas fieras«, »la sangres, las muertes, las carnes despedaçadas«, »muerto y cruelmente despedaçado y comido«), drittens durch die Bezeichnung der Tiere als »otros animales«, welche die Grenze zwischen den Spezies verwischt. Der Fleischverzehr soll dadurch unattraktiv erscheinen, dass er dem christlichen Wert der Barmherzigkeit widerspricht. 37 Der Vergleich mit dem antiken Original zeigt, dass diejenigen Elemente, die Cipriano de la Huerga im Vergleich zum »Gryllus« abgewandelt hat, die beiden Argumente der Instinkthaftigkeit und Grausamkeit akzentuieren (dies ist der Fall für »sin fatiga ni trabajo«,38 das die Unnötigkeit des Fleischessens betont, für »forçado de sus appetitos, siguiendo çiegamente en todas las cosas el deleite«, das die Passivierung verstärkt, für »muerto y cruelmente despedaçado«, das die Unzivilisiertheit hervorkehrt). Neu ist überdies (wahrscheinlich39) der letzte Abschnitt über die Suche nach Nahrungsmitteln in fremden Gefilden (»mantenimiento peregrinos y no conoçidos« sowie »ninguno ay por marauila […] nueuos despertadores de la gula«) – eine An-

37 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Cipiriano de la Huerga die unterschiedlichen Fleischsorten als »despertadores de la gula« bezeichnet, womit er die übliche Logik verkehrt: Nicht die Völlerei geht dem Fleischkonsum voraus, sondern dieser erzeugt sie erst. Hierin erreicht der Abschnitt eine ausgeprägte pragmatische Orientierung, suggeriert er doch eine Kontrollierbarkeit der körperlichen Impulse über das Verhalten und stilisiert somit implizit den Vegetarismus zum Ausweg aus der Sünde. 38 Diese Betonung der Unaufwendigkeit der Beschaffung pflanzlicher Kost mag eine Anspielung auf den paradiesischen Urzustand sein. Die Argumentation, dass sich der Mensch dem Fleischkonsum erst mit der Vertreibung aus dem Garten Eden zugewandt habe und dieser folglich mit der Erbsünde gekoppelt sei, findet sich in der damaligen Zeit an mehreren Stellen angedacht (vgl. Fudge, Erica: »Saying Nothing Concerning the Same. On Dominion, Puritan, and Meat in Early Modern England«, in: Dies. [Hg.], Renaissance Beasts. Of Animals, Humans, and Other Wonderful Creatures, Urbana: University of Illinois 2004, S. 70-86, hier S. 71). 39 Die Plutarchüberlieferungen weisen an dieser Stelle eine Lücke auf, weshalb nicht zweifelsfrei ausgemacht werden kann, ob Cipriano de la Huerga die Passage hinzugefügt hat oder ob ihm damals ein vollständigeres Manuskript zur Verfügung stand.

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merkung, die in Anspielung auf die aristokratische Mode hinzugefügt worden sein mag, Tiere aus Übersee als Delikatessen zu verspeisen.40 Insofern adaptiert der Text das antike Original an die zeitgenössischen philosophischen, sozialen und religiösen Diskurse zum Fleischverzehr, um seine Leser/-innen unmittelbarer zu affizieren. Auch El Crotalón des Humanisten Cristóbal de Villalón,41 der Dialog eines sprechenden Hahns mit seinem Besitzer Miçilo, in dem ersterer zweiteren mit philosophischen Reflexionen, moralischen und gesellschaftskritischen Überlegungen und allerlei satirischen und wundersamen Geschichten aus seinen früheren Leben unterhält,42 rekurriert an einer Stelle auf die eben genannte Passage aus Plutarchs »Gryllus«. Im Unterschied zum Original, aber auch zu Cipriano de la Huerga medizinisiert er die Argumentation jedoch: »Y ansí los hombres se engendran en sus comidas infinitos géneros y especies de enfermedades, porque llenos vuestros cuerpos de excesivos comeres, es neçesario que a la contina haya diversidad de humores y ventosidades y que, por el consiguiente, se sigan las indispusiçiones.«43

40 Neu ist überdies das explizite Vegetarismuspostulat »Mas del hombre, habían de ser como propio manjar solas las yervas, los frutos de los árboles y de las bides.« Der spanische Text zeigt sich in dieser Hinsicht radikaler als das antike Original. 41 Cristóbal de Villalóns Verbindung zum Humanismus besteht darin, dass er ab 1525 an der Universität von Alcalá de Henares studiert und später als Lehrer der Humanidades für Grammatik und Latein in Valladolid tätig ist (vgl. Vian Herrero, Ana: »Hacia un perfil biográfico y literario del humanista Cristobal de Villalon. Reexamen crítico«, in: Boletin de la Real Academia española 93 [2012] 308, S. 583-629, hier S. 589). 42 Ausgangsidee dieses Dialogs ist die pythagoreische Seelenwanderungslehre, derzufolge die Seele nach dem Tod in einen neuen Körper, möglicherweise auch in einen Tierkörper eingehen kann (vgl. Riedweg, Christoph: Pythagoras. Leben, Lehre, Nachwirkung, München: Beck 2002, S. 87). Auch hierin nimmt der Text also Bezug auf einen Autor, der sich den Vegetarismus explizit auf die Fahnen geschrieben hat, wird Pythagoras doch der Ausspruch zugeschrieben, man könne sich nie sicher sein, ob ein Schwein, das man esse, nicht ein verstorbener Freund sei (vgl. Laertius, Diogenes: De vita et moribus philosophorum, Paris: Gryphius 1559, S. 339). Eine weitere zentrale antike Referenz stellt außerdem Lukian dar, dessen Text »Der Traum oder der Haushahn« nicht nur für die Figurenauswahl impulsgebend ist, sondern auch den satirischen Charakter und den Stil des Texts beeinflusst (vgl. Kincaid, Joseph J.: Cristóbal de Villalón, New York: Twayne 1973, S. 41). 43 Villalón, Cristóbal de: El Crótalon, Madrid: Cátedra 1990, S. 118. »Und so bringen die Menschen durch ihr Essverhalten unendlich viele Arten von Krankheiten hervor, zumal sich in euren Körpern, wenn sie vom übermäßigen Essen voll sind, über kurz oder lang

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Die Passage nimmt explizit auf das Ungleichgewicht der Säfte Bezug, welches das übermäßige Essen bedingt. Doch nicht nur die Quantität verzehrten Fleischs wird als schädlich inszeniert, sondern auch die Qualität: Weil dem gefräßigen Menschen Vögel, Wildtiere und Fische nicht mehr ausreichten, heißt es weiter, bediene er sich der Schlangen, Aale, Neunaugen, Kröten und Frösche sowie der Schnecken, Schildkröten, Spinnen, Ratten und Maulwürfe.44 Viele dieser Arten gelten im 16. Jahrhundert als unrein, werden mit der Hexerei in Verbindung gebracht (Schlangen, Kröten, Frösche) oder als monströs und mithin dämonisch wahrgenommen (Ratten, Schildkröten, Kröten, Frösche) und gefährden somit die Essenden. Doch auch über die Humoralpathologie lässt sich die Wahl dieser Gattungen erklären, handelt es sich doch um Tiere, die als extrem feucht und kalt angesehen werden und somit die Körpersäfte aus dem Gleichgewicht bringen. Die Konsequenzen hieraus werden drastisch gezeichnet: »Y después con todo esto quéxanse los desventurados de su naturaleza, diziendo que les dio cortas las vidas, y que los lleva temprano la muerte. Y dizen que los médicos no entienden la enfermedad, ni saben aplicar la mediçina, ¡bobos, neçios! ¿Qué culpa tiene su naturaleza si ellos mesmos se corrompen y matan con tanta multitud de venenosas comidas y manjares?«45

Hyperbolisch wird nicht nur die Krankheit, sondern gleich der Tod als Resultat einer inadäquaten Ernährung genannt und, da die Passage den Menschen die volle Verantwortung für ihre Gesundheit zuschreibt, wirkt dieser gleichsam wie ein Selbstmord. Dramatisiert wird diese Aussage überdies durch die tautologische Interjektion »¡bobos, neçios!« sowie durch die rhetorische Frage »¿Qué culpa tiene […]?«. Als gesunde Alternative zu diesem Bedrohungsszenario präsentiert der Text letztlich die vegetarische Kost, die positiv mit »tantas buenas plantas, frutas, raízes y yerbas muy frescas, salutíferas y olorosas«46 umschrieben wird, so dass er die binäre Opposition ›Fleischverzehr = Tod/Krankheit‹ vs. ›Pflanzenkost = Leben/Gesundheit‹ aufbaut. Insofern funktionalisiert El Crotalón den medizinischen und reli-

zwangsweise unterschiedliche Säfte und Blähungen bilden, die in weiterer Folge Krankheiten entstehen lassen« (Übers. d. Verf.). 44 Vgl. ebd., S. 119. 45 Ebd., S. 118. »Und nachher beklagen sich die Unglücklichen über ihre Natur, sagen, dass ihnen nur ein kurzes Leben zuteilwurde, welches bald zum Tode führt. Und sie sagen, dass die Ärzte nichts von Krankheiten verstehen und die Medizin nicht anwenden können. Dummköpfe! Einfältige! Aber welche Schuld trägt schon die Natur, wenn sie sich selbst zugrunde richten und sich mit so vielen giftigen Nahrungsmitteln und Gerichten umbringen« (Übers. d. Verf.). 46 Ebd.

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giösen Diskurs und deren existenzielle Bedeutung für die Bewerbung des Vegetarismus.47 Doch auch unabhängig von antiken Vorbildern entspinnen sich vegetaristische Stellungnahmen. Disputa de l’Ase von Anselm Turmeda, einem katalanischen Theologen des 15. Jahrhunderts, der häufig als Humanist avant la lettre bezeichnet worden ist,48 präsentiert eine Vollversammlung der Tierwelt, in deren Rahmen der menschliche Protagonist Anselm dazu gezwungen wird, mit einem Esel über das Verhältnis von Mensch und Tier zu diskutieren. In diesem Rahmen, in dem unterschiedliche Formen der Ausbeutung und Misshandlung von Tieren als anthropozentrische Egoismen enthüllt werden,49 findet sich auch eine Positionierung gegen den Konsum von Fleisch und Tierprodukten:

47 Es stellt sich selbstredend die Frage, inwiefern die besprochenen Texte, in ihrer Bezugnahme auf die antiken Schriften zum Vegetarismus nicht humoristisch-satirisch zu verstehen sind, zumal der Humanismus diesem Modus besonders zugeneigt ist (A. V. Herrero: La Batracomiomaquia y el Crotalón, S. 146). Die Tatsache allerdings, dass als Sprecher Tiere gewählt wurden, die in der damaligen Zeit durchwegs positiv konnotiert sind – die Ameise gilt als Vorbild an Fleiß und Tugendhaftigkeit, der Hahn ist als Nutztier überlebensnotwendig –, und nicht durch die Wahl eines unpopulären Tiers ein humoristischer Effekt gesucht wird, deutet darauf hin, dass die geäußerten Inhalte durchaus wörtlich gemeint sind. 48 Vgl. Colomer i Pous, Eusebi: El pensament als paisos catalans durant l’Edat mitjana i el renaixement, Barcelona: Institut d’Estudis Catalans i Publicaciones de l’Abadia 1997, S. 270. In Katalonien manifestiert sich ein humanistisches Denken aufgrund der stärkeren Außenorientierung dieses Reichs etwas früher als in Kastilien, es macht sich als intellektuelle Strömung dort bereits seit dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts bemerkbar (vgl. Mensa i Valls, Jaume: Introducción a la filosofía medieval, Barcelona: Universitat Autònoma 2012, S. 223). 49 Der Gestus der Dekonstruktion der menschlichen Superiorität und ihrer Verkehrung in ihr Gegenteil findet sich in allen drei besprochenen Werken. Dieser miseria hominis-Topos ist im humanistischen Kontext als skeptische Reaktion auf die optimistische Betonung der menschlichen Kreativität, Freiheit und Gottähnlichkeit der Renaissance zu verstehen (vgl. Tauber, Christine: »›Uomo universale‹ oder ›uomo virtuoso‹? Zum Menschenbild der Renaissance«, in: Dirk Ansorge/Dieter Geuenich et al. [Hg.], Wegmarken europäischer Zivilisation, Göttingen: Wallstein 2001, S. 178-203, hier: S. 190-191), welche die Idealisierung relativieren und ihren Umschlag in Hochmut verhindern soll (Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1994, S. 341). Tiere werden dabei präferenziell als Vergleichsfolie herangezogen, zumal sie in philosophischen Kontexten das Andere der menschlichen Superiorität darstellen und der desillusionierende Effekt somit besonders durchschlagend ist, wenn dargelegt wird, dass sie den Menschen in vielerlei Hinsicht überflü-

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»¿Haveu vist mai, frare Anselm, que alguns d’entre nosaltres, animals, beguin llet després que són deslletats, i que mamin més? En canvi la vostra glotonia i golafreria és tan gran que hom no la pot dir ni contar. Sou vells i mengeu llet. I encara, el que és pitjor, preneu els vedells, cabrits i anyells i els mateu, i després els escorxeu i els especegeu; fregiu llurs freixures i feu bollir llur carn dins l’olla, i la rostiu en presència de llurs pares i mares, amb els quals feu el mateix rostin-los en presència de llurs fills. I ells callen, i amb gran paciència sofreixen totes aquestes penes i crueltats. ¿On és, doncs, la pietat i la misericòrdia que vós dieu tenir dels animals?«50

Das Milchtrinken wird hier als Todsünde (»glotonia i golafreria«) und Barbarei (»crueltats«) bezeichnet, explizit kritisiert (»el que és pitjor«) und über die kleinschrittige Beschreibung der Tötung und Zubereitung der Tiere innerhalb eines langen, nur durch Semikolons und Kommata strukturierten und asyndetisch gereihten Satzes auch ikonisiert. Erneut wird folglich auf das klerikale Narrativ Bezug genommen, welches das Fleischessen als Abfall von den christlichen Tugenden konzeptualisiert und es negativ auflädt. Seine affektive Intensität erreicht der Abschnitt über die Semantik: Die Tiere sind mit Wörtern der Isotopie ›Familie‹ besetzt (»freixures«, »pares i mares«, »llurs fills«) und somit anthropomorphisiert, was die Mensch-Tier-Grenze verschwimmen lässt und die Kreatürlichkeit aller Lebewesen in den Blick rückt. Auch die Tatsache, dass zur Veranschaulichung der Brutalität Jungtiere (Kalb, Zicklein, Lamm) verwendet werden, die Wehrlosigkeit und Unschuld konnotieren, wirkt emotionalisierend. Diese Elemente bereiten den in der abschließenden rhetorischen Frage präsentierten Höhepunkt der Passage vor, die

geln (vgl. Buck, August: »Die Rangstellung des Menschen in der Renaissance. Dignitas et miseria hominis«, in: Archiv für Kulturgeschichte 42 [1960], S. 61-71). Diese Anlage (die moralisierende Absicht und die Thematisierung der Tiere) prädestiniert Texte, die den miseria hominis-Topos aufgreifen gleichsam auch für unkonventionelle tierethische Überlegungen, denen mindestens ein wahrer Kern eignet. 50 Turmeda, Anselm: Disputa de l’ase, Barcelona: Atenes 1928, S. 86-87. »Habt ihr, Bruder Anselm, jemals gesehen, dass welche von uns Tieren Milch trinken, nachdem sie abgestillt sind und keine Brust mehr bekommen? Eure Völlerei und Gefräßigkeit reicht hingegen so weit, dass man sie weder in Worte fassen, noch zählen kann. Ihr seid alt und verleibt euch Milch ein. Und was noch schlimmer ist, ihr nehmt die Kälber, Zicklein und Lämmer und tötet sie, und dann häutet und zerteilt ihr sie; ihr bratet ihre Brüder und lasst ihr Fleisch im Topf kochen, ihr röstet sie in Anwesenheit ihrer Väter und Mütter, die ihr wiederum in Anwesenheit ihrer Kinder röstet. Und sie schweigen und ertragen mit großer Geduld all dieses Leid und diese und Grausamkeiten. Wo ist denn das Mitleid und das Mitgefühl, das ihr angeblich gegenüber den Tieren habt?« (Übers. d. Verf.).

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explizite Anklage des Menschen wegen seiner fehlenden Empathie, die zugleich implizit auf karnistische Invisibilisierungsstrategien anspricht.

FAZIT Im Spanien des 16. Jahrhunderts bildet der Humanismus denjenigen kulturellen Ort, an dem vegetaristische Positionierungen florieren. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass das humanistisch geprägte Bürgertum vom adeligen Repräsentationsdruck ebenso wie von der materiellen Not des breiten Volks frei, als relativ neue Gesellschaftsschicht habituell noch nicht überprägt und somit für die Reflexion über die Ernährungsweisen offen ist, sondern auch darauf, dass es durch seine Bildung von antiken Schriften zu diesem Thema (namentlich von Plutarch, Pythagoras und Porphyrius) beeinflusst ist. Die Stellungnahmen verfolgen allesamt die Strategie, sich medizinische, soziale, klerikale und philosophische Positionierungen zum Fleischverzehr anzueignen und für ihr Vorhaben zu funktionalisieren. Sie werben für die pflanzliche Ernährung, indem sie aversive Reize setzen, den Fleischkonsum als gesundheitsgefährdend, unzivilisiert und unmoralisch inszenieren, und die menschliche Superiorität als Ideologem entlarven. Dieser anthropozentrische Gestus stellt allerdings nicht das genuine Movens der Texte dar, sondern ist vielmehr als rhetorischer Kniff zu verstehen, der drei Ziele verfolgt haben mag: Erstens mag die Bezugnahme auf die zentralen Werte der spanischen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts bei der gebildeten Leserschaft Interesse für das wenig präsente Thema des Vegetarismus geweckt haben; zweitens kann über sie eine Emotionalisierung intendiert gewesen sein, die nicht zuletzt auch der Indifferenz der karnistischen Ideologie zuwider läuft; drittens eignen sich speziell der religiöse und der soziale Diskurs dazu, die Themen ›Moral‹ und ›Tiere‹ miteinander in Verbindung zu bringen. Dieser Dreiklang aus Interesse, Emotion und Moral legt nahe, dass eine pathozentrische Haltung am Ausgangspunkt der Schriften steht, was zum Schluss in Disputa de l’Ase angeklungen ist, als vom Mitleid als Schüsselkompetenz im Umgang mit Tieren die Rede war; und es wird auch deutlich, wenn man El Crótalon noch einmal kurz in den Blick nimmt: Der Dialog endet damit, dass der sprechende Hahn von den Nachbarinnen des Besitzers in dessen Abwesenheit geschlachtet, gebraten und verspeist wird, woraufhin Miçilo in tiefe Traurigkeit versinkt. Diese Reaktion verstehen die Frauen ebenso wenig wie sein bester Freund, der ihm rät, einfach ein neues Huhn zu kaufen. Mit diesem Ausgang suggeriert El Crótalon, dass die moralische Akzeptanz des Fleischkonsums sich nicht von selbst versteht, sondern vielmehr von der Bereitschaft abhängt, sich auf das Tier einzulassen und diesem einen Wert zuzugestehen. Während diejenigen, die im Hahn lediglich ein opulentes Mahl sehen, die Schlachtung für unproblematisch halten, bedeutet sie für Miçilo, der sich im Dialog intellektuell und affektiv auf diesen eingelassen hat, einen unwieder-

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bringlichen Verlust. Er hat mit dem Hahn keinen Gebrauchsgegenstand, sondern einen Freund verloren.

Rosa Hase: Bildende Kunst und tiersensible Didaktik Ana Dimke

ÄSTHETIK, EMPATHIE UND EIN KUNSTWERK In der Ästhetik von Kuscheltieren spiegeln sich kulturelle Vorstellungen von Empathie und Zärtlichkeit wider. Aus der bereits in der frühen Kindheit forcierten emotionalen Nähe zu den Plüschgefährten scheint sich jedoch keine nachhaltige, ethische Sensibilität gegenüber anderen Lebewesen zu bilden. Im Gegenteil: die Dissonanz im Mensch-Tier-Verhältnis wird weiter durchlebt und tradiert. In der bildenden Kunst sind und waren Tiere stets präsent. Über die künstlerische Vergegenwärtigung und Rezeption ein tierethisches Bewusstsein zu fördern, ist eine kunstpädagogische Aufgabe, die hier ausgehend vom Kunstwerk »Hase« (Gelitin, 2005) angenommen werden soll. »Hase« von Gelitin

Quelle: gelitin.net: Hase / Rabbit / Conigilo, 2005

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Auf einer Alm im italienischen Piemont liegt ein riesiger Hase mit ausgebreiteten Armen, gestreckten Beinen und aufgerissenem Mund. In einer Länge von 65 Metern und bis zu 6 Meter Höhe besteht seine Oberfläche vorwiegend aus rosafarbenem gestrickten Stoff. Das darunterliegende Drahtgebilde ist mit Stroh gefüllt. Die Wiener Künstlergruppe Gelitin installiert dieses Werk 2005 auf dem italienischen Berg Colletto Fava:1 »Eine Skulptur von so beängstigenden Ausmaßen und so kindlichem Gemüt, dass sie nur von wahrlich abgedrehten Geistern erdacht worden sein kann.«2 Die Hasengestalt darf beklettert, zum Ausruhen oder Spielen benutzt werden. Dem künstlerischen Konzept zufolge sollen sich die Rezipierenden so klein fühlen, wie »sich ein Liliputaner beim Anblick von Gulliver gefühlt haben mag.«3 Mittlerweile ist der Stoff ausgeblichen und zerfetzt, die Strohfüllung herausgetreten und abgetragen. Die Drahtkonstruktion tritt nun sichtbar hervor und die Ausgangsgestalt ist 2017 kaum noch zu erkennen. Die Haltbarkeit war wegen der anzunehmenden Witterungseinflüsse und tierlichen Teilnahme am Projekt, beispielsweise durch weidende Kühe und Schafe oder Vögel, ohnehin nur auf 20 Jahre, also bis 2025, angelegt. In einem Beobachtungbericht von 2008 heißt es dazu: »Der Hase ernährt eine Menge anderer Lebensformen. Es wachsen schon Pilze und Gras aus ihm. Und eine Menge von diesem gelben Zeug tritt heraus. Es sieht aus, als hätte eine Puppe gekotzt. Vögel habe ich ihr Nest bauen sehen. Kühe wollen sich auf dem Stroh niederlassen. Je mehr es verrottet, umso mehr Wärme gibt das Stroh ab. Das zieht die Tiere im Winter an. Das schafft Winkel, in denen die Tiere geschützt sind. Es erhält die Feuchtigkeit zwischen den Beinen. Es gibt allen Tieren das Gefühl, zu Hause zu sein.« 4

Das Objekt sieht allerdings schon bereits bei seiner Entstehung abgenutzt und gebraucht aus, wie »ein gigantisches Kuscheltier, an dessen Zustand man den Grad der Zuneigung ablesen kann, die ihm sein kindlicher Besitzer in Form von physischer Beanspruchung entgegenbringt. Liebe kann eben zerstörerisch sein «,5 so der Kunsthistoriker Monte Packham.

1

http://www.gelitin.net/projects/hase/; https://www.youtube.com/watch?v=FXJu97ebz3E; siehe auch den Google Maps Link zum Standort: http://goo.gl/maps/cjv4X, letzter Abruf am 20.07.2018.

2

Packham, Monte: »Rabbit in the Headlights«, in: sleek magazine 11 (2006), S. 78-87.

3

Ebd., S.78.

4

In: Gelitin´s ach, Köln 2008. Deutsche Übersetzung zitiert nach: Messmer, Carmen: STUFFED – Stofftiere in der installativen Kunst, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2015, S. 120.

