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German Pages 268 Year 2014
Alina Bothe, Dominik Schuh (Hg.) Geschlecht in der Geschichte
Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 20
Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Alina Bothe, Dominik Schuh (Hg.)
Geschlecht in der Geschichte Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie
Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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I NHALT
Geschlecht in der Geschichte? Zwischen Integration und Separation einer Forschungskategorie. ....................................... ALINA BOTHE, DOMINIK SCHUH
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Gender Blending im Gegenwartstheater: Darstellerische Techniken als ent-/differenzierende soziale Praxis .......................... 33 ELLEN KOBAN Reflexion des Beitrags von Ellen Koban ................... 47 JACQUELINE MALCHOW „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…“ Frauen- und Männerbilder in Kinderliedern der DDR .................... 51 UTA MIERSCH Reflexion des Beitrags von Uta Miersch ................... 67 NORMAN DOMEIER „Die Frau ist zu einem wesentlichen Teil Trägerin der Stimmung in der Heimat“ – Geschlechtsspezifische NS-Presseanweisungen im Krieg und ihre Umsetzung in der Frauenzeitschrift Mode und Heim.............................. 71 MARION WITTFELD
Reflexion des Beitrags von Marion Wittfeld ............. 91 ALEXANDRA ECKERT Gender in der Zionistischen Bewegung am Beispiel der Debatte über einen Dachverband für zionistische Frauenvereine 1911 ......................... 93 CHRISTINE BOVERMANN Reflexion des Beitrags von Christine Bovermann ... 109 MICHAELA MARIA HINTERMAYR Die Erweiterung des binären Geschlechtermodells und die Radikalisierung der Politik im deutschen Kaiserreich .................................................................. 111 NORMAN DOMEIER Reflexion des Beitrags von Norman Domeier .......... 127 UTA MIERSCH „in sexuellen Ausnahmezuständen sich befindende Frauen“. Geschlecht als interdependente Analysekategorie im österreichischen Suiziddiskurs (1870 bis 1930) ....... 129 MICHAELA MARIA HINTERMAYR Reflexion des Beitrags von Michaela Maria Hintermayr .................................................................. 149 SVENJA MÜLLER
Schauspielerinnen im 18. Jahrhundert – Zwischen Kunst und Käuflichkeit .............................. 151 JACQUELINE MALCHOW Reflexion des Beitrags von Jacqueline Malchow ..... 175 ELLEN KOBAN Zur Konstruktion der Figur der Kindsmörderin. Eine mikrologische und multiperspektivische Betrachtung des Kindsmordprozesses gegen Maria Magdalena Kaus zu Assenheim 1760-66......... 177 SVENJA MÜLLER Reflexion des Beitrags von Svenja Müller ................ 191 CHRISTINE BOVERMANN Das Bündel der Gegensätze: Mathilde von Tuszien zur Überprüfung des begrifflichen Geflechts von Geschlechterrollen und Genderkonzept ................... 193 EUGENIO RIVERSI Reflexion des Beitrags von Eugenio Riversi ............ 209 BIRGIT KYNAST Der Blick eines mittelalterlichen Bischofs auf das weibliche Geschlecht: Frauen (und Männer) im Dekret Burchards von Worms.................................... 213 BIRGIT KYNAST Reflexion des Beitrags von Birgit Kynast ................. 235 EUGENIO RIVERSI
Entwicklungslinien der Gender-Forschung in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften ......... 237 ALEXANDRA ECKERT Reflexion des Beitrags von Alexandra Eckert .......... 259 MARION WITTFELD Autorinnen und Autoren ............................................ 261
Geschlecht in der Geschichte? Zwischen Integration und Separa tion einer Forschungskategorie ALINA BOTHE, DOMINIK SCHUH Geschlecht in der Geschichte? Wo ist der Ort von Geschlecht/Geschlechtern in Geschichte? Ist Geschlecht eine Forschungskategorie, die für sich allein stehen kann und soll, oder aber gilt es, sie nur im Konglomerat mit anderen Forschungskategorien zu verhandeln? Diese Fragen will der vorliegende Band diskutieren. Der Titel „Geschlecht in der Geschichte“ ist seinem Anschein nach essentialistisch, es wird nach dem Geschlecht in der Geschichte gefragt. Es handelt sich um eine Rückübersetzung von Gender in History, die nicht durch den gleichen Essentialismus der deutschen Version geprägt ist. Selbstverständlich aber fragen die AutorInnen und HerausgeberInnen nicht nach einem Geschlecht in der einen Geschichte, sondern arbeiten mit einem multidimensionalen Konzept beider Begriffe. Nach Geschlecht in der Geschichte zu fragen, verweist auf die Grundkonzeption des Bandes. Welche Position hat die Forschungskategorie Geschlecht in einzelnen historischen und disziplinär verwandten Forschungsprojekten? Ist Geschlecht der Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Arbeitens oder aber ein Aspekt unter vielen? Diese MetaReflexion der Einbindung der Forschungsperspektive Geschlecht ermöglicht eben jenen Titel.
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Wenn der vorliegende Band nun dem Titel nach für sich in Anspruch nimmt, „Geschlecht in der Geschichte“ in den Blick zu nehmen, fügt er sich zugleich in eine Reihe von Werken ein, die allein der Menge nach beachtliche Ausmaße angenommen hat.1 Standen die Pionierinnen der Frauengeschichte in den 1970er Jahren einer (universitären) Geschichtswissenschaft gegenüber, die Frauen weder faktisch in ihre Betrachtungen miteinbezog, noch den theoretischen Rahmen für eine angemessene historische Betrachtung von Frauen bot oder gar beiden Geschlechtern,2 so können wir gut 40 Jahre später auf zahlreiche methodische, theoretische und historiographische Arbeiten zurückgreifen, die unmittelbar wie mittelbar aus den Bemühungen für und Kämpfen um die Etablierung dieses Forschungsfeldes hervorgegangen sind. Die Erweiterung und Wandlung des Feldes über eine zunächst „additive“ dann „kompensatorische“ Frauengeschichte hin zu einer Geschichte der Geschlechter,3 die stärker auf die Untersuchung von Weiblichkeiten und Männlichkeiten ausgerichtet auch zunächst parallel entstandene Strömungen wie die Geschichte der (Homo-)Sexualitäten umfasst, ist dabei schwerlich als linear oder abgeschlossen zu bezeichnen.4 Es erscheint vielmehr das Bild eines methodisch und theoretisch plural angelegten Feldes, das nur lose um den Gegenstandsbereich „Geschlecht“ angeordnet ist und dessen einzelne Forschungsstränge nur anhand weniger zentraler Fragestellungen zueinander in Bezug gesetzt werden können. Die Frage wo Geschlecht in der Geschichte zu verorten und wie es zu untersuchen sei, wurde im Zuge dieser Entwicklung mehr als einmal gestellt, diskutiert und vielfältig beantwortet. Es ist aber zugleich – so unsere Überzeugung – eine Frage, die stets aufs Neue zu 1
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So erscheinen allein im Transcript-Verlag in diesem Jahr laut OnlineVerzeichnis 27 Werke mit „gender“-Bezug, 16 davon tragen einen Geschlechterbezug wie „Männlichkeit“, „Weiblichkeit“, „Geschlecht“ und „gender“ bereits im Titel. Die Jahresberichte für deutsche Geschichte verzeichnen online 15 Publikationen für die Sucheingabe „Geschlechtergeschichte“ im Zeitraum 2013-2014. Siehe http://www.transcript-verlag.de sowie http://jdgdb.bbaw.de/ (beide Suchanfragen vom 03.06.2014). Damit ist im Kern die Möglichkeit einer Betrachtung von Frauen als Frauen – nicht etwa als defizitäre Männer – gemeint. Zu den Begriffen „additiv“ und „kompensatorisch“ s. LUNDT, 1998, S. 581-582. Vgl. zur Entstehung und Entwicklung des Forschungsfeldes u. a. ROSE, 2010; OPITZ-BELAKHAL, 2010.
Einleitung: Geschlecht in der Geschichte?
stellen, zu diskutieren und zu beantworten ist, insofern ihre Bearbeitung als Begleitung und Reflexion je zeitgenössischer Tendenzen der Forschung zu denken ist. Dies gilt umso mehr, als jede Geschichtswissenschaft, die Geschlecht in den Blick nimmt, in besonderem Maße an gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskursen teilnimmt, die nach wie vor eng mit Macht- und Verteilungsfragen verknüpft sind.5 Geschlecht in der Geschichte bzw. Gender in History ist eine relativ vage Verbindung einer Kategorie geschichtlichen Forschens mit der Historie an sich. Dabei handelt es sich bei Gender um eine Kategorie, die nicht primär geschichtswissenschaftlichen Ursprungs ist, aber mit der Geschichte in Relation steht. Diese Relation hat wiederum eine eigene Geschichte, eher eigene Geschichten, auf die es lohnt – wenngleich ausgesprochen verkürzt – einen Blick zu werfen. Sie lassen sich zu Beginn als Frauengeschichten oder Geschichten einiger Frauen erzählen. Avant la lettre ist auf Christine de Pizan‘s bemerkenswertes Werk Das Buch von der Stadt der Frauen aus dem frühen 15. Jahrhundert zu verweisen.6 Nachfolgend beginnt die Frauengeschichtsschreibung aber erst mit Werken wie Women Workers and the Industrial Revolution 1750-1850 von Ivy Pinchbeck aus dem Jahr 1930.7 Es sind Geschichten im Umfeld der ersten Frauenbewegung, die Frauen individuell wie kollektiv in Geschichte einschreiben. Mit der zweiten feministischen Wende ab den 1960er Jahren lässt sich eine zweite Phase der Frauengeschichte konstatieren, die oftmals als Selbstfindungsgeschichte geschrieben wurde. Mit der Männergeschichte ab den 1980er Jahren beginnt das Aufbrechen des hegemonialen androzentrischen historischen Narrativs. Zugleich wird der Blickwinkel weiter: Die Geschichte der Sexualität respektive der Sexualitäten gerät ebenso in den Blick, wie die Dekonstruktion dessen, was Judith Butler so treffend als heteronormative Matrix bezeichnet hat.8 Im 5
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Für die Frauen- und Geschlechterforschung sind diese Zusammenhänge schon deshalb besonders relevant, da sie stets gesellschafts- und wissenschaftskritische Ansätze aufnahm und entwickelte, vgl. MEDICK/TREPP, 1998, S. 7. PIZAN, 1999. S. LEE DOWNS, 2010, S. 11. Vgl. BUTLER, 1991, S. 219.
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Übergang zu den 1990er Jahren wird Gender dann als Kategorie zunächst im englischsprachigen Diskurs relevant und setzt sich nachfolgend auch in der internationalen Forschung durch. Joan W. Scotts Aufsatz Gender: A Useful Category for Historical Research darf als Klassiker in keiner noch so kurzen Skizze der Forschungsentwicklung fehlen.9 Dabei hat Gender als Forschungskategorie mindestens zwei Komponenten: einerseits die Aufhebung der Trennung in Frauen- und Männergeschichte und zweitens die Aufweichung der Konzeption der Zweigeschlechtlichkeit. Beide Komponenten sind für Gender in History zu denken und finden sich in unterschiedlicher Ausprägung in den Beiträgen in diesem Band. Gender ist dabei ein offener, diskursiver Begriff, der interdisziplinär entstanden ist und in Differenz zum zeitgleich als Gegensatzbegriff aufgekommenen sex, der das sogenannte biologische Geschlecht beschreibt, in weitestem Sinne das sozial konstruierte Geschlecht beschreibt. Es gibt keine einheitliche Definition oder eine einheitliche Annäherung an den Begriff Gender; er wird in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten verschieden verwandt. Simone de Beauvoir hat bereits 1949 in Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau einen Satz geschrieben, der für die Genderforschung bis heute relevant geblieben ist. „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“10 In diesem Satz ist die soziale und kulturelle Konstruktion von Geschlecht innerhalb des Sozialisationsprozesses treffend auf den Punkt gebracht. In den 1980er und 1990er Jahren sind diese Überlegungen dann u.a. als doing gender wieder aufgegriffen worden. Melissa Herbert fokussiert den Aspekt der Gestaltung der Kategorie Gender: „Gender, then, is something we ‚do‘ rather than something we simply ‚are‘“.11 Kirsten Bruhns formuliert diesen Forschungsansatz etwas explizierter aus und betont dabei die in das doing gender eingeschriebene Geschlechterdichotomie. „‚Doing gender‘ orientiert sich an einem Normen- und Wertesystem, das Weiblichkeits- und Männlichkeitsstereotype definiert und in dem die soziale Nachrangigkeit des weiblichen und die Vorrangstellung des 9 SCOTT, 1986. 10 DE BEAUVOIR, 1990, S. 265. 11 HERBERT, 1998, S.12.
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Einleitung: Geschlecht in der Geschichte?
männlichen Geschlechts festgeschrieben ist […]. Männliches und weibliches Verhalten orientiert sich an diesen historisch entstandenen und strukturell verankerten Männlichkeits- und Weiblichkeitsbildern und erhält gleichzeitig eine konstruktive Bedeutung für die Gestaltung des Geschlechterverhältnisses.“12
In doing gender ist Performativität bereits enthalten und der Begriff lässt sich kaum ohne Rückgriff auf seine prominenteste und provokanteste Theoretikerin diskutieren. Judith Butler geht in ihrem 1990 erschienenen Buch Gender Trouble zu Deutsch Das Unbehagen der Geschlechter (1991), sicherlich einem der einflussreichsten Werke des konstruktivistischen, post-strukturalistischen Feminismus, noch weiter als die meisten vorherigen AutorInnen. Sie geht in Anlehnung an Foucault davon aus, dass Gender nicht nur auf der kulturellen und sozialen Ebene konstituiert wird, sondern auch auf der des Körpers. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sind zwei Fragen: „Ist ‚weiblich sein‘ eine ‚natürliche Tatsache‘ oder eine kulturelle Performanz? Wird die ‚Natürlichkeit‘ durch diskursiv eingeschränkte performative Akte konstituiert, die den Körper durch die und in den Kategorien des Geschlechts (sex) hervorbringen?“13
Butler plädiert dafür, die binäre Dichotomie des, wie sie formuliert, anatomischen Geschlechts nicht als unbedingt naturgegeben zu betrachten, also die leibliche Ebene von Gender, sog. Sex, nicht zu naturalisieren.14 Gender ist nur bedingt eine Form des „Tuns“ nach Butler, sondern Ausdruck verschiedener Diskurse, die sich in die individuellen gender identities einschreiben. Dabei verweigert Butler, wiederum in foucaultscher Manier, eine konkrete Definition dessen, was sie als Geschlechtsidentität umschreibt: „Die Geschlechtsidentität ist ein komplexer Sachverhalt, dessen Totalität ständig aufgeschoben ist, d.h. sie ist an keinem gegebenen Zeitpunkt das, was sie ist“. 15 Sie geht davon aus, dass Gender in ständiger Performativität entsteht und je nach 12 13 14 15
BRUHNS, 2002, S. 189f. BUTLER, 1991, S. 8. Vgl. EBD., S. 38. EBD., S. 36.
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historischen, kulturellen und sozialen Entwicklungen wandelbar ist.16 Unter Performativität versteht Butler ein im foucaultschen Sinne nicht fassbares Zusammenspiel zwischen Interaktionen und Zwängen, wobei Zwang die erforderte „unentwegte Wiederholung der Normen“ ist.17 „Performativität ist weder freie Entfaltung noch theatralische Selbstdarstellung, und sie kann auch nicht einfach mit Ausführung gleichgesetzt werden. Darüber hinaus setzt Zwang der Performativität nicht unbedingt eine Grenze; Zwang ist viel mehr das, was der Performativität Antrieb gibt und sie aufrecht erhält.“18
Butler betont, dass Gender die Identität einer Person festschreibt, gleichzeitig aber eine beständige Imitation dessen ist, was als „normal“ betrachtet wird.19 Zwei Aspekte erscheinen in den gendertheoretischen Überlegungen von Judith Butler besonders relevant. Erstens die Betonung des Wandelbaren, des ständig performativ produzierten Charakters von Gender, und zweitens ihre Aufforderung, die eventuelle Konstruktion der vordiskursiven Natürlichkeit von Gender zu hinterfragen. Ein Forschungsdesiderat bietet Therese Frey Steffen: „Gender: Der englische Ausdruck für das ‚soziale, kulturelle Geschlecht‘, im Gegensatz zum biologischen Geschlecht, sex. Gender bezeichnet die unterschiedlichen Rollen und Normen, die Frauen und Männern in unserer Gesellschaft zugewiesen werden. Weil es erlernt und nicht angeboren ist, ist dieses soziale Geschlecht auch veränderbar 20 und kann weiterentwickelt werden.“
Die Betonung der zwei Aspekte sozial und kulturell ist sicher die unstrittige Grundlage für die Wandelbarkeit von Gender, also auch die Wandelbarkeit dessen, was mit Gender als Handlungsformen und -möglichkeiten assoziiert wird. Dass Gender in Interaktion mit anderen Faktoren entsteht, betont die Historikerin Daniela Hacke:
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Vgl. EBD., S. 10. EBD., S. 103. EBD., S. 103. Vgl. EBD., S. 8. FREY STEFFEN, 2006, S. 129.
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„Geschlecht ist eine relationale Kategorie: Weiblichkeit und Männlichkeit werden nicht nur in Abhängigkeit voneinander konstruiert, sondern auch in Interdependenz mit anderen Kategorien wie der gesellschaftlichen Schicht, der Konfession und der Ethnizität.“21
Weitere Kategorien mit denen Gender in einem Interdependenzverhältnis steht, wie z.B. der historische Kontext oder die familiäre Sozialisation, ließen sich diesen Ausführungen hinzufügen. Gender ist eine komplexe Kategorie, die sich in Anlehnung an Judith Butler nicht vollständig fassen lässt, dennoch von zentraler identitätsrelevanter und damit lebensbestimmender Bedeutung ist. Abschließend kann eine Feststellung von Inge Stephan herangezogen werden, um im Vielerlei der Versuche, Gender zu definieren, den roten Faden zu behalten: „Unerläßlich ist es also, jeweils genau zu bestimmen, was mit den Kategorien >GeschlechtGender< gemeint ist und welche erkenntnisleitenden Perspektiven damit verbunden sind.“22 Gender ist dementsprechend kein ausdefinierter, monolithischer Begriff, sondern eine interdependente Kategorie. Aufgrund der strukturellen Offenheit des Konzepts weisen die AutorInnen in ihren Beiträgen darauf hin, welches Verständnis von Gender ihrem Ansatz zugrunde liegt. Es ist also zu fragen, wie Gender als historische Forschungskategorie bislang gedacht wurde? Welche Debatten haben sich im Rahmen unserer Fragestellung nach der Beziehung von Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte als separate oder partikulare Geschichten zur etablierten („allgemeinen“) Geschichte ereignet? Wir wollen stellvertretend für die Fülle der Diskussionen und möglichen Antworten drei Überlegungen herausgreifen:23 Ein wesentlicher Teil dieser Diskussionen war, wie Gisela Bock 1991 feststellte, eine Reihe von Dichotomien, die zugleich Gegenstand wie Werkzeug der Forschung waren – und sind. Unterschieden in zwei Gruppen – „dichotomies in traditional thought on gender relations“ und 21 HACKE, 2004, S. 22. 22 STEPHAN, 2009, S. 62. 23 Vgl. zum Verhältnis von „Geschlechtergeschichte und ‚Allgemeiner[r] Geschichte‘“ auch das gleichnamige Kapitel bei OPITZ-BELAKHAL, 2010, S. 167-177.
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„dichotomies which […] have emerged more recently and which presently seem to dominate and direct women’s studies“24 – unterzieht Bock die Begriffspaare „Nature versus culture”, „Work versus family”, „Public versus private” sowie „Sex versus gender”, „Equality versus difference” und „Integration versus autonomy” einer kritischen Betrachtung. Die Entwicklung der Frauengeschichte (und mithin -forschung) sei, so ließe sich Bocks Auffassung zuspitzen, eine Abfolge der Bearbeitung, Herausforderung und Aufhebung von Dichotomien mit dem Ziel diese in Beschreibungen der Form „sowohl als auch“ zu überführen.25 Für die vorliegende Fragestellung ist dies insbesondere für das letzte Gegensatzpaar „Integration versus Autonomie“ von Bedeutung: So stellt Bock fest, dass Frauenforschung zwar mitunter als „subdisziplinäre Spezialisierung“ bezeichnet werde, dass die Erforschung von Frauen und ihren Lebenswelten in der Geschichte jedoch zugleich als ab- und ausgegrenztes Feld zu gelten haben.26 Während der strukturellen Ausgrenzung der Frauenforschung entgegenzuwirken und ihre Anerkennung als integraler Bestandteil (historischer) Forschung zu erreichen sei, dürfe jedoch nicht vergessen werden, dass ein „mainstreaming“ der Frauenforschung – z.B. im Rahmen der 1991 noch jungen Gender Studies – die Gefahr einer neuerlichen Marginalisierung von Frauen in der Geschichtsschreibung berge. Folgerichtig spricht sich Bock für eine „Integration in Autonomie“ bzw. die „Autonomie in der Integration“ aus, für eine Erforschung von Frauen in der Geschichte, die unabhängig von „männlich dominierter Wissenschaft“ stattfindet ohne zugleich von anderen Forschungsfeldern strikt ab- und ausgegrenzt zu sein.27 Karin Hausens Ende der 1990er Jahre veröffentlichte Überlegungen zur Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische[r] Herausforderung lassen sich hier anschließen; die von Hausen vorgeschlagene Neukonzeptionierung des problematischen Verhältnisses von Geschlechtergeschichte und allgemeiner Geschichte zeigt sich jedoch
24 Beide Zitate BOCK, 1991, S. 1. 25 Vgl. EBD., S. 16-17. 26 Vgl. EBD., S. 15 – hier u.a. erläutert am Beispiel der Betrachtung des sog. „allgemeinen Wahlrechts“. 27 Vgl. EBD., S. 15-17.
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ungleich radikaler.28 Ausgehend von einer Analyse der Fachgeschichte über die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, kommt Hausen zu dem Schluss, dass die „Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung […] langfristig den wissenschaftlichen Zugang zur Geschichte der Geschlechterverhältnisse [verbaute]“.29 Sie folgert, angesichts der umfassenden Einschreibung der bürgerlichen Geschlechterordnung in Begriffe, Methoden und Konzepte der historischen Forschung und der Ausgrenzung der als weiblich markierten Bereiche reproduktiver Tätigkeiten sei eine bloße Ergänzung der sog. allgemeinen Geschichte nicht ausreichend, um die wahrgenommenen Defizite zu beheben.30 Der gesellschaftlich und ideell nicht länger legitimierten Hierarchisierung von Geschichte setzt Hausen nun die „historische Konstruktion mehrsinniger Relevanzen“ entgegen, die die historisch produzierte Einheit der Geschichte auflöst und stattdessen die Vielfalt historischer Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt der Darstellung rückt.31 Mit der letzten – hier dargestellten – Perspektive auf Frauen- und Geschlechtergeschichte erweitert sich zugleich unsere Fragestellung um die Frage, in welche Geschichte Gender integriert bzw. von welcher es separiert betrachtet wird. Ute Daniels Darstellung der Frauen- und Geschlechtergeschichte als ein Thema der (neuen) Kulturgeschichte verweist auf die Verortung der Forschungsperspektive in dieser sich nach wie vor ausbreitenden geschichtswissenschaftlichen Konzeption und lässt sich damit zugleich an Hausens Überlegungen zur NichtEinheit der Geschichte anschließen. So stellt Daniel in der Einleitung ihres Kompendium[s] Kulturgeschichte bereits fest, Kulturgeschichte sei kein „sektoraler Ausschnitt aus einer wie auch immer gearteten ‚allgemeinen‘ Geschichte“.32 Es gehe um eine grundsätzliche Einsicht 28 Dabei setzt Hausens Kritik nicht allein an der Betrachtung des Geschlechts in der Geschichtswissenschaft an, sondern verknüpft diese disziplin- und geistesgeschichtlich mit der Privilegierung von „Menschen weißer Rasse, abendländisch-christlicher Zivilisation und männlichen Geschlechts“ insgesamt, Zitat HAUSEN, 1998, S. 29, der Gedanke bereits ab S. 24. 29 EBD., S. 30. 30 S. zur Einschreibung der Geschlechterordnung in die historische Betrachtung insbesondere die Darstellung EBD., S. 44-50, zur Schlussfolgerung S. 43 sowie 53. 31 EBD., S. 54-55. 32 DANIEL, 2006, S. 8.
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in die Standortgebundenheit und Relativität jeder (historischen) Wissenschaft.33 Zeigt sich damit schon in der rahmenden Konzeption ein deutlicher Gegensatz zum Anspruch einer allgemeinen Geschichte, so verstärkt sich dieser Gegensatz in Daniels Darstellung der Frauenund Geschlechtergeschichte. So formuliert sie einen umfassenden Bedeutungsanspruch für alle Gebiete der historischen Forschung und negiert zugleich die Möglichkeit einer sektoralen Auffassung des Themas schon durch die Feststellung, die Frauen- und Geschlechtergeschichte löse ihren (ursprünglichen) Gegenstand zunehmend auf, indem sie ihn als historisch und diskursiv gewordenen dekonstruiere. Gerade das „Oszillieren zwischen Gegenstandgewißheit und Konstruktivismus“ sei ein wesentliches Kennzeichen der Frauen- und Geschlechtergeschichte.34 Eine schlichte Integration des Gegenstandes bzw. des Gegenstandsbereichs in die Geschichte scheint somit durchaus problematisch. Auch wenn Daniel abschließend feststellt, dass es inzwischen Gesamtdarstellungen gebe, die den „Anspruch einlösen, die sog. ‚allgemeine‘ Geschichte aus frauen- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive zu erschließen“, bleibe das Ziel bestehen, künftig Geschichte so zu schreiben, dass die „‚besonderen Folgen‘ […] von ‚allgemeinen‘ Strukturen, Machtverhältnissen oder Institutionen auf Frauen bzw. auf Männer“ die notwendige Beachtung erfahren.35 Geschlechtergeschichte wird somit mehr zu einer Perspektivierung von Geschichte unter vielen, die Konzeption der neuen Kulturgeschichte als Rahmung dieser Perspektivierung bestimmt zugleich verschiedene Blickweisen auf Geschichte als gleichrangig und -wertig und ermöglicht damit jene Forderung einzulösen, die Bock als Autonomie in der Integration, Hausen als Nicht-Einheit der Geschichte beschreibt; aus Geschichte werden Geschichten, Frauen- und Geschlechtergeschichte ist dabei die Realisierung einer möglichen Betrachtungsweise unter vielen. Ist auf der Ebene von Theorie und Forschung durchaus von einer zunehmenden Integration geschlechtergeschichtlicher Ansätze wie auch Ergebnisse in die universalen Geschichtswissenschaften zu sprechen, so 33 Vgl. EBD., S. 16. 34 EBD., S. 316. 35 EBD., S. 325.
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ist damit doch nur ein Teil dieser Wissenschaften beschrieben. Es bleibt zu fragen, inwiefern Gender als historische Kategorie Bestandteil des historischen Wissens unserer Gesellschaft geworden ist. Während sich der Grad der Institutionalisierung einer (Sub-) Disziplin vergleichsweise gut anhand der Besetzung von Lehrstühlen, der Einrichtung von Forschungsinstituten und der Etablierung von Periodika bestimmen lässt, ist die Frage nach einer Kanonisierung von geschlechterhistorischen Wissensbeständen – bzw. einer Aufnahme geschlechterhistorischen Wissens in einen gedachten historischen Kanon – deutlich schwerer zu beantworten. Als Anhaltspunkte können hier wohl Einführungen und Überblickswerke der Disziplin gelten, ergänzend zu diesen Informationen über die Kanonisierung innerhalb der universitären Lehre ließen sich sinnvolle Aussagen zur Etablierung geschlechtergeschichtlicher Fragestellungen und Erkenntnisse auch aus ihrer Darstellung in Schulbüchern ableiten.36 Seitens der universitären Lehrwerke kann – ungeachtet starker Unterschiede in den je lokal ausgeprägten Veranstaltungsangeboten – eine weitläufige Verbreitung der Frauen- und Geschlechtergeschichte festgestellt werden. Ob als „Konzeption der Geschichtswissenschaft“,37 als Themenfeld von historischer Anthropologie und neuer Kulturgeschichte,38 als Teil der „Themen und Strukturen“39 der Geschichtswissenschaft oder – klar separiert – als „sektoral strukturierte[r] Teilbereich[e] der Geschichtswissenschaft“40 sind das Feld und die zu seiner Erforschung angewandten Theorien und Methoden sowie die Geschichte seiner Etablierung dargestellt. Eine Betrachtung als reine Partikulargeschichte ist dabei keinem der untersuchten Werke zu eigen, Geschlechtergeschichte erscheint in den einführenden Darstellungen vielmehr als eine gleichberechtigte Forschungsperspektive neben anderen. 36 So verweist auch HAUSEN, 1998, S. 38, auf die wirksame Verknüpfung von Schulbildung und Geschichtswissenschaft und bemerkt, „Sonderkapitel“ in Geschichtsbüchern seien letztlich nur geeignet „gängige Relevanzentscheidungen“ zu bekräftigen statt sie in Frage zu stellen, S. 51. 37 Siehe die Einordnung des Beitrags von LUNDT in GOERTZ, 1998. 38 So eingeordnet bei RAPHAEL, 2003, Eintrag v. S. 237-238, mit kurzem Abriss zur Geschichte der Frauen- und Geschlechtergeschichte. 39 So bei RUBLACK, 2013 (darin der Beitrag von DOROTHY KO). 40 Vgl. bei JORDAN, 2005, S. 29-32, Frauen- und Geschlechtergeschichte in einem kurzen Absatz auf S. 31.
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Zur Fragestellung: In tegriert o der separiert? In diesem Band geht es um die Frage, welchen Stellenwert die Forschungskategorie Gender in historischen und anders disziplinären Arbeiten haben kann. Welche Vorteile und welche Nachteile es birgt, wenn Gender zur zentralen respektive alleinigen Forschungskategorie wird oder aber zu einer unter vielen. Dass sich separierte und integrierte Forschungsperspektiven nicht ausschließen müssen, zeigt ein Blick in die Forschungen der Frühneuzeithistorikerin Natalie Zemon Davis. Anhand zweier ihrer bekanntesten Werke lassen sich beide Positionen schlüssig exemplifizieren: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre und Drei Frauenleben (Women on the Margins) aus den Jahren 1983 und 1995. Die Geschichte der Wiederkehr des Martin Guerre erzählt einen höchst komplexen juristischen Fall aus dem Jahr 1560. Zwölf Jahre zuvor war im Dorf Artigat Martin Guerre, Sohn eines Bauern, verschwunden und hatte Frau und Sohn zurückgelassen. 8 Jahre später erscheint im Dorf ein Mann, der von sich behauptet, Martin Guerre zu sein. Nach einer Phase des Zweifelns wird er von der Dorfgemeinschaft und vor allem von Martin Guerres Frau Bertrande de Rols als Martin Guerre (an)erkannt. Die beiden bekommen eine gemeinsame Tochter und jener Mann, der von sich behauptet Martin Guerre zu sein, wird für einige Jahre ein respektierter Bauer und Mann in Artigat. Dann jedoch zweifelt sein Onkel und Stiefvater Bertrande de Rols im Namen der Tochter die Identität Martin Guerres an. Es kommt zu zwei Gerichtsprozessen (in Rieux und vor dem Parlament in Toulouse), in denen es jenem Mann mit der Unterstützung oder auch der Komplizinnenschaft Bertrande de Rols beinahe gelingt das Gericht davon zu überzeugen, er sei Martin Guerre. Kurz vor dem Prozessende jedoch kehrt der richtige Martin Guerre zurück. Der falsche Martin Guerre, dessen eigentlicher Name Arnaud du Tilh lautet, gesteht seinen Betrug, wird zum Tode verurteilt und schließlich hingerichtet41.
41 DAVIS, 1996 (Martin Guerre).
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Der Fall wirft etliche Fragen auf: Was bedeutete Identität im 16. Jahrhundert und welche Möglichkeiten gab es, eben diese nachzuweisen. Hätten die DorfbewohnerInnen, die Familie und vor allem Bertrande de Rols nicht erkennen müssen, dass Arnaud du Tilh nicht der wiedergekehrte Martin Guerre war?42 Für Bertrande de Rols kommt Natalie Zemon Davis genau zu diesem Schluss. Sie argumentiert, dass Bertrande de Rols sich auf das Identitätsspiel in Ausnutzung der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einließ, weil es zur Verbesserung ihrer Situation beitrug.43 Eingebettet oder besser integriert in die Geschichte der Wiederkehr des Martin Guerre betrachtet Zemon Davis nicht nur die Kategorie Geschlecht, sondern schreibt Milieu- und Sozialgeschichte der französischen Bauern im 16. Jahrhundert in einer Region. Es ist nun genauer zu fragen, wie Zemon Davis den Faktor Geschlecht integriert und zu welchen Schlussfolgerungen sie kommt? Entlang des Faktors Geschlecht betrachtet sie die ökonomische und rechtliche Situation der bäuerlichen Bevölkerung: Land- und Erbrecht, die Berechtigung zur Partizipation an den dörflichen Entscheidungsprozessen, die Möglichkeit, tätig zu werden. Genauso aber nimmt sie die sozialen und familiären Beziehungen in Augenschein. Die Ehe von Bertrande de Rols und Martin Guerre scheint nie unter einem guten Stern gestanden zu haben. In den ersten Jahren blieb sie kinderlos und galt als verhext; in späteren Jahren war sie wegen Abwesenheit des einen quasi ausgesetzt, dann wurde sie in anderer Besetzung weitergeführt und in den Jahren nach der Rückkehr Martin Guerres musste sie wieder hergestellt werden und wurde durch die Geburt mehrerer Kinder erweitert.44 Zemon Davis fragt hier nach den Handlungsmöglichkeiten der historischen AkteurInnen. Sie sind eingebunden in ein Netz religiöser, sozialer und familiärer Verpflichtungen. Bertrande de Rols Antwort, so lässt sich Zemon Davis Darstellung lesen, war Anpassung.45 Sie bemühte sich, den bösen Zauber, der auf der Ehe lag, vertreiben zu lassen und sich in Dorfgemeinschaft und Familie einzufügen. Martin Guerre hingegen wählte einen anderen Weg und verließ heimlich und 42 43 44 45
Vgl. EBD., S. 11. Vgl. EBD., S. 82-83. Vgl. EBD., S. 44, 46, 49, 51, 64, 83, 155. Vgl. EBD., S. 49.
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im Streit das Dorf, um sich den spanischen Truppen anzuschließen. Sein Weggang ließ Bertrande in prekärer Lage zurück, als Mutter eines kleinen Kindes war sie weder Ehefrau noch Witwe, sondern musste sich im Haushalt ihres Schwiegervaters ein- und unterordnen. Die angebliche Wiederkehr des Martin Guerre ermöglichte es ihr, diesen prekären Zustand zu verlassen und für einige Jahre wieder einen stabilen Platz im dörflichen Gefüge einzunehmen. Erst der gegen Arnaud du Tilh angestrebte Gerichtsprozess brachte sie wieder in eine unsichere Lage, die sich zuspitzte, als sie als mögliche Komplizin inhaftiert und angeklagt wurde. Sie wurde allerdings aufgrund ihres Geschlechts freigesprochen, als der wahre Martin Guerre wieder erschien. Die Geschichte des Martin Guerre, mit dieser Bemerkung schließt Natalie Zemon Davis ihren Bericht, ist vielfach wieder- und weitererzählt worden. Bertrande de Rols wurde dabei als eigenständige Akteurin mehr und mehr herausgeschrieben.46 Geschlecht ist, wie dargestellt, integriert in die Analyse, aber nicht der zentrale analytische Fokus der Historikerin. Das zweite Werk ist interessanterweise 12 Jahre später erschienen. Drei Frauenleben, engl.: Women on the Margins. Three seventeenth century lives behandelt drei Frauenleben, deren Biographie als ex-zentrisch geschrieben wird.47 Die drei Dargestellten sind die Ursulinin und Missionarin in Nordamerika Marie de l'Incarnation (1599-1672), die im heutigen Kanada Klöster gründete und als Mystikerin Bekanntheit erlangte. Maria Sybilla Merian (1647-1717) war eine bekannte Naturforscherin, Zeichnerin und Forschungsreisende. Sie hat zwei Jahre lang im damaligen Surinam geforscht und anschließend vor allem insektenkundliche Studien mit künstlerisch wertvollen Zeichnungen publiziert. Glikl bas Judah Leib (1646-1724) hingegen war eine jüdische Großhändlerin in Hamburg, deren Autobiographie als bedeutendes weibliches Selbstzeugnis gilt. Es sind drei Frauen, die ihr Leben aus einer ex-zentrischen Position geführt haben, on the margins, an den Rändern und dennoch außergewöhnliches getan haben. In der Einleitung des Buches verdeutlicht Zemon Davis ihre Sicht resp. ihre Konstruktion der historischen Akteurinnen und thematisiert einige epistemologische Herausforderun46 Vgl. EBD., S. 148. 47 DAVIS, 1996 (Drei Frauenleben).
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gen. Es ist deutlich, dass Zemon Davis hier eine separierte Perspektive wählt, sie Geschlecht zum Ausgangspunkt der Betrachtung der drei Frauen setzt. Die willkürliche Zuschreibung und Einfügung der drei sehr unterschiedlichen historischen Akteurinnen reflektiert sie kritisch. Zemon Davis hat die Einleitung des Buches als ein Gespräch zwischen sich und den drei porträtierten Frauen verfasst. Alle drei Frauen – so die Fiktion – haben das Buch gelesen und lehnen es aus Gründen, die so unterschiedlich wie sie selbst sind, ab. Für die Ursulinin ist es unvorstellbar, mit Ungläubigen in einem Buch zu stehen. Glikl bas Judah Leib wird in den Munde gelegt, Zemon Davis hätte nur für die eigenen jüdischen Kinder und Kindeskinder, nicht aber über die anderen Frauen schreiben sollen. Merian hingegen habe nichts dagegen, mit JüdInnen und KatholikInnen in einem Buch zu stehen, aber nicht in einem Buch über Frauen, sondern in einem Werk über die naturforschenden Gelehrten.48 In dieser Ablehnung skizziert Zemon Davis die Hauptlinien der jeweiligen Identität der Frauen. Marie sah sich als Missionarin der Ungläubigen, Glikl verortete sich in der aschkenasischen Großfamilie, die sie über Jahrzehnte erfolgreich geführt hatte, und Maria Sybilla Merian begriff sich vor allem als Forscherin und Zeichnerin. Sehen wir heute vor allem Ähnlichkeiten darin, dass sie als Frauen Grenzen ihres Geschlechts überschritten haben, so gibt es keine Hinweise, dass sie dies selbst so wahrnahmen. An dieser Stelle tritt die Autorin als mehr oder minder fiktives Ich ins Gespräch mit den drei historischen Personen ein und beginnt sich zu rechtfertigen: Sie hätte die Unterschiede in ihrem Leben zeigen wollen, sie als Handelnde nicht als Leidende porträtiert, wie sie mit Geschlechterhierarchien kämpften, von den Rändern aus agierten. Die geschichtstheoretischen Brüche, die Zemon Davis hier formuliert, also die Differenz zwischen verschiedenen Lebenswelten in der Vergangenheit trotz vergleichbarer Strukturen, und die Perspektive Frauen als Frauen und als Akteurinnen ihres Lebens ins Zentrum einer historischen Analyse zu stellen, sind den drei Frauen nicht zugänglich. Gerade der Hinweis auf das Agieren an den Rändern löst ihr Unverständnis aus. Und dies zeigt sich in ihren Antworten auf Zemon Davis Ausführungen. Diese Antworten, trotz 48 S. auch für die unmittelbar folgenden Ausführungen die Einleitung EBD., S. 7-10.
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ihres humoristischen Charakters, sind insofern bemerkenswert, als dass sie die Subjektposition der historischen Akteurinnen, in der ihnen von Zemon Davis zugedachten Weise spiegeln. Sie lässt Glikl bas Judah Leib folgendes antworten: „Am Rand las ich die Kommentare in meinen jiddischen Büchern.“ Marie de l'Incarnations Reaktion ist hierauf eine Replik. „In meinen christlichen Büchern.“ Gänzlich davon abweichend und sie als Naturforscherin positionierend ist die Maria Sybilla Merian zugedachte Antwort: „Am Rand des Flußes leben Frösche.“49 Zemon Davis macht in dieser Einleitung deutlich, dass Fragen und Konzepte aus der Gegenwart auf die Vergangenheit projiziert werden. Sie markiert die gegenwärtige Unfähigkeit die historischen Subjekte vollends zu verstehen, denn sie bleiben ambivalent und widersprüchlich. Dabei streicht die Form des fiktiven Disputes die Problematik besonders deutlich heraus und vermeidet die Fiktion einer überzeitlich vorgeblich objektiven Perspektive. Sie waren keine Feministinnen, aber sie taten außergewöhnliches als Frauen. Drei Frauenleben schreibt geschlechtsbasierte Biographien, bewusst ohne Rücksicht auf die historischen Personen. Geschlecht ist hier kaum relationale, keine integrierte, sondern eben eine separierende Kategorie. Sie sticht bewusst als Analysekriterium heraus und ermöglicht es, die biographischen Spezifika in den Lebensläufen der drei historischen AkteurInnen darzustellen. Zugleich aber ist der Zugang über Geschlecht einer, der vor allem ein Interesse der Gegenwart spiegelt, wie Zemon Davis in diesem Prolog deutlich macht. Beide Bücher sind herausragende Forschungsarbeiten, die den Diskurs geprägt haben. Theoretisch außerordentlich informiert zeigen sie an konkreten historischen Studien die Vor- und Nachteile eines separierten oder integrierten Zugriffs auf die Analysekategorie Geschlecht.
Integr iert oder separiert. Z wischen den Polen Wie die Reflexion der Arbeiten Natalie Zemon Davis zeigt, ist die Kernfrage des Bandes eine nach der Forschungsperspektive. Zentral ist die Frage der Forschungsperspektive: Ist Geschlecht die Perspektive, 49 Alle drei Zitate EBD., S. 10.
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die die Forschung bestimmt, oder wird Geschlecht als ein Aspekt unter vielen verstanden? Dabei meint die letztere Position nicht die aktuelle Debatte um Intersektionalität, denn diese rahmt Geschlecht als Forschungskategorie. Sondern es geht um die Position, die Geschlecht selbst innerhalb des Forschungsdesigns aufweist. Ist Geschlecht ein Faktor unter mehreren oder werden mehrere Faktoren herangezogen, um Geschlecht zu erklären und zu kontextualisieren? Eine integrierte Perspektive bedeutet nicht, Geschlecht innerhalb der Forschung zu kontextualisieren und zum Verständnis von Geschlecht verschiedene andere Aspekte heranzuziehen, sondern es bedeutet, in einer allgemeinen, nicht geschlechterbezogenen Fragestellung Geschlecht wie selbstverständlich als einen Faktor zu analysieren. Stärker zugespitzt könnten die von uns in den Blick genommenen Perspektiven wie folgt definiert werden:
Als integrierte Untersuchungsperspektive auf gender in der historischen Forschung bezeichnen wir eine Perspektive, die gender stets als eine grundlegende Kategorie im Zusammenspiel mit anderen grundlegenden Kategorien denkt. Eine Untersuchungsperspektive also, die gender nicht privilegiert als Haupt- oder Kernkategorie hervorhebt, sondern sie gleichberechtigt – wenn auch nicht zwangsläufig gleichartig – mit anderen Untersuchungskategorien verwendet. Als separierte Untersuchungsperspektive auf gender in der historischen Forschung bezeichnen wir eine Perspektive, die gender gezielt als Kernkategorie innerhalb eines bestimmten historischen Kontextes analysiert. Eine Untersuchungsperspektive also, die gender gegenüber anderen Kategorien herausgehoben in den Blick nimmt und sich primär für die Wirk- bzw. Entstehungszusammenhänge bestimmter Vorstellungen oder Praktiken von Geschlecht interessiert – ungeachtet des möglichen Einbezugs anderer Untersuchungskategorien, die jedoch, wenn sie einbezogen werden, stets weniger fokussiert werden als die Kategorie gender. Die beiden Kategorien sind nicht in einem hierarchischen Verhältnis gedacht. Die Wahl der einen oder anderen Perspektive
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wird stets abhängig vom jeweiligen Kontext und den damit verbundenen Zielen eines Forschungsvorhabens getroffen. Die beiden Kategorien sind nicht im strengen Sinne eines entweder/oder gedacht; es handelt sich nicht um einen kontradiktorischen Gegensatz. Vielmehr sind Abstufungen und Zwischenformen mitzudenken, die Bezeichnungen „integriert“ und „separiert“ werden mithin zu gegenüberliegenden Enden einer Beschreibungsskala.
Die Konsequenzen dieser beiden Forschungsperspektiven lassen sich bereits in den oben dargestellten Überlegungen zur Stellung der Frauenund Geschlechtergeschichte in der – bzw. ihrem Verhältnis zur – sog. allgemeinen Geschichte erkennen. Ist eine separierte Betrachtung zwar geeignet, um eine autonome Position zu beziehen und Frauen im Speziellen wie die Bedeutung von Geschlecht im Allgemeineren in Geschichte einzuschreiben und sichtbar zu machen, so zeigt sich doch zugleich die Gefahr der Reproduktion und Festigung einer Sonderrolle – mithin einer „Sonderanthropologie Frau“ – die Frauen und Geschlecht nicht als legitime Bestandteile von Geschichte, sondern als ein zumindest potenziell Ausschließbares und Ausgeschlossenes auffasst. Es besteht das konsequente Risiko, Geschlecht, im Einklang mit herrschenden gesellschaftlichen Zuständen, dichotom und essentialistisch zu denken. Eine integrierte Perspektive ermöglicht hingegen die Einschreibung von Geschlecht in die allgemeine Geschichte, indem sie den Fokus dieser Geschichte erweitert und verschiebt; dabei steht durchaus in Frage, inwieweit Integration hier zu leisten ist, ohne zugleich allgemeine Geschichte als solche aufzulösen und durch ein vielschichtiges Nebeneinander von Geschichten zu ersetzen.50 Die Gefahr einer integrierten Perspektive wiederum liegt in der potenziellen Fortschreibung hergebrachter Sichtweisen, die Geschlecht letztlich für eine „männliche“, auf das Feld der (klassischen) Politikgeschichte beschränkte Betrachtung vereinnahmt. Die Einschreibung von Geschlecht in die Geschichten kann also zu einer schnellen Herausschreibung führen. Diese Überlegungen gelten auf einer Meta-Ebene. In der konkreten Analyse einzelner Fallstudien sind die Kategorien ebenso wie ihre An-
50 Wie bereits von HAUSEN vorgeschlagen, s. o.
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wendung wesentlich instabiler und mehr in flux. Die aufgemachten Pole unterliegen einer konstanten Verhandlung.
Beiträge und Ko nzept ion des Bandes Geschlecht in der Geschichte – dies klingt nach dieser Einleitung zunächst nach einem sehr gut erforschten Thema, das in den vergangenen drei Jahrzehnten theoretisch, methodisch und praktisch intensiv diskutiert worden ist. Es stellt sich also die Frage, ob ein weiterer Band zu diesem Thema notwendig ist. Aus zwei Gründen ist dies der Fall, zum einen ist die Fragestellung auf der theoretischen Ebene eine bisher so nicht gestellte, die auch erst auf dem Hintergrund der bisher geleisteten Forschungen gestellt werden kann, und zum anderen sind neue praktische Forschungen Grundlage der theoretischen Erörterungen. Der Band betritt also Neuland, das aber Grenzgebiet zu bisherigen Forschungen ist. Er basiert auf einem Workshop mit dem Titel Gender in History – integrated or separated, der im Februar 2013 in Mainz stattfand und bei dem NachwuchswissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen die Frage integriert oder separiert auf Fallstudien basierend intensiv miteinander diskutiert haben. Angeregt worden ist der Workshop, der die Grundlage des Bandes bildet, aus einer Beobachtung, die wir am Rande einer feministischen Geschichtskonferenz gemeinsam tätigten. Es gab bei dieser an sich sehr gelungenen und anregenden Konferenz in Wien im Februar 2012 ein durchgängiges Miss- und Unverstehen zwischen KollegInnen, die Geschlecht im Zentrum ihrer Projekte verorteten und KollegInnen, die Geschlecht neben anderen Aspekten im Kontext ihrer Forschungen diskutierten. Für uns stellte sich daraufhin die Frage nach dem expliziten Dialog dieser beiden an sich berechtigten Forschungsperspektiven. Ziel dieses Dialogs sollte es nicht sein, die Berechtigung einer dieser beiden Perspektiven in Frage zu stellen, sondern ihre Chancen, aber auch Risiken herauszuarbeiten. Nach einer sehr intensiven und gewinnbringenden Diskussion in Mainz haben wir uns dann entschieden, diesen Band mit seinen versammelten Beiträgen herauszubringen. Das Konzept des vorliegenden Sammelbands sieht vor, dass die BeiträgerInnen anhand eines Fallbeispiels aus ihrer Forschung themengebunden die Grundfrage integriert oder
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separiert erörtern und die jeweiligen Vor- und Nachteile darlegen. Darüber hinaus haben die BeiträgerInnen zu je einem anderen Beitrag eine kurze Reflexion verfasst. Dieses Vorgehen macht deutlich, dass der Band insgesamt als Diskussion zu verstehen ist. Die hier vertretenen Aufsätze haben eine Schwierigkeit gemeinsam. Ihre AutorInnen haben in der Regel einen geschlechterbezogenen Ansatz ihrer Forschungen ausgewählt, thematisch passend, um die Frage integriert oder separiert anhand ihres spezifischen Fallbeispiels zu diskutieren. Dies bedeutet, dass größere Forschungsprojekte auf einen Aspekt reduziert worden sind, der in einigen Fällen die Argumentation zunächst irritierend erscheinen lässt. Das Format Reflexion findet in der deutschen Wissenschaftskultur eher wenig Verwendung. Ziel einer Reflexion in diesem Band ist es, Vor- und Nachteile des verfolgten Ansatzes aus einer zweiten Perspektive sichtbar zu machen. Der Band ist interepochal angelegt, denn die Fallstudien aus den verschiedenen Epochen und angrenzenden Disziplinen haben eine zweifache Funktion. Zum einen handelt es sich natürlich um Fallstudien, zum anderen sind die Artikel Texte, die eine Meta-Reflexion über die verwendeten Kategorien integriert und separiert erlauben. Die Interepochalität erlaubt dann auch eine chronologische Gliederung der Beiträge des Bandes, die von der Gegenwart in die Antike ausgerichtet ist. Die Beiträge sind chronologisch vom zeitgenössischen Theater bis zur alten Geschichte geordnet. Obwohl sich zahlreiche thematische Querverbindungen über- und interepochal feststellen lassen, wurde hier bewusst auf eine Anordnung der Beiträge in Sektionen verzichtet, um zu vermeiden, dass von den HerausgeberInnen entwickelte Verortungen der Beiträge den Blick auf die eigentliche Untersuchung verstellen oder zumindest verschieben. Auf eine Einteilung in separierte bzw. integrierte Beiträge haben wir verzichtet, da dies Positionen festgeschrieben hätte, die wir als Konstruktionen in einer Debatte und nicht als Fixpunkte verstehen. Die Zuordnung haben die AutorInnen selbst vorgenommen und damit ihr konzeptionelles Verständnis der Diskussion reflektiert. Mit dem Beitrag von ELLEN KOBAN gerät zu Beginn die zeitgenössische Theaterpraxis in den Blick. Am Beispiel einer Münchner Macbeth-Inszenierung analysiert sie, in welcher Art und Weise die Praxis des Gender Blending bzw. des Transgender-Acting vergeschlechtliche
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Wahrnehmungsmuster fragwürdig macht und ihre Funktionsfähigkeit (zumindest zeitweise) aufhebt. UTA MIERSCH thematisiert die Bedeutung des Kinderliedes für die Erziehung im Kindergarten der DDR. Hierbei analysiert Miersch ihren Korpus an Kinderliedern bezogen auf Geschlechterdarstellungen und Rollenzuweisungen und kann durch diese Untersuchung die Abbildung von realen Lebensbedingungen und ideologischen Rahmungen deutlich herausarbeiten und zeigen, was passierte, wenn Mutti morgens zur Arbeit ging. Der Beitrag MARION WITTFELDs beschäftigt sich mit einem unterrepräsentierten Thema in der Forschung zur Geschichte des Nationalsozialimus, den Frauenzeitschriften. Am Beispiel der Zeitschrift Mode und Heim zeigt sie das komplexe Zusammenspiel zwischen Presseanweisungen aus dem Reichspropagandaministerium und konkreter journalistischer Praxis auf. CHRISTINE BOVERMANN rekonstruiert eine zentrale Debatte in der zionistischen Bewegung in Deutschland hinsichtlich der Einrichtung einer zionistischen Frauenorganisation. Sie zeichnet die einzelnen Positionen der involvierten AutorInnen nach und legt dar, wie Geschlecht in dieser Debatte im Kontext der zionistischen Bewegung verstanden und inszeniert werden konnte. Der Eulenburgskandal, der erste Homosexualitätsskandal des Kaiserreichs, ist der Ausgangspunkt für NORMAN DOMEIERs Analyse des Zusammenwirkens von Sexualität, Politik und Nationalismus. Anhand insbesondere journalistischer Texte gelingt es ihm zu zeigen, wie dieser Skandal in der Epoche des Prestiges relevante diskursive Auswirkungen hinsichtlich eines als möglich erachteten großen Krieges hatte. MICHAELA MARIA HINTERMAYR wiederum untersucht die Konstruktion geschlechtlicher Erklärungsmuster für Selbsttötungen in Österreich im Zeitraum von 1870-1930. Ihre Analyse psychologischer, medizinischer und (sozial-)philosophischer Forschungsarbeiten aus dem Untersuchungszeitraum zeigt deutlich auf, wie geschlechtliche Normen und Stereotype die Deutung suizidaler Akte bis hin zur Somatisierung ihrer Ursachen bestimmten. JACQUELINE MALCHOW beschäftigt sich anhand eines Fallbeispiels aus dem Hamburger Stadttheater am Ende des 18. Jahrhunderts mit der
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problematischen moralischen Zwischenposition von Schauspielerinnen. Sie arbeitet dabei heraus, welche Schwierigkeiten in der Trennung von Darstellerin und dargestellter Rolle bestanden und inwiefern standesbezogene Stereotype situativ relevant bzw. irrelevant gesetzt werden konnten. SVENJA MÜLLERs Beitrag liegt die mehrschichtige mikrohistorische Analyse eines Kindsmordsprozesses zugrunde. Anhand der Prozessakte gegen Maria Magdalena Kraus zu Assenheim aus den Jahren 1760 bis 1766 thematisiert sie das komplexe weltliche und obrigkeitliche Verhältnis zu Geschlecht und Körper in einem solchen Strafprozess. Im ersten mediävistischen Beitrag des Bandes analysiert EUGENIO RIVERSI in welcher Art und Weise mittelalterliche Wissensspezialisten der Markgräfin Mathilde von Tuszien verschiedene teilweise einander widersprechende Geschlechterrollen zuschrieben. RIVERSI arbeitet dabei detailliert die Vielfalt der zugeschriebenen Identitäten vor dem Hintergrund des kulturellen Wandels und damit einhergehender semiotischer Herausforderungen heraus. BIRGIT KYNAST wiederum prüft anhand des Dekrets des Bischofs Burchard von Worms, welche kirchenrechtlichen und bußpraktischen Konsequenzen im 11. Jahrhundert aus der binären Codierung Mann/Frau abgeleitet wurden. Sie zeigt in ihrem Beitrag auf, wie die Sammlung von Verboten und Bußstrafen vergeschlechtlichte Rollenvorstellungen fixierte und welche (Ver-)Handlungsspielräume z.B. im Bereich regelkonformer Sexualität bestanden. ALEXANDRA ECKERT widmet sich in ihrem Beitrag der GenderForschung in den Altertumswissenschaften und untersucht hier – der Kernfrage des Bandes folgend –, inwieweit Gender als integrierter Bestandteil altertumswissenschaftlicher Untersuchungen gelten kann. Sie konstatiert bestehenden Widerständen und methodischen Differenzen zum Trotz eine deutliche Zunahme von Forschungsarbeiten, die Gender als (eine) wesentliche Untersuchungskategorie zur Anwendung bringen.
Wir bedanken uns an dieser Stelle beim Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für die großzügige Förderung des Workshops und die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften sowie
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bei allen BeiträgerInnen für ihre diskussionsfreudige und konstruktive Zusammenarbeit.
Literatur BEAUVOIR, SIMONE DE, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg 1990. BOCK, GISELA, Challenging Dichotomies: Perspectives on Women’s History, in: Writing Women’s History. International Perspectives, hg. von KAREN OFFEN/RUTH ROACH PIERSON/JANE RENDALL, Houndmills u.a. 1991, S. 1-23. BRUHNS, KIRSTEN: Gewaltbereitschaft von Mädchen – Wandlungstendenzen des Geschlechterverhältnisses?, in: Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt, hg. von REGINA-MARIA DACKWEILER/REINHILD SCHÄFER, Frankfurt a. M. 2002, S. 171-199. BUTLER, JUDITH, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991. DANIEL, UTE, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 5. ergänzte Aufl. 2006. DAVIS, NATALIE ZEMON, Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l'Incarnation, Maria Sybilla Merian, Berlin 1996. Dies., Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Berlin 1996 FREY STEFFEN, THERESE, Gender, Stuttgart 2006. HACKE, DANIELA: Selbstzeugnisse von Frauen in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, in: Frauen in der Stadt. Selbstzeugnisse des 16.18. Jahrhunderts, hg. von DIES., Ostfildern 2004, S. 9-39. HAUSEN, KARIN, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft Bd. 5), hg. von HANS MEDICK, ANNE-CHARLOTT TREPP, Göttingen 1998, S. 15-55. HERBERT, MELISSA S., Camouflage isn’t only for combat. Gender, Sexuality and Women in the Military, New York/London 1998.
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JORDAN, STEFAN, Einführung in das Geschichtsstudium, Stuttgart 2005. LEE DOWNS, LAURA, Writing Gender History, London 2010. LUNDT, BEA: Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Geschichte. Ein Grundkurs, hg. von HANS-JÜRGEN GOERTZ, Reinbek 1998, S. 579597. MEADE, TERESA A./WIESNER-HANKS, MERRY E., Introduction, in: A Companion to Gender History (Blackwell Companions to History), hg. von DIES., Malden/Oxford/Carlton 2004. S. 1-7. MEDICK, HANS/TREPP, ANNE-CHARLOTT, Vorwort, in: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft Bd. 5), hg. von DIES., Göttingen 1998, S. 7-14. OPITZ-BELAKHAL, CLAUDIA, Geschlechtergeschichte (Historische Einführungen Bd. 8). Frankfurt a. M. 2010. PIZAN, CHRISTINE DE, Das Buch von der Stadt der Frauen, München 1999. POMATA, GIANNA, Close-Ups and Long Shots: Combining Particular and General in Writing the Histories of Women and Men, in: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft Bd. 5), hg. von HANS MEDICK, ANNE-CHARLOTT TREPP, Göttingen 1998, S. 99-124. RAPHAEL, LUTZ, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendezen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003. RUBLACK, ULINKA (Hg.), Die neue Geschichte: Eine Einführung in 16 Kapiteln, Darmstadt 2013. ROSE, SONYA O., What is Gender History? (What is History?), Cambridge/Malden 2010. STEPHAN, INGE: Gender, Geschlecht und Theorie, in: Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, hg. von CHRISTINA VON BRAUN/DIES., 2. Aufl, Köln, 2009, S. 152-190. SCOTT, JOAN W., Gender: A Useful Category for Historical Research, in: The American Historical Review, 91,5 (1986), S. 1053-1075. WIESNER-HANKS, MERRY E., Gender in History. Global Perspectives. 2. Aufl., Chichester, West Sussex 2011.
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Gender Blending im Gegenwartstheater Darstellerische Techniken als ent/d ifferenzierende soziale P raxis ELLEN KOBAN Das (deutschsprachige) Gegenwartstheater als praktischen Untersuchungsgegenstand zur Beantwortung der explizit historisch orientierten, dem Sammelband zugrunde liegenden Forschungsfrage Geschlecht in der Geschichte – Integriert oder separiert? heranzuziehen, bedarf bereits einer ersten Erklärung. Innerhalb der theatergeschichtlichen Forschung gibt es schließlich genug Material und Diskussionspotential bezüglich separierter oder Gender integrierender Untersuchungsansätze: Den von der Antike bis zum Ende der italienischen Renaissance überdauernden, institutionellen Ausschluss von Frauen auf westeuropäischen Bühnen haben beispielsweise die angloamerikanischen Performance Studies, exemplarisch Sue-Ellen Case und Jill Dolan, unter jeweils separierter, dezidiert feministisch ausgerichteter Perspektive reflektiert.1 Ihre Kritik richtet sich hierbei insbesondere auf Darstellungen von Weiblichkeit im Spiegel männlicher Imagination und ein damit einhergehendes androzentristisches Blickregime. Gender im Sinne eines binär strukturierten, die Differenz betonenden Geschlechterverhältnisses wird im Rahmen ihrer Analysen dabei selbst reproduziert, ohne die historische Gemachtheit der eigenen Positionierung und Perspektivierung zu reflektieren. Eine andere, integrierende Herangehensweise 1
Siehe CASE, 1988, S. 5-27, DOLAN, 1992, S. 3-13.
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wird im Rahmen der Shakespeareforschung um den Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt verfolgt: Seine Studie Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance stellt nicht nur exemplarisch die kontextualisierende Methodik des New Historicism vor, sondern zeigt anhand konkreter Beispiele die „soziale Energie“2 auf, die zwischen der elisabethanisch-transvestitischen Aufführungspraxis – jegliche Frauenrollen ausschließlich mit Knaben (Boy Actors) zu besetzen – und dem zeitgenössischen Geschlechterdiskurs zirkuliert.3 Besonders dem Phänomen des Cross-Dressing, der gegengeschlechtlichen Verkleidung und Verwirrung in sowohl dramatischen und szenischen als auch alltäglichen Praktiken wird im Umfeld theaterund kulturhistorischer Forschungen zum elisabethanischen Zeitalter besondere Beachtung geschenkt.4 Der vorliegende Aufsatz fokussiert ebenso darstellerische Praktiken des Cross-Dressing, doch werden diese bewusst in der aktuellen Theaterlandschaft aufgesucht. Unter heute (relativ) gleichgestellten Bedingungen zwischen Schauspielerinnen und Schauspielern zeigen sie sich hier, im deutschsprachigen Gegenwartstheater, vollkommen anders motiviert als in den historisch und lokal spezifischen Institutionen früherer Zeiten. Vom begriffsgeschichtlich stark besetzten Phänomen des Cross-Dressing möchte ich mich daher abwenden und aus zweierlei Gründen den Begriff des Transgender-Acting ins Feld führen: um den zu untersuchenden Gegenstandsbereich erstens aus eben jenem kulturgeschichtlich bedingten strukturellen Rahmen zu lösen, um ihn zweitens und damit einhergehend als explizit künstlerisch und darstellerisch motivierte Praxis zu verstehen. So reicht die begriffliche Reduzierung auf das Dressing, auf eine bloß äußerlich vollzogene Verkleidung nicht mehr aus, um heutige Spiel- und Reflexi2 3 4
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GREENBLATT, 1993, S. 32. Vgl. EBD., S. 89-123. Exemplarisch verweise ich hier auf zwei einschlägige Aufsätze, die CrossDressing im frühneuzeitlichen England im Spannungsfeld zwischen theatraler und alltäglicher Praxis verorten: CRESSY, 1996, S. 438-465, HOWARD, 1988, S. 418-440. Marjorie B. Garbers umfassende Studie Vested Interests. Cross-Dressing and Cultural Anxiety beschäftigt sich ausschnitthaft mit Beispielen aus jener Zeit und vermittelt darüber hinaus eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf das jahrtausendealte Phänomen des Transvestismus und seiner lokal und historisch spezifischen Kontexte. Vgl. GARBER, 1993, S. 32-40, S. 71-77, S. 84-90.
Gender Blending im Gegenwartstheater
onsweisen adäquat zu beschreiben. Gegenderte Objekte wie spezifisch weiblich oder männlich codierte Kostümteile, Requisiten oder ein geschlechtsstereotypisierendes Make-Up samt Frisur verstärken zwar weiterhin die routinisierten geschlechtsdifferenzierenden Wahrnehmungsmuster auf Seiten der Zuschauenden. Deren Aufmerksamkeit wird jedoch durch professionalisierte und auf der Bühne oftmals bewusst ausgestellte Körper- und Stimmtechniken zusätzlich auf die performative Dimension von Geschlecht als einer Kategorie sozialer Ordnung und Differenzierung gelenkt. Bezüglich der dabei in Erscheinung tretenden Körperlichkeiten und Stimmlichkeiten im Dazwischen von dargestellter Figur und phänomenalem Leib lässt sich ein paradoxes Phänomen beobachten: Einerseits wird die Geschlechterdifferenz im Transgender-Acting gegenwärtiger Theaterproduktionen durch die Thematisierung und Kontrastierung von Sex, Gender und Gender Performance aktualisiert; andererseits wird sie innerhalb der spezifisch theatralen Kommunikationssituation zwischen Darstellung und gleichzeitiger Rezeption neutralisiert bzw. relativiert. So kann die Geschlechtlichkeit innerhalb von Prozessen oszillierender Wahrnehmung zwischen performativ hervorgebrachten Stimm- und Körperlichkeiten relevant oder aber irrelevant gesetzt werden und auf diese Weise das gemeinhin unreflektierte Deutungsmuster der Zweigeschlechtlichkeit auf die Probe stellen. Der Begriff des Transgender-Acting soll insbesondere jenen Darstellungen Rechnung tragen, die nicht länger bipolare Geschlechterstereotypen stilisieren – wie es häufig im Rahmen von Drag Shows der Fall zu sein scheint –, sondern jene Wirkungsweisen fokussieren, die im Sinne eines Gender Blending die kulturalisierte Binarität spielerisch überschreiten, außer Kraft setzen und sich für neue Deutungsmuster öffnen. Unter welchen Bedingungen und mit welchen darstellerischen Techniken dies geschieht, wird im Anschluss an die theoretische und methodische Einordnung dieses Untersuchungsansatzes anhand eines Aufführungsbeispieles exemplarisch veranschaulicht.
