Geschichtlichkeit: Wege und Irrwege eines Begriffs [Reprint 2018 ed.] 9783110828740, 9783110004908


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German Pages 214 [224] Year 1963

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Table of contents :
Inhalt
Verzeichnis der Abkürzungen
Einleitung
Vorgeschichte des Begriffs
Kategoriale Fassung bei Dilthey und Yorck
Bereicherungen und Verengung zwischen Dilthey und Heidegger
Radikalisierung im Existenzialismus und Nationalsozialismus
Neutralisierung und beginnende Präzisierung in der Gegenwart
Naturwissenschaftliche Parallelen
Zusammenfassung
Bibliographie
Namenregister
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Geschichtlichkeit: Wege und Irrwege eines Begriffs [Reprint 2018 ed.]
 9783110828740, 9783110004908

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Die kleinen de-Gruyter-Bände / Band 3

Die kleinen Bände

Gerhard Bauer

»Geschichtlichkeit« Wege und Irrwege eines Begriffs

"Walter de Gruyter & Co.

Diese Arbeit ist eine Preisschrift für die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, vorgeleg im Jahre 1960, ausgezeichnet zusammen mit der von Dr. L. von Renthe-Fink im November 1961. Einige wichtige Neuerscheinungen wurden hier nachgetiagen, für weitere Verbesserungen und Nachträge ist der Verfasser dem Rat und der Kritik von Ernst Berneburg verpflichtet

© Copyright 1963 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp., Berlin 30 — Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Archiv-Nr. 47 65 6 2 / 3 . Satz und D r u c k : Franz Spiller, Berlin 36.

Inhalt EINLEITUNG

i

V O R G E S C H I C H T E DES BEGRIFFS

7

Rationalismus,

7

Historismus

und Idealismus

Positivität, Unableitbarkeit aus der Vernunft (Lessing) 7 — Wert der Individualität, der geschichtlichen Kräfte und der Konkretheit (Der ältere deutsche Historismus und Vico) 9 — Aktivität und organische Einheit der Zeit (Fichte und Schelling) 1 3 Hegel

15

Die endliche und empirische Wahrheit 16 — Die Erinnerung und das lebendige Wissen 1 7 — Die Gebundenheit an das eigene geistige Erbe 20 Nachfolger

und Gegner Hegels

23

Rüge 24 — Marx 25 — Kierkegaard 28 — Die Historiker des 19. Jahrhunderts (Ranke, Baur, Droysen, Burckhardt) 30 — Nietzsche 32

KATEGORIALE FASSUNG BEI

DILTHEY

UND YORCK

39

Die gemeinsame Suche nach dem neuen Prinzip

39

Lebendigkeit 40 — Wirklichkeit 42 — „Generische Differenz von Onüischem und Historischem" 44 — Persönlichkeit, Charakter, Verantwortlichkeit, Praxis 45 — Vergeschichtlichung 47 — Abstraktion vom geschichtlichen Verlauf 49 Yorcks System der geschichtlichen Bewußtseinsstellungen

51

Ausprägung einer „radikalen Urteilung" $1 — Entstehung und Verdeckung des metaphysiklosen Denkens 53 — Wiederholung und Neuansatz in der Gegenwart 58 — Virtuelle Gegenwart der Geschichte 59 V

Inhalt Dilthcys Historismus Ersatz für die „rationalistischen" Allgemeinbegriffe 60 — Bedingtheit 63 — Wirklichkeit und Geprägtheit durch Geschichte 64 — Gemeinschaft 65 — Tätigkeit 66 — Mannigfaltigkeit 68 — Repräsentation der Vergangenheit in der Gegenwart 68 — Freiheit 69 — Relativismus 70 — Theoretische Lebenshaltung 71

BEREICHERUNGEN UND

VERENGUNG

ZWISCHEN DILTHEY U N D HEIDEGGER Vorbemerkung

über die Begriffsentwicklung

73

seit Dilthey

73

Die Phänomologie Husserls „Intentionalität" 77 — Schelers „Relativität" 79

76

Das „Prinzip des Unvollendbar" (Eucken, Lasker, „Dialektische Theologie", Grisebach, „Kairos", Plessner, Bollnow) Sachgebundene und willentliche Begrenzung „Voluntarismus" (Simmel, Th. Lessing, G. Burckhardt) 90 — Gestaltlehre" (George, Windelband) 95 — Spenglers „Morphologie" 96 Die „Entscheidung" (Jünger, Schmitt, Heidegger, Simmel, Bultmann, Ortega) Die »Person" Brunner)