5

M. Packham: Rabbit in the Headlights, S. 78.

Rosa Hase: Bildende Kunst und tiersensible Didaktik | 121

Als künstlerisches Material haben sich Plüschtiere in den 80er Jahren etabliert. Ihre besondere Materialästhetik und Semantik treten insbesondere bei Werken von Künstlern wie Mike Kelly, Paul McCarthy und Annette Messenger hervor und werden von gesellschaftskritischen wie auch psychoanalytischen Interpretationen begleitet, die Kindheit und Missbrauch thematisieren. Der Gelitin-Hase fordert bereits durch seine materiellen Ausmaße komplexere kunstdidaktische Transferleistungen ein. Konträr zur Kuschelästhetik quillen aus ihm in geradezu hyper-realistischer Anmutung, wie bei einem grausam auf der Straße verunfallten Tier, die Eingeweide heraus. Die kletternden Kunstrezipierenden werden aus Gelitins Sicht zu kleinen Maden an wollenen Nieren und Gedärmen oder Larven, denen ein unschuldiger Kadaver am Straßenrand Flügel verleihe:6 »Der Grundstein für seinen Verfall ist dem Hasen schon in die Wiege gelegt worden, er ist praktisch als Leiche auf die Welt gekommen.«7 Was passiert mit diesem Riesenleichnam zum Kuscheln,8 wenn kunsttouristisch auf ihm herumgestiegen oder ausgeruht wird? Kommen mir da überhaupt getötete Tiere in den Sinn? Erinnert mich seine rosafarbene Haut an die brutale Tierquälerei an Angora-Kaninchen und der aufgerissene Mund an ihre Schmerzensschreie? Nehme ich etwas außer mir bzw. mich selbst bei der Benutzung des Riesen wahr? Zumindest nehme ich aus der Vogelperspektive betrachtet, offensichtlich durch mein antizipiertes Verhalten, die von den Künstlern konzipierte Rolle ein. Dem Hasen wird als touristische Attraktion in den ersten Jahren nicht nur viel Aufmerksamkeit geschenkt, durch ihre Partizipation werden Schulklassen mit Malwettbewerben und andere Wandersleute darüber hinaus Teil der Environmental-Art, die sich nach und nach in der Landschaft auflöst und von der Natur überdeckt wird. Die Kuschelskulptur nimmt somit eine performative Funktion als Kommunikationsmedium ein. Durch eine Relationsverschiebung wird die anthropozentrische Perspektive problematisiert, denn die Rezipierenden werden im Verhältnis zum Objekt quasi auf eine kleinere Tiergröße geschrumpft, – auch wenn Gelitins Intention vieldeutig bleibt, da sie nach dem nicht weiter hinterfragbaren künstlerischen Konzept des »Einfach-nur-so« arbeitet.9

6

Gelitin press release for the inauguration 2005: Gelitin’s ach. Köln 2008.

7

M. Packham: Rabbit in the Headlights, S. 78.

8

Kahn, Meredith: »Big, Dead, Rotting, Silly Rabbit«, in: The New York Times vom 06.11.2005; Lissoni, Andrea: »Incontro Ravicinato«, in: Rolling Stone Magazine, Oktober 2005; Romano, Cristina: »Gelatin: ›Hase‹«, in: Domus 885 (2005), S. 141.

9

M. Packham, Monte: Rabbit in the Headlights, S. 81.

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SYMBOL, SPEZIES UND EINE KOMMERZIELLE FIGUR Wie schon Susan Davis und Margo DeMello in Stories Rabbits tell zeigen,10 ist der Hase zur kultursoziologischen tiersensiblen Analyse besonders geeignet, da er wohl, als Symbol für Fruchtbarkeit und Sexualität, welches ebenso für Reinheit und Kindheit steht, eines der uns am besten bekannten Tiere ist. In den Mythen ist der Hase ein weitverbreitetes Motiv, in Kunstsammlungen global vertreten und als Ikone der Pop-Kultur in verschiedener Gestalt berühmt geworden. Zynischerweise ist der Hase bzw. das Kaninchen aber auch diejenige Spezies, der besonders ambivalent begegnet wird, welche in unserer Kultur eben nicht nur als Wildtier geschützt, sondern ebenso als sogenannte Plage verfolgt wird, welche einerseits als ComicHeld verehrt, andererseits für Kuschelzwecke missbraucht und für kommerzielle Zwecke getötet und gequält wird.11 Den Stereotypen setzen Davis und de Mello eine Analyse des Verhaltens vom Hasen entgegen, mit der sie einen grundlegenden Beitrag zum tierethischen Diskurs über das Bewusstsein von Tieren und über deren Ausbeutung leisten.12 In diesem Kontext ist an das Schicksal besagter »Kinderzimmerkaninchen« zu erinnern. Gerade an ihnen ist beobachtbar, wie eine NichtBeachtung von Bedürfnissen anderer Lebewesen mit Kindern trainiert wird: Beginnend bei der Störung des Tagesrhythmus der Dämmerungsaktiven bis hin zu deren panischen Angstzuständen und dem damit verbundenen Leiden beim Greifen und Hochnehmen durch das Kind. Dem notwendigen achtsamen Umgang steht zuweilen der Wunsch vieler Kinder nach einem »eigenen Tier« entgegen, welcher durch die gängige Auffassung unterstützt wird, dass die Freizeitbeschäftigung von Kindern mit einem nicht-menschlichen Tier eine Stärkung von deren Verantwortungsgefühl und Sozialkompetenz mit sich bringe. Eine Verwechslung, die in Missbrauch mündet, wenn an die Stelle des strapazierfähigen Stoffgefährten ein lebendiges Wesen rückt, welches lediglich zum Kuscheln und Spielen dient, wie es sich historisch über das aufkommende Bürgertum in den Haushalten etabliert hat. In der Rangliste der Lieblings-Kuscheltiere nimmt der Hase, natürlich weitab-

10 Davis, Susan/DeMello, Margo: Stories Rabbits Tell: A Natural and Cultural History of a Misunderstood Creature, New York: Lantern Books 2003. 11 Im Folgenden unterscheide ich nicht zwischen Kaninchen und Hase, wie man es bereits detailliert im Sachkunde-Unterricht der Grundschule lernen kann, sondern meine die Familie der Hasen. 12 Siehe dazu auch: Wibbecke, Anna-Lena: Tier-Mensch-Pädagogik. Analyse einer Integration von Tierrechten in die Pädagogik, Wiesbaden: Springer VS 2013.

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geschlagen vom Teddy, neben dem Hund einen der vorderen Plätze ein. 13 Kontrastierend zu der künstlerischen Arbeit von Gelitin soll im Folgenden die Entwicklung und Markteinführung der Figur des rosa Hasen in Die Sendung mit der Maus bzw. in der davon abgeleiteten Sendung mit dem Elefanten für Kindergartenkinder, herangezogen werden. Neben der ästhetischen Perspektive von Kindern lässt sich hieran das Interesse der Produzenten für Kinderprodukte aufzeigen. In einer Studie des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) wird detaillierter nachvollziehbar,14 wie eine Figur entwickelt wird, die auf die Zustimmung des Kinderpublikums stoßen soll. Hintergrund ist der Bildungsauftrag, den die Kindersendung mit ihren »Lach- und Sachgeschichten« im deutschen Fernsehen durchaus hat. In der qualitativen IZI-Studie werden den Kindern zunächst verschiedene Hasentypen in Kuscheltierformat vorgestellt, um zu ermitteln, welche Figur ein großes Geschwister für den »blauen Elefanten« sein könnte. Für die Kinder scheint ein überdeutliches Kindchen-Schema bei der Kopfgröße nicht weiter relevant zu sein, aber auf Grund der bereits vorbestimmten Farbe Rosa vermuteten zwei Drittel der Mädchen, dass der Hase weiblich sei. Die Gruppe der Jungen ist hingegen nicht eindeutig entschieden. Im Ergebnis ist es bei einer Deutungsoffenheit bei der Geschlechtszugehörigkeit der Figur geblieben, um eine Rezeptionseinschränkung zu vermeiden. Bei den Fragen zur konkreten Gestalt werden von den Kindern bspw. lange Ohren bevorzugt, weil sie diese mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnen: von »gut hören«, über »rudern« bis zu »Verstecken spielen«, weil er die »Ohren über die Augen legen« kann. Die Farbauswahl Rosa wird von der 45 Kinder umfassenden Referenzgruppe als zum Blau des Elefanten passend empfunden. Um den Handlungsmustern der neuen Hasenfigur auf die Spur zu kommen, wird durch Videoanalyse des freien Spiels der Kinder mit Elefanten- und Hasen-Tonfiguren festgestellt, dass die Aktionen Bewegung und Kooperation, zentral seien, besonders ersichtlich an einer hohen Hüpfbewegung. Aggressivität oder Konkurrenz kämen, bis auf eine Ausnahme, zwischen den beiden Figuren nicht vor. Aus tiersensibler Perspektive kann hier zunächst festgehalten werden, dass Kinder zumindest ein Grundmuster der Bewegung von Hasen kennen und beim Hineinphantasieren in die

13 Holler, Andrea/Götz, Maya: Nicht ohne meinen Teddy! Die Gefährten der Kindheit. Eine Kooperationsstudie der Stiftung »Chancen für Kinder durch Spielen« und des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) 2011, S. 5, 24. 14 Götz, Maya/Bachmann, Sabrina et al.: Der rosa Hase im Kindertest. Die Sicht der Forschung auf die neue Figur für die Sendung mit dem Elefanten. In: TELEVZION 20 (2007) 2, 62-63.; Vgl. ebd.: Eine Kooperationsstudie zur Entwicklung und Akzeptanz einer neuen Figur in der Sendung mit dem Elefanten. Unveröffentl. Forschungsbericht. München: Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) 2007.

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nichtmenschlichen Tiere ein ausgeglichenes, kooperatives Spielverhalten zeigen. 15 Die ästhetischen Vorstellungen zur Entwicklung einer medialen Zeichentrickfigur werden jedoch nicht von einer tatsächlichen Tiergestalt sondern bereits von Kuschelobjekten abgeleitet. Herauskommen soll eben ein Merchandising-Produkt. Besonders die Farbe Rosa mag hier für die Künstlichkeit stehen, die letztlich in die bekannte »Disneyfizierung« mündet. Kuscheltiere werden seit ca. 130 Jahren für einen stetig wachsenden Markt hergestellt.16 Durch Miniaturisierung, Verniedlichung, Infantilisierung, Entsexualisierung von nichtmenschlichen Tieren bannen sie einerseits deren potentielle Gefährlichkeit, andererseits wird ein Identifikationsangebot bereit gestellt an tierlicher Kraft, Schönheit und Intelligenz etc. teilzuhaben.17 In einem Gedankensprung führt dies zu der weiterführenden Frage, ob Kuscheltiere möglicherweise das Mitgefühl für nichtmenschliche Tiere absorbierend in eine Phantasiewelt verbannen.

MITGEFÜHL ALS PHANTASIE Anknüpfend an Melanie Joys sozialpsychologische Analyse des Glaubenssystems bzw. der Ideologie des »Karnismus«,18 wird über das Kuscheltier das Problem der »kollektiven Dissoziation«, im Sinne eines systematischen Unempfindlichgemacht-werdens, erneut aufgeworfen.19 Apathie versus Empathie wird in Bildungsprozessen bedeutsam, wenn sich die psychische Betäubung in Bezug auf die Wahrnehmungsfähigkeit von Leiden auf eine Ideologie zurückführen lässt, denn dann ist auch die zugrundeliegende Pädagogik, die die moralischen, persönlichen Entscheidungen kulturell, traditionell überformt und ästhetische wie ethische Vorstellungen hervorruft, systematisch zu analysieren und zu kritisieren. Die Wahrnehmungsverzerrung führt Joy auf das »Kognitive Trio«: Verdinglichung, Entindividualisierung und Dichotomisierung zurück.20 Bezogen auf das Kuscheltier scheinen aber geradezu gegenläufige Mechanismen zu wirken, nämlich die Beseelung eines Objektes und dessen Individualisierung. Lässt sich daraus folgern, dass in der ästhetischen Kultur des Kuschelns ein Objekt zur Stillung eigener Bedürfnisse un-

15 M. Götz/S. Bachmann et al.: Eine Kooperationsstudie, S. 62f. 16 Fooken, Insa: Puppen – heimliche Menschenflüsterer: Ihre Wiederentdeckung als Spielzeug und Kulturgut. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 75. 17 Ebd., S. 50. 18 Joy, Melanie: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus – eine Einführung. Münster: compassion media, 2017 S. 19. 19 Ebd., S. 159. 20 Ebd., S. 132.

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terworfen wird und eine Apathie begünstigt, die, wie bei der Sentimentalität, in Grausamkeit übergehen kann? Oder ist nicht doch eher im Gegenteil davon auszugehen, dass am Stofftier die Empathiefähigkeit, andere Lebewesen zu erkennen und zu verstehen, kulturell eingeübt wird? Gleichwohl, ob es sich um die »Einfühlung« Freuds, »Emotionale Sensitivität« oder »Theory of Mind« handelt, als Grundlage für die Entwicklung von Empathie wird die Qualität der Selbstwahrnehmung angesehen, salopp formuliert: je offener man für eigene Gefühle ist, desto besser können die anderer gedeutet werden. Das Kuschelobjekt könnte demnach als ein emotionales wie kognitives Kommunikationsmedium betrachtet werden. Als Grundlage für solche psychischen Vorgänge wird häufig das Konzept des Übergangsobjekts nach Donald. W. Winnicott herangezogen. Als Übergangsobjekt wird dabei ein vom Kind gewählter, stets nah bei sich gehaltener Gegenstand bezeichnet, über welchen anfangs situative Trennungen von der Mutter kompensiert werden und der in der weiteren Entwicklung eine emotional stabilisierende Funktion einnimmt. Dieses Objekt wird zumeist liebevoll behandelt aber auch rücksichtslos verändert. In spielerischer Ambivalenz kann es statt Liebe auch Hass auf sich ziehen. Mit zunehmendem Alter nimmt es in seiner Bedeutungsfunktion ab und wird oftmals sogar ganz vergessen. Obwohl Winnicott bspw. den Umgang eines Mädchen mit dessen Teddy sehr ausführlich schildert,21 und in seiner Einführung zu »Playing and Reality« ausdrücklich »Winnie the Pooh« dankt, stellt er gleichzeitig klar, dass er sich nicht für den Teddy selbst interessiert, sondern nur für dessen Benutzung.22 Das Objekt wird von ihm nur in Hinblick auf die Affektregulierung und den intermediären Beziehungsraum betrachtet. Wie innig die Beziehung zu einem Plüschtier über die Benutzung hinaus sein kann, belegen zahlreiche alltägliche Beobachtungen aus dem Kindergarten- bzw. Krippenmilieu. Die titelgebende Szene des Romans Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, als ein Standardwerk des deutschen Schulunterrichts, mag hier für diese kindliche Perspektive stehen. Die Protagonistin Anna lässt ihr langjähriges Stofftier bei der Flucht vor den Nazis für ein neueres zurück. Ihre Hoffnung, es könne später in das Schweizer Exil nachgesendet werden, wird enttäuscht: 23 »Anna versuchte es sich vorzustellen. Das Klavier war weg [...] alle Spielsachen auch das rosa Kaninchen. Es hatte schwarze, aufgestickte Augen – die Glasaugen waren schon vor Jahren rausgefallen- und es sackte so reizend zusammen, wenn man es auf die Pfoten stellte. Das Fell war, obgleich verwaschen rosa, so weich und vertraut gewesen. Warum hatte sie nur statt

21 Winnicott, D.W.: Playing and Reality, Harmondsworth: Penguin Books 1971, S. 49. 22 Ebd., introduction xii. 23 Kerr, Judith: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag 1980, S. 33.

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ihres lieben rosa Kaninchens diesen blöden Wollhund mitgenommen. Das war ein arger Fehler gewesen und sie würde ihn nie wiedergutmachen können.«

Im Weiteren vermutet sie, dass nun Hitler ihr »Rosa Kaninchen lieb« habe.24 Die besondere Qualität eines Kuscheltieres liegt in seiner fellartigen, weichen, warmen, haptisch angenehmen Stofflichkeit. Die Gestalt ist eher am Kindchen-Schema orientiert, wobei die jeweilige Anmutung jedoch individuell sehr unterschiedlich seinkann. Hinsichtlich seiner Größe ist es oftmals klein und sein materieller Zustand häufig abgenutzt. Nur selten spielt ein materieller Prestigewert eine Rolle. Darüber hinaus können persönliche Kuscheltiere nicht einfach wie andere Gebrauchsgegenstände entsorgt werden. Über ihre Handhabbarkeit und Manipulierbarkeit durch das Kind nehmen sie häufig eine Partnerfunktion bei Rollenspielen ein, die als Übungssituation für das Herstellen und Erhalten von Beziehungen gesehen werden können. Besonders herauszustellen ist hier die »Überlegenheit« von Kuscheltieren gegenüber erwachsenen Personen im Kommunikationsprozess mit Kindern. Dies lässt sich auf ihre palliativ-beruhigende Funktion als ko-konstruierter »aktiver« Beschützer und Tröster zurückführen.25 Ein Schmusetier ist in diesem Sinn kein »normales Spielzeug« sondern ein »Freund aus Plüsch«, was in existenziellen Situationen über die Grenze des Spiels hinausführen kann.26 Die Phantasiefreundschaft zu einem imaginären Gefährten unterstütze, so Insa Fooken, die Entwicklung von Bindungsfähigkeit und Empathie: »Durch die Beziehung zu diesem Fantasiefreund entwickeln Kinder Mitgefühl und Verständnis für andere. [...] Zudem fördern die Gespräche die Kommunikations- und Reflexionsfähigkeit. [...] Dabei spiegeln Fantasiefreundschaften in vielerlei Hinsicht die Qualitäten realer Freundschaften wider – es geht um emotionale Nähe, Hilfsbereitschaft, gegenseitige Achtung, Unterstützung usw.«27

24 Ebd., S. 59. 25 I. Fooken: Puppen, S. 52. 26 Wesentliche, sich dabei dem Objekt selbst annähernde, psychologische Aspekte zum Phänomen Kuscheltier stellt Mechthild Seithe vor und wirft dazu aus tiersensibler Sicht die ambivalente Frage auf, ob es vielleicht darum ginge, dass heutige Kinder kaum noch Erfahrungen mit echten Tieren machen können und sie deshalb mit einem Ersatz Vorlieb nehmen müssen. Siehe: Seithe, Mechthild: Das Kuscheltier. Einführende Hypothesen und Gedanken 2010 (http://daskuscheltier.de/im-blick-der-wissenschaften/, letzter Abruf am 15.03.2018). 27 I. Fooken: Puppen, S. 132.

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Als gleichzeitige Beziehungs-, Kommunikations- wie Identifikationsobjekte, repräsentieren die Nachbildungen konkreter Tiere immer auch bestimmte tierliche Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen sich identifiziert oder wie in einem Gegenüber auseinandergesetzt wird. Gleichzeitig werden menschliche Eigenschaften übertragen, in dem »das Ich« mit sich selbst spielt. Bei dieser mensch-tierlichen Vermischung könnte von einer Mensch-Tier-Beziehung insofern gesprochen werden, als das bei einer »Freundschaft mit einem Kuscheltier« die Struktur und der emotionale Austausch einer Tier-Mensch-Interaktion spielerisch erlebt werden kann.28 Interessant erscheint hierbei die Überwindung der sprachlichen Grenzen, die dem Kind mit dem Kuscheltier einfühlend phantasierend gelingt. 29 Da Kuscheltiere meist Nachbildungen von juvenilen Tieren sind, kann eine beschützende, pflegende Haltung eingenommen werden. Darüber hinaus kann durch zärtliche, streichelnde oder liebkosende Berührungen mit dem Stofftier interagiert werden und mit ihm das Bedürfnis nach Wärme und Nähe gestillt werden, welches viele Tiere, menschliche wie nicht-menschliche, gleichermaßen haben. Die Anthropomorphisierung von Kuscheltieren als personales Gegenüber kann zu engen Beziehungen führen, die geradezu einen intimen und lebensnotwendigen Charakter annehmen können. Eine andere Realitätsebene wird aufgemacht, wenn sich ein Erwachsener in ein Kuscheltier hineinversetzt und sich diesem geradezu anverwandelt. Der aktuelle »Furry«-Kult scheint sich dabei unweit vom Klischee des freudschen »Fetischismus« (1927) zu bewegen.30 Auf internationalen Events werden bspw. Cartoon-Figuren mit anthropomorphem Habitus wie Roger Rabbit oder Bugs Bunny, als Vertreter aus der Hasenfamilie, in sehr aufwendigen, teilweise selbst gefertigten Ganzkörper-Anzügen aus Kunstfell belebt. Die aufrechtgehenden Gestalten vereinen menschliche und tierliche Merkmale und Verhaltensweisen, besonders letzteres wird detailliert nachgeahmt.31 »Wichtiger als Tierliebe«, die ins

28 M. Seithe: Das Kuscheltier. 29 Um ein Verständnis für diese Beziehung zu erlangen, folge ich hier dem Vorschlag, eine Vermenschlichung von Tieren im Hinblick auf die Verbesserung des Verständnisses bewusst zuzulassen. Siehe: Brensing, Karsten: Das Mysterium der Tiere. Was sie denken, was sie fühlen, Berlin: Aufbau Verlag 2017. 30 Was in Hinblick auf die traumatische Amnesie und die Behandlung des Fetischs zwischen Zärtlichkeit und Feindseligkeit genauer und kritischer betrachtet werden müsste. Siehe: Freud, Siegmund: »Fetischismus«, in: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1925-1931, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 1999, S. 311-317. 31 Den Hintergrund für eigene Phantasien zum Menschlichen in Tiergestalt bilden Fabelwesen, Kinderbücher und Zeichentrickfilme. Siehe dazu: Garrelts, Nantke: »Menschen in Ganzkörper-Flauschanzügen zeigen, was sie können. Menschen in Tierkostümen: Mehrere tausend Furries treffen sich derzeit zur ›Eurofurence‹ in Berlin«, in: Tagespiegel vom

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Sexualisierte kippen kann, ist den meisten »Furries« allerdings »die Ästhetik ihrer Charaktere und die Lust am Rollenspiel.«32 Offen bleibt an dieser Stelle, ob dies einem gestiegenen Bedürfnis nach Anthropomorphisierung im Sinne eines archaischen Erlebens entspringt, indem einem Wunsch zur Regression oder einer Infantilisierung der realen wie virtuellen Lebenswelten nachgegeben wird.33 Weitere Erkenntnisse zur Empathisierung mit Stofftieren können aus anderen Kulturen gewonnen werden, wie bspw. dem Shintoismus, der animistischen Religion Japans, in der alles Existierende als beseelt aufgefasst wird.

PLÜSCHTIERSKULPTUREN IM KUNSTUNTERRICHT Die »emotionalen Schwämme«, die manchmal auch noch im Erwachsenenalter als Bettgenossen dienen und nicht aus dem Stadium des Übergangsobjekts herausgelassen werden, spielen auch im Werk des amerikanischen Künstlers Mike Kelley eine zentrale Rolle.34 »Neben der Thematik des Infantilen benutzt Kelley auch die enorme Aufladung der Objekte durch die in sie hineingelegten Emotionen. Die Objekte sind wie Schwämme, die die in sie investierten Gefühle schweigsam mit passiven Kuscheleinheiten zurückgeben. Keineswegs verwöhnen uns diese Puppen mit Geborgenheit, Nähe und Zärtlichkeit. Wir verwöhnen uns selbst, indem wir die Puppe als vermittelndes Objekt einsetzen. Diese die Empathie provozierende Qualität, ist ein anderer Themenbereich, den Kelly, selbst von der Macht dieser Puppen überrascht, in den nächsten Jahren in verschiedenen methodischen Untersuchungen variiert.«35

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(http://www.tagesspiegel.de/berlin/furry-konferenz-in-berlin-menschen-in-

ganzkoerper-flauschanzuegen-zeigen-was-sie-koennen/20197842.html, letzter Abruf am 20.11.2017). 32 Werner, Christian: »Och sind die süüüüß!«, in: Die Zeit vom 03.09.2008 (http://www.zeit.de/zuender/2008/36/furry-eurofurence-horrorfurence/seite-2, letzter Abruf am 20.11.2017). 33 I. Fooken: Puppen, S. 81. 34 Kelley, Mike: Two Projects »Sublevel: Dim Recollection by Multicolored Swamp Gas« »Deodorized Central Mass with Satellites«. Kunstverein Braunschweig, Köln: König 1999. 35 Schuhmacher, Rainald: »Der Hausmeister im Haushalt unseres Seelenlebens. Notizen zu Mike Kelly«, in: Ingvild Goetz/Karsten Löckemann et al. (Hg.), Mike Kelley. Sammlung Goetz 2008, München: Kunstverlag Ingvild Goetz 2008, S. 19 f.