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Gender Blendin g mitte ls U n/doing Gender und perze ptiver M ultistabilität Die historische und ich meine hier vor allem die zeitliche Perspektive auf die – zunächst separiert zu betrachtende – Analysekategorie Geschlecht soll an dieser Stelle genauer erläutert werden. Wie die einleitenden Ausführungen erkennen lassen, geht der hier vorgestellte methodische Ansatz einer gender- und differenztheoretischen Aufführungsanalyse über theaterwissenschaftliches Terrain im engeren Sinne hinaus. Die theoretische Verortung des Untersuchungskomplexes Gender Blending im Gegenwartstheater ist vielmehr im interdisziplinären und sich etablierenden Feld der sozial- und kulturwissenschaftlichen Praxistheorien zu finden. Die so genannte Praxeologie, die sich seit etwa zehn Jahren im Umfeld diverser Forschungszusammenhänge wie der Kultursoziologie, der Postcolonial Studies oder der Gender Studies formiert und mit Blick auf die unterschiedlichsten Untersuchungsgegenstände und Methoden kein einheitliches Bild erkennen lässt, hat im theoretischen Konzept des Doing Culture ihren gemeinsamen Nenner: Alle Praxistheorien verstehen Kultur als einen kontingenten, d. h. veränderlichen und veränderbaren Prozess, der auf dem Handeln der sozialen Akteure beruht. In Bezug auf diese neue Sichtweise auf das Kulturelle sprechen Julia Reuter und Karl Hörning in ihrem Einführungsband von 2004 Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis von „einem eigenständigen Paradigma“5, einer „‚Praxiswende’ in den Sozial- und Kulturwissenschaften“6, deren praktische Voraussetzungen sie folgendermaßen formulieren: „Kultur als Praxis [Herv. i. O.] bedeutet sowohl ein modifiziertes Verständnis von Kultur als auch ein modifiziertes Verständnis des Handelns, des Akteurs, des Sozialen schlechthin. Dem liegt eine theoretische, wir nennen sie ‚praxistheoretische’ Prämisse zugrunde: Ganz gleich, ob der Umgang mit dem Computer im Betrieb oder dem Auto im Alltag, die Rezeption von Fernsehsendungen oder wissenschaftlichen Texten, der Prozess der Identifikation oder Repräsentation von
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HÖRNING/REUTER, 2004, S.10. EBD., S. 15.
Gender Blending im Gegenwartstheater
Personen, oder auch nur die Art und Weise, wie üblicherweise Fahrstuhl gefahren, Geschlecht praktiziert oder Wissen gewusst wird – es handelt sich um das Praktizieren von Kultur. Und: Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist keine ‚objektive Tatsache’, sondern eine ‚interaktive Sache des Tuns’.“7
Der praxistheoretische Handlungsbegriff bezieht sich dabei nicht auf ein intentionales und zweckrationales Handeln autonomer Individuen, sondern auf alltägliche automatisierte und oftmals unbewusst ablaufende Handlungsroutinen, die auf dem praktischen (Körper-)Wissen der sozialen Akteure basieren. Soziale Praktiken sind folglich durch permanente Wiederholungen habitualisierte Handlungs- und Verhaltensweisen mit einer die soziale Wirklichkeit ordnenden und in diesem Sinne Kultur erzeugenden, aber auch transformierenden Funktion. Unter praxistheoretischer Perspektive rückt explizit der Körper ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Der Körper wird, mit den Worten des Kultursoziologen Andreas Reckwitz gesprochen, zum „Ausführungs- und Aufführungsort von Kultur“8 und zur Bedingung eines auf Kontingenz und Prozessualität gründenden, kulturellen Wandels. Mit Blick auf den spezifischen Forschungsgegenstand Gender werden die eben ausgeführten Prämissen im sozialwissenschaftlichen Konzept des Un/doing Gender konkret.9 Dieses hat der Geschlechtersoziologe Stefan Hirschauer schon Mitte der 1990er Jahre formuliert, 7 8 9
EBD., S.10. RECKWITZ, 2008, S. 87. Siehe HIRSCHAUER, 1994, S. 668-692. In diesem Aufsatz führt Hirschauer erstmals den Begriff vom Undoing Gender in Anlehnung und Erweiterung an die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung zum Doing Gender ein. Vgl. auch HIRSCHAUER, 2001, S. 208-235. Unter dem Titel Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung entwickelt Hirschauer Un/doing Gender als ein auf Ambivalenz gründendes theoretisches Konzept weiter. Seit 2013 ist Stefan Hirschauer Sprecher der DFG Forschergruppe Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung (FOR 1939) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, in deren Rahmen Un/doing Gender als eine spezifizierte Praxis innerhalb des alltäglichen Tuns von Un/doing Differences untersucht wird. Im theaterwissenschaftlichen Teilprojekt Performative Reflexion von Humandifferenzierung im Theater: Gender und Ethnizität der DFG Forschergruppe 1939 ist mein hier im Ansatz vorgestelltes Forschungsprojekt angesiedelt.
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womit er kritisch und produktiv an die ersten ethnomethodologischen Ansätze in den Arbeiten zum Doing Gender von Harold Garfinkel, Erving Goffman sowie Candace West/Don H. Zimmerman anschloss.10 Die zeitliche Dimension verlagert sich nun in die Prozesshaftigkeit und Temporalität dieser sozialen Differenzierungskategorie selbst. Wie Hirschauer verstehe ich Gender – und andere soziale Kategorisierungen – als eine unter vielen sinnhaften, kontingenten sozialen Ordnungskategorien, die ihre konsequenzreiche Wirkung in der sozialen Praxis entfaltet und dort situations- und kontextspezifisch an Bedeutung gewinnen, aber auch verlieren kann. Unserer Alltagserfahrung entsprechend formuliert der Soziologe damit einerseits eine Gender-Theorie flexibel und nur in Relation zueinander aktivierbarer Geschlechtsmitgliedschaften, die in der sozialen Interaktion durch ein dynamisches Verhältnis von Prozessen der Aktualisierung und Neutralisierung relevant oder irrelevant gesetzt werden.11 Andererseits betont Hirschauer mit diesem Konzept zugleich die heterogene Kopplung, Verstärkung oder Neutralisation durch andere soziale Differenzierungskategorien, deren Wechsel- und Spannungsverhältnisse es je nach Situation und Kontext empirisch zu untersuchen gilt.12 Die sich unterschiedlich vollziehenden Prozesse der Neutralisation von Geschlecht im Sinne eines Undoing Gender seien neben mobilisierenden Praktiken der Geschlechtsdarstellung und -attribution als ebenso routinisierte Alltagspraxis in kurzfristigeren Interaktionen oder auch länger überdauernden Institutionen und Strukturen zu verstehen. Die wiederholte und für das praktische Geschlechterwissen notwendige Aktivierung von Geschlechtszugehörigkeit werde überhaupt erst auf Basis dieses kontextuellen Vergessens von Geschlecht sozial konsequenzreich gemacht.13 Fragen nach dem Interaktionsverlauf, nach den situationsspezifischen Praktiken der Wahrnehmung oder auch Nicht-Wahrnehmung von Geschlecht rücken damit in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Diese Möglichkeit und Notwendigkeit der Unterbrechung des Differenzierungsprozesses wird weder von den frühen sozialkonstruktivistischen Konzepten des Doing Gender noch von der poststrukturalis10 Siehe GARFINKEL, 1967, S. 116-185, GOFFMAN, 1977, S. 105-158, WEST/ZIMMERMAN, 1987, S. 127-151. 11 Siehe HIRSCHAUER, 2001, S. 208. 12 Siehe EBD., S. 222-231. Vgl. auch HIRSCHAUER, 2014, S. 181-189. 13 Siehe EBD., S. 214-221.
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tischen Gender-Theorie Judith Butlers in ihre Überlegungen mit einbezogen. Letztere gründet in Anlehnung an Austins Sprechakttheorie zudem auf der sprachlichen Verfasstheit kultureller Unterscheidungen. Butler vermag aus diesem Grund nur mehr im abschließenden Kapitel ihres Werkes Das Unbehagen der Geschlechter das Zusammenspiel von diskursiven und leiblichen Akten als produktives sowie subversives Potential im Prozess der Re-Inszenierung der „heterosexuellen Matrix“14 erkennen.15 Durch den Einbezug körperlicher Praktiken gewinnt ihre Gender- und Subjekttheorie insbesondere an dieser Stelle Relevanz für die Theaterwissenschaft: Explizit führt Butler hier Geschlechterparodien im Kontext von Drag Shows ins Feld, mit Hilfe derer die Imitationsstruktur einer sich durch stilisierte Wiederholungen in der Zeit formierenden Gender-Performanz auf subversive Weise unterlaufen werden könne.16 Reformuliert man die Überlegungen Butlers kultursoziologisch, zeichnet sich die von ihr exemplarisch angeführte darstellerische Technik der Stilisierung im Kontext von Geschlechterparodien eher als Praktik eines Over-Doing Gender aus. Durch das überzeichnete und klischierte Ausstellen geschlechtsstereotypisierter Praktiken wird deren Bedeutung für die sich auch im Alltag performativ vollziehende Geschlechtsdifferenzierung zwar sichtbar gemacht, doch werden damit einerseits binär strukturierte Geschlechtsstereotypen von Weiblichkeit oder Männlichkeit reproduziert und andererseits die Rolle der Zuschauenden im Aktivierungsprozess von Geschlechtszugehörigkeiten nicht weiter kritisiert. Für eine theater- und kulturwissenschaftliche Forschung, die sich mit den Mechanismen der sozialen Kategorie Geschlecht, mit Prozessen der Verstärkung, Kombination und Neutralisation durch andere Differenzierungskategorien und mit den konkreten darstellerischen als auch zuweisenden Praktiken bei der Konstitution von Geschlechtszugehörigkeit beschäftigt, bietet das praxistheoretische Konzept des Un/doing Gender folglich das geeignetere Ausgangsmaterial für gender- und differenztheoretisch ausgerichtete Aufführungsanalysen. Entgegen seiner Betonung auf Routinen des Alltags weite ich Hirschauers Ansatz
14 BUTLER, 1991, S. 219. 15 Siehe EBD., S. 190-218. 16 Siehe EBD., S. 201-208.
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damit auf theatrale Rahmen und die sich darin (bewusst oder unbewusst) vollziehenden Wahrnehmungsprozesse aus. In Bezug auf aktuelle Spielweisen im Gegenwartstheater gehen jene anfangs skizzierten Techniken des Transgender-Acting zudem über die von Butler beschriebenen Phänomene hinaus, weil sie oszillierende Wahrnehmungsprozesse zwischen Relevant- und Irrelevantsetzung von Geschlecht in Erscheinung treten lassen. Wahrnehmungspsychologisch wird diese pendelnde Aufmerksamkeitsverschiebung zwischen mehreren, visuell und/oder akustisch wahrnehmbaren Ebenen mit dem Konzept der perzeptiven Multistabilität erläutert. Dieses hat die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte mit Blick auf performative Inszenierungsstrategien im postdramatischen Theater seit den 1960er Jahren spezifiziert und für die theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse reformuliert.17 Laut Fischer-Lichte sind postdramatische Darstellungspraktiken vielfach durch ein (selbst-)reflektiertes und den theatralen Konstruktionsprozess bewusst ausstellendes Spiel gekennzeichnet, das den Zuschauenden die Illusion eines sich in der Rollenfigur vollständig auflösenden Schauspielerkörpers nimmt. Die Zuschauerwahrnehmung „gleitet oszillierend zwischen der Wahrnehmung des phänomenalen Leibes des Darstellers und ihrer Fokussierung auf eine Figur hin und her“.18 Die jeweils fokussiert wahrgenommene Körperlichkeit unterliegt dabei unterschiedlich ablaufenden Semiotisierungsprozessen: Betrachtet man den Schauspieler ausschließlich als Repräsentant einer Rollenfigur, so wird sein Körper zu einem Zeichen der fiktiven Bühnenwelt; rückt dagegen seine Präsenz, seine individuelle Leiblichkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dann „fallen Wahrnehmung und Bedeutungszuweisung [im Akt der Wahrnehmung selbst] zusammen“19. Die Körperlichkeit des Darstellers wird in ihrer Materialität, in ihrem So-Sein erfahren, ein Vorgang, der paradoxerweise mit einer „Pluralisierung von Bedeutungsmöglichkeiten“20 einhergeht, da sich die Wahrnehmung der individuellen Körperlichkeit für unterschiedlichste Assoziationen und Bedeutungszuweisungen öffnet.
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Vgl. FISCHER-LICHTE, 2006, S. 129-139. EBD., S. 130. EBD.; S. 130. EBD., S. 134f.
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Was dies für die ästhetische Erfahrung im konkreten Fall von Transgender-Acting bedeuten kann und inwiefern sich die Konzepte des Un/doing Gender und der perzeptiven Multistabilität im Kontext von ent/differenzierenden darstellerischen Praktiken sogar bedingen, soll anhand eines Aufführungsbeispieles abschließend demonstriert werden.
M acbeth als Gender B lender an den Mü nchner Kammersp ie len Beim ausgewählten Beispiel handelt es sich um die MacbethInszenierung Karin Henkels an den Münchner Kammerspielen, die 2011 Premiere feierte und 2012 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Der schottische Feldherr Macbeth wird in Henkels Regiekonzept durch die Schauspielerin Jana Schulz dargestellt. Das restliche, bei Shakespeare etwa 30 Rollen umfassende Personal wird durch vier weitere Darstellerinnen und Darsteller abgedeckt, die allesamt mehrfach und häufig ebenfalls geschlechtlich gegenläufig besetzt sind. Exemplarisch wird im Folgenden eine der ersten Sequenzen der Aufführung herausgegriffen und das komplexe Zusammenspiel von Körper, Stimme und Geschlecht auf relativierende und neutralisierende Techniken hin analysiert. Die erste Begegnung zwischen den beiden siegreich aus der Schlacht heimkehrenden Feldherren Macbeth und Banquo sowie den drei weissagenden Hexen vollzieht sich in der Inszenierung Karin Henkels leibhaftig im Bild eines Verführungsreigens: Die Szene mit einem betörenden, chorisch-rituellen Gesang untermalend ziehen die drei Schicksalsschwestern die beiden Feldherren jeweils an den Händen haltend aus dem Off auf die Bühne, wo letztere nach einem kurzen Ringelreihen mit den Hexen von diesen auf zwei Stühlen nebeneinander platziert und drapiert werden. Als Strippen ziehende Schicksalsschwestern setzen sie Macbeth und Banquo in ihren Rollen als eben heimgekehrte Feldherren in Szene: Vor den Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer werden sie im Gesicht und auf der Kleidung kunst- und beinahe liebevoll mit Blut beschmiert, Macbeth bekommt als Zeichen seines Sieges einen länglichen Ast einer Lanze gleich in die Hand,
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während ein an die Stühle angelehntes Pappschild mit der dem , Shakespear schen Text entlehnten Ortsangabe „an open place“ 21 verheißungsvoll sowohl auf die Mehrdeutigkeit des dramatischen Geschehens als auch auf die Selbstreflexivität der szenischen Ästhetik verweist. Dass es nicht unbedingt der erste Blick sein muss, der eine sichtbare Differenz zwischen Geschlechtsmitgliedschaft einer fiktiven Rollenfigur und imaginierter Geschlechtszugehörigkeit des jeweiligen Schauspielers erzeugt, wird bei der Wahrnehmung der Macbeth-Darstellung durch Jana Schulz erfahrbar. Bis ihre ersten gesprochenen Worte zu hören sind, mögen unkundige Zuschauende keinerlei Diskrepanz erkennen. Die auf der Bühne visuell wahrzunehmende Körperlichkeit des Münchner Macbeth lässt in Übereinstimmung mit der fiktiven Figur eine männliche Geschlechtszugehörigkeit des jungen, schlanken und athletisch gebauten Darstellers um die 30 vermuten: Eine UndercutFrisur mit fransigem blondem Deckhaar, ein weißes Hemd und eine schwarze, gerade geschnittene Stoffhose – die Hosenbeine im Military Style auch in Militärstiefel gesteckt – kaschieren erfolgreich eine weibliche Physis, die, wäre sie sichtbar gemacht, automatisiert auf eine kohärente weibliche Geschlechtszugehörigkeit der Schauspielerin schließen ließe. Was den verkörperten Habitus in dieser ersten Szene zwischen Banquo, Macbeth und den drei Hexen betrifft, nehmen anfangs beide Feldherren eine markant breitbeinige Sitzhaltung auf ihren Stühlen ein – bewusst oder unbewusst dargestellt als raumeinnehmendes und geschlechtsdifferenziert erfahrbares Zeichen für eine männlich konnotierte Körperlichkeit. Rekurrierend auf die visuell wahrzunehmende Gestaltung dieses Macbeth könnte man während dieser ersten Minuten der Aufführung folglich von einer geschlechtsneutralisierenden und entdifferenzierenden Darstellungspraxis sprechen, durch welche zumindest die Geschlechtlichkeit der Schauspielerin in einem routinisiert und unbewusst ablaufenden Wahrnehmungsprozess zum Verschwinden gebracht wird. Zum einen wird das Thema Geschlecht nun aber im szenischen Verlauf auf sprachlicher Ebene in Form rhetorischer Rede zwischen den Hexen und Feldherren bewusst mobilisiert: So wird Banquo auf seine Frage an die unwirklich scheinenden Hexen-Gestalten nur mit einer 21 SHAKESPEARE, 2003, I. Akt, Erste Szene.
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seinen genauen Wortlaut wiederholenden, nun süffisant betonten Gegenfrage geantwortet: „Was seid ihr? Frauen oder Männer?“ Auf dezidiert paralinguistischer Ebene entsteht zum anderen durch die kurz darauf erstmals zu hörende weiche Stimmlichkeit von Jana Schulz ein Moment der Überraschung, der zum eigentlichen Ausgangspunkt der Aktualisierung eines geschlechtsdifferenzierenden Wahrnehmungsprozesses wird: In diesem einen Moment erhebt sich die Schauspielerin gleichsam über ihre bis dahin nur visuell wahrzunehmende Erscheinung, indem sie innerhalb eines simultanen Aktes von Aufstehen und Sprechen ihre Körperlichkeit mit ihrer Stimmlichkeit ostentativ konfrontiert. Im Kontrast zwischen visueller und akustischer Wirkung wird die Geschlechtszugehörigkeit des phänomenalen SchauspielerLeibes allererst thematisiert, hervorgebracht im szenischen Spiel durch die als irritierend wahrzunehmende Stimmlichkeit von Jana Schulz. Für die Attribuierung weibliche Stimme reichen allein der höhere Klang und das weiche, leise und darüber hinaus kindlich wirkende Timbre der Schauspielerin aus; irrelevant, weil außer Kraft gesetzt werden in der automatisierten (Geschlechts-)Wahrnehmung die kulturspezifisch habitualisierten Stimmtechniken der Phonation, Artikulation, Intonation und Intensität, die für die alltägliche Praxis der Stimmenwahrnehmung und der Generierung kohärenter Stimm- und Körperbilder nicht weniger bedeutsam sind. Zweifelsohne wird in diesem reflexiven Moment der Re-Strukturierung sozialer Ordnung die weibliche Geschlechtszugehörigkeit bewusst attribuiert und Geschlecht in dieser Situation aktiviert. Der Akt der Wahrnehmung zweier divergierender Geschlechtlichkeiten zwischen fiktiver Rolle und Privatperson Schauspielerin fällt nun zugleich auf die Wahrnehmung zweier Körperlichkeiten zurück: fiktiver Figurenkörper und phänomenaler Leib driften durch die Fokussierung auf letzteren auseinander. Wahrgenommen wird dieser nun in seiner individuellen Materialität, die durch die Wahrnehmung ambivalenter Körperlichkeiten verstärkt unter einer geschlechtsdifferenzierenden Perspektive in Erscheinung tritt. Dass sich kein Körper, kein Subjekt unabhängig von normativen Kategorisierungen darzustellen vermag, wie Judith Butler anhand ihrer Performativitätstheorie von Geschlecht annimmt, offenbart sich in diesem ästhetischen Moment perzeptiver Multistabilität weniger als eine Praxis der
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Darstellung, sondern vielmehr als Praxis der Attribution auf Seiten der Zuschauenden. Von einem „Vergessen des Geschlechts“22 in Hirschauers Sinne kann ab dem Zeitpunkt der Desillusion eines „ganzheitlichen KörperStimm-Bildes“,23 das laut Vito Pinto auf der Kohärenz zwischen imaginiertem (gegendertem) Körper- und imaginiertem (gegendertem) Stimmbild basiert, kaum mehr die Rede sein. Dennoch erzielt das Spiel von Jana Schulz gerade in der ambivalenten Relation von Körperlichkeit und Stimmlichkeit geschlechtsneutralisierende Effekte: Im Dazwischen von Darstellerin und Figur tritt ein androgynes „Körper-StimmBild“ in Erscheinung, das zunehmend Assoziationen kindlicher Zartheit und jugendlicher Zweifel evoziert – Assoziationen, die aus dem Wechsel- und Spannungsverhältnis von visuellen und akustischen Markern entstehen. So wird die dem Phänomen Stimme isoliert zuweisbare Weiblichkeit in der oszillierenden Wahrnehmung zwischen Körperlichkeit und Stimmlichkeit, zwischen fiktiver Figur und phänomenalem Leib in Richtung einer kindlichen Gesamterscheinung neutralisiert bzw. relativiert. Am Ende der Aufführung in den Münchner Kammerspielen scheint es, als könnten die flehentlich leise gesprochenen Worte dieses Macbeth nicht treffender eine von Beginn an in ihm schlummernde Sehnsucht formulieren: „Könnt ich doch einfach nur zurückgeh’n in das Kind, das ich war.“ Jana Schulz hat die Shakespeareschen Worte in ihr Spiel integriert. Die dem Tragödientext eingeschriebene Problematisierung von Geschlechtsrollenbildern, ausgehend von dem ambivalenten Verhältnis zwischen Macbeth und seiner Gemahlin Lady Macbeth, erfährt damit einen neuen Akzent. Im Transgender-Acting durch die Schauspielerin zeigt sich der Konflikt Macbeth’ zwischen moralischen und machthungrigen Ansprüchen auch als ein Kampf um Anerkennung und Aberkennung von Geschlechtszugehörigkeiten im Prozess des Erwachsenwerdens, als ein Kampf zwischen Aktivierung der Geschlechtsmitgliedschaft durch darstellerische Praktiken und Ignorierung von Geschlechtsrollenbildern zugunsten neuer Spiel- und Handlungsräume.
22 HIRSCHAUER, 2001, S. 208. 23 PINTO, 2012, S. 65.
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Wie das analysierte Beispiel zeigt, befördert das Phänomen der perzeptiven Multistabilität besonders in selbstreflexiven theatralen Rahmensetzungen die Multistabilität kultureller Unterscheidungen. Im Oszillieren zwischen fiktiver Figur und phänomenalem Leib, zwischen Körperlichkeit und Stimmlichkeit, zwischen Darstellung und Attribution wird die prozessuale Dimension, die Kontingenz der interaktiv hergestellten Geschlechterdifferenz sinnlich erfahrbar. Der Grad der Reflexion steht dabei in direktem Zusammenhang zu den oszillierenden Wahrnehmungsprozessen: Die Oszillation selbst bringt ein relationales Geschlecht hervor, das sich im Kontext theatraler Praktiken für neue Bedeutungsebenen und/oder andere soziale Zuschreibungen öffnet. Die hier exemplarisch durchgeführte Aufführungsanalyse konzentriert sich zwar auf die soziale Kategorie Geschlecht als separiert zu betrachtende Analysekategorie, doch scheinen im und durch den Akt der oszillierenden Wahrnehmung neue Bedeutungsmöglichkeiten (auf Ebene der fiktiven Handlung) und andere Markierungsformen des Körpers (auf Ebene der szenischen Darstellung) auf. Die Analyse von Theateraufführungen leistet damit einen transdisziplinären Beitrag zu einer sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Differenzforschung, indem sie das Spiel der Differenzen, die Logik von Differenzierungen und Entdifferenzierungen sowie die treibenden Mechanismen der Aktualisierung und Neutralisierung in theatral gerahmten Praxisfeldern untersucht.
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Reflexion des Beitrags von Ellen Koban JACQUELINE MALCHOW Ellen Koban untersucht in ihrem Beitrag, wie das durch darstellerische Techniken erzeugte Gender Blending im Gegenwartstheater das Konzept Gender hinterfragen und neutralisieren bzw. relativieren kann. Sie versteht in ihrem Beitrag Gender als ein dynamisches, kontingentes Konzept, welches sich in der sozialen Interaktion und in Relation zu sowie Auseinandersetzung mit anderen Differenzkategorien kontinuierlich wandelt. Abhängig von der Situation und dem Kontext wird Gender als Konzept flexibel aktualisiert, verstärkt oder neutralisiert und auch mit anderen Kategorien kombiniert. Basierend auf der Theorie des Un/Doing Gender von Stefan Hirschauer und den wegweisenden Arbeiten von Judith Butler, die den Körper als Mittelpunkt und Austragungsort der Verhandlung von Gender sieht, erweitert Koban den theoretischen Ansatz um die Wahrnehmung bzw. Nichtwahrnehmung von Geschlecht; die Rolle der Zuschauenden im Prozess der Reproduktion oder Neutralisierung von Gender wird miteinbezogen. Dies eröffnet neue Fragestellungen nicht nur im Bereich der Theaterwissenschaft, sondern auch in den Sozialwissenschaften, weil der Fokus nicht mehr vornehmlich auf den Handelnden im Sinne von Darstellenden liegt. Wie die Geschlechterdifferenz durch das im Gegenwartstheater darstellerisch erzeugte Gender Blending hinterfragt und außer Kraft gesetzt werden kann, stellt Koban am Beispiel der Macbeth-Inszenierung Karin Henkels an den Münchner Kammerspielen dar. Ausgehend von einer gender- und differenztheoretischen Aufführungsanalyse wird Gender in einer separierten Fragestellung in den Fokus der Untersuchung gestellt, 47
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die damit über den theaterwissenschaftlichen Bereich hinausgeht und interdisziplinär in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Praxistheorien zu verorten ist. Die Frage nach der Darstellung von Geschlecht auf der Bühne und deren Funktion eröffnet dabei mögliche Fragestellungen auch für historische Aufführungsanalysen. Die theoretischen Grundlagen ermöglichen desweiteren einen ähnlich separierten Ansatz für Kategorien wie Alter oder Ethnizität. Durch die separierte Fragestellung der Untersuchung können die verschiedenen Merkmale von Geschlechterdifferenz und die Möglichkeiten ihrer Neutralisierung getrennt vom historischen Kontext herausgearbeitet werden, was die Übertragbarkeit der Ergebnisse erhöht. Desweiteren ermöglicht diese Herangehensweise eine weiterführende Ausarbeitung der Methodik für den Forschungsbereich der Praxistheorie. Die zeitliche Verortung in der Gegenwart ist dabei ebenso hilfreich wie die räumliche Verortung im abstrahierenden Raum des Theaters, denn diese Verortungen ermöglichen die Minimalisierung der Kontexte. Im gewählten Beispiel ist es jedoch die Kombination von Gender mit der Kategorie Alter, die eine neutrale, kindliche Geschlechtlichkeit schafft – die Ausweitung der Untersuchung zu einer integrierten Fragestellung scheint also durch Hinzunahme weiterer Differenzierungskategorien möglich und, je nach Forschungsinteresse, auch wünschenswert. Ein zentraler Aspekt solcher Aufführungsanalysen ist der Körper des Schauspielers/der Schauspielerin und inwieweit dieser mit der gespielten Rolle übereinstimmt oder dieser widerspricht. Im postdramatischen Theater wird die Trennung von SchauspielerInnenkörper und Rolle häufig bewusst eingesetzt: Bei der Praxis des sogenannten Transgender-Acting, das bewusst von historischen Praktiken des Crossdressing abgegrenzt wird, kommt es zu Aufmerksamkeitsverschiebungen zwischen mehreren visuell und/oder akustisch wahrnehmbaren Ebenen. In dem gewählten Beispiel aus dem Anfang des Stückes sitzen die siegreich heimgekehrten Feldherren Macbeth und Banquo blutbeschmiert und breitbeinig auf je einem Stuhl, der simultane Akt des Aufstehens und Sprechens von Jana Schulz‘ Macbeth führt zu einem Bruch der Zuschauerwahrnehmung, die in einer Neutralisierung von Gender resultiert. Die Attribution von Gender geschieht dabei auf Seiten der ZuschauerInnen. Neben dem Aspekt des dressing – also der Verwendung von bestimmten Kleidungsstücken und Requisiten – ge-
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Reflexion
langt nun auch der performative Aspekt von Geschlecht auf die Bühne, wodurch die alltäglichen Konzepte von Gender aktualisiert und neutralisiert werden können. Die binäre Geschlechtertrennung wird in diesem Fall also nicht wiederkehrend reproduziert bzw. wie z. B. bei Drag Shows zusätzlich überzeichnet dargestellt, im Gender Blending kommt es vielmehr zu einer Auflösung der Binärität und der Schaffung einer neutralen Geschlechtlichkeit. Das Entstehen eines relationalen Geschlechts mit kindlichen Zügen, wie es in dem gewählten Beispiel nachgezeichnet wird, öffnet Gender für neue Bedeutungsebenen und/oder andere soziale Zuschreibungen. Das Theater eignet sich hervorragend als Untersuchungsort: Einerseits steht hier der Körper im Mittelpunkt, andererseits ist eine Funktion dieses Ortes seit Jahrhunderten das Austesten neuer und das Aufweichen überholter Konzepte. Dementsprechend sind Erkenntnisse aus Analysen der Bühnenpraxis häufig auf die Gesellschaft übertragbar, worin eine der weiteren möglichen Schnittstellen dieser Untersuchung liegt. Unklar ist, inwieweit sich diese Erkenntnisse auf historische Bühnenpraktiken übertragen lassen, wobei ein Ausbrechen aus der Reproduktion der Geschlechterbinärität in der Forschung zu neuen Ansätzen und einer Neuevaluation bestehender Theorien führen könnte.
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„Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…“ Frauen- und Männerbilder in Kinderliedern der DDR UTA MIERSCH Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Vorstellungen davon, wie Frauen und Männer sind oder sein sollten. Diese Bilder werden bereits früh vermittelt, schon im Kleinkindalter werden die Mitglieder der Gesellschaft damit konfrontiert – nicht nur im eigenen Erleben, sondern v. a. in modernen Gesellschaften auch, indem der gesellschaftliche „Normalzustand“ bzw. der erwünschte „Idealzustand“ medial präsentiert wird. In klar separierter Herangehensweise soll daher im Folgenden über die Quellengattung „Kinderlied“ eine Annäherung an die („offiziellen“) Frauen- und Männerbilder einer spezifischen Epoche und eines spezifischen Raumes, der DDR, vorgenommen werden. Die separierte Perspektive ermöglicht es dabei, die spezifischen Rollenzuweisungen, die an Männer und Frauen im Kinderlied der DDR formuliert wurden, darzustellen, was bei einer integrierten Perspektive in dieser Deutlichkeit nicht herausgearbeitet werden könnte, sondern eher ein Nebenergebnis darstellen würde.
Kinder lieder als Que lle Die ersten kulturellen Erfahrungen, die ein Mensch im Säuglingsalter, als Kleinkind und als noch nicht alphabetisiertes Vorschulkind macht, 51
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liegen meist im musikalischen Bereich, vor allem durch das Hören und Singen von Kinderliedern, die damit von großer Bedeutung in der ontogenetischen Entwicklung des Menschen sind.1 Von prägender Wirkung für das ganze Leben sind Kinderlieder jedoch nicht nur, weil sie in ihrer Verbindung von Text und Musik Emotionen ansprechen, sondern auch, weil hier früh Themen gesetzt und Bahnen geebnet werden können, auf denen sich das mit dem Alter wachsende kulturelle Wissen und Wahrnehmungen bewegen und anordnen. Unter dem Begriff „Kinderlied“ soll im Folgenden, in Anlehnung an die Definition von Jacob und Wilhelm Grimm, ein Lied verstanden werden, „wie es die kinder singen, oder wie es den kindern gesungen oder für sie gedichtet wird“.2 Es ist also zunächst der Erwachsene, der es für das Kind singt, es damit tradiert, der es zuvor ausgewählt – und der es vor allem verfasst hat. Das Kinderlied ist damit aufs Engste mit der Welt der Erwachsenen verknüpft, von ihr abhängig, wird von ihr reglementiert und inhaltlich geprägt. Diese Inhalte sind dabei ausgesprochen vielfältig, wie die Kinderliedforscherin Ruth Lorbe zusammenfasst: „Das Thema der Kinderlyrik ist die Welt. In den Gedichten und Liedern begegnet das Kind der Welt.“3 Daher erweisen sich Kinderlieder bzw. vor allem deren Texte bei genauer Betrachtung als besonders interessante Quelle für historische Fragestellungen, denn im Kinderlied präsentiert der Erwachsene dem Kind die Welt – wie er sie wahrnimmt oder wie er sie haben möchte. Das, was im Kinderlied an konkreten thematischen Inhalten, aber auch an Stimmungen oder Einstellungen transportiert wird, lässt damit zahlreiche Rückschlüsse auf eine Gesellschaft zu. Aufgrund seiner Gattungsmerkmale stellt das Kinderlied jedoch keineswegs eine einfache, unproblematische Quelle dar: Als literarische Kleinform bietet es nur wenig Raum für konkrete Inhalte, vieles muss aus wenigen Worten „herausassoziiert“ werden. Da der Adressat des Kinderliedes das Kind ist, dominiert darüber hinaus häufig sowohl eine pädagogisch-didaktische Ausrichtung als auch das Bestreben des Erwachsenen, dem Kind die Welt „schön“ und harmonisch zu präsentie-
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Vgl. RÖHRICH, 2002, S. 318. GRIMM, 1873, Sp. 741. LORBE, 1974, S. 200.
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ren, „wie aus dem Bilderbuch“.4 Dennoch: Im Kinderlied finden sich Botschaften, Leitbilder, Vorstellungen, alles, was Erwachsene an Kinder herantragen wollen, in verdichteter Form, stark reduziert, um Widersprüche bereinigt, aber dadurch eben auch deutlich hervorgehoben, knapp, prägnant und durch die Verbindung von Text und Melodie einprägsam. Gerade für die Untersuchung der für eine Gesellschaft so elementaren Vorstellungen von Geschlecht erscheinen Kinderlieder daher als keinesfalls randständige, sondern vielmehr ausgesprochen relevante Quelle.
Das „neue“ Kin derlied der DDR Die Kinderlieder der DDR sind für eine historische Untersuchung besonders interessant, da ihre Entstehung nicht, wie so oft, dem Zufall oder dem persönlichen Interesse einzelner AutorInnen überlassen war, sondern von staatlicher Seite aus gefördert und gelenkt wurde: Es galt, das „neue Kinderlied“ zu schaffen. Dessen Anspruch war es, „künstlerisch gestaltete Widerspiegelung der Wirklichkeit“5 zu sein und dabei die gesellschaftliche Entwicklung erkennen zu lassen. Die Inhalte der Lieder sollten „mit dem Fortschritt der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt halten“.6 Lotte Schuffenhauer, Musikpädagogin und selbst Autorin zahlreicher dieser neuen Kinderlieder, fasst dies so zusammen: „Unsere Kinder sollen zu einem gesunden Realismus und zur wissenschaftlichen Weltbetrachtung erzogen werden. Die Liedtexte dürfen also nicht im Gegensatz dazu stehen. Sie müssen vielmehr dem Kinde helfen, sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen, und ihm ein richtiges Weltbild vermitteln.“7
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Auch die literarische Gattung Bilderbuch ist als Quelle für historische Fragestellungen von durchaus großer Relevanz, muss jedoch in dieser Betrachtung außen vor bleiben, da der Fokus auf einer genauen Analyse einiger weniger Liedbeispiele liegt. NEUMANN, 1970, S. 73. NEUMANN, 1970, S. 71. SCHUFFENHAUER, 1951, S. 6.
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Daher eignen sich diese Lieder besonders gut, um sich dem (offiziellen) Frauen- und Männerbild der DDR zu nähern. Zur genauen Untersuchung wurden die sechs zwischen 1946 und 1987 erschienenen Liederbücher herangezogen, die das zentral vorgegebene Arbeitsmaterial für die Musikerziehung im Kindergarten waren. Der Ganztagskindergarten war, da ein von Jahr zu Jahr größer werdender Anteil der Kinder hier die meiste Zeit des Tages verbrachte, der zentrale Vermittlungsort von Kinderkultur, also auch von Liedern und natürlich besonders des „neuen“ ideologisch erwünschten Liedgutes. Diese sechs Sammlungen umfassen mehrere hundert Lieder, aus denen alle „neuen“ Lieder ausgewählt wurden, in denen Männer und Frauen vorkommen. Dies ergab über den Untersuchungszeitraum von 41 Jahren ein Korpus von insgesamt 68 Untersuchungsobjekten – 42, in denen Frauen vorkommen und 38, in denen Männer vorkommen, bei 12 Liedern, die sowohl Männer als auch Frauen behandeln.
Frauen und Mütter Wenn Mutti früh zur Arbeit geht… Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, Dann bleibe ich zu Haus. Ich binde eine Schürze um Und feg die Stube aus. Das Essen kochen kann ich nicht, Dazu bin ich zu klein. Doch Staub hab ich schon oft gewischt. Wie wird sich Mutti freu'n! Ich habe auch ein Puppenkind, Das ist so lieb und fein. Für dieses kann ich ganz allein Die richt‘ge Mutti sein.8 8
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DEUTSCHES PÄDAGOGISCHES ZENTRALINSTITUT, 1954, S. 47. Den Angaben des Kurt-Schwaen-Archivs zufolge entstanden Melodie und Text bereits
„Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…“
Dieses Lied aus dem Jahr 1951 kann als eines der bekanntesten und beliebtesten Kinderlieder der DDR gelten, daher lohnt ein Blick auf das Frauenbild, das hier vermittelt wird: Die Frau um die es hier geht, ist Mutter, in der für die DDR typischen Koseform „Mutti“, und geht (offensichtlich jeden Morgen) zur Arbeit. Von dieser Berufstätigkeit wird das Lied bestimmt, alles dreht sich um die Abwesenheit der Mutter. Damit ordnet sich das Lied zunächst gut in die neue Gesellschaftsordnung der DDR ein, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen eine wichtige Rolle spielte und für das Leitbild der „neuen Frau“ zentral war, erfüllt also alle Anforderungen an das „neue“ Kinderlied. Auf den zweiten Blick zeigen sich jedoch einige interessante Brüche: Was die „Mutti“ bei der Arbeit macht, welchen Beruf sie hat, erfährt der Hörer/die Hörerin überhaupt nicht – das Lied schwenkt nach dieser Eröffnung sofort in den privaten Bereich und zum Thema Hausarbeit. Es wird gerade nicht die Arbeit mit schweren Maschinen geschildert, sondern die mit Besen und Staubtuch, als Arbeitskleidung assoziiert wird mit der Mutter, in der Imitation durch das Kind, eine Schürze, mithin ein typisch weibliches Kleidungsstück. Als dominant erscheint in diesem Lied also trotz der Eröffnungszeile ein Frauenbild, das sich gerade nicht auf die Berufstätigkeit bezieht, sondern der Frau die Aufgabenbereiche Haushaltsführung und Kinderpflege (hier vom Kind selbst gespiegelt in seinem Verhalten dem Puppenkind gegenüber) zuordnet. Deutlich wird hier die Doppelbelastung durch Berufstätigkeit und Haushaltsführung bzw. vielmehr noch Dreifachbelastung durch Beruf, Haushalt und Kinder geschildert, wobei der private Bereich sogar im Vordergrund steht. Dieser auch in der DDR faktisch existierende Konflikt, das heute noch aktuelle Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird allerdings nicht als problematisch dargestellt, sondern als sich quasi von selbst lösend: Ein Teil der Haushaltstätigkeit wird hier vom Kind übernommen, womit sich zwei der drei Belastungen zwar nicht gegenseitig aufheben, dennoch aber das Konfliktpotenzial aus diesem Lebensmodell herausgenommen zu sein scheint.
1951. Vgl. http://www.kurtschwaen.de/schwaen/musik_fuer_kinder.html, 29.07.2013.
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Dass dies natürlich keine wirkliche Lösung sein kann, liegt auf der Hand – auch ist die hier vorgestellte Szenerie beim genauen Hinsehen insgesamt nicht ganz stimmig: Offensichtlich ist das Kind regelmäßig den ganzen Tag über allein zu Hause, was, gerade bei sehr kleinen Kindern im Vorschulalter, als wenig realistisch bzw. nicht als übliche Lösung für alle Familien einzustufen ist. Auch zeigt sich hier nicht das offizielle Familienleitbild der DDR – denn nicht nur sollte jede Frau, jede Mutter arbeiten gehen, auch der Platz der Kinder war im öffentlichen Raum. Jedes Kind sollte, sowie die Kapazitäten dafür geschaffen waren, einen Kindergarten besuchen, auch wenn das in den 1950erJahren noch nicht in vollem Umfang möglich war – im Jahr 1955 beispielsweise gab es erst für 34,5% aller 3- bis 6-Jährigen in der DDR einen Kindergartenplatz.9 Die Zahlen stiegen jedoch rasch an, 1975 besuchten bereits 84,6% der 3- bis 6-Jährigen eine Vorschuleinrichtung, bis 1989 hatte sich die Zahl auf 95,1% erhöht.10 Entsprechend wurde das Lied 1972 bearbeitet und dem „gesellschaftlichen Fortschritt“ angepasst: Es hieß dort nun „Wenn Mutti von der Arbeit kommt, / dann helf ich ihr im Haus“.11 Vom Besuch eines Kindergartens ist zwar auch in dieser Variation nicht explizit die Rede, aber die Situation erscheint dennoch als eine andere, das Kind ist nicht offensichtlich tagsüber ohne Betreuung, der Kindergartenbesuch ist quasi mitgedacht. Auffällig ist weiterhin die Abwesenheit eines Vaters. Dies lässt sich unterschiedlich deuten: Zunächst ließe sich hier herauslesen, dass Hausarbeit in der DDR (in den 1950er Jahren) als „Frauensache“ betrachtet wurde und das Lied diese Vorstellung widerspiegelt. Die geschilderte Szenerie ließe sich allerdings auch anders deuten: Als Einblick in die Lebenswelt einer alleinerziehenden Mutter. So betrachtet ginge es in dem Lied um eine Frau, die durch ihre Berufstätigkeit in der Lage ist, sich und ihr Kind zu versorgen, zu diesem ein gutes Verhältnis hat und mit ihm zusammen den Alltag meistert. Diese Situation war für viele Frauen in der DDR Realität, entsprach aber nicht dem 9 Siehe BOECKMANN, 1993, S. 184. 10 Siehe BOECKMANN, 1993, S. 184. 11 Siehe BACHMANN, 1972, S. 85. Im Inhaltsverzeichnis wurde dies allerdings nicht geändert, dort steht bis zur 18. Auflage von 1987 „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“. 1972 wurde außerdem eine vierte Strophe ergänzt, die zum Frauentag gesungen werden konnte: „Heut zu ihrem Ehrentag / soll sie einmal ruh‘n. / Alle Arbeit will ich gleich / für die Mutti tun“.
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Leitbild der sozialistischen Kleinfamilie.12 Wenngleich dies also sicher nicht intendiert war, konnte sich in diesem Lied möglicherweise eine Gruppe von Frauen wiederfinden, die im öffentlichen Diskurs nicht angemessen vertreten war. „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…“ lässt also eine große Deutungsoffenheit zu und eignet sich damit als Identifikationsfläche für unterschiedliche Frauen aus verschiedenen Lebenswelten, was vermutlich (neben seiner ästhetischen Qualität) zur großen Beliebtheit des Liedes beigetragen hat. Struktur und Motive von „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…“ wurden schon früh in anderen Liedern aufgegriffen und ausgebaut: Die berufstätige Mutti, die auch zu Hause noch viel zu tun hat, bekommt in diesen (insgesamt sechs) Liedern z. B. ergänzende Eigenschaften zugeschrieben, wie Fleiß und gute Laune: Sie ist „immer froh“ und singt sogar bei der Arbeit – „Macht ihr das mal nach!“13 Mit dieser Kombination aus Tüchtigkeit und optimistischer Lebenshaltung wird die Mutti nun zu einer Verkörperung aller für einen sozialistischen Staat wichtigen positiven Eigenschaften: Sie ist berufstätig, was sowohl unter ökonomischen als auch ideologischen Gesichtspunkten von Bedeutung war, denn nach der marxistischen Lehre verwirklicht und entwickelt sich der Mensch erst in der Tätigkeit, in der Arbeit. Auch ist die „Mutti“ in der Lage, das Zuhause und die Familie, also das kleinste Kollektiv in der sozialistischen Gemeinschaft, in vorbildlicher Ordnung zu halten. Schließlich entspricht auch ihr Charakter dem Ideal, denn sie ist bei allem, was sie tut, stets vergnügt und froh, mit sich und der Welt (buchstäblich) im Reinen, optimistisch und fröhlich und damit genau so, wie der Mensch im Sozialismus eben sein sollte. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, wird in diesen Liedern eine ganz moderne Frau gezeigt, eine Vertreterin eines neuen Menschentypus. Dass diese Eigenschaften, eine positive Lebenseinstellung, Arbeitsliebe und v. a. Fleiß, gerade am Bereich Hausarbeit demonstriert werden, lässt sich möglicherweise weniger auf das Frauenbild der DDR als auf gattungsbedingte Zusammenhänge zurückführen: Kinderlieder 12 Zur Situation Alleinerziehender in der DDR vgl. GYSI/MEYER, 1993, S. 145-147. 13 Vgl. BACHMANN, 1964, S. 90.
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sind eine literarische Kleinform mit einem Erziehungsauftrag – das rezipierende Kind soll hier nicht nur ein bestimmtes Frauenbild kennenlernen und verinnerlichen, sondern auch (und das vielleicht sogar an erster Stelle) zu Hilfsbereitschaft und Arbeitsliebe erzogen werden, zwei ganz zentrale Punkte in der Pädagogik der DDR. Da (unbezahlte) Haus-Arbeit, im Gegensatz zur (bezahlten) Berufs-Arbeit, für jedes Kind erleb- und nachvollziehbar ist und das Verhalten des „VorbildKindes“ nachgeahmt werden kann, eignet sich das Thema „Übernahme von Aufgaben im Haushalt“ besonders gut für die Erziehung zur Arbeitsliebe. Hausarbeit rückt damit also neben die „Arbeit“ außer Haus, ohne Wertung oder Abwertung, im Gegenteil: Für die Kinder erscheint sie hier als ein zentraler und selbstverständlicher Bestandteil von Erwachsenenleben, genauso selbstverständlich wie die Arbeit außer Haus.14 Die Assoziation von Frauen bzw. Müttern mit Hausarbeit in den Liedern muss daher nicht zwangsläufig als Zeichen für das Bestehen von traditionellen Frauenbildern in der DDR zu werten sein, dennoch ist die Häufung, in der im „neuen Kinderlied“ traditionelle Motive und Zuschreibungen gewählt werden, auffällig: Betrachtet man alle 42 Lieder, in denen Frauen vorkommen, so zeigt sich, dass es vor allem die Mutter ist, die präsentiert wird – und die Mutter ist zuständig für den Einkauf, die Kleidung, die Erzeugung von vorweihnachtlicher Atmosphäre, für die Wäsche und für schöne Erlebnisse der Kinder, wird also stets in einem häuslichen Umfeld gezeigt. Frauen werden als Mütter präsentiert. Berufstätigkeit von Frauen ist hingegen kaum Thema, hier finden sich im untersuchten Material nur drei Beispiele: Das Lied von „Unsere[r] Putzfrau“ im Kindergarten, „Fleißige Frauen“15 (eine kurze Vorstellung der Berufe Maurerin, Gärtnerin, Melkerin, Schneiderin und Taxifahrerin) und „Die Kranführerin“.16 Dieses Lied aus dem Jahr 1987 ist besonders interessant, da sich hier zeigt, dass die Gleichberechtigung der Frauen in der Arbeitswelt zumindest in Bezug auf das Arbeiten in 14 Die Forschung verweist allerdings darauf, dass auch in der DDR die für Industriegesellschaften typische Trennung von bezahlter und unbezahlter Arbeit existierte und Hausarbeit gesellschaftlich tendenziell abgewertet war. Vgl. DÖLLING, 1993, S. 26. 15 Siehe HARTUNG, 1987, S. 41. 16 Siehe EBD., S. 27.
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typischen „Männerberufen“ doch nicht als Selbstverständlichkeit empfunden wurde: In den ersten beiden Strophen wird geschildert, wie mit Hilfe eines Krans neue Häuser gebaut werden, in der dritten Strophe kommt dann die Sensation: „Und wißt ihr, wer den Kran dort fährt?/ Das ist ja eine Frau!“17
Männer und Väter Ein auf den Vater orientiertes Pendant zu „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…“ findet sich im Untersuchungskorpus nicht, wie überhaupt die Väter stärker im Hintergrund stehen: In insgesamt 20 Liedern wird ein Beruf beschrieben, der von einem Mann ausgeübt wird – von Bauer über Schmied, Gärtner, Bäcker, Schaffner, Schornsteinfeger, Zahnarzt, Polizist und Bergmann bis Traktorist.18 Väter hingegen kommen nur 18 Mal vor, wobei in zwölf dieser Lieder auch die Mutter Erwähnung findet. Auffällig ist auch, dass auch in diesen Liedern der Vater in fast allen Fällen mit einer Berufstätigkeit in Verbindung gebracht wird. Meist geschieht dies unspezifisch, indem das Kind auf den Moment wartet, an dem der Vater von der Arbeit kommt, einige Lieder beschreiben jedoch auch kurz die Tätigkeit des Vaters: Er lenkt den Traktor oder die Diesellok (die in den jeweiligen Liedern das eigentliche Thema darstellen), er ist Agronom in der LPG oder baut Brücken für die Eisenbahn. Männer, auch Väter, treten also in erster Linie als Vertreter eines für die Kinder interessanten oder wichtigen Berufes auf, spielen im Leben der Kinder also vor allem auf dieser „professionellen“ Ebene eine Rolle, als Funktionsträger. Der Kontakt zwischen Vater und Kind scheint in diesen Liedern, aufgrund der Berufstätigkeit, nicht sehr eng zu sein, die Kontakt-Zeiten werden von der Arbeit des Vaters vorgegeben – dennoch scheint es sich um positive Beziehungen zu
17 Das Motiv der Kranführerin findet sich auch in mehreren Bilderbüchern, z.B. FEUSTEL, APPELMANN, Guten Morgen, Kastanienbaum, Berlin 1973; MEHLER, APPELMANN, Das Märchen vom Geist Gnatz, Berlin 1978. 18 Beim Blick auf die Auswahl der Berufe wäre zu diskutieren, ob hier antiintellektuelle Tendenzen erkennbar sind oder ob die Wahl der Berufe aufgrund der größeren Anschaulichkeit für Kinder erfolgte. Auch gattungsspezifische Motivtraditionen könnten hier eine Rolle spielen.
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handeln, so freut sich das Kind jedes Mal auf den Moment, in dem der Vater wieder zu Hause ist. In einigen wenigen Liedern wird dann auch ein Einblick in dieses Zuhause gewährt: Hier wird von Vätern gesungen, die Leitern an Apfelbäume stellen, ein Kind bei der Parade zum 1. Mai auf den Schultern tragen, Spielzeug reparieren, zum Geburtstag einen Roller schenken, den Weihnachtsbaum kaufen, grüne Rucksäcke besitzen und für die Bilder gemalt werden. Meist ist hier allerdings die Mutter ergänzend daneben gesetzt: Sie näht ein Kleid, sagt dem Vater, was er schenken soll, sie schmückt den Weihnachtsbaum, hat statt Rucksack eine Kittelschürze und für sie wird nicht gemalt, sondern gebastelt. Die VaterKind-Beziehung, die in tatsächlichem Kontakt besteht, funktioniert im Lied also in erster Linie in einem Familienkontext, wobei deutlich prototypische Tätigkeitszuschreibungen vorgenommen werden: Der Vater kauft/bezahlt, die Mutter rät/weiß um die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes; der Vater repariert Mechanisches, die Mutter Textiles.
Mü tter und Väter Über das Verhältnis von Mutter und Vater untereinander werden in den Liedern hingegen keine Aussagen getroffen; in den wenigen Liedern, in denen sie als die verschiedenen Parts des Elternseins gezeigt werden, stehen sie weniger selbst in Beziehung zueinander als vielmehr jeweils in einer Beziehung zum Kind und ergänzen sich dort bzw. in der Gestaltung des Familienlebens. Interaktion zwischen beiden kommt kaum vor. Ähnlich separiert erscheinen auch die Berufswelten von Männern und Frauen, sogar, wenn beide im gleichen Betrieb tätig sind, wie in dem Lied „Die Mutter pflegt die Hühner all“19 aus dem Jahr 1964. Dort heißt es: „Die Mutter pflegt die Hühner all, in unsrer LPG./ Es sind gar viele braune drin und manche weiß wie Schnee“, während der Vater eine konkrete Berufsbezeichnung bekommt: „Der Vater, der ist Agronom, in unsrer LPG./ Er kennt die Felder ganz genau, pflegt Weizen, Mais und Klee.“ Der Vater ist also Agraringenieur und nicht nur 19 Siehe BACHMANN, 1964, S. 20.
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mit der Pflege der Felder beauftragt, er kennt sich auch „ganz genau“ aus – er wird also in doppelter Hinsicht als sehr professionell dargestellt, während die Mutter die Hühner nur „pflegt“. Zwar sind beide Eltern gleichermaßen berufstätig und arbeiten in einer modernen Institution, aber der Vater ist der Mutter überlegen, hat offensichtlich studiert, während ihre Tätigkeit nur als eine pflegende, nicht notwendigerweise qualifizierte beschrieben wird. Dies ist besonders interessant, da in diesem Lied ja ganz gezielt der gesellschaftliche Fortschritt präsentiert werden sollte – das Verhältnis zwischen Mann und Frau aber keineswegs so gleich erscheint, wie es der Verfassungstext der DDR eigentlich beschreibt.20 Die (hierarchisch strukturierte) Differenz besteht im Grad der Qualifikation, mit dem beide sich in den Aufbau der neuen Gesellschaft einbringen können. Eine ähnliche Hierarchisierung auf fachlicher Ebene findet sich in dem im gleichen Jahr veröffentlichten Lied „Auf der Straße ging heute die kleine Marei“.21 Hier sind alle Familienmitglieder ihren Fähigkeiten entsprechend in die Arbeitswelt eingebunden: Der Vater baut eine Eisenbahnbrücke, die Mutter schweißt die Wagen für die Eisenbahn, der große Bruder „schützt den Friedensplan“ und hält Wache und das kleine Mädchen selbst ist auch schon dabei: „Klar, wir fangen gleich zu üben an, unser Chor singt für die Eisenbahn.“ Hier wird die härteste körperliche Arbeit der Mutter zugeschrieben, während der Vater, der die Brücken baut, als „kluger Mann“ bezeichnet wird und damit möglicherweise als Ingenieur gedacht ist. Während ihm also explizit intellektuelle Fähigkeiten zugeschrieben werden, besteht die Qualifikation der Mutter in „hält sich tüchtig dran“ – es ist Fleiß, der die Frau auszeichnet, nicht fachliche Qualifikation. Beide Lieder stellen „neue“ Inhalte vor, präsentieren den „gesellschaftlichen Fortschritt“ in Form neuer Produktionsstrukturen 20 Vgl. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949, Artikel 7 (1) „Mann und Frau sind gleichberechtigt. (2) Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben.“ sowie Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968, Artikel 20 (2) „Mann und Frau sind gleichberechtigt und haben gleiche Rechtsstellung in allen Bereichen des gesellschaftlichen, staatlichen und persönlichen Lebens. Die Förderung der Frau, besonders in der beruflichen Qualifizierung, ist eine gesellschaftliche und staatliche Aufgabe.“ 21 Vgl. BACHMANN, 1964, S. 142.
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bzw. in der Darstellung eines Aufbauobjekts. Es ist daher davon auszugehen, dass diese Kinderlieder sehr bewusst gestaltet wurden – umso auffälliger ist, dass trotz der gezielten Einbeziehung von Frauen in die Darstellung von (moderner) Berufstätigkeit hier beim genauen Hinsehen eine Hierarchisierung erkennbar bleibt, wie sie in der Forschung zu Frauen- und Männerbildern der DDR auch in anderen Bereichen, z. B. zur Darstellung in Bildern, festgestellt wurde.22 Die in den 1960erJahren einsetzende Qualifizierungsoffensive, die die berufliche Entwicklung von Frauen fördern sollte, spiegelt sich in diesen Liedern nicht wider.23
Schlussfo lgerungen Die Frauen- und Männerbilder, die in den Kinderliedern der DDR präsentiert werden, sind, sicherlich gattungsbedingt, v. a. Mütter- und vielfach auch Väterbilder. Das Frauen- bzw. Mütterbild, das dabei präsentiert wird, erscheint insgesamt geprägt von eher als traditionell einzustufenden Vorstellungen – eines der wichtigsten Themen ist die Tätigkeit im Haushalt. In vielen Liedern wird jedoch zusätzlich eine Berufstätigkeit der Frau/Mutter angenommen, wenn sie auch nicht im Mittelpunkt steht und nicht näher benannt wird. Es ist dabei denkbar, dass der reine Verweis auf eine solche als ausreichend empfunden wurde, um das „richtige Weltbild“, wie es sich im „neuen Kinderlied“ zeigen sollte, zu vermitteln. Denn die programmatischen Vorstellungen der DDR über das gleichberechtigte Verhältnis von Männern und Frauen, wie sie v. a. in der Verfassung dargelegt sind, bezogen sich in erster Linie auf eine Gleichheit in Bezug auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Eine tiefergehende Änderung des Geschlechterverhältnisses oder eine vollständige Neudefinition von Frauen- oder gar Männerbildern war nicht das Ziel,24 es war vielmehr ökonomische Notwendigkeit, so viele Arbeitskräfte wie möglich in auch traditionell eher männlich 22 Vgl. MERKEL, 1995; MERKEL, 1994; DÖLLING, 1993. 23 Vgl. SØRENSEN/TRAPPE, 1995, S. 190; DÖLLING, 1993, S. 28. Zur Ungleichheit von Frauen und Männern in der DDR im Berufsleben vgl. auch SØRENSEN/TRAPPE, 1995, S. 206-222. 24 Vgl. zum Geschlechterverhältnis ausführlicher SØRENSEN/TRAPPE, 1995.
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dominierte Berufe (in Fabriken, auf dem Bau, in der Industrie etc.) zu bringen und dies in den Vorstellungen und Wahrnehmungen zu verankern. Darüber hinaus war es ein zentraler Aspekt der sozialistischen Ideologie, dass die Emanzipation der Frau nur durch ihre Einbeziehung in die gesellschaftliche Produktion erfolgen könne, eine entsprechende Erweiterung des Frauenbildes um diesen Aspekt war also nicht nur ökonomisch, sondern auch ideologisch von Bedeutung. So verwundert es aber auch nicht, dass das in den Liedern gezeichnete Männer- und Väterbild, im Gegensatz zum Frauenbild, keine neuen Facetten aufweist: Während der Themenbereich „Berufsarbeit“ für Frauen hinzukam, wurde der Bereich „Hausarbeit“ nicht in gleichem Maße für Männer geöffnet, Väter werden höchstens bei Geschick oder Kraft erfordernden Tätigkeiten im Haus gezeigt, wie Spielzeug reparieren oder den schweren Weihnachtsbaum transportieren. Männer treten im Kinderlied in erster Linie als Vertreter eines Berufsstandes auf, erst in zweiter Linie als Väter. Tatsächliche Interaktion zwischen Vater und Kind findet jedoch nur zusammen mit der Mutter statt, also als Familienaktion, reine Vater-Kind-Beziehungen werden nicht geschildert. Die sich für die DDR stellende Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist für die Väter kein Thema. Hier spiegelt sich deutlich die Haltung der DDR zur Geschlechterthematik ausschließlich als „Frauenfrage“ wider.25 Auch eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses ist nicht erkennbar, eher eine Verschiebung: Die Lebenssphären von Mann und Frau scheinen stark getrennt, wenn auch nicht in Bezug auf eine Trennung der Sphären Öffentlichkeit – Privatheit, sondern innerhalb des öffentlichen Raumes entlang einer Qualifikationsgrenze. Beim Aufeinandertreffen im privaten Raum dominieren „traditionelle“ Zuschreibungen. Aus Kinderliedern lassen sich also einige durchaus interessante Aussagen zum Thema Frauen- und Männerbilder herausarbeiten, wenn auch die Frage offen bleiben muss, ob hier stets bewusst Geschlechterbilder konstruiert wurden oder ob sich im Kinderlied gattungsbedingt nicht möglicherweise auch Traditionen „konserviert“ finden. Die Untersuchung weiterer Quellengattungen aus dem Bereich Kindermedien, wie (Bilder-)Bücher, Kinderzeitschriften oder Rundfunkprogramme, 25 Vgl. SØRENSEN/TRAPPE, 1995, S. 195. 63
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sollte sich daher anschließen, um einen umfassenderen Eindruck von den Frauen- und Männerbildern zu erhalten, mit denen Kinder in der DDR konfrontiert wurden und aufwuchsen. Auch der Vergleich mit thematisch ähnlich gelagerten Liedern (oder anderen Medien) aus der Zeit vor 1949 oder aus der Bundesrepublik könnte noch interessante Ergebnisse zutage fördern.
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MERKEL, INA, Modernisierte Gesellschafts-„Bilder“ in DDR-Printmedien der fünfziger Jahre, in: Biographien in Deutschland. Soziologische Rekonstruktionen gelebter Gesellschaftsgeschichte, hg. von WOLFRAM FISCHER-ROSENTHAL/PETER ALHEIT, Opladen 1995, S. 171-176. MERKEL, INA, Leitbilder und Lebensweisen von Frauen in der DDR, in: Sozialgeschichte der DDR, hg. von HARTMUT KAELBLE u. a., Stuttgart 1994, S. 359-382. NEUMANN, CHRISTEL, Überliefertes und neues Liedgut im Kindergarten, in: Musik im Kindergarten, hg. von SIEGFRIED BIMBERG, Berlin 1970, S. 65-89. O. A., Liederbuch für die Vorschulerziehung, Berlin 1952. RÖHRICH, LUTZ, Gesammelte Schriften zur Volkslied- und Volksballadenforschung (Volksliedstudien Band 2), Münster u. a. 2002. SCHUFFENHAUER, LOTTE, Die Musikerziehung im Kindergarten, in: Neue Erziehung im Kindergarten 3 (1951), S. 5-11. SCHUHMACHER, KLARA/TAUSCHER, HILDEGARD (Hg.), Musik im Kindergarten. Lieder zum Singen und Spielen, Berlin/Leipzig 1946. SØRENSEN, ANNEMETTE/TRAPPE, HEIKE, Frauen und Männer: Gleichberechtigung – Gleichstellung – Gleichheit? in: Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach, hg. von JOHANNES HUINIK u. a., Berlin 1995, S. 189-222. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949, Abschnitt III, Art. 30 In: Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von HORST HILDEBRANDT, Paderborn 13 1987, S. 205. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974, Abschnitt II, Art. 20 (2). In: Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von HORST HILDEBRANDT, Paderborn 13 1987, S. 245.