(Müller-Freienfels,

Die „Geschehensstruktur" (Simmelt Thyssen, Mannheim, G.Stern) Zusammenfassung

60

W. Stern,

Buber,

Freyer, Gotti,

Freyer, Gogarten,

Dittrich,

(F. K. Schumann)

82 89

98 103 109 116

R A D I K A L I S I E R U N G IM E X I S T E N Z I A L I S M U S U N D NATIONALSOZIALISMUS

119

Heidegger

119

Zeitlichkeit, Zukünftigkeit und Endlichkeit 119 — Entschlossenheit und Einzigkeit. Gemeinschaft. „Geschicklichkeit" 122 — Begründung der Historie aus der Geschichtlichkeit 125 — Vergleich mit Dilthey und Yorck 126 VI

Inhalt Existenzielle

und „sachliche"

Geschichtsauffassung

128

Unabsdiließbarkeit der Existenz (Jaspers) 129 — Dialog mit der Geschichte (Jaspers1, Bultmann) 132 — Gescfaichtsphilosophie (F. Kaufmann) 134 — Problemgeschichte (Hartmann, J . Ritter, Rochacker) 135 — Antihistorismus (Heussi) 139 Nationalsozialismus

139

Volksgemeinschaft, Volksordnung, Volkswille 141 — Politisierung 141 — Ruhm 143 — Rasse 143

NEUTRALISIERUNG UND

Kampf,

BEGINNENDE

PRÄZISIERUNG IN DER GEGENWART

146

Nachkriegs situation

146

Wissenschaftliche

149

Diskussion

Anthropologische Bestimmungen der Gesdiichtlidikeit (Heinemann, Kuhn, A. Brunner, Häuptner) 149 — Allgemeinheit und Selbstverständlichkeit der Geschichtlichkeit (Wittram, A. Heuss) I J 3 — Hermeneutische Konsequenzen der Gesdiichtlidikeit (Gadamer) 154 — Bewertungen der Gesdiichtlidikeit (Krüger, Litt, Bultmann, Gogarten, Kamiah) 160 — Rückgang der Geschichtlichkeit (A. Weber, Freyer, Guardini) 166 — Verhältnis zur Vergangenheit (Heimpel, A. Heuss) 170 — Strenge Individualität und Neutralität (Antoni, Topitsch) 172

NATURWISSENSCHAFTLICHE PARALLELEN

175

Biologie

175

Physik

(Ehrenberg,

Driesch,

Uexküll,

V. v. Weizsäcker)

(C. F. v. Weizsäcker)

178

ZUSAMMENFASSUNG

181

BIBLIOGRAPHIE

187

NAMENREGISTER

205 VII

Verzeichnis der Abkürzungen (Zeitschriften und Publikationsreihen) Archiv

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik

Bl. f. dt. Ph.

Blätter für deutsche Philosophie

DLZ

Deutsche Literaturzeitung

DVjS

Deutsche Vierteljahresschriften für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

Ev. Th.

Evangelische Theologie

Hb. d. Ph.

Handbuch der Philosophie

HZ

Historische Zeitschrift

Jb.

Jahrbuch f ü r Philosophie und phänomenologische Forschung

Ph. B.

Philosophische Bibliothek (Meiner)

Phil. nat.

Philosophie naturalis

PLMA

Publication of Modern Language Association

rde

Rowohlts Deutsche Encyclopädie

RGG

Religion in Geschichte und Gegenwart

Th. R.

Theologische Rundschau

Zs. f. ph. Fg.

Zeitschrift für philosophische Forschung

ZThK

Zeitschrift für Theologie und Kirche

ZZ

Zwischen den Zeiten

Ü J i a H T b i . . . He b n j i a H T a x flejio, a b 3kh3hm HGJIOBGHGCKOM! 2KM3HB He I I O B T O p H e T C H , IqapMTb ee HyjKHo. HexoB: TyceB, 1890.