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Das magische Denken bzw. die kindlichen animistischen Denkstrukturen der Zweibis Sieben-Jährigen erscheinen hier für das tiefere Verständnis,36 gerade weil Piagets Annahmen mittlerweile wiederlegt sind, dass eine Unfähigkeit zu kausalem Denken oder ein Wissensdefizit der Kinder zum magisch-animistischen Denken führt,37 für kunstpädagogische Überlegungen bedeutend. Denn das Potential des ausgeprägten Phantasierens, als besondere kognitive Fähigkeit, die mit zunehmenden Alter zumeist mehr und mehr verloren geht, befähigt Kinder dazu »in schwierigen, unklaren oder undurchschaubaren Situationen kreative Lösungen zu finden.«38 Wie sich ältere etwa 14-jährige Schülerinnen und Schülern einem Kunstwerk zu diesem Thema annähern, zeigen einige Äußerungen zu einer Plüschtierskulptur von Mike Kelly:39 »Die sind ja fast schon eklig, so schmutzig – die will doch keiner mehr im Bett haben... – Die strahlen Totenstille aus. – Nein, ich höre sie jammern, ganz gequält klingt das. – Sie sind nur noch eine einzige Masse, so stelle ich mir ein Massengrab vor. – Sie so da hängen zu sehen, bereitet richtig Schmerzen, die sind so gequetscht. – Ich weiß nicht, aber die erinnern mich irgendwie daran, was ich manchmal aus Spaß mit meinen Teddys angestellt habe. – Hast du Deine Kuscheltiere nicht geliebt? Doch, schon... manchmal hatte ich einfach Lust, gemein zu sein.«40

36 Piaget, Jean: La represéntation du monde chez les enfants, 1926, Paris: Presses Universitaires de France, 2013. 37 Mähler, Claudia: »Die Entwicklung des magischen Denkens«, in: Titus Guldimann/ Bernhard Hauser (Hg.), Bildung 4- bis 8-jähriger Kinder. Münster: Waxmann 2005, S. 29-40. 38 C. Mähler: Die Entwicklung des magischen Denkens, S. 39. 39 Mike Kelley, 1954 geboren und aufgewachsen in Detroit, verwendet oftmals in der westlichen Kunst marginalisierte Materialien, durch die scheinbar feste Ordnungen in Frage gestellt werden: »Zweitklassiges, seltsame Comics, Erotika, Bilder von Halbstarken« (https://www.pinakothek.de/kunst/meisterwerk/mike-kelley/dialogue-3, letzter Abruf am 20.07.2018). 40 »24 Schüler einer 8. Klasse/Gymnasium begegnen in einer Ausstellung für zeitgenössische Kunst einer der typischen Plüsch-Tier-Installationen des Künstlers Mike Kelley. Ihre Wahrnehmung ist durch vorangegangene Übungen und Erfahrungen bereits so geschult, dass sie auf Irritationen im Kontext Kunst vorbereitet sind. Dennoch ist anfänglich die Bestürzung groß. Deswegen nehmen sie die Aufforderung an, zunächst genau hin zu schauen.« Seumel, Ines: Rezeptionskompetenzen oder: Die Kunst, das Kunstaufnehmen zu erlernen. Universität Leipzig (http://www.kunstundaktion.de/wp-content/uploads/reze ptionskompetenz.pdf, letzter Abruf am 20.07.2018). Leider werden hier keine Angaben zum Kunstwerk, Ort, Jahr gemacht.

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Kellys raumgreifend, kugelförmig, vernähte Klumpen aus Stofftieren, sollen auf Erziehungsmuster in amerikanischen Mittelstandsfamilien verweisen.41 Die künstlerische Verwendung des ausgedienten oftmals verschmutzten Plüschtiers, kommentiert der Künstler selbst mit dem Hinweis, dass es sich um ein »Angst einflößendes Objekt, welches man letztlich beseitigen möchte«, handele. Es schwebe ambivalent zwischen Perfektion (sauber, knuddelig, geschlechtslos) und der Abnutzung durch Gebrauch (riechend, schäbig, schmutzig). 42 Die Stofftiere stehen dabei für die Vorstellungen von Erwachsenen, die versuchen sich in Kinder hineinzuversetzen. In diesen Produkten wird Kindheit imaginiert, wodurch eine Übertragung von Gefühlen evoziert werden soll, wie der Kunsthistoriker Rainald Schumacher herausarbeitet: »Mit dem Einsatz dieser gefundenen und abgenutzten Objekte begibt sich Kelley in den Bereich infantiler Regressionen, Illusionen und Fantasien. Die Stofftiere und Kuschelpuppen stehen weniger für eine Welt der Kinder [...]. Es ist der Erwachsene, der sich die kleinen, süßen Puppen und niedlichen, kuschligen Tiere erschafft, um sie an die Kinder weiterzugeben.«43

Was an allgemeinen Feststellungen zum Gegenstand »Kuscheltier« festzuhalten ist, bringen die oben erwähnten Schülerinnen und Schüler aus ihrem Erfahrungswissen selbst in den hier zitierten Kunstunterricht mit ein: »Kelley zeigt damit, dass die Erziehung irgendwann einmal zu Ende geht, in ein eigenes Leben übergeht, wo man keine Kuschelgegenstände mehr braucht. – Sie sind zusammengeschnürt, wie ein Stückchen Vergangenheit, das zwar aufbewahrt wird, aber jetzt nutzlos ist. – Die haben jetzt keinen Einfluss mehr auf einen, früher sollte ich auch immer fein essen, wie mein Teddy oder schön stille sitzen.«44

In der dazu im Kunstunterricht gemeinsam angefertigten Textcollage wird dies noch deutlicher:

41 Deodorized Central Mass With Satellites, 1991/99, Fiberglas, Autolack, Elektromaschine mit destilliertem Wasser und Saunaaufguß (Fichtennadel), gefundene Plüschtiere, angenäht an Holz- und Maschendrahtrahmen, mit Styropor-Verpackungsmaterial, Metallrahmen, Nylonseil, Flaschenzügen, Metall, hängende Stahlplatten, Foto je 215 x 50 x 43cm, Satellites verschiedene Maße, Jablonka Galerie, Köln 1999. 42 Rugoff, Ralph: »Schmutziges Spielzeug – Im Gespräch mit Mike Kelley«, in: Kellein, Thomas: MIKE KELLEY. Kunsthalle Basel: Stuttgart Edition Cantz 1992, S. 86. 43 R. Schuhmacher, Der Hausmeister im Haushalt unseres Seelenlebens, S. 19. 44 I. Seumel, Rezeptionskompetenzen.

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»Sie sehen irgendwie gruselig aus / Aus den Mündern hört man klägliche Schreie. – Schreie scheinen lautlos ungehört zu bleiben / Bleiben Kuscheltiere immer unsere Freunde? – Freundlich und lieb erscheinen sie nicht mehr / Nicht mehr Kind sein wollen und trotzdem etwas zum Kuscheln brauchen. – Brauchen Eltern Plüschtiere, um zu erziehen? / Erziehung zur Grausamkeit? – Grausamer Umgang mit Vergangenheit / ich habe meine Plüschis alle aufgehoben...«45

Neben der Beschreibung des Stofftiers, als Sinnbild der Kindheit und Allegorie der Geborgenheit und des Schutzbedürfnisses, erwähnen die Teenager auch pädagogische Aspekte, bspw. Vorbildwirkung, Erregung von Mitleid oder Vergangenheitsbewältigung. Darüber hinaus wird auf die Funktionalisierung oder Brutalität Bezug genommen und so die Ambivalenz im Umgang mit dem Objekt direkt angesprochen. Empathie findet hier durch eine Übertragung von Gefühlen auf ein Objekt statt, welche sich nicht nur auf menschliches Sozialverhalten beziehen lässt, sondern auch auf »elementaren Sehnsüchte«.46 Zur Einschätzung, welche Position das Kuscheltier in einer tiersensiblen ethischen Bildung einnehmen kann, führen Kelleys Arbeiten über innere, imaginierte Dialoge und »Hase« von Gelitin als äußere, faktische Konfrontationen zumindest näher an die Abspaltungen, Überdeckungen und die kulturell tradierte Dissonanz von Apathie und Empathie heran. Durch ihre Werke kann plastisch, visuell und taktil zur Sprache gebracht werden, was sonst nicht wahrgenommen oder verdrängt wird. Bewusst spare ich hier Beuys, der dem »toten Hasen die Bilder erklärt« und dafür bizarrerweise mit dessen Leiche wie im Puppenspiel hantiert, dies damit begründend, dass der Hase »ein Organ des Menschen« sei,47 aus – denn: Die kunstpädagogische Herausforderung besteht nicht darin, eine anthroposophische, künstlerische Perspektive zu verstehen, sondern über die Kunst weiter zu erforschen, wie sich emphatisches Verhalten entwickelt und wie es sich als nicht-determinierte Fähigkeit aus dem zwischenmenschlichen,48 sozialen Bereich auf die Beziehungen von menschlichen zu nichtmenschlichen Tieren aktiv übertragen lässt, um Leiden zu verhindern und die gemeinsamen Lebensverhältnisse besser zu gestalten.

45 Bei einer Textcollage wird eine Zeile oder mehr geschrieben und dies bis auf das letzte Wort verdeckt, welches als Impuls zum Weiterscheiben aufgenommen wird. 46 Ein Kuscheltier ist ein »Fenster zur Seele, zu den elementaren Sehnsüchten des Menschen.« Endesfelder, Ingrid E./Meier, Klaus H.: Puppen, Plüsch und Teddybären. Die Kuscheltiere der Erwachsenen, Berlin: Rütten & Loening 1995, S. 10. 47 Beuys, Joseph: Die Eröffnung, 1965, Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, Göttingen: Steidl 2011. 48 Gruen, Arno: Verrat am Selbst. Die Angst vor der Autonomie bei Mann und Frau, München: dtv Verlagsgesellschaft 1992, S. 24.

»Ahhhhh… – I lost my appetite« Zu Isabella Rossellinis Green Porno Denise Dumschat-Rehfeldt

WAS IST GREEN PORNO? Die 1952 geborene Isabella Rossellini gab mit der Kurzfilmserie Green Porno 2008/2009 ihr Drehbuch- und Regiedebüt. Die Serie entstand auf Anfrage Robert Redfords für das Programm The Green1 des Sundance Channel (heute: Sundance TV).2 Rossellini arbeitete für Green Porno u.a. mit dem Regisseur Jody Shapiro, den Bühnen- und Kostümbildnern Andy Byers und Rick Gilbert sowie dem Meeresbiologen Claudio Campagna zusammen. Am Anfang stand die Idee, Umweltthemen in einem Internet- und Smartphone-tauglichen Filmformat zu präsentieren.3 Rossellini, die 2007 am New Yorker Hunter College ein Studium in Animal Behavior aufgenommen hatte, nahm den Kurzfilmansatz als Fan von »KurzStummfilme[n] [à la] Georges Méliès, Charlie Chaplin [und] Buster Keaton« (GP 7)4 gern auf, verengte das weite Feld der Ökologie auf Tiere und setzte den

1

The Green wurde angekündigt als »a new weekly primetime destination focusing on environmental topics« (http://media.sundance.tv/UPLOADS/press/announcements/GREEN %20First%2013%20Weeks.pdf, letzter Abruf am 27.06.2018).

2

Sundance TV gehört zu Teilen Robert Redford und dem Medienkonzern AMC Networks (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Sundance_TV, letzter Abruf am 27.06.2018).

3

Mit Internetzugang in den USA kann es dort nach wie vor angesehen werden; in Deutschland ist der Zugriff auf die meisten der Filme derzeit bei Youtube möglich.

4

Zitate aus dem Bildband Green Porno werden mit der Sigle GP und der jeweiligen Seitenzahl nachgewiesen. Zugrunde gelegt ist die zweisprachige Ausgabe Rossellini, Isabella, Green Porno. Ein Bilderbuch und 18 Kurzfilme auf DVD, München: Schirmer/Mosel 2009, weil die Originalausgabe Rossellini, Isabella, Green Porno. A Book and Short Films, New York: Harper-Collins/HarperStudio 2009 unpaginiert ist.

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Schwerpunkt auf deren Sexualität. In den Kurzfilmen schlüpft sie jeweils in die Rollen von Tieren und führt vor, wie diese leben, über welche speziellen Fähigkeiten sie verfügen und insbesondere wie sie sich fortpflanzen. Dreimal vergeht Isabella Rossellini bzw. einer von ihr verkörperten Figur dabei der Appetit: nach den Eindrücken vom enormen Beifang bei der Shrimp-Fischerei, den Schilderungen der perfiden Methoden beim Tintenfischfang und den Informationen zum Bestände gefährdenden Abfischen ganzer Sardellenschwärme während der Paarung. Die Film- und Erzählkunst ist in dieser Serie verbunden mit der Vermittlung von Wissen über Tiere, mit tierethischen Implikationen und ökologischen Botschaften. Nicht zuletzt spiegeln die kleinen Szenen zu Verhaltensweisen und zum Sexualleben der ausgewählten Tierarten etwas von den menschlichen Tieren und lassen sich mit aktuellen gesellschaftlichen Diskursen und Entwicklungen rund um Fragen von Sexualität, sex und gender verknüpfen. Als die drei wesentlichen Ingredienzien für ihr Green Porno-Rezept nennt Isabella Rossellini: »kurze Geschichten, Tiere und Sex« (GP 8). Die erste Zutat – die Gattung Kurzfilm – ist der Medienanforderung, also der Internet- und SmartphoneTauglichkeit geschuldet: Die aufzurufende Datenmenge sollte überschaubar bleiben, die Rezeptionsschwelle hinsichtlich des zeitlichen Aufwands niedrig liegen 5 und das Gezeigte bei aller Komprimiertheit dennoch narrativ strukturiert sein. Bei der zweiten Zutat – den Tieren – fällt auf, dass Isabella Rossellini gerade nicht solche Arten ausgewählt hat, die typischerweise als niedlich erachtet werden oder für deren Bedrohtsein schon seit längerem ein öffentliches Bewusstsein vorhanden ist (Ausnahmen bilden hier die Biene und der Wal). Anstelle solcher Tiere also, die meist bessere Karten haben, wenn es um Aufmerksamkeit für ihren Schutz geht, handelt es sich in Green Porno meist eher um Underdogs in der Aufmerksamkeitshierarchie wie beispielsweise den Seestern (Starfish), den Seeteufel (Anglerfish), den Rankenfüßer (Barnacle), die Napfschnecke (Limpet) oder das Glühwürmchen (Firefly). Sie repräsentieren die wertvolle und schützenswerte Tierwelt, die das primäre Thema der Kurzfilmserie ist. Die dritte Zutat – der Sex – setzt den Effekt: Die spezifische Sexualität der vorgestellten Tiere soll die Vermittlung des Wissens über die Tiere und der öko- bzw. tierethischen Botschaften befördern. ›Sex sells‹ – er erregt Interesse, macht Lust, belustigt auch – d.h., er unterhält. So betrachtet, er-

5

Der zeitliche Umfang der insgesamt 18 Kurzfilme (acht Filme unter dem Titel If I were an insect…, zehn weitere unter If I were a marine animal...) liegt je zwischen etwas unter einer Minute und mehr als sechs Minuten: Drei sind nicht ganz 1 Minute lang, elf haben eine Länge zwischen 1 und 2 Minuten, drei weitere dauern länger als 2 Minuten und der Film zu den Seeelefanten (Elephant Seal) umfasst sogar mehr als 6 Minuten.

»Ahhhhh… – I lost my appetite« | 135

füllen diese kurzen Filme über Tiere und ihre Sexualität auch die traditionelle Anforderung von prodesse und delectare.6 Dies impliziert auch die besondere, bisweilen grotesk oder gar monströs erscheinende Gestaltung der Kostüme und Kulissen. Diese bestehen aus Papier, Pappe, Schaumstoff, Folien und dergleichen und muten ebenso spielerisch-einfach wie kunstvoll an, sind mal stark abstrahiert ausgeführt, mal sehr detailreich und entsprechen somit absolut nicht der Optik typischer Tierdokumentationen. Das Ganze wirkt mitunter wie ein dreidimensionales Bilderbuch oder ein Puppentheater. Wesentliche Merkmale der körperlichen Beschaffenheit der Tiere und ihres Lebensraums werden dennoch anhand der Ausstattung ersichtlich; 7 zugleich verleihen Kostüme und Kulissen in ihrer Machart den Kurzfilmen eine gemeinsame Formsprache, einen durchgehenden Stil, der wahrnehmbar ist, der auffällt, im günstigsten Fall gefällt, unterhält, affiziert. Auch wenn die Anfänge von Green Porno kaum zehn Jahre zurückliegen, hat das Projekt schon eine Geschichte. Zunächst entstanden Kurzfilme über die Fortpflanzung von Spinnen, Regenwürmern, Schnecken und fünf verschiedenen Insektenarten.8 Nachdem diese acht Videos millionenfach geklickt worden waren,9 fand die Serie ihre Fortsetzung mit Filmen zu neun Meerestieren 10 und einem Film zur Arten-Spezifik der Geschlechtsteile (mit dem Titel Why Vagina). In vier dieser Filme sind abweichend von den übrigen dokumentarisches Bild- und Filmmaterial so-

6

Vgl. auch Rossellinis Aussage: »The secret to GREEN PORNO is that they allow of us to laugh

but

they

also

communicate

true

scientific

(https://www.andfestival.org.uk/events/green-porno-isabella-rosellini/,

information[.]«

letzter

Abruf

am

27.06.2018) und das Konzept von The Green: »The destination is designed to be both edifying

and

entertaining«

(http://media.sundance.tv/UPLOADS/press/announcements/

GREEN%20First%2013%20Weeks.pdf, letzter Abruf am 27.06.2018). 7

Peterson konstatiert, dass gerade durch diese besondere Gestaltung die ›Tiernatur‹, das spezifisch Tierliche besser erfassbar werde als in vielen Tierdokus oder anthropomorphisierenden Disney-Versionen von Tieren (vgl. Peterson, Jennifer Lynn: »Green porno and the sex life of animals in the digital age«, in: Kristin Lené Hole/Dijana Jelača et al. [Hg.], The Routledge companion to cinema and gender, London/New York: Routledge 2017, S. 427-436, hier S. 431).

8

Auf der DVD werden diese Filme unter dem Hauptmenütitel If I were an Insect gelistet: »Insects… Dragonfly / Firefly / Spider / Fly / Snail / Bee / Mantis / Earthworm«.

9

Aktuelle Klickzahlen auf Youtube schwanken je nach bisheriger Verfügbarkeitsdauer des jeweiligen Films zwischen mehreren zehn- und hunderttausend Aufrufen.

10 Der Hauptmenütitel auf der DVD lautet dafür If I were a Marine Animal: »Marine life… Why Vagina / Whale / Starfish / Limpet / Anglerfish / Barnacle / Shrimp / Squid / Anchovy / Elephant Seal«.

136 | Denise Dumschat-Rehfeldt

wie kurze Expertenäußerungen des Meeresbiologen Claudio Campagna eingebunden. 2009 erschien ein Bildband mit Aufnahmen aus neun Filmen – namentlich aus allen über die Meerestiere außer den Seeelefanten und aus Why Vagina – und den (teilweise variierten) Texten daraus sowie mit vereinzelt hinzugesetzten Informationstexten zu Themen wie Beifang oder Überfischung. Diesem Bildband wurde eine DVD mit allen 18 Clips beigegeben. Im vorliegenden Beitrag wird es deshalb auch um die Umsetzung der Green Porno-Idee sowohl in den Filmen als auch im Buch gehen. Mit dem Bildband war die Geschichte des Projekts Green Porno aber noch nicht an ihr Ende gelangt. Im Juni 2013 nämlich startete Isabella Rossellini das erfolgreiche Bühnenprogramm Green Porno – Live on Stage. Die Uraufführung fand im Rahmen des Festivals Printemps des Comédiens in Montpellier11 unter dem anspielungsreichen Titel Un Bestiaire d’Amour statt. In der mehr als einstündigen one-woman show monologisiert Isabella Rossellini unter Zuhilfenahme kleinerer Requisiten und gelegentlicher Einspieler aus den Kurzfilmen über verschiedene Formen der Fortpflanzung im Tierreich, sexuelle Diversität und Mutterschaft. Der französische Titel des Bühnenprogramms Un Bestiaire d’Amour zitiert Richard de Fournivals (auch Richart de Fornival, 1201-vermutl. 1260) literarisches Hauptwerk Le Bestiaire d’Amour (um 1250). Dadurch wird das Projekt Green Porno in den Kontext der Tradition von Bestiarien gerückt, die auf den vermutlich im 2. Jahrhundert n. Chr. entstandenen12 Physiologus (auch Physiologos) zurückgehen. In diesem Tierbuch, das u.a. von antiken Wundergeschichten, naturparadoxen Schriften, dem Alten und dem Neuen Testament beeinflusst ist, wird Naturbetrachtung mit religliös-moralischer Symbolik und Allegorik verknüpft. Es handelt vorrangig von Tieren, aber auch einigen Fabelwesen (u.a. dem Phönix und den Sirenen), Bäumen und Steinen, die – vergleichbar der Bibelauslegung – eschatologisch und zum Nutzen für die christliche Seele ausgedeutet werden.13 Der Schwerpunkt liegt also nicht auf der naturkundlichen Perspektive, sondern die behandelten Wesen und Dinge fungieren vorrangig als Symbole und Allegorien im Rahmen einer

11 Vgl. das Programmheft zu diesem Festival, das unter folgendem Link einsehbar ist: https://de.calameo.com/read/000418046bfff3469e0ed (letzter Abruf am 27.06.2018). 12 Vgl. Schönberger, Otto: »Nachwort«, in: Physiologus Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. von Dems., Stuttgart: Reclam 2001/2014, S. 137-161, hier S. 147. Der älteste Textbestand umfasst vermutlich 48 Kapitel, unterlag aber steten Veränderungen (Kürzungen, Erweiterungen, Änderungen in der Reihenfolge der Kapitel) durch Abschreiber und Übersetzer (vgl. ebd., S. 149 u. 153, zu den zahlreichen Übersetzungen S. 154-156 u. 159-161). 13 Vgl. ebd., S. 139 u. 143-145.