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Reflexion des Beitrags von Uta Miersch NORMAN DOMEIER Uta Mierschs Beitrag unter dem Titel Wenn Mutti früh zur Arbeit geht bietet einen interessanten und innovativen geschichtswissenschaftlichen Zugriff auf ein zunächst musikalisches Thema: Kinderlieder in der DDR. Der musikalische Gehalt (wie er von MusikwissenschaftlerInnen untersucht werden könnte) tritt dadurch zurück, dass Miersch wesentlich an der Rekonstruktion und Analyse des politischen und ideologischen Gehaltes der betrachteten Kinderlieder interessiert ist. Hierfür und für die Frage nach bewusst bzw. unbewusst mittransportierten Geschlechterbildern ist das sog. neue Kinderlied eine gute Quellengattung, da es selten zufällig entstand – es handelte sich vielmehr um Auftragsarbeiten von Staats wegen –, und überdies Traditionslinien zu älterem Liedgut gekappt oder doch stark modifiziert wurden. Das neue Kinderlied sollte volkspädagogisch die heranwachsende Generation im Sinne der Partei- und Staatslinie prägen und leitende Wertvorstellungen weitervermitteln. Der vorliegende Beitrag arbeitet an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Musikwissenschaft, Ideologieforschung/ Politikwissenschaft und Pädagogik. Zeitlich ist er auf das Bestehen der DDR 1949-1990 begrenzt. Der im Beitrag verwendete GenderBegriff ist relativ statisch, man könnte auch sagen kodifiziert. Dies hängt mit der Quellengattung Lied bzw. Kinderlied zusammen, insofern dieses vor allem für sich stehend betrachtet und analysiert wird. Die Kürze des Beitrags bedingt eine Beschränkung auf die unmittelbare textliche Gestalt der Lieder; dieser durchaus produktive Blick könnte 67
Norman Domeier
um Hinweise zur diskursiven Aushandlungsebene erweitert werden, so etwa die Rekonstruktion von Streitigkeiten und Auseinandersetzungen bei der Produktion von Kinderliedern in der DDR, zwischen verschiedenen Staats- und Parteistellen, den jeweiligen Künstlern und weiteren beteiligten AkteurInnen. Auch Fragen der konkreten Anwendung im Alltag konnten im vorliegenden Beitrag nicht weitergehend behandelt werden; es wäre interessant zu fragen, welche Lieder gern gesungen wurden, welche sich wiederum einer geringeren Beliebtheit erfreuten und wie dies zu begründen ist; so wäre die Bedeutung von Geschlechterzuschreibungen für die Annahme bzw. Ablehnung einzelner Lieder tiefergehend zu untersuchen. Daran anschließend könnte auf Grundlage des Beitrags die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der untersuchten Lieder in den Blick genommen werden; nicht zuletzt die Nachwirkung des Kinderliedguts der DDR in der Nachwendezeit könnte Aufschluss über allgemein- wie geschlechterhistorische Entwicklungslinien und mentalitätshistorische Kontinuitäten bieten. Hinsichtlich der Kernfrage des Bandes folgt der Beitrag von Uta Miersch einem vorwiegend separierten Ansatz. Im Blick stehen vor allem Vorstellungen von Mutter- und, nicht ganz gleichgewichtet, Vaterrollen. Daneben, insofern sind auch integrierte Elemente vorhanden, werden aber auch Vorstellungen vom sozialistischen homo oeconomicus mitdiskutiert, also etwa, welche beruflichen Tätigkeiten generell und für welches Geschlecht im Besonderen erstrebenswert waren. Dazu kommt die extreme Fokussierung der Kinderlieder auf das klassische (klein-)bürgerliche Familienbild, die noch stärker herausgestellt werden könnte. Positiv-bejahende Belege für alleinerziehende Väter und Mütter, oder für Kinder, die ganz ohne Eltern im staatlichen Fürsorgesystem (Heime, Erziehungsanstalten) oder bei Verwandten oder Adoptiveltern aufwachsen, fehlen. Es ist zu vermuten, dass diese Leerstelle durchaus dem politischen Willen folgte. Durch den separierten Ansatz ist das Ergebnis sehr klar und übersichtlich. Ein stärker integrierter Ansatz würde das Bild eventuell verkomplizieren und Widersprüche, Unstimmigkeiten und Gegenläufigkeiten herausstellen. Dazu gehört etwa auch der räumlichkomparative Blick auf das Kinderlied des „Klassenfeindes“ in der BRD oder in „Bruderstaaten“ des Ostblocks. Wo lagen dabei mit Blick auf Gender-Zuschreibungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede und vor
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Reflexion
allem: Wo ist von zielgerichteten, ideologischen Ansätzen auszugehen, wo von reinem Zufall oder künstlerischer Freiheit bei der Gestaltung von Kinderliedern? Der Beitrag eröffnet durch die Untersuchung einer bislang weitläufig unbeachteten Quellengattung eine große Breite geschlechterhistorischer Forschungszugänge.
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„Die Frau ist zu einem wesentlichen Teil Trägerin der Stimmung in der Heimat“ 1 Gesch lechtsspezifische NS-Presseanweisungen im Krieg und ihre Umsetzung in der Frauenzeitschrift Mode und Heim MARION WITTFELD Ob Brigitte, Petra, AMICA oder Jolie, der aktuelle Frauenzeitschriftenmarkt bietet seinen LeserInnen eine breite Auswahl an verschiedenen Magazinen. Mit Ausnahme von Heften wie beispielsweise der EMMA oder dem Missy Magazine prägt vor allem ein Stempel die Blätter: sie gelten eher als unpolitisch. Doch wie sahen Frauenzeitschriften aus, die während der nationalsozialistischen Herrschaft erschienen? Inwiefern spiegelten sie die Geschlechterbilder der nationalsozialistischen Ideologie wider; und wie wurden diese dem überwiegend weiblichen Lesepublikum vermittelt? In der Forschung zur Geschichte der Medien zwischen 1933 und 1945 galt lange Zeit die von der NS-Frauenschaft herausgegebene N.S.Frauenwarte als Prototyp einer Frauenzeitschrift im Nationalsozialismus. Kaum erforscht wurden die zahlreichen Frauenzeitschriften priva1
5389 „[...] Die Stellung der deutschen Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, 26.9.41, S. 2.
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ter Verlage. Dabei sind gerade diese durch das Erreichen einer breiten LeserInnenschaft und ihr langanhaltendes Erscheinen höchst interessant. Denn während zahlreiche Publikationen im Kriegsverlauf auf Grund von Papier- und Ressourcenknappheit eingestellt werden mussten, wurden vereinzelte Frauenzeitschriften noch bis Ende 1944 gedruckt. 1941 wurde sogar noch eigens ein neues Modeblatt mit dem plakativen Namen Die Mode auf Initiative des Zeitungswissenschaftlers Ernst Herbert Lehmanns, seines Zeichens Beauftragter für das Zeitschriftenwesen im Propagandaministerium, gegründet.2 Die Frauenzeitschrift Mode und Heim, Gegenstand dieses Artikels, erschien 1942 beispielsweise noch mit durchschnittlich 20, 1943 und 1944 sogar noch mit durchschnittlich 16 Seiten. Weshalb wurden trotz steigender Material- und Personalknappheit zahlreiche Frauen- und Modezeitschriften während des Krieges aufrechterhalten? Fest steht, dass die Zeitschriften den Export deutscher Mode unterstützen und so dem Deutschen Reich kriegswichtige Devisen einbringen sollten. Zudem zielten sie auf eine positive Außenwirkung im neutralen Ausland ab.3 Doch auch im Reich verfolgten die Zeitschriften vom Propagandaministerium gesteuerte Ziele, die in den nachfolgenden Ausführungen näher definiert werden sollen. Anhand der Analyse geschlechtsspezifischer Presseanweisungen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda wird aufgezeigt, wie das Ministerium gezielt die Kategorie „Geschlecht“ einsetzte, um unter dem Deckmantel vermeintlich unpolitischer Zeitschrifteninhalte eine gezielte propagandistische Beeinflussung der LeserInnen herbeizuführen. Der Artikel soll hierbei einen Beitrag dazu leisten, im Sinne von Elke Frietsch und Christina Herkommer Geschlecht als eine wichtige Kategorie zur Analyse der Funktionsweisen des Nationalsozialismus und seiner gesellschaftlichen Aus- und Nachwirkungen aufzuzeigen.4 Durch die diskursanalytische Untersuchung der Presseanweisungen an ZeitschriftenredakteurInnen und ihrer Umsetzung in der Frauenzeitschrift Mode und Heim wird durch eine separierte Herangehensweise verdeutlicht, dass eine integrierte Behandlung der Kategorie Geschlecht 2 3 4
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Vgl. BERTSCHICK, 2005, S. 323- 349. Vgl. BERTSCHICK, 2005, S. 284 und SULTANO, 1995, S. 100. Vgl. FRIETSCH/HERKOMMER, 2009, S. 53.
Geschlechtsspezifische NS-Presseanweisungen
in der NS-Forschung zwingend notwendig ist, da eine Analyse der nationalsozialistischen Herrschaftsstrukturen nicht losgelöst von dieser durchgeführt werden kann. Geschlechterbilder, wobei Geschlecht in diesem Beitrag als die Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit verstanden wird, lagen im NS nicht nur der nationalsozialistischen Rassenideologie zu Grunde, sondern spiegelten sich auch in den Lebensverhältnissen der Menschen wider.
Zeit schriftenpre sse im Nat iona lso zia lismu s Die Situation der Zeitschriftenpresse gestaltete sich nach der Machtübernahme 1933 ähnlich wie die der übrigen Presse. Unliebsame Magazine wurden aus- oder gleichgeschaltet und Verlage enteignet oder aufgekauft, wobei die BesitzerInnen größtenteils gezwungen wurden, ihre Unternehmen für einen Bruchteil des eigentlichen Wertes abzugeben. Als weiteres Instrument der Presselenkung diente das am 4. Oktober 1933 verabschiedete „Schriftleitergesetz“, das fortan die Aufgaben und Zugangsmöglichkeiten für den journalistischen Berufstand reglementierte. Die JournalistInnen wurden so in den direkten Dienst des Staates gestellt und offiziell konnte nur noch tätig sein, wer Deutscher Reichsangehöriger, mindestens 21 Jahre alt, „arischer“ Abstammung und politisch-ideologisch konform war.5 Zusätzlich nahm die Regierung auf dem wirtschaftlichen Sektor Einfluss auf die Presse. Und auch die inhaltliche Linie wurde vorgegeben. So fanden ab 1933 vom und im Propagandaministerium veranstaltete Pressekonferenzen statt. Parallel wurden schriftliche Anweisungen an die Presse verschickt, wobei ZeitschriftenredakteurInnen ab dem 9. Mai 1939 eigene Anweisungen in Form des Zeitschriften-Dienstes, später ergänzt durch den Deutscher Wochendienst, und die Vertrauliche Informationen erhielten. Institutionelle Hauptakteure der Presselenkung waren hierbei vor allem das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP), die Reichskulturkammer (RKK) und die Reichspropagandaleitung.6
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Vgl. FREI/SCHMITZ, 1999, S. 28. Vgl. FAUST/REINKENSMEIER, 1982, S. 230.
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Zu betonen ist an dieser Stelle allerdings, dass die Presselenkung im Nationalsozialismus nicht reibungs- und lückenlos funktionierte. Denn ähnlich wie in anderen Bereichen kam es auch auf dem Pressesektor zu Kompetenzüberschneidungen und internen Machtkämpfen. Betrachtet man allein den Frauenzeitschriftenmarkt, kann nicht von einem einheitlichen Pressebild gesprochen werden.
Zeitschriften -Dienst, Deut scher Wochendienst und Vertrauliche Informationen (1939 -1945) Herausgegeben von der Abteilung Zeitschriftenpresse des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP), gedruckt im Berliner Aufwärts-Verlag, erschien der Zeitschriften-Dienst (ZD) vom 9. Mai 1939 bis zum 14. April 1945 einmal wöchentlich mit durchschnittlich 20 Seiten. Ab dem 7. November 1941 wurde er um den Deutscher Wochendienst (DW) ergänzt. Der ZD war fortan nur noch vier Seiten lang und enthielt primär Zusammenfassungen der aktuellen Themen sowie kurze Anweisungen, während der DW auf durchschnittlich 16 Seiten ausführliche Materialien, Grundlagenberichte und Informationen lieferte. Der Empfang beider Organe war kostenpflichtig und obligatorisch. Zusätzlich verschickte das Propagandaministerium ab 1939 die Vertraulichen Informationen (VI), welche über die Reichspropagandaämter der einzelnen Gaue an die Zeitschriftenredaktionen gelangten und sowohl aktuelle Informationen aus den Pressekonferenzen als auch regional bedingte Hinzufügungen der Gau-Propagandaämter enthielten.7 Auf diese Weise konnten wichtige und sofort geltende Anweisungen unabhängig vom wöchentlichen Rhythmus des ZD übermittelt werden. Die Presseanweisungen unterlagen strengster Geheimhaltung. Nur die ChefredakteurInnen der Zeitschriften bzw. vertrauenswürdige Urlaubsvertretungen sollten im Idealfall von der Existenz der Organe wissen. Selbst in Schreiben an Dienststellen oder Behörden war jeglicher Verweis auf den ZD verboten.8 7 8
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Vgl. KOHLMANN -VIAND, 1991, S. 92. Vgl. 4536 „Streng vertraulich“, in: Zeitschriften-Dienst, 9.5.41, S. 20 und 4670 „Streng vertraulich!“, in: Zeitschriften-Dienst, 30.5.41, S. 20.
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Die Umsetzung der Anweisungen sollte zielgruppenorientiert stattfinden. Nicht jede Anweisung, abgesehen von unbedingt zu behandelnden doppelt umrandeten Themen, war für jede Zeitschrift bestimmt. Dennoch war das Propagandaministerium überzeugt, dass grundsätzlich beinahe jede Anweisung von jeder Zeitschrift zielgruppengerecht umgesetzt werden könnte.9 Der Grundsatz hinter der Zielgruppenfokussierung war die Annahme, dass nur so eine tiefwirkende Beeinflussung des Lesenden in die gewünschte propagandistische Richtung erreicht werden könne, „weil ihm ja von seinem Lieblingsgebiet aus der betreffende Gedanke nahegebracht wird, also in einer Form, die ihn ganz persönlich anspricht.“10 Die Auswertung der Anweisungen sollte dabei möglichst unauffällig stattfinden und nicht als plumpe Propaganda aufscheinen.11
Die Kategor ie „Geschlecht“ Die Kategorie „Geschlecht“ spielte in den Presseanweisungen hauptsächlich auf drei Arten eine Rolle. So gab es Anweisungen, die eine grundsätzliche propagandistische Linie in Bezug auf Frauen vorgaben, solche, die bei den unterschiedlichsten Themen Artikelvorschläge zur Kategorie „Fraulich“ enthielten, und weitere, die sich explizit an Frauenzeitschriften richteten. Im Sinne des Konstrukts einer „Volksgemeinschaft“ war in den Anweisungen stets von der vermeintlich homogenen Gruppe der „deutschen Frauen“ die Rede. Diese wurde im Speziellen dann lediglich hinsichtlich soziodemographischer Faktoren wie beispielsweise Alter, Wohnort – Land vs. Großstadt – und vorhandener bzw. nicht vorhandener Kinder unterschieden. Um zu verdeutlichen, dass diese konstruierte Homogenität Teil der Propagandainszenierung war, soll an dieser Stelle näher auf die Kategorie „Geschlecht“ im Nationalsozialismus eingegangen werden. Die grundlegende Ausgangsbasis dafür ist die Tatsache, dass es nicht die Frauen bzw. die Situation der Frauen im „Dritten Reich“ gab. Denn so 9
„Merkblatt über die Anwendung und Auswertung des „ZeitschriftenDienstes“, in: Zeitschriften-Dienst, 9.5.39, S. 1. 10 1214 „Geistige Kriegsführung durch die Zeitschrift“, in: ZeitschriftenDienst, 24.11.39, S. 12. 11 Vgl. EBD.
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wie die Menschen selbst gestaltete sich auch ihre Situation unterschiedlich, abhängig von der ethnischen Zugehörigkeit, den politischen Einstellungen, dem Alter, der sozialen Schicht, dem Verhalten etc. So hatte die Kategorie „Rasse“ im Nationalsozialismus deutlich größeren Einfluss auf die Lebenssituation als beispielweise das Geschlecht.12 Wie bereits Elke Frietsch und Christina Herkommer konstatierten, waren weibliche Handlungsräume im Nationalsozialismus komplex, denn zum einen versperrte die Kategorie „Geschlecht“ für Frauen beispielweise den Aufstieg in höhere Positionen, zum anderen eröffneten sich aber auch gezielt geschlechtsspezifische Handlungsräume, die unterschiedlich genutzt wurden.13 Die Presseanweisungen richteten sich sowohl von Seiten der direkten EmpfängerInnen in Form der JournalistInnen als auch von Seiten der sekundären EmpfängerInnen in Form der LeserInnen an deutsche nichtverfolgte Männer und Frauen. Für die nachfolgende Auswertung der geschlechtsspezifischen Presseanweisungen sind auch die in ihnen propagierten Geschlechterbilder interessant. Denn ebenso wenig wie von den Frauen, kann von dem Frauenbild im Nationalsozialismus gesprochen werden, wie in der Forschungsliteratur inzwischen mannigfach belegt wurde.14 Dieser Fakt spiegelt sich auch im ZD und DW wider. So wurde die Frau in den Presseanweisungen zwar grundsätzlich als Kameradin des Mannes mit der Hauptaufgabe der Mutterschaft definiert, dennoch zeigt sich, dass dieses Bild einen weiten Spielraum offen ließ, der entsprechend der jeweiligen propagandistischen Ziele ausgelegt werden konnte. Besonders deutlich zeigt sich dies im Verlauf des Krieges, als die Gewinnung weiblicher Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft immer dringlicher wurde und deshalb der weibliche Radius ausgedehnt werden musste. Ebenfalls deutlich zeigt es sich auch im Rahmen der weiblichen Partizipation am direkten Frontgeschehen, denn während ein solches zu Beginn des Krieges noch vehement abgelehnt wurde, wurden spätestens ab 1944 weibliche Flakhelferinnen gesucht.15 12 Vgl. BOCK, 1997, S. 262. 13 Vgl. FRIETSCH/HERKOMMER, 2009, S. 32. 14 Vgl. hierzu z.B. FRIETSCH/HERKOMMER, 2009, GEHMACHER/HAUCH, 2007 und LÖFFLER, 2007. 15 Vgl. A 344 „Flakhelferinnen der Luftwaffe“, in: Zeitschriften-Dienst, 9.6.44, S. 2-3.
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Im Folgenden werden nun exemplarisch geschlechtsspezifische Presseanweisungen analysiert, um die Beeinflussungsversuche des Propagandaministeriums auf die ZeitschriftenleserInnen aufzuzeigen. Der Fokus liegt dabei auf der Sparte der Frauenzeitschriften, deren mitunter vermeintlich unpolitischer Eindruck Teil der Taktik des Ministeriums war.
Geschlechtsspez if ische Presseanwe isu ngen Mit Kriegsbeginn am 1. September 1939 wurde den ZeitschriftenredakteurInnen im ZD gleich verordnet, wie sie ihren Leserinnen in dieser Situation begegnen sollten. Für Frauenzeitschriften galt: „Sämtliche Frauen-, Moden-, Familien- und Unterhaltungs-Zeitschriften müssen in ihrer nächsten Ausgabe entsprechend unseren Anregungen in einer persönlichen und genau auf den Leserkreis abgestimmten Ansprache an die deutschen Frauen dazu beitragen, das Gefühl der Ruhe und Sicherheit zu stärken, der deutschen Frau ihre Pflicht zu zeigen und jeder Missstimmung vorzubeugen.“16 [Herv. i. O. fett gedruckt]
Neben den inhaltlichen Ausrichtungen wurde auch eine als angemessen angesehene Stilistik für Zeitschriften mit überwiegend weiblichem Lesepublikum festgelegt: „Je schlichter und ehrlicher der Ton ist (Gespräche und Briefe sind dabei oft besonders wirksam), desto eher wird die Frau gepackt sein.“17 Die richtige Ansprache an die Frau wurde zur wichtigen politischen Aufgabe im Sinne der Stabilisierung der „Inneren Front“ erklärt.18 Frauen wurden in den Presseanweisungen als „Trägerin der Stimmung in der Heimat“19, zugleich aber auch als „Kämpferin an der Inneren 16 675 „Frauen-, Moden-, Familien- und Unterhaltungszeitschriften“, in: Zeitschriften-Dienst, 1.9.39, S. 2. 17 678 „Die deutsche Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, 1.9.39, S. 3. 18 1308 „Behandlung von Modefragen“, in: Zeitschriften-Dienst, 1.12.39, S. 18. 19 5389 „[...] Die Stellung der deutschen Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, 26.9.41, S. 2.
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Front“20 und „Soldaten an der Front in der Heimat“21 bezeichnet. Unter den Mottos „Der Einsatz der deutschen Frau“ und „Stärkung der Inneren Front“ gab das Propagandaministerium fortan vielfältige Presseanweisungen – vom Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie, ehrenamtlichen sozialen Tätigkeiten, Arbeiten in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und der NS.-Frauenschaft über die Themenblöcke Hausratspflege, zeitgemäße Rezepte und einfache Mode bis hin zur Nachwuchsplanung im Sinne der Bevölkerungspolitik. Als Aufgabe der Frauenzeitschriften definierte der ZD dabei vor allem das Wecken von Einsatzbereitschaft, Begeisterung und Willenskraft für eine wie auch immer geartete Mithilfe. 22 Im Sinne der Gewinnung einer hohen Anzahl an freiwilligen und ehrenamtlichen weiblichen Arbeitskräften lag der Fokus dabei zusammenfassend sowohl auf Tipps zur Entlastung der berufstätigen Frauen als auch in der Würdigung der Leistung selbiger. Daneben dominierten Anweisungen zum Thema Sparsamkeit sowie zur Aufrechterhaltung der „guten“ Laune. Denn die nationalsozialistische Regierung war, vor allem durch die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, darauf bedacht, die Stimmung trotz der Kriegssituation beizubehalten.
Weib licher Arbeitse in satz Die weibliche Mithilfe zur Erlangung des deutschen Sieges wurde im ZD und DW als selbstverständliche Pflicht präsentiert. Auffällig ist, dass in dem überwiegenden Teil der diesbezüglichen Presseanweisungen stets betont wurde, dass die Frau im Reich ähnlich dem Mann an der Front stehe. Die Arbeit der Frauen, sei es nun als Berufstätige oder als sparsame Hausfrauen, gewann dadurch an Bedeutung, was zugleich als Mittel der Würdigung als auch des (weiteren) Ansporns gesehen werden kann. Denn eines war den Verantwortlichen besonders wichtig: die Gewinnung weiblicher Arbeitskräfte ohne einen gesetzlichen
20 1851 „Ansprache der Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, 16.2.40, S. 19. 21 690 „Das ganze Volk steht bereit“, in: Zeitschriften-Dienst, 1.9.39, S. 10. 22 Vgl. 680 „Sozialpolitik“, in: Zeitschriften-Dienst, 1.9.39, S. 4.
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Zwang.23 Aus diesem Grund sollten die Frauen in den Zeitschriften durch verschiedene psychologische Ansätze zum bedingungslosen Einsatz motiviert werden. Hierzu gab es Anweisungen, welche die ideelle Ebene ansprachen und zu Artikeln aufriefen, die immer wieder an das Pflicht- und Ehrgefühl der Leserinnen appellieren sollten.24 Die geforderte weibliche Mithilfe bezog sich dabei vor allem auf Arbeiten in der Rüstungsindustrie, in sozialen Berufen sowie als Ersatzarbeitskräfte für an die Front gerufene Männer.25 Jedoch schienen gerade Aufrufe zur kriegswichtigen Fabriktätigkeit problematisch gewesen zu sein, denn so hieß es im ZD im Juli 1940: „Wir bitten daher die Zeitschriften erneut, weiter für die freiwillige Meldung von Frauen zum Einsatz in die Kriegswirtschaft zu werben. Nach wie vor sind dabei die psychologischen Hemmungen zu berücksichtigen, die viele berufsungewohnte Frauen vor der Fabriktätigkeit empfinden.“26
Artikel unter der Parole „Keine Angst vor dem Betrieb“ 27 sollten deshalb insbesondere den nicht berufstätigen Frauen die Furcht nehmen, weshalb die Zeitschriften z. B. die soziale Betreuung der werktätigen Frauen hervorheben28 oder besonders freundliche und heitere Erlebnisse aus dem Berufsleben wiedergeben sollten.29 Dabei wurde auch die dazugehörige Bilderwelt im ZD thematisiert, denn zum weiblichen Arbeitseinsatz sollten nur solche Fotos veröffentlicht werden, die Frau23 Vgl. z.B. 1851 „Ansprache der Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, 16.2.40, S. 19. 24 Vgl. 5492 „Sprachregelungen zum Fraueneinsatz in der Rüstungsindustrie“, in: Zeitschriften-Dienst, 10.10.41, S. 17 und 5104 „Zwei Jahre Kriegseinsatz der deutschen Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, 15.8.41 S. 21. 25 Vgl. 5492 „Sprachregelungen zum Fraueneinsatz in der Rüstungsindustrie“, in: Zeitschriften-Dienst, 10.10.41, S. 17 und 1851 „Ansprache der Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, 16.2.40, S. 19. 26 2811 „Mehr weibliche Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft“, in: Zeitschriften-Dienst, 12.7.40, S. 19. 27 8390 „Keine Angst vor dem Betrieb“, in: Zeitschriften-Dienst, 19.2.43, S. 2; 8390 „Keine Angst vor dem Betrieb“, in: Deutscher Wochendienst, 19.2.43, S. 2-3 und 8592 „Keine Angst vor dem Betrieb!“, in: Deutscher Wochendienst, 26.3.43, S. 16. 28 Vgl. EBD. 29 Vgl. 4218 „„Frauen helfen siegen““, in: Zeitschriften-Dienst, 21.3.41, S. 4.
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en an kleinen, leichten Maschinen bei nicht allzu schwerer Arbeit in entsprechender Schutzkleidung zeigten.30
Sparsamkeit be i K le idung, Lebensmitte ln und Hau srat Ein weiterer geschlechtsspezifischer Schwerpunkt der Presseanweisungen war das Thema Sparsamkeit. Neben zahlreichen praktischen Tipps und Kniffen, welche die Zeitschriften ihren LeserInnen unterbreiten sollten, ging es bei dem Thema insbesondere auch darum, Missstimmungen durch nicht an die Kriegssituation angepasste Rezepte oder unzeitgemäße Mode zu vermeiden. Bei der Kleidung war „überflüssiger Luxus und Stoffaufwand“31 untersagt, im Gegenteil, die präsentierten Schnittmuster sollten einfach, aber dennoch geschmackvoll sein.32 Der DW hielt dabei an dem Grundsatz fest: „Nie dürfen wir übersehen, daß die Diskrepanz zwischen dem Inhalt der Modeseiten und der Wirklichkeit sehr leicht Verbitterung und Aerger hervorrufen kann.“33 Doch nicht nur Schnittmustermodelle, auch Rezepte sollten mit Bedacht gewählt werden. Ob für ein Rezept für Zitronenmarmelade trotz kaum erhältlicher Zitrusfrüchte oder für ein Backrezept für einen einzelnen Kuchen mit einer Wochenration von 150 Gramm Butter: Der ZD maßregelte des Öfteren Frauenzeitschriften, die sich nicht an die Anweisungen hielten.34 Argumentiert wurde wie folgt: „Ein dummes und heute aufreizend wirkendes Koch- oder Backrezept beispielsweise verdirbt mehr an Stimmung, als durch mühsame Aufklärungsarbeit wieder gutgemacht werden kann.“35 30 Vgl. 4482 „Bilder von der deutschen Frauenarbeit“, in: ZeitschriftenDienst, 2.5.41, S. 18. 31 712 „Modefragen“, in: Zeitschriften-Dienst, 1.9.39, S. 20. 32 Vgl. EBD. 33 5782 „Zur dritten Reichskleiderkarte“, in: Deutscher Wochendienst, 28.11.41, S. 23. 34 Vgl. 1849 „Zeitgemäße Winke“, in: Zeitschriften-Dienst, 16.2.40, S. 18 und 411 „Familienzeitschrift: Rezept für Kirschtörtchen“, in: ZeitschriftenDienst, 8.7.39, S. 20. 35 5389 „[...] Die Stellung der deutschen Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, 26.9.41, S. 2.
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Zugleich sollte aber der kriegsbedingte Mangel nicht allzu offensichtlich in den Zeitschriften hervorstechen, um den Kriegswillen der LeserInnen nicht zu mindern. Deshalb finden sich im ZD und DW auch Anweisungen, die den Zeitschriften exemplarisch darlegten, wie sie mögliche Missstände überspielen können. So erklärte beispielsweise im Sommer 1941 eine Anweisung den RedakteurInnen von Frauenzeitschriften, wie sie in Zeiten der Strumpfknappheit strumpflose Mode als schick und modern anpreisen können, was bei den Leserinnen überzeugender als die Betonung wirtschaftlicher Sparmaßnahmen oder patriotischer Appelle wirke.36 Auch zum Thema Hausratspflege finden sich im ZD und DW in den Kriegsjahren zahlreiche Anweisungen, welche die Pflege von Möbeln und Haushaltsgegenständen in den Vordergrund rückten um das Volksvermögen zu schützen. So schlug der ZD beispielsweise Ende Juni 1940 in der Anweisung „Hausratspflege im Kriege“37 19 mögliche „Themen und Anregungen“ für Zeitschriftenartikel vor. Diese reichten von der Behebung kleiner Schäden und einer sachgerechten Möbelpflege über Reinigungserleichterungen durch die Nachbarschaftshilfe bis hin zur stolzen Mitteilung über die saubere Wohnung in der Feldpost an die Ehemänner.38 An die Betrachtung der Presseanweisungen schließt sich an dieser Stelle nun natürlich die Frage an, inwiefern die damaligen (Frauen-) Zeitschriften die propagandistische Linie des Propagandaministeriums umsetzten oder nicht. Am Beispiel der Frauenzeitschrift Mode und Heim soll dies im Folgenden verdeutlicht werden.
Die Zeitschr ift M ode und Heim Die Frauenzeitschrift Mode und Heim wurde von 1931 bis 1944 vom Leipziger Vobach-Verlag herausgegeben. Im unteren bis mittleren 36 Vgl. 2767 „Der deutsche Lebensstil setzt sich durch. Pariser Mode überwunden“, in: Zeitschriften-Dienst, 5.6.40, S. 18-19. 37 2868 „Hausratspflege im Kriege“, in: Zeitschriften-Dienst, 26.6.40, S. 9-10. 38 Vgl. EBD.
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Preissegment liegend, bestand die primäre Zielgruppe aus Hausfrauen oder Berufstätigen mit geringem bis mittlerem Einkommen oder Haushaltsgeld. Dennoch lasen auch Männer die Zeitschrift und wurden mitunter dezidiert in den Heften angesprochen, weshalb im Folgenden sowohl von weiblichen als auch männlichen Lesenden ausgegangen wird. Die Zeitschrift definierte sich selbst als „Freundin“ ihrer LeserInnen. Ob bei Kleidung, Schönheitspflege, Kindererziehung, Ernährung, Kultur oder zwischenmenschlichen Beziehungen – die gedruckte „Kameradin“ gab Hilfestellung in (fast) allen Bereichen des Lebens. Der Grundtenor in der Mode und Heim war seit der ersten Ausgabe positiv und optimistisch. Gegründet 1931 in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, waren die Artikel im Heft darauf ausgelegt, die Situation nicht zu beklagen, sondern die LeserInnen zu Aktionismus und positivem Denken zu motivieren. Dieses Charakteristikum von Frauenzeitschriften39 spiegelt sich dann auch in den Kriegsjahren wider. Der Kriegsbeginn selbst ist in der Mode und Heim erst ab Heft 17 vom 24. September 1939 präsent, sowohl formal durch eine verringerte Seitenanzahl als auch inhaltlich. In einer Ansprache der Redaktion und des Verlages an die LeserInnen werden die zukünftigen Schwerpunkte des Hefts mit „praktischen Fragen der Hauswirtschaft, der zeitgemäßen Ernährung, der vernunftmäßen Kleidung“40 definiert. Dies steht ganz im Sinne einer acht Tage zuvor veröffentlichten Presseanweisung im ZD, in der es hieß: „Hausfrauen-, Familien- und Modezeitschriften müssen sich jetzt grundsätzlich zur Aufgabe stellen, zur Verwertung getragener Kleider (Schnitte), vereinfachter Kochrezepte, praktischer Vorschläge zur Haushaltsführung usw. durch entsprechende Anregungen beizutragen.“41 [Herv. i. O. fett gedruckt]
Die genannten Themen wurden in der Mode und Heim auch im weiteren Verlauf des Krieges umgesetzt, es finden sich primär schlichte 39 Vgl. RÖSER, 1992, S. 360. 40 Schriftleitung und Verlag: „An unsere Leserinnen!“, in: Mode und Heim, 24.9.39, S. 18. 41 797 „Hausfrauen-, Familien- und Modezeitschriften“, in: ZeitschriftenDienst, 16.9.39, S. 19.
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Schnittmuster42 und sparsame Rezepte.43 Auch auf dem Sektor der Haushaltsführung bot die Zeitschrift ihren LeserInnen zahlreiche Tipps zur Sparsamkeit. Insbesondere die Schonung des Hausrates wurde in der Mode und Heim unterstützt. So wurde beispielsweise die oben genannte Anweisung „Hausratspflege im Kriege“44 im ZD vom 26. Juli 1940 dergestalt umgesetzt, dass die Mode und Heim in ihrer Ausgabe vom 8. September 1940 ein Preisausschreiben mit dem Titel „Das Heim – die Insel der Erfüllung“45 veranstaltete, bei dem die LeserInnen praktische Ratschläge zur günstigen, aber schönen Wohnungseinrichtung sowie allgemeinen Hausratspflege einsenden sollten.46 Als Gewinne winkten verschiedene Haushaltsgegenstände wie Vasen, Zigarettenkästchen, Papierkörbe, eine Butter- und Käsedose. Als Trostpreise waren jeweils drei Reichsmark vorgesehen.47 Ein weiterer Schwerpunkt lag auf dem Arbeitseinsatz der Frauen in den Rüstungsbetrieben. Entsprechend der Parole „Keine Angst vor dem Betrieb“ veröffentlichte die Mode und Heim Artikel, die zeigen sollten, wie vermeintlich einfach eine Umschulung, wie gut die soziale Absicherung und wie schön die Betriebe seien – als plakativste Beispiele können hierbei die Artikel „Bislang hatte sie frisiert...“48 vom Juni 1940 und „Werkehrendienst in der Fabrik“49 aus dem September 1943 gesehen werden, denn in beiden wurden die Presseanweisungen (siehe oben) eins zu eins umgesetzt. Auch die Stilistik ist der Vorstellung des Propagandaministeriums an eine vermeintlich frauenspezifische Art der Vermittlung angepasst, denn in der Mode und Heim finden sich diesbe-
42 Vgl. O.V.: „Schlichte Modelle für jede Tageszeit“, in: Mode und Heim, 24.9.39, S. 12-13. 43 Vgl. O.V.: „Gut und billig“, in: Mode und Heim, 5.11.39, S. 6-7. 44 2868 „Hausratspflege im Kriege“, in: Zeitschriften-Dienst, 26.7.40, S. 9-10. 45 O.V.: „Das Heim – die Insel der Erfüllung. Preisausschreiben“, in: Mode und Heim, 8.9.40, S. 4 und 18. 46 Vgl. EBD., S. 18. 47 Vgl. O.V.: „Das Heim – die Insel der Erfüllung. Fortsetzung der Auflösung unseres Preisausschreibens“, in: Mode und Heim, 17.11.40, S. 16. 48 O.V.: „Bislang hatte sie frisiert...“, in: Mode und Heim, 2.6.40, S. 2. 49 RADEL: „Werkehrendienst in der Fabrik“, in: Mode und Heim, September 1943, S. 2 und 16.
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züglich primär Erlebnisberichte, Dialoge und Briefe, meist in der IchForm geschrieben und in direkter Ansprache der LeserInnen. Ausgehend von der Frage, welche Presseanweisungen in der Zeitschrift umgesetzt wurden, ist es ebenso wichtig wie spannend, sich die Auslassungen anzusehen, also die Anweisungen, welche die Mode und Heim nicht übernommen hat. Hier sticht besonders hervor, dass über den gesamten Erscheinungszeitraum nur zwei Artikel erschienen, die in die Kategorie Feindpropaganda fallen. Dies verwundert umso mehr, als in den Presseanweisungen immer wieder dazu aufgerufen wurde, eine antisemitische und antibolschewistische Stimmung in der Bevölkerung zu wecken bzw. aufrechtzuerhalten.50 In einer Anweisung wurden sogar dezidiert Frauenzeitschriften zur verstärkten antisemitischen Propaganda aufgefordert: „Der Einsatz der Frauen- und Familienzeitschrift bei der Behandlung der Judenfrage ist besonders wichtig; vor allem jetzt, da infolge der letzten Verfügungen sogar Mitleid mit den Juden aufkam. Die Zeitschrift muß hier Aufklärungsarbeit leisten und immer wieder auf die zersetzende und volksfeindliche Tätigkeit der Juden hinweisen.“51
Dennoch findet sich in den 279 Ausgaben der Mode und Heim zwischen 1931 und 1944 nur ein Artikel antisemitischen Inhaltes. In diesem wurde im September 1943 im Kontext der Berichterstattung über die Große Deutsche Kunstausstellung in München als „entartet“ bezeichnete jüdische Kunst aus der Weimarer Republik verunglimpft.52 Auch die Propaganda gegen den sowjetischen Kriegsgegner ist in den Presseanweisungen ein stetig präsentes Thema. In der Mode und Heim erschien auch hierzu in der gesamten Erscheinungsperiode nur ein Artikel – „So lebt die Genossin. Nach Berichten aus der Sowjetpres50 So finden sich allein in den ersten beiden Erscheinungsjahren des ZD, genauer vom 9. Mai 1939 bis zum 19. September 1941, 88 direkte Presseanweisungen gegen Juden. Vgl. „Register für die Ausgaben 1-52. Stichwortverzeichnis“, S. 5 (Beilage zum Zeitschriften-Dienst vom 03.05.40) und „Stichwort= und Namensverzeichnis für die Ausgaben 53-125“, S. 17 (Beilage zum Zeitschriften-Dienst vom 19.09.41). 51 5534 „Behandlung der Judenfrage“, in: Zeitschriften-Dienst, 17.10.41, S. 18. 52 Vgl. DANKRAT : „Das Bild ist scheusslich, aber wir brauchen das!“, in: Das Buch für Alle, September 1943, S. 4.
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se“53 im Oktober 1941 –, in dem die vermeintlich negative Stellung der Frau in der Sowjetunion im Vergleich zur Situation der deutschen Frau dargestellt wurde.54 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Mode und Heim die grundlegende propagandistische Linie der im ZD und DW gegebenen Anweisungen in den Kriegsjahren umsetzte, zugleich aber auch zahlreiche als vom Propagandaministerium als wichtig erachtete Anweisungen, wie beispielsweise die Feindagitation, ausließ. So präsentierte sich die Zeitschrift grundsätzlich eher „unkriegerisch“, was sich auch in der Covergestaltung des Heftes widerspiegelte. Selbst in den Kriegsjahren blieb diese unverändert und zeigte primär gezeichnete Frauenfiguren mit Schnittmustermodellen. Selbst als die Mode und Heim 1943 mit den Zeitschriften Deutsches Familienblatt, Sport und Gesundheit und Buch für Alle zu einer Gemeinschaftsausgabe unter dem Titel Buch für Alle fusionierte, wurde das Cover der Mode und Heim übernommen.
Fazit Das Propagandaministerium versandte zwischen 1939 und 1945 dezidiert geschlechtsspezifische Presseanweisungen, die Anleitungen zur gezielten propagandistischen Beeinflussung der LeserInnen unter dem Deckmantel vermeintlich unpolitischer Inhalte lieferten. Die Vermittlung der Propaganda sollte dabei – inhaltlich und formal – zielgruppenorientiert und möglichst unauffällig stattfinden. Die propagandistische Linie in Bezug auf Frauen verfolgte unterschiedliche Ziele: Frauen sollten zur Kriegsmithilfe motiviert, zugleich aber auch entlastet werden. Die genderspezifische Auswertung der Presseanweisungen und ihrer Umsetzung ist ein entscheidendes Instrument, im gesamtpolitischen Kontext die „Taktik dahinter“ freizulegen. Das Beispiel der Mode und Heim zeigt auf, dass aggressive Propaganda ausgeklammert und nur die vermeintlich positiven Seiten des Nationalsozialismus präsentiert wurden. Auf diese Weise förderten Frauenzeitschriften wie die Mode 53 Vgl. BAUER-HUNDSDÖRFER: „So lebt die Genossin. Nach Berichten aus der Sowjetpresse“, in: Mode und Heim, 5.10.41, S. 15-16. 54 Vgl. EBD.
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und Heim durch ihren vermeintlich unpolitischen Charakter und ihre selektive Themenauswahl die Stabilität der nationalsozialistischen Herrschaft in der Bevölkerung. Ähnliche Muster zeigte die Forschungsliteratur u.a. bereits bei Unterhaltungsfilmen im Nationalsozialismus auf.55 Hier ergeben sich Schnittstellen, die nicht nur für die Geschichte der Medien zwischen 1933 und 1945 ausschlaggebend sind, sondern auch neue Impulse für die Alltagsforschung liefern. Denn was Carsten Würmann und Warner Ansgar 2008 bereits für die Populärkultur im NS konstatierten, kann auch auf Frauenzeitschriften wie die Mode und Heim übertragen werden: die Hefte erfüllten auch eine Funktion als „Pausenraum, in dem man sich vom laufenden Betrieb erholen konnte, der grundsätzlich aber selbst immer ein funktionaler Bestandteil der Einrichtung blieb und eben keinen dauerhaften Ausgang anbieten konnte.“56 Die Mode und Heim bot ihren LeserInnen also durch das Ausklammern bestimmter Themen wie beispielsweise Feindpropaganda oder Kriegsschrecken zugleich einen Ort der temporären emotionalen Erholung. Die Kategorie „Geschlecht“ spielte dabei nicht nur in der Zeitschrift, sondern auch in den Presseanweisungen des Propagandaministeriums eine ausschlaggebende Rolle. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Kategorie bei der Analyse der nationalsozialistischen Herrschaftsmechanismen nicht auszuklammern, sondern es ist zwingend notwendig, dass geschlechtsspezifische Forschungsfragen konsequent in der NS-Forschung mitverfolgt werden, um neue Erkenntnisse über die Zeit zwischen 1933 und 1945 zu gewinnen. Die separierte Perspektive auf die geschlechtsspezifischen Presseanweisungen für u. a. Frauenzeitschriften beweist, dass die Kategorie Geschlecht bereits in der NS-Zeit ein entscheidender Faktor bei der Propagandaarbeit war. Daraus resultiert, dass ihre umfassende historische Analyse ebenfalls nur durch die Integration der Analyse der Geschlechterkonstruktionen möglich sein kann. So kann nicht nur die Taktik der nationalsozialistischen Propagandaarbeit offen gelegt, sondern möglicherweise auch ihre mehr oder minder funktionierende Wirksamkeit bei der Zielgruppe erklärbar werden
55 Vgl. hierzu z. B. KLEINHANS, 2003, und STAHR, 2001. 56 WÜRMANN/WARNER, 2008, S. 9.
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Literatur Quellen Presseanweisungen „Merkblatt über die Anwendung und Auswertung des ‚ZeitschriftenDienstes‘“, in: Zeitschriften-Dienst, Nummer 1- 32, 9.5.1939, S. 12. 411 „Familienzeitschrift: Rezept für Kirschtörtchen“, in: ZeitschriftenDienst, Bitte nicht so, Nummer 383-416, 8.7.1939, S. 20. 675 „Frauen-, Moden-, Familien- und Unterhaltungszeitschriften“, in: Zeitschriften-Dienst, Anweisungen, Nummer 673-717, 1.9.1939, S. 2. 678 „Die deutsche Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, Anweisungen, Nummer 673-717, 1.9.1939, S. 3. 680 „Sozialpolitik“, in: Zeitschriften-Dienst, Anweisungen, Nummer 673-717, 1.9.1939, S. 3-4. 690 „Das ganze Volk steht bereit“, in: Zeitschriften-Dienst, Themen der Zeit, Nummer 673-717, 1.9.1939, S. 9-10. 712 „Modefragen“, in: Zeitschriften-Dienst, Aussprache unter uns, Nummer 673-717, 1.9.1939, S. 20. 797 „Hausfrauen-, Familien- und Modezeitschriften“, in: ZeitschriftenDienst, Aussprache unter uns, Nummer 764-804, 16.9.1939, S. 19. 1214 „Geistige Kriegsführung durch die Zeitschrift“, in: ZeitschriftenDienst, Themen der Zeit, Nummer 1202-1272, 24.11.1939, S. 1213. 1308 „Behandlung von Modefragen“, in: Zeitschriften-Dienst, Aussprache unter uns, Nummer 1273-1323, 1.12.1939, S. 18-19. 1849 „Zeitgemäße Winke“, in: Zeitschriften-Dienst, Bitte nichts so, Nummer 1817-1861, 16.2.1940, S. 18. 1851 „Ansprache der Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, Aussprache unter uns, Nummer 1817-1861, 16.2.1940, S. 19. 2767 „Der deutsche Lebensstil setzt sich durch. Pariser Mode überwunden“, in: Zeitschriften-Dienst, Aussprache unter uns, Nummer 27362777, 5.6.1940, S. 18-19.
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2811 „Mehr weibliche Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft“, in: Zeitschriften-Dienst, Aussprache unter uns, Nummer 2778-2817, 12.7.1940, S. 19. 2868 „Hausratspflege im Kriege“, in: Zeitschriften-Dienst, Themen der Zeit, Nummer 2860-2896, 26.6.1940, S. 9-10. 4218 „‚Frauen helfen siegen‘“, in: Zeitschriften-Dienst, Das Hauptthema, Nummer 4215-4266, 21.3.1941, S. 4-5. 4482 „Bilder von der deutschen Frauenarbeit“, in: Zeitschriften-Dienst, 2.5.1941, Aussprache unter uns, Nummer 4457-4502, S. 18. 4536 „Streng vertraulich“, in: Zeitschriften-Dienst, Anweisungen, Nummer 4503-4541, 9.5.1941, S. 20. 4670 „Streng vertraulich!“, in: Zeitschriften-Dienst, Anweisungen, Nummer 4638-4671, 30.5.1941, S. 20. 5104 „Zwei Jahre Kriegseinsatz der deutschen Frau“, in: ZeitschriftenDienst, Aussprache unter uns, Nummer 5086-5134, 15.8.1941 S. 2021. 5389 „[...] Die Stellung der deutschen Frau“, in: Zeitschriften-Dienst, Zur Lage, Nummer 5389-5430, 26.9.1941, S. 1-2. 5492 „Sprachregelungen zum Fraueneinsatz in der Rüstungsindustrie“, in: Zeitschriften-Dienst, Themen der Zeit, Nummer 5477-5515, 10.10.1941, S. 17. 5534 „Behandlung der Judenfrage“, in: Zeitschriften-Dienst, Was uns gefiel, Nummer 5516-5561, 17.10.1941, S. 18. 5782 „Zur dritten Reichskleiderkarte“, in: Deutscher Wochendienst, Aussprache unter uns, Nummer 5764-5785, 28.11.1941, S. 23-24. 7939 „Weihnachts- und Neujahrsausgaben [...]“, in: Deutscher Wochendienst, Zur Lage, Nummer 7934-7954, 27.11.1942, S. 1. 8390 „Keine Angst vor dem Betrieb“, in: Zeitschriften-Dienst, Themen der Zeit, Nummer 8389-8431, 19.2.1943, S. 2. 8390 „Keine Angst vor dem Betrieb“, in: Deutscher Wochendienst, Themen der Zeit, Nummer 8389-8414, 19.2.1943, S. 2-3. 8592 „Keine Angst vor dem Betrieb!“, in: Deutscher Wochendienst, Material, Nummer 8574-8595, 26.3.1943, S. 16. A 344 „Flakhelferinnen der Luftwaffe“, in: Zeitschriften-Dienst, Aussprache unter uns, Nummer A 337-A 374, 9.6.1944, S. 2-3.
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Geschlechtsspezifische NS-Presseanweisungen
Mode und Heim BAUER-HUNDSDÖRFER, LORE, So lebt die Genossin. Nach Berichten aus der Sowjetpresse, in: Mode und Heim, Heft 16, 5.10.1941, S. 15-16. DANKRAT, HORST, „Das Bild ist scheusslich, aber wir brauchen das!“, in: Das Buch Für Alle, Heft 7, September 1943, S. 4. RADEL, FRIEDA, Werkehrendienst in der Fabrik, in: Mode und Heim, Heft 7, September 1943, S. 2 und 16. SCHRIFTLEITUNG UND VERLAG, An unsere Leserinnen!, in: Mode und Heim, Heft 17, 24.9.1939, S. 18. O.V., Schlichte Modelle für jede Tageszeit, in: Mode und Heim, Heft 17, 24.9.1939, S. 12-13. O.V., Aus der Praxis für die Praxis, in: Mode und Heim, Heft 19, 22.10.1939, S. 6-7. O.V., Gut und billig, in: Mode und Heim, Heft 20, 5.11.39, S. 6-7. O.V., Wir helfen Punkte sparen, in: Mode und Heim, Heft 25, 14.1.1940, S. 9-11. O.V., Unser Preisausschreiben: Wie würden Sie das machen?, in: Mode und Heim, Heft 1, 11.2.40, S. 9. O.V., „Bislang hatte sie frisiert...“, in: Mode und Heim, Heft 9, 2.6.1940, S. 2. O.V., Das Heim – die Insel der Erfüllung. Preisausschreiben, in: Mode und Heim, Heft 16, 8.9.1940, S. 4 und 18.
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Marion Wittfeld
in: Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts, hg. von HEINZ-DIETRICH FISCHER, München u. a. 1982, S. 229-255. FREI, NORBERT/SCHMITZ, JOHANNES, Journalismus im Dritten Reich. München 1999. FRIETSCH, ELKE/HERKOMMER, CHRISTINA (Hg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld 2009. GEHMACHER, JOHANNA/HAUCH, GABRIELLA (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck u. a. 2007. KLEINHANS, BERND, Ein Volk, ein Reich, ein Kino. Lichtspiel in der braunen Provinz, Köln 2003. KOHLMANN-VIAND, DORIS, NS-Pressepolitik im Zweiten Weltkrieg. Die ‚Vertraulichen‘ Informationen als Mittel der Presselenkung, München 1991. LÖFFLER, CHRISTINA, Die Rolle und Bedeutung der Frau im Nationalsozialismus. Antifeminismus oder moderne Emanzipationsförderung?, Saarbrücken 2007. RÖSER, JUTTA, Frauenzeitschriften und weiblicher Lebenszusammenhang. Themen, Konzepte und Leitbilder im sozialen Wandel, Opladen 1992. STAHR, GERHARD, Volksgemeinschaft vor der Leinwand? Der nationalsozialistische Film und sein Publikum, Berlin 2001. SULTANO, GLORIA, Wie geistiges Kokain. Mode unterm Hakenkreuz, Wien 1995. WÜRMANN, CARSTEN/ANSGAR, WARNER, Im Pausenraum des „Dritten Reiches“. Zur Populärkultur im nationalsozialistischen Deutschland, Bern u. a. 2008. ZIMMERMANN, CLEMENS, Medien im Nationalsozialismus. Deutschland, Italien und Spanien in den 1930er und 1940er Jahren, Wien u. a. 2007.
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Reflexion des Beitrags von Marion Wittfeld ALEXANDRA ECKERT Der Beitrag von Marion Wittfeld, in dem Geschlecht als Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit verstanden wird, beschäftigt sich mit nationalsozialistischen Vorstellungen von Weiblichkeit. Er untersucht mit einem Schwerpunkt auf den Kriegsjahren 1939-1945 Presseanweisungen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und deren Umsetzung in der deutschsprachigen Frauenzeitschrift „Mode und Heim“. Im Fokus von Wittfelds Ausführungen steht die Frage, welche Geschlechtervorstellungen in diesen Presseanweisungen sichtbar werden und inwiefern sie dazu dienen sollten, das weibliche Publikum im Sinne der NS-Ideologie zu beeinflussen. Der Beitrag liefert Impulse nicht nur für die Geschlechtergeschichte, sondern hat auch Schnittstellen zur Mediengeschichte und der Geschichte der Populärkultur der NS-Zeit. Wittfeld betont, dass in den Presseanweisungen ein differenziertes Geschlechterbild deutlich werde. Die Frau sei zwar grundsätzlich als Kameradin des Mannes und als Mutter definiert gewesen, aber in späteren Kriegsjahren auch immer mehr als erwünschte Arbeitskraft in der Kriegswirtschaft. Diese Pole spiegelten nach Wittfeld auch Frauenzeitschriften wie „Mode und Heim“ wider, die ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit vermitteln sollten, aber auch das Ziel verfolgten, Frauen für den Einsatz in kriegswichtigen Industriebetrieben zu gewinnen. Artikel wie „Keine Angst vor dem Betrieb“ sollten Frauen dazu ermutigten, Arbeitsplätze in vormals typischen Männerdomänen zu besetzen.
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Ähnlich wie in Unterhaltungsfilmen der NS-Zeit sei auch in Frauenzeitschriften die Intention zu erkennen, Orte emotionaler Erholung während des Kriegsgeschehens bereitzustellen. Journale für Frauen sollten nach Wittfeld darüber hinaus Kriegsmüdigkeit vermeiden, indem Frauen praktische Vorschläge für den Umgang mit kriegsbedingter Mangelversorgung unterbreitet wurden, was beispielweise in der Propagierung strumpfloser Mode und vereinfachter Kochrezepte in „Mode und Heim“ deutlich werde. Wittfeld stellt heraus, dass sich trotz anderslautender Presseanweisungen kaum propagandistische Hetz-Artikel gegen Juden oder Kriegsgegner in „Mode und Heim“ finden ließen. Auch wenn Wittfeld verschiedentlich Anknüpfungspunkte zu anderen Forschungskategorien anspricht, so widmet sich ihr Beitrag in erster Linie weiblichen Geschlechterrollen in der NS-Zeit im Spannungsfeld zwischen Propaganda und Alltagserfahrung. Er ist somit einem separierten Forschungsansatz zuzuordnen. Der dadurch bedingte Schwerpunkt auf der Frauenperspektive hätte durch die Weiterverfolgung der im Aufsatz angesprochenen Anknüpfungspunkte zu anderen Forschungsgebieten profitiert. So könnte zum Beispiel ein Vergleich mit anderen Medien – wie den erwähnten NS-Unterhaltungsfilmen – Verbindungslinien zu einem stärker integrierten Forschungsansatz eröffnen. Das von Wittfeld besprochene hochinteressante Quellenmaterial bietet darüber hinaus verschiedene Ansatzpunkte, die Rolle von Geschlechterbeziehungen noch näher zu untersuchen.
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Gender in der Zionistischen Bewegung am Beispiel der Debatte über einen Dachverband für zionistische Frauenvereine 1911 1 CHRISTINE BOVERMANN I. Eine Sache der Wahrnehmung: Frauen und Gender in der Zion ist ischen Bewegung des Deutschen Kaiserreich s „Ferner gibt es noch gar viele Dinge“, schrieb Edith Lachmann 1911, „die wirklich nur Frauen leisten können, die sie aber wiederum nur richtig und gut leisten können, wenn sie organisiert sind.“2 In ihrem Artikel „Zur Frauenfrage“ unterstützte sie die Idee, einen internationalen Dachverband für zionistische Frauenvereine zu gründen. Diese Idee wurde in einer Debatte in der Jüdischen Rundschau verhandelt und ist Gegenstand dieses Aufsatzes.3
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Diese Debatte ist auch ein Gegenstand meiner Dissertation über „Gegenwartsarbeit“ als Partizipationsmöglichkeit für Frauen in der Zionistischen Bewegung des Deutschen Kaiserreichs, die im Entstehen ist. LACHMANN, 1911, S. 441. Obwohl der Dachverband zionistische Frauenvereine aus aller Welt zusammenfassen sollte, wurde er im Kaiserreich konzipiert – die Zionistinnen aus Deutschland waren Impulsgeberinnen, welche die Ideen auf dem zehnten Zionistenkongress einbrachten.
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Fünf Monate sollte diese Debatte dauern, und doch dem Gegenstand der Debatte, den Dachverband zionistischer Frauenvereine, nicht zur Umsetzung verhelfen. Verhandelt wurde, welche Ausrichtung zionistische Frauenarbeit künftig haben sollte und welche Projekte förderungs- würdig wären. Während die eine Seite in der Debatte den Dachverband für den Ausbau von Projekten zur Unterstützung von Frauen in Palästina nutzen wollte, trat die andere Seite für die Vereinsarbeit von Zionistinnen in den jeweiligen Ländern ein und lehnte die Arbeit in Palästina ab. Beide Seiten nutzten ähnliche Argumente, um die Debatte zu lenken und die eigene Position durchzusetzen. An der Debatte kann aufgezeigt werden, so die These, dass die Forderung nach einer politischen Organisation von Frauen mit reproduzierten geschlechtlichen Eigenschaften in Verbindung gebracht werden musste, um legitim dargestellt und wahrgenommen werden zu können. Die meisten Beitragenden unterstützten die Idee, um die Vernetzung der einzelnen zionistischen Frauenvereine zu fördern. Sie hatten den Anspruch, zionistische Frauenarbeit und spezifisch weibliche Formen zionistischer Tätigkeit zu unterstützen. Die Entwicklung zionistischer Frauenvereine entstand zum einen im Kontext der Institutionalisierung der Zionistischen Bewegung. Die Konzentration der führenden zionistischen Gremien im Kaiserreich wirkte sich positiv auf die zionistische Publizistik und Vereinskultur aus, die sich besonders nach der Jahrhundertwende entfaltete. Auch Frauen waren stets in den Vereinen vertreten, und etablierten darüber hinaus eigene Vereine. Zionistinnen, so zeigen die einschlägigen Fachartikel und Bücher, waren ebenso an der Bewegung beteiligt wie Männer, und haben mit weiblich konnotierten Tätigkeiten, wie beispielsweise der Erziehung von Kindern, das Spektrum möglicher zionistischer Aktivitäten erheblich erweitert.4 Zum 4
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Die geschichtswissenschaftliche Forschung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Fülle von politischen Aktivitäten zionistischer Frauen herausgearbeitet. Grundlegende Werke zu Zionistinnen und Geschlechterbildern im Zionismus haben verfasst: BERKOWITZ, 1995; OR, 2009; PRESTEL, 1994. Dahingegen haben die Übersichtswerke zur Zionistischen Bewegung kaum Angaben zu Zionistinnen. Das umfassende Werk zur Zionistischen Bewegung von Adolf Böhm enthielt keine Informationen zu Frauen in der Bewegung, vgl. BÖHM, 1935/1937. Dementsprechend integrieren auch aktuellere Übersichtswerke Frauen nicht in die Geschichte der Bewegung, so z.B. BRENNER, 2008. Auch in diesen zwei wichtigen Quellensammlungen fehlen Autorinnen: REINHARZ, 1981 und SCHOEPS, 1973.
Gender in der Zionistischen Bewegung
anderen entstand die Popularität von zionistischen Frauenvereinen im Kontext der Ersten Frauenbewegung, deren Organisationsformen und Tätigkeiten Vorbilder für die Zionistinnen schufen. Besonders der 1904 gegründete Jüdische Frauenbund (JFB) wurde zum Bezugspunkt für zionistische Frauenarbeit, dessen Konzept 1911 Vorlage für den Dachverband für zionistische Frauenvereine war. Der vorliegende Aufsatz fokussiert die Bedeutung von gender in der Zionistischen Bewegung des Kaiserreichs rund um das Debattenjahr 1911. Gender wird hier als sozial konstruiertes Geschlecht verstanden, welches in spezifischen zeitlichen und kulturellen Kontexten Personen zugeschrieben oder von ihnen eingenommen wird (doing gender).5 Mit der Analyse von gender soll in diesem Aufsatz die Hierarchie von geschlechtlich konnotierten Handlungen auf ihre Konsistenz im zeitgenössischen Diskurs untersucht werden. Nicht zuletzt soll so veranschaulicht werden, was es bedeutet hat, eine politisch aktive Frau in der Zionistischen Bewegung zu sein, bzw. welche gender identities6 überhaupt möglich und vielversprechend waren. Mit dieser Perspektive reiht sich der vorliegende Artikel innerhalb dieses Sammelbandes in die separierte Richtung ein, die gezielt gender in den Fokus nimmt. Häufig wird mit einem separierten Konzept eine Frauengeschichte assoziiert, die Frauen als Akteurinnen in den Vordergrund stellt. Allerdings können, wie in diesem Artikel, auch Frauen der Gegenstand sein und durch die Analyse ihrer Handlungen Aussagen über Männlichkeiten, Weiblichkeiten und deren Bedeutung in einem Diskurs getroffen werden.7 Ziel des Aufsatzes ist es deswegen auch, mittels einer geeigneten Methode eine gender-Analyse anzubieten, die 5 6
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Der hier verwendete gender-Begriff bezieht sich somit auf Judith Butler, vgl. BUTLER, 1991. Der Begriff „Identität“ wird hier bevorzugt verwendet, obwohl auch der Begriff „Rolle“ denkbar wäre. Eine (geschlechtliche) Rolle ist jedoch eher ein analytischer Begriff, aber keiner, mit dem sich Personen besonders häufig identifizieren. Identität dagegen verweist bewusst auf das Selbstverständnis der AkteurInnen. Weil es schwierig ist, in dieser Debatte andere Geschlechter auszumachen, die weder Weiblichkeiten noch Männlichkeiten entsprechen, wird im Folgenden das Binnen-I verwendet. Damit soll jedoch nicht impliziert werden, dass es nur zwei Geschlechter gegeben hat. Die Pluralität von Weiblichkeiten und Männlichkeiten muss an diesen Stellen mitgedacht werden.
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der Polarisierung entsagt und gleichzeitig den gesellschaftlichen Stellenwert von verschiedenen Geschlechtern herausarbeitet. Um dies zu erreichen, wird eine publizistische Debatte untersucht, die in der Jüdischen Rundschau, dem zentralen Organ der Zionistischen Vereinigung in Deutschland, geführt wurde.8 Mit einer Auflage von 5000 bis 10.000 Ausgaben war sie eine der meistgelesenen jüdischen deutschsprachigen Zeitungen, bis zum Ersten Weltkrieg einmal wöchentlich erscheinend, die über alle Bereiche jüdischen Lebens berichtete, solange sie für die Bewegung in Deutschland von Interesse waren.9 Daneben publizierte sie auch Vereinsnachrichten, die vor allem für die AkteurInnen der Bewegung nützlich waren. In dieser publizistischen Debatte über den zionistischen Frauendachverband, wie in Debatten generell, wurde ein relevantes Thema verhandelt, in deren Verlauf sich Machtverhältnisse offenbarten. Durch die Analyse der Argumente mittels der Methode „Debattengeschichte“ kommen diejenigen Dynamiken zum Vorschein, die Handlungsmöglichkeiten – das Sagbare und das Machbare10 – bestimmt haben. Exemplarisch kann mit der Nachzeichnung der Debatte veranschaulicht werden, wie Unterschiede zwischen Geschlechtern wahrgenommen und wiedergegeben wurden, dies ermöglicht die Analyse der geschlechtlichen Konnotation von Denk- und Handlungsweisen. Der Kontext der Debatte erfährt zusätzlich besondere Beachtung, weil er über die Normen und Werte der Debattierenden Auskunft gibt und den Rahmen für die Bedeutung von Argumenten abbildet. In diesem Fall ist das die Entwicklung der zionistischen Frauenvereine innerhalb der Zionistischen Bewegung sowie der Ersten Frauenbewegung.
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Ein Artikel ist der Welt entnommen, dem Zentralorgan der Zionistischen Organisation und neben der Jüdischen Rundschau die bedeutendste zionistische Zeitung im deutschsprachigen Raum, die insbesondere über die Besiedlung Palästinas berichtete. 9 Vgl. die Angaben zu den Auflagen bei BERNSTEIN, 1969, S. 26; zur Jüdischen Rundschau vgl. weiterhin: EDELHEIM-MUEHSAM, 1956. 10 Die Begriffe sind Willibald Steinmetz entlehnt, der in seiner Arbeit das politisch Sagbare anhand von Wahlrechtsdebatten in England diskursanalytisch untersuchte, vgl. STEINMETZ, 1993.
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Gender in der Zionistischen Bewegung
II. Organisat ionen z ion ist ischer Frauen Bis zum Debattenjahr 1911 etablierten sich zahlreiche zionistische Frauenvereine, die sich seit den Anfängen zionistischer Organisation im Kaiserreich gegründet hatten. Prominent war die Jüdisch-Nationale Frauenvereinigung (JNF) in Berlin, die 1900 gegründet wurde und sich mit einem eigenen Programm in den Berliner Zionistenkreisen etablierte. Ihr Ziel war es, speziell Frauen anzusprechen und sie für die Bewegung zu gewinnen, weswegen sie eigene, weiblich konnotierte Tätigkeitsfelder in den zionistischen Kanon integrierte, wie Kinderausflüge mit zionistischem Duktus. Zusätzlich versuchte sie, Frauen zu schulen und ihnen mit Vorträgen, z.B. über die Stellung der Frau im Zionismus, und Rhetorik-Seminaren das Handwerkszeug für die Partizipation in der Bewegung zu vermitteln. Damit war die JNF nicht allein im Kaiserreich: Andere zionistische Frauengruppen folgten ihrem Beispiel und etablierten parallel zu den allgemeinen Ortsgruppen ein Netzwerk von zionistischen Frauengruppen.11 Diese Gruppen konzentrierten sich auf die Arbeit zur Stärkung der zionistischen Gemeinschaft in der Diaspora. Spendensammlungen, hebräische Sprachkurse und Vorträge zur Besiedlung Palästinas blieben oft die einzigen Verbindungen zur „Heimstätte“, deren Aufbau von den vorrangig politischen Zionisten im Kaiserreich forciert wurde. 1907 änderte sich diese Ausrichtung mit der Gründung des Verbandes jüdischer Frauen für Kulturarbeit in Palästina (kurz: Kulturverband), der Projekte in Palästina etablierte. Sein Ziel war es, Frauen durch die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu fördern und das Pflege- und Gesundheitswesen im Land zu verbessern. Neben einer Landwirtschaftsschule für Frauen gründete er Spitzenateliers, in denen Frauen arbeiten konnten. Obwohl der Kulturverband Zeit seines Bestehens von anderen aktiven Zionistinnen für seine defensive Haltung gegenüber zionistischen Positionen kritisiert wurde, hatte er mehr
11 Neben Berlin etablierten sich Gruppen u.a. in Hamburg, Frankfurt a. M., Posen, Königshütte und Leipzig. Durch Vortragsreisen initiierten zionistische Rednerinnen, ausgebildet in den jeweiligen JNF-Ortsgruppen, neue Frauengruppen in anderen Städten, vgl. OR, 2009, S. 85.