Pläne . . . Nicht auf die Pläne k o m m t es an, sondern auf das Menschenleben! Das Leben wiederholt sich nicht, man muß sorgsam damit umgehen. Tschechov: Gussev.

Einleitung „Geschichtlichkeit" ist ein häufig gebrauchter Begriff der modernen philosophischen und anthropologischen Diskussion. Jedoch so weit verbreitet er ist, so vieldeutig ist auch seine Verwendung. Völlig verschiedene Ordnungen oder Strukturen des menschlichen Lebens werden „geschichtlich" genannt. So gibt es, um nur eine bezeichnende Auswahl anzuführen, eine Geschichtlichkeit des Menschen oder des Lebens (Dilthey), des Bewußtseins (Yorck), des Daseins und des Seins (Heidegger), eine Geschichtlichkeit der Geschichte (J.Ritter), der Wahrheit (J.B.Lötz), der Philosophie (Rothacker), des Verstehens (Gadamer), des Ethos (Scheler), des Rechts (A. Kaufmann), der Ehe (van Oyen), der Heimat (Stavenhagen), des Gedichts (Allemann) und auch eine Geschichtlichkeit der Natur (Weizsäcker) und der Dinge (Alexander). Für jeweils dieselbe Erscheinung oder denselben Menschen kann die Bezeichnung „geschichtlich" dann nochmals ganz Verschiedenes besagen. Das „Wörterbuch der philosophischen Begriffe" 1 gibt folgende fünf Bedeutungen von „Geschichtlichkeit" an: einmal wirklich dagewesen / auf die Feststellung des Dagewesenseins sich beschränkend, ohne Deutung und Einbeziehung in die Gegenwart / wirksam, epochemachend / in konkreter historischer Form gegenwärtig (gegenüber der bloßen Idee) / ein Grundzug alles menschlichen Seins (gegenüber dem Natursein). Darlapp findet elf „Strukturen der Geschichtlichkeit": Singularität und Kontinuität / Faktizität / Endgültigkeit im Augenblick / Bedeutsamkeit / Zeugnischarakter / Andenken, Tradition / soziomorphe Struktur / Sinn, Erfüllung und Heil / Dynamik und Endlichkeit / Ziel- und Vollendungs1

hg. J. Hofmeister, 2 1 9 5 5 und 1 i944-

1

Einleitung tendenz / Hoffnung 2 . Und auch diese Liste stellt nur eine einseitige Auswahl aus dem noch viel umfassenderen Komplex von Bedeutungen dieses Wortes dar. Die Tatsache, daß dieser Begriff so uneinheitlich gebraucht wird und manche Verwendungen einander direkt widersprechen, ist nicht von ungefähr. Sie zu erklären bedeutet zugleich schon, Kritik an der Anwendung und an der Bildung des Wortes zu üben. Hier sollen wenigstens ein sprachlicher, ein sachlicher und ein historischer Grund für die Komplizierung und Verwirrung des Begriffs im voraus erörtert werden. ( i ) Die Umgangssprache kennt das Wort „Geschichtlichkeit" nicht, es gibt also keine „natürliche" Basis seines Gebrauchs. Jede Verwendung des Wortes stützt sich auf eine naive oder reflektierte Ableitung. Die Ableitung geht zunächst von dem festen Begriff „Geschichte" aus. Dieser ist selbst mehrdeutig 3 , mindestens muß man zwei seiner Bedeutungen voneinander abheben: die geschehene Geschichte (als Weltlauf, zeitlicher Zusammenhang, Tradition, Vergangenheit, Geschehenes) und die geschriebene Geschichte (als Forschung, Darstellung, Wissensstoff). Beide Bedeutungen werden auch in der Umgangssprache unterschieden, so heißt „Geschichte" in den Ausdrücken „Geschichte erleben", „Geschichte machen", „der Geschichte angehören" etwas anderes als in den Ausdrücken „Geschichte studieren", (Herodot als) „Vater der Geschichte" (Joh. Müller). Eichendorff stellt beide im deutlichen Bewußtsein ihrer Ungleichheit zusammen: „Der eine macht Geschichte, der andre schreibt sie auf". W i r haben im 2

L e x i k o n f ü r Theologie und Kirche, i960.