»Ahhhhh… – I lost my appetite« | 137

»Interpretatio Christiana der Natur«.14 Dies gilt für sämtliche bis ins frühe 13. Jahrhundert entstandenen, am Physiologus orientierten Bestiarien.15 Fournivals Bestiaire d’Amour stellt eine radikale Neukonzeption des Tierbuchs in der Nachfolge des Physiologus dar,16 denn an die Stelle der theologischen Deutungsfolie rückt die Gattungsreferenz von höfischer Liebesdichtung.17 In dem als Liebesbrief an eine geliebte, aber hartherzige Dame angelegten Text profaniert Fournival die Symbolik und Allegorik der Tiere, geht es in seinem Liebesbestiarium doch nicht mehr um das Heilsversprechen oder christlich-moralische Unterweisung, sondern um irdische Liebe und Erotik. Das Potenzial, den Sinn hinter der Schöpfung mit sprachlichen Zeichen und Bildern erfassen zu können, wird infrage gestellt und die höfische Liebesstrategie des sich der angebeteten hohen Dame unterwerfenden Mannes parodiert.18 Fournivals inter- und architextuell spielerisches Bestiaire als ironisch-satirisches Hybrid aus Bestiarium mit kurzen Kapiteln zu unterschiedlichsten Tieren (des Öfteren dezidiert und mitunter recht drastisch auch zu deren Sexualität und Fortpflanzung), Liebeskasuistik und aristotelischer Naturphilosophie19 hat eine Aktualisierung gefunden in Isabella Rossellinis Rezeptur aus Kurzfilmen, Tieren sowie zoologischem Wissen zu deren Sozial- und Sexualleben. Betrachtet man Green Porno im Gattungssystem der Bestiarien, erfährt das plakative Element Porno also eine weitere Legitimation neben dem naheliegenden ›sex sells‹; schon im Physiologus kommen Motive wie Sexualität, Zeugung oder Geburt hier und da vor. Groteske und Überzeichnung schließlich sind spätestens bei Fournival angelegt, wenn beispielsweise gleich am Anfang ein überaus laut krähender

14 Ebd., S. 144 (Herv. i. Orig.). 15 Vgl. Neumeyer, Martina: »Bestiaires – Überlieferung in neuer Aktualität«, in: Gisela Febel/Georg Maag (Hg.), Bestiarien im Spannungsfeld zwischen Mittelalter und Moderne, Tübingen: Narr 1997, S. 15-28, hier S. 17 u. 18f. 16 Fournivals Bestiarium wird als eines der Bücher erachtet, mit denen die »bestiaires moralisé« an ihr Ende gelangt sind (vgl. Gisela Febel/Georg Maag: »Einleitung«, in: Dies., Bestiarien im Spannungsfeld [1997], S. 7-12, hier S. 8f.). 17 Vgl. Ortner-Buchberger, Claudia: »Das ›gespiegelte‹ Bestiarium: Diskursive Strukturen und Redestrategien in Richart de Fornivals Bestiaires d’amours und der Response de dame«, in: Febel/Maag, Bestiarien im Spannungsfeld (1997), S. 29-39, hier S. 30. 18 Vgl. ebd., S. 36f. 19 Ausführlich dargelegt ebd., vgl. außerdem Dutli, Ralph: »Nachwort«, in: Richard de Fournival, Das Liebesbestiarium. Aus dem Französischen des 13. Jahrhunderts übertragen und mit einem Essay von Ralph Dutli, Göttingen: Wallstein 2014, S. 141-176, hier S. 155 u. 164.

138 | Denise Dumschat-Rehfeldt

Hahn und danach der Wildesel, das Tier mit der »hässlichste[n] und abscheulichste[n] Stimme«,20 präsentiert werden.21 Mit den Bestiarien in der Tradition des Physiologus generell teilt Green Porno Merkmale wie wiederkehrende Sprachformeln und Muster im Textaufbau,22 die Kürze der einzelnen Kapitel, die Behandlung auch weniger bekannter Tierarten oder die Beschreibung »merkwürdige[r] Verhaltungsweisen«23 der Tiere. Was die weiterreichende Bedeutung anbelangt, so betrifft diese in Rossellinis Kurzfilmen zunächst durchaus unmittelbar die mit ihren besonderen Eigenschaften und Lebensweisen gezeigten Tiere selbst – als profane ›Offenbarung‹ von erstaunlichen, oft skurrilen Wundern der Natur mit dem Zweck einer moralischen Orientierung in den Feldern Ökologie und Tierethik. Daneben gibt es aber auch eine Ebene der Reflexion auf menschliche Tiere.

TIERETHISCHE UND ÖKOLOGISCHE BOTSCHAFTEN In den ersten Folgen der Serie, in denen das Sexualleben weithin bekannter Insekten in Szene gesetzt wird, ist die ökologische und tierethische Mission nicht unbedingt offensichtlich. Allerdings liegt in dieser Ausrichtung ja gerade die Motivation für das ganze Unterfangen. Der Sex soll Aufmerksamkeit für die jeweiligen Tiere und damit für Tiere überhaupt generieren. Im Zuge dessen gerät zum einen die Vielfalt der Arten in den Blick, zum anderen auch deren Spezifik – hinsichtlich der Fortpflanzung, der Lebensweise usw. Damit tritt Green Porno einem auf Unwissen und/oder Ignoranz gründenden Speziesismus entgegen, der mit einem undifferenzierten Mensch/Tier-Dualismus korreliert ist, in dem dem Menschen gegenüber nur das Tier gesehen wird – also sämtliche Tiere summarisch in Absehung von der enormen Vielfalt im Tierreich. 24 Implizit werben die Kurzfilme für ein differenzier-

20 R. de Fournival: Das Liebesbestiarium, S. 10. 21 Vgl. R. Dutli: Nachwort, S. 163, außerdem C. Ortner-Buchberger: Das »gespiegelte« Bestiarium, S. 33f. 22 Im Physiologus etwa weisen viele Kapitel im ersten Abschnitt einen Satz des Musters ›Der Physiologos sagte vom …‹ und am Schluss eine Wendung in der Art ›Schön (also) hat der Physiologos vom/über … gesprochen‹ auf (vgl. O. Schönberger: Nachwort, S. 142). Zur Wiederholung von Formeln und Textmustern speziell in den altfranzösischen Bestiarien vgl. außerdem M. Neumeyer: Bestiaires, S. 21 u. 27. 23 M. Neumeyer: Bestiaires, S. 26 (Herv. i. Orig.). 24 Bisweilen wird auch auf die Binnendifferenzierung von Arten hingewiesen – beispielsweise, dass es 1220 verschiedene Arten von Rankenfüßern (barnacles) gibt (GREEN

»Ahhhhh… – I lost my appetite« | 139

tes Tierbild. Beispielhaft möchte ich den Film Why Vagina nennen. Darin wird – durch ein pars pro toto – die Artenspezifik anhand der Geschlechtsteile aufgezeigt: ›species-specific vaginas‹ und ›species-specific penises‹ – letztere »unique to their respective vaginas. Each a cozy fit, like a hand in a glove« (GP 172). Gegen schnöden Speziesismus inszenieren die Filme auch gezielt kleinere und größere ›Wunder‹ und Skurrilitäten in der Natur, die das Publikum günstigenfalls aufmerksam werden und staunen lassen und ihm Achtung abnötigen für die tierlichen Mitgeschöpfe und ihre Existenz – wenigstens für die ein bis zwei Minuten der Rezeption und ein bisschen darüber hinaus. In welchem Umfang und wie nachhaltig die Wertschätzung für die Tiere – zumal für die eher nicht niedlichen und sonst wenig beachteten –, die in dieser kreativen, durchaus aufwendigen Befassung mit ihnen zum Ausdruck kommt, im Zuge der Rezeption erkannt wird und wirkt, lässt sich nicht prognostizieren und schlecht messen. Die Idee von Wertschätzung ist aber zumindest auf der produktiven Seite der Filme angelegt. In den in der Reihenfolge der DVD letzten vier Filmen werden dezidiert ökologische Probleme, anhand derer der ausbeuterische Umgang des Menschen mit Tieren offenbar wird, thematisiert. Im Film über Shrimps ist dies der Beifang: »For every one shrimp caught ten other lives are lost[.] These lost lives are called bycatch[.]« (GP 29) In diesem Film erklärt zudem der Meeresbiologe Claudio Campagna, dass Aquakulturen hierfür keine Lösung bieten, weil sie einer äußerst spezifischen und sensiblen Umwelt bedürfen, die sie wiederum belasten und verschmutzen. Im Bildband bleibt der Aspekt der Aquakultur ausgespart. Außerdem wird das massenhafte Abfischen angedeutet – »Nets catch us by the millions« (GP 25) –, das letztlich zur Überfischung führt. Im Film zum Tintenfisch werden die Ausmaße der Fischerei unter Verweis auf die Lichtintensität der nächtlichen Fangaktionen verdeutlicht: »The fishing boat lights are so bright[,] they can be seen from outer space« (GP 138). Sie überstrahlen sogar nahezu Millionenstädte wie Buenos Aires. Im Film zu Sardellen wird der massenhafte Fang dahingehend problematisiert, dass der Mensch anderen Meerestieren die Nahrungsgrundlage entzieht und die Artenbestände gefährdet durch gezieltes Abfischen während der Paarung, zu der sich Sardellen oder – wie im Buch ergänzt – auch Zackenbarsche (groupers) in riesiger Zahl versammeln (vgl. GP 110). Ein solches Vorgehen kommt interessanterweise bereits im Physiologus zur Sprache, wenn das Walross als Anführer für die Fische, die sich zur Fortpflanzung auf dem Weg nach Osten befinden, entworfen wird, freilich als Allegorie für das richtige Verhalten des Christenmenschen, nicht mit ökologischer Intention:

PORNO: BARNACLE [2008] [USA, R: Isabella Rossellini/Jody Shapiro], TC 00:00:3500:00:38), abweichend im Bildband: »thousands of barnacle species« [GP 38f.]).

140 | Denise Dumschat-Rehfeldt

»Und wenn die Fische des Meeres brünstig werden, schwimmen sie zum Walross […] Wenn sie aber zum Walross wandern, ziehen die weiblichen Fische vorweg und die männlichen kommen nach. Also spannen die Fischer ihre Netze auf ihrem Weg aus; die weiblichen Fische aber, die voller Brunst sind, geraten leicht in die Netze und werden zur Beute der Fischer. So werden auch die Menschen, die trunken sind von den Freuden des Lebens, zur Beute der feindlichen Mächte. […] Auch du also, Christenmensch, schwimme nach Osten, will sagen, zur Kirche, und verehre das Walross, das meint den Herrgott, und werde schwanger mit dem Heiligen Geist und trenne dich von Sünde und Unreinheit, und du wirst nicht mehr zur Beute der feindlichen Mächte.«25

Rossellinis Film zu den Seeelefanten zeigt am Ende in einer zeichentrickfilmhaften Sequenz die Gefahr, die von den in den Ozeanen treibenden riesigen Netzen ausgeht. Isabella Rossellini legt einer trächtigen Seeelefantenkuh folgende Worte ins Maul: »In eight months, I will go back to the harem on the beach where I was born and where I will give birth to my baby.« 26 Als sie davonschwimmt, senkt sich im Vordergrund ein Netz herab. Am Schluss des Films werden Realaufnahmen von durch Netze schwer verletzten oder getöteten Tieren eingeblendet. Bei diesen vier Filmen (zu Shrimps, Tintenfischen, Sardellen, Seeelefanten) drängen sich Fragen zum Umgang des Menschen mit Tieren auf wie: Dürfen wir Tiere wie etwa Tintenfische – oder überhaupt Tiere – essen angesichts von folgenreichen Problemen wie Überfischung und Beifang? Haben Menschen das Recht, in derart rücksichtsloser Weise mit Tieren zu verfahren – ihren Lebensraum zu zerstören, sie massenhaft zu verletzen, massenhaft zu töten, massenhaft wegzuwerfen?

EXEMPLARISCHE ANALYSE Beim Vergleich der DVD mit dem Buch fallen zunächst Abweichungen in der Reihenfolge der Filme auf. Auf der DVD wird die Reihe If I were a Marine Animal mit Why Vagina, also mit dem Film, der erkennbar für die Vielfalt sensibilisieren soll, eröffnet. Zum Ende hin werden die Daumenschrauben angezogen, wenn man mit den vier eben kurz vorgestellten Filmen konfrontiert wird, nachdem man erst einmal einen lustigen Film nach dem anderen zu mal mehr, mal weniger skurrilen Fortpflanzungsarten mal mehr, mal weniger vertrauter Tiere gesehen hat. Zum Schluss landet das ökologische Problem vielleicht sogar auf dem eigenen Teller, sofern man Shrimps, Tintenfische oder Sardellen isst, und ist man mit verantwortlich

25 Physiologus, S. 95. 26 GREEN PORNO: HAREM ON THE BEACH (2008) (USA, R: Isabella Rossellini/Jody Shapiro), TC 00:06:12-00:06:19.

»Ahhhhh… – I lost my appetite« | 141

für Beifang, Überfischung, Artensterben und für von Netzen erdrosselte Seeelefantenmamas. Der Kurzfilm zu den Seeelefanten ist im Buch übrigens nicht repräsentiert. Dies leuchtet insofern ein, als in ihm die sonst üblichen Kostüme und Kulissen fehlen, d.h., er weicht von der recht einheitlichen Ästhetik der Ausstattung ab. Außerdem ist er mit einer Länge von mehr als sechs Minuten deutlich umfangreicher. Möglicherweise wäre auch der Eindruck der Realaufnahmen, zumal der verletzten oder getöteten Tiere, innerhalb der Bildreihen in dem Band, der ja auch ein potenzielles coffee table book ist, zu drastisch. Der Bildband setzt, anders als die DVD, mit dem Kapitel zu Shrimps ein, also gleich mit einem Beitrag zu einem bestimmten ökologischen Problem. Um die Tintenfische und die Sardellen geht es nach der guten Hälfte des Buchs. Why Vagina hingegen steht im Bildband am Schluss. Würde man das Buch chronologisch von vorn nach hinten durchblättern, würde also nicht solche Drastik aufgebaut wie in der Abfolge der Filme auf der DVD. Exemplarisch möchte ich den Kurzfilm zum Tintenfisch/Kalmar genauer vorstellen. Diesen habe ich ausgewählt, weil er auch im Bildband repräsentiert ist, in ihm die ökologische Botschaft sehr deutlich wird und die Tiere als Leidende dargestellt werden. Außerdem haben Tintenfische als Kopffüßer neben Wirbeltieren einen besonderen Stellenwert im deutschen Tierschutzrecht, weil sie Wirbeltieren vergleichbar leiden können. Tierversuche und andere wissenschaftliche Verfahren, bei denen Kopffüßer genutzt werden, sowie Züchtung und Haltung der dafür bestimmten Tiere unterliegen Restriktionen zum Zwecke der Minimierung von Leiden und erfordern eine spezifische Überwachung durch Behörden und etwa Tierschutzbeauftragte, die Sorge zu tragen haben für die Einhaltung des Tierschutzes. 27 Der Kurzfilm zum Tintenfisch erscheint auf der DVD mit dem Titel Squid unter der Rubrik If I were a Marine Animal. Seine Repräsentation im Bildband hingegen ist – nicht ohne Sarkasmus – überschrieben mit Bon Appétit! Squid.28

27 Vgl. das Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Artikel 141 des Gesetzes vom 29. März 2017 (BGBl. I S.

626)

geändert

worden

ist

(https://www.gesetze-im-internet.de/

tierschg/BJNR012770972.html, letzter Abruf am 27.06.2018), außerdem die Verordnung zum Schutz von zu Versuchszwecken oder zu anderen wissenschaftlichen Zwecken verwendeten Tieren vom 1. August 2013 (BGBl. I S. 3125, 3126), die zuletzt durch Artikel 394 der Verordnung vom 31. August 2015 (BGBl. I S. 1474) geändert worden ist (https://www.gesetze-im-internet.de/tierschversv/BJNR312600013.html, letzter Abruf am 27.06.2018). 28 Die Überschrift Bon Appétit! wird dreimal im Bildband verwendet: neben dem Tintenfisch auch für Shrimps und Sardellen (vgl. GP 9, 95 u. 113).

142 | Denise Dumschat-Rehfeldt

Transkription des im Kurzfilm If I were

Englischer Bildbandtext zum Kapitel Bon

a … squid gesprochenen Textes

Appétit! Squid (GP 113-141)

»Yum … fried calamari. My favorite.

»Yum…fried squid, calamari!

If I were a calamari, I would be a squid

[Sprechblase] If I were a squid

and everyone would want to eat me.

Everyone would want to eat me

I would squirt black ink from my anus so

I would squirt black ink from my anus so

that I could disappear and propel myself

that I could disappear

off.

I can communicate by changing the color of

By luminescent effects and by changing

my skin

shape I can communicate.

I can say…

I can say … Be careful! I can say … I love

I am angry! Be careful! I like you!

you! – with my whole three hearts.

I could give the most passionate ten-arm

I would give the most passionate twenty-

embrace

arm embrace. Twenty? – Eighteen. Two

Oh no! But not all of them are arms if you

are not arms if you know what I mean. I

know what I mean

would slip my spermatophore, a package

I would slip my spermatophore[,] a package

full of sperm, inside her spermatheca.

of sperm[,] inside her spermatheca At night, we would vertically migrate to the

We live in the darkness of the abyss. But at

surface of the sea

night, we would vertically migrate to the

Ahhhhh…

surface of the sea where we could be

Ahhhhh…

caught

I am hooked and pulled from the water onto

by

[fisheries].

Ahhhhh…

[Echtbildeinblendung]

the fishing boat full of lights The fishing boat lights are so bright they can

I lost my appetite.

be seen from outer space

What to do?

SATELLITE

Ask, ask, ask biologist Claudio Campagna.

AMERICA AT NIGHT: There are more

[C.C.]: We are taking from the oceans

lights from fishing boats in the ocean than

much, much more than what the oceans

from a city as big as Buenos Aires.

can offer us. One way of our understand-

OVERFISHING: Fisheries are wiping out

ing that I mentioned of what we are doing

ocean life, in all oceans alike. Our demand

to the ocean is to have a look at the squid

for fish consumption exceeds what the

fisheries. These are particularly lustre-

ocean can offer. The squid fishery along the

taped because they take place at night and

continental shelf of Patagonia represents one

as a result of that they can be seen by satel-

with the highest catches in the region and

lites because they use a lot of light to at-

may soon damage the species due to the in-

tract the squid to the surface. The amount

tensity of its fishing efforts. Many fish, es-

of light is so huge, so intense that [it]

pecially the ones we like to eat the most like

sometimes overshadows big cities like

hake and Chilean sea bass, have declined

Buenos Aires with twelve million people«

dramatically–70% in the last twenty years

IMAGE

OF

SOUTH

»Ahhhhh… – I lost my appetite« | 143

for the Argentine hake. As food declines in the ocean, dolphins, penguins, and seals, which depend on fish and squid as food sources, will all be threatened. The fishing industry will face serious challenges in this decade, but life in the oceans will face an even greater test. [Sprechblase] I lost my appetite

Die Geschichte beginnt mit einer von Isabella Rossellini dargestellten Person, die sich auf ihr Lieblingsessen Calamari freut. Sie hält kurz inne und sagt dann die Eingangsformel zur Eröffnung des Als-ob-Spiels: »If I were a squid«. Die Szene verändert sich und die Person aus der Küche ist in die Rolle eines Tintenfischs geschlüpft. Sie sagt nun quasi als Tier ›ich‹. Allerdings wird die Identifikation auf sprachlicher Ebene noch nicht gänzlich vollzogen, denn die grammatische Konstruktion »If I were« wirkt sich noch aus; so heißt es weiter konjunktivisch »Everyone would want to eat me« (GP 120), »I would squirt black ink« (GP 122) usw.29 Mit »I can communicate […] I can say« (GP 124, Herv. DD-R) wird dieses Muster durchbrochen und der Rollenwechsel, das Sich-Hinein-Versetzen in das Tier an diesen Stellen sprachlich vollständig vollzogen (ich + Indikativ) – interessanterweise dort, wo es um Kommunikation geht. Die sprachliche Identifikation der menschlichen Person mit dem Tintenfisch findet dann statt, wenn das Tier seine Mitteilungsfähigkeit und -technik ›reflektiert‹ und etwas über seine Empfindungen ›aussagt‹. Danach dominiert wieder der Konjunktiv II, allerdings mit einzelnen eingestreuten Indikativformen (jeweils verschiedenen in Film und Buch) – im Film bei der Verortung im geschützten Bereich: »We live in the darkness of the abyss«, im Bildband im Moment des Gefischtwerdens: »I am hooked and pulled from the water onto the fishing boat full of lights« (GP 136, Herv. DD-R). Der nächtliche Aufstieg an die Wasseroberfläche, angelockt nicht durch romantisches Mondlicht, sondern durch das grelle Scheinwerferlicht der Fischerboote, führt zu einem als qualvoll inszenierten Tod. Das Leiden wird im Film akustisch durch laute Schreie und optisch durch die Grellheit des Scheinwerferlichts auf eingeblendeten Aufnahmen echter Fangschiffe ausgedrückt. Im Buch zeigt der anfangs sehr große, dann kleiner werdende Druck des Aufschreis »Ahhhhh« die Dimension der Qualen und das Sterben an (vgl. GP 132f.).

29 Vgl. Petersons Analyse des Kurzfilms zur Libelle (dragonfly), in der ebenfalls die 1. Person Singular und der Wechsel zwischen Realis und Irrealis als sprachliche Mittel zur Aufweichung der Grenze zwischen Mensch und Tieren betont werden (J.L. Peterson: Green porno, S. 430).

144 | Denise Dumschat-Rehfeldt

Auf der folgenden Doppelseite (GP 134f.) wird das Leid mit menschlichen Zügen dargestellt in einem Bild, das die als Kalmar kostümierte Isabella Rossellini mit zum Schrei halb geöffnetem Mund und wie leidend geschlossenen Augen zeigt. Der Haken hat scheinbar das Kostüm – also quasi die Haut des Tintenfischs – perforiert. Den Calamari werden hier letztlich nicht die eingangs erwähnten zahlreichen Fressfeinde in der Tiefe des Meeres zum Verhängnis, sondern Menschen, die nichts von den leidenschaftlichen Umarmungen der Tintenfische wissen und Haken in sie treiben – ein Kontrastbild zum eher zart inszenierten Einführen des Spermatophor in die Spermathek. Und das brutale Licht der Scheinwerfer auf den Fischerbooten steht ganz im Gegensatz zu den differenzierten Farb- und Leuchteffekten, die zu erzeugen die Tintenfische in der Lage sind und über die sie kommunizieren. Damit endet das Identifikationsspiel, und die Lust auf die Calamari-Mahlzeit ist dahin: »I lost my appetite.« Das Begehren richtet sich nun nicht mehr auf das Essen, sondern auf Wissen. Im Film wird der Rat des Experten gesucht mit der Frageformel »What to do?« und der Antwortformel »Ask, ask, ask Claudio Campagna.« Der Meeresbiologe informiert über die Überfischung und das Vorgehen beim Fang der Tintenfische. Im Bildband wird diese Filmpassage durch ein Satellitenfoto (GP 138f.) und einen Infotext (GP 140) ersetzt.

SPIEGELUNGEN UND PERSPEKTIVWECHSEL Abgesehen vom Umgang der Menschen mit Tieren zu Lasten der Letzteren kommen in Green Porno auch Themen zur Sprache oder werden ins Bild gesetzt, die das Wesen und die Existenz der menschlichen Tiere betreffen. Diese anthropozentrische Bedeutungsschleife gründet u.a. in der traditionellen Funktion von in der Kunst gestalteten Tieren als Spiegel der Menschen bzw. für Menschliches. Wenn Isabella Rossellini inmitten einer ›Ausstellung‹ vielfältig geformter Penisse vom hohen Wert natürlicherweise limitierter Eier (bzw. Eizellen) im Vergleich zum in großen Mengen verfügbaren Sperma spricht und auf die Notwendigkeit von an die jeweilige (artenspezifische) Vagina angepassten Penissen schließt, 30 scheint die historische Beziehung von tierethischen mit antipatriarchalen, feministi-

30 »Eggs are precious. Sperm are cheap. […] If I were any female, I would want to protect my precious eggs. […] I would want some distance between my eggs and the males […], which would give me a chance to choose my male.« (GP 165-167) Vgl. hierzu J.L. Peterson: Green porno, S. 430f., wo die komisch-absurden Darstellungen von Penissen als gegen den Phallozentrismus gerichtet gedeutet werden.