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zahlende Mitglieder als alle Ortsverbände der JNF zusammen und konnte somit selbstständig Projekte umsetzen.12 Die Aufteilung zionistischer Frauenarbeit in die Arbeit für Palästina einerseits und in Diaspora-Arbeit andererseits spiegelte die zwei dominanten Tendenzen in der zionistischen Bewegung wider. Gemeinsam war den beiden Richtungen zionistischer Frauenpolitik, dass sie ihr Angebot speziell an Frauen richteten und somit eine Lücke schlossen, die sie in der Bewegung monierten.13 Dabei griffen sie auf die Ideen der Ersten Frauenbewegung zurück, welche die Aktivitäten der zionistischen Frauen maßgeblich inspirierten. Diese internationale soziale Bewegung richtete ihr Augenmerk auf die gesellschaftliche Anerkennung von Frauen und stritt um die Gleichberechtigung zu Männern, und errang so z.B. das Frauenwahlrecht, welches 1918 in Deutschland eingeführt wurde.14 Insbesondere der bürgerliche Flügel der Frauenbewegung setzte sich für Bildungschancen und Erwerbsarbeit von bürgerlichen Frauen und die Wertschätzung weiblich konnotierter Bereiche, wie die Anerkennung von sozialem Engagement als Arbeit, ein. Neben diesem bürgerlichen Flügel waren auch bürgerlich-radikale, sozialdemokratische und sozialistische Vereine entstanden, deren Gemeinsamkeit in dem Ziel lag, die Gesellschaft auf eine sittliche Grundlage zu stellen. Vereine waren der Nukleus dieser Bewegung, und mit der Gründung von spezifischen Dachverbänden, wie zum Beispiel des Bundes Deutscher Frauenvereine 1894 oder des Jüdischen Frauenbundes 1904, wurden die einzelnen Ortsgruppen zusammengefasst und ihre Präsenz und Größe demonstriert.15 Dachverbände waren moderne Organisationsformen, welche das Engagement von Frauen in Massenorganisationen institutionell einbanden und durch die Bildung von Netzwerken den Austausch von Ideen förderten. Auch die Zionistinnen wollten die Vorteile einer solchen Organisation nutzen und orientierten
12 Die Mitgliederzahlen des Kulturverbandes beliefen sich 1909 auf 1000, 1911 bereits auf 2000; demgegenüber hatten die JNF-Ortsgruppen ca. 20 bis 30 Mitglieder, nur in wenigen Städten waren es deutlich mehr, vgl. OR, 2009, S. 128 und S. 91-93. 13 Vgl. PRESTEL, 1994, S. 31-35. 14 Zur Geschichte der deutschen Frauenbewegung s. HERVÉ, 2001, sowie PLANERT, 2000. 15 Vgl. HUBER-SPERL, 2002, S. 41 und HEINSOHN, 2002, S. 240f.
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sich dabei an den bereits bestehenden Dachverbänden anderer Frauen, vor allem dem Jüdischen Frauenbund.
III. Die Debatte über den Dachverband für zion ist ische Frauenvereine Im Jüdischen Frauenbund, dem größten konfessionellen Frauendachverband im Kaiserreich, fehlte den Zionistinnen eine nationaljüdische Haltung, sodass sie vom Eintritt in die jüdischen Frauenvereine absahen. Er setzte sich gegen Antisemitismus, die christliche Taufe und Mädchenhandel und für die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins ein. Der JFB war im Bereich des Sozialen tätig und förderte das Erwerbsleben jüdischer Frauen und Mädchen.16 Jedoch schloss er politische Bekenntnisse qua Statut gezielt aus, sodass die Zionistinnen einen eigenen Dachverband bevorzugten, um das Engagement von Frauen in der Zionistischen Bewegung zu institutionalisieren. Organisatorisch sollte der Verband die einzelnen Frauenvereine auf internationaler Ebene zusammenschließen und durch eine eigene Vertretung zentralisieren und koordinieren, um deren Austausch untereinander zu ermöglichen. Die Verantwortung über den Dachverband sollte in den Händen der zionistischen Frauen liegen, jedoch institutionell an die zionistische Organisationsstruktur angeschlossen sein. Die Idee fand unter den TeilnehmerInnen der Debatte so großen Zuspruch, dass dem Kongress, auf dem der Dachverband gegründet werden sollte, von den Fürsprecherinnen – der einzige teilnehmende Mann sowie die Redaktion der Jüdischen Rundschau äußerten sich bezüglich der Idee eines Dachverbands skeptisch – das Potential zugesprochen wurde, ein „Merkstein in unserer Geschichte“17 zu sein, wie es die langjährige Vorsitzende der Jüdisch-Nationalen Frauenvereinigung in Berlin, Lina Wagner-Tauber, ausdrückte. Anlass der Debatte war der bevorstehende zehnte Zionistenkongress, auf dem die Frauen der Bewegung zu einer gesonderten Sitzung zusammenkommen sollten. Obwohl die Kongresse den Anspruch hat16 Vgl. KAPLAN, 1981. 17 WAGNER-TAUBER, 1911, S. 334.
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ten, die gesamte Bewegung zu vertreten und als eine Art Parlament verstanden wurden, waren Frauen als Delegierte wenig präsent und zionistische Frauenarbeit wurde ebenso wenig verhandelt. Das aktive und passive Wahlrecht, welches die Zionistin Marie Reinus auf dem ersten Zionistischen Kongress 1897, lange vor dem Frauenwahlrecht in Deutschland, erstritten hatte, sodass es ein Jahr später eingeführt wurde, war in erster Linie ein Aushängeschild, vor allem im Kontrast zu anderen zeitgenössischen politischen Bewegungen.18 Der Verweis auf diese Errungenschaft wurde auch dann angeführt, wenn das Engagement von Zionistinnen in der Bewegung als mangelhaft empfunden wurde: Gleiche Rechte ziehen gleiche Pflichten nach sich, bemühten sich Männer und Frauen zu betonen, und mahnten Frauen zur Mitarbeit. Frei von Kritik konnten die Frauen ihre Anliegen auf den parallel stattfindenden Frauensitzungen diskutieren und ihr weiteres Vorgehen planen. Ähnlich der Gründung des Kulturverbandes, die auf dem siebten Zionistenkongress stattfand, sollte nun der Dachverband diskutiert und zur Abstimmung gebracht werden, so der Vorschlag von Hedwig Mayer-Lübke, die nachträglich als erste Autorin der Debatte zu sehen ist.19 In der Debatte können vier Hauptargumente ausgemacht werden, welche die Legitimität des Dachverbandes untermauern sollten und in den jeweiligen Positionen angeführt wurden: Erstens wurde argumentiert, dass der Dachverband für die „Zukunft des Zionismus“ wichtig sei. Dieses Argument erweiternd wurde zweitens behauptet, dass nur Frauen die nächste Generation zionistisch erziehen könnten, am besten in einer angemessenen Umgebung, dem „zionistischen Haushalt“. Auch die „eigene Erziehung“, sprich die Weiterbildung der Vereinsmitglieder, könnte drittens durch den Dachverband organisiert werden. Dieses Argument war jedoch umstritten. Es wurde entgegnet, dass Frauen nicht „politisch“ handeln könnten und daher den Dachverband nicht gründen sollten. Viertens wurde argumentiert, dass Frauenarbeit und Männerarbeit gleichwertig und deswegen die Organisation von Frauen ebenso
18 Tamara Or hat die Debatte über das Frauenwahlrecht auf den Zionistischen Kongressen beschrieben, siehe OR, 2009, S. 23-34. 19 Vgl. MAYER-LÜBKE, 1911, S. 261.
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förderungswürdig sei. Diese vier Hauptargumente werden im Folgenden analysiert. Viele der Debattenbeiträge betonten, dass Frauen unentbehrlich für die Zionistische Bewegung seien, weil sie die Zukunft mitgestalten würden. Mit dem Bezug auf die „Zukunft des Zionismus“ wurde eine Verbindung zu den Zielen der Bewegung hergestellt, die notwendig war, um von der Bedeutung der Frauenarbeit zu überzeugen. Schlussendlich sollte so auch eine Organisation der Frauenarbeit legitimiert werden. Gerade die sprachliche Verwendung dieser Metapher besaß eine integrierende Funktion, die Frauenarbeit in den zionistischen Kanon aufnahm. Da der Zionismus als nationale Bewegung das Ziel verfolgte, die jüdische Gemeinschaft zu fördern und ihr letztendlich eine „Heimstätte“ erkämpfen wollte, war die Vorstellung der nationalen Zukunft verbunden mit einer Verbesserung der Gegenwart für die jüdische Gemeinschaft.20 Obwohl Palästina der Ort war, an dem die nationale Erneuerung lokalisiert wurde, sollte die „geistige Regeneration“ bereits in der Diaspora stattfinden. Der Beitrag der Frauen zu diesem Vorhaben, so die Argumentation in der Debatte, sollte mit der Organisation im Dachverband und der daraus resultierenden stärkeren Mitarbeit gelingen, und somit die Zukunft des Zionismus sichern. Besonders bestärkt wurde das Argument dann, wenn es in Zusammenhang mit den Rollen der Frau als Mutter und Erzieherin gebracht wurde. Der zionistische Nachwuchs lag in den Händen der Frauen, so die Argumentation, weswegen auch die Zukunft des gesamten jüdischen Volkes von der Frau abhängig wäre. Das „zionistische Haus“ lokalisierte diese Rolle und bekräftigte das Argument, indem es dem Bereich einen realen Ort gab, der zionistisch gestaltet werden konnte. Zugleich war das „jüdische Haus“ auch in der Debatte einer der umstrittensten Bereiche, den die Akteurinnen zionistisch prägen wollten: Ihnen wurde vorgeworfen, assimiliert zu sein, weswegen sie kein zionistisches Konzept für die Gestaltung des Hauses verfolgen könnten, so der einzige männliche Beitragende, Levi Bennathan.21 Der Vorwurf der Assimilation war oftmals Kern der Beschuldigung jüdischer Frauen, wenn ihnen mangelnde Mitarbeit in der Bewegung vorgeworfen wurde. Dahinter verbarg sich das Vorurteil, dass Frauen 20 Vgl. BERKOWITZ, 1995, S. 171. 21 Vgl. BENNATHAN, 1911, S. 465-466.
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sich besonders häufig an die Mehrheitsgesellschaft anpassten und deswegen keine idealistische Gesinnung haben könnten. Jedoch wussten zionistische Frauen das Vorurteil für die eigenen Belange zu nutzen, und begründeten damit unter anderem die Förderung von Frauen sowie die Gründung von geschlechtsspezifischen Vereinen. Aber auch ohne die Verwendung zionistischer Schlagworte, wie der Zukunft des Zionismus, war es in der Debatte populär, Frauen als Erzieherinnen darzustellen, um von der Rechtschaffenheit der eigenen Position zu überzeugen. Mit dem Argument wurde sowohl auf Fähigkeiten als auch Aufgaben von Frauen hingewiesen – insgesamt war „Erziehung“ ein eigenständiger Bereich, der auf der geschlechtsspezifischen Charakterisierung von Frauen als Erzieherinnen beruhte. Die Erschließung der Bereiche Erziehung und Kulturarbeit war ein Schwerpunkt der „Kulturaufgabe“ der Frauen, wie sie die bürgerliche Frauenbewegung forderte, den nun auch die Frauen in der Bewegung zionistisch prägen wollten.22 Konkret sollte der Dachverband sowohl Projekte in Palästina für „kranke Säuglinge und hungrige Kinder“23 fördern, als auch bei der Erziehung von Jugendlichen in der Diaspora hilfreich sein, um dem Heranwachsen eines „völlig entjüdete[n] Geschlecht[s]“24 entgegen zu wirken. Der Verweis auf diese geschlechtlich konnotierte Rolle war demnach variabel einsetzbar und konnte für inhaltlich unterschiedliche Zielrichtungen eingesetzt werden. Für die Arbeit in der Diaspora wurde der Bereich auch auf die Frauen selbst erweitert: Die Bildung der Frauen in den Vereinen sollte dem Ziel, eine zionistische Jugend heranzuziehen, von Nutzen sein. Gleich dem bürgerlichen Ideal der perpetuierenden Weiterbildung war die Arbeit an der eigenen Person auch in den zionistischen Kreisen angesehen.25 Besonders in den Frauenvereinen machten Vorträge von GastrednerInnen, aber auch Diskussionsabende zur rhetorischen Schulung der Frauen einen erheblichen Anteil der Vereinsarbeit aus. Der Dachverband wurde in der Debatte als Multiplikator angesehen, durch den die Frauen Unterstützung in Erzie22 23 24 25
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Vgl. WURMS, 2001, S. 51. KASSRIEL, 1911, S. 430. MARCOUSÉ, 1911, S. 694. Vgl. KAPLAN, 1994, S. 60.
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hungsfragen bekommen sollten und der ein einheitliches Programm für die „zionistische Erziehung“ von Kindern ausarbeiten sollte.26 Doch nicht alle Beitragenden sahen Frauenvereine als die Institutionen an, in denen Wissen weitergegeben werden sollte. Besonders eine Gegnerin des Dachverbandes, Helene-Hanna Cohn, betonte zwar ebenfalls, dass jüdisches Wissen an Kinder und Jugendliche weitergegeben werden sollte, jedoch nicht in den Vereinen, sondern in „ihrer nächsten Umgebung“,27 der Familie. Im Gegensatz dazu sollte der Mann den Zionismus vor der Außenwelt vertreten und somit die „politische“ Arbeit leisten. Die Frau wäre dieser Aufgabe nicht gewachsen, da sie sich von „Gefühlsmomenten“ leiten lasse. In ihrem Artikel offenbart Cohn eine Vorstellung von Weiblichkeit, die von Emotionalität dominiert ist und gleichzeitig politisches Handeln ausschließt. Die Entgegnung auf diese Aussagen kam prompt: Sara Kassriel, ebenfalls Mitglied der JNF, reagierte mit vielen rhetorischen Fragen und dem Verweis, dass es fast überflüssig sei, auf den Artikel zu antworten, um die Autorin letztendlich ganz auszuschließen: „Fräulein Cohn steht uns offenbar recht fremd gegenüber.“28 Die Diskreditierung der Argumente durch Polemik und Ironie zeigt, dass eine Gegenposition zu der Position Cohns offenbar notwendig war, weil diese geschlechtsspezifischen Vorstellungen nach wie vor angesehen waren. Ein weiterer argumentativer Bezugspunkt der Debatte betraf den Analogieschluss von Frauen- und Männerarbeit. Diese Argumentation hatte die Funktion, Arbeit von Frauen eine gleichwertige Bedeutung zur Arbeit der Männer zukommen zu lassen. Während deren Arbeit bereits als wertvoll galt, wurde durch die Gegenüberstellung auf die bisher vernachlässigte Bedeutung der Frauenarbeit aufmerksam gemacht. Die Zielsetzung nach Gleichberechtigung hatte auch die bürgerliche Frauenbewegung formuliert, die „Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts und Gleichwertung weiblicher Familien- und männlicher Berufsarbeit“29 forderte. Diejenigen Aufgaben, die Frauen zugeschrieben wurden, konnten qua ihrer geschlechtsspezifischen Eigenschaften besser bzw. überhaupt ausgeführt werden. In der Debatte war der Mann 26 27 28 29
Vgl. LACHMANN, 1911, S. 496. COHN, 1911, S. 357. KASSRIEL, 1911, S. 430. WURMS, 2001, S. 37, Hervorhebung im Original.
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dementsprechend der „praktische, soziale, politische Zionist“, und die Frau sollte bestrebt sein, „den kulturellen und geistigen Zionismus zu pflegen und in schöner harmonischer Weise“ beide vereinen.30 Obwohl einerseits behauptet werden könnte, dass sich die Zionistinnen mit dieser Argumentation die eigene Emanzipation beschnitten haben, indem sie ihre Tätigkeiten dem politischen Spektrum entrissen, haben sie damit andererseits de facto auch Freiräume geschaffen, in denen sie zionistisch tätig sein konnten.
IV. Was b leib t – Weib lichkeiten in der Zion ist ischen Bewegung Das Ende der Debatte war inszeniert: Die Redaktion der Jüdischen Rundschau verfasste zum letzten Beitrag eine Nachschrift, in der sie die Debatte für beendet erklärte.31 Somit war es nicht mehr möglich den Streit über die Richtung des Dachverbandes in dieser Zeitschrift weiterzuführen. Durch die Analyse der Debatte konnte gezeigt werden, dass die Zionistinnen in ihren Argumentationen auf bereits etablierte Konzepte von Weiblichkeit zurückgriffen und diese reproduzierten. Dies gilt insbesondere für die Werte der Ersten Frauenbewegung, die in puncto Frauenrollen und Gleichwertigkeit die Vorlagen für die Zionistinnen darstellten. Legitimität hatte ein Argument, welches sich für oder gegen den Dachverband aussprach, erst dann, wenn es mit weiblich konnotierten Eigenschaften, Tätigkeiten oder Bereichen in Verbindung gebracht wurde. Der Einsatz dieser geschlechtlich konnotierten Bereiche war variabel und konnte für verschiedene Belange, wie die Arbeit in Palästina oder die in der Diaspora, eingesetzt werden. Wie diese Weiblichkeit aussah, war jedoch nicht eindeutig. In dieser Debatte kommen zwei Entwürfe von Weiblichkeit – Männlichkeit(en) konnten aufgrund des Platzmangels nicht ausführlich behandelt werden – zum Vorschein: Der eine Entwurf betont die fürsorgliche Weiblichkeit und entsagt der „öffentlichen“ Sphäre. Der andere Entwurf schließt diese öffentliche Sphäre ein, ohne jedoch männlich konnotierte Eigenschaften 30 Beide Zitate von WAGNER-TAUBER, 1911, S. 333. 31 Vgl. die Anmerkung der Redaktion zu dem Artikel von LACHMANN, 1911, S. 496.
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zu übernehmen, und integriert ebenfalls Fürsorge. Letztere gender identity war in Hinblick auf das Ziel der Protagonistinnen attraktiver, da der Dachverband für diese Frauen ein weiterer Bewegungsraum in der Zionistischen Bewegung gewesen wäre. Eine politisch aktive Frau in der Zionistischen Bewegung zu sein bedeutete, das hat die Untersuchung der Debatte gezeigt, separierende Organisationen zu fördern und somit auch das Risiko einzugehen, für diesen Schritt kritisiert und letztendlich in den geplanten Handlungen eingeschränkt zu werden. Genau dies geschah, jedoch nicht innerhalb der Debatte, sondern auf der institutionellen Ebene. Gemäß dem diskutierten Vorschlag, den Dachverband auf dem zehnten Zionistenkongress zur Abstimmung zu bringen, arbeiteten die Teilnehmerinnen der separaten Frauenversammlung, die während des Kongresses zusammenkam, eine Resolution aus. Vorgetragen wurde diese von der Referentin Miriam Schach, der ersten Rednerin auf einem Zionistischen Kongress, nach ihrem Referat über „Frauenarbeit im Zionismus“: Sowohl der Dachverband für zionistische Frauenvereine als auch die Zentralstelle für zionistische Frauenarbeit sollten vom Zionistischen Kongress begrüßt und in der Zukunft gefördert werden.32 Die Resolution wurde vom Kongress einstimmig angenommen. Die erneute Legitimation der Zentralstelle, die bereits ein Jahr vorher eingerichtet worden war, deutete bereits auf deren mangelnde Akzeptanz hin, weswegen die Mitarbeiterinnen betonten, dass es ihnen nicht um eine Loslösung der Frauen von der Bewegung ginge, sondern im Gegenteil der Frauenanteil in der Bewegung gestärkt werden solle. Sowohl die Aussagen der Zentralstelle als auch die der befürwortenden Debattenteilnehmerinnen wurden augenscheinlich weniger wertgeschätzt – beides, sowohl der Dachverband als auch die Zentralstelle, wurden schlussendlich von der zionistischen Leitung verhindert.33 Das Konzept von Weiblichkeit, welches politisches Handeln – synonym zu den Handlungen von Männern – einschloss, fand somit in der Zionistischen Bewegung des Kaiserreichs im Debattenjahr 1911 keine Anerkennung. Erst zwei Jahre später kam der Dachverband doch noch zur Umsetzung – diesmal betonten die Aktivistinnen, dass dies keiner weiteren Legitimation bedürfe. Die Zionistinnen erreichten ihr
32 Vgl. SCHACH, 1911, S. 232. 33 Vgl. OR, 2009, S. 150-152.
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Ziel, wenn auch mit Umwegen, kamen jedoch wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges nicht zur weiteren Umsetzung.
Literatur Quellen BENNATHAN, LEVI, Frauenorganisation?, in: Jüdische Rundschau 39 (29.9.1911), S. 465-466. COHN, HELENE-HANNA, Wider die Frauenorganisation, in: Jüdische Rundschau 31 (4.8.1911), S. 357. KASSRIEL, SARA, Die Frauenorganisation, in: Jüdische Rundschau 36 (8.9.1911), S. 430. LACHMANN, EDITH, Zur Frauenfrage, in: Jüdische Rundschau 37 (15.9.1911), S. 441. MARCOUSÉ, SOPHIE, Die Frauenorganisation auf dem Kongreß, in: Die Welt 29 (21.7.1911), S. 694-695. MAYER-LÜBKE, HEDWIG, Eine Anregung an unsere Frauenvereine, in: Jüdische Rundschau 23 (9.6.1911), S. 261. SCHACH, MIRIAM, Referat über zionistische Frauenarbeit, gehalten auf dem 10. Zionistenkongress, veröffentlicht in: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des X. Zionisten-Kongresses in Basel (9.-15.8.1911), hg. vom ZIONISTISCHEN AKTIONSKOMITEE, Berlin/Leipzig 1911, S. 219-233. WAGNER-T AUBER, LINA, Zionistische Frauenarbeit, in: Jüdische Rundschau 29 (21.7.1911), S. 333-334.
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Reflexion des Beitrags von Christine Bovermann MICHAELA MARIA HINTERMAYR Christine Bovermann widmet sich in ihrem Beitrag dem diskursiven Aushandlungsprozess zur Gründung eines globalen Dachverbandes zionistischer Frauenvereine. Die von ihr analysierte Debatte wurde 1911 im deutschen Kaiserreich geführt und war vorerst nicht von Erfolg gekrönt. Die Gründung des projektierten Dachverbandes gelang schlussendlich zwei Jahre später. Allerdings handelte es sich hierbei nur um eine formelle Gründung, da der Verband aufgrund des Ersten Weltkrieges keine Aktivitäten aufnahm. Bovermann zeichnet in ihrer Analyse des Debattenverlaufs anhand der von Willibald Steinmetz angeregten Debattengeschichte nach, welche neuen Sagbarkeiten hervorgebracht wurden. Es wäre von Interesse, über den Rahmen der Debatte, den Bovermann hier schlüssig wählt, hinauszugehen und zu analysieren, welche konkreten historischen Handlungen sich in dem Raum ergaben, den die Debatte eröffnet hat. Bovermann wählt einen separierten Zugang zum Gegenstand, um die verhandelten Geschlechterentwürfe herauszuarbeiten. Sie arbeitet in ihrer Analyse mit dem Butler’schen Geschlechterbegriff, welcher von einer grundsätzlichen Konstruiertheit jeglicher „gender identities“ ausgeht. Wobei an dieser Stelle anzumerken ist, dass ihr Fokus vor allem auf den für Frauen bereitgehaltenen bzw. von diesen aktiv (re-) produzierten bzw. verschobenen Anforderungen an eine weibliche Identität liegen. Hier liegen nun auch die Chancen und Risiken ihres Zuganges. Mit dem starken Fokus auf Geschlecht werden zwar politisch aktive Zionistinnen in die Geschichte als handlungsmächtige Ak109
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teurinnen eingeschrieben. Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr, dass so die Bezüge zu anderen relevanten Kategorien der Differenz, welche Geschlecht strukturieren und bedingen, vernachlässigt werden. Die gewählte Debatte wurde von einer Auffassung von Geschlecht dominiert, welche Frauen und Männern vor allem einen komplementären Geschlechtscharakter attribuierte. Die Verortung von Frauen als der Sphäre der Reproduktionsarbeit und Kindererziehung zugehörig wurde diskursiv bestätigt und gleichzeitig auf der Ebene der Praktiken unterlaufen. Die Zionistinnen traten öffentlich als Sprecherinnen für sich und ihre Anliegen auf und organisierten politische Zusammenkünfte. Außerdem sammelten sie Gelder zur Unterstützung von ZionistInnen in Palästina. Dieses Eintauchen in die explizit politische Sphäre, welche normalerweise den Männern zugeschrieben wurde, lässt auch Rückschlüsse auf die Überschreitung des Konzepts des „Jüdischen Hauses“ erahnen. Wenn die von Bovermann behandelte Debatte in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden soll, bieten sich Schnittstellen zu mikro- und globalgeschichtlichen Arbeiten, die sich für jüdische (zionistische) Frauenvereinstätigkeit oder die transnationalen Beziehungen dieser Vereine mit ZionistInnen in Palästina interessieren. Weitere Schnittstellen ergeben sich auch zu Analysen, welche die Heterogenität der Zionistinnen bzw. der zionistischen Frauenvereine fokussieren und nach Verbindungen zur Zweiten (Sozialistischen) Internationale bzw. den Sozialistischen Frauenkonferenzen fragen.
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Die Erweiterung des binären Geschlechtermodells und die Radikalisierung der Politik im deutschen Kaiserreich NORMAN DOMEIER Das „dr itte Gesch lecht“ und d ie deut sche Polit ik Die Belle Époque war das Zeitalter der Prestigepolitik. Doch Prestige spielte nicht nur, wie bisher vor allem erforscht, in den angespannten internationalen Beziehungen eine zentrale Rolle, sondern die Respektabilität von Individuen und sozialen Gruppen fungierte auch in innergesellschaftlichen Konfliktlinien als entscheidendes Kapital im Sinne Pierre Bourdieus. Der Artikel will rekonstruieren, wie durch den Eulenburg-Skandal (1906-1909) Gender-Kategorisierungen, die zuvor nur in Spezialdiskursen der noch ganz jungen Sexualwissenschaft ventiliert wurden, vermittels Prestige- und Respektabilitätszuschreibungen in die allgemeine Öffentlichkeit und auf das Feld des Politischen transponiert wurden. Der Diskurs um Männlichkeit und Nation sticht dabei heraus. Er soll in diesem Beitrag im Mittelpunkt des Interesses stehen, denn das Geschlecht der Nation kann, wie Todd W. Reeser bemerkt hat, ebenso frei und beweglich imaginiert werden wie das Geschlecht des Individuums. Aus der Perspektive einer Kulturgeschichte der Politik kann die Männlichkeit bzw. Unmännlichkeit des jungen deutschen Nationalstaa-
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tes sogar als zentrale Kategorie des Politischen zwischen dem DeutschFranzösischen Krieg 1870/71 und dem Ende des Nazi-Regimes 1945 betrachtet werden.1 Die Untersuchung lehnt sich dabei an Connells und Messerschmidts kritische Bestandsaufnahme des Konzeptes hegemonialer Männlichkeit an. Frühe Kritik an diesem Konzept stellte die Frage dar, wer genau hegemoniale Maskulinität repräsentiere. Dem Einwand, dass gerade „große Männer“, Persönlichkeiten, die über bedeutende politische und soziale Macht verfügten, selten idealtypische Männlichkeit verkörperten, soll dabei nachgegangen werden. In diesem Sinne werden die im Fokus der kurzen Untersuchung stehenden Persönlichkeiten aus der Führungsschicht des späten deutschen Kaiserreiches auf die durch sie ausgelösten Wechselwirkungen von Gender-Dynamik und Klassenzugehörigkeit in der kritischen Öffentlichkeit der modernen Massenmedien untersucht. Und zwar mit einem vorwiegend separierten Ansatz, der Gender als zentrale Untersuchungskategorie verfolgt, d.h. ihre Relevanz und Wirkmächtigkeit in allen Aspekten der historischen Fallstudie nachzuweisen und zu interpretieren sucht.2 In der geschichtswissenschaftlichen Praxis dürfte sich in den meisten Fällen, je nach Quellenlage und Erkenntnisinteresse, die Verfolgung des integrierten Ansatzes anbieten. Insbesondere in historischen Fallstudien, die ansonsten den Gender-Aspekt ganz ausblenden würden, ist seine Einbeziehung in ein Bündel von Untersuchungskategorien (etwa die politische, soziale, kulturelle, wirtschaftliche, militärische Dimension) ein Gewinn. Entscheidend für beide Zugriffe ist, diachrone und synchrone Gegenläufigkeiten und Paradoxien herauszuarbeiten und zu erklären, so wie dies in jüngster Zeit – in Abgrenzung zu simplizistischen Erfolgs- oder Verfallsgeschichten – von der politischen Kulturgeschichte der Sexualität unternommen wurde.3 Das thematische Untersuchungsgebiet selbst, das bereits George Mosse mit seinen Pionierstudien erkundet hat,4 kann heute mehr denn je als ein spannendes Feld für alle ForscherInnen gelten, die auf interdiszplinäre Weise an den Wechselwirkungen von Nation und Maskulinität interessiert sind.5 1 2 3 4 5
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Vgl. REESER, 2010, S. 179-180. Vgl. CONNELL/MESSERSCHMIDT, 2005, S. 832, 838-839. Vgl. DOMEIER, 2010, HERZOG, 2011. Vgl. MOSSE, 1985, MOSSE, 1997, S. 91. Eine gute Bibliographie ist DICKINSON/WETZELL, 2005.
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In diesem Beitrag wird der separierte Ansatz verfolgt, da Gender – in der historischen Analyse des konkreten Falles – alle übrigen Untersuchungskategorien überlagert. Es erscheint dennoch gewinnbringend, den Ansatz mit wenigstens einem weiteren konzeptionellen Zugriff zu verbinden, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, die idealerweise interdisziplinär relevant sind. Hierfür wurde die politische Kulturgeschichte gewählt, die in Synergie mit Gender zu einer politischen Kulturgeschichte der Sexualität erweitert werden kann.
Der „deutsche Skandal“ und d ie Paradoxien einer polit ischen Ku lturgesch ichte der Sexualität Ist der Eulenburg-Skandal heute vor allem als erster großer Homosexualitätsskandal des 20. Jahrhunderts in Erinnerung, wurde er von den Zeitgenossen viel umfassender als Gegenstück zur französischen Dreyfus-Affäre verstanden. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass auch durch den „deutschen Skandal“ drängende politische, soziale und kulturelle Konfliktlinien der Epoche repräsentativ verhandelt wurden, von denen das Verhältnis von Homosexualität und Nation die extremste Form im Aushandlungsprozess national erwünschter Männlichkeit darstellte.6 In seiner europaweit beachteten Politik- und Kulturzeitschrift Die Zukunft unterstellte Maximilian Harden im Herbst 1906 dem Fürsten Philipp Eulenburg, bester Freund und zeitweise wichtigster Berater Kaiser Wilhelms II., das Haupt einer homosexuellen Clique innerhalb der Reichsleitung zu sein. Harden, einem der bedeutendsten, aber auch umstrittensten Publizisten und Intellektuellen der damaligen Zeit, gelang es durch den Skandal, ein großes Narrativ wilhelminischer Dekadenz zu popularisieren: Danach hatte die Eulenburg-Kamarilla bereits 1890 den Sturz Bismarcks bewerkstelligt, seither den Monarchen vom Volk abgeschirmt und durch eine von übersteigerter Friedensliebe bestimmte Politik das Deutsche Reich in die internationale Isolation manövriert. Mit dem nach Eulenburgs Schloss bei Berlin 6
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auch „Liebenberger Tafelrunde“ genannten Freundschaftsnetzwerk7 war für einen Großteil der deutschen, zunehmend aristokratiekritischen Öffentlichkeit ein Sündenbock für die zahlreichen politischen Fehlleistungen der Herrschaft Wilhelms II. gefunden worden. Vor allem in der Frage, wie das Deutsche Reich nach 1900 in die internationale Isolation geraten war, gelang es Maximilian Harden durch den Eulenburg-Skandal einen Deutungsrahmen vorzugeben, in dem sich die europäische Presse über Jahre bewegte. Er erklärte die Eulenburg-Kamarilla zur Friedenspartei innerhalb der Reichsregierung und machte dies plausibel, indem er eine angebliche Verbindung zwischen einer den nationalen Interessen Deutschlands schädlichen Friedensliebe und Homosexualität herstellte: Die „träumen nicht von Weltenbränden, haben’s schon warm genug“, so formulierte er den Zusammenhang in seiner Zeitschrift Die Zukunft.8 In Politik, Diplomatie und Militär des Auslandes, wurde der Publizist Ende 1907 vor Gericht deutlich, denke man über die Staatsführung des Deutschen Reiches folgendermaßen: „Das sind Homosexuelle […] und deshalb brauchen wir politisch keine Furcht zu haben“. 9 Weil die Mitglieder der Eulenburg-Kamarilla homosexuell waren, mussten sie pazifistisch sein, weil sie pazifistisch waren, mussten sie homosexuell sein, so die Konstruktion dieser Korrelation zwischen Politik und Sexualität. Betrieben wurde dadurch nichts anderes als die bewusste Exklusion homosexueller und aristokratischer Männer aus der bürgerlichimperialistischen Ideologie einer globalen Expansion Deutschlands. Bei den Alldeutschen, deren Ideologie in der Weimarer Zeit zum Teil von der nationalsozialistischen Bewegung aufgesogen wurde, figurierte der „ganze Mann“ stets als bürgerliches Idealbild gegenüber den „halben Männern“ der abgelebten Aristokratie.10 Michel Foucault hat argumentiert, der Homosexuelle sei im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Gesamtpersönlichkeit geworden: „Nichts 7 8
Die Freundschaftsstrukturen der Liebenberger finden sich in HULL, 1982. HARDEN, Monte Carlino, in: Die Zukunft 59, 13. April 1907, 39–50. Zur Verbindung mit dem Begriff „warme Brüder“, der bereits im 19. Jahrhundert für gleichgeschlechtlich liebende Männer verwendet wurde, siehe das Urteil im 2. Moltke-Harden-Prozess, BLHA [Brandenburgisches Landeshauptarchiv] 557. 9 Schlussrede Hardens im 2. Prozess, 45ff., BLHA 557. 10 Vgl. DOMEIER, 2010, S. 31-41.
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von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität.“11 Dieses Wirkprinzip ist auch in Hardens publizistischer Kampagne nachweisbar: als Waffe im Kampf um die Re-Maskulinisierung der deutschen Politik, die vorgeblich dekadenten Aristokraten entwunden werden sollte. Der europaweit bekannte Journalist lebte dabei selbst keinen Homosexuellenhass aus, wie er sich damals allgemein zu verbreitet begann, er nutzte ihn nur skrupellos, um auch aus heutiger Sicht legitime politische Ziele zu erreichen, nämlich die Reste des Feudalismus in Deutschland abzuschaffen. Mit dem Angriff auf eine homosexuelle Kamarilla in der Führungsspitze des Kaiserreiches gelang es diese, die jenseits des Zugriffs von Exekutive, Legislative und Judikative lag, mit journalistischen Mitteln sexualmoralischen Kategorien zu unterwerfen: Der Vorwurf der Homosexualität brachte zum einen die äußerst unpopuläre Idee monarchischer Selbstherrschaft, eines immer wieder angestrebten „persönlichen Regiments“ Kaiser Wilhelms II., endgültig in Verruf. Eulenburg galt als ihr wichtigster Repräsentant und Impresario. Zum anderen zielte die Unterstellung einer homosexuellen Verschwörung innerhalb der Reichsleitung von Harden darauf, in der deutschen Außenpolitik, die soeben in der Marokko-Krise von 1905/06 ein Fiasko erlebt hatte, eine radikale Kehrtwende durchzusetzen. Jingoistische und chauvinistische Mittel und Absichten konnten also durchaus auch demokratischen Zielen dienen, eine Ambivalenz und Gegenläufigkeit, wie sie für die politische Kulturgeschichte der Sexualität im 20. Jahrhundert typisch scheint.12
Die Männ lichkeit skrise und das Ko mmen eines großen Krieges Für eine politische Kulturgeschichte ist der genaue Blick auf die Ambivalenzen des Eulenburg-Skandals wichtig, denn um 1900 war in vielen europäischen Gesellschaften die Mentalität verbreitet, in einer Krise der Maskulinität zu stecken. In Frankreich waren entsprechende Ängste und Befürchtungen in der gerade erst abklingenden Dreyfus-Affäre kulmi11 FOUCAULT, 1977, S. 58. 12 Vgl. HERZOG, 2013.
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niert und hatten durch die ausführliche Skandalberichterstattung auf die gesamte europäische Öffentlichkeit ausgestrahlt.13 Für Deutschland hat George Mosse anhand der Debatten über Masturbation als die militärische Tüchtigkeit mindernde und damit die Nation gefährdende Sexualpraktik gezeigt, wie die Kriegssehnsucht als eine invitation to manliness verstanden werden konnte.14 Folgt man Todd Reeser, scheint es ein Muster zu geben, wonach die Kriegssehnsucht und ihre Legitimation eng mit dem Ausdruck einer spezifisch nationalistischen Männlichkeit verbunden ist. Viele Menschen wollen demnach Krieg, weil sie den Feind als effeminiert wahrnehmen und/oder weil sie die Wahrnehmung ihrer eigenen Nation als effeminiert fürchten.15 Auch während des Eulenburg-Skandals machte sich der Unmut über das politische Spitzenpersonal des Deutschen Reiches vor allem in Männlichkeitsbeschwörungen Luft: „Um den Deutschen Kaiser sollen und müssen ganze Männer sein“, so wurde Hardens Handeln von seinem Rechtsanwalt Max Bernstein gerechtfertigt.16 Das Ideal des „ganzen Mannes“ war ein regelrechter Fetisch wilhelminischer Politik und wurde seit Jahren als Antidot gegen die empfundene Effeminisierung des modernen Mannes gepriesen.17 In diese zeittypische Dekadenzvorstellung der Maskulinität passten sich die homosexuellen Politiker der Eulenburg-Kamarilla hervorragend ein. „Lauter gute Menschen. Musikalisch, poetisch, spiritistisch; so fromm, dass sie vom Gebet mehr Heilswirkung erhoffen als von dem weisesten Arzt; und in ihrem Verkehr, mündlichen und brieflichen, von rührender Freundschaftlichkeit.“18 In ihrem Fall zeitigte Unmännlichkeit, so Harden, jedoch politische Wirkung. „Das alles wäre ihre Privatangelegenheit, wenn sie nicht zur engsten Tafelrunde des Kaisers gehörten und […] von sichtbaren oder unsichtbaren Stellen aus Fädchen spönnen, die dem Deutschen Reich die Atmung erschweren.“19 Gemeint war mit dieser Sexualdiagnose wilhelminischer Politik nicht allein der kleine transna13 Zum Bewusstsein einer Krise der Maskulinität unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges BERENSON, 1992, S. 169-207, FORTH, 2004. 14 Vgl. MOSSE, 1985, S. 34. 15 Vgl. REESER, 2010, S. 177. 16 FRIEDLÄNDER, 1910, S. 4086-88. 17 Vgl. KESSEL, 2003, S. 1-31. 18 HARDEN, „Praeludium“, Die Zukunft (17. November 1906), 265-266. 19 EBD.
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tionale Freundeskreis um Eulenburg, zu dem neben deutschen Aristokraten auch ausländische Spitzendiplomaten wie etwa der französische Botschaftsrat in Berlin, Raymond Lecomte, zählten. Dies war, wie bereits der Historiker Wolfgang Mommsen festgestellt hat, eine Herausforderung des Establishments des späten Kaiserreichs.20 Inhaltlich wie stilistisch ähnelte die Argumentation Hardens dabei derjenigen führender Alldeutscher wie Ernst Graf Reventlow und Heinrich Claß, die die Erbmonarchie abschaffen, ein „Volkskaisertum“ an ihre Stelle setzen und die müden, abgelebten Aristokraten in den Schlüsselstellungen der Macht durch „ganze Männer“ ersetzen wollten.21 Gedacht haben dürften sie dabei vor allem an sich selbst, denn wie sie blieb auch Harden eine Definition des neuen „vollmännlichen“ Politikertypus schuldig. Die Kritik an dessen Gegenbild, dem weichlich-homosexuellen Höfling à la Eulenburg, die sexualmoralische Kategorisierung von Politik generell, übte jedoch selbst auf Vorzeigedemokraten einen gewaltigen Reiz aus. „Nicht Maßregeln brauchen wir, nicht Kabinettsorders, sondern Männer, andere Männer, ganze Männer!“, forderte der wegen zu demokratischer Tendenzen aus der Armee entlassene Oberst Richard Gädke, damals ein regelmäßiger Kolumnist des liberalen Berliner Tageblattes.22 Die Pressekampagne gegen eine aristokratische Kamarilla als Teil einer homosexuellen Internationale verfing auch wegen einer in bellizistischer Stimmung für Politiker fatalen Dialektik, wie sie nach der Marokko-Krise 1905/06 im Deutschen Reich herrschte. In ihr wurde Friedenswille schnell als Unmännlichkeit, Unmännlichkeit als Pazifismus gewertet. Ein Muster, das von der deutschen Presse mit der Karikatur Reichskanzler Bernhard von Bülows als „Schönwetterkanzler“, „schöner Bernhard“ oder „Mann mit dem Grübchen im Kinn“ bereits seit einigen Jahren eingeübt worden war und von Harden mit dem Bild des Kaisers als „Wilhelm der Friedliche“ und „Guillaume pacifiste et timide“ noch zugespitzt wurde, um die nach-bismarckische Außenpolitik in toto als unmännlich zu charakterisieren.23
20 Vgl. MOMMSEN, 2001, S. 279-288. 21 Zu den Alldeutschen allgemein: CHICKERING, 1984. 22 Berliner Tageblatt, „Wo sind die Schuldigen?“, von Oberst a.D. Gädke, 30. Oktober 1907, BAL 7837. 23 HARDEN, „Monte Carlino“, in: Die Zukunft, 13. April 1907, S. 44-45.
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Anders als in früheren gendergestützten Zuschreibungen an die Politik, wie sie seit der Renaissance etwa in satirischen Flugblättern und Karikaturen der Herrschenden verbreitet waren, stand mit Politisierung der Homosexualität, des „dritten Geschlechts“, jedoch eine neue Qualität jenseits der binären Dichotomie maskulin/feminin bereit. Hier zeigte sich eine Bresche in der politischen Kultur des späten Kaiserreichs, in die mit dem Rammbock der Homophobie nachgestoßen werden konnte, die sich parellel zur Herausbildung eines homosexuellen Selbstbewußtseins formierte.24 Die Vernichtungskraft einer homosexuell konnotierten Moralisierung des Politischen begrüßte Maximilian Harden denn auch mit Worten ostentativ männlicher Härte: „Wir sind in langer Friedenszeit eines mit Treibhausgeschwindigkeit wachsenden Wohlstandes zu wehleidig geworden.“ Die Beseitigung Homosexueller aus der Politik, „diese Blutreinigung“, werde dem Deutschen Reich in seinen bevorstehenden Kämpfen nützen.25 Zur alten Furcht vor Effeminität in der Politik, so lässt sich festhalten, war die neue Angst vor Homosexualität verschärfend hinzugetreten, um eine – wie auch immer geartete – Maskulinisierung der Politik zu propagieren. Nahrung erhielt diese zum Krieg treibende Spirale verletzten männlichen Nationalstolzes durch den transnationalen Prestigewahn der Belle Époque. Für viele argwöhnische Nachbarn des Kaiserreiches, insbesondere für Frankreich, hatten deutsche Überheblichkeit und Großmannsucht durch den Eulenburg-Skandal endlich einen Dämpfer erhalten. Die Männlichkeit der „allerhöchsten Kreise“, der Generalität, der Elitetruppe Gardes-du-Corps erschien kompromittiert,26 der MoltkeMythos, von dem das mit Blut und Eisen gegründete Reich von 1871 immer noch zehrte, verblasste nun rasch, da General Kuno Graf Moltke, der Stadtkommandant von Berlin, als enger Freund Philipp Eulenburgs dargestellt wurde.27 24 Zu dieser Entwicklung siehe die Beiträge in ZUR NIEDEN, 2005. 25 Berliner Lokalanzeiger, „Harden über die Angelegenheit des Fürsten Eulenburg“, 7. Mai 1908, BAL 7838. 26 Le Gaulois, „Vertige Royal“, von Arthur MEYER, 28. Oktober 1907, PAAA. Vgl. JEISMANN, 1992. Hinweise zu (homosexuellen) Männlichkeitszuschreibungen in der preußisch-deutschen Armee bei MACDONNEL, 1997, S. 62-69. 27 Zum militärischen Gründungsmythos des Kaiserreiches BECKER, 2001, S. 292-376.
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Dass von den Skandalenthüllungen auch im Ausland auf moralischen Verfall und abnehmende Schlagkraft einer ganzen Armee und Nation geschlossen wurde, entsprach nur dem gängigen, zu jener Zeit überall in Europa herrschenden nationalistischen Prestigedenken. „Die verehrtesten Namen“, so durfte Arthur Meyer triumphieren, der Chefredakteur des chauvinistischen Gaulois, „von denen sich einige innig mit dem Kolossalwerk der Reichsgründung verbinden, dem allgemeinen Spott, der Volkswut gewissermaßen als Fraß hingeworfen, der Name des Herrschers mitten in diesem Schlamm verkündet: Welche Schmach und welche Erniedrigung an einem Tage! Ah! Man wird es nicht mehr wagen, vom modernen Babylon zu reden, das der große Richard Wagner in trivialen Strophen besang, als wir [1870/71] besiegt und gedemütigt am Boden lagen!“ 28
Frankreichs kriegstreiberische Zeitungen, Blätter wie Libre Parole und Intransigeant mit ihren Edelfedern Éduard Drumont und Henri Rochefort, griffen zielgerichtet die Homosexualität des Deutschen Reiches an, wenn sie dessen „ersten Offizier“ Wilhelm II. mit Napoleon III. verglichen, der auch le bien-aimé genannt worden sei – allerdings von Frauen, die ihn als Helden siegreicher Kämpfe bewunderten, während der Deutsche Kaiser, ohne je in Schlachten gezogen zu sein, von Männern wie Eulenburg und Moltke diesen Kosenamen erhalten habe.29 Signifikanterweise mischten sich Spott über die verletzte nationale Männlichkeit Deutschlands und kriegerische Revanchegelüste: „Sedan ne pas encore vengé“, erinnerte Arthur Meyer seine Landsleute.30 Diese Verbindung von zugeschriebener Unmännlichkeit/Homosexualität und 28 Le Gaulois, „Vertige Royal“, von Arthur MEYER, 28. Oktober 1907, PAAA. Tatsächlich wurde auch reziprok, etwa am Beispiel der Fremdenlegion, die in homosexueller Hinsicht „berüchtigt“ sei, auf die Verbreitung von Homosexualität und militärischer Dekadenz in Frankreich hingewiesen. Augsburger Abendzeitung, „Nach zwei Sensationsprozessen“, 1. November 1907, BAL 7837. Zur Mentalität nationalistischen Bellizismus der Klassiker DIGEON, 1959; SCHUMANN, 2000, S. 113-146. Allgemein SCHIVELBUSCH, 2001; GAY, 1993. 29 Libre Parole und Intransigeant zit. in Augsburger Abendzeitung, „Beleidigungsprozess Moltke-Harden“, 29. Oktober 1907, BAL 7836. 30 Le Gaulois, „Vertige Royal“, von Arthur MEYER, 28. Oktober 1907, PAAA.
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militärischen Rachegefühlen wurde in der deutschen Öffentlichkeit sehr aufmerksam registriert. „Das Ausland erwägt triumphierend und skeptisch die deutsche Wehrkraft und spielt von neuem mit Gelüsten, die sich bisher aus Furcht vor der Wucht unseres Armes scheu verkrochen“, kommentierte die der Schwerindustrie nahestehende RheinischWestfälische Zeitung die militärpolitischen Folgen des EulenburgSkandals; eine in vielen deutschen Blättern vertretene Meinung.31 Bei all denen, die sich bis dahin im Glauben gewiegt hatten, Heer und Offizierkorps Preußen-Deutschlands würden „von der ganzen Welt als Muster männlicher und soldatischer Fähigkeiten“ bewundert und vom „Erbfeind“ Frankreich gefürchtet, sorgten solche Provokationen keineswegs für Selbstbescheidung, sondern für militärische Radikalisierung.32 Wer aber „bei unseren Gegnern in der Welt die Meinung hervorruft, dass das deutsche Offizierkorps pervers und verrottet sei, beschmutzt das eigene Nest und erweckt falsche Vorstellungen, die dem am verhängnisvollsten werden könnten, der sie sich zu eigen macht“, warnte die der Reichsregierung nahestehende Kölnische Zeitung alle „Reichsfeinde“ im In- und Ausland.33 Die Drohgebärde nach außen schloss für viele deutsche Journalisten jedoch harsche Kritik an der eigenen Armee nicht mehr aus, die jetzt von Homosexuellen gesäubert werden sollte, um sie wieder kriegstüchtig zu machen.34 Die antisemitische Presse forderte, bei der Gelegenheit auch gleich alle jüdischen Offiziere auszusondern.35 Beides ist als Versuch anzusehen, durch Exklusionsprozesse verloren geglaubte Geschlechter-Eindeutigkeiten wiederherstellen zu können. Parteiübergreifende Einigkeit bestand in der Tat darüber, dass ein Homosexueller absolut untauglich zum Offizier war, „der auch in seiner moralischen 31 Rheinisch-Westfälische Zeitung, „Der Kaiser und die Kamarilla“, 27. Oktober 1907, BAL 7836. Der Tag, „Militärische Betrachtungen über den Prozess Graf Moltke-Harden“, 3. November 1907, GStA 49839. 32 Kölnische Volkszeitung, „Der Reichstag und die Folgerungen aus dem Moltke-Harden-Prozess“, 14. November 1907, BAL 7837. 33 Kölnische Zeitung, „Der Prozess Moltke-Harden“, 28. Oktober 1907, BAL 7836. 34 Eine Kritik am Zustand der Armee nach dem Skandal ist STEIN, 1909, S. 72-85. 35 Kreuzzeitung, 27. Oktober 1907, BAL 7836. Die antisemitische Forderung mit Verweis auf das Wiener Volksblatt von Neue Bayerische Landeszeitung, „Die große Kloake“, 31. Oktober 1907, BAL 7837.
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Lebenshaltung dem Volk in Waffen, das durch seine Schule geht, ein Muster und Beispiel sein soll“; eine der staatstragenden Kernideologien des Kaiserreiches wurde auf diese Weise durch die Bedrohung der Homosexualität revitalisiert.36 Beflügelt wurde zudem ein sprachlich kaum noch verbrämter Bellizismus. Große Teile des rechten politischen Spektrums plädierten angesichts der „moralischen Wunde am deutschen Volkskörper“, als die sie den Eulenburg-Skandal empfanden, für eine Gesundung der Nation durch einen „frischen, fröhlichen Krieg“.37 Derselbe aufgeregte Ton griff schließlich auch in der Staatsführung des Deutschen Reiches um sich. Mit Feuer und Schwert möge er „solche ekelhaften Geschwüre“ ausbrennen, wie sie jetzt durch den Skandal aufgedeckt worden sind, forderte Reichskanzler Bülow den Kaiser auf. „Die Armee ist zu gesund, und unser Volk ist in seinem innersten Kern zu gesund, als dass der Reinigungsprozess nicht bald vollzogen sein sollte.“ Selbst der von Kriegstreibern als friedenssüchtiger „Schönwetterkanzler“ geschmähte Bülow leitete aus der öffentlichen Erregung des Eulenburg-Skandals kriegerische Optionen ab: „Die skandalösen Enthüllungen, welche jetzt das sensationslüsterne Publikum beschäftigen“, schrieb er Wilhelm II., „werden wir am besten dadurch überwinden, dass wir nach innen und außen eine feste und würdige Politik machen, welche die Nation aus diesem Schlamme zu großen Zielen emporhebt.“38
Krieg war damit noch lange nicht unausweichlich geworden. Aber der Eulenburg-Skandal erweiterte den Erwartungshorizont des Kriegerischen39 und stärkte ein Weltbild, in dem er als Mittel, ja Notwendigkeit für die moralische Reinigung eines im Hinblick auf die Männlichkeit der Nation dekadent gewordenen Reiches figurierte. 36 Tägliche Rundschau, „Die Stellung der Armee zum Moltke-HardenProzess“, von General Karl Litzmann, 31. Oktober 1907, BAL 7837. Vgl. FREVERT, 1997, S. 145-173, FUNCK, 2002, S. 69-77. 37 Augsburger Abendzeitung, „Beleidigungsprozess Moltke-Harden“, 29. Oktober 1907, BAL 7836. 38 Bülow an Wilhelm II., 26. Oktober 1907. PAAA. 39 „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ als historische Kategorien bei KOSELLECK, 1989, S. 349-375. Zu späteren moralischen Kriegsrechtfertigungen FLASCH, 2000. Zeitgenössisch KELLERMANN, 1915.
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Ho mo sexuellenangst und sexuell konn otier te Polit ik im 20. Jahrhundert Der Eulenburg-Skandal erregte die Phantasien der wilhelminischen Gesellschaft, gerade weil sie sich in Spannungsverhältnissen von Ancien Régime und bürgerlicher Moderne, von Offizialnormen und Tabus einerseits, sexuellen Aufklärungsbestrebungen und Lebensreformbewegungen andererseits bewegte. 40 Doch trotz der starken sittlichen Liberalisierungstendenzen am Beginn des 20. Jahrhunderts war nach herrschenden Moralvorstellungen ein der Homosexualität auch nur Verdächtiger solange „moralisch vernichtet“ bis die Denunziation widerlegt und Satisfaktion erlangt wurde. „Ein kränkenderer Vorwurf als der anormalen sexuellen Empfindens kann gegen einen Mann unmöglich erhoben werden“, meinten selbst die liberalen Münchner Neuesten Nachrichten. „Er ruiniert psychisch und gesellschaftlich.“41 Im Hinblick auf die zunehmend aggressive und unberechenbare Außenpolitik des wilhelminischen Deutschland nach 1908/09 kann festgehalten werden, dass der Eulenburg-Skandal dazu beitrug, den gesellschaftlichen und politischen Wertekodex mit Hilfe allzu rasch popularisierter und für den politischen Gebrauch nicht selten bewusst entstellter Geschlechterkonstruktionen, wie sie noch innerhalb der jungen Sexualwissenschaft kontrovers diskutiert wurden, zu radikalisieren. In erster Linie bedeutete dies, dass Homosexualität in der deutschen Massenpresse als Erklärungsmuster und Deutungskategorie für Nachgiebigkeit, Kooperationsbereitschaft und Friedensliebe nutzbar gemacht wurde; alte, nicht zuletzt diplomatische Tugenden, die nun durch die begriffliche Gleichsetzung mit Effeminität und Unmännlichkeit gezielt delegitimiert wurden. Der Eulenburg-Skandal fungierte als Katalysator dafür, dass sich das bourgeois-imperialistische Verständnis von Maskulinität von zunehmend marginalisierten aristokratischen Spielarten von Männlichkeit löste und endgültig hegemonial wurde. Ohne einen Determinismus auf „1914“ hin zu behaupten, stärkte der Eulenburg-Skandal so durch 40 Ein deutliches Indiz ist die Verbreitung von Pornographie. Vgl. STARK, 1981, S. 200-229. 41 Münchner Neueste Nachrichten, „Das Urteil im Prozess Moltke-Harden“, 4. Januar 1908, BAL 7838.
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seine symbolische Entmannung prestigeträchtiger Symbole des Kaiserreiches ein Weltbild, in dem ein großer Krieg als „reinigendes Gewitter“42 für die Maskulinität der Nation herbeigesehnt wurde. So hoffte etwa die New Yorker Staatszeitung, nun werde in der Außenpolitik des Deutschen Reiches endlich wieder „die Fanfare des Kürassierstiefels“ erschallen. Rundheraus empfahl das wichtige Organ der Auslandsdeutschen in den USA einen „frischen, fröhlichen Krieg“ als bestes Mittel, die Homosexualität abzuwerfen, durch die Deutschlands Außenpolitik und Militär kompromittiert schienen.43 Spätestens mit dem Eulenburg-Skandal kann die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht mehr ohne Sexualisierung des Politischen gedacht werden, insbesondere nicht mehr ohne beständige In- und Exklusionsprozesse von „wahrer“ Männlichkeit und Weiblichkeit, die sich zumeist auf die politischen Gegner beziehen.44 Sowohl mit diffusen Zuschreibungen von Unmännlichkeit als auch mit präzisen sexuellen Denunziationen, dies belegt der Verlauf des Skandals eindrücklich, konnten scheinbar allmächtige und unberührbare politische Gegner erfolgreich bezwungen werden. Der Versuch der sozialdemokratischen Exilpresse, die Röhm-Affäre 1934 auszunutzen, um mit der Homosexual Scare antifaschistische Politik zu machen, bis heute als Ideologem in diversen Faschismustheorien nachweisbar, war nur der Anschluss an diese historische Traditionslinie.45 Seit dem Eulenburg-Skandal ist die sexuelle Denunziation ein fester Bestandteil des Waffenarsenals der politischen Klasse geblieben, nicht nur in Deutschland.46 In dieser Hinsicht gibt es noch viel für eine politische Kulturgeschichte der Sexualität zu erforschen, die Gender je nach Untersuchungsgegenstand und Erkenntnisinteresse flexibel als separierte oder integrierte Kategorie, oder auch in einer gemischten Form einsetzt.
42 Die Neue Zeit, Das große Reinemachen, 9. November 1907, BLHA 553. Vgl. REESER, 2010, S. 183. 43 New Yorker Staatszeitung, zit. in Kölnische Volkszeitung, „Eulenburgs politische Geständnisse“, 28. Juli 1908, BAL 7839. 44 Vgl. CONNELL/MESSERSCHMIDT, 2005, S. 846. 45 Vgl. ZUR NIEDEN, 2006, S. 394-427, DEAN, 2001, S. 72, 113, 131, 152. 46 KOCH, 1986. Entgegen der häufig vertretenen Annahme, die Sexualität von Politikern sei in den Jahrzehnten nach 1945 aus der Öffentlichkeit herausgehalten worden, belegen die hier vorgestellten Fälle die historische Kontinuität.
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Reflexion des Beitrags von Norman Domeier UTA MIERSCH In seinem Beitrag Die Erweiterung des binären Geschlechtermodells und die Radikalisierung der Politik im deutschen Kaiserreich beleuchtet Norman Domeier vor dem Hintergrund des sog. EulenburgSkandals, der zwischen 1906 und 1909 das Kaiserreich bewegte, wie sich im Europa der Vorkriegszeit Vorstellungen von Männlichkeit und Unmännlichkeit verschoben und inwiefern eine Sexualisierung des Politischen stattfand. Domeier wählt dabei bewusst einen stark separierenden Ansatz, in dem Geschlecht als Leitkategorie der Untersuchung fungiert. Diese Herangehensweise erweist sich als ausgesprochen geeignet, um von einem kleinen Spezialgebiet ausgehend einen Zentralbereich der allgemeinen (Politik-) Geschichte zu beleuchten, nämlich bedeutende Schlüsselmomente der Geschichte des Kaiserreichs, mithin der europäischen und der Weltgeschichte. Domeier zeigt also mit einem Geschlecht weitestgehend isolierenden Blick dessen potenziell enorme Wirkung auf den Lauf des Weltgeschehens auf. Dabei fokussiert er, ausgehend vom historischen Untersuchungsgegenstand, den Bereich Männlichkeit und schreibt damit nicht nur eindeutig Geschlechtergeschichte, sondern kleinteiliger Geschichte der Männlichkeit(en). Weiblichkeit erscheint lediglich in Gestalt des „Schreckgespenstes“ der „Effeminisierung“ der Männer und ihres (politischen) Handelns, mithin in abwertender, gleichzeitig auch als Bedrohung empfundener Form. Wenn auch im vorliegenden Rahmen nicht zu leisten, wäre ein genauerer Blick auf diesen Part des im Titel aufgeführten binären Geschlechtermodells noch interessant, insbesondere im Blick auf die Verschie127
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bungen, die am Beginn des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen sind. Domeier verweist beispielsweise darauf, dass alte, „nicht zuletzt diplomatische Tugenden“ wie Nachgiebigkeit, Kooperationsbereitschaft und Friedensliebe im Kaiserreich nicht mehr mit (erwünschter) Männlichkeit in Verbindung gebracht, sondern vielmehr als unmännlich galten und dem „dritten Geschlecht“ zugeordnet wurden, das wiederum vor allem in Nähe zum weiblichen Geschlecht und den diesem zugeschriebenen Eigenschaften wahrgenommen wurde. Hier einzuhaken und das binäre Geschlechtermodell in Gänze zu betrachten, könnte zu weiteren interessanten Ergebnissen führen, insbesondere beim Blick auf die weiteren Leitbegriffe des Beitrags, Nation und die ihr zugeordnete Geschlechtlichkeit, Prestige, Klasse sowie Ex- und Inklusion. Den separierten Untersuchungsansatz erweitert Domeier dabei um den konzeptionellen Zugriff der politischen Kulturgeschichte, was sich aufgrund der engen Verbindung besonders von Geschlecht und Nation im frühen 20. Jahrhundert, die sich im „Eulenburg-Skandal“ so deutlich widerspiegelt, als sehr schlüssig, wenn nicht gar notwendig erweist. Umgekehrt ist festzuhalten, dass die politische Geschichte, die Domeier hier (auch) schreibt, von dem (weitgehend) separierten Ansatz der Genderforschung stark profitiert und durch diesen Zugriff Facetten herausgearbeitet werden können, die sich einer „klassischen“ Betrachtung möglicherweise entziehen. Das (weitgehend) separierte Vorgehen ermöglicht also zum einen eine klare Fokussierung des erforderlicherweise kurzen Beitrags, wobei die vorgenommene konzeptionelle Erweiterung jedoch bereits zeigt, dass eine strikt separierte Betrachtung dieses vielschichtigen Gegenstandes eigentlich kaum möglich ist.
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„in sexuellen Ausnahmezuständen sich befindende Frauen“ 1 Gesch lecht als interdependente An alysekategorie im österreichischen 2 Suizidd iskurs (1870 bis 1930) MICHAELA MARIA HINTERMAYR „Ich bin der Ansicht, dass bei dem gegenwärtigen Streben nach berechtigter und unberechtigter ‚Emancipation‘ das weibliche Geschlecht verhältnissmässig gefährdeter ist als die Männer; denn je mehr sich die Frauen auf allen Gebieten in Concurrenz mit den Männern einlassen, desto häufiger kommen sie in ungewohnte Verhältnisse und zu Schaden, während die Männer an den härteren Kampf um's Leben schon gewohnt sind.“3
Mit diesen Worten warnte der Philosoph Tomáš Garrigue Masaryk 1881 in seiner Arbeit Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der Modernen Civilisation vor „zu viel“ Gleichberechtigung für Frauen, weil ihnen die Erfahrung für den sogenannten „Kampf um's Leben“4 fehlt. Gleichwohl konnte keine Rede davon sein, dass den Männern die Abwehr von suizidalen Impulsen besser gelang. Tatsächlich stellten 1 2 3 4
PFEIFFER, 1912, S. 16. Unter Österreich werden hierbei die deutschsprachigen Gebiete der k. u. k. Monarchie und die spätere Erste Republik verstanden. MASARYK, 1881, S. 25 (Cap. IV, §. 5). EBD., S. 25.
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Männer bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 85% aller Suizidfälle in 5 Österreich. Zur Beunruhigung der ZeitgenossInnen zeichnete sich allerdings seit den 1870er Jahren ab, dass die Suizidzahlen der Frauen rascher anstiegen als jene der Männer.6 Diese Entwicklung bedeutete eine Verdopplung des Frauenanteils bis zum Ende des 1. Weltkriegs, oder anders formuliert, ein Drittel aller Suizide entfiel von nun an auf Frauen. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag analysiert, welche auf Geschlecht rekurrierenden Erklärungen für die wachsenden Suizidzahlen in der Zeit von 1870 bis 1930 hervorgebracht wurden. Die vorliegende Untersuchung wählt in erster Linie einen separierenden Zugang zum Gegenstand, da er diesen in seiner Relevanz überhaupt erst sichtbar macht. Mit den vergeschlechtlichten suizidalen Subjekten und hier besonders den weiblichen Suizidentinnen sollen Personen in die Geschichte eingeschrieben werden, die in der Forschung bisher eher nachranging behandelt wurden. Obwohl im Suiziddiskurs meist unspezifisch vom Menschen die Rede war, so waren doch hauptsächlich Männer damit gemeint. Um diese androzentrische Ausrichtung und das damit einhergehende Herrschaftsverhältnis einer Analyse zuzuführen, wurde Geschlecht als Analysekategorie stark gemacht und als Leitkategorie gewählt. Trotz des separierenden Ansatzes werden die anderen wirkmächtigen Differenzkategorien aber nicht als zweitrangig,7 sondern 5 6
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Vgl. ORTMAYR, 1990, S. 214. Unter Österreich verstand Ortmayr hierbei: Gebiet des heutigen Österreichs (ohne Burgenland), bis 1912 Zahlen inklusive Untersteiermark, Südtirol und Trentino. Wobei auch die Suizidzahlen der Männer weiter anstiegen, aber eben nicht so rasch wie jene der Frauen. Allerdings darf aus diesen Angaben nicht geschlossen werden, dass die Statistiken die „wahren“ Verhältnisse abbildeten. Vielmehr waren auch sie sozial konstruiert und profitierten von einer schlüssigen Repräsentation. Die sogenannten Kategorien der Differenz (beispielsweise Alter, Klasse, Ethnizität) arbeiten der Identitätskonstruktion und der Positionierung im sozialen Raum mit je spezifischen Handlungsmöglichkeiten zu. Welche und wie viele soziale Kategorisierungen im Forschungsprozess zu berücksichtigen sind, kann nicht verallgemeinert werden, da dies von den zu untersuchenden Subjekten und dem jeweiligen Forschungsinteresse abhängt. Siehe zur Einführung in die Debatte: LUTZ/WENNING, 2011, S. 11-24. Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass ein situiertes Subjekte nie vollständig erfasst werden kann, egal wie viele Kategorisierungen bemüht werden. Siehe: BUTLER, 1991, S. 210.