Heussi nennt 12 („leicht noch vermehrbare") verschiedene Bedeutungen v o n Geschichte, in: Die Krisis des Historismus, Teil II. J. N . B o w m a n findet durch ein strenges System 20 verschiedene A n wendungen des amerikanischen Wortes „ h i s t o r y " , in: D . SchäferFestschrift, 1915. S. auch G r i m m s W B , A r t i k e l „Geschichte", sowie P. E. Geiger: Das W o r t Geschichte und seine Zusammensetzungen, Diss. Freiburg 1908, E. Z w i r n e r : Z u m Begriff der Geschichte, Diss. Breslau 1926, J. H e n n i g : Die Geschichte des Wortes „Geschichte", in D V j S 1938. 3

2

Einleitung Deutschen z w a r die schon f r ü h eingeführte Möglichkeit, die zweite Bedeutung unter dem W o r t „ H i s t o r i e " v o n der ersten klar abzuheben. S o nennt sich eine deutsche C h r o n i k aus dem i f . J a h r h u n d e r t „historie v o n geschichten" 4 . Doch diese Trennung hat sich niemals durchgesetzt. D i e Ableitung „Geschichtlichkeit" stützt sich v o r w i e g e n d auf die erste Bedeutung v o n Geschichte, obgleich in einigen V e r wendungen auch die zweite noch eine R o l l e spielt. E i n e weitere Doppeldeutigkeit kommt dadurch zustande, daß keineswegs immer v o n dem festen Begriff „Geschichte" ausgegangen w i r d , sondern oft schon eine (meist anthropologisch oder „existenziell" bestimmte) „Geschichtlichkeit" zum Ausgangspunkt genommen und v o n ihr aus erst festgesetzt w i r d , w a s eigentlich „ G e schichte" heißen dürfe. In diesem F a l l fehlt die G r u n d l a g e im gewöhnlichen Sprachgebrauch völlig und k a n n „Geschichtlichk e i t " schlechterdings alles heißen. Zwischen der abgeleiteten und der willkürlichen gibt es noch eine etymologisch korrigierende Konzeption v o n Geschichtlichkeit, indem man auf „Geschehen" als den Stamm v o n „ G e schichte" rekurriert ( „ d o geschach ein geschieht" 5 ). Dieser „ u r sprüngliche" Sinn soll gegenüber dem „üblichen" Sinn v o n G e schichte besonders die Bewegung, das Werden, die T a t , das E r eignis, seine Plötzlichkeit und seine A k t u a l i t ä t hervorheben. Allen Konzeptionen ist gemeinsam, daß sie ein M o m e n t der „Geschichte", sei es Geschichte im allgemeinen anerkannten Sinne oder sei es eine erst neu zu erfassende Geschichte, zum Prinzip f ü r etwas machen wollen, w a s bisher noch nicht unter dem A s p e k t der Geschichte gesehen wurde. In dieser sprachlichen Rückbindung liegt ein A n s a t z p u n k t zur sachlichen K r i t i k an den diversen Neubildungen. (2) D e r Intention nach soll das Urteil, daß der Mensch oder sein Bewußtsein „geschichtlich" seien, in den meisten Fällen einen 4

cod. lat. mon. 472.

5

Rossel u. a., zitiert in Grimms Wb. I V , I, 2, Sp. 3859.