»Ahhhhh… – I lost my appetite« | 145

schen Bewegungen31 auf. In diesen Zusammenhang lässt sich auch Petersons These, Isabella Rossellini überwinde als »human-animal sexual hybrid« die Normen für weibliche Schönheit auf der Leinwand,32 stellen. Erzählen von Isabella Rossellini dargestellte tierliche Figuren z.B. vom Geschlechtswechsel (bei ausgewachsenen Shrimps),33 vom sequentiellen Hermaphroditismus (Napfschnecken)34 oder von der Möglichkeit ungeschlechtlicher Fortpflanzung durch Teilung (Seesterne), 35 lässt sich dies auch als Plädoyer für die Anerkennung von sexuellen Identitäten sowie Partnerschafts- und Familienmodellen jenseits der Heteronormativität, der Binaritätsfalle bzw. des tertium non datur von männlich/weiblich oder des Familienideals von Vater-Mutter-Kind interpretieren. Die durch die Tierwelt repräsentierte Natur36 wird als Bereich von Vielfalt entworfen, in dem die Geschlechterdualität mitsamt ihren normierten und normierenden binären Codierungen nicht greift.37 Stereotype Geschlechterbilder werden infrage gestellt etwa durch die Karikatur männlichen Dominanzgebarens (z.B. im Film zur Gottesanbeterin – mantis),38 durch die überhaupt absurde Darbietung von Sexszenen mit grotesk anmutenden Kostümen und die Überschreitung nicht nur der Spezies-, son-

31 Peterson konstatiert Gemeinsamkeiten zwischen Animal Studies auf der einen und feministischer sowie Queer-Theorie auf der anderen Seite, dies u.a. vor dem Hintergrund von Carol J. Adams These von der Analogie und Verknüpfung der Unterdrückung von Frauen und Tieren (vgl. ebd., S. 427). Außerdem deutet sie Rossellinis Spiel in Green Porno als »an example of feminist performance that uses the figure of the animal to challenge normative concepts of sexuality« (ebd., S. 428). 32 Vgl. ebd., S. 430. 33 »When little I would be male[.] But when fully grown I would change sex into a female« (GP 14f.). 34 »[…] we limpets are sequential hermaphrodites« (GP 59). 35 »If I were a Starfish I could reproduce sexually or asexually« (GP 61 u. 63). 36 Vgl. J.L. Peterson: Green porno, S. 429: »a return-to-nature discourse that takes shape through the figure of the animal«. 37 Vgl. ebd., S. 433, außerdem Chris, Cynthia: »Subjunctive Desires. Becoming Animal in Green Porno and Seduce Me«, in: Michael Lawrence/Laura McMahon (Hg.), Animal life and the moving image, London: Palgrave 2015, S. 121-130, hier S. 124: »[…] becominganimal is an affronting displacement of power and a refusal of repression […] [It] is ›the way out‹ […]«, außerdem ebd., S. 126: »To be sure, Green Porno and Seduce Me defy traditional binaries, singular subjectivities and stable identities.« 38 Obwohl das weibliche Insekt ihm den Kopf abbeißt, schreit das Männchen »Nothing stops me. I keep going. Sex!« (GREEN PORNO: PRAYING MANTIS [2008] [USA, R: Isabella Rossellini/Jody Shapiro], TC 00:01:20-00:01:25).

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dern auch der Geschlechtergrenzen, wenn Isabella Rossellini männliche Tiere verkörpert.39 Diese ›queere‹ Strategie unterminiert nicht zuletzt die Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren. Dem Anthropozentrismus setzt Rossellini einen Zoomorphismus entgegen, indem sie als Mensch in Tierrollen schlüpft bzw. – für ein Spiel auf zweiter Ebene – eine menschliche Person darstellt, die sich in einem Als-obSpiel in die tierlichen Existenzen hineinzuversetzen versucht. 40 Die Grenze zum Tier kann zwar letztlich nicht überschritten werden, aber im Versuch der Tierwerdung liegen zumindest ein Perspektivwechsel und ein Anerkennen.41 Dabei münzt Rossellini den Umstand, dass sich in der Befassung mit Tieren das eigene Menschsein nicht abstreifen lässt, insofern effektvoll um, als sie eine Nähe zu den Tieren schafft (über den geteilten animalischen Trieb hinaus), indem die von ihr in den Tierrollen dargestellten Emotionen und Empfindungen (Lust, Angst, Schmerz usw.) solchen entsprechen, wie sie Menschen in jeweils vergleichbaren Situationen (etwa Liebe, Erotik, Mutterschaft)42 typischerweise haben. Auf diese Weise wird Empathie möglich und erscheinen die Tiere als Subjekte, nicht als (verniedlichte, das ganz Andere des Menschen verkörpernde o.a.) Objekte.

GREEN PORNO FÜR DIE SCHULE Abschließend möchte ich dazu anregen, Green Porno im Unterricht zu behandeln,43 und einige didaktische Möglichkeiten dazu vorschlagen. Denn die Kurzfilmserie eignet sich aus mehreren Gründen und zu verschiedenen Zwecken für den Einsatz

39 Vgl. J.L. Peterson: Green porno, S. 429. 40 Vgl. ebd. Peterson spricht von »a form of animal drag« (ebd.). 41 Vgl. C. Chris: Subjunctive Desires, S. 128: »[…] becoming-animal is not a matter of no longer being human. Becoming animal is an opportunity arising from recognising the animal […] Rossellini’s animal performances are, as much as they are acts of becoming, acts of recognition.« 42 So lässt sie die Seeelefantenkuh in dem entsprechenden Film beispielsweise erwartungsvoll sagen »[…] I will give birth to my baby« (GREEN PORNO: HAREM ON THE BEACH, TC 00:06:17-00:06:19). 43 Die Relevanz der Beschäftigung mit der Tierwelt und dem Mensch-Tier-Verhältnis bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Herleitung und Begründung; es gibt auch bereits Impulse »für eine ›Didaktik des Animalen‹ im Rahmen des Deutschunterrichts« (vgl. z.B. den Sammelband Schröder, Klarissa/Hayer, Björn [Hg.], Didaktik des Animalen. Vorschläge für einen tierethisch gestützten Literaturunterricht [= KOLA, Bd. 18], Trier: WVT 2016, darin u a. Dies.: »Einleitung«, S. 1-14, hier S. 11).

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im schulischen Unterricht. In Frage kommen hier allerdings nur höhere Jahrgangsstufen mit ca. 16-Jährigen. Der Klappentext der in Deutschland erschienenen Ausgabe verspricht zwar ein »phantasievolles Bilder- und Aufklärungsbuch für Kinder und Erwachsene jedweden Geschlechts« (GP [o.Z.], Herv. DD-R.). Das ist allerdings verlegerische Marketingrhetorik. »Kinder« fasst die potenziellen jüngeren Rezipientinnen und Rezipienten sicherlich zu weit. »Jugendliche« träfe es wohl besser, schränkte allerdings diese Zielgruppe neben den Erwachsenen auf (z.B. gemäß der Duden-Definition) ca. 14- bis 18-Jährige allzu sehr ein.44 Vom Buchmarketing einmal abgesehen, bedarf es aber, um Green Porno über die Oberfläche Hinausreichendes abgewinnen zu können, einer soliden sexuellen Aufgeklärtheit, die auch ein Wissen um verschiedene Geschlechteridentitäten jenseits der Binarität von männlich und weiblich sowie um verschiedene Partnerschaftsmodelle jenseits der Heteronormativität einschließen sollte.45 Wesentliche Vorteile für die Verwendung im Unterricht sehe ich in der Kürze der Filme und Texte, die den Zugang erleichtert und intensive Analysen ermöglicht. Zudem erscheint der Verbund aus für die Verbreitung in den neuen Medien konzipierten Filmen und dem mit der Komplett-DVD ausgestatteten Buch, das Bilder und Texte grafisch kombiniert, für einen modernen Unterricht passend. Es böte sich auch eine interdisziplinäre Behandlung von Green Porno an, entweder im Rahmen eines mehrtägigen Projekts unter Beteiligung mehrerer Fächer oder über mehrere Unterrichtseinheiten hinweg parallel in verschiedenen Fächern. Insbesondere für die zweite Variante empfiehlt es sich allerdings, die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand aus den unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen Fächer in einen »größeren, übergreifenden Zusammenhang«, etwa einen »kulturelle[n] Gesamtkontext« zu stellen,46 der die Verknüpfung von Wissen über die Fä-

44 Auf amazon.de ist die DVD ab 6 Jahren empfohlen; eine dezidierte FSK-Auszeichnung fehlt. In Australien wurden die Filme in die Kategorie »M« (»Mature«) eingestuft, was sie für Zuschauer ab 15 Jahren empfiehlt (vgl. http://www.classification.gov.au/ Guidelines/Pages/M.aspx, letzter Abruf am 27.06.2018). 45 Mit Blick auf Vorgaben zur Sexualerziehung in Lehrplänen und Richtlinien ist solches Wissen in höheren Klassen, in manchen Bundesländern sogar bereits in der Grundschule, vorauszusetzen, vgl. beispielsweise die für den Bundestag erstellte Dokumentation Sexuelle

Vielfalt

und

Sexualerziehung

in

den

Lehrplänen

der

Bundesländer

(https://www.bundestag.de/blob/485866/.../wd-8-071-16-pdf-data.pdf, letzter Abruf am 27.06.2018) oder die neuen Richtlinien für die Familien- und Sexualerziehung in den bayerischen Schulen (2016) (http://www.gesetzebayern.de/Content/Document/BayVV _2230_1_1_1_1_3_K_964, letzter Abruf am 27.6.2018). 46 Bönnighausen, Marion: »Medieneinsatz im fächerübergreifenden Unterricht«, in: Petra Josting/Hartmut Jonas (Hg.), Intermediale und interdisziplinäre Lernansätze im Deutsch-

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chergrenzen hinweg erleichtert. Die Tierethik könnte solch einen Rahmen bilden. Text- und Filmanalysen im Deutsch- und Englischunterricht könnten hierbei für tierethische Fragestellungen relevante Inhalte und die Art und Weise ihrer ästhetischen und narrativen Gestaltung fokussieren. Im Kunstunterricht könnte außerdem die Bildsprache in den Filmen und im Bildband (u.a. Bildauswahl, Einsatz typographischer Mittel wie Schriftgrößen, Schriftanordnung, Schriftfarben usw. sowie deren Funktionen bzw. Effekte beispielsweise zur Darstellung von Leid) untersucht werden. Aus dem Biologieunterricht könnte einem interdisziplinären Projekt zoologisches und ökologisches Wissen zu den einzelnen Tieren sowie zu allgemeineren Themen wie Evolution, Artenvielfalt und Artensterben beigesteuert werden. Das von den jeweiligen Tieren in Green Porno entworfene Bild könnte dann auch mit diesen Wissensbeständen abgeglichen werden. Im Fach Ethik könnten Denktraditionen etwa zur Mensch/Tier-Dualität nachvollzogen und aktuelle tierethische Positionen besprochen und diskutiert werden. Im Geschichts- und Sozialkundeunterricht könnte beispielsweise der historischen wie aktuellen Entwicklung der Ökologie sowie der Relation von Frauen- und Tierrechtsbewegung nachgegangen werden. Anknüpfend an letzteres Thema ließen sich wiederum im Deutschunterricht unter kulturwissenschaftlicher Perspektive die in Green Porno gestaltete Analogie und Überlagerung der Dualitäten Mensch/Tier, Männlichkeit/Weiblichkeit in den Blick nehmen usw. usf. Nicht zuletzt besteht die Option einer produktiven Rezeption in Form der »Nachproduktion«.47 Schülerinnen und Schüler könnten also selbst Kurzfilme nach den Vorbildern aus Green Porno erarbeiten und drehen. Dieser Zugang wird durch

unterricht. Jahrbuch Medien im Deutschunterricht 2006, München: kopaed 2007, S. 83100, hier S. 87 u. 99. Bönnighausen stellt zudem vor, wie – auch zum Zwecke eines dezidiert intermedialen Lernkonzepts – die Wissensbeiträge und Untersuchungsergebnisse aus den beteiligten Fächern digital in hypertextueller Verknüpfung abgebildet werden können (vgl. insbes. S. 89-98). 47 Waldmann, Günter, Produktiver Umgang mit dem Drama. Eine systematische Einführung in das produktive Verstehen traditioneller und moderner Dramenformen und das Schreiben in ihnen. Für Schule (Sekundarstufe I und II) und Hochschule, Baltmannsweiler: Schneider 62010, S. 154. Für eine produktive Behandlung literarischer o.ä. Gegenstände sprechen Aspekte wie die Möglichkeit des »Erfahrungslernen[s]« (ebd., S. 269, vgl. auch ebd., S. 142-144), der spielerische Zugang und Teamwork (vgl. Blumensath, Heinz: »Literaturrezeption als produktive Medienarbeit im Literaturunterricht«, in: Deutschunterricht 6 [2002], S. 7-12, hier S. 8f.) sowie der nicht »bloß kognitivanalytische[]«, sondern »ganzheitliche[] Ansatz[]« (Ders.: »Literarische Bildung und Poesie-Videos«, in: ide. Informationen zur Deutschdidaktik – Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule. Neue Folge 14 [1990] 4, S. 104-119, hier S. 105).

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mehrere Faktoren begünstigt: Da wäre zunächst wieder die Kürze der zu rezipierenden und zu analysierenden, aber auch der zu konzipierenden und zu produzierenden Filme. Die Verfügbarkeit von Technik, etwa einer ausreichend leistungsfähigen Kamera, stellt heutzutage üblicherweise auch kein Hindernis mehr dar. Für die Konzeption von eigenen Filmen ist zudem von Vorteil, dass die verschiedenen Teile von Green Porno ein ›narratives Skelett‹ erkennen lassen, insofern sich manche Motive (z.B. Fortpflanzungsart, Anbahnung der Paarung, besondere Fähigkeiten, destruktive Eingriffe der Menschen in die Sphäre der Tiere) und einzelne Formeln (»If I were a …«, »I lost my appetite.«, »What to do?«) wiederholen. Ein solches, ggf. auch interdisziplinär angelegtes Unterrichtsprojekt erfordert freilich ausreichende zeitliche Kapazitäten (z.B. eine ganze Projektwoche) und eine gute Planung für die verschiedenen Arbeitsstadien, grob etwa 1. Vorarbeiten (Analyse von Filmen aus Green Porno, erste Recherchen, Auswahl einer Tierart, vertiefende Recherchen zu dieser, Ideensammlung), 2. die detaillierte Konzeption (Erarbeitung des Storyboards mit Figurenfestlegungen und -konzeptionen, inhaltlicher Gliederung, Text, Festlegung von Sprechweisen, Farbkonzepten etc., Entwurf von Requisiten und Kostümen, Räumen/Kulissen) 48 und 3. die Herstellung der Ausstattung und die filmtechnische Umsetzung. Durch diese praktisch-produktiven Erfahrungen können Schülerinnen und Schüler Zugang zur ›handwerklichen‹ und ästhetischen Gestaltung der Filme finden,49 sich biologisches Wissen erarbeiten und tierethische Fragen diskutieren. Und spätestens wenn sich diese Effekte produktiven Lernens dann noch als nachhaltig erweisen, 50 erscheint der zeitliche und organisatorische Mehraufwand für diese Lernmethode gerechtfertigt.

P.S. ES GEHT WEITER Nach Green Porno realisierte Isabella Rossellini noch zwei weitere ähnliche Kurzfilmserien: Seduce Me (2011) – wieder eine Reihe dezidiert zum Sexualverhalten von Tieren – und Mammas (2013) – zum Verhältnis von tierlichen Müttern und ihren Nachkommen. Und 2017 veröffentlichte sie einen Bildband zu einem ganz anderen, aber auch mit Tieren verbundenen Projekt: Meine Hühner und ich.51 Darin

48 Vgl. zum möglichen Vorgehen H. Blumensath: Literaturrezeption, S. 10. 49 Waldmann spricht von der »Erfahrung prinzipieller Produziertheit« (G. Waldmann: Produktiver Umgang mit dem Drama, S. 143 [Herv. i. Orig.]). 50 Vgl. H. Blumensath: Literaturrezeption, S. 7. 51 Nachfolgende Zitatnachweise mit der Sigle H und Seitenzahl beziehen sich auf Rossellini, Isabella, Meine Hühner und ich. Texte und Zeichnungen. Photos von Patrice Casanova. Aus dem Engl. übers. von Marion Kagerer, München: Schirmer/Mosel 2017.

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gibt sie in kurzen informativen, mitunter narrativen Texten und minimalistischen, zugleich aber charakteristischen Zeichnungen Einblicke in ihr Zusammenleben mit Hühnern und en passant auch in die Geschichte der Domestizierung des Huhns (vgl. H 48-63). Patrice Casanova begleitete die Entwicklung der Hühner unterschiedlichster, teilweise alter Rassen52 auf Rossellinis Anwesen vom Ei bis zum erwachsenen, d.h. Eier legenden, Huhn fotografisch. Wie schon in Green Porno trifft auch in diesem Band Skurrilität – »Ich wollte Hühner, also bestellte ich welche online« (H 4) – auf tierethische und ökologische Ernsthaftigkeit. So entdeckt Rossellini die Eigenheit jedes einzelnen ihrer Hühner: »Sie haben individuelle Persönlichkeiten!« (H 16) Sie charakterisiert ihr Sozialverhalten mit Konzepten zwischenmenschlicher Beziehungen: »Hühner schließen Freundschaften. […] Freundschaften werden innerhalb der Schar geschlossen. Eine Schar ist eine Hühnerfamilie. Eindringlinge mögen sie nicht.« (H 25) Der überkommenen Mensch/Tier-Binarität hinsichtlich kognitiver und kommunikativer Fähigkeiten tritt sie ebenfalls entgegen, wenn sie darauf hinweist, dass Hühner »Mengen taxieren« können, »zu Selbstbeherrschung imstande« seien und »für die Zukunft […] planen« könnten (H 38). Zudem eigne ihnen eine enorme Differenziertheit in der Farbwahrnehmung – »Hühner sehen mehr Farben als wir« (H 41) – und in der Kommunikation, insofern sie etwa »zahllose unterschiedliche Laute« für verschiedene Empfindungen und Situationen (H 45) einsetzen. Der Bildband ist auch ein Plädoyer gegen den industriellen optimierenden Zugriff auf Hühner – etwa bei der ›Produktion‹ des »Broiler-Huhn[s]«, das schneller wächst und fetter wird (vgl. H 68f.) – und für Artenvielfalt (vgl. H 80-84). Meine Hühner und ich kommt mit weniger künstlerischen Mitteln aus und erscheint persönlicher als Green Porno (und die beiden Nachfolgeserien). Im Nachgang zu den Kurzfilmreihen vermag der Bildband epitextuell zu verbürgen, dass es Isabella Rossellini ernst ist mit der ökologischen und tierethischen Botschaft ihrer künstlerischen Filmprojekte.

52 »Heritage Chicken Breeds« (H 9).

Jägerinnen unter Jägern Rekonstruktion männlicher Herrschaft im Feld Jagd Ulrike Schmid

EINLEITUNG Die nachstehend skizzierte Feldstudie wurde im Zeitraum April 2014 bis Juni 2016 in Vorarlberg/Österreich durchgeführt. Eine der zentralen Fragen war, welche Positionen Frauen im Feld der Jagd einnehmen (können), zumal diese, als »kleine Schwester des Krieges«1, eher von männlichen Akteuren beherrscht wird. Auch der Gebrauch von Waffen bedeutet faktisch meist irreversible Gewalt, verbunden mit Blut und Tod. Diese Form absoluter Brutalität wird jedoch weitaus seltener mit Frauen in Verbindung gebracht. Den Referenzrahmen der Forschung bildeten primär die sozialisations- und gesellschaftstheoretischen Konzepte Habitus, Feld und Kapital des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) sowie seine Theorie der »männlichen Herrschaft« (1990/2005). Die Interpretation des Datenmaterials stützte sich darüber hinaus auf tierethische und ökofeministische Perspektiven. Im vorliegenden Rahmen werden theoretischer Unterbau und Ergebnisse der Analyse komprimiert dargestellt und abschließend die Angemessenheit der Jagd besprochen.

DIE JAGD IN ÖSTERREICH Jagd meint per definitionem das Aufsuchen, Nachstellen, Fangen, Erlegen und Aneignen von Wild durch den Menschen nach bestimmten anerkannten Regeln. Diese Regeln über die Ausübung der Jagd bilden die jeweilig geltenden, bundesländerei-

1

Parin, Paul: Die Leidenschaft des Jägers. Erzählungen, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2003, S. 11.

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genen Jagdgesetze. Die Jagd in Österreich entspricht einem Revierjagdsystem, d.h. jedes Stück Boden bzw. Grundeigentum ist einem Jagdrevier und -gebiet verschiedener Größenordnungen zugeteilt und ist von Gesetzes wegen zu bejagen. Die Höhe der Abschüsse pro Jahr, d.h. Tierart, Alter und Geschlecht der »jagdbaren« Tiere wird durch die jeweilige Bezirkshauptmannschaft (Behörde) jährlich vorgeschrieben. Die Jagd scheint, so auch in vielen anderen europäischen Ländern, einen relativ hohen Stellenwert zu haben. So gab es im Jagdjahr 2016/2017 insgesamt 127.385 gültige Jagdkarten plus weitere 12.596 Jagdgastkarten. 2 Schaut man 10 Jahre zurück in das Jahr 2006, waren es dort noch 116.713 Jagdkarten und 9.120 Jagdgastkarten. In manchen Bundesländern hat sich die Anzahl der Jagdkarten im angegebenen Zeitraum dabei sogar verdreifacht.3 Die Jagd erfreut sich also offenbar jährlich steigender Beliebtheit. Der Frauenanteil der aktiv Jagenden liegt derzeit etwa bei 10%. Die Anzahl der in Ausübung der Jagd getöteten Tiere belaufen sich in Österreich innerhalb der letzten fünf Jahre durchschnittlich auf 750.000 jährlich. Hinzu kommen durchschnittlich 125.000 tote Tiere pro Jahr, die als jagdbares Wild unter der Kategorie »Fallwild« zwar registriert, jedoch nicht in den jagdlichen Abschussberechnungen der einzelnen Bundesländer berücksichtigt werden. Viele andere getötete Wildtiere bleiben indes vollkommen unsichtbar und erscheinen in keiner Statistik. Überdies verkleinert sich der Lebensraum der Wildtiere täglich u.a. durch Urbanisierung und bringt damit Habitate großenteils unwiederbringlich zum Verschwinden. Auch die Technisierung und die Spezialisierung der jagdlichen Hilfsmittel und Accessoires wie beispielsweise die verschiedenen Arten von Waffen, Schalldämpfern, Nachtsichtgeräten, Wärmebildkameras, Tarnzelten, Fallen usf. liefern das Wildtier den modernen Jäger/-innen ohne reelle Überlebens- bzw. Entkommenschancen aus.

DAS (SPIEL-)FELD JAGD Für Bourdieu ist Gesellschaft keine geschlossene, homogene Entität, sondern in verschiedene Bereiche mit unterschiedlichen Funktionsweisen und Zwecken gegliedert. Die Gesamtgesellschaft besteht bei Bourdieu aus Akteur/-innen und Gruppen, die sich innerhalb eines »sozialen Raumes« verteilen und zueinander verhalten.

2

Vgl. Statistik Austria, siehe https://www.statistik.at/web.de/statistiken/wirtschaft/land_ und_forstwirtschaft/viehbestand_tierische_erzeugung/jagd/index.html, letzter Abruf am 20.07.2018.

3

Vgl. Weidwerk Online: https://www.weidwerk.at/service/jagdstatistik/2006, letzter Abruf am 20.07.2018.