Geschlecht im österreichischen Suiziddiskurs
als integrale Bestandteile von Geschlecht begriffen. Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich Geschlecht nie unabhängig von den anderen Kategorien der Differenz manifestierte. Ebenso soll damit betont werden, dass die historischen Subjekte vor dem Hintergrund einer komplexen und multidimensionalen Lebenswirklichkeit konstituiert wurden.8 Diesen Überlegungen gerecht zu werden, gelingt mit der Fassung von Geschlecht als einer interdependenten Kategorie. In diesem Zusammenhang liegen die Ziele dieses Artikels in der Dekonstruktion des nach Geschlecht geschiedenen suizidalen Subjektes und der Klärung der Frage, wie Geschlecht im Diskurs (re-)produziert und stabilisiert wurde. Infolgedessen gilt es zu analysieren, welche Wissensvorräte, diskursiven und sozialen Praktiken die vergeschlechtlichten suizidalen Subjekte formten und ihrer jeweiligen Repräsentation zuarbeiteten. Besondere Aufmerksamkeit gilt es den biopolitischen Praktiken und der wissenschaftlichen Interpretationsarbeit in und am Körper der suizidalen Personen zu schenken, da der Leib eines der wichtigsten Scharniere im geschlechtsspezifischen Suiziddiskurs darstellte. Vor dieser Folie lässt sich dieser Beitrag als ein historischkulturwissenschaftlicher verorten, der sich besonders für die (De-) Stabilisierung von Geschlecht interessiert. Aufgrund des zentralen Charakters der letztgenannten Kategorie sollen an dieser Stelle die theoretischen Bezüge offengelegt werden. Der Artikel folgt der These Judith Butlers, der geschlechtsspezifisch markierte Körper ist kein unhintergehbares biologisches Faktum sondern vielmehr der naturalisierte Effekt des Diskurses um den Körper als solchen selbst.9 Daraus ergibt sich, dass der weibliche und männliche Körper erst durch diskursive und soziale Praktiken hervorgebracht wird. Daher kann es auch keine dem Körper innewohnende Geschlechtsidentität geben, sondern nur die nachträgliche Einschreibung dieser. Vor diesem Hintergrund ist für diesen Artikel zentral, dass weder Geschlecht, noch die anderen Kategorien der Differenz einen inneren, unveränderbaren Kern besitzen.10 Vielmehr soll es darum gehen:
8 Vgl. WALGENBACH, 2007, S. 64. 9 Vgl. BUTLER, 1991, S. 200-201. 10 Vgl. WALGENBACH, 2007, S. 64.
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„Kategorien selbst als immer schon verbunden mit, abhängig von und bedingt durch andere/n Kategorisierungen zu verstehen, also von interdependenten Kategorien selbst auszugehen, nicht von Überschneidungen oder Abhängigkeiten zwischen [Herv. i. O.] Kategorien.“11
Den zeitlichen Rahmen für diesen Artikel bilden die Jahre 1870 bis 1930, was einerseits damit zusammenhängt, dass in dieser Periode die Suizidzahlen in Österreich beinahe kontinuierlich anstiegen und ein sehr hohes Niveau erreichten.12 Andererseits können durch diesen zeitlichen Zuschnitt die Folgen der gesellschaftlichen Modernisierung und die damit verbundenen Verwerfungen und Krisen, welche von den ZeitgenossInnen auch explizit als solche thematisiert wurden, in den Blick genommen werden. Oder um es mit den Worten von Ursula Baumann auszudrücken, um 1900 wurde der Suizid „zur Projektionsfläche für nahezu alles […] was man als ‘Unbehagen in der Kultur‘ bezeichnen kann“13. Daher wurde der Suiziddiskurs als gesellschaftskritischer Diskurs geführt, der besonders stark um das Thema Moral zentriert war. Zugleich bedeutete diese „Achsenzeit“ aber auch die Formierungsphase „einer modernen Wissenschaft, in der die Erfahrungen und Deutungen der Moderne wissenschaftlich und kulturkritisch reflektiert verhandelt wurden“.14 Hier gilt es besonders die Herausbildung und Etablierung der sogenannten „Psycho-Disziplinen“ im Blick zu behalten, da die mit ihnen verbundenen Praktiken des Diagnostizierens, Therapierens und Regulierens, Subjektformen dokumentierten und normierten.15 Zur Untersuchung der skizzierten Umbrüche und Verwerfungen wird auf den diskursanalytischen Ansatz von Norman Fairclough zurückgegriffen. Im Zentrum steht hierbei das diskursive Ereignis, welches auf der Ebene des Textes sowie der diskursiven und der sozialen Praxis untersucht wird.16 Entscheidend hierbei ist, dass Fairclough die diskursive Praxis in einem reziproken Verhältnis mit der sozialen Praxis
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LOREY, 2008. Vgl. ORTMAYR, 1990, S. 211; S. 221-222. BAUMANN, 2005, S. 115. HESS/SCHMIEDEBACH, 2012, S. 13. Vgl. EBD., S. 11. Vgl. FAIRCLOUGH, 1992, S. 62-101.
Geschlecht im österreichischen Suiziddiskurs
denkt. Das bedeutet, dass sich die Produktion und die Repräsentation der sozialen Ordnung wechselseitig bedingen. Bei der Sichtung erster Quellen zeigte sich sehr rasch, dass das nach Geschlecht geschiedene suizidale Subjekt nicht nur mit den Kategorien Klasse und Ethnizität/Nationalität in einem interdependenten Verhältnis stand, sondern auch mit jenen des Alters, der Religion/Konfession und der Sexualität. Bei der Konstruktion und Produktion von Geschlecht wurde besonders von wissenschaftlicher Seite versucht, Verbindlichkeit zu erzeugen. Allerdings arbeiteten die unterschiedlichen Suizidzahlen innerhalb der Geschlechtsgruppen diesem Vorhaben entgegen. So hatten alte Männer andere Suizidzahlen als junge; verheiratete Frauen andere als ledige oder verwitwete; ähnliche Unterschiede gab es je nach religiöser bzw. konfessioneller sowie ethno- und soziokultureller Zugehörigkeit. Die sich so ergebenden multidimensionalen und komplexen Subjektpositionen erforderten individuelle Erklärungsmuster, welche die universelle Geltung von Geschlecht nicht in Frage stellten.17 Diesen unterschiedlichen, immer als unabschließbar zu denkenden Subjektpositionen wurde bei der Erstellung des Korpus für diesen Beitrag Rechnung getragen, indem auf eine möglichst große Bandbreite der Quellen geachtet wurde.18
Kosten de s z ivilisator ischen For tschr it ts? – 1870er und 1880er Jahre Dieses und die beiden nachfolgenden Kapitel sollen die jeweils wichtigsten thematischen Stränge im gewählten Zeitraum darstellen. Zur Illustration dieser Aussagen wurde jenen Quellen der Vorzug gegeben,
17 Das heißt, dass die Erklärungen den divergierenden Lebensrealitäten gerecht werden und gleichzeitig Geschlecht als große, einigende Klammer bestätigen sollten. 18 Neben der Bandbreite wurde auch der Aspekt der Intertextualität bzw. Interdiskursivität in Rechnung gestellt und ob bzw. inwieweit die Werke diskursprägenden Charakter reklamieren konnten. PEXA, 1873; MASARYK, 1881; KRAFFT-EBING, 1892; ROTH, 1892; KRAFFT -EBING, 1902; PFEIFFER, 1912; REDLICH/LAZAR, 1914; STRANSKY, 1918; NESTE, 1919; MARCUSE, 1922; DELANNOY, 1927; ROST, 1927.
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welche die jeweilige Argumentation besonders prägnant vor Augen führen. In der 1873 erschienenen Schrift Erfindung zur Verhinderung des Selbstmordes des Gerichtsbeamten Ludwig Pexa wird erstmals deutlich, dass der Suiziddiskurs androzentrisch organisiert war. Das bedeutete, dass suizidale Handlungen von Frauen als von der männlichen Normalität abweichende Sonderfälle eingestuft wurden. Darüber hinaus wurden patriarchale Familien- und Geschlechterbilder reproduziert: „Unzählige Familien verlieren durch den Selbstmord den Stammvater und Ernährer der in grösster Noth zurückgelassenen Frau und Kinder kommen auf den gänzlichen Bettelstab und werden hiedurch sowohl dem Staate als den Mitmenschen zur Last.“19
Pexas Schrift ist aber nicht nur in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich, sondern auch in puncto der sozialen Dimension. Er vermutete, dass finanzielle Nöte ein ganz wesentlicher, wenn nicht sogar der wesentliche, Suizidgrund waren. Dabei dachte Pexa aber nicht an die vielen ökonomisch unterprivilegierten Arbeiter und noch weniger an Arbeiterinnen, sondern vor allem an mit Fürsorgepflichten belastete Amtsschreiber, Handwerker und sonstige kleine Angestellte.20 Von den Suiziden Letzterer nahm er besonders negative Auswirkungen auf die Steuereinkünfte des Staates an21 und forderte für die Gefährdeten eine staatlich organisierte Arbeitsbeschaffung und Darlehensgabe, damit diese keinen Grund mehr haben, sich selbst zu töten.22 1881 war mit Tomáš Garrigue Masaryks Der Selbstmord als Sociale Massenerscheinung der Modernen Civilisation eine der wohl einflussreichsten Suizidschriften des späten 19. Jahrhunderts publiziert worden, die auch in den folgenden Jahrzehnten noch regelmäßig rezipiert wurde. Der spätere Mitbegründer und erste Staatspräsident der Tschechoslowakei, hatte sich mit dieser Schrift 1879 an der Universität Wien im Fach Philosophie habilitiert. Masaryk meinte die Ursache der steigenden Suizidzahlen in der sogenannten „Halbbildung“ erkannt zu haben, 19 20 21 22
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PEXA, 1873, S. 13-14. Vgl. EBD., S. 8. Vgl. EBD., S. 5-6. Vgl. EBD., S. 9-10.
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womit er fehlendes Allgemein- und Spezialwissen oder eine unausgewogene Proportionalität der beiden zueinander meinte: „Das Wissen, welches nicht verwertet werden kann, macht den Besitzer phantastisch, führt zu wahnwitzigen Grübeleien, schafft unbefriedigbare Bedürfnisse, benimmt die Lust zu nützlicher Arbeit und führt schließlich zum Lebensüberdruss.“23 Der Diskurs um die sogenannte Halbbildung war im 19. Jahrhundert überaus prominent und vor allem bildungsbürgerlich motiviert.24 Mit der These der Halbbildung sollte die als mangelhaft empfundene Bildung der nicht bürgerlichen Schichten angeprangert und die sogenannte „Elitewissenschaft“ von der populären Wissenschaft geschieden werden.25 Masaryk war der Meinung, dass die „Halbbildung“ ihren schädlichen Einfluss besonders im Militär entfaltet und so die hohen Suizidzahlen dieser sozialen Gruppe verursacht hatte.26 Masaryk übte mit dieser These und der seiner Ansicht nach erhöhten Neigung zu Alkoholismus und „Geisteskrankheit“ im Heer, Kritik am militärischen Männlichkeitsentwurf und sah ihn seinem konkurrierenden zivilen Pendant unterlegen: „Die Trunksucht und vielleicht die Geisteskrankheit wirken beim Militär verhältnissmässig ungünstiger als beim Civil; ungünstig wirken die schweren Strapazen und in manchen Ländern die ungenügende Ernährung. Das Militär ist schliesslich unsittlicher als die Civilisten, und darauf kommt es vornehmlich an: es ist der ‚militärische Geist‘, der die grosse Selbstmordneigung des Militärs verursacht.“27
Diese offen formulierte Kritik Masaryks unterstützt auch die von Christa Hämmerle aufgestellte These, dass das k. u. k. Heer kein universell gültiges hegemoniales Männlichkeitsideal für sich hervorbringen und reklamieren konnte.28 Eher untypisch für den Suiziddiskurs, der emotionale Suizidgründe hauptsächlich für Frauen reservierte, sprach 23 MASARYK, 1881, S. 66. 24 Wobei sich auch hier wieder der androzentrische Charakter des Diskurses feststellen lässt. Denn der Bildungsbürger wurde selbstverständlich als Mann imaginiert. 25 Vgl. GOSCHLER, 2004, S. 232. 26 Vgl. MASARYK, 1881, S. 177. 27 EBD., S. 54. 28 Vgl. HÄMMERLE, 2005, S. 118.
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Masaryk die von den Soldaten erlebten Gefühle der sozialen Entwurzelung, des Heimwehs und der Abneigung gegenüber dem Militärdienst klar und ohne Umschweife an. Wobei es natürlich auf die von ihm gesetzten Relativierungen hinzuweisen gilt. Konkret führte Masaryk als Entlastung an, dass die Heeresleitung große Fürsorgeanstrengungen unternahm und dass die Rekruten alleine schon aufgrund ihres jungen Alters suizidgefährdet waren: „[...] der Soldat hat keine Sorge um Nahrung, Kleidung, Obdach, er geniesst eine gute ärztliche Pflege im Falle einer Krankheit; der Militärdienst, versichert man uns, bildet und kräftigt – woher also die grosse Selbstmordneigung? Viele junge Soldaten haben Heimweh und überdies hassen die meisten den Militärdienst, der sie aus ihren gewohnten Verhältnissen ganz herausreisst und in ungewohnte Umstände versetzt. Daher kommt es, dass die meisten Selbstmorde von jungen, nicht älteren Berufssoldaten geübt werden; die Jahre von 20-24 sind die gefährlichsten, und die Furcht vor Strafe ist eine häufige Ursache des Selbstmordes.“29
Das Motiv der „Furcht vor Strafe“ führte Masaryk nicht weiter aus, obwohl Schikanen und mitunter drakonische Strafen beim Heer auf der Tagesordnung standen. Um den militärischen Gehorsam aufrecht zu erhalten, war ein System etabliert worden, dass selbst dem tüchtigsten und willigsten Soldaten zum Verhängnis werden konnte. Für die Soldaten oft nicht nachvollziehbare, aber unvermeidliche Normenübertretungen waren Grundbestandteile des militärischen Drills und wurden mit Hilfe des Disziplinarstrafrechtes streng geahndet.30 Der ehemalige k. u. k. Soldat Leo Schuster berichtete in seinen lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen recht eindringlich von den Konsequenzen dieses Systems. Er erläuterte, dass dieses, von Hubert Treiber als „Normenfalle“31 beschriebene Dilemma aber auch umgangen werden konnte und zwar durch Bestechung.32 Diesen „Vorteil“ konnten sich allerdings nur vermögende und zahlungswillige Soldaten verschaffen. Vor diesem Hin29 30 31 32
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MASARYK, 1881, S. 54. Vgl. HÄMMERLE, 2011, S. 33-34. TREIBER, 1973, S. 43. Leo Schuster war im Oktober 1910 zur Artillerie in Trient (Trento/Südtirol) eingerückt. Vgl. SCHUSTER, 2012, S. 61.
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tergrund müssen die hohen Suizidzahlen der finanziell schlecht ausgestatteten Soldaten und jener ohne Befehlsgewalt in einem besonderen Licht erscheinen.33 Die vielen Soldatensuizide blieben auch weiterhin ein Thema und veranlassten den Statistiker Joseph Roth 1892 zu der Bemerkung, dass die „Unlust zum Militärstande […] aber von Periode zu Periode in steigendem Verhältnisse zur Gesammtzahl der Selbstmorde beigetragen [hat]“34. Er führte an späterer Stelle noch aus, wenn auch recht vage, was er unter dieser Unlust verstand und worauf er ihr Wachstum zurückführte. Und zwar meinte er die Gründe in den geringer gewordenen Beharrungskräften und Anpassungsleistungen der Soldaten erkannt zu haben: „Dies würde der Vermuthung entsprechen, dass die Widerstandskraft gegen die Unbilden des Lebens bei den jüngeren Leuten von Periode zu Periode geringer ist, bezw. dass das Anpassen an die besonderen Beschwerden des Soldatenstandes von Quinquennium zu Quinquennium langsamer sich vollzieht.“35
Das rigide und dehumanisierende Disziplinarsystem des Militärs sprach er als möglichen Suizidgrund hingegen nicht an. Was die Soldaten im Kriegseinsatz und daraus hervorgehende psychische Belastungen anging, so meinte der Psychiater und deutschnationale Kriegsbefürworter Erwin Stransky, dass der eine oder andere depressive Soldat durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zumindest eine „günstige“ Suizidgelegenheit vorgefunden hat.36 Auffällig bei den meisten Ausführungen zu den Soldaten ist, dass der Umstand, dass es sich hierbei um Männer gehandelt hatte, kaum als solcher explizit thematisiert wurde. Dies stützt abermals die These, dass der Suiziddiskurs androzentrisch organisiert war und Männer für sich reklamieren konnten, mehr als die Summe ihrer Geschlechtsorgane darzustellen.
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Vgl. EBD., S. 61. ROTH, 1892, S. 198. EBD., S. 200. Vgl. STRANSKY, 1918, S. 47.
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Nachdem gezeigt wurde, wie die hohe Suizidgefährdung der Heeresangehörigen erklärt und bewertet wurde, wird nun der Blick wieder auf den allgemeinen Suiziddiskurs gerichtet. Auch hier galt es Erklärungen und bestenfalls Präventionsstrategien für die steigenden Suizidzahlen zu finden. So sah etwa Masaryk das hohe Suizidniveau nicht nur in der Halbbildung begründet, sondern auch in moralischen Mängeln oder, wie er es formulierte, in „moralischer Haltlosigkeit“37 und ebensolcher „Halbheit“.38 Unter den beiden letztgenannten Begriffen verstand er Familien- und Beziehungskonstellationen, die dem bürgerlichen Ideal eines verheirateten Paares mit Kindern und gesichertem Einkommen und Wohnsitz zuwiderliefen: „[...] die unsittlichen Familienverhältnisse, die Trunksucht und die Geschlechtssünden sind die häufigsten directen Ursachen der Geisteskrankheit, während durch die Vererbung die Sünden und Verirrungen der Väter an den Kindern indirect wirken.“39 An dieser Position Masaryks wird evident, dass sich zu diesem Zeitpunkt der Suiziddiskurs bereits mit dem Degenerationsdiskurs und jenem des durch die Biologie determinierten Schicksals verquickt hatte.40 Wobei Masaryk den Vererbungsgang deutlich durch den Lebenswandel des Vaters geprägt sah und eine Einflussnahme durch die Mutter nicht einmal ins Auge fassen wollte. Masaryk interessierte sich neben den bereits diskutierten soziodemographischen Faktoren auch für den Einfluss von Nationalität und Ethnizität auf das Suizidrisiko und attestierte jungen Slawinnen ein höheres Suizidrisiko als jungen deutschen Frauen. Eine ähnliche Gefährdung meinte er auch bei den Französinnen feststellen zu können und zwar, weil dort die Emanzipationsbestrebungen der Frauen am weitesten fortgeschritten waren.41 Masaryk vertrat die Meinung, dass die geringere Suizidgefährdung der Frauen von deren traditionellen gesellschaftlichen Rolle als Hüterin des Heimes und der Kinder herrührte. Daher argwöhnte er, dass sich das Verlassen dieser Sphäre negativ auswirken muss. Nichtsdestotrotz war damit nicht hinreichend erklärt, aus welchen Gründen Frauen überhaupt suizidal handelten. Um hierauf eine Antwort geben zu können, bestand
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MASARYK, 1881, S. 83 EBD. EBD., S. 116. Vgl. dazu auch MORSELLI, 1881, S. 321-322. Vgl. MASARYK, 1881, S. 24.
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Masaryk bei Frauen auf emotionalen Suizidgründen und einer angeblich höheren Anfälligkeit für Geisteskrankheiten. Den Grund sozioökonomischer Deprivation schloss er hingegen aus: „Der weichere Charakter bewahrt das schwache W e i b [Herv. i. O.] eher vor Lebensüberdruss als den rauheren und kräftigeren Mann. Gewissensbisse, Scham und Furcht vor Schande (wegen ausserehelicher Schwangerschaft) wirken auf das weibliche Gemüth stärker als auf das männliche; sie ist leidenschaftlicher, die unglückliche Liebe und Eifersucht stört sie mehr als den Mann, während diesen viel mehr der Ehrgeiz als die Liebe zu Grunde richtet. Die Frau begeht den Selbstmord häufiger als der Mann in Folge von Geisteskrankheit. Dem erregenden Treiben der Politik steht sie in den meisten Ländern fern, sie geht weniger auf Erwerb aus und darum verursachen ihr zerrüttete Vermögensverhältnisse, Armuth und Elend weniger Kummer als dem Manne.“42
Da wie bereits ausgeführt, Männer viel häufiger als Frauen durch Suizid verstarben, ergab sich ein Spannungsverhältnis zur gängigen Interpretation, dass der Suizid mit Schwäche zu assoziieren sei. Diese Deutung stand nämlich offenkundig im Widerspruch zur Markierung von Frauen als das sogenannte „schwache“ Geschlecht. Masaryk löste dieses diskursive Dilemma, indem er die vermeintlich größere Resilienz der Frauen in eine angeblich charakterspezifische Schicksalsergebenheit umdeutete.
Das nervö se Fin de siècle und se ine Nach wirkun gen – 1890 bis 1920 Der Zeitraum von 1890 bis 1920 zeichnete sich durch eine thematische Verbreiterung des wissenschaftlichen Suiziddiskurses aus. Sowohl die pathologisch-anatomische Suizidforschung, die Psychopathologie als auch die modernen Sexualwissenschaften boten neue Erklärungsmuster für suizidales Handeln an. Neben Erörterungen auf der Makroebene wurde im Diskurs auch immer wieder die Ebene der Einzelfälle aufge42 EBD., S. 24.
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sucht. Besonders die psychiatrische Kasuistik, aber auch die Chronikrubriken in den Tageszeitungen bedienten diese individuelle Ebene. Vor diesem Hintergrund wird ein in „Friedreichs Blätter für gerichtliche Medizin und Sanitätspolizei“ publiziertes gerichtsärztliches Gutachten über einen Mord- und Suizidversuch eines 18-jährigen Schülers näher vorgestellt und analysiert.43 Als Gutachter hierfür hatte der Psychiater Richard von Krafft-Ebing fungiert. Dieser war durch die 1886 veröffentlichte Psychopathia sexualis bereits einem breiten Fachpublikum bekannt und 1892 Leiter der psychiatrischen Universitätsklinik des Allgemeinen Krankenhauses Wien geworden. Der von ihm zu begutachtende Vorfall hatte sich im Oktober des Jahres 1890 ereignet. Die zwei Schüler Emil M., 16 Jahre und Fritz F., 18 Jahre waren einander freundschaftlich verbunden, wobei dieser Kontakt auf Wunsch der Mutter von Emil M. eingestellt werden sollte. Am Abend des 16. Oktobers 1890 gingen die Freunde miteinander spazieren, als der ältere plötzlich den jüngeren mit einem Revolver anschoss. Im Anschluss daran unternahm der Schütze einen Suizidversuch und brachte sich eine Kopfwunde mit der Feuerwaffe bei. Das Gutachten beschied dem 18jährigen Fritz F. eine abnorme geistige Verfassung, welche KrafftEbing durch die fehlende Befolgung der sozialen Normen beweisen konnte. Außerdem hatte die von ihm praktizierte Onanie seine seelische und körperliche Gesundheit zusätzlich erschüttert.44 Im Weiteren führte Krafft-Ebing aus, dass die Beziehung der beiden Schüler über eine freundschaftliche hinausgegangen und F. in M. verliebt gewesen war. Er bestand darauf, dass dieses gleichgeschlechtliche Begehren als ein weiterer Indikator für die abweichende psychische Verfassung des Schützen gewertet werden konnte: „Damit war nun ein weiteres Zeichen psychischer Degeneration im Sinne conträr sexualer Empfindung gegeben.“45 In seiner Psychopathia sexualis hatte Krafft-Ebing bereits postuliert, dass Homosexualität das Resultat „e i n e[r] n e u r o p a- t h i s c h e[n] B e l a s t u n g“46 ist und dass „diese eigenartige Geschlechtsempfindung als ein funktionelles Degenerationszeichen [...] meist here-
43 44 45 46
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Vgl. KRAFFT-EBING, 1892. Vgl. EBD., S. 330-331. EBD., S. 332. KRAFFT-EBING, 1891, S. 109, Hervorhebung im Original.
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ditär bedingten Zustands bezeichnet“47 werden kann. Wenig überraschend kam Krafft-Ebing daher in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass F. unter anderem aufgrund seiner Homosexualität zum Tatzeitpunkt einer psychischen Störung unterlegen hat. In einem weiteren Kontext und hinsichtlich der Frage nach Diskurseffekten gilt es zu bedenken, dass Krafft-Ebing mit seiner Einreihung von gleichgeschlechtlichem Begehren in den sogenannten „Degenerationsdiskurs“ dieses pathologisiert hat. Da im Diskurs der Aspekt der Sexualität mit jenem der Reproduktion und der reproduktiven Organe zusammengedacht wurde, gilt es auch diese näher zu beleuchten. Und zwar waren Menstruation, Schwangerschaft und Klimakterium sowie mögliche Erkrankungen der Geschlechtsorgane in den Verdacht geraten, Suizidalität zu begünstigen. Der Grazer Pathologe und Gerichtsarzt Hermann Pfeiffer meinte 1912, dass das Suizidrisiko für Frauen besonders durch geschädigte Geschlechtsorgane erhöht wird. Besonders bei jüngeren Suizidentinnen wollte er solche weitreichenden Schädigungen beobachtet haben.48 Mit den männlichen Reproduktionsorganen setzte er sich hingegen kaum auseinander. Pfeiffer diskutierte auch die Behauptung, dass Frauen während der Menstruation oder einer Schwangerschaft besonders leicht suizidalen Impulsen nachgeben. Diese These lässt sich auf das erstmals 1902 von Richard von Krafft-Ebing formulierte Krankheitsbild der sogenannten „Psychosis menstrualis“ zurückführen. Mit diesem Symptomkomplex war eine durch die Menstruation ausgelöste Psychose gemeint, welche sich durch Wahnzustände, Desorganisiertheit und sonstiges erratisches Verhalten äußert. Die Beschreibung von vermeintlich betroffenen Frauen als „Furien“ und „Xantippen“ lässt allerdings auch die Vermutung zu, dass damit sozial unerwünschtes Verhalten pathologisiert werden sollte.49 47 EBD., S. 122. 48 Vgl. PFEIFFER, 1912, S. 157. 49 „Unverträglichkeit mit dem Gatten und dem Gesinde, üble Behandlung des sonst geliebten Kindes bis zu Misshandlungen, Zornesexplosionen, Ehrenbeleidigungen, Hausfriedensbruch, Unbotmäßigkeit gegen Amtspersonen, Eifersuchtsscenen gegenüber dem Manne, Bedürfnis nach Alkoholicis auf Grund dysmenorrhoeischer Beschwerden, acut neurasthenischer und Angstzustände sind der Alltagserfahrung entlehnte Vorkommnisse bei unzähligen weiblichen Individuen, die als reiz- und streitbare Naturen, in ih-
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Trotz der auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch stark ausgeprägten moralischen Verurteilung von suizidalen Handlungen wurden Ausnahmen gemacht. Vor allem dann, wenn man meinte so ein höher stehendes moralisches Gut vor Schaden bewahren zu können. Bei diesen Ausnahmen wurde wiederum bevorzugt in androzentrischen Kategorien gedacht, was sich an den Hinweisen des Neurologen Emil Redlich und des Pädiaters Erwin Lazar auf Märtyrer, Helden und die „Mannesehre“ zeigt: „Dem Märtyrer, dem Helden, der seine Religion, seine Tugend, seine Mannesehre höher einschätzt als ein schimpfliches Leben, hat die Mit- und Nachwelt stets noch die Palme gereicht [...]“50 Während sich Redlich und Lazar für die psychischen Bedingungen der Suizidalität interessierten, suchte der Pathologe Emil Neste Erklärungen in der körperlichen Verfasstheit. Neste war ein Anhänger der Lehre des sogenannten „Status thymico-lymphaticus“, welche vom Wiener Gerichtsmediziner Arnold Paltauf 1889/1890 begründet worden war. Damit war eine Konstitutionsanomalie aus vergrößerter Thymusdrüse und verkümmerter Nebenniere gemeint. Paltauf hatte mit dieser These versucht spontane, rätselhafte Todesfälle zu erklären. Rätselhaft deswegen, weil die Betroffenen beschwerdefrei gewesen waren und auch postmortem kein pathologischer Befund erstellt werden konnte. Der „Status thymico-lymphaticus“ erwies sich auch für die Suizidforschung als attraktiv und wurde von den beiden Pathologen Julius Bartel51 und Eduard Miloslavich52 zur Konstatierung einer besonderen, daraus hervorgehenden Suizidgefährdung herangezogen. In deren Nachfolge meinte Emil Neste 1919, dass viele durch Suizid verstorbene Soldaten am Symptomkomplex des „Status thymico-lymphaticus“ erkrankt waren.53 Er war der Ansicht, dass besonders junge Soldaten unter einem Zusammentreffen dieser Konstitutionsanomalie mit den Belastungen des Kriegsdienstes zu leiden gehabt hatten:
50 51 52 53
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rem ‚Sturm‘ unter Umständen wahre Furien und Xantippen, gemieden und gefürchtet sind, intervallär als brave Gattinnen, zärtliche Mütter, sowie als angenehme Elemente in der Gesellschaft erscheinen können.“ KRAFFTEBING, 1902, S. 93-94. REDLICH/LAZAR, 1914, S. 2. BARTEL, 1910, S. 503. MILOSLAVICH, 1912, S. 51-52. Vgl. NESTE, 1919, S. 50.
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„Sind es doch meistens Leute in jugendlichem Alter, an die, zudem zum ersten Male in ihrem Leben, psychische Einflüsse schwerer Art, der militärische Drill, die bisher nie gekannte Subordination, oder etwa die Einwirkung ungerechter und misshandelnder Vorgesetzten, eventuell die mannigfachen Schrecken und Anstrengungen des Krieges herantreten. Die durch ihre krankhafte Anlage an sich schon nervös alterierten Leute können diesen äusseren Einflüssen keinen Widerstand entgegensetzen, ihnen erscheint das Suizid als der beste Ausweg.“54
„dem Lebensüberdru ß verfa llen“ 55 – krisengebeute lte 1920er Jahre Mit dem Beginn der 1920er Jahre wurde eine neue Ära eingeleitet, welche neben der gesellschaftlichen Liberalisierung auch ein weiteres Hochschnellen der Suizidzahlen mit sich brachte. Das Zunehmen der suizidalen Handlungen wurde unter anderem mit der Auflösung der traditionellen Gesellschafts- und Familienstrukturen in Verbindung gebracht. Da zahlenmäßig besonders die jüngeren Jahrgänge betroffen waren, ortete man in einer vermeintlich falschen Erziehung einen begünstigenden Faktor. Vor allem auf die sich entwickelnde Sexualität der Jugendlichen sollten die Eltern ein Auge haben, da jegliches Abweichen von der vorgezeichneten heterosexuellen Entwicklung mit einem erhöhten Suizidrisiko assoziiert wurde. Der Sexualwissenschaftler Max Marcuse widmete mit Selbstmord und Sexualität (1922) diesem Aspekt einen eigenen Artikel, in welchem er die vermeintlich suizidbegünstigenden Auswirkungen von Homosexualität,56 Frigidität57 und 58 Prostitution durchdeklinierte. René Marco Delannoy, der in der Zwischenkriegszeit Vorstand der Wiener Magistratsabteilung für Statistik und Herausgeber der Zeitschrift Biblischer Sozialismus war, interpretierte suizidale Handlungen
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EBD., S. 68. PELLER, 1932, S. 360. MARCUSE, 1922, S. 192, 194, 197. EBD., S. 198. EBD., S. 199-200.
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als einen „Teil des Kampfes um ein besseres und reineres Leben“,59 woran sich deutlich zeigt, dass er Suizidalität als ein soziales Phänomen begriff und mit der „Sozialen Frage“ verband. Neben dieser Dimension maß auch er der Adoleszenz und der damit einhergehenden Pubertät entscheidenden Einfluss – vor allem bei Mädchen und jungen Frauen – bei. Er war der Meinung, dass die Geschlechtsreife und erste sexuelle Erfahrungen besonderen Eindruck, aber auch psychische und physiologische Probleme bei den jungen Frauen hinterlassen.60 Damit wurde zum wiederholten Mal das Bild, der durch ihre Geschlechtsorgane und Sexualität determinierten Frau aufgesucht. Daneben wurden auch die Konfession und die Religionszugehörigkeit zur Konstruktion einer gruppenspezifischen Suizidgefährdung herangezogen. In diesem Zusammenhang galten etwa ProtestantInnen, aufgrund der als konfessionstypisch gesetzten freien Gewissenserforschung, als besonders gefährdet. Auch Juden und Jüdinnen vermeinte man einem erhöhten Suizidrisiko ausgesetzt. Als Grund dafür führte der Augsburger Journalist und streitbare Katholik Hans Rost an, dass dies eine Folge der zunehmenden gesellschaftlichen Integration und Abkehr von einer strenggläubigen religiösen Praxis ist. Auch er vermochte Frauen nicht jenseits ihres Körpers und der ihnen zugeschriebenen reproduktiven Aufgaben zu denken. So meinte er über Jüdinnen zu wissen, dass deren Abkehr von der traditionellen Frauenrolle in einer erhöhten Suizidgefährdung resultiert. Darüber hinaus schreckte er auch nicht davor zurück antisemitische Stereotype und angebliche pathologische Dispositionen als Erklärungsmomente heranzuziehen: „Genußsucht und Sinnenkitzel beherrschen die Juden von heute, insbesondere die Jüdinnen, die der häufigen Mutterschaft aus dem Wege gehen, einem tollen Modeluxus verfallen sind und den Jahrtausende alten Ruhm der kinderreichen jüdischen Mutter ins vollkommene Gegenteil umgekehrt haben […] Die Zunahme der unehelichen jüdischen Geburten ist als ‚eine Lockerung des viel gerühmten jüdischen Familienlebens‘ zu betrachten […] Diese Entwicklung des modernen Judentums
59 DELANNOY, 1927, S. 55. 60 Vgl. EBD., S. 26.
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hat eine Anzahl von pathologischen Merkmalen und Krankheitserscheinungen im Gefolge.“61
Geschlecht – immer schon bed ing t dur ch die anderen Kategorien der Differenz Die im empirischen Teil dieses Artikels vorgestellten Quellen zeigen deutlich, dass es weder eine uniforme und konsistente weibliche Suizidentin noch einen ebensolchen männlichen Suizidenten gab. Durch die multidimensionalen Subjektpostionen und Kontexte in denen sich die suizidalen Individuen befunden haben, waren nämlich beständig divergierenden Bedeutungen hervorgebracht worden. Trotz dieser Widersprüchlichkeiten innerhalb der Geschlechtsgruppen wurde versucht die Kategorie Geschlecht als wichtigen Faktor zur Erklärung von suizidalen Handlungen aufrecht zu erhalten. Und zwar indem bei Frauen besonders auf den vermeintlichen Kern ihrer „Weiblichkeit“, den zur Reproduktion befähigten Körper, und bei beiden Geschlechtern auf deren sogenannten Geschlechtscharakter verwiesen wurde. Vor dem Hintergrund der Somatisierung von Suizidalität fällt besonders auf, dass bei männlichen Suizidenten die Thymusdrüse und der lymphatische Apparat pathologisiert wurden. Bei Frauen wurden hingegen besonders die Geschlechtsorgane als Herd suizidbegünstigender Läsionen identifiziert. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass sozioökonomische Suizidmotive häufiger den Männern attribuiert wurden. Diese Zuschreibung dürfte damit zusammengehangen haben, dass die Suizide von Männern als wichtige Indikatoren für gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme aufgefasst wurden. Wie etwa an den Beispielen der französischen und der jüdischen Suizidentinnen gezeigt, wurde die Kategorie Geschlecht aber auch durch ihre Abhängigkeit von und Bedingtheit aus den anderen Kategorien der Differenz stabilisiert. Durch den in erster Linie separierenden Zugang zum Gegenstand gelang es herauszuarbeiten, welche tief- und weitreichenden Bedeutungszuschreibungen an den suizidalen Körpern vorgenommen wurden und so die suizidalen Subjekte grundlegend strukturierten. Die ebenso 61 ROST, 1927, S. 32.
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wirkmächtigen Differenzkategorien des Alters, der Klasse, der Ethnizität/Nationalität, der Religion/Konfession und der Sexualität wurden als integrale Bestandteile von Geschlecht gefasst und somit der Analyse zugeführt. Mit dieser Perspektive wurde auch sichergestellt, weder Geschlecht noch die anderen Kategorie der Differenz als unveränderbare Strukturen und Strukturierungen zu fassen und somit einer Stabilisierung zuzuarbeiten.
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Reflexion des Beitrags von Michaela Maria Hintermayr SVENJA MÜLLER Die Kategorien „integriert“ und „separiert“ bilden gemeinsam eine konstruierte binäre Dichotomie, die eine Einordnung von Forschungsbeiträgen unter anderem im Feld der Geschlechtergeschichte ermöglichen soll. Während die integrierende Perspektive erlaubt, die Kategorie „Gender“ in ihrer Bedeutung sowie in ihren Grenzen darzustellen, ist es ein großer Verdienst separierender Studien, „Geschlecht“ als Kategorie der Geschichtsschreibung nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch etabliert zu haben. Dass die Forschungsperspektiven „integriert“ und „separiert“ jedoch „nicht im strengen Sinne eines entweder/oder gedacht“1 werden sollten, zeigt sich beispielhaft an einem kurzen Vergleich des hier vorliegenden Beitrags von Michaela Maria Hintermayr zu Geschlecht als interdependenter Analysekategorie im österreichischen Suiziddiskurs in den Jahren zwischen 1870 und 1930 und meinen eigenen Ausführungen zur mikrologischen und multiperspektivischen Analyse eines frühneuzeitlichen Kindsmordprozesses. Denn während sich die zu Grunde gelegten kulturwissenschaftlichen Methoden und Theorien (unter anderem Diskursanalyse, „dekonstruktivistische Geschlechtergeschichte“) bei unterschiedlichem Untersuchungsgegenstand und über die – ebenfalls konstruierte – Epochengrenze hinaus in vielerlei Hinsicht entsprechen, kategorisierten wir unsere Arbeiten in Hinblick auf die Fragestellung des vorliegenden Sammelbandes diametral. Während ich mich für einen 1
BOTHE/SCHUH im vorliegenden Band, S. 25.
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integrierenden Zugang stark mache, tritt Michaela Maria Hintermayr zu Beginn ihres Beitrags für einen separierenden Ansatz ein: „Die vorliegende Untersuchung wählt in erster Linie einen separierenden Zugang zum Gegenstand, da er diesen in seiner Relevanz überhaupt erst sichtbar macht“. 2 Angesichts der androzentrischen Ausrichtung des zeitgenössischen Suiziddiskurses, der „suizidale Handlungen von Frauen als von der männlichen Normalität abweichende Sonderfälle“3 erscheinen ließ, wird „Geschlecht“ als Leitkategorie zu einer Analyse des damit einhergehenden Herrschaftsverhältnisses und der berechtigten Frage, „wie Geschlecht im Diskurs (re)produziert und stabilisiert wurde“,4 genutzt. Doch zugleich betont Hintermayr, dass trotz dieses „separierenden“ Ansatzes die anderen wirkmächtigen Differenzkategorien (Alter, „Klasse“, Ethnizität/Nationalität, Religion/Konfession, „Sexualität“) „nicht als zweitrangig, sondern als integrale Bestandteile von Geschlecht begriffen“ werden.5 „Geschlecht“ versteht sie davon ausgehend, in Übereinstimmung mit meinem Ansatz, als interdependente und zugleich wandelbare Kategorie. „Frauengeschichte“ erscheint vor diesem Hintergrund auch in ihrer Studie, die „Geschlecht“ zur Leitkategorie macht ohne weitere „Differenzkategorien“ zu marginalisieren, keineswegs als separate Darstellungsform. Eine konstruierte binäre Dichotomie wie „integriert“ und „separiert“ eröffnet Chancen, kann jedoch aufgrund der Mehrschichtigkeit und Komplexität von Forschungsbeiträgen und historischem Geschehen zu einer oberflächlichen Klassifizierung führen. Der kurze Vergleich der beiden sehr ähnlichen methodisch-theoretischen Ansätze, die jedoch durch die Autorinnen selbst diametral klassifiziert wurden, sollte veranschaulichen, dass eine Einordung von Forschungsbeiträgen – ebenso wie die Kategorie „Geschlecht“ – keinesfalls absolut gesetzt werden sollte.
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Beitrag HINTERMAYR, S. 130. Die Formulierung „in erster Linie“ macht an dieser Stelle jedoch deutlich, dass sich die Autorin keineswegs vollkommen von einem integrierenden Ansatz distanziert. EBD., S. 134. EBD., S. 131. EBD., S. 130f.
Schauspielerinnen im 18. Jahrhundert – Zwischen Kunst und Käuflichkeit JACQUELINE MALCHOW „Kennzeichnend sind das Nebeneinander und die Konkurrenz von Altem und Neuem: vom Theater der hoch entwickelten Feudalkultur, von den Auseinandersetzungen des Theaters in den Städten und von den Bemühungen um ein neues ‚Nationaltheater‘.“1
Einfü hrung Dieses Nebeneinander in der deutschen Theaterkultur des 18. Jahrhunderts schließt auch den Schauspielstil, die Auswahl der Stücke für das Repertoire und die Ansprüche an die Kunst und Moral der SchauspielerInnen selbst mit ein. Im Spannungsfeld zwischen den aufklärerischen und erzieherischen Idealen der Theaterkritiker auf der einen und der Unterhaltung des zahlenden Publikums auf der anderen Seite wurde versucht in Hamburg ein stehendes Stadttheater unter der Leitung von Konrad Ernst Ackermann (1712-1771) zu etablieren. Die Stadttheater – anders als die Hoftheater, die hier bewusst ausgeklammert werden – 1
SCHÖNERT, 1999, S. 9.
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mussten sich eigenständig durch Kartenverkauf finanzieren. Dementsprechend befand sich ein Stadttheater in großer Abhängigkeit vom Wohlwollen und Zuspruch des Publikums und das Publikum setzte sich nur zu einem geringen Teil aus aufgeklärten BildungsbürgerInnen zusammen. Der Großteil der TheaterbesucherInnen2 rekrutierte sich aus Angestellten, Bediensteten und in Hamburg natürlich Matrosen und das primäre Interesse galt der Unterhaltung. Diese Abhängigkeit schlug sich deutlich in den Spielplänen nieder, wie auch in den Bearbeitungen der Stücke und den speziell verfassten Prologen und Epilogen.3 Die Vortragenden – häufig Kinder oder Frauen – bezeugten darin die demütige Haltung der Schauspielenden gegenüber dem Publikum, sie baten, ja heischten, um Wohlwollen und sprachen ihren Dank für die Anwesenheit der ZuschauerInnen aus. Wie das aussehen und welche Folgen es haben konnte, wird später kurz thematisiert. Der bereits genannte Konrad Ernst Ackermann war nicht nur einer der bekanntesten Theaterprinzipale, sondern auch einer der ersten Schauspieler, der das Bürgerrecht erhielt4 – ein wichtiger Präzedenzfall, denn zu der Zeit galt der SchauspielerInnenstand (zu dem auch SängerInnen, AkrobatInnen und andere SchaustellerInnen zählten) allgemein als soziale Randgruppe, die mit zahlreichen Vorurteilen belastet war. Zeit2
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Zur Zusammensetzung eines typischen Publikums s. PUSCHMANN, 2000, S. 8. Im Zuge der Theaterreformen und der Hinwendung zum lehrhaften Literaturtheater steigt die Anzahl von Bürgersfrauen im Publikum. Hinweise auf religiöse Ausgrenzung z.B. von jüdischen ZuschauerInnen gibt es nicht. Inwieweit Interdependenzen zwischen Publikum und Theater sich auf den Spielplan auswirkten, wird zurzeit in einem DFG-Projekt der Universität Hamburg zum Thema „Bühne und Bürgertum. Das Hamburger Stadttheater 1770-1850“ untersucht. Am Hamburger Theater war ein Theaterdichter angestellt, dessen Aufgabe es unter anderem war, bei besonderen Anlässen wie Feiertagen, die Eröffnung und Schließung des Theaters vor und nach Ostern und Weihnachten, Besuche bekannter Personen usw. sowie zu Erstaufführungen spezielle Prologe und/oder Epiloge anzufertigen. Typisch für diese Texte sind Dankesreden und Entschuldigungen beim Publikum vor Neuerungen mit der Bitte um gnädige Aufnahme. Dass die Verleihung des Bürgerrechts an einen Schauspieler ein Sonderfall war und damit keinesfalls der gesamte Stand entmarginalisiert wurde, wird an dem Zitat Friedrich Ludwig Schmidts von 1834 deutlich, einem späteren Nachfolger Ackermanns: „Ein Hamburger Schauspieldirektor war vogelfrei.“ UHDE, 1875, S. 314f.
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genössische Sprichwörter geben diese Vorurteile wieder, so zum Beispiel das geflügelte Wort: „Hängt die Wäsche weg, die Schauspieler kommen.“5 Neben dem Stereotyp der stehlenden SchauspielerInnen war der Vorwurf der Liederlichkeit und Käuflichkeit verbreitet. Dies war partiell auch nicht unbegründet. Die unsicheren Umstände des Theaterlebens sorgten oft für eine finanzielle Notsituation, die den Nebenverdienst der Prostitution begünstigte. Zugleich bot die Zugehörigkeit zur Randgruppe jedoch auch den Freiraum, Sexualität ungebunden von bürgerlichen Normen ausleben zu können.6 Trotz aller Bemühungen an den stehenden Theatern 7 konnten sich einzelne SchauspielerInnen nicht von den Vorurteilen gegen den gesamten Schauspielerstand befreien. Wie alltäglich dies für Schauspielerinnen der Zeit war, zeigt sich in zeitgenössischen Theaterstücken wie Petraschs Hof der Schauspieler, in dem die Protagonistin über die Gleichsetzung von Schauspielerei und Prostitution klagt: „Sie [die Zuschauer] glauben sich darzu berechtigt; weil wir aus Armuth ihrer Lust schon auf der Bühne dienen müssen, Sie schließen von einigen unsers Gewerbes auf alle.“8 Hier ist anzumerken, dass Prostitution bei weiblichen wie männlichen Mitgliedern des Schauspielerstandes als auch unter anderen Gruppen im schaustellerischen Milieu vorkam. Die Vorwürfe der Unsittlichkeit und Heuchelei wurden besonders von Pastoren und Priestern geschürt, die den Randgruppenstatus der SchauspielerInnen häufig durch die Verweigerung von Abendmahl, Trauung und Beerdigung verdeutlichten.9 Auch innerhalb der Kirche lässt sich jedoch ein Nebeneinander verschiedener Haltungen erkennen. So stand die öffentliche Gefährdung von Moral und Sitte durch die 5 6 7
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ELLERT, 1998, S. 18. Vgl. SCHWEDES 1993, S. 129-162. Vgl. dazu auch MEYER 2012, S. 103110. „stehendes Theater […] im Ggs. zu den Wanderbühnen das an einen Ort gebundene Theater mit fest engagiertem Ensemble (in Dtl. seit dem 18. Jh.).“ Brockhaus, 2005, „stehendes Theater“, S. 210, Sp. 2. Es ist anzumerken, dass trotz der Entgegensetzung der Begriffe Wandertruppentheater und stehendes Theater die Grenzen noch lange Zeit fließend waren und auch die Ensembles eines stehenden Theaters aus ökonomischen Gründen gezwungen waren, weiterhin zu wandern, z.B. während der örtlich verschiedenen Spielverbote zu Ostern und Weihnachten. Joseph von Petrasch, zitiert nach PUSCHMANN 2000, S. 136. S. dazu u. a. HAIDER-PREGLER 1980, S. 69-119.
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Schauspielerei, gegen die z. B. der Pastor Johann Melchior Goeze (1717-1786) im berüchtigten Hamburger Theaterstreit wetterte,10 in erheblichem Widerspruch zum aufklärerischen Ideal des Theaters als „moralischer Anstalt“ zur Bildung des Bürgers, wie sie später unter anderem Schiller forderte,11 während das Publikum im Allgemeinen Unterhaltung wünschte. Es waren SchauspielerInnen, die am meisten unter den widersprüchlichen Forderungen litten: In ihrer Funktion als Verkörperung literarischer Figuren mit Bildungsanspruch wurden sie verehrt und gefeiert, als Privatpersonen blieben sie meist Teil der sozialen Randgruppe und wurden von der bürgerlichen Gesellschaft nicht anerkannt.12 Dieses Dilemma ist zentral für den hier als Beispiel gewählten Skandal, der vor dem Hintergrund der beginnenden Etablierung stehender Theater und der damit verbundenen Auseinandersetzung um Kunst oder Unterhaltung stattfand. Dessen Untersuchung soll zeigen, wie sich die Vorstellungen und Ideale von Gender im 18. Jahrhundert auf den Lebensalltag einer Frau auswirkten.
Der Skandal in aller Kürze Im Jahr 1773 verliebte sich der Bürgerssohn Johann Arnold Heise in die bekannte Schauspielerin Dorothea Ackermann und machte ihr einen Heiratsantrag, den diese ausschlug. Der Zurückgewiesene bedrängte daraufhin die Schauspielerin und ihre Familie mit Briefen. Als sie nicht einlenkte, pfiffen er und seine Freunde sie und ihre Schwester allabendlich auf der Bühne aus. Lokale Zeitungen kommentierten den Fall. Erst 10 Im zweiten Hamburgischen Theaterstreit 1768/69 ging es um die Frage, ob Geistliche Theater besuchen und Theaterstücke schreiben dürfen. Er wurde ausgelöst durch die Theaterstücke des Pastors Schlosser und unter großem öffentlichem Interesse über mehrere Publikationen ausgetragen. Der bekannteste Gegner war der Hamburger Hauptpastor Goeze, der bekannteste Fürsprecher war Lessing, der zu dem Zeitpunkt als Dramaturg am Hamburgischen Nationaltheater angestellt war. 11 Explizit geschieht dies in Schillers Rede Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet. S. SCHILLER, 1784. 12 Vgl. SCHWEDES, 1993, S. 243-247, und MEYER, 2012, S. 104f. Ein soziale Abgrenzungen überbrückender Starkult entwickelt sich erst gegen Ende des Jahrhunderts.
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der plötzliche Tod ihrer Schwester Charlotte beendete den öffentlich ausgetragenen Streit.13 Im Folgenden wird der Konflikt detailliert anhand von zeitgenössischen Quellen dargestellt und analysiert. Die Untersuchung eines Einzelfalls aus einer solch dynamischen Epoche erfordert multirelationale Ansätze, um ein umfassendes Ergebnis zu erzielen. Der vorliegende Artikel verfolgt zwar eine separierte Fragestellung zum Thema Gender – denn wie sich zeigen wird, ist der zentrale Konflikt um die Schauspielerin Dorothea Ackermann (17521821) maßgeblich durch ihr Geschlecht bestimmt – doch die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse der Zeit sind dafür genauso relevant wie ihr Alter, ihr Beruf und ihr sozialer Status. Wenn ich von Gender spreche, meine ich damit in Bezug auf Judith Butler eine sozial und kulturell konstruierte Norm, die performativ realisiert, bestätigt, aber auch destabilisiert wird; es ist eine Norm, die permanent neu verhandelt wird.14 Ich verwende den englischen Begriff Gender, da dieser anders als der deutsche Begriff Geschlecht die Trennung von sozialem und biologischem Geschlecht sowie die kulturelle Konstruktion der jeweiligen Geschlechter beinhaltet.15 Außerdem verstehe ich, Daniela Hacke folgend, Gender als „eine relationale Kategorie: Weiblichkeit und Männlichkeit werden nicht nur in Abhängigkeit voneinander konstruiert, sondern auch in Interdependenz mit anderen Kategorien wie der gesellschaftlichen Schicht, der Konfession und der Ethnizität.“16 Des Weiteren wird die Kategorie durch die familiäre Sozialisation mitkonstruiert, wie sich am Beispiel der Familie Ackermann und der Erziehung der Schwestern nachweisen lässt. Dieses multirelationale Verständnis von Gender ist essentiell, um alle Aspekte in die Untersuchung miteinbeziehen zu können, die maßgeblich situationsbestimmend sind. Erst in dieser dynamischen Zeit, als SchauspielerInnen zwischen Randgruppe und Bürgertum standen, war es einem Bürger möglich, eine Schauspielerin zu heiraten, ohne den eigenen sozialen Status einzubüßen, während ihr marginalisierter Status sie weiterhin verwundbar für öffentliche Angriffe machte.17 Nur im 13 Zu den Umständen von Charlotte Ackermanns Tod und dessen Auswirkungen in Hamburg s. DUPREE, S. 20-63. 14 Vgl. BUTLER, 1993, S. xiif. 15 Vgl. KROLL, 2002, „Gender/Geschlecht“, S. 141. 16 HACKE, 2004, S. 22, vgl. dazu auch BRAUN/STEPHAN, 2006, S. 121. 17 Vgl. MEYER, 2012, S. 104.
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Spannungsfeld der Vorstellungen zwischen vermeintlicher moralischer Verderbtheit und Prostitution auf der einen und bürgerlicher Moral und Sittlichkeit auf der anderen Seite sind die Reaktionen des Freiers18 und seiner Freunde nachvollziehbar. Nur durch den sozialen Aufstieg der Familie Ackermann und die Erziehung und Bildung der Tochter erhielt sie den Freiraum, sich schriftlich zu verteidigen und auf ihrem Standpunkt zu beharren. Der belegte Skandal wäre undenkbar, wäre Dorothea Ackermann fünfzig Jahre früher als fahrende Komödiantin berühmt gewesen, ebenso wie er undenkbar wäre, wenn sie eine wohlhabende Kaufmannstochter oder gar adlig gewesen wäre. Ausschlaggebend für die gewählte separierte Fragestellung ist jedoch die Tatsache, dass ein solcher Skandal mit vertauschten Geschlechterrollen unmöglich gewesen wäre. Durch diese separierte Genderfrage können mithilfe der damit verbundenen Aspekte – Sozialgeschichte, Beruf sowie gesellschaftlicher und kultureller Wandel – die Sonderstellung der Schauspielerin im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts deutlich nachgezeichnet werden und infolgedessen Frauen fester in der Geschichte verortet werden.
Sozialer Au fst ieg durch Selb std isz ip lin ierung „Da der ganze Nutzen des Theaters, der überdem immer beschrieen wird, sogleich wegfällt, und die Sitten der Mitbürger umsonst gebessert werden, wenn diejenigen, die der Spiegel dieser Sitten seyn sollen, ihre eigenen Handlungen beflecken; so wird die ungeheuchelte Gottesfurcht, der Abscheu an allen, der bürgerlichen Gesellschaft so gefährlichen Lastern, eine unverletzte und von dem geringsten Verdacht befreyte Lebensart, die erste Pflicht eines jeden Schauspielers seyn.“ 19
Dieses Zitat des Hamburger Theaterdirektors Johann Friedrich Löwen belegt den gesellschaftlichen Druck, der auf SchauspielerInnen lastete. Durch die Anpassung an die moralischen und sittlichen Ideale des Bür18 Die Zweideutigkeit des alten Begriffs für einen heiratswilligen Verehrer ist hier passend, weil die von ihm gezeigte Haltung der eines Prostitutionskunden ähnelt. 19 LÖWEN, 1767, S. 88.
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gertums und eine starke Selbstdisziplinierung versuchten einige von ihnen, den Schritt aus der Randgruppe in die Mitte der Gesellschaft zu vollziehen. Die zunehmende Sesshaftigkeit im Zuge der Etablierung von Stadttheatern half ihnen, die Stigmatisierung als Fahrende zumindest teilweise abzulegen.20 Die Grenzen zwischen den Gruppen des wandernden und stehenden Theaters blieben im 18. Jahrhundert allerdings fließend. Die Etablierung des reformierten Theaters war dabei die Anstrengung einzelner, wenn auch namhafter Persönlichkeiten;21 der „Trend zur regelhaften Schaubühne“22 war für einige Theaterprinzipale jedoch nur eine Mode, die Geld einbrachte. Reformbestrebungen wurden außerdem dadurch erschwert, dass „der Schauspielerstand selbst sich zu großen Teilen aus den eigenen Reihen regenerierte“23 und alte Gebräuche sich innerhalb der Familien hielten. Eine der namhaften Persönlichkeiten in Hamburg, die sich der aufklärerischen Reform des Theaters widmete und neue Familiensitten durchsetzte, war der schon erwähnte Konrad Ernst Ackermann. Er und seine Familie – Ehefrau Sophie, die Töchter Dorothea und Charlotte sowie der Stiefsohn Friedrich Ludwig Schröder – übernahmen die bürgerlichen Verhaltensregeln und den Wertekodex und befolgten sie streng, um sich als Teil der bürgerlichen Gesellschaft zu etablieren, doch die standesbezogenen Vorurteile gegen sie hielten sich hartnäckig. Um den geläufigen Vorurteilen hinsichtlich der vermeintlichen Käuflichkeit von Schauspielerinnen den Boden zu entziehen, verbat Ackermann den persönlichen Kontakt zwischen „Lebemännern“ und den Schauspielerinnen, was ihm als „unerträgliche Arroganz“ vorgeworfen wurde.24 Wie wichtig das tugendhafte Verhalten für SchauspielerInnen dieser Zeit war, zeigt sich besonders im Aufkommen der Theatergesetze, durch die Direktoren das Verhalten ihrer Angestellten beruflich wie 20 Zu der sozialgeschichtlichen Problematik des fahrenden Volkes s. u. a. SCHMITT, 1990, S. 6-12. Es ist anzumerken, dass viele SchauspielerInnen die Freiheiten des Wanderlebens der Sesshaftigkeit vorzogen. Besonders Frauen hatten dort mehr Optionen, konnten Prinzipalin, Autorin, Bearbeiterin von Bühnenstücken werden. 21 Vgl. SCHWEDES, 2002, S. 61. 22 PUSCHMANN, 2000, S. 69. 23 SCHWEDES, 2002, S. 73. 24 SCHWEDES, 2002, S. 131.
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privat zu regulieren versuchten.25 Diese selbstauferlegten Gesetze wurden in Zeitungen veröffentlicht und signalisierten die Ernsthaftigkeit des Bestrebens nach bürgerlicher Anerkennung. Ein weiterer Punkt, über den SchauspielerInnen den Sprung in die höhere bürgerliche Schicht zu schaffen hofften, war eine Neudefinition ihrer Tätigkeit: Schauspielerei sollte zum Beruf erklärt werden, für dessen Erlernung erste Schulen und Akademien eingerichtet wurden.26 Außerdem wollten sie als KünstlerInnen anerkannt werden, die durch ihre eigenständige Interpretation der Texte auf einer Ebene mit den Dichtern und nicht, wie bisher, mit SchaustellerInnen und AkrobatInnen stehen sollten. Dazu gehörte auch die Trennung von Privatperson und Bühnenrollen; die zuvor allgegenwärtige Praxis des Rollenfachs, in dem ein Schauspieler immer den gleichen Charakter darstellte, wurde zunehmend abgeschafft. Zur selben Zeit veränderte sich der Schauspielstil – zu den neuen bürgerlichen Trauerspielen passten die gezierte Spielweise und gestelzte Deklamation der französischen Dramen nicht mehr. Das neue Ideal, das jedoch nichts mit den heutigen Anforderungen an das Schauspiel gemein hat, hieß Natürlichkeit.27 Die Sprache auf der Bühne und ihre Deklamation wurden der Alltagssprache angeglichen, die Figuren mit ihren Emotionen und Handlungsmotivationen sollten der Wirklichkeit entsprechen.28 Um im 18. Jahrhundert als „natürlich spielend“ gelobt zu werden, musste die Darstellung immer maßvoll und schön sein; es durfte nie abstoßend wirken. Die geforderte Natürlichkeit und Wahrheit war also ebenso reguliert wie die Darstel-
25 Wie einige andere Direktoren in Deutschland veröffentlichte Schröder in Hamburg Gesetze für seine Schauspieltruppe. Viele Vergehen wurden mit Geldstrafen geahndet, die der Pensionskasse der Schauspieler zu Gute kamen. Vgl. SCHRÖDER, 1798. 26 „Die erste und, glaubt man dem theaterhistoriographischen Schrifttum, zugleich bedeutendste Theaterakademie auf deutschsprachigem Boden gründete die Schönemannsche Gesellschaft im Mai 1753 in Schwerin. Ihr Initiator war der Schauspieler Konrad Ekhof […]“ SCHMITT, 1990, 171. Vgl. ausführlich dazu: KINDERMANN, 1956. 27 Zum neuen Schauspielideal Natürlichkeit vgl. FISCHER-LICHTE, 1999 und KOŠENINA, 1995. 28 S. dazu u. a. EIGENMANN, 1994. S. 71-84.
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lungsideale des klassizistischen Theaters – eine Tatsache, die zahlreiche überlieferte Handbücher mit detaillierten Anweisungen belegen.29 Allerdings wurde dieser Prozess nicht durch das Publikum mitvollzogen, das sogar davon ausging, dass Bühnenrollen den Charakter der darstellenden Person beeinflussten. Dies war vor allem bei moralisch fraglichen Bühnencharakteren für die SchauspielerInnen problematisch. Wie zentral die Frage nach Moral und Tugend eines Schauspielenden war, ist in zeitgenössischen Rezensionen und Lexikoneinträgen unübersehbar: Die Qualität des Schauspiels wurde vom Lebenswandel der DarstellerInnen als abhängig gesehen und der Beschreibung des persönlichen Charakters wurde eben so viel Platz zugestanden wie der Beschreibung schauspielerischer Fähigkeiten. Besonders hervorgehoben wird in diesen Texten häufig der Fleiß der SchauspielerInnen. Über die Schauspielerin Charlotte Ackermann (1757-1775) wird z. B. in der Gallerie von teutschen Schauspielern und Schauspielerinnen geschrieben: „Ihr Karakter war schäzbarer noch als ihre Talente. Sie hielt so sehr auch auf das mindeste, was ihre Ehre betraf, dass sie allen Frauenzimmern ihres Standes auch hierin zum Muster aufgestelt werden kann. Diese tugendhafte Grundsäze hatte sie theils der Erziehung ihrer Mutter, theils einer unablässigen Lektüre zu verdanken, die sich sehr weit erstrekte, da sie der Englischen, Französischen und Italienischen Sprache mächtig war. Sie sahe das Theater aus dem rechten Gesichtspunkte an, und widmete sich demselben aus Neigung. Sie arbeitete jederzeit mit Lust, mit dem grösten Fleis, und wuste ihre Rollen so fertig, daß sie sogar ihren Mitspielern einhelfen konnte.“30
Neben den Forderungen an das private Verhalten der SchauspielerInnen gab es Forderungen an die Darstellungsweise auf der Bühne; zentral ist hier der oben näher erörterte Begriff der Natürlichkeit.
29 Zu zeitgenössischen Darstellungsdiskursen und Schauspielhandbüchern vgl. KOŠENINA, 1995, S. 31-182; FISCHER-LICHTE, 1999, S. 23-51, S. 69108, S. 133-201, und BENDER, 1992, u. a. S. 113-132. 30 WERNER, 1910, S. 5.
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Der Wandel des Frauenb ildes Nach dieser kurzen sozialhistorischen und kulturellen Skizze mit Blick auf die Randgruppe der SchauspielerInnen wird nun auf die Veränderungen des zeitgenössischen Frauenbildes eingegangen, um den letzten Aspekt für die separierte Untersuchung des Skandals um Dorothea Ackermann in Hinblick auf Gender zu erläutern. Als eine Folge der zuvor erwähnten Etablierung des Bürgertums veränderte sich auch das Frauenbild. Dem rationalen, gebildeten Mann der Aufklärung wurde die „natürliche“, schwache und emotionale Frau gegenübergestellt, die durch Bildung nur verdorben würde. Die moralischen Anforderungen an die Frau wurden strenger, sie sollte tugendhaft, gehorsam und zurückhaltend sein. Die Sphäre der Frau wurde auf das Heim beschränkt, die Öffentlichkeit wurde zur männlichen Domäne erklärt.31 Als die „‘natürlichen‘ Normen des weiblichen Geschlechtscharakters [wurden]: Scheu und Scham, Häuslichkeit und Zurückhaltung, unreflektiertes, naives Benehmen und wohlgefälliges Ungebildet Sein [propagiert].“32 Im Theater wurde dieses Frauenideal von Schauspielerinnen auf der Bühne dargestellt. Durch die „reiteration of a norm or set of norms“33 des Verhaltens wurde dieses neue Ideal im öffentlichen Bewusstsein verankert. Doch allein durch ihre Schauspielerei widersprachen die Schauspielerinnen diesem Ideal aufs Deutlichste: Sie agierten selbstbewusst und unübersehbar in dieser neuerdings als männlich angesehenen Sphäre, präsentierten sich und ihre Körper und verschafften sich Gehör. Unabhängig von ihrer performativen Festigung der Gendernormen auf der Bühne und im Privatleben führte ihr Beruf unweigerlich zu einer Destabilisierung eben dieser Normen und machte Schauspielerinnen zu „abjected beings who do not appear properly gendered.“34 In den meisten Fällen verfügten Schauspielerinnen (wie ihre Kollegen) zudem noch über eine weitreichende Bildung – sie konnten lesen und schreiben und beherrschten meist mehrere Fremdsprachen. Die hier als Beispiel angeführten Schwestern Ackermann sprachen neben Platt- und Hochdeutsch auch Englisch, Franzö31 32 33 34
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Vgl. DUPREE, 2011, S. 12f. PUSCHMANN, 2000, S. 44. BUTLER, 1993, S. xxi. BUTLER, 1993, S. xvii.