3

Einleitung Sachverhalt, zumeist sogar einen ganz einfachen und fundamentalen Sachverhalt, bezeichnen. D a jedoch Geschichte selbst nichts Eindeutiges ist, sondern immer verschiedene wertende oder weltanschaulich bestimmte Momente zum „ G r u n d der Geschichte" erklärt werden, drückt „Geschichtlichkeit" selbst viel mehr ein Werturteil als eine Feststellung aus. Die Aussage der „Geschichtlichkeit" des Menschen begegnet als Zusammenfassung einer bestimmten „Entdeckung" der Neuzeit oder des Christentums, als methodische Voraussetzung bestimmter Wissenschaften, als P r i n z i p der Welterklärung, als feierliche Phrase ( „ d i e die N a t u r überhöhende Geschichtlichkeit" 6 ) oder als Predigtformel. In der vorliegenden Arbeit w i r d nach Möglichkeit versucht, den Sachgehalt der verschiedenen Auslegungen zu ermitteln. Doch gerade dazu muß auch auf die jeweilige Tendenz in der Bildung und V e r w e n d u n g des Wortes „Geschichtlichkeit" eingegangen werden. (3) „Geschichtlichkeit" ist ein ausgesprochen junges Wort. A l l e Diskussionen um seinen richtigen Begriff sind noch aktuell, k a u m eine d a v o n wirklich abgeschlossen. D a s läßt sich historisch leicht erklären: D e r ausgebildete historische Sinn ist, nach Aussage aller neueren Geschichtsphilosophen, die jüngste Errungenschaft in unserem wissenschaftlichen Kosmos 7 . D i e in ihm angewandte „ K a t e g o r i e " , die Geschichtlichkeit, konnte darum erst in jüngster Z e i t erfaßt werden. Charakteristisch ist, daß „Geschichtlichk e i t " nahezu gleichzeitig mit „Historismus" a u f t r a t (in den 80er J a h r e n des vorigen Jahrhunderts, mit vereinzelten Belegen davor). J e n e bezeichnete zunächst das F a k t u m , das dieser deutete und zu einer Weltanschauung generalisierte. „Historismus" w u r d e jedoch v o n A n f a n g an leidenschaftlich aufgenommen und bekämpft, hat schon bald eine ganze Forschungsrichtung beherrscht und ist dadurch heute einigermaßen stabilisiert und fest 6

Diese „die N a t u r überhöhende Geschichtlichkeit" oder „bewußte Zeitlichkeit" ist nichts anderes als die menschliche Sprache, s. Dt. Philologie im A u f r i ß , 2. A u f l . Bd. 1, Sp. 6 1 5 . 7

So am klarsten ausgeführt in den Schriften v o n Th. Litt.

4

Einleitung umrissen. „Geschichtlichkeit" dagegen führte lange Zeit ein fast apokryphes Dasein, wurde erst seit den zwanziger Jahren allgemein bekannt und eigentlich erst nach dem zweiten Weltkrieg in Frage gestellt und eingegrenzt. Den „Historismus" behandeln drei große, schon beinahe klassische Monographien (von Troeltsch, Meinecke und Heussi). Uber die „Geschichtlichkeit" gibt es erst einen Versuch aus allerjüngster Zeit (von A. Brunner). In der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, das Durcheinander von Konzeptionen, die mit dem Namen „Geschichtlichkeit" bezeichnet wurden oder werden, historisch aufzulösen. Es handelt sich also um eine „Begriffsgeschichte" 8 . Sie soll aus der Literatur von Hegel bis heute zusammentragen, wie der Begriff „Geschichtlichkeit" gebildet, entfaltet, aufgespalten und abgewandelt wurde. Als Quellen kommen vorwiegend prinzipielle Erörterungen aus Philosophie, Geschichte, Geisteswissenschaften, Soziologie, Nationalökonomie, Anthropologie, Theologie und Psychologie in Frage. D a der Begriff typisch deutsch und nur mit Mühe, nur in wenige Sprachen, übersetzbar ist, werden Ausländer nur so weit herangezogen, als sie die deutsche Diskussion aufgenommen haben und auch wieder in Deutschland diskutiert wurden (vor allem: Croce, Ortega, Berdjaev, Huizinga, Collingwood und Antoni). Natürlich wird, weil sonst das Material zu reich würde, nicht jeder Gebrauch von Geschichtlichkeit verfolgt, sondern eine je näher der Gegenwart um so engere Auswahl getroffen. (Freilich muß ich bekennen, daß bei der Auswahl des Materials auch einige Zufälle leitend waren, denn eine vollständige Übersicht über alles zu diesem Thema Erschienene habe ich nicht erreicht.) Möglichst wird aber auch noch bis zur jüngsten Zeit der Wortlaut der Quellen gewahrt und werden die entscheidenden Formulie8

R o t h a c k e r bestimmt Begriffsgeschichte nach ihrer K o n z e p t i o n und P r o b l e m a t i k als ein Mittleres v o n Problemgeschichte, T e r m i n o l o g i e geschichte und Wortgeschichte, s. A r c h i v f ü r Begriffsgeschichte I, 1 9 5 5 , G e l e i t w o r t , sowie J b . der A k a d . der Wiss. und Lit. M a i n z 1950. 2 Bauer

5

Einleitung

rungen lieber zitiert als in eigenen Worten zusammengefaßt. Die eigenen Zusammenfassungen und Überschriften sollen nicht die festen Ergebnisse, sondern nur Hilfsmittel zur Darstellung der Begriffsentwicklung sein. Dabei halte ich mich an eine Äußerung Wilhelm Grimms, in der er seine Intention für das Deutsche Wörterbuch folgendermaßen beschreibt: „Definitionen können nicht erschöpfen, was das lebendige Wort in sich faßt, aus den reichlichen und mit Sinn ausgewählten Beispielen muß der wahre Begriff hervorgehen, und wird sich in den feineren Schattierungen oft nur empfinden lassen"9.