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Die sich hier ergebende relationale Anordnung der verschiedenen Positionen eröffnet Kräfte- und Machtfelder. Diese Felder sind beispielsweise die Politik, Ökonomie, Bildung, Kunst, Religion, Medien usf. Innerhalb der jeweiligen Felder gelten eigene Sprechweisen und Sinnkonstrukte sowie Moralvorstellungen und Grundsätze, die eine verflochtene Struktur spezifischer sozialer Positionen und Machtverhältnisse darstellen sowie bestimmte Handlungsnormen implizieren. 4 Bourdieu spricht analog auch von Spielfeldern, in denen Spielende mit ihrem Habitus und ihren verschiedenen Kapitalarten nach bestimmten intersubjektiv weitgehend anerkannten, z.T. unbewussten, (Spiel)Regeln agieren.5 Zwar folgen alle sozialen Felder einer vergleichbaren inneren Struktur, charakteristisch für jedes einzelne Feld sind aber die je eigenen Regeln und Logiken, die durch die Akteure und Akteurinnen als feldspezifischer Habitus übernommen bzw. inkorporiert werden. Wie in einem »echten« Spiel müssen die Spielenden bzw. die Akteure und Akteurinnen glauben, dass sich das Befolgen der geltenden Regeln sowie der Spieleinsatz in irgendeiner Weise für sie lohnen. Das Interesse6 oder auch die Faszination am Spiel sowie der Glaube an die Regeln und Einsätze bezeichnet Bourdieu als Illusio: »Illusio beschreibt die Weise, wie ein sozialer Akteur an einem feldspezifischen Gesellschaftsspiel teil hat, in ihm verhaftet ist, wie stark er an es glaubt, wenn er an es glaubt, ob er also seinen Nutzen anerkennt und den von ihm geforderten Einsatz leisten möchte. Die Entscheidung zur Teilhabe impliziert das Interesse an feldspezifischen Sinn- und Wertstiftungen.«7

Offensichtliche Vorteile werden hier jenen Akteur/-innen zuteil, die in ein Feld hineingeboren werden und denen »die Spielregeln und die ungeschriebenen Gesetze

4

Vgl. Lorenz, Ansgar/Lépine, René: Pierre Bourdieu, Paderborn: Fink 2014.

5

Vgl. Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot: »Feld (champ)«, in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: J. B. Metzler 2014, S. 99-103.

6

Bourdieu verwendete hier zuerst den Begriff Interesse, ersetzte diesen später aber durch Illusio. Da und dort liest sich stellenweise auch der der Psychologie entlehnte Terminus Libido, womit »ein (lustvolles) Streben nach bestimmten, stets auch mit Machtaspekten verknüpften, gesellschaftlichen Positionen« markiert werden soll. (Suderland, Maja: »Libido [libido]«, in: Fröhlich/Rehbein, Bourdieu Handbuch [2014], S. 169-170, hier S. 169).

7

Böning, Marietta: »Illusio«, in: Fröhlich/Rehbein, Bourdieu Handbuch (2014), S. 129131.

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selbstverständlich sind«.8 Das Infragestellen des Spiels hingegen bedeutet Distanzierung und Abspaltung: »Verliert ein Spieler oder verlieren viele – aus welchen Gründen auch immer – den Glauben an die Sinnhaftigkeit des Spiels, reagieren normalerweise alle anderen im Feld, auch wenn sie darin sonst gegensätzliche Positionen vertreten, außerordentlich empfindlich und aggressiv. Denn diejenigen, die den Sinn des Spiels in Frage stellen, könnten dazu beitragen, dass der Fortgang des Spiels in Zweifel gezogen werden muss.«9

Die Überzeugung, dass sich Spiel und Feld lohnen, erfordern von Spielenden nach Bourdieu »spezielle Investitionen, die ihren Ausdruck in der jeweils feldspezifischen Libido finden, bspw. in der Bereitschaft, für das Spiel bestimmte Opfer zu bringen oder Leiden zu erdulden«.10 Somit erscheint für Außenstehende, die weder am Spiel beteiligt sind, noch daran glauben, die Selbstverständlichkeit dessen als absurd oder unwirklich, eben illusorisch.11 Die (negativ) zugespitzte Ausformung der Illusio bezeichnet Bourdieu als Doxa und meint damit eine Art tief sitzenden (orthodoxen) »Urglauben« bzw. »alle Meinungen, deren Gültigkeit fraglos vorausgesetzt wird«.12 Das heißt, Doxa benennt die inhaltliche Essenz und die Wertvorstellungen, die innerhalb eines Feldes wirksam sind und die durch die Akteur/-innen als selbstverständlich und unhinterfragt anerkannt werden. Wie beispielsweise das Erachten von Tieren als nachwachsende Ressource oder die Sichtweise, das Essen und Töten von Tieren sei »normal, natürlich und notwendig«. 13 Die Felder sind als Kraftfelder oder auch Kampfplätze zu verstehen, in denen soziale Konflikte ausgetragen werden und in denen fortwährend Auf- und Abstiegsprozesse stattfinden.14 Um überhaupt in einem Feld wirksam sein zu können, sind laut Bourdieu verschiedene Kapitalsorten erforderlich. Das Verfügen über die spezifischen Kapitalformen erleichtert, ermöglicht und legitimiert den Eintritt ins Feld. Die Verteilung des Kapitals bestimmt hiernach die Struktur des Feldes sowie

8

Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu. Eine Einführung. Konstanz: UVK-Verlag 2011, S. 117.

9

Ebd.

10 Ebd. 11 Vgl. M. Böning: Illusio, S. 130. 12 Koller, Andreas: »Doxa (doxa)«, in: Fröhlich/Rehbein, Bourdieu Handbuch (2014), S. 79-80, hier S. 79. 13 Vgl. Joy, Melanie: Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen. Karnismus – Eine Einführung, Münster: Compassion Media 62016. 14 Staab, Philipp/Vogel, Berthold: »Kampf (lutte), Konflikt (conflit)«, in: Fröhlich/Rehbein, Bourdieu Handbuch (2014), S. 131-133, hier S. 131.

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den Grad der Einflussnahmemöglichkeit der einzelnen Akteure und Akteurinnen. Durch den Einsatz des Kapitals (oder auch »Trümpfe«) 15 geht es sowohl den Etablierten (Arrivierte) als auch den Neulingen (Emporkömmlinge) stets um die Optimierung der je eigenen Position im Feld sowie um die Maximierung der verschiedenen Kapitalformen. Diese unterteilt Bourdieu in ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital. Ökonomisches Kapital spielt sehr häufig eine dominierende Rolle. Es umfasst materiellen Reichtum, Besitz, Eigentums- und Tauschwerte sowie Produktionsmittel und kann z.B. im Rahmen einer Erbschaft weitergegeben werden. Kulturelles Kapital (auch Bildungskapital oder Informationskapital), ist nicht ganz trennscharf von ökonomischem Kapital abzugrenzen und wird nochmals in drei Subkategorien klassifiziert: inkorporiertes, objektiviertes und institutionalisiertes kulturelles Kapital. Der Erwerb sowie die Akkumulierung von kulturellem Kapital (Bildung) sind generell mit Lernen und der Aneignung von Wissen verbunden und bedeuten – neben dem erforderlichen Einsatz von ökonomischem Kapital – eine entsprechend zu erbringende Arbeitsleistung, die wiederum einen zeitlichen Aufwand erfordert. Weitere substanzielle Faktoren kulturellen Kapitals sind Dispositionen und Traditionen, vorsprachliche und sozialisatorische Prägungen sowie das Milieu der Herkunftsfamilie, die als verinnerlichte (inkorporierte), und damit körpergebundene Kompetenzen, Bestandteile des Habitus bilden.16 Objektiviertes, kulturelles Kapital wie materiale und materielle Objekte, z.B. Bücher, Gemälde, Kunstobjekte, technische Instrumente usf., können erworben und/oder (v)ererbt werden und sind relativ leicht in ökonomisches Kapital rekonvertierbar. Diese Kapitalform ist konstitutiv für spezifische (elitäre) Felder: »Wer in diesen Kreisen über keine Form von objektiviertem kulturellen Kapital verfügt, verrät sich als Außenseiter. Nicht viel besser ist es, wenn man die falsche Kunstsammlung hat«.17 Darüber hinaus verlangt aber auch der Umgang mit sowie das entsprechende Wissen über die Bedeutung bspw. einer Kunstsammlung eine spezifische Sachkenntnis, in deren Erwerb selbst zu investieren ist und die nicht auf andere Personen übertragen werden kann. 18 Hier unterscheidet wiederum institutionalisiertes kulturelles Kapital den Autodidakten von der anerkannten Expertin, die den Wissensnachweis in Form von Zertifikaten und Bildungstiteln präsentiert. Bourdieu markiert in diesem Zusammenhang zudem eine magische Kraft, die von akademischen Bildungstiteln ausgeht und damit über den Zutritt zu gesellschaftlichen Teilbereichen entscheidet: »Prüfungen setzen Grenzen

15 Vgl. Barlösius, Eva: Pierre Bourdieu, Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2011, S. 103. 16 Vgl. Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu zur Einführung, Hamburg: Junius 72011, S. 89. 17 Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot: »Kapital (capital)«, in: Fröhlich/Rehbein, Bourdieu Handbuch (2014), S. 134-140, hier S. 137. 18 Vgl. W. Fuchs-Heinritz/A. König: Pierre Bourdieu, S. 129.

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zwischen denen, die es geschafft haben, und denen, die durchgefallen sind«. 19 Bildungstitel verleihen dem Träger ein Kapital, das innerhalb bestimmter Felder einen beträchtlichen Wert haben kann,20 was jedoch nicht bedeuten muss, dass sich dieses immer auch in ökonomisches Kapital transformieren lässt. Auch soziales Kapital kann nicht Eins-zu-eins in ökonomisches Kapital umgesetzt werden, wenn es auch »Gold wert« sein kann. Es basiert im Wesentlichen auf der Zugehörigkeit zu Gruppen unterschiedlichster Art wie Familie, Freundschaftsbeziehungen, Bekanntschaften, Geschäftsverbindungen sowie auch die Mitgliedschaft in Klubs, Parteien, Verbänden, Organisationen, Vereinen, Akademien usw. Der veritable Nutzen »besteht aus Möglichkeiten, andere um Hilfe, Rat oder Information zu bitten sowie aus den mit Gruppenzugehörigkeiten verbundenen Chancen, sich durchzusetzen. […] Die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung innerhalb dieser Vereinigungen erhöhen die Chance, im Bedarfsfall Unterstützung zu erhalten oder sich durch einen Hinweis auf die Mitgliedschaft zur Geltung bringen zu können.«21

Sozialkapital, oder alltagssprachlich formuliert »Vitamin B«, bedeutet demnach entsprechend Zugriff auf wertvolle Ressourcen zu haben, die in manchen (wichtigen bzw. mächtigen) Feldern von hoher Bedeutung sind. Eine vierte Kapitalform nennt Bourdieu das symbolische Kapital. Symbolisch deshalb, weil es gewissermaßen auf einer übergeordneten Ebene über allen anderen Kapitalformen steht und auch in ihnen enthalten ist, das heißt also »meist im Verbund mit anderen Ressourcen auf(tritt), zu deren Legitimierung und Kraft es dann beiträgt«.22 Gemeint sind damit bestimmte Arten gesellschaftlicher Anerkennung aufgrund besonderer und/oder gemeinnütziger Leistungen wie karitative Spenden, außergewöhnliche (ehrenamtliche) Einsätze, Förderungen, ein namhaftes Familiengeschlecht, gesellschaftlicher Status, der »gute Geschmack« sowie Wertschätzung bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten generell. Eine besondere Form symbolischen Kapitals ist nach Bourdieu die Ehre.

19 Ebd., S. 131. 20 Vgl. B. Rehbein/G. Saalmann: Kapital, S. 133. 21 W. Fuchs-Heinritz/A. König: Pierre Bourdieu, S. 133. Exemplarisch ist hier auf Jagdeinladung und Gegeneinladung hinzuweisen. 22 Ebd., S. 135.

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DER JAGDLICHE HABITUS Der Habitus bei Bourdieu umfasst inkorporierte, dauerhafte Dispositionen (Konditionierungen), die von Erfahrungen und Geschichte geprägt sind und das Wahrnehmen, Handeln, Denken sowie Bewerten einer Person (Akteurs/Akteurin) beeinflussen. Der Habitus bildet sich dabei jeweils gruppentypisch aus und verinnerlicht bestimmte Verhaltensmuster. Diese sind abermals z.B. klassen-, geschlechts-, oder berufsspezifisch geformt und erzeugen ihrerseits den entsprechenden Gruppenhabitus, also der Klasse, des Geschlechts, des Berufes usf. Diesem Gruppenhabitus sind »bestimmte Formen des Sprechens, des Lachens, der Körperhaltung, des Geschmacks«23 immanent, die sie einerseits gegenüber Trägern desselben Habitus, also »Gleichgesinnten«, erkennbar macht und sie andererseits gegenüber anderen Lebensstilen abgrenzt. Bourdieu bezeichnet dieses Gespür auch als »praktischen Sinn«.24 Der Habitus einer Person oder einer Gruppe ist demnach nicht angeboren, sondern beruht auf individuellen und kollektiven Erfahrungen, d.h. er ist ein soziales Produkt, das erworben und angeeignet wird. »Die Genese des Habitus, die Entwicklung des ›praktischen Sinnes‹, des ›Spielsinns‹, des ›Geschmacks‹ erfolgt über die Inkorporierung bzw. Einverleibung der Kultur, der Geschichte, des Sozialen«. 25 Zudem ist der Habitus an sich nicht beobachtbar und entfaltet sich nur in Beziehung zu entsprechend passenden Feldern.26 Das bedeutet, dass der Habitus als die verkörperlichten objektiven Strukturen der sozialen Umwelt (Felder) ein opus operatum (ein hervorgebrachtes Werk) darstellt, das seinerseits wiederum als modus operandi (als Art und Weise des Handelns) agiert und auf diese Weise wieder Praxis erzeugt.27 Der Habitus des/der Jagenden konstituiert sich demnach zum einen durch den gruppenspezifischen Habitus der Jägerschaft sowie durch den (geschlechtsspezifischen) Habitus der Jagenden selbst. Während der geschlechtsspezifische Habitus sich vorsprachlich in der Primärsozialisation ausbildet und sein Entstehen in Vergessenheit gerät, werden andere Formen spezifischer Habitus erst im Rahmen der sozialen Praktiken hergestellt. Eine besondere Form der Erzeugung habitueller Dispositionen stellt im Rahmen der Jagd insbesondere das Ritual dar. Rituale zeichnen sich durch eine bestimmte Art

23 A. Lorenz/R. Lépine: Pierre Bourdieu, S. 17. 24 Verkürzt dargestellt könnte man den Begriff »praktischer« oder auch »sozialer Sinn« als Intuition beschreiben. 25 Fröhlich, Gerhard: »Einverleibung (incorporation)«, in: Ders./Rehbein: Bourdieu Handbuch (2014), S. 81-90, hier S. 82. 26 Vgl. ebd. 27 Rehbein, Boike/Saalmann, Gernot: »Habitus (habitus)«, in: Fröhlich/Rehbein, Bourdieu Handbuch (2014), S. 110-118, hier S. 112.

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der Standardisierung und Wiederholung aus (auch im Hinblick auf die Historizität). Sie haben Aufführungscharakter, d.h. Rituale werden innerhalb von Gemeinschaften in spezifischer und gleich bleibender Weise inszeniert. Darüber hinaus sind sie gekennzeichnet durch ihre Symbolizität und Performativität. 28 Das heißt, dass Rituale etwas symbolisieren, also etwas aussagen und bestätigen. Performativ sind Rituale dahingehend, dass sie etwas tun. »Sie sind wirkmächtig in dem Sinne, dass sie das, was sie darstellen, zugleich herstellen. Die meisten Rituale bewirken eine Veränderung der sozialen Wirklichkeit und stiften eine Verpflichtung, nämlich dass die Beteiligten sich in der Zukunft an das halten, was sie im Ritual gemeinsam symbolisch dargestellt haben. Sie ziehen eine Grenze zwischen Vorher/Nachher […]: Sie trennen das alte Jahr vom neuen, Schuld von Unschuld, Recht von Unrecht, Kindheit vom Erwachsensein, das Leben vom Tod.« 29

Bourdieu umschreibt das Phänomen des empfundenen Gleichklangs zwischen den Akteur/-innen, den das Ritual auslöst als »soziale Magie«. 30 Es ist deshalb als magisch zu charakterisieren, weil »die Gefühle, die inneren Einstellungen, die sie darstellen«31 sich den Betrachter/-innen entziehen, also unsichtbar sind und fernerhin auch keiner direkten Messbarkeit zugänglich sind, da sie sich nicht bei allen Akteur/-innen in derselben Form äußern bzw. erzeugt werden, aber dennoch eine Art stillschweigende Übereinkunft herstellen. Rituale schaffen performativ gesellschaftliche Ordnungen, bringen Institutionen hervor und konstituieren dauerhafte soziale Strukturen.32 Im jagdlichen Kontext bedeutet der Abschluss der Jagdprüfung, neben der Neigung bzw. dem Interesse zu töten, den offiziellen Eintritt ins Feld. Die rituelle Verleihung des Titels »Jungjäger/-in« stellt die erste sichtbare Differenzierung dar, denn der/die Jagende ist ab diesem Zeitpunkt ex lege befugt, Wildtiere zu töten (was in der Regel nur wenigen Berufsgruppen vorbehalten ist). Die Aufnahme in die Gemeinschaft der Jagenden trennt sie damit von der übrigen nicht-jagenden Gesellschaft. Ein weiterer wesentlicher Initiationsritus stellt die erste Tötung eines größeren Säugetieres dar, die als Tat wiederum mit verschiedenen Ritualen verknüpft ist,33 die die Tötung harmonisieren, legitimieren und Widersprüchlichkeiten

28 Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Rituale, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2013, S. 11. 29 Ebd., S. 11f. 30 Vgl. ebd., S. 12. 31 Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 13. 33 Gemeint sind z.B. die Andacht und der »letzte Bissen«, die Beglückwünschung, der Erlegerbruch, die anschließende Feier (»Tottrinken«) usf., wenngleich »[für Außenstehende] [d]ie Waidmannspflicht zur pseudoreligiösen Weiheminute und meditativen Zigaretten-

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beseitigen sollen. Kraft dieser Kulthandlungen werden objektive Strukturen und Muster der jagdlichen Umwelt konditioniert, inkorporiert, verkörpert und reproduziert. Die dieserart im Rahmen der jagdlichen Praxis und Praktiken erzeugten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata bilden hiernach den gruppenbzw. feldspezifischen Habitus.

(WO-)MEN THE HUNTER / MÄNNLICHE HERRSCHAFT Das Feld der Jagd ist nach wie vor in »männlicher Herrschaft« und das »MaleStream-Denken«34 demzufolge latenter und manifester Bestandteil der habituellen Denk- und Verhaltensstrukturen. So gesehen sind sowohl jagdliche Praktiken und Argumentationsformen über deren Legitimation als auch explizierte Motivationen zu jagen bei Männern und Frauen nahezu identisch, denn Frauen stehen als jagende »Emporkömmlinge« in erzieherischer und sozialisatorischer Beziehung zu den männlichen »Arrivierten« des Feldes, wonach sich ihr feldspezifischer Habitus konstituiert. Auf diese Weise reproduziert und konsolidiert sich die männliche Herrschaft des Feldes, denn »Herrschaft heißt auch, dass die der Herrschaft unterliegenden Subjekte über weite Strecken die ›herrschende Meinung‹, die Sicht der Welt übernehmen, die die Herrschenden entwickelt haben, und damit ein von diesen geprägtes Selbstbild.«35 Für weibliche Jagende eröffnet sich der Zugang zur Jagd in vielen Fällen über den (Ehe)Partner oder über den familiären Hintergrund (z.B. jagender Vater, Großvater etc.). Frauen sind so gesehen dazu »verurteilt« über (ihre) Männer am männlich dominierten »Spiel« Jagd teilzuhaben, »durch eine emotionale, solidarische Verbundenheit mit dem Spieler, die keine wirkliche intellektuelle und affektive Beteiligung am Spiel impliziert und die aus ihnen oft bedingungslose, aber mit der Realität des Spiels und seiner Einsätze wenig vertraute Anhänger macht«.36 Im Allgemeinen werden Frauen durch den überwiegenden Teil der männlichen Jagdkollegen begrüßt. Sie sind »für die Jagd eine Bereicherung, die Jagd wird optimistischer,

pause im Angesicht des soeben getöteten Opfers […] nur von Zynismus zeugen [kann]« (Bode, Wilhelm/Emmert, Elisabeth: Jagdwende. Vom Edelhobby zum ökologischen Handwerk, München: C.H. Beck 32000, S. 84). 34 Dölling, Irene: »Männliche Herrschaft (domination masculine)«, in: Fröhlich/Rehbein, Bourdieu Handbuch (2014), S. 172-178, hier S. 101. 35 Krais, Beate/Gebauer, Gunter: Habitus, Bielefeld: transcript 2014, S. 53. 36 Dölling, Irene/Krais, Beate: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 197.

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sympathischer, weltoffener, kultivierter und zukunftsfähiger.« 37 Frauen sollen das Ansehen der Jagd stärken und zwar weg von der »Wahrnehmung vom schiesswütigen, männlichen Psychopathen hin zum Wesen der Jagd«. 38 Allerdings sind Frauen ihren männlichen Kollegen – nicht nur zahlenmäßig –, sondern vor allem in funktionellen Positionen nachgestellt. Im Rahmen aktiver Mitarbeit für die Jägerschaft als Organisation werden Frauen daher oft in kommunikativen, redaktionellen und/oder organisatorischen Tätigkeitsbereichen eingesetzt. Von innerstrategischer Mitsprache sind sie jedoch weitgehend ausgeschlossen, es sei denn Frauen verfügen qua Herkunft über das entsprechende Kapital, um in Jägerkreisen effektiv Einfluss zu nehmen. Allerdings kommt es für viele Frauen auch gar nicht in Betracht, sich den etablierten männlichen Kollegen entgegen zu stellen oder sich ihnen gegenüber weisungsbefugt zu fühlen. Viele jagende Frauen richten sich deshalb in den ihnen zugedachten Positionen ein oder schaffen sich Nischen, die nicht mit denen der männlichen Kollegen in Konkurrenz stehen. Sie scheinen vor allem ihren subjektiven Gewinn als jagdlicher Sozius hoch zu gewichten. So erfahren Frauen hierbei denn auch eine gänzlich andere Form von (gesellschaftlicher) Achtung und werden durch die männlichen Etablierten für ihre erbrachten jagdlichen Leistungen, wie z.B. besonders treffsichere (»weidgerechte«) Schüsse, korrektes Ansprechen oder das eigenhändige Bergen und Ausweiden ( »Aufbrechen«) des Wildtierkörpers, anerkannt. Diese Art von männlicher (Selbst)Verehrung mag für Frauen einer der zentralen Faktoren sein, im Feld mitspielen zu wollen. Weibliche Jagende ziehen also einen überwiegend symbolischen Nutzen aus der Partizipation an sich, wodurch sie sich gegenüber den anderen jagenden Akteuren sowie den nicht-jagenden Akteurinnen des Sozialraums differenzieren. Der angeeignete feldspezifische Habitus sowie der Wert des subjektiv erfahrenen Gewinns überlagern dabei den Akt der Tötung als irreversible Gewalt und machen Frauen so zu Komplizinnen männlicher Herrschaft. Im Feld positioniert, sind sie qua geschlechtsspezifischem Habitus dazu berufen, die Rolle des vermeintlich ebenbürtigen Jagdkumpans sowie der gelegentlichen Jagdbegleiterin zu spielen, die zudem eine souveräne Schützin ist (und sein muss). Daneben sind Frauen da und dort auch solidarische Mitpächterin (z.T. pro forma), tugendhafte Gesellschafterin, gute Köchin und/oder bedingungslose Bewunderin männlicher Jagderfolge. Weibliche Jagende figurieren im Feld der Jagd häufig auch »als Versorgungsperson und zur Zubereitung der von ihrem Nimrod aus der Wildnis heimgebrachten Beute. Weitere Tätigkeitsfelder als Mehrzweckhilfskraft sind das Säubern und In-

37 Schwab, Alexander: Werte, Wandel, Weidgerechtigkeit, Wohlen b. Bern: Salm Verlag 2011, S. 106. 38 Ebd., S. 105.

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standhalten der jagdlichen Ausrüstung (natürlich mit Ausnahme der Waffen), die Ausstattung des Jägerheims mit waidgerecht gestalteten Gebrauchsgegenständen sowie Dienstleistungen aller Art für Jagdhunde, besonders wenn Welpen zu versorgen sind.«39

Frauen scheinen dabei teils zu ahnen, dass sie trotz augenscheinlicher »Gleichberechtigung« nicht uneingeschränkt in das Spiel Jagd involviert sind. Dennoch gewichten sie ihr Privileg an der Teilhabe hoch. Sie erfahren im Kontext ihrer Unterwerfung unter die Spielregeln eine neue Form der Ehrung und werden dabei für die erbrachten Leistungen durch männliche Anerkennung belohnt.40

FEMINISTISCHE KRITIK AN DER JAGD Die US-amerikanische Feministin, Umweltethikerin und Tierbefreiungsaktivistin Marti Kheel (1948-2011) sucht im Rahmen ihrer Kritik an der Jagd die psychologischen Bedürfnisse des jagenden Menschen bzw. Mannes41 zu enthüllen. Sie differenziert im Anschluss an eine diskursanalytische Untersuchung amerikanischer Jagdmagazine und Literatur unterschiedlich motivierte Jägertypen, die ihrer Auffassung nach die andro- und anthropozentrischen Strukturen der Jagd offenlegen. Für Kheel ist Jagd vor allem männlich assoziiert und zudem mit Aggression, Gewalt und Tod verbunden. Jagd bedeutet nach Kheel dabei die Suche nach psychosexueller Identität sowie die Konstruktion von Männlichkeit: »In the process of killing the animal, the hunter (re)establishes his secondary identity, that is, his masculine self. It is, in reality, the mental construct of masculinity that is fed by violence and death«.42 Sie klassifiziert auf Basis ihrer Forschung die variierenden Motive und Bedürfnisse der Jäger und benennt hiernach folgende drei Typenkategorien: happy hunter:

39 W. Bode/E. Emmert: Jagdwende, S. 54f. 40 Das Töten der Tiere wird, nicht zuletzt unter Verweis auf die Investition ökonomischen Kapitals, kaum hinterfragt. Lediglich die Abschussquote ist bisweilen ein strittiger Punkt. 41 Kheel klammert Frauen bzw. Jägerinnen nicht grundsätzlich aus, verweist aber darauf, dass Jagd überwiegend durch Männer ausgeübt und ideologisiert wird: »Although hunting is not an exclusively male activity, the vast majority of hunting has been performed by men« (Kheel, Marti: »The Killing Game: An Ecofeminist Critique of Hunting«, in: Armstrong, Susan J./Botzler, Richard G.: The Animal Ethics Reader, London, New York: Routledge 22008). 42 Kheel, Marti: »License to Kill. An Ecofeminist Critique of Hunters’ Discourse«, in: Carol J. Adams/Josephine Donovan (Hg), Animals and women. Feminist theoretical explorations. Durham: Duke University Press 1995, S. 85-125, hier S. 108.