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sisch und Italienisch.35 Einige berühmte Bühnendarstellerinnen gestalteten sogar die Diskurse der Zeit in öffentlichen Salons und Lesezirkeln mit und veröffentlichten Theaterstücke, Memoiren und Verteidigungsschriften fürs Theater.36 Dieses Verhalten, diese Präsenz im öffentlichen Raum, war für angesehene Frauen des Bürgertums undenkbar; ihre Sphäre war das private Heim oder allenfalls der halböffentliche Salon. Das sich im Zuge der Etablierung des Bürgertums entwickelnde neue Frauenideal wurde durch Ausgrenzung geschaffen: Unter den Schlagworten Tugendhaftigkeit, Mäßigung und Schicklichkeit wurde die bürgerliche Frau in die Zurückgezogenheit ihrer eigenen vier Wände verwiesen und aus dem sichtbaren Raum verbannt.37 Die Schauspielerei war einer der wenigen Berufe im öffentlichen Raum, denen Frauen nachgehen konnten, denn durch die andauernde Marginalisierung des Standes gab es noch keine offizielle Ausbildung und demnach keine Möglichkeit für die Obrigkeit, den Zulauf zu dieser Ausbildung und folglich der Schauspielerei zu reglementieren. Wie schon angesprochen, übernahm die über die Stadtgrenzen bekannte und berühmte Schauspielerfamilie Ackermann die Verhaltensregeln und Moralvorstellungen des Bürgertums, unter anderem, um ihren sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Auffällig ist dabei, wie strikt sie diese umsetzten – damit verkleinerten sie die möglichen Angriffsflächen für ihre Kritiker deutlich. Von diesen wünschten sie sich, dass sie „uns eher zu beßern, als lächerlich zu machen suchten.“38 Diese Strategie erwies sich letztlich als erfolgreich. In den meisten Biographien und Theatergeschichten wird die Tugendhaftigkeit dieser Familie hervorgehoben, wobei sie bei den Frauen einen zentraleren Stellenwert hatte – das Stigma der Käuflichkeit konnten aber auch sie nicht ganz abschütteln: „Denn Schauspielerinnen wirken immer begehrenswert, es genügt, daß sie sich öffentlich exponieren: in Hosenrollen, in den Rollen der Verführerin, der Verführten, der Nicht-Verführbaren. Sie setzen unerhörte
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Vgl. WERNER, 1910, S. 3f. Vgl. DUPREE, 2011, S. 11f. Vgl. EBD., 2011, S. 25. Brief von Dorothea Ackermann an Johann Arnold Heise, 04.04.1774.
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erotische Phantasien in dieser körperfeindlichen Zeit frei – geliebt werden sie nicht.“39
In diesem Kontext ist es nicht weiter verwunderlich, dass es mehrfach Streit zwischen dem jungen Theaterdirektor Friedrich Ludwig Schröder (1744-1816), der von seinem Stiefvater die Leitung des Theaters übernommen hatte, und seiner Halbschwester Charlotte Ackermann über die Freizügigkeit ihrer Kostümwahl gegeben haben soll. Der erbittertste fand – laut Überlieferung – pikanterweise am Vorabend ihres plötzlichen Todes statt: Schröder war entsetzt, dass sie einen flatternden Seidenrock, der nur knapp die Knie bedeckte, anstatt eines züchtigen Wollrocks trug.40 Im Hinblick auf die Ressentiments, denen sich die Schauspielerfamilie trotz untadeligen Verhaltens weiterhin ausgesetzt sah, ist die Brisanz der Kostümwahl nachvollziehbar. Jede noch so kleine Nachlässigkeit konnte dazu benutzt werden, die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der Öffentlichkeit zunichte zu machen. Die Präsentation des weiblichen Körpers war nur so lange geduldet, wie dieser züchtig und standesgemäß gekleidet war und ein tadelloser Charakter zu ihm gehörte. Wie schnell einer Schauspielerin die Tugendhaftigkeit abgesprochen werden konnte, lässt sich gut an dem gewählten Beispiel von Charlottes Schwester Dorothea Ackermann illustrieren, sie „gehörte zu den glänzendsten Darstellerinnen der Hamburger Bühne.“41
Der Skandal um Doro thea Ackermann u nd Johann Arno ld He ise Wie alle Schauspielerkinder standen die Schwestern Ackermann von Kindesbeinen an auf der Bühne; die ersten Sprechrollen bekamen beide schon im jungen Alter von sechs Jahren,42 auch Hauptrollen spielten sie schon früh und mit großem Erfolg. In Hamburg waren es diese „Stars“ 39 40 41 42
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EMDE, 1997, S. 14. Vgl. MEYER, 1823, S. 283-297. BORCHERDT, 1953, S. 35. Zum Bühnendebüt der Schwestern Ackermann s. MEYER, 1823, S. 72 und S. 106.
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der Ackermannschen Schauspieltruppe, die beim Tanzen der üblichen Ballette zum Abschluss des Theaterabends das Publikum erfreuten, indem sie Myrthenkränzchen mit selbstverfassten Gedichten ins Publikum warfen.43 Dies war einer von vielen Kunstgriffen, um sich der andauernden Zuneigung des Publikums zu versichern. Es geschah nicht selten, dass ein Zuschauer in der zufälligen Gabe ein persönliches Geschenk sah und sich so in seiner Verliebtheit zu einer der Schauspielerinnen bestätigt fand. Ein solcher Zuschauer war der Jurist Johann Arnold Heise (1747-1834), ein Jugendfreund Schröders, der sich 1773 in die ältere Schwester Dorothea verliebte und sie nicht nur als Geliebte haben, sondern sie sogar ungeachtet aller gesellschaftlichen Konsequenzen heiraten wollte. Dorothea aber lehnte dies ab. Schwierig an dieser Situation war, dass es „für eine Dame vom Theater jedoch nicht ohne weiteres möglich [war], einen Verehrer abzuweisen, ohne sich ihm möglicherweise zum Feind zu machen […] Ein abgewiesener Liebhaber sann auf Rache.“44 Und einen Mann mit sozialem Einfluss wie Heise zum Feind zu haben, könnte dem gesamten Hamburger Theater schaden. Sie lehnte ihn dennoch ab, denn zu den bürgerlichen Idealen, denen sie folgte, gehörte auch das der Liebesheirat.45 Doch anstatt ihre Weigerung zu akzeptieren, bedrängte der spätere Bürgermeister Hamburgs die junge Frau und auch ihre Familie in Briefen. Besonders interessant an den Antworten Dorotheas ist die Gratwanderung zwischen der konsequenten Verteidigung ihrer Entscheidung und dem Versuch, Heise als wichtigen Zuschauer und Freund des Theaters (und der Familie) nicht zu brüskieren. „Sie klagen, Sie sind hintergangen worden; durch wem, wenn ich fragen darf? durch mich warhaftig nicht, den ich habe Sie nie falsche Hoffnungen gemacht; ich habe die Ihren, welche Sie mir durch anbiet-
43 „In diesem Ballette pflegten die Demois. Ackermann das Parterre zuweilen mit Mirthenkränzen zu bewerfen. Dieses Kränzewerfen war schon seit ein paar Jahren eine Art von Kompliment, womit diese beliebten Mädchen im Ballett ihr Publikum zu begrüßen pflegten. [..] ‚Zum Zeichen, daß wir Euch, bei unsrer Muse Spielen,/ als sie für Euch sie uns gelehrt, gefielen, / nehmt, wie der Herbst es bringen kann, / dies Kränzchen lächelnd von uns an.‘“ SCHÜTZE, 1794, S. 430f. 44 SCHWEDES, 2002, S. 146. 45 Vgl. HABERMAS, 1990, S. 111.
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hung Ihrer Hand erzeigt, geschäzt wie ich muß, Ihnen aber gleich die Unmöglichkeit von meiner Seite entgegen gesezt; worinn liegt aber nun der Betrug? […] Sie haben mir ja jeden Schritt, jede Miene, jedes Wort zum Verbrechen gemacht; glauben Sie mir: hätte ich Sie nicht vorzüglich geachtet, nie würde ich das ertragen haben;“46
Ihre jüngere Schwester – wie Schröder mit Heise befreundet – nahm sie in Schutz und bat gleichzeitig den Verehrer um Versöhnung und die Weiterführung der Freundschaft. Charlotte berichtete Heise, dass seine Briefe sie und ihre Mutter zum Weinen brächten und es deswegen auch Streit zwischen den Schwestern gäbe. Sie ersuchte ihn, andere „Frauenzimmer“ kennenzulernen.47 In den Briefen der Schwestern wurden wiederholt Friedensangebote unterbreitet, in denen sie betonten, es sei allein Heises Entscheidung, wie die Sache ausgehen solle. Ihm wurde deutlich signalisiert, dass er die Handlungsmacht besitze – nur zur Ehe würde es nicht kommen. Die Schwestern beriefen sich regelmäßig auf die Autorität ihrer Mutter. Doch der Verliebte ließ sich durch nichts von seinem Werben abbringen, wie in einem von Charlottes Briefen offensichtlich wird, in dem sie schreibt: „[…] ich habe Ihnen keine Hoffnung gemacht wo ich keinen Schimmer davon sah & sie haben mir nicht geglaubt!“48 Er blieb hartnäckig. Heise zeigte die Briefe der Familie Ackermann seinen Freunden, die ihn in seinen Forderungen unterstützten – sehr zum Verdruss der Umworbenen. Das Ganze artete in einen großen Streit aus, der auch öffentlich ausgetragen wurde. In Zeitungen wurden Gedichte veröffentlicht, die deutlich gegen die standhafte Schauspielerin Stellung nehmen. Ein typisches Beispiel ist folgendes Gedicht, das am 9. März 1774 im Reichs Post-Reuter veröffentlicht wurde: „An eine stolze Schauspielerin Voll vom Theater Etiquette Sprichst du als Königinn, und lächelst Hohn Auf uns herab; doch den gemahlte Thron, Dein hölzern Scepter, die papierne Kron, 46 Brief von Dorothea Ackermann an Johann Arnold Heise, 04.04.1774. 47 Brief von Charlotte Ackermann an Johann Arnold Heise, 02.05.1774. 48 Brief von Charlotte Ackermann an Johann Arnold Heise, 03.03.1773.
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Dieß alles liessest du im Schauspielhaus zurück: Weg mit dem Prinzeßinnen Blick, 49 Hier bist du nur Lisette.“
Hier wird deutlich, dass die Trennung von Rolle und Privatperson eingefordert wurde. Stolz und Überheblichkeit waren Charakterzüge, die bei der Figur auf der Bühne akzeptabel waren, welche sich aber die Schauspielerin nicht anmaßen durfte. Dorothea Ackermann als Frau wurde das Recht auf Stolz abgesprochen. Als „nur Lisette“ stand es ihr nicht zu, den sozial höhergestellten Heise zurückzuweisen, der sich als Zuschauer berechtigt sah, die Beziehung zu einer Schauspielerin einzufordern. Ruth Emde fasst diese Haltung gegenüber tugendhaften Schauspielerinnen passend zusammen: „Versuchen die Schauspielerinnen privat offenkundig den weiblichen Tugendkanon zu leben, werden sie entweder als unverschämt spröde empfunden oder die Virtuosität ihrer Vorstellungskunst wird von der Bühne auf ihr Privatleben übertragen: So oder so, sie galten als perfekte Heuchlerinnen.“50
Heuchelei war ein Vorwurf, mit dem Schauspieler wie Schauspielerinnen in einer Zeit, in der Authentizität, Aufrichtigkeit und Wahrheit zu zentralen Idealen erhoben wurden, vermehrt konfrontiert wurden. Die Schauspielerei an sich als eine Form der Lüge (und demnach häufig Teufelswerk) zu sehen, war ein verbreitetes Vorurteil, das jedoch schon so lange existiert wie die Tätigkeit selbst.51 Besonders von kirchlicher Seite wurde dieser Vorwurf wiederholt angeführt. Der Konflikt zwischen Heise und Dorothea wurde nicht nur schriftlich ausgetragen, er erstreckte sich auch auf das Theater. Fast ein Jahr dauerte die sogenannte „Verschwörung“52 des Publikums gegen sie und ihre Schwester. Sie wurden ausgezischt, sobald sie auf die Bühne traten, der Applaus wurde ihnen verweigert, die Darbietungen wurden lautstark kritisiert. „Wie oft, wenn Dorothea Ackermann eine große Arie in 49 Zitiert nach EMDE, 1997, S. 314. 50 EMDE, 1997, S. 14. 51 Vgl. PUSCHMANN, 2000, S. 51. Hier wird auch eine Auswahl geistlicher Streitschriften gegen das Theater genannt. 52 EMDE, 1997, S. 113.
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einer Oper zu singen hatte, verhöhnten sie [das gelehrte Bändchen, s.u.] sie so sehr, daß sie die Kadenz nicht ausmachte, nicht ausmachen konnte und mit Tränen vom Theater ging.“53 Kein Auftritt der jungen Frauen verlief friedlich.54 Es war aber nicht das ganze Publikum, das sich gegen die Ackermanns stellte – in der Widmung eines Theaterstücks von 1775 werden sie als „Deutschlands beste Töchter“ für ihre Kunst und Bescheidenheit gelobt 55 und zeitgenössische Beschreibungen zeichnen sie als mustergültig für ihren Stand aus, sei es auf der Bühne oder privat. Die Feindseligkeit ging vom „gelehrten Bändchen“ aus, einer kleinen Gruppe von selbsternannten Theaterkritikern, die großen Einfluss auf das Publikum und damit auf das Theater hatte und zu der Heise selbst gehört haben soll. Der Hamburger Theatergeschichtsschreiber Johann Friedrich Schütze (1758-1810) beschreibt das „gelehrte Bändchen“ in seiner Hamburgischen Theatergeschichte wie folgt: „Das Publikum zeigte einen ungewöhnlichen Enthusiasmus für sein Theater, wie fast nie zuvor, wenigstens nie gerechter. Hierzu trug nicht wenig eine gewisse, nicht kleine Gesellschaft von Schauspielfreunden bei, die als ein Publikum im Publikum, ein Status im Statu, ein Parterre im Parterre sich bildeten, und welche, was man auch dagegen erinnert haben mag, dem Theater, der Kunst und Geschmacksverbesserung nicht wenig nachgeholfen haben. […] Sie hatten sich zum täglichen Theaterbesuch, zur Stimmengebung während und nach den Vorstellungen, Beifallgebung und Verwerfung im Stücke, zur Befördrung der Sitte und Ordnung im Schauspielhause miteinander verbunden. […] Diese selbstgewählte Tonangeber applaudirten neuen guten Stücken, oder einzelnen gut gegebenen Szenen, oder schön gesprochnen Stellen in denselben; sie geboten Ruhe, Ordnung und Stille, wenn im Publikum, gleichviel ob aus Logen oder von der Gallerie, ungerechtes Lob oder hämischer Tadel, oder irgend eine unanständige Aeußrung laut ward.“56
Was hier als Förderung des guten Geschmacks und der Ordnung gelobt wird, zeigte sich im Theateralltag als Tyrannei. In dem Jahr des 53 54 55 56
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Caroline Schulze-Kummerfeldt, zitiert nach EMDE, 1997, S. 313. Vgl. EMDE, 1997, S. 312-320. UNZER, 1775, S. 1. SCHÜTZE 1794, S. 398f.
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Konflikts zwischen Heise und Dorothea unterbanden diese „Tonangeber“ jeglichen Applaus für die Schwestern Ackermann. Wer ihrer Meinung zuwiderhandelte und ihnen doch applaudierte, wurde selbst ausgezischt oder laut zur Ruhe aufgefordert. Ihre schauspielerischen Leistungen wurden als mangelhaft gewertet, weil sie sich angeblich als Privatpersonen unziemlich verhalten hatten. Es war in diesem Jahr irrelevant, dass die beiden in zahlreichen Theaterperiodika als Deutschlands beste Schauspielerinnen gefeiert und ihre Tugend als Vorbild dargestellt wurden, der verletzte Stolz eines Mannes schien ausreichende Rechtfertigung für das aggressive Verhalten des Publikums zu sein. Diese Verschwörung – die in Schützes Geschichte interessanterweise nicht erwähnt wird – hätte noch länger als dieses Jahr andauern können, wenn nicht Charlotte Ackermann plötzlich gestorben wäre. Am 10. Mai 1775 erlag die 17jährige wahrscheinlich inneren Verletzungen nach einem Reitunfall; um ihren Tod ranken sich aber diverse Gerüchte. Die bedeutendsten Gerüchte waren folgende: Sie solle an einem Nervenfieber erkrankt gewesen sein, einer typischen Schauspielererkrankung des Sturm und Drang, da sie ihre Rollen immer besonders heftig spielte. Viele gaben auch ihrem Bruder Friedrich Ludwig Schröder die Schuld an ihrem frühen Tod; seine Anforderungen an sie als Schauspielerin und Tänzerin seien zu hoch gewesen.57 In den Nachrufen auf Charlotte wird deutlich, dass die Trennung von Rollen und Privatpersonen in der öffentlichen Wahrnehmung von SchauspielerInnen kaum vollzogen wurde; die Tugenden ihrer berühmten Rollen wurden ihr zugeschrieben und sie zur Heiligen verklärt.58 Nach ihrem Tod erscheinen mehrere Gedichtsammelbände mit Nachrufen und Romanen über ihr – fiktiv stark angereichertes – Leben. Sie stimmen in einem zentralen Punkt überein: Der Mensch Charlotte Ackermann wurde zu einem Ideal erhoben, sie war gleichzeitig ein Naturgenie, ein Muster an Keuschheit und eine sensible und leidende Heldin. Die Texte und dieses Ideal verbreiteten sich im deutschsprachigen Raum und prägten ein neues Bild der tugendhaften Weiblichkeit auf der Bühne.59
57 Vgl. MEYER, 1823, S. 279-283. 58 Vgl. PUSCHMANN, 2000, S. 140. 59 Vgl. DUPREE, 2011, S. 24. Inwieweit diese Prägung unsere heutige Wahrnehmung von Schauspielerinnen beeinflusst, wäre eine Untersuchung wert.
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Fazit Ein Skandal wie der um die Schauspielerin Dorothea Ackermann bietet sich für die Analyse der Vorstellungen und Ideale von Gender im 18. Jahrhundert an. Wie deutlich geworden ist, lässt sich die Frage aber auch bei einer separierten Fragestellung ohne Beachtung der Bereiche sozialer Status, Beruf und Alter sowie ohne den Kontext der zeitgenössischen Entwicklungen, Gesellschaftsstruktur und Kultur nicht umfassend genug erörtern. Dorothea Ackermann war als junge Dame von 21 Jahren im heiratsfähigen und attraktiven Alter. Durch den Bürgerstatus ihres Vaters und ihr Verhalten gehörte sie dem Bürgertum an, wodurch Hochzeitsanträge von und Eheschließungen mit Bürgersöhnen ohne deren Statusverlust möglich waren. Die Schauspielertätigkeit ihrer Familie und ihre dementsprechende Bildung und Berufstätigkeit machten sie jedoch weiterhin zur Angehörigen einer Randgruppe, der u.a. Unsittlichkeit und Prostitution nachgesagt wurde. Außerdem stand ihre schauspielerische Tätigkeit im Widerspruch zu den sich verbreitenden bürgerlichen Normen von Weiblichkeit, die Zurückhaltung und ein auf das Private, das familiäre Heim orientiertes Leben forderten. Es ist nur in diesem Zusammenhang nachvollziehbar, warum ein junger Bürgerssohn wie Johann Arnold Heise einer Schauspielerin nicht nur nachstellte sondern ihr einen Hochzeitsantrag machte, denn vor dem sozialen Aufstieg der SchauspielerInnen wäre eine solche Verbindung nur mit Aufgabe des bürgerlichen Status‘ des Bräutigams möglich gewesen. Die angebotene Eheschließung hätte Dorothea Ackermann den Platz in der bürgerlichen Gesellschaft gesichert, nach dem sie strebte. Doch zu den Idealen des Bürgertums gehörte auch das neue Konzept der Liebesheirat, und es war der fehlenden Liebe wegen, dass sie ihn abwies und ihre Familie sie in ihrer Entscheidung unterstützte. Diese Option der freien Entscheidung war ein weiterer neuer Freiraum, der durch die im Hintergrund ablaufenden Prozesse geschaffen wurde. Die Art und Heftigkeit der Reaktion des abgewiesenen Heise wiederum lässt sich zum Teil durch die noch andauernde Überzeugung der moralischen Verwerflichkeit und Käuflichkeit der Schauspielerinnen und das damit zusammenhängende Absprechen der Entscheidungsfreiheit bezüglich der Männerwahl erklären. Seine Briefe und sein Handeln
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zeigen, dass er nicht verstand (oder nicht verstehen konnte), dass eine Frau mit einer unsicheren sozialen Stellung ihn abwies. Ähnlich motiviert war die Reaktion des „gelehrten Bändchens“ und zumindest eines Teils der Öffentlichkeit, der den veröffentlichten Gedichten gegen die als stolz verschriene Schauspielerin zustimmte. Die kurze Zusammenfassung zeigt, dass die Multirelationalität des Konzeptes Gender zentral für die Beantwortung einer separierten Fragestellung ist; in diesem Beispiel sind es neben dem Alter primär die laufenden sozialhistorischen und kulturellen Prozesse. Diese Bereiche bilden nicht nur den Kontext für die Frage nach dem Status der Schauspielerinnen im 18. Jahrhundert, sie liefern die Beweggründe, Freiräume und Interdependenzen, die notwendig sind, um die Frage umfassend zu beantworten. Auch wenn die Beantwortung hier anhand eines herausragenden Beispiels geschieht, fördert die Untersuchung die Sichtbarkeit von Frauen in der Geschichte. Es ergeben sich zahlreiche Schnittstellen zur Analyse anderer Themenbereiche, unter anderem die des sozialen Status des Schauspielerstandes und seines Wandels, die Rolle des Theaters in der Etablierung des Bürgertums und der allgemeine Wandel des Menschenbildes im Laufe des 18. Jahrhunderts – all dies im Hinblick auf den Wandel der Rolle der Frau und ihrer Sonderstellung im Theater. Des Weiteren wäre es wünschenswert, dass mehr zeitgenössische weibliche Selbstzeugnisse und Ego-Dokumente untersucht würden, die eine divergierende Perspektive auf die Prozesse im 18. Jahrhundert liefern könnten, von denen wir bis heute großteils nur die männliche Sicht kennen.
Literatur Archivalien Brief von Charlotte Ackermann an Johann Arnold Heise, 3. März 1773, in: Briefe an Licentiat Heise/Charlotte Ackermann, Inventarnummer 1920.468 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg). Brief von Dorothea Ackermann an Johann Arnold Heise, 4. April 1774, in: Briefe an Licentiat Heise/Charlotte Ackermann, Inventarnummer 1920.469 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg).
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Brief von Charlotte Ackermann an Johann Arnold Heise, 2. Mai 1774, in: Briefe an Heise/Dorothea Ackermann, Inventarnummer 1920.473 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg).
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Reflexion des Beitrags von Jacqueline Malchow ELLEN KOBAN Aus einer sozialgeschichtlichen und genderkritischen Perspektive untersucht Jacqueline Malchow anhand eines ausgewählten Beispiels die gesellschaftliche Sonderrolle deutscher Schauspielerinnen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zwischen bürgerlichen Moralvorstellungen, mit ihnen verbundenen „natürlichen“ Weiblichkeitsidealen und dem Vorwurf der (theatralen) Täuschung. Den Gegenstand ihrer quellennahen Analyse bildet der sich in den Jahren 1773/74 ereignende Hamburger Theaterskandal um die aus einer angesehenen Theaterfamilie stammende Schauspielerin Dorothea Ackermann und den Juristen Johann Arnold Heise, den die Autorin anhand des Briefwechsels zwischen beiden sowie weiteren Schriftquellen nachzeichnet und multirelational kontextualisiert. So zeigt sie einerseits auf, dass der sich zu einem Politikum entwickelnde Theaterskandal sozialhistorisch überhaupt erst im Zuge der sich wandelnden Gesellschaftsstruktur und sich in diesem Prozess herausbildender „Geschlechtscharaktere“ ermöglicht wurde; andererseits und damit einhergehend führte, so Malchow, die Professionalisierung des bis dahin gesellschaftlich marginalisierten SchauspielerInnenstandes zu einer Inbesitznahme des Theaters durch die bürgerliche Kultur, die ihre neuen Werte und ihren bürgerlichen Habitus auch auf der Theaterbühne „natürlich“ und „wahrhaftig“ verkörpert sehen wollte. Die seit jeher (und gleichwohl mehr als ihre männlichen Kollegen) mit den Vorwürfen der Unsittlichkeit, Heuchelei und Prostitution behaftete Schauspielerin gerät auch oder gerade unter den geänderten Bedingungen in eine prekäre Position und paradoxe 175
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Situation: Durch die Forderung eines „natürlichen Schauspielstils“ gehen Bühnenfigur und Privatperson quasi ineinander über; idealisiert und als authentisch wahrgenommen wird in der Verkörperung einer Figur die Schauspielerin selbst, die im konkreten Fallbeispiel ihren Verehrer durch die Ablehnung seines Heiratsantrages nicht nur brüskiert, sondern in seinen Augen hintergeht und betrügt. An der Schnittstelle zwischen Theater- und Sozialgeschichtsschreibung beleuchtet Jacqueline Malchow multiperspektivisch das Paradox der Schauspielerin im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die fallspezifische Analyse lässt sich dabei explizit als ein Beitrag zur Frauenforschung lesen. Konsequent und überzeugend ist es daher, dass Malchow ihren Fokus in einem ersten Schritt auf die sozial differenzierende Kategorie „Geschlecht“ setzt. Auf diese Weise kann sie einerseits deutlich machen, welchen gesonderten gesellschaftlichen Status Schauspielerinnen im Übergang von traditionellen und aufklärerischen Geschlechteridealen innehatten; andererseits zeigt Malchow anhand ihrer multirelationalen Vorgehensweise die zentrale Rolle der Kategorie selbst auf: Die Geschlechterdifferenz im Sinne einer Komplementärbeziehung erweist sich im historischen Wandel des 18. Jahrhunderts eminent als kulturschaffend, in diesem Sinne als differenzverstärkend in Bezug auf (Berufs-)Standeszugehörigkeiten und Altersklassen. Innerhalb der Argumentationsstruktur des Beitrages geht die separierte Fragestellung fließend in einen integrierenden Ansatz über. Malchows Vorgehen demonstriert damit sinnfällig die notwendige Kontextualisierung und Historisierung ihres Gegenstandes. Dass Schauspielerinnen auch nach dem 18. Jahrhundert und bis heute mit dem Stigma der Käuflichkeit behaftet sind, erörtert eine unlängst veröffentlichte Arbeit der Theaterwissenschaftlerin Melanie Hinz unter dem Titel „Das Theater der Prostitution. Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart“.1 Jacqueline Malchow liefert hierzu wesentliche Einblicke in dessen Vorgeschichte.
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HINZ, MELANIE, Das Theater der Prostitution. Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart, Bielefeld 2014.
Zur Konstruktion der Figur der Kindsmörderin Eine mikro logische und multiperspektivische Betrachtung des Kindsmordprozesses gegen Maria Magdalena Kaus zu Assenheim 1760 -66 SVENJA MÜLLER „Wenn die Quellen uns die Möglichkeit bieten, nicht nur anonyme Massen, sondern Einzelpersönlichkeiten zu entdecken, wäre es absurd sie zu übergehen.“1
In Assenheim, einer Kleinstadt im heutigen Hessen, kam am 15. August 1760 die 23-jährige Schuhmachertochter Maria Magdalena Kaus mit einem unehelichen Kind nieder. Die Geburt fand heimlich in der oberen Stube des elterlichen Hauses statt, das Kind starb entweder vor oder nach der Geburt. Die Frage, ob dieses Kind tot oder lebend zur Welt gekommen war, wurde zum zentralen Punkt der sich anschließenden sechs Jahre andauernden gerichtlichen Untersuchung, in deren Verlauf nicht nur Maria Magdalena Kaus inhaftiert und der peinlichen Befragung unterzogen wurde, sondern auch ihre Mutter in den Fokus der Beschuldigungen geriet. Bis zum Ende des Prozesses und auch während der peinlichen Befragung beharrte Maria Magdalena darauf, dass ihr Kind tot zur Welt gekommen sei, und wurde letztlich unter
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GINZBURG, 1983, S. 16.
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Staupenschlägen für ewig der Solms-Rödelheimischen, YsenburgBüdingischen und Hanauer Lande verwiesen.
Wider e in sektora les B ild der Vergan genheit: Die mikrolo gische Unter suchung des Proze sses gegen Mar ia Magdalena Kau s Im Rahmen der Beschäftigung mit den Themengebieten Recht und Kriminalität stand lange Zeit die Untersuchung der jeweiligen Normen im Vordergrund.2 „Normalem“ Verhalten, welches dem rechtlich kodifizierten Normengefüge entsprach, wurde deviantes Verhalten gegenübergestellt. Devianz wurde demnach „als isoliertes Phänomen und individuelles Fehlverhalten analysiert […] wobei die strafrechtlich vorgegebenen Rechtsnormen ebenso fraglos vorausgesetzt wurden wie ihre allgemeine Akzeptanz.“3 Die Einflussnahme historischer Akteurinnen und Akteure, deren Handlungsmöglichkeiten und -strategien wurden dabei ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass Verbrechen nicht seit jeher festgelegt, sondern erst durch Diskurse und Normen konstruiert und definiert wurden bzw. werden. Einschätzung und Bestrafung eines Deliktes sind abhängig von den jeweils vorherrschenden Diskursen und Narrativen, Devianz ist somit wandelbar. Verstärktes Interesse für die Lebenswelt der historischen Akteurinnen und Akteure setzte erst mit der Erschließung der bis zu diesem Zeitpunkt als Quelle vernachlässigten Vernehmungsprotokolle vor allem durch die Kriminalitätsgeschichte, aber auch die Geschlechtergeschichte ein. Einen besonders erfolgversprechenden Zugang stellt dabei die Untersuchung eines zeitlich und räumlich begrenzten Untersuchungsgegenstandes dar. Während sich frühe mikrogeschichtliche Untersuchungen – wie zum Beispiel Hans Medicks Weben und Überleben in Laichingen4 oder Emmanuel Le Roy Laduries
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Zur Entwicklung der deutschen Kriminalitätsforschung siehe EIBACH, 1996, S. 681-715. SCHWERHOFF, 1992, S. 395. MEDICK, 1996.
Zur Konstruktion der Figur der Kindsmörderin
Studie Montaillou5 – der Forschung in Dörfern widmen,6 nimmt die vorliegende Arbeit eine weitergehende Maßstabsvergrößerung des Untersuchungsgegenstandes vor. Ausgangspunkt meiner Dissertation, aus der ich Auszüge in diesem Artikel thematisiere, ist die circa 1000 Blatt umfassende Prozessakte, welche die intensiv und langjährig betriebene Untersuchung gegen die des Kindsmordes verdächtige Maria Magdalena Kaus dokumentiert. Die Akte – eine Sammlung von Berichten, Stellungnahmen, Verhörprotokollen, Supplikationen und Gutachten – wurde in den Jahren 1760 bis 1766 von Seiten der Grafschaft Solms-Rödelheim und Assenheim angelegt und befindet sich heute im Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt. Die Konzentration der Studie auf den Prozess gegen Maria Magdalena Kaus ermöglicht durch eine konsequente Kontextualisierung aus biographie-, herrschafts-, wissens-, körper- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive sowie eine tiefgehende Auswertung und Dialogisierung7 der unterschiedlichen historischen Quellen (unter anderem Prozessakten, Kirchenbücher, Grabsteine und Schatzungen) einen detaillierten Blick auf das Geschehen und die daran beteiligten Personen. Untersucht wird dabei nicht die kleine Einheit als solche, sie soll es vielmehr ermöglichen, bestimmten Fragestellungen genauer nachzugehen und verschiedene Aspekte der jeweiligen Lebenswelt – darunter auch „Gender“ – zusammenzuführen, die sonst meist getrennt voneinander untersucht werden und ein sektorales Bild der Vergangenheit nahelegen können. Ein mikrohistorischer Zugang bietet sich für das Thema Kindsmord besonders an, da sich vor allem in den 1980er und 1990er Jahren zahlreiche quantifizierende Studien mit Häufigkeit und „typischer“ Erscheinungsform (Alter, sozialer Stand der Frauen etc.) des Deliktes beschäftigten.8 Dadurch wurde die nötige Vorarbeit für komplexe Fragen hinsichtlich der Lebenswelt und daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Frauen sowie nach dem genauem Ablauf eines Kindsmordprozesses geleistet, die im Rahmen 5 6 7 8
LE ROY LADURIE, 1993. LEVI, 1991, S. 93. Zur Dialogisierung historischer Quellen siehe MEDICK, 1994, S. 98. Hervorzuheben sind hierbei die Monographien Otto Ulbrichts zu den Herzogtümern Schleswig und Holstein sowie Kerstin Michaliks zum Königreich Preußen: ULBRICHT, 1990, MICHALIK, 1997.
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jener breiten, vergleichenden Studien zwangsläufig in den Hintergrund geraten mussten. Auch wenn die Frage nach möglichen Motiven und Handlungsstrategien der am Prozessgeschehen beteiligten Akteurinnen und Akteure dabei nie eindeutig beantwortet werden kann, ist eine Annäherung, die auf eindeutige Antworten verzichtet, im Rahmen einer mikrologischen Untersuchung durchaus zu erreichen. Neben der Betrachtung der politischen und gesellschaftlichen Umstände können durch ein solches Vorgehen soziale Netzwerke rekonstruiert werden, die gesellschaftliche Verbindungen und Abhängigkeiten und daraus resultierende Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden lassen. Entstehen soll „eine Art Spinn[en]gewebe mit sehr engen Maschen, das dem Beobachter gleichsam eine graphische Vorstellung vom Netz sozialer Beziehungen vermittelt, in dem das Individuum erfasst ist“.9 Während quantifizierende Untersuchungen zum Kindsmord zum Teil einfache Erklärungsmuster wahrscheinlich erscheinen lassen, veranschaulicht die mikrologische Vorgehensweise die Komplexität dieses Prozesses und die vielfältigen Handlungsspielräume der daran beteiligten Personen. „Geschlecht“ verstehe ich in Anlehnung an Andrea Griesebner als mehrfach relationale Kategorie:10 „Frau“ ist demnach nicht gleich „Frau“, sondern weibliche Lebenswelten unterscheiden sich in der Frühen Neuzeit wie auch heute entscheidend je nach Alter, sozialem Stand, Herkunft usw. Eine mikrologische Untersuchung erlaubt es, durch die Beschränkung des Untersuchungsgegenstandes, „Geschlecht“ nicht losgelöst von dessen Zusammenhang, sondern als Bestandteil eines komplexen Netzes von Zugehörigkeiten und Zuschreibungen zu untersuchen. Durch einen solchen integrierten Ansatz von Gender werden Geschlechterfragen nicht etwa marginalisiert, sondern können erst in ihrem „Gesamt“zusammenhang erfasst werden. Beispielsweise unterschied sich der Grad der Diskriminierung, welchen ledige Mütter und ihre unehelichen Kinder erfuhren, 9 GINZBURG /PONI, 1985, S. 50. 10 Vgl. GRIESEBNER, 1998, S. 129-137. Siehe dazu auch HOHKAMP, 2000, S. 6-17. Eine Diskussion der Problematik, die sich aus einem offenen und mehrdimensionalen „Gender“-Begriff hinsichtlich Geschlechterdifferenz und Geschlechterrollen ergibt, würde über den Rahmen dieses Beitrags hinausführen, wird jedoch innerhalb meiner Dissertationsschrift genaue Betrachtung finden.
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entscheidend je nach sozialen Umständen der Frau. Insbesondere für arme ledige Frauen gestaltete sich das Leben mit einem unehelichen Kind häufig schwierig. Denn während sich frühneuzeitliche Hospitäler in der Regel neben der Pflege kranker und alter Menschen auch um die Aufnahme, Speisung und Bekleidung der Armen kümmerten, zeigt sich die Diskriminierung verarmter lediger Mütter unter anderem daran, dass sie und/oder ihre unehelichen Kinder aufgrund ihres Lebenswandels nicht in den landgräflichen Hospitälern Hessen-Kassels aufgenommen wurden.11 Auch die verbreitete Anweisung, nach welcher die Leichen ausgewählter lediger Mütter oder unehelicher Kinder im Falle ihres Todes an die Anatomien der Universitäten geliefert werden sollten, verdeutlicht eine differenzierte Behandlung je nach sozialen Umständen der Frauen: „Üblicherweise waren die Frauen betroffen, die nach der Geburt nicht geheiratet hatten, die ein zweites oder drittes uneheliches Kind bekamen und/oder nicht eigenständig für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten. Es mußten also demnach mehrere Faktoren zusammentreffen, wenn es tatsächlich zur Ablieferung kommen sollte.“12
Frauen, die aus dem Bürgertum stammten, wurden hingegen in der Regel nicht von einem solchen Schicksal bedroht. Innerhalb des Adels konnte der Verlust sozialen Kapitals weitgehend durch finanzielle Anstrengungen abgewendet werden, uneheliche Kinder wurden meist diskret in Klöstern untergebracht.13 Daneben handelt es sich bei „Gender“ nicht um eine festgelegte, unveränderbare Kategorie. Ein besonderer Verdienst der Geschlechtergeschichte ist es, das Bewusstsein dafür geschärft zu haben, dass „Gender“ zu jeder Zeit konstruiert und reproduziert wurde und wird.14 Dies wird auch am Beispiel von Maria Magdalena Kaus deutlich, welche im Assenheimer Rathaus ausschließlich auf männliche Beamte traf.
11 12 13 14
Vgl. VANJA, 2001, S. 202. STUKENBROCK, 2001, S. 66. Vgl. LUSERKE, 1996, S. 203. Herausragende Beachtung fanden dabei v. a. die Beiträge Judith Butlers. Siehe dazu u. a. BUTLER, 1990, S. 270-282; DIES., 2007.
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Die F igur der K ind smörder in vor Ger ich t Vor Gericht trafen populäre und obrigkeitliche Welt aufeinander. Die Gerichtssituation kann somit mit den Worten Ulrike Gleixners „als ein Moment verdichteter Herrschaft“15 angesehen werden. Es ergab sich dabei zwar zweifelsohne ein ungleiches Mächteverhältnis, die/der Verdächtige bzw. Angeklagte verfügte jedoch auch in dieser Situation noch über – wenn auch eingeschränkte – Handlungsmöglichkeiten. Sie/Er wurde im Rahmen eines oder mehrerer Verhöre einer ergebnisorientierten Zwangskommunikation ausgesetzt.16 Durch BeBefragungen sollten zum einen Informationen über das mit der Untersuchung in Zusammenhang stehende Geschehen erlangt werden, zum anderen erlaubten sie der/dem Beschuldigten Stellung gegenüber den geäußerten Vorwürfen zu beziehen und ihre/seine Sicht der Dinge darzulegen. Dabei beachtet werden muss jedoch, dass das Gericht – ebenso wie in heutigen Prozessen – der/dem Verdächtigen nicht unvoreingenommen gegenübertrat. Die männlichen Beamten hatten unter anderem klare Vorstellungen und Erwartungen in Hinblick auf Geschlechterstereotypen, die im Zusammenhang mit dem weiblichen Körper und sexuellen Beziehungen standen. Das Bild, das so schon vor der ersten Befragung von der vermeintlichen Kindsmörderin entworfen wurde und ein wichtiger Ausdruck von Herrschaftsbeziehungen war, wirkte auf das Verhalten der Beteiligten zurück und wurde realitätsmächtig, indem die vor Gericht stehenden Frauen jene Stereotypen für ihre Argumentation zu nutzen versuchten. Katharina SimonMuscheid sieht in einem solchen Verhalten eine Instrumentalisierung der „Asymmetrie der Geschlechterordnung für ihre Bedürfnisse“17. Demnach verwendeten Frauen vor Gericht Formeln zu ihrer Entlastung, die männlichen Vorstellungen der Gesellschaftsordnung entsprachen und daher von diesen als Erklärungsmodell oder Milderungsgrund akzeptiert werden konnten.
15 GLEIXNER, 1994, S. 13. 16 Zu Verhören als ergebnisorientierter Zwangskommunikation bzw. „zwangsweiser Aushandlung“ siehe HOLLY, 1981, S. 281ff. 17 SIMON-MUSCHEID, 2001, S. 396.
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Auch Maria Magdalena Kaus brachte innerhalb ihrer Verhöre verschiedene Argumente weiblicher Schwäche gegenüber den Beamten hervor. Sie gab an, nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt zu haben: „auch habe sie zwar das Kind gespüret, doch stets geglaubet, die Bewegung rühre von der [Gebär]Mutter her“.18 Vielmehr habe sie den Aussagen der Ärzte, welche sie und ihr Vater wegen ihrer ausgebliebenen Periode aufgesucht hatten, Glauben geschenkt. Während Maria Magdalena und ihre Familie erklärten, diese beiden Mediziner hätten ihr versichert, nicht schwanger zu sein, gaben diese wiederum vor Gericht an, sich gegenüber Maria Magdalena und Jost Kaus nicht eindeutig darüber geäußert zu haben. Ihr standhaftes Leugnen, schwanger gewesen und niedergekommen zu sein, welches Maria Magdalena erst infolge einer Untersuchung durch drei Hebammen aufgab, erklärte sie gegenüber den Beamten in einem Verhör damit, dass sie nicht wisse, warum sie ihre Niederkunft geleugnet habe, der Satan müsse sie verblendet haben. Bei dem Verweis auf den Teufel handelte es sich wohl um einen Versuch, die eigene Schuld zu mindern und/oder die Verwirrung, die zu einer Straftat geführt hatte, zu erklären. Es war dies zwar eine in frühneuzeitlichen Kindsmordprozessen nicht selten vorgebrachte, aber insbesondere in Phasen der Hexenverfolgung äußerst gefährliche Argumentation.19 In einem späteren Verhör wiederum gab Maria Magdalena Kaus an, aus Furcht vor ihrem Vater geschwiegen zu haben, da ihr solcher gedroht habe, „daß Er Sie in das Waßer werffen wolle wann Sie mit einem Kind ginge“20. Sie zeigte Reue und bejahte die Frage der Beamten, ob sie aufgrund ihrer „Tat“ nicht Strafe verdiene. Erscheint Maria Magdalena in diesen Aussagen als unwissende und aus Furcht handelnde junge Frau, deuten andere Stellungnahmen jedoch auf eine durchaus starke und strategisch denkende Person hin. So erklärt sie ihr Leugnen an anderer Stelle folgendermaßen: „Weilen das Kind todt geweßen, so hatte Sie gedacht daß sie es verschweigen wolle da es ein mahl verborgen geblieben […] Ja wie sie das Kind gehabt hätte, habe Sie es wollen auf die Seite bringen“.21 Auch angesichts der 18 19 20 21
HStAD F 24 C Solms-Rödelheim, Nr. 23/9. Vgl. LABOUVIE, 2012, S. 20, RUBLACK, 1998, S. 245. HStAD F 24 C Solms-Rödelheim, Nr. 23/9. EBD.
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drohenden peinlichen Befragung bleibt Maria Magdalena standhaft bei ihrer Aussage, ein totes Kind zur Welt gebracht zu haben: „Dieselbe erklähret sich hierauf dahin, wie daß sie sich alles gefallen laßen müste, was man mit Ihr anfangen würde. In deßen könne sie anderst nicht sagen, als daß sie die Folter ohnschuldig ausstehen und leiden müste, in deme das Kind nicht gelebt habe, und daß sie mit diesem Urtheil eben noch nicht zu frieden seye.“ 22
Nachdem sie bereits fünf Jahre an einer Fußkette in einem improvisierten Gefängnis ausgeharrt hatte, leugnet Maria Magdalena auch im Verlauf der einstündigen Folterung ihr Kind getötet zu haben. Ist es mir nicht möglich, anhand der Aussagen Maria Magdalenas deren „wirkliche“ Erfahrungen und Wahrnehmungen zu erfassen, so geben sie doch zumindest Zeugnis darüber ab, wie sie sich glaubte verhalten zu müssen, um zunächst als unschuldig betrachtet zu werden bzw. später einer harten Bestrafung wegen Kindsmordes zu entgehen. Eine Inszenierung weiblicher Schwäche oder Ohnmacht half folglich nicht nur obrigkeitliche Moralpolitik umzusetzen, sondern unterlief sie zugleich auch. Darüber hinaus verdeutlichen Gerichtsakten, dass eine einzige Frau mittels unterschiedlichster Zuschreibungen charakterisiert werden konnte und kann. Im Falle Kaus zeugen neben den Aussagen der NachbarInnen und des vermeintlichen Kindsvaters vor allem die ausführlichen Stellungnahmen des Defensors und des Advocatus Fisci (des Anklägers) von gegensätzlichen Konstruktionen der vor Gericht stehenden Frau und ihrer vermeintlichen Tat. So entsprach die folgende Einschätzung des Delikts und der Täterin durch den Ankläger noch vollkommen dem Bild, welches unter anderem in der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karl V. aus dem Jahr 1532 entworfen worden war: „Obwohlen die Göttliche und Menschliche Gesetze die schon in der Vernunfft gegründete verbindlichkeit niemanden umbs leben zu bringen unter Androhung der härtesten Straffe zu erkennen geben, so giebt es doch leider! zum offtern solche verruchte Gemüther, die diesen 22 EBD.
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Nathürlichen trieben entgegen zu handeln, an Gott dem Allerhöchsten Richter sich zu versündigen und deßen sowohl als der Menschen Straffgebote hintan zu setzen die unverantwortlichste boßheit bezeigen; Und dieses Verbrechen ist so größer je mehrere bewegungs Gründe und triebe zur Verabscheuung einer solchen bößen Handlung allschon die Nathur dem Menschen einflößet. Was kann teste experientia hefftiger seyn, als die von Natur allen Creaturen eingepflanzte Liebe zu ihrer Geburt, und dennoch siehet man an dem betrübten beyspiel der peinlich beklagtin, daß Sie Sich keiner Sünde gescheuet, ihr lebendig zur welt gebrachtes eigenes Kind mit allem vorsatz zu ermorden.“23
Advocatus Fisci Daniel Runckel konstruiert Maria Magdalena als Dirne mit schlechtem Ruf, die durchaus nicht naiv oder schwach, sondern eine „aufgeweckte verständige Weibsperson“24 sei. Das Geschehen erscheint in Runkels Narration linear und zielgerichtet, so dass es ohne Schwierigkeiten anhand folgender sechs „Wahrheiten“ zusammengefasst werden kann: „1) Wahr also, daß Sie ihre Schwangerschafft gewußt, und geflißentlich verheelet […] 2) Wahr, daß peinl. beklagtin, das Kind abtreiben wollen […] 3) Wahr, daß inquisitin den Willen gehabt, das Kind heimlich zu gebähren, und umzubringen […] 4) Wahr, daß das Kind ausgetragen, und nach der Geburt gelebet. […] 5) Wahr, daß das Kind gewaltsam umbs leben gebracht worden […] 6) Wahr, daß Peinl. beklagtin die Mörderin gewesen“25
Demgemäß müsse „peinlich beklagtin ihr selbst zur wohl verdienten Straff, und andern zum Exempel nach Inhalt des 131. Articuls der Peinlichen HalsgerichtsOrdnung vom Leben zum todt zu bringen“ sein. Eine vollkommen andere Interpretation des Geschehens bieten die Stellungnahmen des Defensors: Er argumentiert, es habe kein 23 HStAD F 24 C Solms-Rödelheim, Nr. 23/10, Anklageschrift vom Juni 1761. 24 HStAD F 24 C Solms-Rödelheim, Nr. 23/10, Stellungnahme des Anklägers vom Februar 1762. 25 HStAD F 24 C Solms-Rödelheim, Nr. 23/10, Anklageschrift vom Juni 1761.
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Kindsmord stattgefunden, da Maria Magdalena ein totes Kind zur Welt gebracht habe. Auch könne ihr weder eine Verheimlichung ihrer Schwangerschaft und Niederkunft noch ein Abtreibungsversuch zur Last gelegt werden, da sie aufgrund der Aussagen der von ihr konsultierten Ärzte nicht an eine Schwangerschaft geglaubt habe „und [sich] ohne Noth nicht selbsten vor der zeit prostituieren noch ihre Eltern in bekümmernuß setzen wollen“.26 Entgegen der Aussagen des Advocatus Fisci handele es sich bei Maria Magdalena um „ein noch niemahlen schwanger noch von denen Weiblichen Umständen informirt geweßenes einfaltiges Mädgen“ mit gutem Ruf, die „mit sonsten keiner Mannßpersohn […] einen vertraulichen Umgang gepflogen“.27 Defensor Christoph Henrich Breithaupt sah folglich keine Grundlage, auf welcher seine Mandantin gemäß der Peinlichen Halsgerichtsordnung gefoltert oder zum Tode verurteilt werden sollte. Im Falle Maria Magdalenas sei die Folter zudem abzulehnen, „da p. beklagtin, als ein zartes junges Weibsbild lieber alles, was man von ihr begehret, bey der peinlichen frage bejahen, und den Schwertstreich erwehlen, als die grausame langwirige Tortur ausstehen dörfte“. 28 Diese beiden Beispiele verdeutlichen, wie unterschiedlich eine Person – in diesem Fall eine Frau – je nach Beziehung und Intention konstruiert werden konnte. Während der Defensor zur Verteidigung seiner Mandantin auf den Stereotyp der schwachen und einfältigen Frau zurückgreift, erscheint Maria Magdalena in den Stellungnahmen des Advocatus Fisci als starke, mit allem Vorsatz vorausplanende Person.29 Beide Verhaltensweisen sind folglich für eine frühneuzeitliche Frau denkbar.
Fazit Anhand dieses kurzen Einblicks in das Prozessgeschehen um Maria Magdalena Kaus sollte gezeigt werden, wie gegensätzlich eine vor 26 27 28 29
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EBD. EBD. EBD. Sehr ähnlich argumentierten Defensor und Advocatus Fisci in dem von Claudia Ulbrich untersuchten Fall der Steinbiedersdorfer Witwe Katharina Legendre: vgl. ULBRICH, 1999, S. 99-101.
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Gericht stehende Person und deren vermeintliche Tat konstruiert werden konnte und kann. Die Tatsache, dass das Gericht der/dem Verdächtigen nicht unvoreingenommen begegnete und unter anderem klare Vorstellungen und Erwartungen in Zusammenhang mit deren/dessen „Geschlecht“ hatte, konnte jedoch auch von Seiten der/des Verdächtigen für ihre/seine Bedürfnisse genutzt werden. So versuchte sich auch Maria Magdalena Kaus zu entlasten, indem sie innerhalb ihrer Verhöre verschiedene Argumente weiblicher Schwäche gegenüber den Beamten hervorbrachte. Während jedoch in ihrem Fall der Verweis auf den Teufel keine nachteiligen Folgen mehr hatte, galt die Furcht vor dem (bürgerlichen) Vater noch nicht wie in den 1770er und 1780er Jahren als Strafminderungsgrund. Die Kategorie „Kriminalität“ ist folglich ebenso wie auch „Gender“ kontextspezifisch und kontextabhängig (z. B. je nach Zeit, Raum, Wertvorstellungen, Herrschafts- und Machtkontext). Beide Kategorien sollten daher nicht separat und abgeschlossen untersucht, sondern in einem möglichst großen Zusammenhang betrachtet werden. Ein solcher integrierter Ansatz erlaubt zudem, mögliche Veränderungen oder Umdeutungen der Geschlechterdifferenz und -hierarchie zu berücksichtigen und dementsprechend historische Personen als Akteurinnen und Akteure wahrnehmen zu können. Insbesondere eine mikrohistorische Vorgehensweise und eine umfassende Kontextualisierung ermöglichen es, „die Variablen, die für die Positionen und Positionierungen der Individuen im Untersuchungsraum von Bedeutung waren, weiter [zu] verfeiner[n] und in ihrer Relation zueinander [zu] analysier[en]“30 und somit der Komplexität vergangenen Geschehens Rechnung zu tragen.
30 GRIESEBNER, 2000, S. 302.
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Reflexion des Beitrags von Svenja Müller CHRISTINE BOVERMANN In ihrem Artikel zeigt Svenja Müller, dass es in der Frühen Neuzeit unterschiedliche Weiblichkeiten gab. Am Beispiel des Prozesses gegen Maria Magdalena Kaus, der vorgeworfen wurde, ein von ihr geborenes Kind ermordet zu haben, wird die Bandbreite von weiblichen Rollen in der Frühen Neuzeit deutlich. Der Gegenstand dieser mikrohistorischen Untersuchung ist ein gerichtlicher Prozess, der 1760 in Assenheim (im heutigen Hessen) begann und sechs Jahre andauerte. Der Prozess wird von der Autorin ausführlich betrachtet, weil er den Rahmen für die Untersuchung bildet und gleichzeitig die gesellschaftlichen Umstände reflektiert. Diese Fokussierung auf einen gerichtlichen Prozess ist besonders vielversprechend und gelungen umgesetzt, weil sie die Möglichkeit bietet, die Aussagen der Beteiligten detailliert zu betrachten. Beide Perspektiven, die kriminalitätsgeschichtliche sowie die geschlechtergeschichtliche, werden im Artikel miteinander verwoben. Durch diesen integrierenden Ansatz wird ersichtlich, welche Möglichkeiten des Handelns die Beteiligten in dem Kontext hatten und wie sie diese genutzt haben. Anstelle des Rückgriffs auf einen separierten Ansatz, dem die Autorin die Konstruktion einer sektoralen Vergangenheit zuschreibt, verspricht sie sich von einem integrierten Ansatz die Untersuchung und Verknüpfung verschiedener Aspekte der jeweiligen Lebenswelt. Gender ist für sie ein Aspekt der Lebenswelt, ebenso wie sozialer Status oder Alter. Gleichzeitig ist gender im Artikel jedoch mehr als ein analytischer Aspekt unter vielen, denn er gehört auch zur (zugeschriebenen oder selbst gewählten) Identität der Handelnden. Das 191
Christine Bovermann
bedeutet, dass es ein Bewusstsein über geschlechtliche Verhaltensweisen gab, und somit strategisches Handeln – nicht nur von der Angeklagten, sondern von allen Beteiligten – möglich und in diesem Fall vielversprechend war. Im Prozess hat sich die Konstruktion geschlechtlicher Rollenbilder besonders zugespitzt, weil die Motive der Anklage und der Verteidigung sich von Anfang an konträr zueinander verhielten: Während die Anklage ein Bild von einer vorsätzlich handelnden, starken und letztlich schuldigen Frau entwarf, konterte die Verteidigung mit einem Entwurf einer jungen, ängstlichen und letztlich unschuldigen Frau. In beiden Fällen wurden geschlechtliche Eigenschaften strategisch eingesetzt, um die jeweiligen Motive zu verfolgen. In dem Prozess gegen Maria Magdalena Kaus, so zeigt uns Svenja Müller in ihrem Artikel, wurde gender verhandelt und zu einem entscheidenden Element der Beweisführung. Diesen Ansatz, demzufolge gender als performativer Akt allein innerhalb eines Kontextes bedeutsam wird, für eine historische Untersuchung produktiv nutzen zu können, ist der Vorteil eines diskursiven bzw. des integrierten Ansatzes.
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Das Bündel der Gegensätze: Mathilde von Tuszien zur Überprüfung des begrifflichen Geflechts von Geschlechterrollen und Genderkonzept EUGENIO RIVERSI Es herrschte Krieg. Nach dem Scheitern jahrelanger Verhandlungen zwischen Papst Gregor VII. und Heinrich IV. – vor und nach Canossa (1077) – lösten die neue Exkommunikation des Königs und die Wahl eines Gegenpapstes eine militärische Auseinandersetzung in Reichsitalien aus (1080). Die wichtigste Unterstützerin Gregors VII. war die Markgräfin Mathilde von Tuszien, die Erbin eines großen Machtbereichs in Nord- und Mittelitalien. Der Feldzug Heinrichs IV. war schon zu Ende; aber seine italienischen Verbündeten wollten noch einen Angriff gegen die Markgräfin führen, die dank ihres Befestigungssystems auf den Apenninen noch eine starke defensive Position innehatte. Die königstreuen Truppen drangen in den ebenen Teil des mathildinischen Gebiets ein und schlugen ihr Lager im kleinen Ort Sorbara auf. Das war des Vertrauens zuviel, wie die Erzählung der folgenden Schlacht zeigt.1 Es ist kein Zufall, dass gerade eine der histoire-bataille würdige Erzählung uns den Zugang eröffnet, um anhand des hochmittelalterlichen
1
Über die Auseinandersetzung zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. nach 1077: COWDREY, 1998, S. 167-241.
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Fallbeispiels Mathildes einen Diskurs über die Kategorie Gender zu entwickeln.
1. Analyse eines De tails: Di e Schlacht von Sorbara (1084) Bei Tagesanbruch des zweiten Juli 1084 – so erzählt der Mönch Donizo von Canossa, Autor der Geschichte Mathildes und ihrer Dynastie in den Jahren 1111-1115 – wurden die italienischen Königsgetreuen von den Truppen Mathildes überrumpelt. Vom Schlachtruf „Sankt Peter hilf den Deinen“ aufgerüttelt, wurde die überwiegende Zahl der überraschten Krieger entweder umgebracht oder gefangen genommen, sofern ihnen nicht die Flucht gelang. Der adlige Fürst Otbert, der allem Anschein nach der Anführer der königlichen Streitkräfte war, wehrte sich zunächst, suchte aber dann eilig die Flucht. „Besagter Markgraf durchbohrte jemanden und floh schändlich mit der Stimme eines alten Weibleins (oder einer Nonne); ein solches Grunzen birgt dieser Feind in sich, dass er wohl nie mehr Truppen gegen Mathilde führen wird.“2
In dieser schwierigen Situation gab es eine doppelte Reaktion des Markgrafen Otbert: die Durchbohrung eines Unbekannten und das Ausstoßen eines Schreis – eines tierischen Angstschreis, vergleichbar mit dem eines Schweins, das zum Schlachthof geführt wird. Aber es könnte auch ein weiblicher Angstschrei gewesen sein, so durchdringend und „unmenschlich“, wie der, der sich einer stereotypisierten Frau, die entweder alt ist oder religiös, d. h. zurückgezogen von der Welt, lebt, zuweisen läßt. Die genaue Deutung dieser Zeilen war für die HistorikerInnen nicht immer einfach, sofern sie sich für dieses Detail interessierten. Es gibt nämlich etwas, das fehlt oder unklar bleibt. Vor einigen Jahren begann ein kanadischer Forscher, David J. Hay, dank seines der Militärge2
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DONIZO, Vita Mathildis, II, 356-359, S. 136 (eigene Übersetzung); über die Schlacht Sorbaras: EBD., II 338-359, S. 136; STRUVE, 1995, S. 64-65.
Das Bündel der Gegensätze
schichte angeschlossenen Gender-Ansatzes ganz nebenbei, diesen kleinen semantischen Knoten aufzulösen. Seiner Meinung nach weist der Mönch Donizo dem Markgrafen Otbert eine weibliche Identität zu, um umgekehrt die Männlichkeit der vom Schlachtfeld abwesenden Mathilde zu unterstreichen.3 Wenn man die weiteren thematischen Stränge des Gedichts untersucht, kann man sich diese Sequenz wie eine textuelle Mikronarbe vorstellen. Aus dieser Perspektive heraus gäbe es nicht eine mehr oder weniger absichtliche ‚Umkehrung’, sondern eine mehr oder weniger unbewusste ‚Projektion’, d. h. den Ausdruck eines Abwehrmechanismus: Wie ein altes Weiblein oder eine alte Nonne nämlich wird die schon kranke sechsundfünfzigjährige Fürstin Mathilde in jenen Jahren vermutlich ausgesehen haben, in denen das Gedicht verfasst wurde. Nach diesem sozialpsychologischen Mechanismus wurde das Problem auf einen Anderen projiziert: nämlich auf den Markgrafen Otbert. Die Position an der Spitze der königstreuen Truppen, die nun Otbert innehatte, war ein Vorrecht der Dynastie Mathildes, auf das die Markgräfin aus politischen Gründen – sie wurde als Rebellin vom König gebannt (1081) –, aber auch wegen der männlich konzipierten Rolle des Kriegsführers, verzichten sollte.4 Konnte Mathilde Kriegsführerin sein? Unter den semantischen Mikrofalten dieses Details verbirgt sich ein Verweis auf ein großes Problem: die Definition der Position der Markgräfin Mathilde von Tuszien. Im epischen Gedicht des Mönches Donizo, dessen Erzählung auch von der Vorstellungswelt des kriegerischen Adels geprägt war, war Mathildes Vater, der Markgraf Bonifaz von Tuszien, ein hervorragender Kriegsführer. In dieser Eigenschaft war er selbst ein Krieger, der seine bewaffneten Männer auf dem Feld anführte. Für die Markgräfin als Frau war dies kaum vorstellbar und diese große Schwierigkeit führte zu Auslassungen, Verformungen und sogar Verdrängungen in ihrer Darstellung, aus denen sich – wie in diesem Detail – eine Projektion entwickeln konnte. Dies war allerdings nicht der einzige problematische Aspekt: Ein ganzes Bündel, ein Komplex gegensätzlicher struktureller Bedingungen 3 4
Vgl. HAY, 2008, S. 212-213, über die Schlacht Sorbaras auch: EBD., S. 95100. Ausführlicher: RIVERSI, 2013, S. 9-21. Über den Mechanismus der Projektion: NEWMAN, 2007, S. 707-708.
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sowie konjunktureller Umstände veränderte ihre ‚normale Laufbahn’, und belastete so die Rollen, die sie als adlige Frau vermutlich innehaben sollte. Dieser Komplex stellte einige Wertachsen der Felder des sozialen Raums5 in Frage und zwang die religiösen Wissensspezialisten, die üblichen geschlechtsgebundenen Kategorien zu verdrehen – bis hin zu einer kritischen Schubspannung, die von der Elastizität zur Plastizität der Rollen führte.
2. Math ilde als D ynast in Als Mathilde 1046 als drittes Kind der vierten Generation einer königsgleichen Dynastie geboren wurde, sollte sie möglicherweise zu einem Spielstein in den komplexen adligen Ehebeziehungen werden. Aber die Umstände wurden sofort sehr viel komplizierter. 1052 wurde der Markgraf Bonifaz ermordet. Mathildes Mutter, Beatrix von Lothringen, blieb mit ihren drei Kindern, Friedrich, Beatrix und Mathilde, allein zurück. Soweit wir wissen, war die Markgräfin Beatrix in einer schwierigen politischen Lage, vor allem wegen des Drucks, den Kaiser Heinrich III. selbst auf sie ausübte. Im folgenden Jahr starben die älteren Geschwister Mathildes, so dass sie zur einzigen Erbin dieses großen Machtbereichs wurde.6 Aus diesen Gegebenheiten ergibt sich ein struktureller Widerspruch in Mathildes Leben: Allmählich tauchte innerhalb der Adelsdynastien die Tendenz auf, den erstgeborenen Sohn nachfolgen zu lassen. Genau diese Tendenz konnte einen paradoxen Effekt mit sich bringen: Wenn die Adelsgeschlechter als Folgelinie einzelner Söhne gedacht und gemacht waren, d. h. unter Exklusion der Töchter, der anderen bzw. jüngeren Brüder und auch der anderen Zweige der Dynastie, lief man Gefahr, dass im Fall des Todes des männlichen Erben und mangels ande-
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Über die hier angedeutete soziale Topologie vgl. die Theorie von Pierre Bourdieu: zum Beispiel BOURDIEU, 2000, S. 293-323. Über die Semantisierung des sozialen Raums: LOTMAN / USPENSKIJ. Über Mathilde von Tuszien und ihr Adelsgeschlecht: GOEZ, ELKE, 2012; GOLINELLI, 1998.