9

Briefe der Brüder Grimm an Savigny, hg. W. Schoof, 1953, S. 404.

6

Vorgeschichte des Begriffs RATIONALISMUS, H I S T O R I S M U S UND IDEALISMUS

Positivität. Unableitbarkeit aus der Vernunft Die älteste Bedeutung von „geschichtlich" ist: zur Geschichte gehörig und deshalb wirklich. Grimms Wörterbuch gibt als Belege dazu: „geschichtliche Völker", „geschichtliche thatsache", „die geschiehtlichkeit der that Arnolds von Winkelried anzweifeln". Wir können diese älteste Bedeutung hier übergehen. D a sie gewissermaßen im Wortsinne schon impliziert ist, liegt sie noch fast allen späteren Verwendungen zugrunde. Doch erst in diesen wird sie aktuell, begrifflich und weltanschaulich faßbar, und daher wird sie uns noch im folgenden in ihren einzelnen Ausprägungen beschäftigen. Die erste philosophische Ausprägung des Wortes „geschichtlich" ist, wie bei vielen Begriffen, negativ. „Nur historisch" ist alles das, was einfach gegeben ist, sich nicht aus Ideen ableiten läßt. „Das Historische" steht, genauso wie „das Positive", im Gegensatz zu dem, was die Vernunft erschlossen hat oder verlangt, es ist „bloßes" Faktum. Weil es sich nicht aus einer Vernunftnotwendigkeit begründen läßt, ist es „zufällig". Dieser abwertende Gebrauch von „historisch" beherrscht die europäische Philosophie von Plato an bis zum Rationalismus und z. T. noch darüber hinaus. Der Rationalismus legt alles Gewicht auf das Vernünftige, durch reine Erkenntnis Lösbare. Das „angewandte" Denken (über einen historischen Stoff) gilt als minderes Denken, und als Konsequenz daraus bleibt das Historische, da es doch nicht völlig aus Vernunft zu erklären ist, dem Zufall überlassen. Als jedoch die Einsicht sich durchsetzte, daß immerhin ganze Gebiete des menschlichen Lebens

7

Vorgeschichte

des

Begriffs

nicht der Herrschaft der ratio unterstehen, mußte auch innerhalb des Rationalismus die Frage entstehen, nach welchem Prinzip diese Gebiete denn eingerichtet werden sollten. Das läßt sich besonders klar an Lessing belegen. Die Religion bzw. die äußere Beschaffenheit der Religion w a r ein solches Gebiet, das sich nicht aus reiner Vernunfteinsicht gestalten ließ. Lessing glaubt wohl, daß im wesentlichen Kern die Religionen gleich und vernünftig sind („Ernst und F a l k " , „Erziehung des Menschengeschlechts"). In ihren bestimmten Erscheinungen aber sind alle „historisch", darum können ihre Angehörigen auch nicht gegeneinander argumentieren, sondern müssen jeder seine Religion annehmen und hochschätzen. So erklärt Nathan im Anschluß an seine Ringparabel ( I I I , 7) von den einander widerstreitenden Religionen, der Mensch könne sie nicht „ v o n Seiten innerer Gründe" gegeneinander abwägen (und brauche es auch nicht): „Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! — Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden? — Nicht? — N u n wessen Treu und Glauben zieht man denn A m wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? doch deren, die Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe Gegeben? die uns nie getäuscht, als w o Getäuscht zu werden uns heilsamer w a r ? " Der Sultan hatte vorher die Alternative aufgestellt: „Ein Mann, wie du, bleibt da Nicht stehen, w o der Z u f a l l der Geburt Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern." ( I I I , 5). Das Ergebnis von Nathans vernünftiger Wahl aber ist es gerade, dort stehenzubleiben, wohin der Z u f a l l ihn geworfen hat. E r rechtfertigt dieses Festhalten an der eigenen Überlieferung f ü r jedermann: Niemand kann die Gründe der bestehenden 8