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psychological need, holist hunter: ecological need, holy hunter: spiritual need. Kheel weist darauf hin, dass »(t)his is not intended as a comprehensive analysis of the categories of all hunters; nor does it imply that no overlap exists within or among the categories«.43 Sie unterstreicht aber einen identen (Ur)Glauben, der allen drei Typen innewohnt: »All three varieties of hunters […] believe that the activity of hunting has some redeeming benefit beyond individual satisfaction. Although each category of hunter has a different perception of the nature of this moral benefit, their narratives concerning the actual experience of hunting demonstrate certain common themes.«44

Diese bei allen Jagenden wiederkehrenden Denkarten und Überzeugungen sind zum einen, »the notion that hunting involves a momentary reversion to an earlier period of time before humans became removed from the natural world«. 45 Allerdings ermöglicht aber scheinbar erst die Jagd selbst, nämlich das Aufspüren, Angreifen und Töten des Wildtieres, die Transformation zur Mann- bzw. Menschwerdung: »For many writers, the activity of hunting is not only essential for the attainment of full manhood, it is integral to the development of one’s status as a full human being«. 46 Überdies berichten die durch Kheel beforschten Jäger davon, dass die Jagd alle Sinne, Ohren und Augen öffnet und zudem eine stille Einvernehmlichkeit unter Jägern schafft, wie sie sonst nur Liebespaare erfahren. So wird denn auch die Jagd häufig mit sexueller Lust in Verbindung gebracht: »Without the pursuit of orgasm, sex typically is thought to have no meaning or narrative structure, […] without the intent to kill, the hunt, we are told, has none as well«. 47 Schon Paul Parin (19162009), Psychoanalytiker und selbst leidenschaftlicher Jäger erklärt: »Jagd eröffnet einen Freiraum für Verbrechen bis zum Mord und für sexuelle Lust, wann und wo immer gejagt wird. […] Der Jäger ›weiß‹ – bewusst oder unbewusst – aus Erfahrung, dass sexuelle Lust und das Töten untrennbar zur Jagd gehören«. 48 Kheel betont hier die grundsätzliche Problematik der Jagd, die die vorsätzliche und gewalt-

43 Ebd., S. 87. 44 Ebd., S. 89. 45 Ebd. Der spanische (Jagd)Philosoph und Soziologe José Ortega Y Gasset (1883-1955) nennt dies eine Rückkehr in archaische Situationen und spricht hier von »Ferien vom Menschsein« (Ortega Y Gasset, José: Meditationen über die Jagd: Tiefe Einsichten in die Natur des Menschen und der Jagd, München: Dürckheim Verlag 2012, S. 161f.). 46 Ebd., S. 90. 47 Ebd., S. 91. 48 P. Parin: Die Leidenschaft des Jägers, S. 8f.

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same Tötung des Wildtieres impliziert: „The moral problem with the make-believe aspect of hunting is glaring, for the goal of the hunter’s ›game‹ is deadly serious«. 49 Kheel benennt aber auch voneinander abweichende Einstellungen, Auffassungen und Argumentationslinien innerhalb der Jagenden, was z.B. im Hinblick auf unterschiedliche Lebensstile, Herkunft oder Sozialisationswege wenig überraschend sein mag. Auf Basis ihrer Untersuchung charakterisiert Kheel den happy hunter dabei als Typ, der aus »reinem Vergnügen« und »purer Lust« jagt und dabei freimütig offenbart, welche Freude ihm sein »Sport« (den er auch als »Spiel« bezeichnet) bereitet.50 Für diesen Jägertypus ist die Jagd Erholung bzw. eine sportliche Freizeitbeschäftigung (Hobby), die bestimmten Regeln unterliegt und seiner Auffassung nach dem Wild dadurch faire Chancen einräumt sowie darüber hinaus ein demokratisches Recht der Menschen darstellt.51 Das hiernach selbst autorisierte Recht zu töten, leitet sich allem Anschein nach ab »from a ›fact‹ of nature, which modern hunting is intended to preserve, namely, the Darwinian notion of conflict or survival of the fittest«.52 Weitere subjektive Nutzen des happy hunters sieht Kheel in der (Re)Inszenierung romantischer und romantisierter Vorstellungen früherer Zeiten und einer als urtümlich empfundenen Verbundenheit mit der gesamten Natur, »the traditional kinship between men, wild things, and the land«. 53 Weniger emotionsbetont ausgerichtet als der happy hunter ist nach Kheel der so genannte holist hunter. Diesen kennzeichnet vor allem eine eher »wissenschaftsbasierte« Grundhaltung, die sich insbesondere durch seine Relativierung und Rationalisierung der Tiertötung äußert. Er hebt stattdessen die ökologische Notwendigkeit der Regulierung in den Vordergrund und versteht sich selbst als Dienstleister für die Öffentlichkeit sowie als Verwalter bzw. Manager der überzähligen Wildtierpopulation in Vertretung für fehlende Prädatoren: »Using terms such as ›population density‹, ›sustainable yield‹, and the necessity of ›culling‹ or ›harvesting‹ the ›excess‹ animals that would otherwise starve, holist hunters claim the title of ›managers‹ for the biotic community«.54 Der moderne holist hunter tötet also demgemäß nicht aus Gründen der Erholung, sondern »seeks to convince the public that he is playing a

49 M. Kheel: The Killing Game, S. 456. Paul Parin bekundet, dass »[d]ie wirkliche Jagd […] ohne vorsätzliche Tötung nicht zu haben [ist]. Leidenschaftlich Jagende wollen töten. Jagd ohne Mord wäre ein Oxymoron, ein Begriff, der sich selber aufhebt« (Die Leidenschaft des Jägers, S. 9). 50 Vgl. M. Kheel: The Killing Game, S. 456. 51 Vgl. Ebd.: License to Kill, S. 94. 52 Ebd.: The Killing Game, S. 457. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 455.

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vital, ecological role, comparable to other predators in the natural world«. 55 In diesem Zusammenhang weist sie auch auf die Verbindung zu öffentlichen Behörden hin: »Their management partners in this undertaking are the federal and state fish and wildlife agencies, which manage both the animals and the hunters themselves«.56 Kheel erinnert jedoch daran, dass der Mensch so genannte Großraubtiere nicht ersetzen kann, denn »natural predators prey on the old, the weak, and the sick, human hunters typically select the biggest and healthiest animals to kill«.57 Darüber hinaus hebt sie hervor, dass die meisten der entsprechenden Prädatoren zuvor durch den menschlichen Jäger ausgerottet worden sind und dieser somit selbst einen Teil des Problems darstellt: »In sum, hunters help create the ecological problems that they then claim to solve«. 58 Den dritten Jägertypus nennt Kheel den holy hunter. Er ist spirituell oder religiös eingestellt bzw. beeinflusst von spirituellen oder religiösen Weltanschauungen. »For the holy hunter, hunting is a religious or spiritual experience. […] The only appropriate attitude for the holy hunter is the religious one of reverence and respect. […] Hunting is seen not so much as a game that requires adherence to rules of good conduct; it is more akin to religious rite.«59

Jagende dieses Typus identifizieren sich offenbar mit dem zu tötenden Tier, bekunden Ehrfurcht und weisen persönliches Vergnügen an der Jagd zurück. »Holy hunters claim a humble and submissive attitude, seeking not to conquer nature, but rather to ›submit to ecology‹«.60 Charakterisierend für den holy hunter ist die gefühlte Verbundenheit mit Subsistenzjägerkulturen, zusammen mit der Vorstellung, dass das Tier sich dem Jäger opfert: »Some, but by no means all, of these cultures promoted the notion of saying a prayer before killing an animal, as well as the idea that the animal ›gives‹ her or his life as a gift to the hunter«61. Nach Kheel ist diese Ansicht der »Selbstopferung« allerdings hochproblematisch, verschleiert und euphemisiert sie doch den Gewaltakt. Zudem ist danach zu fragen, warum dies selektiv nur einige Individuen und nicht alle Tierarten in gleicher Weise betreffen soll.

55 M. Kheel: License to Kill, S. 96. 56 Ebd.: The Killing Game, S. 455. 57 Ebd., S. 458. 58 Ebd.: License to Kill, S. 96. 59 Ebd., S. 99f. 60 M. Kheel: The Killing Game, S. 458. 61 Ebd.

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»In effect, the holy hunter claims to restrain his aggression to the point of non-existence – at least within his own mind. However, the notion that the animal chooses to end her or his life for the benefit of the hunter has no more validity than the idea that a woman who is raped ›asked for it‹ or ›willingly‹ gave herself to the rapist.«62

SCHLUSSBETRACHTUNGEN Die Jagd ist als ein Teil der kulturellen Entwicklungsgeschichte des Menschen gesellschaftlich mehrheitlich anerkannt, jedoch wird die Ausübung der Jagd als Hobby und/oder sportlichem Vergnügen z.T. auf akademischer Ebene sowie durch Tierschutz- und Tierrechtsbewegungen laut kritisiert und die Sinnhaftigkeit gegenwärtig vor allem mit Blick auf schwindende Lebensräume ökologisch bezweifelt. Hierauf antwortet die Gruppe der Jagenden mit dem ihrerseits ökologisch begründeten Argument, als Ersatz für fehlende Beutegreifer die Wildtiere auf ein für die Natur »verträgliches Maß« reduzieren zu müssen. Dass Art und Anzahl der zu tötenden Tiere durch die Behörden bestimmt wird, d.h. dass nach anderen Maßstäben und Maßgaben als bei übrigen karnivoren Prädatoren selektiert wird, scheint dabei unbedeutend. Jagende bedienen wohl hauptsächlich die Ansprüche der Forstwirtschaft (bzw. der Waldbesitzer), ökonomische Verluste durch so genannte Wildschäden abzuwenden sowie Forderungen weiterer involvierter Felder, die ebenso kapitalistischen Logiken folgen. Zudem kultivieren Jagende so das Bild der naturliebenden Lebensraummanager. So werden anfallende Arbeiten im Revier, wie z.B. das Anpirschen oder der Ansitz im Hochstand sowie das Töten der Wildtiere denn auch häufig als Arbeits- und Dienstleistung deklariert. Es ist hinsichtlich der unterschiedlichen Reviergrößen und Strukturen aber höchst fraglich, welche Auswirkungen die Jagd auf das »Ökosystem« dieses einen (begrenzten) Jagdgebietes mit einigen hundert, seltener tausend, Hektar tatsächlich hat. Vor dem Hintergrund des gleichbleibend hohen Niveaus der Jagdstrecken kennzeichnet dies eher einen Argumentationsbehelf. Es ist an anderer Stelle zu klären, inwieweit Natur- und Lebensräume faktisch geschützt und erhalten, und ob nachhaltige Biotopoptimierungen durch die Jägerschaft betrieben werden. Offensichtlich scheint aber, dass derartige Aufbesserungen der Lebensbereiche meist die der jagdlich favorisierten Wildtiere (z.B. Rotwild) betreffen. »Die Jagd erscheint insgesamt auf eine bestimmte Konstruktion von ›Natur‹ bezogen, die von vornherein von jagdlichen Nutzungsfunktionen ent-

62 Ebd.: License to Kill, S. 104.

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scheidend mitgeprägt wird.«63 Veröffentlichungen und Studien, die belegen, dass »die Regulation von frei lebenden Tierbeständen durch die Jagd nicht funktioniert und auch nicht nötig ist«64, finden dabei aber offenbar sowohl im Feld der Jagd selbst, als auch in den angrenzenden gesellschaftlichen Feldern der Politik sowie der Forst- und Landwirtschaft nur marginale bzw. gar keine Beachtung. Das Wildtier an sich wird instrumentalisiert und verschwindet als Lebewesen mit Interessen und Empfindungen aus der bewussten Wahrnehmung. Derartig verdinglicht bzw. reduziert auf einen Objektstatus droht es aus dem Kreis der moralisch zu berücksichtigenden vollends verloren zu gehen. Der jagdliche Habitus konstituiert sich durch die Neigung bzw. dem Interesse sowie der Fähigkeit und Möglichkeit zu jagen. Im Feld der Jagd ist das Wildtier Spielfigur, die Tötung der (auch finanzielle) Einsatz des Spielers. Der jagende Spieler ist überzeugt, das »Raubtier« selbst zu verkörpern und das Töten anderer Tiere ist vermeintlich Teil seiner ursprünglichen Natur. Diese Ordnung der Dinge gilt für ihn als normal, natürlich, ewig und wahrhaftig.65 Das Unmenschliche (Waffengebrauch, Blut und Tod) der menschlichen »Bestie« wird mittels der vorgeschobenen Gebote Ehrfurcht und Moral verschleiert, der Akt der Tötung durch rituelle Tätigkeiten entschuldet66 und damit auch der Tod an sich einer Ästhetisierung unterworfen.67 Für das Wildtier ist es indes völlig belanglos, ob es einen »letzten Bissen« erhält68 und ob es durch einen weiblichen oder männlichen Jäger getötet wird. Das Töten und Essen von Tieren eröffnet mit Blick auf die Begriffe Legalität und Legitimität allerdings ein Spannungsfeld. Einerseits stellt es einen mehrheitlich akzeptierten und gebilligten gesellschaftlichen Konsens dar, wofür die im Vergleich

63 Maier, Eva Maria: »Eigentumsfreiheit und Tierschutz versus Jagd? Die Debatte um Jagdfreistellungen aus ethischen Gründen«, in: Journal für Rechtspolitik 25 (2017), S. 240– 251, hier S. 240. 64 Vgl. Reichholf, Josef: Warum Jagd? Folgen des Jagens für Menschen, Tiere, Pflanzen und Landschaften, in: TIERethik 2 (2013) 7, S. 12-32 , hier S. 12; Loske, Karl-Heinz: Von der Jagd und den Jägern. Bruder Tier und sein Recht zu leben, Münster: Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG 2006; W. Bode/E. Emmert: Jagdwende; Hagen, Horst: Wie edel ist das Waidwerk?, Frankfurt a.M., Berlin et al: Verlag Ullstein 1984. 65 Vgl. A. Lorenz/R. Lépine: Pierre Bourdieu, S. 92. 66 Zugespitzt formuliert: »Erst lieben und hinwenden, dann erst abmurksen und ganz zuletzt […] verweilen, betrachten und besinnen« (Hutter 1988, zit. n. W. Bode/E. Emmert: Jagdwende, S. 85). 67 Vgl. Burkert, Walter: Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin, New York: de Gruyter 21997. 68 Hier ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle Tierarten (z.B. Fuchs) den »letzten Bissen« erhalten und in diesem Zusammenhang nochmals abgewertet werden.

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zur Jagd unverhältnismäßig hohen Schlachtzahlen Zeugnis ablegen. Andererseits ist der Anblick sowohl massenhaft eingepferchter, als auch offensichtlich leidender oder erschossener Tiere für viele Menschen kaum zu ertragen. Die direkte Tötung von Tieren ist so gesehen ein Einsatz, der zwar von Jagenden geleistet wird, allerdings kaum von allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft gesetzt oder geteilt wird. Ein Umstand, der sicher als konfliktreich zu bezeichnen ist. Hinzu kommt, dass sich Jagende gleichzeitig selbst als Wildtierexpert/-innen zu privilegieren suchen. Das Töten des Wildtieres bildet aber den zentralen Kern der Jagd. Jagende sehen sich hier häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, Tiere rein aus Sport und Spaß zu töten, da die präpotente Technik der Waffen sowie die generelle Überlegenheit der technischen Ausrüstung auch dem mittelmäßigen Schützen noch einen Jagderfolg beschert. Das durch Jagende oft erwiderte Argument der »natürlichen« Nahrungsbeschaffung ist vor dem Hintergrund zahlreicher Alternativen kaum haltbar, zumal die Abschusszahlen der jeweiligen Reviere unterschiedlich hoch sind. Die Jagd stellt daher, abgesehen von den wenigen Berufsjäger/-innen, derzeit für die überwiegende Anzahl der Jagenden in Österreich hauptsächlich eine exklusive und stimulierende Freizeitbeschäftigung dar, in deren Rahmen die Tötung von Tieren praktisch durch Jedermann und -frau möglich ist, der über eine entsprechende Jagdkarte verfügt. Jagende geben selbst an, dass die Jagd einen »Erholungswert« für sie hat. Überdies bietet die Jagd einen exklusiven Rahmen für Geschäftsabschlüsse verschiedenster Art. Gänzlich unsichtbar und durch Jagende verschwiegen bleibt hierbei das Wissen um die Evidenz tierlicher Trauer, ausgelöst durch die anthropogene Zerstörung ganzer Familienverbände. Summa summarum sind es überwiegend kapitalistisch motivierte Argumente, die die gegenwärtige Form der Jagd in Österreich (und Mitteleuropa) noch vertretbar erscheinen lassen. Dringender geboten scheint hier, den Schutz der Wildtiere qua Gesetz zu konsolidieren. Generell kann eine »optimistische, sympathische, weltoffene, kultiviertere und zukunftsfähigere Jagd« (oder wie immer diese Tätigkeit benannt werden soll) dann wohl nur bedeuten, Wildtiere ausschließlich im Sinne einer Ultima-Ratio69 zu töten.

69 Mit dem »letzten geeigneten Mittel« sind demnach noch vier Einschränkungen des Lebensrechts von Wildtieren probat: 1. Notwehr, 2. Notstand im Sinne der Gnaden- oder Nottötung, 3. Tierwohl und 4. Artenschutz zur Bewahrung einer Art vor Ausrottung (vgl. Grimm, Herwig/Wild, Markus: Tierethik zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2016, S. 193).

»Irrtum und Heuchelei der Pflanzenesser« Zur Wahl sprachlicher Mittel in tierrechtsthematischen Beiträgen Daniel Gutzmann und Katharina Turgay

EINLEITUNG Die zahlreichen, öffentlichen Debatten um Tierrechte werden oftmals hitzig und emotional geführt. Dies gilt insbesondere bei Fragen der Ernährung, aber auch in anderen Bereiche wie Tierhaltung, generell oder speziell in Zoos, sowie der Jagd gibt es emotionale Reaktionen, wobei sich auf beiden Seiten immer wieder relativ starre Positionen beobachten lassen. Aus diesem Grund werden in überregionalen Tageszeitungen und Magazinen viele Artikel publiziert, in denen die jeweiligen Autor/-innen mit Argumenten versuchen, ihre Seite stark zu machen. Dabei kann man neben neutralen Texten solche Texte ausmachen, deren Autoren sich für Tierrechte und die damit verbundenen Konsequenzen aussprechen, sowie Texte von Autoren, die Tieren keine Rechte zukommen lassen wollen. Dies ergibt eine Unterscheidung in pro-tierrechtsthematische und contra-tierrechtsthematische Texte. Die Kontroverse zwischen diesen beiden Gegenpositionen wird nicht nur mit sachlichen Argumenten – seien es philosophische, ethische oder wissenschaftliche – geführt, sondern wird wie erwähnt auch durch Emotionen gefärbt, was sich darin äußert, dass Sachverhalte, Positionen oder auch deren Vertreter bewertet werden. Dabei lässt sich vermuten, dass sich dies auch in der Sprache niederschlägt, da es vielfältige Mittel gibt, explizite oder implizite Bewertungen sprachlich zu kodieren und die eigene Position ausdrücken und zum Teil auch untermauern. In unserem Beitrag möchten wir der Frage nachgehen, welche sprachlichen Mittel in tierrechtsthematischen Texten zur Bewertung zum Einsatz kommen. Gibt es Unterschiede zwischen pro- und contra-tierrechtsthematischen Texten? Neben solchen linguistischen Erkenntnissen kann dies auch Licht auf die Frage werfen, wie die öffentliche Tierrechtsdiskussion sprachlich geführt wird. Zu diesem Zwecke wird mit diesem Beitrag eine empirische Studie vorgestellt, in der wir einen Korpus von insgesamt 42 tierrechtsthematischen Texten nach

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sprachlichen Mitteln der Bewertung untersucht haben (Kapitel 4). Bevor wir diese jedoch in Abschnitt 4 vorstellen, gehen wir in Abschnitt 2 genauer auf die Mittel ein, die wir betrachten werden. Bei den Beispielen, die wir zur Illustration verwenden, handelt es sich schon um authentische Belege aus unserem Korpus. Zudem wird in Kapitel 3 eine Studie vorgestellt, die sich bereits einer ähnlichen Fragestellung zu diesem Thema widmete.

SPRACHLICHE MITTEL DER BEWERTUNG Natürliche Sprachen verfügen über vielfältige Mittel, Dinge oder Sachverhalte zu bewerten und eine Meinung oder Gefühle über diese zu kommunizieren.1 Dies geht natürlich explizit durch Äußerungen, deren Hauptfunktion es ist, zu bewerten. Ein Beispiel dafür findet sich in (1), in dem Blümel mit seiner Äußerung eine Bewertung (völlig in Ordnung) der Tatsache, dass eine vegetarische oder vegane Speisekarte existiert, vornimmt. (1) »Wenn ein Café eine vegetarische oder vegane Speisekarte hat, finde ich das völlig in Ordnung«, sagt Philipp Blümel.

Im Rahmen dieses Beitrags wollen wir jedoch die sprachlichen Mittel fokussieren, die die Bewertung nicht explizit zum Ausdruck bringen, sondern diejenigen, die mehr oder weniger beiläufig eine Bewertung kodieren bzw. konnotieren.2 Dabei übernehmen vor allem Nomen und Adjektive eine solche Funktion der »Perspektivierung und Evaluierung«,3 weshalb wir uns auch auf diese konzentrieren. In den Beispielen (2) und (3) finden sich Belege aus unserem Korpus, die solch einen inhärenten Ausdruck enthalten und somit im weiteren Sinne zur pejorativen Lexik gezählt werden können.4 Das Adjektiv heuchlerisch in (2) enthält eine negative Be-

1

Vgl. Martin, James R./White, Peter R. R.: The Language of Evaluation, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007; Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion, Tübingen: Francke 22013.