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rer Söhne eine Frau zur Erbin werden konnte. Genau dies war bei Mathilde der Fall.7 Konnte eine Frau alle Aufgaben der Führung einer Dynastie, die dem kriegerischen Adel angehörte, erfüllen? Im Prinzip zumindest nicht alle; und in der Realität war dies, obwohl möglich, auf jeden Fall sehr schwierig. Sowohl die verwitwete Beatrix als auch Mathilde brauchten deshalb einen Mann. Beatrix fand eine Lösung unter ihren lothringischen Verwandten: Sie heiratete ihren Cousin, Gottfried den Bärtigen, der möglicherweise wegen seiner schwierigen politischen Beziehung zu Kaiser Heinrich III. bereits in Italien war. Diese Verbindung wurde durch ein weiteres Eheversprechen verdoppelt: Hierin wurde die achtjährige Mathilde dem Sohn Gottfrieds des Bärtigen versprochen, Gottfried dem Buckligen. Das Bündnis zwischen den beiden Dynastien und die Möglichkeit ihrer Fortsetzung wurden gestärkt.8 Erst im Jahr 1069 fand die Hochzeit zwischen Mathilde und Gottfried statt. Diese Verbindung scheint aber nicht sonderlich stabil gewesen zu sein. Trotzdem wurde Mathilde schon 1070 schwanger und 1071 wurde eine Tochter geboren, die aber früh starb. Soweit wir wissen, trennte sich Mathilde bald danach von ihrem Mann und kehrte nach Italien zurück. Gottfried versuchte, sich seiner Ehefrau wieder anzunähern. Mathildes Mutter und Papst Gregor VII. handelten allem Anschein nach als Vermittler. Jedoch ohne Erfolg.9 Auf jeden Fall scheint der Papst in diesen Jahren eine besondere spirituelle Beziehung zur Markgräfin geknüpft zu haben. Ein Pastoralbrief, den Gregor im Februar 1074 an Mathilde schickte, zeigt, dass sich hinter der Sorge um die Markgräfin auch die Befürchtung verbarg, dass
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Über das klassische Modell des Stukturwandels der Adelsgeschlechter im Hochmittelalter, das von den Untersuchungen von Karl Schmid und Georges Duby abhängt, siehe: AURELL, 1996, S. 63-65, die Komplexität dieser Entwicklung, die nur als Tendenz bezeichnet werden kann, zeigt unter anderen: BRITTAIN BOUCHARD, 2001, S. 161-164, über die italienische Situation: CAMMAROSANO, 2001, S. 19-21, 326-328, über das Geschlecht der Canusiner: BERTOLINI, 2004, S. 1-30, über die Dynastisierung als strukturelle Bedingung dieser Entwicklung im Fall der Canusiner: SERGI, 1992, S. 32. Vgl. GOEZ, ELKE, 2012, S. 62-65, GOEZ, ELKE, 1995, S. 20-34. Vgl. GOEZ, ELKE, 2012, S. 77-85, GOLINELLI, 1998, S. 152-159.
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sie ihre dynastische Position aufgeben könnte, um sich allein um ihre persönliche Seelenrettung zu kümmern.10 Bedeutet das, dass sich Mathilde ein religiöses Leben wünschte? Das weiß man nicht genau, auch wenn es einige Indizien dafür gibt. Nach dem Tod ihres Mannes, Gottfried des Buckligen, und ihrer Mutter Anfang 1076 war ihr zukünftiger Status für den Papst nicht klar. Klar war, dass sie eine politische Ressource sein konnte, auf die die Reformpartei, die seit der Mitte des 11. Jhdt. den römischen Primat und eine neue hierarchische und hierokratische Amtskirche förderte,11 nicht einfach verzichten wollte. Für Mathilde war das ein weiterer Gegensatz: Sie musste in der Welt, in der Politik und sogar im Krieg ihr religiöses Bedürfnis – was auch immer dies war – befriedigen. Übrigens war es nach dem ekklesiologischen Denken Gregors klar, dass die Fürsten – also auch Mathilde – an ihrem Platz bleiben und in den weltlichen Aufgaben die christliche Liebe ausüben sollten.12
3. Das Experiment ierfe ld: Math ilde – von der Wit we zur jung fräu lichen Mu tte r Wie konnte man jetzt die schon komplizierter gewordene soziale Position dieser mächtigen Herrscherin definieren? Sie war auf jeden Fall eine Witwe, was einer sehr komplexen und traditionsreichen Geschlechterrolle entsprach: Aus Sicht des Laienadels konnte sie erneut heiraten, also ein wichtiger Spielstein in den zeitgenössischen Machtverhältnissen sein; vom Standpunkt der kirchlichen Vorstellungen aus war diese Rolle mit einem besonderen christlichen Status und einschlägigen religiösen Eigenschaften verbunden.13 Auch für diesen Aspekt war die Komplexität der Beziehungen zwischen dem sozialen Bereich des Laienadels und dem der Kirche unentwirrbar. Laien und Geistliche, die derselben vielschichtigen sozialen Formation des Adels angehörten, wurden gleichzeitig von der Konkurrenz und von der Imitation der Wertvorstellungen und der 10 11 12 13
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Gregor VII., Register, B. I, I, 47, S. 71-73 (1074 Februar 16). Vgl. GOEZ, WERNER, 2000. Vgl. Gregor VII., Register, B. I, IV, 2, S. 297 (1076 August 25). Vgl. SANTINELLI, 2003, JUSSEN, 2000.
Das Bündel der Gegensätze
Handlungsweisen beeinflusst. Diese Auseinandersetzung bezog sich auch auf die Frauenrollen, die nach männlichen Prinzipien geordnet waren. In diesem Spannungsfeld entstanden in den folgenden Jahrzehnten verschiedene experimentelle Lösungen für die problematische Position Mathildes.
Mathilde als starke Frau und sponsa Dei Im ältesten Zeugnis der Schlacht von Sorbara – der anonymen Biographie des Bischofs Anselm von Lucca († 1086) – stellt man fest, dass besagtem Bischof Anselm ein besonderer Anteil an diesem Sieg und am gesamten Krieg zukam. In den Jahren der Verhandlungen und der Spannungen zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. und auch später während des militärischen Konflikts wurde Anselm zum Hauptberater und geistlichen Führer Mathildes: Er galt als eine besondere männliche Ergänzung der verwitweten Markgräfin.14 Die Präsenz eines Geistlichen an der Seite Mathildes war eine schon in den 1070er Jahren von Gregor VII. geförderte Lösung, die später auch von Papst Paschalis II. gewählt wurde, als der Kardinalpriester und Legat für die Lombardei Bernhard degli Uberti, Anfang des 12. Jhs., an die Seite der Markgräfin gestellt wurde.15 Laut der Darstellung vieler Quellen verhielt sich Mathilde selbst männlich: Nach der spätantiken Tradition konnte die alleinig gottgeweihte Frau als ‚starke Frau’ (mulier fortis) handeln und die Schwächen des weiblichen Geschlechts überwinden. Mathilde war eine katholische Virago, d. h. eine mannhafte Frau: So wurde sie vom Grammatiker Johannes von Mantua definiert, der ihr während der Kriegsjahre einen Kommentar des Hohen Lieds widmete.16 In diesem Kommentar wurde sie persönlich – und das ist merkwürdig im Vergleich zu der vorherigen exegetischen Tradition – mit der Braut Christi identifiziert. Hier kann man eines der wichtigsten
14 Vgl. Vita Anselmi, S. 17, 19 und 22. 15 Vgl. GOEZ, ELKE, 2012, S. 164-169, für die Beziehungen Mathildes mit anderen Legaten: EBD., S. 160-163. 16 Über die mulier fortis: VENTURA, 1997-98. Zum Ausdruck virago catholica: JOHANNES VON MANTUA, S. 38.
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„Verdrehungsmomente“ in Bezug auf die Rollen dieser Fürstin finden: Die Suche nach Christus sollte Mathilde nicht zur Kontemplation, sondern zur vita activa führen. Die gottgeweihte Witwe musste als Braut Christi in der Welt und im Krieg nach ihrem Bräutigam suchen. Der Krieg, den sie – wie die alttestamentarischen Witwen Judith oder Deborah, um hier einige der von diesen geistlichen Schriftstellern angewendeten Vergleiche zu erwähnen – führen musste, war ein Gotteskrieg.17 So versuchte man in der Biographie Anselms gegensätzliche Aspekte zusammenzustellen, die in den laienadligen und kirchlichen Bereichen zumindest für eine Frau fragwürdig waren. „Sie ist im Geheimen spirituell und überaus fromm, nach außen aber pflegt sie ein säkulares oder, um die Wahrheit zu sagen, militärisches Leben. So hatte sie ein spirituelles Leben und ein säkulares, sodass sie in Christus jenes und für Christus dieses führt. Dieses säkulare Leben gereicht ihr zu größerer Angst und Mühe, aber auch zu größerem Lohn. Jenes spirituelle Leben war nämlich Zeichen ihres eigenen Willens, dieses säkulare dagegen ihres Gehorsams.“18
Mathilde als Gattin Gehorsam, vor allem gegenüber dem Papst. Der zweite Nachfolger Gregors VII., Urban II., ein herausragender Politiker seiner Zeit, wollte – soweit wir wissen – die Witwenrolle Mathildes anders, säkularer deuten. Er förderte eine neue Ehe mit dem Spross des mächtigen deutschen Adelsgeschlechts der Welfen, Welf V. Also war Mathilde nicht mehr Witwe und ihr fünfundzwanzig Jahre jüngerer Gatte konnte als Kriegsführer gelten. Aber nach Mathildes Sieg in einer neuen intensiven Phase des Kriegs gegen Heinrich IV. Anfang der 90er Jahre des 11. Jahrhunderts scheiterte auch diese Ehe, die kinderlos war, und damit auch das Bündnis mit den Welfen.19 17 JOHANNES VON M ANTUA, S. 52. Über Mathilde Dei sponsa: ROPA, 1979, über den Vergleich mit anderen biblischen Frauen: ROPA, 1978, S. 395396, VENTURA, 1997-98, S. 139. 18 Vita Anselmi, S. 15. 19 Vgl. GOEZ, ELKE, 2012, S. 138-146.
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Mathilde als Jungfrau Die Position Mathildes in Bezug auf die weiblichen Rollen war noch komplizierter und außerordentlicher geworden und umso schwieriger zu definieren, weil ihr Mann nicht gestorben war: Sie war verheiratet, lebte aber getrennt. In der zweiten Hälfte der 1090er Jahre erarbeitete der Bischof Ranger von Lucca in seiner Fassung der Biographie über ihren Hauptberater Anselm eine sehr komplexe Darstellung Mathildes. Sie wurde nicht nur durch eine Auslegung des biblischen Buches der Sprüche als mulier fortis präsentiert, sondern erhielt noch eine kriegerische Patina. „Wie Pentesilea aus dem Geschlecht der Amazonen/ Ordnet und lenkt sie die Schlachtreihen./ Weder Nächte noch Kälte können sie brechen./ Unwetter bringen sie nicht dazu, die Ihrigen im Stich zu lassen.“20
Hier kommt eine mythologische Darstellung Mathildes ins Spiel, die die Markgräfin der jungfräulichen und kriegerischen Königin der Amazonen gleichstellt. Dies war nicht die einzige Anspielung auf die Jungfräulichkeit Mathildes: Der Mönch Donizo schlug z. B. noch einen expliziten Vergleich mit der Göttin Diana-Mond und möglicherweise einen anderen impliziten mit der Jungfrau Astrea vor.21 Aber dieser Panegyriker der Markgräfin spendete seiner Herrscherin darüber hinaus noch ein einmaliges Lob. Außerordentlicherweise besaß Mathilde alle Auszeichnungen der christlichen Frauen: die der Verheirateten, die der Witwen, die der Jungfrauen. „Im Licht des Glaubens glänzt sie durch liebliche Taten./ Darum sammelt sie hundertfach die Früchte des Nutzens./ Der eine hat eine Krone, die 30 gilt, während ein anderer eine hat, die 60 gilt,/ ein Größerer hat gar 100./ Diese sammelt recht und billig alle diese Kronen.“22
20 RANGER VON LUCCA, Vita Anselmi, II, 3677-3682, S. 1234. 21 Vgl. DONIZO, Vita Mathildis, II, 17, S. 116 (Vergleich mit Diana), II, 15451549, S. 200 (die Anspielung auf die Jungfrau Astrea). 22 DONIZO, Vita Mathildis, II, 17, S. 116 (Vergleich mit Diana), II, 15451549, S. 200 (die Anspielung auf die Jungfrau Astrea). EBD., I, 50-53, S. 36. Über die Koexistenz dieser verschiedenen Rollen und Identitäten in den
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Mathilde als Mutter Es lag also im Bereich des Möglichen, dass sie als jungfräulich definiert wurde; und sogar, dass sie gleichzeitig als vorbildliche Ehefrau und Witwe gelten konnte. Wie konnte Mathilde in der Darstellung des canusinischen Mönches eigentlich als solche gelten – zumal in der Erzählung Donizos keine Spuren ihrer ehelichen Verbindungen sowie ihrer früh verstorbenen Tochter zu finden sind?23 Wie konnte man sie als perfekte Ehefrau definieren, ohne Männer und Kinder zu erwähnen? Oder, noch genauer, ohne Söhne, denn diese perfekte Frau war eine hochadlige und königsgleiche Fürstin, deren Hauptaufgabe die Geburt eines Erben war. Wie konnte sie einen solchen Mangel aufweisen? Allerdings gibt es eine Stelle in dieser Quelle, in der Mathilde im übertragenen Sinne doch noch zur Mutter wird. Wie in der alttestamentarischen Tradition der sterilen Frauen, die am Ende einer wundersamen Schwangerschaft spät ein Kind zur Welt brachten, wurde die fünfundsechzigjährige Mathilde Mutter eines außergewöhnlichen Sohnes: des jungen Kaisers Heinrich V., der sie Mutter nannte, um ihr Erbe zu werden. Mathilde war also Jungfrau und eine besondere Mutter, wie Maria, ihre Beschützerin, der Gregor VII. im zitierten Pastoralbrief Mathilde anvertraut hatte.24
4. Schluss Von Papst Gregor VII. bis zum Mönch Donizo: Vierzig Jahre lang schmiedeten die geistlichen Wissensspezialisten Geschlechterrollen für Mathilde; aber unter mehr oder weniger großen Schwierigkeiten, infolge derer sie manchmal die Achsen der Genderidentität verdrehen mussten. Einige waghalsige Verdrehungen hatten ihren Preis. Für Donizo Figuren der Königinnen vom Früh- bis zum Hochmittelalter: THIELLET, 2004, S. 181-185. 23 Vgl. RIVERSI, 2002, S. 121-122. 24 DONIZO, Vita Mathildis, II, 1256, S. 184 (Mathilde Mutter Heinrichs V.). Der Brief des Papstes: Gregor VII., Register, B. I, I, 47, S. 71-73. Über Maria als Hauptfigur der mittelalterlichen Kultur, die alle diese verschiedene Rollen vereinigt: SCHREINER, 1994.
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bedeutete das sogar die Verdrängung einiger Gegensätze, die Abwehrmechanismen auslösen und z. B. im ungeschickten Vorwurf gegen den Markgrafen Otbert Ausdruck finden konnten. Diese Zuschreibung abwertender weiblicher Eigenschaften liegt auch in einer Projektion Mathildes begründet, die nach dem Wissen der Geistlichen und der Wertvorstellung des Laienadels die Rolle Otberts nicht einnehmen konnte. Das Fallbeispiel Mathildes von Tuszien, einer der wichtigsten Fürstinnen des Hochmittelalters und der ersten nicht königlichen, über die zahlreiche Quellen verfügbar sind, spricht für die Integration des Genderansatzes. Diese schon unter verschiedenen Aspekten untersuchte Figur kann von einer Genderfragestellung ausgehend weiter beleuchtet werden. Der relativ günstige Quellenstand ermöglicht die Erarbeitung von Hypothesen, mittels derer die Position, die Laufbahn und die Darstellung von (adligen) Frauen im Hochmittelalter besser verstanden werden können: insbesondere in Bezug auf die sozialen Spannungen und Widersprüche in den Geschlechtsrollen und auf die Schwankungen der weiblich-männlichen Wertachsen, die man beim Umbau der europäischen Gesellschaft im 11. und 12. Jh. beobachten kann. Dieses Fallbeispiel zeigt auch, dass die Integration des Begriffs Gender nur unter Berücksichtigung der epistemologischen Komplexität gelingen kann, weil man sonst das Risiko eingeht, die historische Analyse und die folgende Darstellung zu vereinfachen. Diese Komplexität entfaltet sich sowohl außerhalb als auch innerhalb des Begriffs Gender. Im ersten Sinn – außerhalb – ist die erwähnte Deutung von Dennis Hay aussagekräftig: Sie zeigt gleichzeitig die Leistung der Bereicherung einer Fragestellung, der der Militärgeschichte, durch den Genderbegriff – die einen neuen Blick auf die Texte ermöglicht – und die Grenzen einer relativ getrennten Perspektive. Hay entdeckt so die Relevanz bestimmter Quellenstellen, aber dann lenkt er seine allgemeine Interpretation Mathildes in Richtung einer anachronistischen Generalship, die einer kriegerischen Patina, mit der man die Markgräfin heute wieder gerne umgibt, entspricht. Das ist eine Vereinfachung, die durch eine relativ getrennte Genderperspektive bedingt ist. Um diese Vereinfachung zu vermeiden, ist es notwendig, die Genderfragestellung tief in die Alterität des Kontextes einzubetten, d. h. ihre Fragen zu integrieren. Die Integration scheint relativ selbstverständlich, wenn man versucht, den Begriff Gender unter Berücksichtigung seiner inneren Kom-
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plexität und seines dekonstruktiven Potenzials anzuwenden. Auf der Ebene der Geschlechterrollen sieht man im Fall Mathildes die Vielfältigkeit ihrer sozialen Identitäten. Aber nicht nur: Diese Vielfalt an Identitäten wurde zudem von der außergewöhnlichen Laufbahn der Markgräfin zusätzlich verdreht. Vor dem Hintergrund der sich überschneidenden Vorstellungswelten der Laienadligen und der geistlichen Spezialisten wurde die Position Mathildes nämlich wiederholt problematisch. Sowohl die Gelenk- als auch die Reibungspunkte dieser Vorstellungswelten, in denen fast das ganze Wissen über die soziale Position der (adligen) Frauen versammelt war, wurden belastet. In einer Epoche von „Umbruch“ und „Erneuerung“, in der viele soziale Rollen – unter anderen die der Priester, der Ritter und der Ehegatten 25 – intensiv neu gedacht wurden, war der Fall Mathildes eine Herausforderung auch auf der Ebene des allgemeineren Genderkonzepts, d. h. für die semiotische Konstruktion, die auf der kulturellen Achse weiblich-männlich beruht. Die semantische Polarisierung weiblich-männlich ist nämlich ein Grundpfeiler der (vertikalen) Machtstrukturen und der (asymmetrischen) Machtverteilungen in dieser (und in jeder) historischen Semiosphäre. Innerhalb dieser Semiosphäre wurde die Fragen aufwerfende Machtkonzentration, in der die Herrschaft von Mathilde bestand, durch einen aussagekräftigen symbolischen Ausdruck dargestellt: „Matilda Dei gratia si quid est“, „Mathilde, durch Gottes Gnade, wenn sie überhaupt etwas ist“.26 Die berühmte Urkundenunterfertigung der Markgräfin ist ein kleines und vielschichtiges Konzentrat der mittelalterlichen politischen Kultur. Aber abgesehen von diesen verschiedenen Schichten scheint das Genus des Pronomens quid – das Neutrum – auch ein weiterer von Mathilde akzeptierter Versuch, das Bündel der Gegensätze, das ihre Laufbahn im Hinblick auf die historischen Geschlechterrollen und genderorientierten Wertachsen ist, im Sinn einer gottgewollten, unabhängigen und selbstbewussten Machtausübung zusammenzuhalten. Konkrete Fallbeispiele – wie das vorliegende – von Vielfältigkeit, Elastizität, Plastizität und Gegensätzlichkeit der Rollen und von Schwankung und Verdrehung der Wertachsen, sind der wichtigste Bei25 Vgl. DUBY, 1981, vgl. aktuell mit einer jüngst erschienenen Untersuchung über Sex, Gender und Kirchenreform: MCLAUGHLIN, 2010. 26 Vgl. dazu GOEZ, WERNER, 1991, 387-394.
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trag der Geschichtswissenschaft zur zukünftigen integrierten Entwicklung der Gender-Kategorie.27
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Reflexion des Beitrags von Eugenio Riversi BIRGIT KYNAST Der Beitrag von Eugenio Riversi behandelt in geschichtswissenschaftlicher Perspektive das hochmittelalterliche Beispiel einer in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlichen Frau: Mathilde von Tuszien war nicht nur Alleinerbin eines Machtbereichs in Nord- und Mittelitalien, der in einem Spannungsfeld unterschiedlichster Interessen lag; sie war auch Vertraute und enge Freundin des Papstes Gregors VII., dessen Name unauflöslich mit dem sog. „Investiturstreit“ verknüpft ist. Die Herrschaft als Markgräfin war für Mathilde in doppelter Hinsicht mit Schwierigkeiten verbunden, zunächst vor allem durch die Bedeutung und die vielfache Begehrlichkeiten weckende Lage der Gebiete, über die sie als Alleinerbin herrschte. Mathilde war als Frau darüber hinaus auf die Festigung ihrer Position als Regentin durch eine günstige eheliche Verbindung angewiesen. Eine offenkundige Problematik dieser Situation war, dass Mathilde nicht als Heerführer fungieren konnte, wie etwa in der Schlacht von Sorbara 1084. Riversi verweist in seinem Beitrag hierzu auf eine seltsam anmutende, feminisierende Beschreibung des Markgrafen Otbert, der die kaiserlichen Truppen in der Schlacht anführte; diese und andere Darstellungen Mathildes versucht er durch eine integrierte Perspektive des Gender-Ansatzes zu verstehen. Diese konsequente Anwendung der Kategorie Gender kann hier einen Beitrag leisten, um die Bedeutung der Schlacht in politischer Hinsicht besser einordnen zu können. Mathilde war 1084 in einer schwierigen politischen Situation als Anhängerin Gregors VII.: Der streitbare 209
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Papst befand sich zu dieser Zeit in einer nahezu aussichtslosen Lage, bedingt durch die Erfolge Heinrichs IV., der kurz vor der Schlacht von Sorbara vom Gegenpapst Clemens III. in Rom zum Kaiser gekrönt worden war, nachdem Gregor VII. aus der Stadt hatte fliehen müssen. In dieser Lage wäre es auch für einen männlichen Regenten als Anhänger Gregors VII. schwierig gewesen; bei Mathilde kam aber noch hinzu, dass sie als Frau gewisse Rollen kaum ausfüllen konnte, wie eben die des Heerführers, die für die Position eines regierenden Fürsten jedoch konstitutiv war. Riversi analysiert in seinem Beitrag darüber hinaus noch verschiedene weitere Rollenzuschreibungen an Mathilde, so besonders auch den Stand der Witwe, in dem sich Mathilde 1076 befand. Die kirchliche Perspektive sah diesen als eine von drei legitimen Möglichkeiten für eine Frau vor; alternativ dazu konnte eine Frau den Stand der Ehefrau und Mutter einnehmen, oder auch den der Jungfrau, wobei letzterer als einzig legitimer Stand für eine Frau unabhängig vom ehelichen Stand gesehen wurde. Mathilde konnten in außergewöhnlicher Weise offenbar alle diese Rollen zugeschrieben werden, wie die von Riversi in den Blick genommenen Berichte männlicher Zeitgenossen nahelegen; die Gegenfrage, wie Frauen diese Rollen selbst wahrgenommen haben, können wir aufgrund des Schweigens der Quellen tatsächlich auch nur sehr bedingt beantworten. Ein integrierender Ansatz bietet hier nun die Möglichkeit, die verschiedenen Rollen bzw. Rollenzuschreibungen der Mathilde über die engere Gender-Konstruktion hinaus in ihren sozialen und politischen Funktionen zu beschreiben. Letztlich könnte so die GenderFragestellung von der epochenbezogenen Fragestellung profitieren und umgekehrt. Kritisch könnte man hier somit anmerken, dass der Autor dieses Potential eines integrierenden Ansatzes nicht vollständig ausschöpft: Eine konsequente Integration des Ansatzes könnte etwa auch den Schluss bedeuten, dass die möglichen Rollenzuschreibungen an Frauen hier vielleicht nur vordergründig das Problem sind, sondern dass sie eher eine besondere Möglichkeit bieten, das epochentypische Problem, nämlich die Legitimation des papstkirchlichen Kampfes gegen den König, die legitime weltliche Autorität, gerade durch die Ausnahmegestalt der Mathilde abzusichern. In dieser Perspektive wäre auch zu überlegen, ob für zeitgenössische Beobachter nicht auch eine religiö-
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Reflexion
se Deutung der Schlacht von Sorbara, die den Ausgang in die Nähe eines Wunders rückt, wichtiger gewesen sein könnte als die problematische militärische Führungsrolle der Mathilde.
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Der Blick eines mittelalterlichen Bischofs auf das weibliche Geschlecht: Frauen (und Männer) im Dekret Burchards von Worms BIRGIT KYNAST 1. Zum Gegenstand: Das Dekret des B ischofs Burchard von Wor ms Wenn der folgende Beitrag sich dem Blick eines Bischofs auf das weibliche Geschlecht widmet, so soll er entgegen möglicher Erwartungen eines nicht bieten: Er möchte nicht mit einem weiteren Fallbeispiel die Charakterisierung des Mittelalters als misogyne Epoche bestätigen. Zwar lassen sich ausreichend mittelalterliche Belege für einen solchen Diskurs finden, etwa in der Form, in der das Männliche mit der Vernunft (ratio) assoziiert wird und das Weibliche demgegenüber als das Körperliche (sensualitas) dem Geist untergeordnet ist.1 Das war jedoch bei weitem nicht die einzige Art und Weise, wie über Männer und Frauen gesprochen, geschrieben oder gedacht werden konnte.2 Mit Felice Lifshitz ist vielmehr festzustellen, dass die Charakterisierung des Mittelalters als misogyne Epoche zum einen wesentlich auf Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts zurückgeht, zum anderen aber auch in vielen Fällen schlicht durch die Auswahl der Quellen bestimmt ist.3 1 2 3
Vgl. SCHNELL, 1998, S. 311f. Vgl. BYNUM, 1992, S. 17. Vgl. LIFSHITZ, 2003, S. 301-305.
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Denn was Ingrid Bennewitz für die mediävistische Literaturwissenschaft formuliert hat, gilt ebenso für die Geschichtswissenschaft: noch immer tragen wir einen enormen „Ballast“ mit uns, der unser Urteil gerade in gendertheoretischen Fragen erheblich trüben kann: „den Ballast einer zumindest zweihundertjährigen Forschungsgeschichte der eigenen wissenschaftlichen Disziplin, die so gut wie ausnahmslos den ‚mainstream‘ der literarischen Fest-Schreibungen von Körper, Geschlecht und Mann redupliziert hat.“4 Zu einer Personengruppe, der man die Propagierung eines solchen „Mainstreams“ ohne weiteres zuschreiben würde, gehörte auch Burchard von Worms, der Kompilator der Decretorum Libri Viginti, des sog. Dekrets, das ich hier in Auszügen untersuche. Bischof Burchard von Worms war sowohl Angehöriger des Reichsepiskopats und damit der geistlichen Elite des Reichs, wie auch oberster Seelsorger seines Bistums. Von seinen Aktivitäten gerade im letzteren Bereich geben nicht zuletzt die beiden Rechtskorpora Zeugnis, die in seiner Zeit als Bischof zu Beginn des 11. Jahrhunderts entstanden sind: das Wormser Hofrecht, die sog. Lex familiae Wormatiensae, und das genannte Dekret. Was macht aber gerade dieses Dekret für Fragestellungen der Geschlechtergeschichte interessant? Beim Dekret handelt es sich um eine 20 Bücher umfassende systematische Sammlung des tradierten Kirchenrechts, das in erster Linie für den Wormser Klerus bestimmt war. Zusammen mit seinen Mitarbeitern schuf Burchard durch eine sehr sorgfältige Auswahl und eine sehr übersichtliche, thematisch in 20 Büchern gegliederte Zusammenstellung eine Kompilation, bestehend aus Überlieferungen der Kirchenväter, päpstlichen Dekretalen, Konzilstexten sowie Bußbuchbestimmungen, der sehr schnell ein enormer Erfolg auch über die Grenzen des Wormser Bistums hinaus beschieden war. Wir verfügen noch heute über mehr als 80 Handschriften, die uns das Dekret in kompletter Form überliefern, das heißt alle 20 Bücher mit den darin enthaltenen 1785 Kanones oder kirchlichen Rechtssatzungen; dazu kommen noch einige fragmentarische Überlieferungen einzelner Teile des Dekrets, sowie Nennungen in Bibliothekskatalogen, die auf heute verlorene Handschriftenkorpora verweisen.5 Für ein Werk, das zu Beginn des 11. Jahrhunderts entstand, 4 5
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BENNEWITZ, 2002, S. 9. Vgl. KÉRY, 1999, S. 133-148.
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ist das eine enorm hohe Zahl, die vor allem die besondere Bedeutung des Dekrets in seiner Zeit bezeugt.6 Nach Auskunft des Vorworts war der Zweck des Dekrets eindeutig ein praktischer: Es sollte in der Ausbildung des Klerikernachwuchses Anwendung finden sowie in der Praxis der Seelsorge.7 Dieser Praxisbezug macht es zu einer Quelle, deren Inhalte für zahlreiche sozialgeschichtliche Fragestellungen von überaus großem Interesse sind, und in dieser Hinsicht auch für eine geschlechtergeschichtliche Untersuchung. Beim Dekret handelt es sich um ein kanonistisches Werk: Sein Inhalt entstammt somit der kirchlichen Überlieferung bzw. der Tradition, in Form vor allem von Papstdekretalen, Zitaten der Kirchenväter, Konzilstexten und nicht zuletzt auch der Bibel, auf die es als kirchenrechtliches Werk Bezug nehmen muss.8 Diese Bezugnahme fand allerdings in der Regel nicht über den direkten Zugriff auf eine dieser Quellen statt, sondern diese wurden häufig aus anderen Sammlungen und zum Teil auch über Florilegien in die eigenen Werke aufgenommen.9 So hat Burchard nachweislich in sehr vielen Fällen das um die Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert entstandene Sendhandbuch des Prümer Abtes Regino benutzt. Dieser hatte seine zwei Bücher umfassende Zusammenstellung kirchlicher Rechtssatzungen auf Nachfrage des Erzbischofs Ratbod von Trier verfasst; sein Werk sollte ein Handbuch für den Bischof sein, das dieser bequem mit sich führen konnte, wenn er sein Bistum visitierte.10 Reginos Werk war somit für eine gänzlich andere „Zielgruppe“ verfasst als Burchards Kompilation: Diese richtete sich nicht nur an den Bischof, sondern an den Klerus insgesamt, bis hin zum einfachen Priester. Aus Reginos Sendhandbuch hat Burchard den6 7
Vgl. AUSTIN, 2009, S. 24-28. Das ergibt sich nicht nur aus dem Vorwort, sondern auch aus der Konzeption des ganzen Werkes, das an Übersichtlichkeit und Benutzbarkeit seinesgleichen suchte: Nicht umsonst wurde es noch vor der endgültigen Fertigstellung bereits über die Grenzen des Wormser Bistums hinaus rezipiert. Vgl. für die praefatio FRANSEN/KÖLZER, 1992, S. 45-49. Vgl. zur Problematik der Aussagen des Vorworts, insbesondere zu seinen Vorlagen, FRANSEN, 1973, S. 1-7. 8 Vgl. zur Bedeutung der Tradition HARTMANN, 1991, S. 425f. 9 Eine prägnante Beschreibung des Aussehens und der Charakteristika mittelalterlicher Kanonessammlungen im Zusammenhang mit dem Dekret Burchards findet sich bei AUSTIN, 2009, S. 33-37. 10 Vgl. HARTMANN, 2004, S. 4-7.
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noch viele Kanones für seine Zwecke entnommen, und nicht nur daraus, sondern auch aus anderen Sammlungen; an einigen Stellen entnahm er seine Texte möglicherweise auch direkt aus den materiellen Quellen ohne die Hinzuziehung formaler Vorlagen, indem er etwa einen Konzilstext direkt rezipierte ohne den „Umweg“ über eine andere Sammlung wie etwa Reginos Sendhandbuch. Nachweislich hat Burchard seine Texte aber nicht nur übernommen, sondern auch in seine Vorlagen eingegriffen, Bedeutung und Motive seines Vorgehens jedoch nirgends explizit kommentiert.11 Einen sehr direkten Zugang zu Burchards eigenen Vorstellungen kann man dennoch an einer Stelle des Dekrets gewinnen, nämlich anhand von Kanon 5 im 19. Buch.12 Bei diesem Text handelt es sich jedoch nur der äußeren Zählung nach um einen „Kanon“. Tatsächlich stellt dieser Abschnitt nicht weniger dar als ein komplettes Handbuch für die Buße, das in mehr als 190 Fragen nahezu alle denkbaren Bereiche des Lebens mittelalterlicher Laien behandelt.13 Für einige Teile dieser katalogartigen Zusammenstellung konnten bisher keine Vorläufer nachgewiesen werden, weshalb man bei diesen Passagen daher davon ausgehen kann, dass ihre Formulierung auf die Kompilatoren bzw. den Kompilator dieser Zusammenstellung zurückgeht, also auf Burchard selbst. 14 Beim überwiegenden Teil der darin enthaltenen Fragen ist jedoch davon auszugehen, dass diese einen Vorläufer in der Überlieferung haben, die Burchard auch im übrigen Dekret benutzt hat. Für eine exakte Einordnung und vor allem auch Beurteilung dieser Passagen und ihrer vielfältigen inhaltlichen Aussagen, nicht nur im Kontext des restlichen Dekrets, wäre jedoch eine umfassende Analyse 11 Vgl. zu dieser Vorgehensweise etwa HARTMANN, 2000, S. 230f. Vgl. zur Problematik der Quellenangaben bei Burchard von Worms: HOFFMANN/POKORNY, 1991, insb. S. 173-244. Zum Problem der Inskriptionen und der autoritativen Fundierung des Dekrets allgemein KYNAST [in Vorbereitung]. 12 Vgl. zu Buch 19 im Dekret KÖRNTGEN, 2000, sowie AUSTIN, 2009, S. 230234. 13 Eine einzige der Fragen, q. 27, enthält eine Bußleistung für einen Priester. Diese stellt jedoch eine absolute Ausnahme in dieser Reihe dar, denn die übrigen Fragen sind ausschließlich an Laien adressiert. 14 Vgl. dazu HOFFMANN/POKORNY, 1991, S. 233. Zur Bedeutung der Passagen ohne Vorläufer auch HARMENING, 1979, S. 128f. und FILOTAS, 2005, S. 56f. und S. 358.
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des Textes und seiner möglichen Vorlagen nötig, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann.15 Insoweit stellen die folgenden Überlegungen eine vorläufige Annäherung dar; sie setzen voraus, dass der vorliegende Text zumindest von Buch XIX 5 des Dekrets als Ergebnis einer kompilatorischen und redaktionellen Leistung eine sinnvolle Einheit darstellt, deren Aufbau und innere Wechselbezüge im Hinblick auf leitende Vorstellungen und Kategorien des Kompilators analysiert werden können.
2. Method ik und Skizz ierung des Un tersuchun gsgegen stand s Lassen sich unter den formulierten methodischen Einschränkungen für das thematisch und inhaltlich sehr breit angelegte Dekret Burchards Gender-Konzeptionen überhaupt sichtbar machen, zumal es sich dabei auch noch um ein Rechtswerk handelt, das als solches noch einmal besonderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt? Dazu zunächst zwei grundlegende Anmerkungen: Was hier nicht erfolgen soll, ist eine Gleichsetzung von Gender-Geschichte mit Frauengeschichte.16 Auch soll es nicht um eine Performativität des biologischen Geschlechts (sex) gehen, ganz abgesehen von der Frage, ob eine klare Trennung zwischen diesem und dem sozialen bzw. kulturellen Geschlecht (gender) für die vorliegende Quelle überhaupt angemessen wäre.17 Sie enthält jedoch eine eindeutig binäre Gender-Einteilung, nämlich in Mann und Frau, mit Konsequenzen kirchenrechtlicher und bußpraktischer Art. Diese Konsequenzen manifestieren sich vorwiegend in zwei Bereichen: zum einen im Bereich der Sexualität, zum 15 Eine solche diachrone Analyse von BD XIX 5 wird im Rahmen meiner Dissertation zur Bedeutung der Buße im Dekret Burchards erfolgen. Zentraler Hintergrund der Untersuchung ist dabei die Bedeutung der Buße im Dekret. Sowohl die theoretischen Grundlagen, wie auch die praktische Umsetzung des Bußinstruments bilden das übergeordnete Thema des 19. Buches der Sammlung, in das auch der lange Frageteil, Kanon 5, eingeordnet ist. Dieser ist in diesem Rahmen vor allem den praktischen Aspekten der Buße zuzuordnen. 16 Vgl. SMITH, 2004, S. 6f. 17 Vgl. dazu die Ausführungen bei BENNEWITZ, 2002, S. 1-10.
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anderen im Bereich der Ehe, wobei beide Bereiche in direktem Bezug zueinander stehen, denn legitime Sexualität verortet die Quelle eindeutig in der Ehe zwischen Mann und Frau. Erkennbar wird diese Verbindung vor allem anhand der Bemessung von Bußen,18 sowie auch anhand der Tatsache, dass eine Buße überhaupt für einen Mann und/oder eine Frau gegeben wird, oder eben auch nicht gegeben wird. Damit verbunden ist die Tatsache, dass Fragen nicht gleichermaßen an Männer und Frauen adressiert werden, sondern dass bereits hier in der direkten Adressierung der Fragen an eine Person meist eine Trennung nach Geschlechtern stattfindet. Eine genauere Zeichnung der Person, z. B. ob sie verheiratet ist oder nicht, ergibt sich dabei meist aus dem weiteren Inhalt. Kanon 5 ist formal als Fragenkatalog aufgebaut, der sich in zwei Hauptteile gliedert: Der erste Teil umschließt die Fragen 1-152,19 der zweite Teil des Kanons umfasst qq. 153-194. Die Unterteilung ergibt sich durch einen Einschub zwischen q. 152 und q. 153: „Wenn auch die vorhergehenden Fragen sowohl für Frauen als auch für Männer sind, so sind die folgenden nur an Frauen zu richten.“20 Im ersten Abschnitt, der, laut diesem Einschub, sowohl Männer wie auch Frauen betrifft, sind die Fragen allerdings durchgängig in einem generischen Maskulinum formuliert; alle Fragen sind durch einen Priester zu stellen.21 18 Eine Buße ist im frühmittelalterlichen kirchlichen Verständnis nicht, wie es vor dem Hintergrund späterer Entwicklungen oft geschieht, mit einer Strafe gleichzusetzen. Vgl. dazu bereits KOTTJE, 1995; zu Burchard von Worms: AUSTIN, 2009, S. 150. Vgl. zum frühmittelalterlichen Verständnis von Buße als körperliches und seelisches Heilmittel: BÜTTNER, 2009. Eine kurze und prägnante Zusammenfassung der hauptsächlichen Forschungskontroverse bietet WEBER, 2008, S. 344f. Vor einem anderen Hintergrund sind hier die Inhalte und Aussagen weltlicher Rechtssatzungen wie vor allem der Leges zu sehen. Vgl. dazu JEROUSCHEK, 1999. Zum Einfluss des kirchlichen Rechts auf Vorstellungen und weitere Entwicklungen im weltlichen Recht vgl. KÉRY, 2006. 19 Lat. quaestio (=q.); die Nummerierung der Fragen folgt der Einteilung bei SCHMITZ, 1958, S. 409-452. 20 Quamuis hae praedictae interrogationes feminis et uiris sunt communes tamen hae sequentes specialiter ad feminas pertinent. F258v – PL 971C. 21 „Wenn aber der Priester sieht, dass dieser sich schämt, so soll er wieder fortfahren: ‚Vielleicht, mein Lieber, kommt dir nicht alles, was du getan hast, in Erinnerung. Also werde ich dich befragen, und hüte dich davor, dass du nichts auf Anstiftung des Teufels verbergen mögest.‘ Und dann soll er ihn so nach der Ordnung befragen.“ (Uidens autem eum sacerdos
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Thematisch umfasst der erste Teil „Kapitaldelikte“, wie Tötung, Raub oder Meineid, darüber hinaus sog. magische bzw. abergläubische Praktiken und Vorstellungen, generell Missachtung der Autorität des Priesters oder Bischofs, sowie auch moralisch oder sittlich unangemessenes Verhalten, wie exzessives Trinken, Rufschädigung oder Betrug. Bei wenigen Fragen ergeben sich bereits genderspezifische Zuordnungen, die aber keine ungewöhnlichen Spezifika erkennen lassen. So sind einige der Tötungsdelikte wohl eher auf Männer zu beziehen und nicht auf Frauen, wie etwa die Tötung im Krieg in q. 9, insofern ein Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen angenommen werden kann, an denen Frauen als Kämpfende regulär nicht teilgenommen haben.22 Es wird hier auch schon eine stärkere Verbindung von Frauen mit (magischen) Bereichen deutlich, die Rituale oder Vorstellungen betreffen, die als unvereinbar galten mit Lehren und Vorstellungen der Kirche, eine Verbindung, die im zweiten Teil noch wesentlich deutlicher zutage tritt. An vorderster Stelle wäre hier eine Variation des sog. Canon episcopi zu nennen, der, erstmals im oben bereits eingeführten Sendhandbuch des Regino von Prüm überliefert, in ähnlicher Form bei Burchard von Worms aufgegriffen wird: Darin wird die Vorstellung eines nächtlichen Hexenfluges im Gefolge einer Göttin Diana, Holda oder Herodias mit Frauen assoziiert.23
uerecundantem rursum prosequatur. Fortassis carissime, non omnia quae gessisti ad memoriam modo ueniunt. Ego te interrogabo, tu caue ne diabolo suadente aliquid caelare praesumas. Et tunc eum ita per ordinem interroget.) (= Regest BD XIX 5; V161v; PL 140 Sp. 951BC ) Die Zitation erfolgt im Beitrag auf Basis der beiden ältesten Handschriften des Dekrets, der Vat. Pal. lat. 585 und 586, hier 586 (V), sowie der HS Frankfurt Barth. 50 (F). Vgl. dazu HOFFMANN/POKORNY, 1991, S.29-39. Ergänzend erfolgt die Zitation nach der Ausgabe J.-P. MIGNES in der PL 140. Vgl. ferner zu Ablauf und Häufigkeit der frühmittelalterlichen Buße MEENS, 1998, S. 3561. 22 Vgl. oben, S. 214. 23 Vgl. BD X 1 (PL 140 Sp. 831c-833B). Zum Canon episcopi vgl. u. a. TSCHACHER, 1999.
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3. Inhalte und Implikat ionen Kommen wir für eine inhaltliche Analyse zunächst zu den eingangs genannten Bereichen, nämlich zu Ehe und Sexualität, dann wird sehr schnell deutlich, dass Frauen im ersten Teil der Fragen bei Sexualvergehen überwiegend lediglich als passiv „Betroffene“ erscheinen, wenn überhaupt. Der direkte Adressat der Fragen ist männlich, wie z.B. in q. 42, worin der Ehebruch eines verheirateten Mannes mit der Ehefrau eines anderen Mannes behandelt wird: „Wenn du als Verheirateter (uxoratus) mit der Ehefrau eines anderen Unzucht getrieben hast [...]“24 Der Adressat der Frage ist durch das Genus des Verbs sowie durch die Bezeichnung uxoratus eindeutig als verheirateter Mann gekennzeichnet. Das Erstaunliche ist hier, dass nur über die beteiligte Frau gesprochen wird; sie erhält auch keine Buße, die nur der Mann bekommt, der mit ihr Ehebruch begangen hat. Dieser Sachverhalt wird auch im zweiten Teil, der exklusiv an Frauen adressiert ist, in umgekehrter Weise nicht mehr aufgegriffen. Derselbe Befund gilt auch für nichtehelichen Geschlechtsverkehr, wie in q. 43: „Wenn du als Unverheirateter mit einer ledigen Frau unzüchtig warst, dann sollst du zehn Tage bei Brot und Wasser Buße tun [...]“25 Und selbst für unerlaubte sexuelle Praktiken oder Geschlechtsverkehr an unerlaubten Tagen (kirchliche Feste, Sonntage usw.), die bzw. den ein Ehemann mit der eigenen Frau vollzieht, erhält nur der Mann eine Buße, wie in q. 56: „Hast du mit deiner Ehefrau an einem Sonntag den Beischlaf vollzogen, so sollst du vier Tage bei Brot und Wasser Buße tun.“26 Ein gleicher Befund lässt sich noch in anderen Fragen des ersten Teils feststellen (qq. 41-48, 50-57):27 Sie alle sprechen Männer an und sprechen allein ihnen die Verantwortung in Form einer Bußleistung für sexuelle Vergehen zu, wie z. B. Ehebruch, 24 Si moechatus es tu uxoratus cum alterius uxore […].V169r – PL 140 Sp. 957D. Vgl. zu den Eherechtsbestimmungen bei Burchard von Worms HARTMANN, 2000, S. 227-250. 25 Si tu solutus ab uxore cum femina uacante stuprum perpetrasti x dies in pane et aqua poeniteas [...]. V169r – PL 140 Sp. 957D-958A. 26 Concubuisti cum uxore tua die dominica, IIII dies in pane et aqua poenitere debes.V171v – PL 140 Sp. 960A. 27 V169r-170r – PL 140 Sp. 975D-958D, V170v-171v – PL 140 Sp.959A960A.
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vorehelichen Geschlechtsverkehr, aber auch die Schändung28 einer Nonne oder einer Jungfrau, sowie sexuelle Vergehen innerhalb der Ehe (q. 52: „[...] hinterwärts, auf hündische Art [...]“; q. 53: „Hast du dich mit deiner Frau geschlechtlich vereinigt zur Zeit ihrer Menstruation? [...]“).29 Lediglich in einer Gruppe von Fragen, die sich mit sexuellem Fehlverhalten befassen, sollen auch Frauen eine Bußleistung auferlegt bekommen, nämlich bei den Inzestvergehen (qq. 51, 105-115, 118 und 119).30 Gänzlich anders verhält es sich bei dem zweiten Komplex, bei dem Mann und Frau zugleich betroffen sind: bei der Frage nach der Gültigkeit einer Ehe. Q. 49 behandelt den Frauenraub: Dieser kann nicht nur dadurch nicht zu einer gültigen Ehe führen, weil die Muntgewalt der Eltern durch den Raub der Frau übergangen wurde, sondern auch deswegen, weil das Einverständnis der Frau selbst nicht gegeben ist. Die Heiratsfähigkeit der Frau wird durch diese Tat, insofern sie tatsächlich nicht einverstanden war, nicht beeinträchtigt, sehr wohl aber die des Mannes. Da er das Gebot Gottes missachtet hat, darf er keine Ehe mehr eingehen: „Wenn du das getan hast, dann sollst du gemäß der Autorität der Kanones weder sie haben, noch irgendeine andere. [...] Du aber sollst 40 Tage, das ist eine Fastenzeit, bei Brot und Wasser Buße tun, und ebenso die sieben darauffolgenden Jahre; und, weil eine rechtmäßige eheliche Verbindung durch Gottes Gebot bestimmt ist, weil aus zwei Körpern durch Gottes Befehl einer wird, und weil nur durch den Kon-
28 Die Ausübung von Gewalt spielt in den Fragen i.d.R. keine Rolle, was natürlich nicht bedeuten kann, dass auf Seiten der beteiligten Frauen Einverständnis vorauszusetzen ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass hier primär die unerlaubte sexuelle Handlung im Vordergrund steht, für die der Mann als Initiator und daher als „Schuldiger“ zu sehen ist, der eine Buße leisten muss. 29 Q. 52: [...] retro canino more [...]; q. 53: Iunxisti tu uxori tuae menstruo tempore [...]. V171v – PL 140 Sp. 959D. 30 V170v-171r – PL 140 Sp. 959BC, V178r-V179v – PL 140 Sp. 965D967A, V180v – PL 140 Sp. 967CD. Vgl. zur Problematik des Inzestverbots und insbesondere zu Konstruktionen von Verwandtschaft UBL, 2008, S. 14-27, zu Burchard von Worms nochmals UBL, S. 426-435, sowie WEBER, 2008, S. 202-242. Vgl. zum Inzest als Forschungsproblem EBD., 2008, S. 192-199.
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sens beider Parteien sowie den der Eltern eine rechtmäßige Ehe geschlossen werden kann, sollst du, der du dieses heilige Gebot in Unordnung gebracht und misshandelt hast, unverheiratet bleiben.“31
Diese Betonung der Bedeutung des Konsenses beider Ehepartner ist ein Befund, der in einer frühmittelalterlichen kirchenrechtlichen Quelle nicht überraschen kann: Tatsächlich war man bereits im frühen Mittelalter von kirchlicher Seite bemüht, den Konsens beider Partner zur Voraussetzung für die rechtliche Gültigkeit einer Ehe zu machen. Burchard von Worms steht hier in einer kirchenrechtlichen Tradition, deren Anspruch jedoch nicht ohne weiteres mit der tatsächlichen Praxis vor allem des weltlichen Rechts gleichgesetzt werden kann.32 Der Konsens der Frau ist ebenso von Bedeutung bei den wenigen Möglichkeiten im Frageteil, die die Trennung einer Ehe erlauben. Grundsätzlich kann man sagen, dass eine Trennung der Ehe im Sinne einer Scheidung einer bereits rechtsgültig geschlossenen Ehe von kirchlicher Seite abgelehnt wurde, wenngleich auch die rechtliche und dogmatische Fixierung dieses Anspruchs am Beginn des 11. Jahrhunderts noch nicht einheitlich gegeben war.33 Auch Burchard von Worms steht einer Ehetrennung grundsätzlich ablehnend gegenüber, wie Wilf31 Si fecisti nec illam habere debes secundum canonum auctoritatem nec aliam umquam canones te habere concedunt. [...] Tu autem xl dies id est carrinam in pane et aqua poeniteas et vii sequentes annos et quia legitima coniugia dei praecepto sunt ordinata et quia ex duobus corporibus unum ex dei iussum conficit et quia non debet fieri legitimum coniugum nisi ex consensu amborum et parentum tu qui sanctum illud constitutum turbasti et uiolasti sine spe coniugii permaneas. V170r-170v – PL 140 Sp. 958D959A. 32 Vgl. zur Bedeutung des Ehekonsenses WEBER, 2008, S. 47-85; vgl. dazu auch CULLUM/GOLDBERG, 2006, S. 309. 33 Vgl. dazu UBL, 2008, S. 388. Allgemein dazu MEEK, 2006. Ein bekanntes Beispiel für den langwierigen Versuch der Durchsetzung einer Ehetrennung bietet der Ehestreit des Karolingers Lothars II. Ausschlaggebend war hier vor allem die Entscheidung des Papstes, Nikolaus I. Auszüge aus brieflichen Stellungnahmen des Papstes zu diesem Streit hat Burchard an anderer Stelle in sein Dekret aufgenommen (BD IX cc. 49-53). Burchard von Worms fügt sich also auch hier in eine Tradition ein, die einer Trennung von Ehen grundsätzlich ablehnend gegenüber steht. Vgl. zum Konsensgedanken bei Nikolaus I. WEBER, 2008, S. 39-46. Vgl. zum Ehestreit Lothars II. BÖHRINGER, 1992, S. 4-31; BÖHMER/HERBERS, 2012; HEIDECKER, 2010.
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ried Hartmann anhand einer Untersuchung relevanter Passagen des Dekrets gegen Georges Duby festgestellt hat.34 Lediglich zwei der Fragen in BD XIX 5 beschäftigen sich in äußerst restriktiver Weise mit den Möglichkeiten einer Trennung der Ehe: Einmal ist dies in q. 116 die sog. „automatische Scheidung“, und zum anderen die Möglichkeit einer Auflösung der Verbindung, wenn, wie in q. 117, der Mann die Ehe nicht vollziehen kann. Die sog. „automatische Scheidung“ erfolgt, wenn die Eltern als Firmpaten ihrer eigenen Kinder fungieren. Dadurch besteht zwischen den Eheleuten eine geistliche Verwandtschaft, die seit der Mitte des 8. Jahrhunderts ein Ehehindernis bedeutete. Auf diese Weise konnte man also auch absichtlich eine Trennung der Ehe herbeiführen, im Übrigen ein Beleg dafür, dass auch Laien durchaus gewisse kirchenrechtliche „Kenntnisse“ hatten.35 Burchard behandelt diesen Fall also in q. 116,36 allerdings auf eine etwas einseitige Weise: Die Frage geht erneut an den Mann, und zwar die Frage danach, ob er eines seiner Kinder oder Stiefkinder aus der Taufe gehoben, oder als Firmpate fungiert hat. Sollte der zuständige Bischof nichts einzuwenden haben, kann sich der Mann dann auch tatsächlich von seiner Frau trennen, die danach auch erneut eine Ehe eingehen darf – er selbst muss jedoch unverheiratet bleiben! Hing es damit zusammen, dass seine Frau an seiner Entscheidung nicht beteiligt war? Der Bischof von Worms schweigt dazu; er liefert uns hier zumindest unmittelbar keine Begründung. Eine weitere, äußerst eingeschränkte Möglichkeit der Ehetrennung enthält q. 117:37 Nach maximal einem Jahr kann eine Ehe getrennt werden, insofern eine Bestätigung durch die Frau und ein „rechtmäßiges Urteil“ über eine Impotenz des Mannes vorliegt. Sollte er danach jedoch mit einer anderen eine Ehe eingehen, so soll er des Meineids für schuldig befunden werden und – nach der Ableistung einer entsprechenden Buße – zu seiner ersten Frau zurückgehen. Diese hätte aber auch selbst nach maximal einem Jahr zum Bischof gehen können, oder zu dessen Gesandten (missus), um zu erklären, dass ihr Mann den Geschlechtsakt mit ihr nicht vollziehen kann. Hätte der Mann dies 34 35 36 37
Vgl. HARTMANN, 2000. Zur Rechtskenntnis von Laien vgl. HARTMANN, 1992. V179v – PL 140 Sp. 967A. V179v-180r – PL 140 Sp. 967A-C.
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geleugnet, so hätte allein sein Wort als „Haupt der Frau“ gegolten, die ja auch auffällig lange gezögert habe. Dementgegen hat die Frau aber grundsätzlich die Möglichkeit um eine Auflösung der Ehe nachzusuchen, wenn sie bereits kurz nach der Eheschließung feststellt, dass ihr Mann den Beischlaf mit ihr und damit die Ehe formal nicht vollziehen kann, und dies auch sogleich dem Bischof oder seinem missus kundtut. Sie muss dabei glaubhaft ihren starken Wunsch Mutter zu werden erklären und betonen, dass sie nur unter dieser Voraussetzung ihre Zustimmung zu der Ehe gegeben habe. Dann kann die Ehe getrennt werden, ein rectum iudicium vorausgesetzt. Der Text sagt uns, dass die Frau dann tatsächlich aufgrund dieses Wunsches nach Mutterschaft jedenfalls eine neue Ehe eingehen dürfte – für den Mann ergäbe sich, dass er ehelos bleiben muss aufgrund seiner erwiesenen Impotenz bzw. Zeugungsunfähigkeit. Ein Aspekt, der hier noch behandelt werden muss, beinhaltet sexuelle Handlungen, die als Vergehen klassifiziert sind und das andere Geschlecht ausschließen, Masturbation oder auch der sexuelle Verkehr mit Tieren.38 Für Männer steht diese Gruppe von Fragen innerhalb des ersten Teils (qq. 120-126),39 woran wir erkennen können, dass auch dieser Teil zum einen nicht durchgängig an beide Geschlechter zu richten ist, und für den zum anderen auch gilt, was generell für den kompletten Frageteil in Kanon 5 gilt: Auf keinen Fall waren alle Fragen immer der Reihe nach zu stellen! Sonst hätte ein Priester sein Gegenüber womöglich noch auf Ideen gebracht, auf die er oder sie von allein gar nicht gekommen wäre.40 Masturbatorische Praktiken ziehen beim Mann relativ niedrige Bußen nach sich, lediglich drei, zehn oder 20 Tage. Anders verhält es sich in qq. 120-122 und 126, die explizit gleichgeschlechtliche sexuelle 38 Zu Homosexualität im Mittelalter vgl. die Ausführungen bei BYNUM, 1992, S. 85f.: „Medieval people do not, for instance, seem to have defined themselves by sexual orientation. [...] To medieval theologians, lawyers and devotional writers, there were different kinds of sexual acts – between people of different sexes, between people of the same sex, between people and animals - and all had some kind of taint attached. But there was no clear notion of being one or the other kind of sexual being.“ Von daher sind vergleichbare Praktiken im Kontext der Quelle lediglich als von einer nicht positiv definierten Norm abweichend zu definieren. 39 V180v-181v – PL 140 Sp. 967D-968D. 40 Vgl. dazu KÖRNTGEN, 2007, S. 213.
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Handlungen zwischen Männern oder sexuellen Verkehr mit Tieren (contra naturam) behandeln. Die dafür gegebenen Bußen variieren zwischen 30 bzw. 40 Tagen und 15 Jahren in qq. 122-126 und einer lebenslangen Buße für ein Vergehen contra naturam in q. 126. Eine Abstufung der Bußen erfolgt, wie in q. 120, etwa danach, ob einer dies lediglich einmal getan hat oder gewohnheitsmäßig, und ob er verheiratet ist oder nicht. Gerade die Abstufung danach, ob dies ein verheirateter Mann macht oder ein lediger, deutet in eine Richtung, die auch in der oben bereits angeführten q. 42 Ausdruck findet: „Wenn du als Verheirateter mit der Ehefrau eines anderen Unzucht getrieben hast, so sollst du, weil du hattest, was dir zur Erfüllung deiner Lust dienlich war, zwei Fastenzeiten und die 14 darauf folgenden Jahre Buße tun [...]“41
Die gleichen Vergehen werden auch für Frauen im zweiten Teil (qq. 154-158) behandelt, mit ähnlichen Bußen.42 Ein Unterschied liegt jedoch in der wesentlich höheren Bußzuweisung vor allem für masturbatorische Praktiken bei Frauen. Generell sind sexuelle Praktiken, die von Frauen ohne Beteiligung eines Mannes ausgeübt werden, mit sehr hohen Bußen von mindestens drei Fastenzeiten bis zu einer lebenslangen Buße belegt. Erneut gibt uns der Text hier aber keine Begründung oder Bewertung dieser Divergenz; allerdings finden wir darin auch keine Vorstellung von der „Frau als Inbegriff von moralischer Schwäche, sexueller Ungezügeltheit und geistiger Defizienz“,43 wie man sie in zeitgenössischen Quellen an dieser Stelle vielleicht vermuten würde.
41 Si moechatus es tu uxoratus cum alterius uxore quia habuisti quomodo impleres tuam libidinem duas carrinas cum xiiii sequentibus annis poenitere debes [...]. Siehe Anm. 24. 42 F259r – PL 140 Sp. 971D-972B. 43 SCHNELL, 1998, S. 313. Vgl. dazu die Nachzeichnung dieser unterschiedlichen Diskurse bei SCHNELL, 1998.
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4. Zwischenergebnis: Die Ehe als domin ierende Perspektive Aus den bisher analysierten Frageteilen, die sich mit sexuellen Vergehen befassen, seien sie nun an Männer oder an Frauen oder möglicherweise, wenn auch indirekt, an beide adressiert, scheint ein Schluss möglich: Sexualität ist nur dann nicht bußwürdig und folglich legitim, wenn sie zwischen einem Mann und einer Frau innerhalb einer Ehe stattfindet, inklusive aller weiteren Bedingungen wie der Vermeidung des Geschlechtsverkehrs an unerlaubten Tagen oder ähnlichem; dieser Befund kann, nach den umfangreichen Forschungen zur mittelalterlichen Sexualität, nicht überraschen.44 Alle weiteren Schlussfolgerungen, wie eine stets angenommene Passivität von Frauen in sexueller Hinsicht, der Mann als Haupt der Frau in der Ehe, der Argwohn bezüglich weiblicher sexueller Selbstständigkeit – all diese Vorstellungen können zwar in der vorliegenden Quelle m.E. nachgewiesen werden; der Befund selbst geht jedoch über einige wenige Stellen nicht hinaus, in denen sich, wie wir gesehen haben, keine weiteren Erläuterungen oder gar Begründungen dazu finden, die derartige vor allem negative Deutungen weiblicher Sexualität oder in Bezug auf die Frau im Gegensatz zum Mann untermauern würden. Burchard von Worms hat in seinem Frageteil aber durchaus gelegentlich Begründungen angegeben, warum jemand eine (konkrete) Buße für ein Vergehen erhält. Das zeigt sich sehr klar in der Bestimmung über den Frauenraub: Darin wird tatsächlich erläutert, warum der Mann zu einer lebenslangen Ehelosigkeit verpflichtet wird, die Frau aber nicht, sofern sie mit der Tat nicht einverstanden war.45 Von daher erscheint eine Schlussfolgerung, die über die angeführten Befunde hinausgeht, m.E. zu weitgehend, wollen wir nicht den Fehler machen, vor dem Ingrid Bennewitz in dem eingangs angeführten Zitat warnt.46
44 Vgl. dazu insbesondere KARRAS, 2006, zu Burchard von Worms mit S. 172 und 243. Ein größerer Überblick über Perspektiven der frühmittelalterlichen Bußbücher zur Sexualität findet sich bei LUTTERBACH, 1999. 45 Vgl. oben, S. 218f. 46 Vgl. dazu S. 214 mit Anm. 4.
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5. Frauenspezif ische Fragen Eingedenk dieses „Ballasts“ soll abschließend noch ein Blick auf die Bereiche geworfen werden, die Burchard von Worms im zweiten Teil der Fragen explizit und exklusiv an Frauen adressiert. Hier bietet sich ein Befund, nach dem die Frau mit indirekter oder imaginierter Gewaltausübung in Verbindung gebracht wird, und der sie darüber hinaus in den häuslichen Bereich verweist: Giftmord, Kindstod, Abtreibung und Empfängnisverhütung, Kuppelei, die Zubereitung von Liebes- und Heilrezepturen,47 womit oft Praktiken und Vorstellungen verbunden sind, die mit Zauberei, magischen Deutungsmustern oder schlicht „Aberglauben“ umschrieben werden können, eine Verbindung, die sich auch im ersten Teil der Fragen andeutet. Dazu kommen Fragen aus dem sog. „häuslichen“ Bereich, die das Kind oder die Zubereitung von Nahrungsmitteln betreffen.48 Eine offensive, also direkte körperliche Ausübung von Gewalt findet sich bei Frauen in keiner der Fragen:49 Wenn Frauen hier töten, dann mit Gift oder mithilfe von Zauberei. Andernfalls imaginieren sie eine Gewaltausübung, in Verbindung mit Zauber, wie in q. 170 oder 171: Die Fragen drehen sich einmal um nächtlichen, tatsächlich aber imaginierten Kannibalismus, sowie um ebenso imaginierte nächtliche Kämpfe in den Lüften.50
47 Vgl. dazu qq. 165-167 (F259v – PL 140 Sp. 973AB), 172 und 173 (F260r – PL 140 Sp. 974AB), 176 und 177 (F260v – PL 140 Sp. 974C), 193 (F261v – PL 140 Sp. 976BC). 48 Vgl. dazu qq. 179 (F260v – PL 140 Sp. 974CD), 187-190 (F261v – PL 140 Sp. 975D-976A). Vgl. zum Verhältnis von (mittelalterlichen) Frauen und dem Nahrungsbereich, insbesondere zum bewussten Verzicht auf Nahrung durch Frauen die Studien von BYNUM, 1987 und DIES., 1992. 49 Vgl. zur Gewaltfähigkeit von Frauen insbesondere auch in Bezug auf kriegerische Auseinandersetzungen (Mythos) POHL, 2004. Vgl. allgemein PANCER, 2006, S. 813f. 50 F260r – PL 140 Sp. 973C-974A. Vgl. zu den frühen Vorläufern kannibalistischer Vorstellungen von Hexenessen u.ä. RÖCKELEIN, 1996, S. 29-60.
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6. Eine weiterführend e Perspektive Ein separierender Ansatz, wie er hier gewählt wurde, kann hilfreich sein, um Unterscheidungen, die einer Quelle inhärent sein können, deutlicher oder überhaupt erst sichtbar zu machen: Mittels einer separierten Perspektive, wie sie hier in Bezug auf das Geschlecht gewählt wurde, lässt sich erkennen, inwiefern gerade Vorstellungen, die häufig als feststehender Befund vorausgesetzt werden, bezüglich einer ausgewählten Untersuchungskategorie tatsächlich in einem zeitgenössischen Text nachweisbar sind oder auch nicht. Daraus können sich m. E. Einsichten in die spezifischen Einstellungen und Positionen ihres Autors ergeben. Die Befunde, die sich hier auf dieser synchronen Ebene aus einer Analyse des Textes gewinnen lassen, besagen jedoch zunächst lediglich, dass Burchard von Worms Männer und Frauen im Bezug auf Sexualität und Ehe so gesehen hat, wie dies die meisten seiner Zeitgenossen und wahrscheinlich auch -genossinnen, getan haben mögen, auch wenn die Perspektive Burchards, der als Bischof Angehöriger des Klerus war, deutlich andere Akzentsetzungen und Urteile aufweisen mag, als es bei einem Laien der Fall gewesen wäre. In beiden Fällen, ob bei einem Geistlichen oder bei einem Laien, handelt es sich darüber hinaus um Männer: Weibliche Stimmen sind uns aus dieser Zeit leider kaum überliefert,51 was ein Urteil darüber, wie Frauen sich selbst, ihre Lebenssituation und die Möglichkeiten, die sie hatten, gesehen haben, erschwert. Burchard von Worms liefert uns aber auch in BD XIX 5 kein ausgearbeitetes Konzept, wie Männer und Frauen sein sollen, erst recht nicht, wie sie sind; wenn überhaupt, erfahren wir nur etwas darüber, wie sie nicht sein bzw. was sie nicht tun sollen. Aber inwiefern kann man hier überhaupt von Burchards Perspektive sprechen? Das ist ein nicht zu unterschätzendes methodisches Problem, auf das bereits hingewiesen wurde: Burchard von Worms tritt hier nicht als Autor eines beliebigen von ihm verfassten Textes, sondern als Kompilator einer Kirchenrechtssammlung auf, der autoritative Rechtstexte nicht verfasst, sondern lediglich gesammelt hat. Daher ließe sich 51 Vgl. etwa zur deutschsprachigen Literatur des Mittelalters BENNEWITZ, 2002, S. 8. Einzelne Stimmen können wir dennoch vernehmen, so wie die von BODARWÉ, 2004, untersuchten Sanctimoniales litteratae der Ottonenzeit.