Rationalismus,

Historismus,

Idealismus

verschiedenen Formen durchschauen, und unter diesen Umständen ist es noch am besten, diejenige Form anzunehmen, mit der man menschlich und geschichtlich verbunden ist. Bedeutsam ist hier außerdem die Begründung der historischen Glaubwürdigkeit auf das Vertrauensverhältnis, wie es etwa innerhalb der Familie herrscht. H i e r ist schon im Rationalismus (denn Lessing bleibt auch im „ N a t h a n " Rationalist) ein Zug der menschlichen „Geschichtlichkeit" entdeckt.

Wert der Individualität, und der

der geschichtlichen

Kräfte

Konkretheit

Die genauere Erfassung und Beschreibung dessen, was heute „Geschichtlichkeit" heißt, wurde vorwiegend im Gegensatz zum Rationalismus geleistet. Moser, Winckelmann (nur teilweise), Herder, Goethe, W . v. Humboldt sind die ersten großen Zeugen des historischen Bewußtseins in Deutschland. In Verlegenheit um einen zusammenfassenden Namen nennt man die ihnen gemeinsame Entdeckung (die niemals eine Schule und auch keine eigentliche „Bewegung" war) einfach „Historismus" oder auch den „älteren Historismus" 1 . Das soll heißen: Diese D e n k e r beschäftigten sich nicht nur mit der Vergangenheit, sondern setzten sie in Beziehungen und in Kontrast zur Gegenwart. Sie erkannten die Wurzeln jeder kulturellen Instutition in langen Traditionen und sahen die Veränderung aller ihrer Formen. Sie erkannten die Verschiedenheit an und priesen sie als Reichtum und besondere Gabe (der fruchtbaren N a t u r oder der schöpferischen Menschheit). V o r allem bestanden sie auf der Mannigfaltigkeit und Nichtübereinstimmung der Menschen und verteidigten sie gegen den Rationalismus, der von der grundsätzlichen 1

S. v o r allem F. Meinecke: Die Entstehung des Historismus, 2 Bde. 1936. Das große Prinzip und die Neuartigkeit des Historismus gegenüber allen früheren Weltanschauungen ist dort ausführlich dargestellt. H i e r wird nur eine ganz knappe Zusammenfassung und eine Diskussion des neuen Gebrauchs v o m Wort „Geschichte" gegeben.

9

Vorgeschichte des Begriffs

Gleichheit der Menschen überzeugt w a r und ein f ü r alle gültiges Gesetz suchte. Die „Historisten" verteidigten gerade das nichtvernünftige Wesen des Menschen — seine Gefühle, seine vielfachen Beziehungen zur Welt und zu anderen Menschen — gegen die Vorherrschaft oder Alleinherrschaft der Vernunft. Das Wort Geschichte selbst bezeichnet bei diesen Dichtern und Historikern gegenüber dem früheren Gebrauch nicht nur einzelne Fälle und deren Zusammenhang, sondern jetzt auch das große Geschick über alle einzelnen Geschichten hinweg. In dieser Bedeutung wird „Geschichte" auch schon als etwas Negatives empfunden, dem der Einzelne sein eigenes Recht auf Glück entgegenstellen muß und doch nicht mit E r f o l g entgegenstellen kann (vgl. die Widersprüche, in die Herder sich in seinem Schiffstagebuch und seiner Philosophie der Geschichte verwickelt 2 ). Im ganzen aber waren diese frühen Historisten noch geneigt, einen glücklichen Ausgleich zwischen der Geschichte im Großen (dem „Schicksal") und den von ihnen favorisierten individuellen „ K r ä f t e n " anzunehmen. Der junge Humboldt formuliert einen Ausgleich beider: „Selbst das allmächtige Schicksal vermag mit lebendigen K r ä f t e n nicht nach seinem Gefallen zu walten; die K r ä f t e widerstreben und das Resultat ist allemal aus der Wirkung und Gegenwirkung zusammengesetzt." E r gibt auch genau an, weshalb ihm an den „freien K r ä f t e n " so viel liegt: „Diese Einsicht aber [in das Fortschreiten unserer eigenen sich entwickelnden K r ä f t e und ihre Verhältnisse zu den Dingen um sie her] muß überhaupt jedem denkenden Menschen und vorzüglich demjenigen, der auf andere, vielleicht auf ganze Nationen wirken will, unendlich wichtig sein. Denn wenn sie sich auch nicht anmessen darf, ihnen die Mittel genau anzuzeigen, welche ihnen die Erreichung ihrer Absichten sichern, so wird sie sie doch hindern, nach dem Unmöglichen zu haschen, ihnen Ehrfurcht f ü r dasjenige einflößen, was sie zum Gegen2 Vgl. dazu Litt.: Die Befreiung des geschichtlichen Bewußtseins durch Herder, 1943.