2

Vgl. Allan, Keith: »The pragmatics of connotation«, in: Journal of Pragmatics 39 (2007) 6, S. 1047-1057.

3

Schwarz-Friesel, Monika: »›Hydra, Krake, Krebsgeschwür, Sumpf, Killer-GmbH, Franchise-Unternehmen und Nebelwolke‹ – Perspektivierung und Evaluierung von islamistischem Terrorismus durch Metaphern im deutschen Pressediskurs nach 9/11«, in: Dies./Jan-Hening Kromminga, (Hg.), Metaphern der Gewalt, Tübingen: Francke 2014, S. 51-74.

4

Vgl. Havryliv, Oksana: Pejorative Lexik. Frankfurt a.M: Lang 2009.

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wertung, die Nomen Massenverachtung und Etikettenschwindel in (3a) und (3b) sind ebenfalls negativ konnotiert, was an den Zweitgliedern der beiden Nominalkomposita liegt, da sowohl Verachtung als auch Schwindel eine abwertende Bedeutung tragen. (2) Doch diese Einseitigkeit ist nicht nur heuchlerisch, weil sie dazu führt, bedenkenlos jedes pflanzliche Leben auszulöschen -- sogar Blumen und pflanzliche Embryonen (Sprossen) werden von Vegetaristen zerbissen und verzehrt. (3) a. Das Fleisch muss schön teuer sein. Ich übersetze diese Mahnung der ziemlich unverfrorenen Massenverachtung ins Deutsche: Überlasst das Fleisch doch lieber den höheren Einkommensschichten. b. »Etikettenschwindel, Keime, Fehler im Geschmack und ein gefährlicher Schadstoff« konstatieren die Tester.

Daneben gibt es jedoch weitere sprachliche Mittel, die zwar nicht direkt bewertend sind, aber bewertend genutzt werden. Wie beispielsweise das beschreibende, neutrale Nomen Mantra in (4). Ein Mantra ist ein repetitives Zitieren eines Ausspruchs in Meditationen oder Gebetssituationen. Eine Verwendung des Ausdrucks in diesem Kontext implikatiert somit ein eventuelles stures Wiederholen der Richtlinien und Forderungen der Tierrechtsorganisation PETA mit einem religiösen Verhalten, was eine pejorative Konnotation assoziiert. Auch Besser-Esser als Erstglied des Kompositums in Beispiel (5) kann eine lediglich beschreibende Bedeutung tragen. Tatsächlich gebraucht der Autor diesen Ausdruck im Kontext in einer abwertenden, sogar ironischen Verwendung. Dies ist insofern nicht überraschend, da der Ausdruck von Einstellungen als eine der Hauptfunktionen von Ironie betrachtet wird,5 was auch ein Grund dafür ist, dass Ironie eine in öffentlichen Diskussionen oft eingesetzte Strategie ist, um die eigene Position zu stärken.6

5

Vgl. Sperber, Dan/Wilson, Deirdre: »Irony and relevance«, in: Robyn Carston/Seiji Uchida (Hg.), Relevance theory, Amsterdam: Benjamins 1998, S. 283-293; Schwarz-Friesel, Monika: »Ironie als indirekter expressiver Sprechakt: Zur Funktion emotionsbasierter Implikaturen bei kognitiver Simulation«, in: Andrea Bachmann-Stein/Stephan Merten et al. (Hg.), Perspektiven auf Wort, Satz und Text. Semantisierungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems, Trier: WVT 2009, S. 223-232.

6

Vgl. Schwarz-Friesel, Monika/Marx, Konstanze et al.: »Persuasive Strategien der affektiven Verunsicherung im aktuellen Diskurs: Ironisieren, Kritisieren und Beleidigen in öffentlichen Streitgesprächen«, in: Inge Pohl/Horst Ehrhardt (Hg.), Sprache und Emotion in öffentlicher Kommunikation, Frankfurt a.M.: Lang 2012, S. 227-254.

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(4) Das wichtigste Mantra der Tierrechtsorganisation PETA lautet, dass Tiere und Menschen gleich sind. (5) Welchen Einfluss haben die zahlreichen Besser-Esser-Stile wie Vegan, LowCarb oder Paleo bei Ihren Patienten?

Das abwertend-ironisch verwendete Kompositum Besser-Esser-Stile in Beispiel (5) enthält als Erstglied eine Personenbezeichnung, was eine besondere Gruppe an sprachlichen Mitteln ausmacht, was Beispiel (6) ebenfalls illustriert. In (7) findet sich auch eine Personenbezeichnung, allerdings ist Peace-Keeper, wie der Kontext verrät, abwertend-ironisch gemeint. (6) In einschlägigen Kreisen orthodoxer Pflanzenesser gilt die Hülsenfrucht Soja als »eines der gesündesten Lebensmittel überhaupt«. (7) Ein Büffel, zu alt, um wegzurennen, von einem Rudel afrikanischer Jagdhunde zerrissen. Und kein veganer Peace-Keeper stellt sich dazwischen.

Ein weiteres Mittel zur Bewertung und sogar zur gezielten Manipulation ist die Verwendung von übertriebenen oder besonders drastischen Ausdrücken. 7 In (8a) wird auf einen Ausdruck aus dem Tabu-Bereich zurückgegriffen.8 Die Tierhaltung wird hier also mit einer (sexuellen) Vergewaltigung verglichen. Durch diese drastische Illustration soll eine Manipulation des Lesers und der Leserin erfolgen, die vermutlich beim Lesen ein entsprechendes Bild im Kopf haben und somit auf die Zustände der Schweinehaltung hingewiesen werden. Auch die übertriebene Gleichsetzung der veganen Ernährungsweise in (8b) mit einer mythologischen Weltanschauung, die im Hinblick auf die christliche Religion als Ideologie eines bösen Geists gilt, dient dazu, einen solchen Lebensstil abzuwerten. (8) a. Dabei steht die Sau in einem engen Kastenstand, in dem außer dem Niederlegen keine Bewegung möglich ist; im Englischen wird das bisweilen »rape rack«, Vergewaltigungsgestell, genannt. b. Gesunde und bewusste Lebenshaltung wird zum religiösen Mantra aufgebauscht. Ein neuer Dämonismus zeigt sich am Werk.

7

Vgl. Düttmann, Alexander García: Philosophie der Übertreibung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.

8

Vgl. Anderson, Luvell/Lepore, Ernie: »What did you call me? Slurs as prohibited words«, in: Analytic Philosophy, 54 (2013) 3, S. 350-363; Christie, Christine: »The relevance of taboo language: An analysis of the indexical values of swearwords«, in: Journal of Pragmatics 58 (2013), S. 152-169.

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Bei diesen Ausdrücken ist auffallend, dass es oft gar nicht darum geht, ob ein Ausdruck nun tatsächlich zutreffend ist. Stattdessen dient die Wahl des übertriebenen Ausdrucks lediglich zur Kommunikation der eigenen Einstellung. Es handelt sich somit um Bullshit im Sinne Frankfurts.9 Ausdrücke der Gegenseite werden auch distanzierend gebraucht, um diese dadurch implizit negativ zu bewerten. Dies kann kontextuell geschehen oder durch Ausdrücke wie sogenannt, angeblich, vermeintlich10 oder modalisierende Anführungszeichen (scare quotes) wie in den folgenden Beispielen.11 (9) a. Zugespitzt und durchaus provozierend hat der Publizist und Privatdozent Norbert Knobloch im Weblog mmnews des Wirtschaftsjournalisten Michael Mross über die vermeintliche Wunderpflanze geschrieben: »Soja = Sondergiftmüll«. b. Vegetaristenorganisationen verbreiten durch entsprechende »Informationskampagnen« weit höhere Zahlen.

In Beispiel (9a) verwendet der Autor des Textes das Adjektiv vermeintlich, um deutlich zu machen, dass er nicht der Meinung ist, dass es sich bei Soja um eine Wunderpflanze handelt, wie die Gegenseite wohl annimmt, was er durch die nachgetragene Gleichsetzung »Soja = Sondergiftmüll« auch noch einmal betont. Die Verwendung von vermeintlich als Attribut zu Wunderpflanze bewirkt somit eine Distanzierung der Annahme der Gegenseite. In (9b) hat der Gebrauch der Anführungszeichen dieselbe Funktion: Durch ihre Verwendung signalisiert der Autor,

9

Vgl. Frankfurt, Harry G.: On Bullshit, Princeton: Princeton University Press 2005; vgl. auch Meibauer, Jörg: »Bullshit als pragmatische Kategorie«, in: Linguistische Berichte 235 (2013), S. 267-292.

10 Härtl, Holden/Seeliger, Heiko: »Is a so-called ›beach‹ a beach? An empirically based analysis of secondary content induced by ironic name use«, erscheint in: Daniel Gutzmann/Katharina Turgay: Secondary Content, Leiden: Brill. 11 Vgl. Klockow, Reinhard: Linguistik der Gänsefüßchen. Frankfurt a.M.: Haag und Herchen 1980; Gutzmann, Daniel/Stei, Erik: »How quotation marks what people do with words«, in: Journal of Pragmatics 43 (2011) 10, S. 2650-2663; Meibauer, Jörg: »Only ›nur‹. Scare-quoted (exclusive) focus particles at the semantics-pragmatics interface«, in: Jenny Arendholz/Wolfram Bublitz et al. (Hg), The pragmatics of quoting now and then, Berlin: de Gruyter 2015, S. 177-207; Härtl, Holden: »Name-informing and distancing (›so-called‹): Name mentioning and the lexicon-pragmatics interface«, erscheint in Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 2018.

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dass er sich davon distanzieren möchte, dass die Kampagnen der Organisationen tatsächlich informieren.12 Die bisherigen Beispiele haben bereits gezeigt, dass sich die Schreiber/-innen der Texte immer wieder des Stilmittels des Vergleichs bedienen. Vergleiche können ebenfalls zur Bewertung genutzt werden. Die Beispiele in (10) verdeutlichen dies. Die Verlässlichkeit der Ernährungsregeln wird in (10a) mit abergläubischen, wahrsagerischen Methoden verglichen, um deutlich zu machen, dass die Regeln unzureichend, spekulativ oder unwissenschaftlich sind. Durch den Vergleich erfolgt somit eine Abwertung der Regeln zur gesunden Ernährung. Der Vergleich wie ein Tsunami in (10b) trägt allerdings eine andere Funktion. Bei einem Tsunami handelt es sich um eine riesige Wasserwelle, die häufig verheerende Folgen an Land haben kann. Die neuen Entwicklungen in Sachen Ernährung damit zu vergleichen, ist eine massive Übertreibung und der Einsatz dieses Stilmittels hat somit ebenfalls einen pejorativen Effekt. (10) a. Regeln zur gesunden Ernährung sind so verlässlich wie das Lesen in der Glaskugel oder im Kaffeesatz. b. Junge Menschen scheinen besonders anfällig für neue Food-Trends zu sein. Wie ein Tsunami rollt alle paar Monate ein neuer Trend durch die sozialen Medien.

Um eine positive Konnotation zu erzeugen, finden sich beispielsweise Diminutive13 wie in (11) und Vermenschlichung wie in (12) in den Texten. Beide haben die Funktion, eine Nähe herzustellen. In (11) wird durch die Verniedlichung des Vogels das Leid noch einmal besonders stark kontrastiert. In (12) handelt es sich bei Schwestern und Brüdern um Schweineferkel. Sie werden somit nicht nur als Teil der Massentierhaltung gesehen, sondern als Familienmitglieder untereinander. Durch diese Vermenschlichung entsteht eine Nähe zu den Schweinen, welche das auf sie zukommende Leid noch unerträglicher machen soll. Wie bei den übrigen vorgestellten Mitteln handelt es sich somit auch hier um eine Art der Manipulation der Leser/-innen durch Bewusst- oder Deutlichmachung der Umstände auf der einen Seite und des Lebens der Tiere auf der anderen Seite. (11) Das Vögelchen sieht sein Ende nahen und zwitschert noch einmal besonders fröhlich.

12 Vgl. Predelli, Stefano: »Scare Quotes and Their Relation to Other Semantic Issues«, in: Linguistics and Philosophy 26 (2003), S. 1-28. 13 Vgl. Donalies, Elke: »Dem Väterchen sein Megahut. Der Charme der deutschen Diminution und Augmentation und wie wir ihm gerecht werden«, in: Eva Breindl/Lutz Gunkel et al. (Hg.), Grammatische Untersuchungen, Analysen und Reflexionen, Tübingen: Narr 2006, S. 33-51.

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(12) Und wenn man in anderen Dokus gesehen hat, was den überlebenden Schwestern und Brüdern noch bevorsteht, ist man versucht zu sagen: …

Dies war nur ein knapper Überblick über die sprachlichen Mittel der Bewertung. Natürlich gibt es noch wesentlich mehr Aspekte, auf die einzugehen sich ebenfalls lohnen würde. Wir haben uns hier jedoch auf die sprachlichen Mittel konzentriert, die wir auch in unserer empirischen Studie betrachtet haben. Bevor wir diese in Abschnitt 4 vorstellen, wollen wir im folgenden Abschnitt die Ergebnisse einer früheren Studie skizzieren.

BISHERIGE ARBEIT VON STEINBACH (2013) Im Rahmen einer Bachelorarbeit ist 2013 eine Korpusanalyse von Julian Steinbach entstanden, in der er einen Korpus von Texten mit einer Pro- und ContraTierrechtsposition in Hinblick auf expressive Mittel14 untersucht, also Ausdrücke, die nicht beschreibend sind, sondern als Mittel des unmittelbaren Ausdrucks von Emotionen dienen und deshalb im Sinne Jakobsons (1960)15 als Teil der expressiven Sprachfunktion zu verstehen sind.16 Diese Mittel umfassen u.a. bewertende Adjektive, expressive Nomen,17 aber auch beispielsweise Modalpartikeln18 oder Ex-

14 Im Sinne von Kaplan, David: The meaning of ouch and oops. Explorations in the theory of meaning as use. 2004 version, Ms. Los Angeles: University of California 1999. 15 Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«, in: Roman Jakobson (Hg.), Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921- 1971, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1960, S. 83-121. 16 Vgl. Gutzmann, Daniel: »Expressives and beyond. An introduction to varieties of useconditional meaning«, in: Daniel Gutzmann/Hans-Martin Gärtner (Hg.), Beyond Expressives. Explorations in Use-Conditional Meaning, Leiden: Brill 2013, S. 1-58. 17 Vgl. Turgay, Katharina: »Morphosyntaktisches Emotionspotential in Unterrichtsgesprächen«, in: Inge Pohl/Horst Ehrhardt (Hg.), Sprache und Emotion in öffentlicher Kommunikation, Frankfurt a.M.: Lang 2012, S. 71-92. 18 Vgl. Bublitz, Wolfram: Ausdrucksweisen der Sprechereinstellung im Deutschen und Englischen: Untersuchungen zur Syntax, Semantik und Pragmatik der deutschen Modalpartikeln und Vergewisserungsfragen und ihrer englischen Entsprechungen, Berlin: de Gruyter 1978; Kratzer, Angelika: »Beyond ouch and oops. How descriptive and expressive meaning interact«. Cornell Conference on Theories of Context Dependency, Cornell University,

Ithaca,

NY,

26.

März

1999

(http://semanticsarchive.net/Archive/

WEwNGUyO/, letzter Abruf am 20.07.2018); Gutzmann, Daniel/Turgay, Katharina: »Zur Stellung von Modalpartikeln in der gesprochenen Sprache«, in: Deutsche Sprache 44 (2016) 2, S. 97-122.

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klamativsätze.19 Dabei zeigt sich, dass expressive Adjektive wie in Beispiel (13a) vor allem in pro-tierrechtlichen Texten vorkommen. Zwar werden diese ebenfalls in contra-tierrechtlichen Texten verwendet, wie Beispiel (13b) belegt, allerdings ist ihr Auftreten nicht so vielfältig.20 (13) a. Fleisch essen bedeutet gegenüber einer vegetarischen Ernährungsweise eine ungeheure Verschwendung der Nahrungsressourcen unseres Planeten [...] (14) b. PETA und andere extremistische TierschützerInnen verteidigen diese Kampagne bis zum heutigen Tag.21

Aus der Analyse der Kontexte seiner Beispiele schließt Steinbach, dass die negativen expressiven Ausdrücke in Pro-Texten »auf Grundlage persönlicher Emotionen bezüglich Tieren, auf tierrechtliche Fragen, wie Haltungsmethoden oder Ähnliches« verwendet werden. Ihre Verwendung basiert meist »auf einer persönlichen Einschätzung gegenüber Missständen oder dergleichen in tierrechtsbezogenen Themenbereichen«22, wie es Beispiel (14) belegt. (15) […] die Qualhaltung und Tötung von Tieren in Mastbetrieben blieb ebenso unberührt wie die besonders protegierte Jagd.23

Für die Contra-Texte attestiert Steinbach hingegen, dass »die ausgedrückten negativen Emotionen weniger gegen tierrechtsbezogene Angelegenheiten gerichtet« sind, sondern »eher auf die gegnerische Pro-Tierrechts-Position«24 abzielen, wie es Beispiel (15) verdeutlicht. (16) In ihrer Propaganda gegen jeglichen Fleischverzehr schießen Vegetaristen schlimme Eigentore.25

19 Vgl. Castroviejo Miró, Elena: »An expressive answer. Some considerations on the semantics and pragmatics of wh-exclamatives«, in: Proceedings of CLS 44 (2008) 2, S. 317; d’Avis, Franz Josef: »Exklamativsatz«, in: Jörg Meibauer/Markus Steinbach et al. (Hg.), Satztypen des Deutschen, Berlin: de Gruyter 2013, S. 171-201. 20 Steinbach, Julian.: Expressive Mittel zum Ausdruck von Emotionen in tierrechtsbezogenen Texten. BA-Arbeit. Universität Koblenz-Landau 2013, S. 33. 21 Ebd., S. 24, 30. 22 Ebd., S. 32f. 23 Ebd., S. 44. 24 Ebd., S. 33. 25 Ebd., S. 30.

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Generell hält Steinbach fest: »Diese Prüfung ergab vor allem für pro-tierrechtliche Texte eine sehr vielseitige Verwendung dieser Mittel, die vor allem durch expressive Adjektive und Modalpartikeln geprägt war. Auch auf contra-tierrechtlicher Seite konnte eine Verwendung expressiver Mittel zum Ausdruck von Emotionen festgestellt werden, die allerdings eine geringere Vielfalt an Mitteln aufwies.«26

EMPIRISCHE STUDIE Texte Als Textgrundlage für das vorliegende Korpus dienen 42 Artikel aus vorwiegend aber nicht ausschließlich online erschienenen Zeitschriften.27 Die Artikel wurden im Zeitraum zwischen 2010 und 2017 verfasst. Wir wählten 21 Texte aus, in denen die Autor/-innen eine contra-tierrechtliche Haltung tragen, sowie 21 weitere, in denen die Schreiber/-innen sich für Tierrechte aussprechen (pro-tierrechtlich). Das Themenspektrum der Texte wählten wir bewusst sehr vielfältig, um Korrelationen zwischen bestimmten sprachlichen Mitteln und bestimmten Themenbereichen auszuschließen. Vor allem die Bereiche Ernährung, Jagd, Medizin, Zoos, Tierhaltung sowie Tierrechte an sich sind Gegenstand der Zeitungsartikel. Die Wortanzahl variiert zwischen den einzelnen Texten. So umfasst der kürzeste (contra-tierrechtliche) Text lediglich 328 Inhaltswörter, während der umfangreichste (ebenfalls contratierrechtliche) Text 3.706 Wörter umfasst. Dabei ist zu beachten, dass nur die Inhaltswörter, also Wörter die eine lexikalische Bedeutung tragen, gezählt werden. Funktionswörter, die nur eine grammatische Bedeutung tragen, sind nicht bei der Zählung berücksichtigt. Insgesamt konnten wir somit 51.929 Wörter ausmachen. Tabelle 1 zeigt zudem die Verteilung auf die pro- und contra-tierrechtlichen Texte und gibt die jeweilige Durchschnittslänge (Ø) sowie die Standardabweichung (SD) an.

26 Ebd., S. 34. 27 Cicero, FAZ, Focus, Medizin-Welt, neues deutschland, Novo, NZZ, Preußische Allgemeine Zeitung, Spiegel, SZ, taz, Uni-Spiegel, Welt, Zeit

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Tabelle 1: Übersicht der Gesamtanzahl an Wörter Wörter 28.514 23.415 51.929

Pro Contra Gesamt

Ø 1.358 1.115 1.236

SD 594 929 789

Vorgehen Von den insgesamt 51.929 Wörtern wählten wir manuell jene Ausdrücke aus, die entweder einem tierrechtsthematischen Wortfeld angehören oder aber weitere sprachliche Besonderheiten aufweisen, wie beispielsweise Übertreibungen oder Ironie. Dabei haben wir uns auf Nomen und Adjektive konzentriert und somit die Verben nicht berücksichtigt, da vor allem Nomen und Adjektive in Hinsicht auf ihre Expressivität wesentlich besser erforscht sind und, nach allem was man bisher weiß, Verben mit bewertenden Charakter sich semantisch wesentlich komplexer verhalten.28 Nach dieser Auswahl blieben in unserem Korpus noch 3.528 Token, die sich auf 1.174 Types verteilen. Die Types annotierten wir in Hinblick auf unterschiedliche Aspekte. So nahmen wir eine Einordung zu einem Wortfeld vor, bestimmten die Wortart sowie Wortbildungsart, ordneten eine mögliche positive oder negative Wertung zu und annotierten weitere sprachliche Besonderheiten, die durch den Kontext deutlich werden. Daten Überblick Bei den so ausgewählten und somit relevanten Ausdrücken handelt es sich um 1.175 verschiedene Types und 3.528 Token. In Tabelle 2 zeigt sich die Verteilung auf die pro- und contra-tierrechtsthematischen Artikel. Tabelle 2: Übersicht der relevanten Ausdrücke

Pro contra gesamt

Types 694 695 1.175

Token 1.687 1.842 3.529

relevante Token 5,91% 7,87% 6,80%

28 Beispielsweise in Kombination mit Quantoren, siehe dazu Gutzmann, Daniel/McCready, E.: »Quantification with pejoratives«, in: Rita Finkbeiner/Jörg Meibauer et al. (Hg.), Pejoration, Amsterdam: Benjamins 2016, S. 75-102.

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Die Tabelle zeigt eine fast identische Anzahl an Types in den pro- (693 Types) und contra-tierrechtlichen (695) Texten. In Hinblick auf die unterschiedliche Wortanzahl des gesamten Korpus (28.514 vs. 23.415) ist dies jedoch Zufall und belegt lediglich eine stärkere Vielfalt an Types hinsichtlich der Gesamtanzahl an Wörtern in den Contra-Texten. 214 der insgesamt 1.175 Types finden sich sowohl in den proals auch den contra-tierrechtlichen Texten. 480 Types sind nur in den Pro-Texten und 481 nur in den Contra-Texten zu finden. Die vergleichsmäßig höhere Anzahl an Token belegt zusätzlich noch einmal, dass in den Texten, die sich gegen Tierrechte aussprechen, häufiger die für diesen Beitrag relevanten Ausdrücke verwendet werden. Dies belegt auch die rechte Spalte von Tabelle 2, in der der Anteil der ausgewählten Token (nämlich die Nomen und Adjektive, welche tierrechtsthematisch oder evaluativ sind oder andere sprachliche Besonderheiten aufweisen) relativ zur Korpusgröße gesehen dargestellt ist. 7,87 Prozent aller Inhaltswörter in den ContraTexten (23.415) sind somit für die Zwecke der Untersuchung relevant, während dies bei den Pro-Texten nur zu 5,91 Prozent der Fall ist. Dieser Unterschied ist mit p