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in einem ersten Zugang allein durch die Analyse der Auswahl von Texten und deren Anordnung bzw. Zusammenstellung eine Absicht eines Kompilators erkennen, die etwa eine bestimmte Akzentsetzung für die Sammlung beabsichtigen könnte.52 Für den vorliegenden Fall ließe sich ein durchaus beachtliches Interesse des Kompilators Burchard von Worms an Fragen des Eherechts erkennen, dem er sich in immerhin drei von 20 Büchern doch in sehr umfassender Weise widmet.53 An sehr vielen Stellen lassen sich jedoch mittels eines Vergleichs mit seinen formalen und/oder materiellen Vorlagen auch Änderungen gegenüber diesen Vorlagen nachweisen, etwa bei den Inskriptionen, oder auch innerhalb des Textkorpus selbst. Daher kann eine gesicherte Aussage zu Burchards eigener Perspektive auf bestimmte Sachverhalte anhand ausgewählter Kanones des Dekrets vor allem dann gewonnen werden, wenn man seine Änderungen gegenüber seinen Vorlagen nachvollzieht; er hat diese Änderungen, die er nachweislich an einigen von ihm aus anderen Sammlungen übernommenen Kanones vorgenommen hat, an keiner Stelle direkt kommentiert. Selbst bei Kanon 5 in Buch 19 ist aber davon auszugehen, dass er auch hierfür Vorlagen benutzt hat, selbst wenn diese noch schwieriger zu eruieren sind, da er, anders als im übrigen Dekret, keine Inskriptionen anführt. Dass aber auf dieser diachronen Ebene wiederum durchaus Ergebnisse zu erzielen sind, zeigt sich in einem ebensolchen Vergleich zur Bestimmung über die in q. 116 behandelte „automatische“ Scheidung. Wilfried Hartmann hat hierzu festgestellt, dass es erst Burchard von Worms war, der diesen Missstand klar gesehen und tatsächlich versucht hat, dagegen vorzugehen. Anders als Regino von Prüm, der in sein Sendhandbuch eine auf Hrabanus Maurus zurückgehende Bestimmung unverändert aufnimmt, die eine Trennung der Ehe im Falle einer geistlichen Verwandtschaft zwingend vorschreibt, übernimmt Burchard diese Bestimmung von Regino zwar, verschärft sie jedoch entscheidend, indem er eine harte Buße inklusive einer Ehelosigkeit für beide 52 Die besondere Bedeutung der bewussten Auswahl und Zusammenstellung von kirchlichen Rechtstexten bei früh- und hochmittelalterlichen Kompilatoren zeigte auch kürzlich die ausführliche Untersuchung von Andreas Thier zu Normbildungen bezüglich der Bischofsbestellung in kanonistischen Sammlungen bis 1140. Vgl. THIER, 2011. 53 Vgl. zur Bedeutung des Eherechts bei Burchard von Worms besonders HARTMANN, 2000.
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vorsieht54 – zumindest in BD XVII 24. In der einzigen Bestimmung zu einer automatischen Scheidung im Frageteil, die in Bezug zu diesem Kanon im 17. Buch des Dekrets steht, büßt nur der Mann und nur er muss in der Folge auch unverheiratet bleiben. Die Frau darf aber tatsächlich wieder heiraten. Weicht Burchard also in dem Teil, der eindeutig für die Praxis bestimmt war, von seinen härteren Positionen im Dekret ab? Zumindest für diese Bestimmung einer automatischen Scheidung scheint dies der Fall zu sein. Sollte tatsächlich dieser Frageteil inklusive Buch 19 selbst separat benutzt worden sein, worauf der Überlieferungsbefund hinweist,55 hätten wir im Dekret Burchards von Worms zumindest einen Befund, der in jedem Fall einem „misogynen Diskurs“ widerspricht: Entweder, es büßen beide, Mann und Frau; oder die Frau ist noch einmal ohne Buße davongekommen.
Literatur Regesten und Editionen BÖHMER, J. F., Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751-918 (926/962). Bd. 4: Papstregesten, 800-911. Tl. 2: 844-872, Lfg. 2. 858-867 (Nikolaus I.), bearb. von KLAUS HERBERS, Köln u.a. 2012. BURCHARD VON WORMS, Decretorum libri viginti. Ergänzter Neudruck der Editio princeps Köln 1548, hg. von GÉRARD FRANSEN/THEO KÖLZER, Aalen 1992. BURCHARD VON WORMS, Opera omnia (Patrologiae cursus completus / Patrologia latina 140), Paris 1880. SCHMITZ, HERMANN JOSEF, Die Bußbücher und das kanonische Bußverfahren. Nach handschriftlichen Quellen dargestellt, Bd. 2, Düsseldorf 1898 (ND 1958).
54 V128v-129r – PL 140 Sp. 924AB. Vgl. HARTMANN, 1992, S. 16f., sowie DERS., 2000, S. 241f.; vgl. ebenso HOFFMANN/POKORNY, 1991, S. 229. 55 Vgl. zur Überlieferung des Dekrets KÉRY, 1999, S.134-148. Vgl. zur Sonderstellung des 19. Buchs außerdem AUSTIN, 2009, S. 230-234.
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Reflexion des Beitrags von Birgit K ynast EUGENIO RIVERSI Birgit Kynasts Aufsatz bezieht sich auf eine einzigartige Quelle, nämlich die kanonische Sammlung des Bischofs Burchard von Worms († 1025), die genau in der Scharnier-Epoche des mittelalterlichen Jahrtausends verfasst wurde. Dieses Forschungsobjekt ist für HistorikerInnen aussagekräftig, weil es aus zwei verschiedenen Perspektiven Anhaltspunkte bietet: auf der einen Seite – dank seiner systematischen Ausführlichkeit – als ein Endresultat des frühmittelalterlichen Ausbaus des kanonischen Rechts, und auf der anderen – dank seiner breiten Rezeption – als grundlegende Voraussetzung der entscheidenden Weiterentwicklung der Kanonistik in der abendländischen Christenheit. Deshalb ist das Dekret Burchards – insbesondere der Kanon 5 des 19. Buchs, in dem 190 Fragen enthalten sind, durch die das Verhalten der Laien für die Bußpraxis untersucht werden sollte – eine Quelle, die relativ oft zitiert wird, da sie sich – trotz der methodischen Einschränkungen – für unterschiedliche Fragestellungen und auch für interdisziplinäre Ansätze in Richtung Sozial-, Religions- bzw. Rechtsgeschichte anbietet. So untersucht auch Kynast in allgemeiner, nicht zeitspezifischer Weise aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive die Stellen in den erwähnten Fragen des Kanons 5, die überwiegend die Sexualität und die Ehe betreffen Diese Schwerpunkte von Kynasts Überblick zeigen, dass der Begriff Gender hier heuristisch verwendet wurde, um die relationalen sozialen Positionen von Frauen und Männern zu beschreiben. Daraus resultiert eine erste, auf das Geschlecht bezogene Kartierung der Mög235
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lichkeiten und Unmöglichkeiten der Individuen sowie der Symmetrien und Asymmetrien in ihren Beziehungen, die eine Genderkonstruktion voraussetzen. Der nächste Schritt, d. h. eine solche Genderkonstruktion zu dekonstruieren, oder – in anderen Worten – einen umfassenderen Gender-Begriff anzuwenden, wird nicht unternommen, weil es die Quelle – wie Kynast andeutet – nur bedingt erlaubt, diese Ebene zu erfassen. Hypothetisch könnte man versuchen, den Ansatz zu vertiefen und zu erweitern: auf der einen Seite ließe sich an den ‚formalen’ Aspekten der Selektion- und Darstellungsweise der Inhalte arbeiten, um noch Fragmente der unterstellten Genderkonstruktion zu erfassen und sie in der damaligen Gesellschaft und in der Tradition zu kontextualisieren (Gender als kulturelle Konstruktion); auf der anderen Seite könnte man inhaltliche und formale Aspekte der relationalen Unterscheidung zwischen Männern und Frauen mit anderen symbolischen Grenzziehungen und den sozialen Machtverhältnissen vergleichen (Gender als grundlegende Kategorie der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit). In diesem letzten Sinn wäre es interessant, die Fragestellung in Richtung einer integrierten Perspektive zu erweitern. Auf der Basis der genauen Kenntnis des Dekrets hat sich Kynast dennoch explizit und legitim für einen separierten Ansatz entschieden, um sicherere „Befunde“ auf der synchronischen, textuellen Ebene zu finden. Im Ausblick zeigt die Autorin dann jedoch das Potential einer diachronischen Erweiterung der Fragestellung durch die sehr komplexe Untersuchung der Auswahl der Tradition im Dekret.
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Entwicklungslinien der Gender-Forschung in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften ALEXANDRA ECKERT 1 Einle itu ng In ihrem Beitrag „Gender Studies“ für die renommierte altertumswissenschaftliche Enzyklopädie Der Neue Pauly stellte Brigitte Egger im Jahr 2000 zur Entwicklung der Gender-Forschung in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften Folgendes fest: Erstens sei die Entwicklung dieses Forschungsgebietes im Vergleich zum angloamerikanischen Raum merklich verzögert erfolgt. Zweitens gebe es viele Einzelstudien zu Genderthemen, die Genderfragen in einem enger begrenzten Themengebiet untersuchten. Die Integration der GenderForschung in etablierte Bereiche der Altertumswissenschaften sei aber noch nicht vollzogen.1 Egger sah es als „wichtigstes Projekt“ für die kommenden Jahre an, eine deutliche Ausweitung integrierter Fragestellungen, also ein „Mitdenken“ der Analysekategorie Gender in traditionell wichtigen Forschungsgebieten der Altertumswissenschaften zu erreichen. Ist nun heute, mehr als 10 Jahre später, das von Brigitte Egger formulierte Ziel einer Zunahme von integrierten Forschungsansätzen teil1
Vgl. EGGER, 2000, Sp. 111-121, bes. 118 zur Integration von Gender.
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weise oder vollständig erreicht? Zur Beantwortung dieser Frage soll die wissenschaftshistorische Entwicklung der Gender-Forschung in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften in den Fokus genommen werden. Die Diskussion zielt auf die abstrakte, forschungstheoretische Frage, welche Schlussfolgerungen aus dem zunehmenden Auftreten von integrierten gegenüber separierten Forschungsansätzen für die Entwicklung der Gender-Forschung zu ziehen sind. Die hier vertretene These lautet, dass das vermehrte Auftreten integrierter Forschungsansätze die schrittweise Etablierung einer neuen Forschungskategorie in einer wissenschaftlichen Disziplin anzeigt.
2 Von der Frauengeschichte zur Gender Forschung in den deut schsprachigen Alter tu mswissen schaften 2.1 Frauengeschichte – die Frau in der Antike An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden im Zusammenhang mit der Wahlrechtsbewegung für Frauen die ersten Arbeiten von Autorinnen im deutschsprachigen Raum, die sich mit der sozialen und wirtschaftlichen Rolle von Frauen in der Antike auseinandersetzten. Das Werk mit der größten Nachwirkung war Lily Brauns 1901 entstandene Monographie Die Frauenfrage. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche Seite. Sie wurde schon 1908 ins Französische übersetzt und von Simone de Beauvoir in Das andere Geschlecht rezipiert. Für die im Zuge der 68er-Studentenproteste entstandene deutsche Frauenbewegung hatte speziell die Arbeit Mütter und Amazonen von Berta Eckstein-Diener aus dem Jahr 1927 großen Einfluss.2 Von grundlegender Bedeutung für die Entstehung der Frauengeschichte in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften war das Buch der amerikanischen Altphilologin Sarah B. Pomeroy, die 1976 eine Monographie unter dem Titel Goddesses, Whores, Wives and
2
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BRAUN, 1901; ECKSTEIN-DIENER, 1927, und DE BEAUVOIR, 1949. Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei WAGNER-HASEL/SPÄTH, 2000, S. xi.
Gender-Forschung in den Altertumswissenschaften
Slaves. Women in Classical Antiquity3 vorlegte. Pomeroys Ziel war es, ganz im Sinne der in den USA seit den 1970er Jahren bereits institutionell verankerten Forschungsrichtung „Women’s Studies“, Frauen als historische Individuen sichtbar zu machen und so die bisher vernachlässigte Frauengeschichte zu schreiben.4 Mit gewisser Verzögerung erschienen in der Folge ab den 1980er Jahren auch in Deutschland zahlreiche Arbeiten zum Thema Frauen in der Antike.5 Zweifellos bestand auf dem Gebiet der Frauengeschichte eine Forschungslücke. So fand das Thema Frauen in der 1984 erschienenen 3. Auflage der „Römischen Sozialgeschichte“ des renommierten Heidelberger Althistorikers Géza Alföldy keine Berücksichtigung.6
2.2 Michel Foucault, Diskurstheorie und die Anfänge der Gender-Forschung Ähnlich fundamentale Bedeutung für die deutschsprachigen Altertumswissenschaften wie das Buch von Pomeroy hatte etwa 10 Jahre später das Werk des französischen Philosophen Michel Foucault.7 Dieser beschäftigte sich in den 1984 erschienenen Bänden zwei und drei seiner Histoire de la sexualité mit dem Umgang mit Sexualität in der Antike.8 Foucaults forschungsmethodische Überlegungen waren von 3 4 5
6
7 8
POMEROY, 1976. Zur Bedeutung Pomeroys für die Altertumswissenschaften vgl. KUHLMANN/SCHNEIDER, 2012, S. XLIV. Vgl. zur Etablierung der „Women’s Studies“ in den USA: EGGER, 2000, Sp. 112f. und GRIESEBNER, 2003, S. 39-41. Vgl. z. B. WAGNER-HASEL, 1982 sowie SCHULLER, 1985 und SCHULLER, 1987. Grundlegend für den Forschungsbereich Frauengeschichte SCHMITT PANTEL, 1993. SCHEER, 2000, S. 170-172, bietet einen Überblick über die wichtigsten Publikationen. ALFÖLDY, 1984. Dazu SCHEER, 2000, S. 144 Anm. 8. Auch die 4. Auflage von Alföldys Werk aus dem Jahr 2011 lässt in dieser Hinsicht noch Verbesserungspotential erkennen. So schreibt Uwe Walter in seiner Rezension zu dieser Auflage: „Sich auf die klassische Sozialgeschichte zu beschränken ist begründungsbedürftig geworden, da sich das Gebiet ausgeweitet hat und inzwischen auch Themen wie Geschlechterbeziehungen, Familie, Sozialisation oder Randgruppen umfasst.“ WALTER, 2011, S. 36. Zur Bedeutung Foucaults für die Entwicklung der „Gender Studies“ in den Altertumswissenschaften vgl. EGGER, 2000, Sp. 115f., sowie SCHEER, 2011, S. 57f. FOUCAULT, 1984a, und FOUCAULT, 1984b.
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grundsätzlicher Bedeutung für die wissenschaftliche Diskussion in verschiedenen Disziplinen. Obwohl Foucault selbst kein Altertumswissenschaftler war und seine beiden die Antike berührenden Bände von altertumswissenschaftlicher Seite stark kritisiert wurden,9 löste er doch eine breite Diskussion über die Themen Sexualität und Geschlechterbeziehungen in der Antike aus. In der Folge dieser Diskussion weitete sich der Blick thematisch von der Betrachtung der Frau in der Antike hin zur Untersuchung von Geschlecht und Geschlechterbeziehungen. Neben den vorwiegend sozialgeschichtlich geprägten Methoden der Frauengeschichte hielten nun diskurstheoretische Analysemethoden nach Foucault Einzug.10 Untersuchungen, die mit einem diskurstheoretischen Ansatz arbeiten, analysieren die gesellschaftlichen Regeln, die darüber bestimmen, welche Formen von Denken, Reden oder Handeln – welche diskursiven Praktiken – in einer bestimmten historischen Situation möglich sind.11 Das Augenmerk ruht damit auf der sozialen Bedingtheit von Geschlecht und Geschlechteridentitäten und nicht auf der sozialhistorischen Realität, also der gelebten Wirklichkeit von Frauen. Die soziale Bedingtheit von Geschlecht findet in der englischen Sprache ihre Entsprechung in der Unterscheidung zwischen „sex“ – dem biologischen Geschlecht – und „gender“ – dem sozial konstruierten Geschlecht – woraus sich die Bezeichnung des Forschungszweiges „Gender Studies“ ergab. Im Deutschen wird der englische Begriff „Gender Studies“ meist mit GenderForschung oder Geschlechtergeschichte wiedergegeben.12
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Zur Kritik an Foucaults Analyse antiker Texte vgl. DETEL, 1998, LAMOUR, 1998 und SCHMITZ, 2002, S. 168-174. 10 Zur Bedeutung sozialgeschichtlicher Methoden in der Frauenforschung vgl. WAGNER-HASEL, 1988, S. 18-20 und den Forschungsüberblick WAGNER-HASEL/SPÄTH, 2000, S. xvii-xviii. 11 Foucault begründete seine Diskurstheorie in mehreren Werken. Vgl. als Hauptwerke FOUCAULT, 1969, FOUCAULT, 1972, und FOUCAULT 1976, 1984a, 1984b. Siehe zu Foucaults Bedeutung für die Gender-Forschung: WAGNER-HASEL/SPÄTH, 2000, S. xviii-xix. 12 Zur Begriffsgeschichte von „Gender“ vgl. EGGER, 2000, Sp. 111f.
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Gender-Forschung in den Altertumswissenschaften
2.3 Die Debatte um die Gender Studies in den USA in den 1980er Jahren Die Verlagerung des Schwerpunkts von den “Women’s Studies“ hin zu den “Gender Studies,“ also von Frauengeschichte zu Gender-Forschung fand in den USA bereits in den 1980er Jahren statt. Ein Meilenstein war der 1986 erschienene Aufsatz der Historikerin Joan W. Scott mit dem Titel Gender: A Useful Category of Historical Analysis.13 Die neue Akzentsetzung wurde von Vertreterinnen der feministisch ausgerichteten Frauengeschichte, so z. B. der US-amerikanischen Althistorikerin Phyllis Culham, stark kritisiert.14 Forscherinnen wie Culham sahen den politischen Anspruch für den Kampf um die Frauenrechte in der Gegenwart, den die Frauengeschichte seit ihren Anfängen als Ziel vertreten hatte, durch die Gender-Forschung gefährdet, da diese den Fokus auf Frauen und Männer und nicht mehr auf Frauen allein richtete. Darüber hinaus kritisierten sie, dass die mit der Gender-Forschung häufig verbundene Hinwendung zu diskursanalytischen Methoden das Ziel aufgegeben habe, die gelebte Wirklichkeit von Frauen in der Antike zu ermitteln, ein Ziel, das für die Frauengeschichte ebenfalls stets grundlegend gewesen war.15 Mit ähnlicher Kritik wurde später auch die Ameri-
13 Vgl. SCOTT, 1986. Diese nahm in ihrem Aufsatz Bezug auf eine bereits existierende Gender-Debatte in den USA und definierte „gender“ folgendermaßen: „[...] gender is a constitutive element of social relationships based on perceived differences between the sexes, and gender is a primary way of signifying relationships of power. Changes in the organization of social relationships always correspond to changes in representations of power [...]“ SCOTT, 1986, S. 1067. Zur Bedeutung Scotts vgl. WAGNERHASEL/SPÄTH, 2000, S. xvi-xvii, SCHMITT PANTEL/SPÄTH, 2007, S. 23-36, SCHEER, 2011, S. 57. 14 Große Breitenwirkung erreichte eine Debatte um die thematische Ausrichtung eines Workshops bei der wichtigsten altertumswissenschaftlichen Konferenz in den USA, der Jahresversammlung der American Philological Association im Jahr 1985. Phyllis Culham wendete sich gegen den Themenvorschlag „Reappropriating Male Texts: The Case of Ovid“ mit der Begründung, dass ausschließlich women’s lived reality das Ziel feministischer Geschichtsschreibung sein solle. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung WAGNER-HASEL/SPÄTH, 2000, S. xix-xx. 15 Dazu WAGNER-HASEL/SPÄTH, 2000, S. xix-xx; SCHMITT PANTEL/SPÄTH, 2007, S. 23-29. Vgl. darüber hinaus zur Kritik von Vertreterinnen und Ver-
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kanerin Judith Butler konfrontiert, die in ihrem Werk Gender Trouble aus dem Jahr 1990 in Auseinandersetzung mit Foucaults Diskurstheorie die These formuliert hatte, dass auch „sex“ sozial konstruiert sei, womit Butler die Unterscheidung in Frauen und Männer auf biologischer Grundlage, eine Grundannahme der Frauengeschichte, in Frage stellte.16 Im Gegensatz zu Foucault wurde Judith Butler allerdings in den Altertumswissenschaften kaum rezipiert.17
2.4 Die Ankunft der Gender-Forschung in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften um 1990 Etwa um das Jahr 1990 – deutlich später als in den USA – hielt die Gender-Forschung auch in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften Einzug. Die Forschungsfragestellungen wurden nun umfassender und das Repertoire der Methoden durch die Hinwendung zu diskurstheoretischen Ansätzen differenzierter. Dies bedeutete jedoch nicht, dass frauengeschichtliche Arbeiten in den 1990er Jahren keinen Platz mehr in deutschsprachigen Veröffentlichungen gehabt hätten, denn die Gender-Perspektive etablierte sich nur schrittweise in der Forschungslandschaft.18 Die Perspektiverweiterung von der Frauengeschichte zur GenderForschung eröffnete vielfältige Möglichkeiten, Querverbindungen zu etablierten Forschungsthemen der Altertumswissenschaften herzustel-
tretern der Frauengeschichte an der Gender-Forschung SCHEER, 2011, S. 58. 16 BUTLER, 1990. Dazu SCHMITT PANTEL/SPÄTH, 2007, S. 24 sowie SCHEER, 2011, S. 58. 17 SCHEER, 2011, S. 58. 18 Schmitt Pantel und Späth betonen die Leistungen der Frauengeschichte als Grundlage für die Gender-Forschung. „Vor diesem Hintergrund kann die Geschlechtergeschichte nicht als eine ‚Überwindung’ – dieses Wort wird den Leistungen der frauengeschichtlichen Arbeiten nicht gerecht, sondern als eine entscheidende Bereicherung der Problemstellungen betrachtet werden, die von der Frauengeschichte aufgeworfen wurden.“ SCHMITT PANTEL/SPÄTH, 2007, S. 26.
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len wie etwa der politischen Geschichte, der Rechtsgeschichte oder der Religionsgeschichte.19 Allerdings erfolgte diese Vernetzung mit anderen Forschungsthemen im deutschsprachigen Raum nicht in dem zu erwartenden Maße. Fachspezifische Diskussionen, die Kritik an frauengeschichtlichen Arbeiten zum Gegenstand hatten, beeinflussten auf thematischer und methodischer Ebene auch die Gender-Forschung. So mag man es als unangemessene Rhetorik bezeichnen, wenn speziell der antiken Frauengeschichte noch in den 1990er Jahren der Status eines „Modethemas“ zugeschrieben wurde.20 Weit schwerwiegendere Folgen hatte jedoch die sogenannte „Quellendebatte“. Diese war in ähnlicher Form in den USA bereits in den 1980er Jahren unter dem Stichwort male bias geführt worden.21
2.5 Die Quellendebatte Das Hauptargument U.S.-amerikanischer Vertreterinnen der feministischen Geschichtsschreibung gegen die Verwendung antiker literarischer Texte zielte auf die Tatsache, dass die große Mehrzahl überlieferter antiker Quellen hauptsächlich von Männern verfasst wurde: „The study of women in ancient literature is the study of men’s views of women and cannot become anything else.“22 Ähnliche Vorbehalte wurden in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften von Seiten der Klassischen Philologie geäußert. Demnach seien aus antiken Quellen keine Schlussfolgerungen über die soziale Wirklichkeit von Frauen in der
19 Dass die Gender-Perspektive Verbindungen zu etablierten Bereichen der Geschichtswissenschaften erleichtert, hat schon Joan Scott bemerkt. Vgl. SCOTT, 1986. 20 Siehe zur Bezeichnung als „Modethema“ SCHEER, 2000, S. 144 mit Anm. 9. Vgl. SCHMITZ, 2002, S. 18, zum Vorwurf des „Modethemas“ in Bezug auf die Anwendung moderner Literaturtheorie in der deutschen Altphilologie. 21 Vgl. zu den vorgebrachten Argumenten in den USA exemplarisch CULHAM, 1986, S. 9-30, CAMERON, 1989, S. 6-17, und KATZ, 1995, S. 2143. 22 Zitiert nach CULHAM, 1986, S. 15.
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Antike zu ziehen, sondern ausschließlich solche über das Frauenbild des jeweils individuell zu betrachtenden Autors.23 Als Reaktion auf die Quellendebatte zog man sich auf eng begrenzte frauengeschichtliche Forschungsfragestellungen zurück. So entstanden im deutschsprachigen Raum zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die sich auf die Untersuchung von Frauenbildern bei einzelnen antiken Autoren beschränkten.24 Diese separierten Forschungsansätze konnten sich aber auf Dauer nicht durchsetzen.25 Ab etwa Mitte der 1990er Jahre wurden mehr und mehr Arbeiten publiziert, die einen GenderStandpunkt einnahmen.
2.6 Gender-Forschung, Diskurstheorie und die gelebte Wirklichkeit von Frauen in der Antike Prinzipiell war die Erweiterung der Forschungsfragestellung auf den Bereich Gender nicht nur für eine bessere Verbindung mit etablierten Forschungsgebieten geeignet, sondern auch dazu, den in der Quellendebatte geäußerten Bedenken zu begegnen. Mit der Akzentverschiebung zu Gender und Diskurs verlagerte sich der Schwerpunkt von den Frauen zu gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und von der gelebten Wirklichkeit von Frauen hin zur sozialen Konstruktion von Geschlecht. Die Altertumswissenschaften nahmen diskurstheoretische Ansätze zunächst eher zurückhaltend auf. Jedoch zeigen die 1994 bzw. 1995 veröffentlichten althistorischen Dis23 Zur Quellendebatte in den USA und im deutschsprachigen Raum vgl. SCHEER, 2000, S. 145-147. 24 Zur eingeschränkten Forschungsperspektive vieler Arbeiten dieser Zeit SCHEER, 2000, S. 146. Bei SCHEER, 2000, S. 170-172 findet sich eine Übersicht zu entsprechenden Arbeiten. 25 In den USA war dieser Rückzug als Reaktion auf die feministische Kritik ebenfalls zu beobachten. „One kind of paper which avoids confronting these problems is that which studies women in the text of a male author and reaches conclusions about that male author’s values but does not explicitly claim to describe the external, historical reality which surrounded him.“ CULHAM, 1986, S. 17. Arbeiten mit sehr engen Forschungsfragestellungen setzten in den USA deutlich früher ein und waren auch deutlich früher wieder überwunden als im deutschsprachigen Raum. Dazu SCHEER, 2000, S. 146 mit Anm. 14.
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sertationen von Thomas Späth und Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer, dass Gender-Forschung und Diskurstheorie Fuß zu fassen begannen.26 Die bis dahin zögerliche Beschäftigung mit dem Thema mag auf die in den 1990er Jahren noch vorherrschende Skepsis gegenüber theoretischen Konzepten zurückzuführen gewesen sein.27 Diese Zweifel beruhten nicht nur auf dem gegenüber den sozialhistorischen Methoden der Frauenforschung veränderten Fokus der diskurstheoretischen Ansätze der Gender-Perspektive. Sie gründeten vor allem auf einer mit der Diskurstheorie verbundenen Frage, die zum Gegenstand intensiver Diskussionen wurde: Können mit diskurstheoretischen Methoden nicht nur Erkenntnisse über soziale Vorstellungen von Geschlecht und dessen Konstruktion gewonnen werden, sondern darüber hinaus auch Erkenntnisse über sozialhistorische Realitäten von Frauen und Männern in der Antike? Gerade die deutschsprachige Altertumsforschung blickte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine lange Tradition des Quellenpositivismus zurück. Grundsätzlich dominierte die Vorstellung, mit historischphilologischen Methoden den antiken Texten historische Fakten entnehmen zu können.28 Daher begegnete man diskursanalytischen Ansätzen, die die Erkenntnismöglichkeit der historischen Realität aus den Quellen in Frage stellten, mit Skepsis. Thomas Späth hat sich in mehreren Publikationen zwischen 1994 und 2006 zu dieser Frage geäußert.29 Als Synthese seiner Beschäftigung mit diesem Thema kann ein Aufsatz aus dem Jahr 2006 (Geschlechter, Texte, Wirklichkeiten) gelten:30 Die Geschichtswissenschaft müsse, so Späth, den Erwartungen nach Ergebnissen zur „gelebten Wirklichkeit“
26 Vgl. SPÄTH, 1994a und MEYER-ZWIFFELHOFFER, 1995. 27 Eher theorieskeptisch auch DETTENHOFER, 1993, vgl. bes. Dettenhofers Bemerkungen auf S. 4-6. Siehe zur verbreiteten Zurückhaltung der deutschsprachigen Altertumswissenschaften gegenüber theoretischen Konzepten EGGER, 2000, Sp. 118, FEICHTINGER, 2002, S. 11, SCHEER, 2011, S. 58, und speziell für die klassische Philologie SCHMITZ, 2000, S. 14-20. 28 Vgl. FEICHTINGER, 2002, S. 11, und HERRMANN-OTTO, 2002, S. 29. 29 SPÄTH, 1994a, 1994b, 2000, WAGNER-HASEL/SPÄTH, 2000, SPÄTH, 2006. Späth setzte sich in seinem Aufsatz von 2006 u. a. mit Positionen des Althistorikers Christoph Ulf zur Frage der Erkenntnis „historischer Realität“ auseinander. Vgl. ULF, 2002, ULF, 2004. 30 Späth schrieb seinen Aufsatz von 2006 „unter Rückgriff und in kritischer Rückschau auf eigene Thesen“ SPÄTH, 2006, S. 43.
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von Frauen und Männern in vergangenen Epochen entsprechen.31 Der mit diskurstheoretischen Methoden arbeitenden Altertumswissenschaft, so lautet sein Fazit, blieben jedoch Erkenntnisse über „die konkrete gelebte Realität der Menschen einer fernen Epoche“ verschlossen. Ihr Erkenntnisgewinn liege dagegen in der „diskursiven Wirklichkeit“, also den sozialen Regeln, die die Lebensbedingungen der Geschlechter in einem historischen Kontext prägten.32 Die Frage nach der Rekonstruktionsmöglichkeit der „gelebten Wirklichkeit“ der Geschlechter in der Antike ist noch nicht abschließend beantwortet. Als vorläufiges Fazit sei festgehalten, dass die Diskussion das Bewusstsein für die zum Einsatz kommenden methodischen Ansätze geschärft hat. Die Entwicklung scheint auf eine Pluralität der Forschungsmethoden hinauszulaufen, die philologisch orientierte Ansätze ebenso umfasst wie sozialhistorische oder diskurstheoretische Analysen.
2.7 Methodenpluralität Diese Methodenvielfalt offenbaren bereits zwei im Jahr 2000 publizierte Sammelbände: Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnungen und weibliche Lebenspraxis33 sowie Grenzen der Macht. Zur Rolle der
31 SPÄTH, 2006, S. 41. 32 SPÄTH, 2006, S. 72. Für Späths Argumentation wesentlich sind folgende Punkte: (i) Die Notwendigkeit der Interpretation der überlieferten Quellen, SPÄTH, 2006, S. 42; (ii) Die Erweiterung des traditionellen Verständnisses von „historischer Wirklichkeit“ durch die Gender-Forschung, SPÄTH, 2006, S. 44f.; (iii) Späths Unterscheidung zwischen „Realität“, die an und für sich existiere und „Wirklichkeit“, die sich „aus den mit Bedeutungen versehenen Elementen dieser Realität zusammensetzt“, SPÄTH, 2006, S. 45. Letztere Unterscheidung erscheint noch relativ unscharf und es ist bedauerlich, dass Späth diese Differenzierung erst ganz am Ende seines Aufsatzes mit dem Begriff „diskursive Wirklichkeit“ (vs. Realität) präzisiert, SPÄTH, 2006, S. 72. 33 Vgl. die Beiträge in SPÄTH/WAGNER-HASEL, 2000. In der Einleitung beschreiben die Herausgeber Methodenpluralität als Charakteristikum des Bandes: „Er [der vorliegende Band] präsentiert [...] ein breites Spektrum von Fragestellungen und methodischen Zugriffen. Diskurstheoretische Ansätze stehen neben ereignisgeschichtlich ausgerichteten Beiträgen, sozialgeschichtliche Strukturanalysen neben literaturgeschichtlich-
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römischen Kaiserfrauen.34 Das breite Spektrum der Forschungsansätze im deutschsprachigen Raum illustrieren auch die beiden im Jahr 2006 erschienenen Abschlussbände eines von 1997 bis 2005 an der Universität Innsbruck verankerten Projektes, 35 das sich in drei Phasen von der Untersuchung von Frauenbildern in der antiken Ethnographie zur Analyse von Geschlechterverhältnissen in historiographischen Texten von der Antike bis zum frühen Mittelalter entwickelte.36 Methodenpluralität konstatieren auch die Herausgeberinnen und Herausgeber des im Jahr 2007 veröffentlichten Konferenzbandes Geschlechterdefinitionen und Geschlechtergrenzen in der Antike, der die Ergebnisse einer Tagung an der Humboldt-Universität Berlin aus dem Jahr 2005 präsentiert. Sie betonen die große Bandbreite von methodologischen Positionen und die damit zusammenhängenden, unterschiedlichen Erkenntnisinteressen der einzelnen Aufsätze, die von der „gelebten Wirklichkeit“ von Männern und Frauen bis zur Rekonstruktion von Geschlechterdiskursen reichen.37 Ganz ähnlich spiegeln die in der 2002 begründeten Reihe Iphis.
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philologischen Untersuchungen einzelner Werke.“ WAGNER-HASEL/SPÄTH, 2000, S. xxii. KUNST/RIEMER, 2000. Siehe ULF/ROLLINGER, 2006 zu Frauen und Geschlechtern in den Texten der römischen Kaiserzeit sowie ROLLINGER/ULF, 2006, zu Frauen und Geschlechtern zwischen Antike und Mittelalter. Diese beiden Publikationen fassen die Ergebnisse der dritten Projektphase sowie des Gesamtprojektes zusammen. Die Tagungsbände ROLLINGER/ULF, 2000, und ULF/ROLLINGER, 2002, dokumentieren die Resultate der ersten beiden Projektphasen. Vgl. zur Vielfalt der methodologischen Positionen die Einleitung von ULF/SCHNEGG, 2006, zum Tagungsband ULF/ROLLINGER, 2006. Christoph Ulf und Kordula Schnegg plädieren an dieser Stelle für eine Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen und Selbstreflexion der eigenen methodologischen Position: „Das ist zwar kein Heilmittel gegen gewolltes Missverstehen, kann aber helfen, vorschnelle Urteile über das konkrete Arbeiten anderer als progressiv oder konservativ, brauchbar oder unbrauchbar zu vermeiden.“ ULF/SCHNEGG, 2006, S. 14. ROLLINGER/ULF, 2006, S. 9. HARTMANN, 2007, S. 7-9. Zur Methodenvielfalt vgl. insbesondere S. 8: „Die Beiträge dokumentieren ein breites Spektrum von Erkenntnisinteressen, methodischen Ansätzen und Herangehensweisen an das antike Quellenmaterial.“
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Beiträge zur altertumswissenschaftlichen Gender-Forschung erschienenen Konferenzbände die Methodenvielfalt des Forschungsgebietes. 38
2.8 Zunehmende Bedeutung der Gender-Forschung in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften seit dem Jahr 2000 Es mag dem breiten Spektrum der Methoden zuzuschreiben sein, dass die anfängliche Skepsis und Zurückhaltung gegenüber der GenderForschung mittlerweile größerer Akzeptanz gewichen ist.39 Meilensteine auf diesem Weg waren sicherlich der Eintrag „Gender Studies“ im Lexikon Der Neue Pauly wie auch die Tatsache,40 dass im Jahr 2000 die erste Tagung zum Thema „Gender-Studies in den Altertumswissenschaften“ an der Universität Trier veranstaltet wurde, die den Kristallisationspunkt für die Iphis-Bände bildete.41 Im Fach Archäologie etablierte sich bereits im Jahr 1994 die Reihe Frauen – Forschung – Archäologie, deren anfangs frauengeschichtlich geprägter Blick sich in den folgenden Jahren auf den Bereich Geschlechterbeziehungen erweiterte.42 2002 veröffentlichte der klassische Philologe Thomas Schmitz ein an Studenten gerichtetes Buch mit dem Titel Moderne Literaturtheorie und antike Texte und widmete darin den Themen Diskursanalyse, Feminismus und Literaturwissenschaft sowie den Gender Studies eigene Kapitel.43 Im Jahr 2004 fand die Gender-Forschung darüber hinaus Eingang in ein an Studenten der Alten Geschichte gerichtetes Lehrbuch.
38 FEICHTINGER/WÖHRLE, 2002, FUHRER/ZINSLI, 2003, HARICH-SCHWARZBAUER/SPÄTH, 2005, FEICHTINGER/KREUZ, 2010, FORMISANO/FUHRER, 2010. 39 Eine zunehmende Akzeptanz der Gender-Forschung seit dem Jahr 2000 konstatieren ULF/SCHNEGG, 2006, S. 22. 40 EGGER, 2000, Sp. 111-121. 41 FEICHTINGER/WÖHRLE, 2002, S. 5-10. 42 Vgl. Bd. 6 dieser Reihe aus dem Jahr 2005 mit dem Titel „Ausgegraben. Zwischen Materialclustern und Zeitscheiben. Perspektiven der archäologischen Geschlechterforschung“, FRIES/KOCH, 2005, oder den 2009 erschienenen 8. Band „Zwischen Diskursanalyse und Isotopenforschung. Methoden der archäologischen Geschlechterforschung“, RAMBUSCHEK, 2009. 43 SCHMITZ, 2002, S. 155-174 sowie S. 193-213.
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Unter dem Oberthema „Schlüsselbegriffe und Konzepte“ findet sich darin ein Beitrag zu „Geschlecht und Geschlechterdiskurs“.44
2.9 Forderungen nach integrierten Forschungsansätzen In der Rückschau auf die Entwicklung der Gender-Forschung in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften seit den Anfängen um 1990 ist sicherlich nicht zu bestreiten, dass die Kategorie Geschlecht inzwischen deutlich mehr Akzeptanz gefunden hat. Allerdings muss bei einem genaueren Blick auf diese Entwicklung auch eingeräumt werden, dass das von Brigitte Egger und Tanja Scheer im Jahr 2000 formulierten Ziel der Integration von Gender in etablierte Bereiche der Altertumswissenschaften noch nicht vollständig erreicht ist. Brigitte Egger machte in ihrem Beitrag aus dem Jahr 2000 deutlich, dass die Integration der Kategorie Geschlecht in etablierte Forschungsbereiche der Altertumswissenschaften noch nicht vollzogen sei und dieses Ziel die wichtigste Aufgabe für die kommenden Jahre darstelle.45 Im selben Jahr forderte die Göttinger Althistorikerin Tanja Scheer, dass „in Zukunft in jedes historische Thema die Frage einfließen [solle], wie die Geschlechter jeweils miteinander umgehen, durch welche Interessen und natürlich auch Interessenskonflikte sie miteinander verknüpft sind.“46 Sie nannte in diesem Zusammenhang die Forschungsthemen politische Geschichte, Religionsgeschichte und historische Geographie. Scheer formulierte damit wie Brigitte Egger die For-
44 SPÄTH, 2004, S. 376-390. In England hat der Althistoriker Neville Morley in seinem an Studenten gerichteten Band „Theories, Models and Concepts in Ancient History“, der Teil der Reihe „Key Themes in Ancient History“ ist, die Themen feministische Geschichtsschreibung, Gender und Diskursanalyse nach Foucault besprochen, MORLEY, 2004, S. 89-100. 2013 widmete Lin Foxhall einen eigenen Band in dieser Reihe dem Thema „Studying Gender in Classical Antiquity“, FOXHALL, 2013. Vgl. im deutschsprachigen Bereich auch den Beitrag von Christian Ronning zum Thema Gender-Forschung im Studienbuch „Kultur der Antike“, RONNING, 2011. 45 EGGER, 2000, Sp. 118. 46 SCHEER, 2000, S. 169.
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derung nach Integration des Forschungsfeldes Gender in die Altertumswissenschaften. Im Jahr 2007 erklärten Pauline Schmitt Pantel und Thomas Späth Gender zu einer „unverzichtbaren Kategorie seriöser historischer Arbeit.“47 Sie attestierten darüber hinaus, Gender sei „auf einem guten Weg“ sich in die Forschungslandschaft einzufügen.48 Für den Bereich der griechischen Geschichte stellte Tanja Scheer jedoch 2011 fest, dass ein „großer Teil auch der neuesten Forschung zur griechischen Geschichte [...] ,Geschlecht’ als Element des historischen Fragerasters noch nicht verinnerlicht [hat].“49
3 Integrat ion, Marg ina lisierung un d Vernetzung Der Abstraktionsschritt von der Frauengeschichte zur GenderForschung, also von der Betrachtung der Frau in der Antike hin zur Untersuchung von Geschlechtlichkeit und Geschlechterbeziehungen, hat ohne Frage zahlreiche Möglichkeiten geschaffen, Gender in verschiedene etablierte Forschungsbereiche der Altertumswissenschaften zu integrieren. Allerdings ging die Entwicklung im deutschsprachigen Raum als Folge der Quellendebatte zunächst eher in eine gegenteilige Richtung. Mittlerweile ist ein breites Spektrum von Untersuchungen zu verzeichnen, die sich die Gender-Perspektive zu eigen machen. Was Brigitte Egger im Jahr 2000 als „wichtigstes Projekt“ für die Zukunft der altertumswissenschaftlichen Gender-Forschung anmahnte, nämlich eine Zunahme von Arbeiten mit integrierten Forschungsfragestellungen, ist in den letzten Jahren mehr und mehr eingetreten. Sollte 47 SCHMITT PANTEL/SPÄTH, 2007, S. 34. Ähnlich SPÄTH, 2004, S. 383. 48 SCHMITT PANTEL/SPÄTH, 2007, S. 34. 49 SCHEER 2011, S. 55. Ein Beispiel für die von Scheer angesprochenen Verbesserungspotentiale wäre z.B. die Bedeutung von Frauen in der athenischen Demokratie. In Überblickswerken – siehe z. B. BLEICKEN, 1995 und ähnlich SCHULZ, 2005 – ist die Thematisierung der Bürgerin noch nicht selbstverständlich. Ausnahmen davon bilden DREHER, 2001 und PABST, 2003. Siehe speziell PABST, 2006 zu Frauen als „Hälfte der Polis“. Zur Rolle der Bürgerin in Athen vgl. auch die Monographien von SCHNURRREDFORD, 1995, HARTMANN, 2002 und HARTMANN, 2007.
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man diese Entwicklung zu integrierten Fragestellungen nun nicht nur positiv, sondern durchaus auch kritisch sehen, weil mit ihr die Gefahr der Marginalisierung des Forschungsbereichs Gender verbunden sein könnte? Versteht man Integration als Mitdenken der Kategorie Gender in Forschungsbereichen, die diese bisher nicht verinnerlicht haben, so könnte durchaus die Gefahr einer Marginalisierung gegeben sein. Diese Gefahr bestünde dann, wenn Gender dauerhaft als nachrangig zu bereits akzeptierten Forschungsfeldern wahrgenommen würde. Diesem Problem kann jedoch durch eine Beschreibung des Prozesses der erwünschten Integration der Kategorie Gender in die Forschungslandschaft als „Vernetzung mit“ statt als „Mitdenken in“ begegnet werden. Entsprechend sollte statt zwischen separierten und integrierten Forschungsansätzen zwischen separierten und vernetzten Forschungsfragestellungen unterschieden werden. Diese Veränderungen in der Wortwahl würden unterstreichen, dass Gender auf der gleichen Ebene anzusiedeln ist wie bereits etablierte Forschungsfelder. Die Erweiterung der Forschungsperspektive durch die Kategorie Gender hat das Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge verbessert. Allerdings lässt sich Gender sicherlich nicht mit allen Forschungsfeldern gleich gut vernetzen und es existieren auch Forschungsfragestellungen, für die Gender weniger relevant erscheint. Davon unbenommen bleibt, dass die Kategorie Gender in einer von Methodenvielfalt geprägten Altertumswissenschaft ihren Platz hat und dort auch nicht mehr wegzudenken ist. Die am Beispiel der Historie der Gender-Forschung in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften aufgezeigte Entwicklung von separierten Forschungsansätzen hin zu vernetzten Forschungsfragestellungen kann von einem abstrakten, forschungstheoretischen Standpunkt aus auch folgendermaßen verstanden werden: Vernetzte Forschungsfragestellungen sind ein Indikator dafür, dass sich eine anfänglich neue Analysekategorie als eigenständiges Forschungsfeld innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin etabliert. Somit dürfte sich die für den Bereich der deutschsprachigen Altertumswissenschaften beschriebene Entwicklung auch für andere Bereiche der Geschichtswissenschaft nachvollziehen lassen.
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Gender-Forschung in den Altertumswissenschaften
DIES. (Hg.), Frauen und Geschlechter zwischen Antike und Mittelalter. Bilder – Rollen – Realitäten in den Texten antiker Autoren zwischen Antike und Mittelalter (Band 2), Wien u. a. 2006. RONNING, CHRISTIAN, Von Frauen erzählen ... Männlichkeit und Weiblichkeit in römischen Grabinschriften, in: Kultur der Antike. Transdisziplinäres Arbeiten in den Altertumswissenschaften, hg. von ULRIKE EGELHAAF-GAISER u. a., Berlin 2011, S. 83-111. SCHEER, TANJA, Forschungen über die Frau in der Antike, in: Gymnasium 107 (2000), S. 143-172. DIES., Griechische Geschlechtergeschichte, München 2011. SCHMITT PANTEL, PAULINE (Hg.) Geschichte der Frauen. Bd. 1 Antike, Frankfurt a. M. 1994. DIES./SPÄTH, THOMAS, Geschlecht und antike Gesellschaften im 21. Jh., in: Geschlechterdefinitionen und Geschlechtergrenzen in der Antike, hg. von ELKE HARTMANN u. a., Stuttgart 2007, S. 23-36. SCHMITZ, THOMAS, Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002. SCHNURR-REDFORD, CHRISTINE, Frauen im klassischen Athen, Berlin 1996. SCHOLZ, RAIMUND, Athen und Sparta, 2. Aufl., Darmstadt 2005 [2003]. SCHULLER, WOLFGANG, Frauen in der griechischen Geschichte, Konstanz 1985. DERS., Frauen in der römischen Geschichte, Konstanz 1987. SCOTT, JOAN W., Gender. A Useful Category of Historical Analysis, in: The American Historical Review 91 (1986), S. 1053-1075. SPÄTH, THOMAS, Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt a. M. 1994 (zitiert als SPÄTH 1994a). DERS., Texte et Tacite. Proposition d’un modèle du texte historiographique, in: Storia della Storiografia 26 (1994), S. 3-38 (zitiert als SPÄTH 1994b). DERS., Agrippina minor. Frauenbild als Diskurskonzept, in: Grenzen der Macht. Zur Rolle der römischen Kaiserfrauen, hg. von CHRISTIANE KUNST/ULRIKE RIEMER, Stuttgart 2000, S. 115-133. DERS./WAGNER-HASEL, BEATE (Hg.), Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnungen und weibliche Lebenspraxis, Stuttgart 2000.
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Alexandra Eckert
DERS., Geschlecht und Geschlechterdiskurs, in: Oldenbourg Geschichte Lehrbuch Antike, hg. von ECKHARD WIRBELAUER, München 2004, S. 376-390. DERS., Geschlechter, Texte, Wirklichkeiten, in: Frauen und Geschlechter. Bilder, Rollen, Realitäten in den Texten antiker Autoren der römischen Kaiserzeit, hg. von CHRISTOPH ULF/ROBERT ROLLINGER, Wien u. a. 2006, S. 39-76. ULF, CHRISTOPH, Die Diskussion über den wissenschaftlichen Zugang zu Vergangenheit als Herausforderung für die Praxis der Forschung über Geschlechterrollen und Ethnographie in der Antike, in: Geschlechter – Frauen – Fremde Ethnien. In antiker Ethnographie, Theorie und Realität, hg. von DERS./ROBERT ROLLINGER, Innsbruck 2002, S. 32-55. DERS., Zum Verhältnis von ethnographischen Topoi und historischer Realität am Beispiel von Frauenbildern bzw. Geschlechterrollen, in: Historische Zeitschrift 279 (2004), S. 281-307. DERS./ROLLINGER, ROBERT (Hg.), Geschlechterrollen – Frauenbild – antike Ethnographie in Theorie, Projektion und Realität, Innsbruck 2002. DERS./ROLLINGER, ROBERT (Hg.), Frauen und Geschlechter. Bilder, Rollen, Realitäten in den Texten antiker Autoren der römischen Kaiserzeit (Band 1), Wien u. a. 2006. DERS./SCHNEGG, KORDULA, Geschlechterrollen – Frauenbilder. Diskurse – Realität(en). Einige Gedanken zur Unvermeidbarkeit grundsätzlich-methodologischer Reflexionen am Beispiel terminologischer Fragen, in: Frauen und Geschlechter. Bilder, Rollen, Realitäten in den Texten antiker Autoren der römischen Kaiserzeit, hg. von DERS./ROBERT ROLLINGER, Wien u. a. 2006, S. 13-35. WAGNER-HASEL, BEATE, Zwischen Mythos und Realität. Die Frau in der frühgriechischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1982. DIES., ‚Das Private wird politisch‘. Die Perspektive ,Geschlecht‘ in der Altertumswissenschaft, in: Weiblichkeit und geschichtliche Perspektive, hg. von URSULA BECHER/JÖRN RÜSEN, Frankfurt a. M. 1998, S. 11-50. DIES./SPÄTH, THOMAS, Neue Fragen an ein altes Thema. Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: Frauenwelten in der Antike. Geschlech-
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Gender-Forschung in den Altertumswissenschaften
terordnungen und weibliche Lebenspraxis, hg. von THOMAS SPÄTH/DIES., Stuttgart 2000, S. IX-XXVI. WALTER, UWE, Rezension Alföldy, Géza, Römische Sozialgeschichte, Stuttgart 2011, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.11.2011, S. 36.
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Reflexion des Beitrags von Alexandra Eckert MARION WITTFELD Die wissenschaftshistorische Entwicklung der Gender-Forschung in einer bestimmten Fachdisziplin auf 15 Seiten darzulegen ist ein anspruchsvolles Unterfangen. Alexandra Eckert gelingt dieser Überblick, im vorliegenden Fall für die Altertumswissenschaften, auch für fachfremde LeserInnen äußerst anschaulich. Von den Anfängen der Frauenforschung bis hin zur aktuellsten Forschungsliteratur geht sie der Frage nach, ob und wie die Integration der Kategorie Gender in den Altertumswissenschaften stattfand und -findet. Dass es dabei stets auch um die Diskussion methodischer Ansprüche geht, wird deutlich, indem positive als auch negative Einstellungen der altertumswissenschaftlichen „Forschungscommunity“ gegenüber der diskurstheoretischen Methode der Erforschung von Geschlechterverhältnissen dargelegt werden. Besonders wichtig erscheint mir die Stellungnahme der Autorin zur Frage der Positionierung einer integrierten oder separierten Behandlung der Kategorie Gender am Ende des Beitrags. So macht Alexandra Eckert den Vorschlag, das Wort „integriert“ durch das Wort „vernetzt“ zu ersetzen, um die Gleichberechtigung der Genderkategorie zu anderen Forschungsfeldern zu betonen und so eine Marginalisierung zu vermeiden. Die Argumentation ist nachvollziehbar, dennoch blieb ich beim Lesen an dieser Stelle hängen. Denn der Wunsch, die Gleichberechtigung der Kategorie Gender zu betonen, zeigt auf der einen Seite den immer noch vorhandenen Handlungsbedarf für ihre Etablierung in die Forschungsrealität auf. Auf der anderen Seite evoziert er aber mögli259
Marion Wittfeld
cherweise zugleich den Gedankengang, dass eine Etablierung einzig durch die Vernetzung mit renommierteren Forschungsfeldern hergestellt werden könne. Denn ein Mitdenken der Kategorie Gender bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass diese „als nachrangig zu bereits akzeptierten Forschungsfeldern wahrgenommen würde“ (S. 251). Zusammenfassend bietet der Beitrag von Alexandra Eckert einen exzellenten Überblick über den Umgang mit der Kategorie Gender in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften, wobei zusätzlich Parallelen und Kontraste zum angloamerikanischen Raum aufgezeigt werden. Mein Wunsch an die Autorin wäre ein ähnlicher Artikel in zehn bis fünfzehn Jahren, denn ich wäre gespannt, was in der Zwischenzeit im Hinblick auf die Etablierung der Gender-Forschung in den Altertumswissenschaften passiert ist.
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A UT OR INNE N
UND
A UT ORE N
Bothe, Alina, M.A., Studium der Geschichtswissenschaft, der Ost- und Südosteuropäischen Geschichte sowie der Politikwissenschaft an der Freien Universität zu Berlin. Aktuell promoviert sie am Osteuropa Institut der Freien Universität; zugleich ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg beschäftigt. Ihre Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen umfassen: Geschichte der Shoah, ZeugInnenschaft, digital history, literary studies, postmoderne Theorie und Geschlechtergeschichte. Bovermann, Christine, M.A., hat Geschichte und Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg studiert und war anschließend Mitglied im internationalen Graduiertenkolleg „Formwandel der Bürgergesellschaft. Japan und Deutschland im Vergleich“. Ihre Promotion behandelt Partizipationsmöglichkeiten für Frauen in der Zionistischen Bewegung des Deutschen Kaiserreichs am Beispiel des zionistischen Konzeptes „Gegenwartsarbeit“. Zurzeit ist sie am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg assoziiert. Domeier, Norman, Dr. phil., geb. 1979, Studium der Geschichts-, Politik- und Medienwissenschaft in Göttingen, Cambridge und am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, ist Akademischer Rat am Historischen Institut der Universität Stuttgart. Sein Forschungsinteresse umfasst die politische Kultur- und Mediengeschichte der europäischen Moderne, insbesondere das Verhältnis von Macht, Sexualität und Öffentlichkeit. Für sein Buch „Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs“ (2010) hat er den ,Geisteswissenschaften International -Preis des Deutschen Börsenvereins erhalten. Die englische Ausgabe erscheint Anfang 2015 bei Camden House. Aktuell ,
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Geschlecht in der Geschichte
arbeitet er an einer Habilitationsschrift zum Thema „Weltöffentlichkeit und Diktatur. Die Auslandskorrespondenten und das Dritte Reich. 1932-1949.“ Eckert, Alexandra, Dr. phil., hat im November 2012 an der Universität Halle-Wittenberg ihre Dissertation im Fach Alte Geschichte verteidigt. Ihre Dissertationsschrift trägt den Titel „Das kulturelle Gedächtnis von Römern und Griechen und die antike Erinnerung an Lucius Cornelius Sulla (1. Jh. v. Chr. - 3. Jh. n. Chr.)“. Sie ist Alumna der Studienstiftung des Deutschen Volkes und des Mentoringprogrammes „Im Tandem zum Erfolg“ für Nachwuchswissenschaftlerinnen des Universitätsverbundes Halle-Jena-Leipzig (Mentorin Prof. Dr. Tanja Scheer, Göttingen) Seit April 2013 ist Alexandra Eckert PostDoc und wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Michael Sommer am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Universität Oldenburg mit Forschungsschwerpunkten in den Bereichen späte römische Republik, antike Gedächtnisgeschichte, Trauma-Theorien, Emotionsforschung, Transkulturalität und GenderForschung. Hintermayr, Maria Michaela, M.A., absolvierte ein Diplomstudium der Geschichte an der Universität Wien. Seit 2011 arbeitet sie an einem Dissertationsprojekt im Fach Geschichte an der Universität Wien unter dem Arbeitstitel „Todernst. Eine Analyse des geschlechtsspezifischen Suiziddiskurses in Österreich (1870 bis heute)“. 2013 erhielt sie ein PraeDoc Forschungsstipendium der Universität Wien sowie den Theodor-Körner-Preis zur Förderung von Wissenschaft und Kunst. Seit dem Wintersemester 2013/2014 ist Michaela Maria Hintermayr Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) Wien. Ab dem Wintersemester 2014/2015 absolviert sie Forschungsaufenthalte an der LMU München und UC Berkeley; neben ihrer Forschungstätigkeit übt sie diverse Lehraufträge an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie der Universität Wien aus. Koban, Ellen, studierte Theaterwissenschaft, Sportwissenschaft und Pädagogik in Mainz und Santiago de Chile. Von 2010 bis 2013 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität
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Autorinnen und Autoren
Mainz mit den Forschungsschwerpunkten Gender Studies und Gegenwartstheater. Seit 2013 ist sie Projektmitarbeiterin in der DFG Forschergruppe 1939 „Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung“ (Mainz) und promoviert zum Thema „Performative Reflexion von Humandifferenzierung: Uneindeutige Geschlechtsdarstellungen im theatral gerahmten Kontext von Mode und Theater“. Ihre Magisterarbeit mit dem Titel „Gerettet? – Spiegelungen des prekären SinnSubjekts im jungen deutschen Regietheater“ erschien 2008 im Marburger Wissenschaftsverlag Tectum. Kynast, Birgit, M.A., 1985 in Kemnath/Opf. geboren, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Trier und Bayreuth (2005/2006-2009, B.A. in Europäischer Geschichte; 20092011 M.A. in Geschichte mit Schwerpunkt Mitteleuropa und angelsächsische Welt). Seit Februar 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihr 2012 begonnenes Dissertationsvorhaben behandelt Formen, Funktionsweisen und Verständnis der frühmittelalterlichen Buße am Beispiel des Dekrets des Bischofs Burchard von Worms (1000-1025). Seit Mai 2013 ist sie Junior-Mitglied der Gutenberg-Akademie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Malchow, Jacqueline, M.A., studierte Anglistik und Neuere Geschichte in Hamburg. Seit ihrem Abschluss arbeitete sie als Lehrbeauftragte im Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Hamburg und seit März 2013 ist sie Projektmitarbeiterin in dem von der DFG geförderten interdisziplinären Forschungsprojekt „Bühne und Bürgertum. Das Hamburger Stadttheater 1770-1850“ am Institut für Germanistik der Universität Hamburg. Sie promoviert zum Thema „Englische Einflüsse auf das Hamburger Theater im 18. Jahrhundert. Eine Rekonstruktion der Regiearbeit Friedrich Ludwig Schröders aus den handschriftlichen Quellen.“ Miersch, Uta, studierte von 2003 bis 2009 Deutsche Philologie und Geschichte für das Lehramt an Gymnasien an der Johannes GutenbergUniversität Mainz. In ihrer Staatsexamensarbeit mit dem Titel „Traktor, Sputnik, Friedenstaube“ untersuchte sie das Liedgut des Kindergartens
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Geschlecht in der Geschichte
der DDR. Von 2009 bis 2010 arbeitete Uta Miersch als wissenschaftliche Mitarbeiterin und als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Deutschen Institut der Universität Mainz, im Bereich Literaturwissenschaft des Mittelalters, und war im Jahr 2011 an dem dort angesiedelten Projekt „mainz 1184“ beteiligt. Im Jahr 2010 begann sie ein Promotionsvorhaben zur Vorschulerziehung in der DDR, als Mitglied der Doktorandengruppe „Prozesse politischer Integration (18.-20. Jahrhundert)“. Seit 2011 ist Uta Miersch Mitglied der Nachwuchsgruppe „Geschichtstransformationen“. 2012 und 2013 hatte sie Lehraufträge am historischen Seminar der Universität Mainz inne. Seit November 2013 ist Uta Miersch als Lehrerin im Vorbereitungsdienst am Studienseminar Wiesbaden tätig. Müller, Svenja, M.A., studierte von 2003-2008 Mittlere/Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie war 2009 als Research Associate am Theologischen Institut der Queen’s University Kingston/Kanada beschäftigt. Seit 2010 promoviert sie an der Freien Universität Berlin bei Frau Professorin Michaela Hohkamp (seit 2011 Leibniz Universität Hannover). Sie wurde in den Jahren 2010 bis 2013 im Rahmen des Elsa-NeumannStipendiums des Landes Berlin gefördert. Gegenstand ihrer Dissertation ist ein Kindsmordprozess aus den Jahren 1760-1766, welchen sie unter Einbeziehung weiterer kontextualisierender Quellen einer mikrologischen und multiperspektivischen Analyse unterzieht. Riversi, Eugenio, Dr. phil., studierte mittelalterliche Geschichte an der Universität Bologna. Er war Stipendiat am Instituto Italiano degli Studi storici in Neapel und am Deutschen Historischen Institut in Rom und wurde in Pisa mit einer Dissertation über die Vita Mathildis Donizos von Canossa promoviert, die 2013 unter dem Titel La Memoria di Canossa veröffentlicht wurde. Seit 2011 arbeitet er als Projektmitarbeiter und Lehrbeauftragter im Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn. Weitere Forschungsinteressen sind Geschichte der Häresien und des Papsttums im 11. und 12. Jahrhundert und Theorie der Kulturgeschichte.
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Autorinnen und Autoren
Schuh, Dominik, beendete sein Studium der Geschichte und der deutschen Philologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 2011 mit dem 1. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. Von Oktober 2011 bis Dezember 2012 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der JGU Mainz beschäftigt. Zeitgleich begann er ein Dissertationsvorhaben zu laikalen Männlichkeiten im späten Mittelalter. Seit Januar 2013 arbeitet er im Projekt „Akademische Integrität“ an der Universitätsbibliothek Mainz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Geschlechtergeschichte (Geschichte der Männlichkeiten), Geschichte des Rittertums, historische Kulturwissenschaften sowie Methoden der Vermittlung wissenschaftlicher Arbeitstechniken. Wittfeld, Marion, Studium der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften in Siegen und Wien. Derzeit Dissertation „'Mit der deutschen Frau und Mutter steht und fällt die Innere Front!'. Die Presseanweisungen des Propagandaministeriums (für Zeitschriften) im Zweiten Weltkrieg und ihre Umsetzung am Beispiel der Frauenzeitschrift 'Mode und Heim'“ am Institut für Germanistik der Universität Wien. DOCStipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (20102012), Forschungsstipendiatin der Universität Wien (März-August 2012), Theodor-Körner-Preisträgerin 2013. Tätig als Journalistin, u. a. für die Online-Zeitung der Universität Wien.
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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Jutta Ernst, Florian Freitag (Hg.) Transkulturelle Dynamiken Aktanten – Prozesse – Theorien Dezember 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2563-9
Ute Frietsch, Jörg Rogge (Hg.) Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens Ein Handwörterbuch 2013, 520 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2248-5
Sonja Georgi, Julia Ilgner, Isabell Lammel, Cathleen Sarti, Christine Waldschmidt (Hg.) Geschichtstransformationen Verfahren, Medien und Funktionalisierungen historischer Rezeption Januar 2015, ca. 480 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2815-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Mainzer Historische Kulturwissenschaften Carsten Jakobi, Christine Waldschmidt (Hg.) Witz und Wirklichkeit Komik als Form ästhetischer Weltaneignung Februar 2015, ca. 570 Seiten, kart., ca. 52,99 €, ISBN 978-3-8376-2814-2
Karen Joisten (Hg.) Räume des Wissens Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie 2010, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1442-8
Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.) Historische Kulturwissenschaften Positionen, Praktiken und Perspektiven 2010, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1441-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Mainzer Historische Kulturwissenschaften Anna Ananieva, Alexander Bauer, Daniel Leis, Bettina Morlang-Schardon, Kristina Steyer (Hg.) Räume der Macht Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der Frühen Neuzeit 2013, 406 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2221-8
Ursula Kramer (Hg.) Theater mit Musik 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen Mai 2014, 466 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2432-8
Ulrich Breuer, Bernhard Spies (Hg.) Textprofile stilistisch Beiträge zur literarischen Evolution
Achim Landwehr (Hg.) Frühe Neue Zeiten Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution
2011, 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1902-7
2012, 412 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2164-8
Matthias Däumer Stimme im Raum und Bühne im Kopf Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane
Ricarda Matheus, Elisabeth Oy-Marra, Klaus Pietschmann (Hg.) Barocke Bekehrungen Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit
2012, 570 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-2137-2
Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder (Hg.) Unorte Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (unter Mitarbeit von Simone Leidinger und Sarah Wendel) 2010, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1406-0
Andreas Frings, Andreas Linsenmann, Sascha Weber (Hg.) Vergangenheiten auf der Spur Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften 2012, 282 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2150-1
2013, 342 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1771-9
Erika Meyer-Dietrich (Hg.) Laut und Leise Der Gebrauch von Stimme und Klang in historischen Kulturen 2011, 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1881-5
Tom Müller, Matthias Vollet (Hg.) Die Modernitäten des Nikolaus von Kues Debatten und Rezeptionen 2013, 518 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2167-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de