10

Rationalismus,

Historismus,

Idealismus

stand ihrer Tätigkeit machten, und sie vielleicht gar veranlassen, die Zügel aus den Händen zu legen und selbsttätige Kräfte der Freiheit zu übergeben, die allein ihrer würdig ist" 3 . Hier kommt, noch sehr vorsichtig umschrieben, ein Zusammenhang zwischen Geschichtsbetrachtung und Freiheitsforderung zum Ausdruck: Zur Sache selbst, auf die sowohl die geschichtliche Betrachtung als das politische Handeln gerichtet sind, d. h. zu den Menschen und ihrer „Würde", soll die Freiheit der „selbsttätigen Kräfte" schon wesensnotwendig gehören. Wo sie richtig eingeschätzt wird, gleichen sich die Geschichte im Großen und die einzelnen geschichtlichen Kräfte so aus, daß nicht mehr das Geschick einfach über die Individuen „hinweg"schreiten kann. Besondere Aufmerksamkeit verdient die doppelte Anwendung des historischen Sinnes bei diesen älteren Historisten: Er erkennt einerseits die Verschiedenheit der jetzigen und der früheren Epochen — daher überhaupt das Wort „historisch". Andererseits stellt der historische Sinn auch die Verschiedenheit von Individuen, Ländern, Völkern, Sprachen, Sitten usw. innerhalb einer und derselben Zeit, vor allem innerhalb der Gegenwart, fest, die zwar großenteils historisch begründet ist, die aber auch geographische, klimatische, ethnologische Ursachen hat. Die europäischen Sprachen haben für diese zweite Wahrnehmung von Verschiedenheiten kein eigenes Wort geschaffen. Sie wird bis heute im Terminus „geschichtlich" oder „historisch" mitverstanden und ist in vielen Fällen bis zum modernen Historismus hin die wichtigere und näherliegende Bedeutung. Die Entdeckung und Anerkennung der geschichtlichen Besonderheit und der geschichtlichen Kräfte ist bei diesen Denkern noch mehr Fundament ihrer Überzeugung als Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen. Wohl macht Herder verschiedene Ansätze zu einer Philosophie der Geschichte, doch * Bruchstück von 1 7 9 1 „Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte", in Ges. Schriften I. 11

Vorgeschichte

des

Begriffs

gerade in der begrifflichen Erfassung seiner Prinzipien gelangt er nicht sehr weit. H i e r muß deshalb eine frühe und oft im Zusammenhang mit dem deutschen Historismus genannte Erscheinung nachträglich herangezogen werden: Vicos „Scienza N u o v a " . Sie zeigt nicht den „historischen Sinn", den der deutsche Historismus später pflegte, den Sinn für das Besondere von Völkern oder Einzelnen, also für „die Individualität". V i c o kommt es vielmehr auf das Typische an, auf die Entwicklung der Völker überhaupt, nicht auf die Betrachtung eines „Volksgeistes". Seine „Neue Wissenschaft" ist „zugleich eine Geschichte der Ideen, der Sitten und der Taten des Menschengeschlechts . . . Aus diesen dreien wird man hervorgehen sehen die Prinzipien einer Geschichte der menschlichen N a t u r ; und diese sind die Prinzipien einer Universalgeschichte" 4 . Doch in der allgemeinen Menschheitsentwicklung entdeckt er nicht, wie der Rationalismus, die immer gleiche Menschennatur, auch nicht einen langsamen vernünftigen Fortschritt, sondern ein typisches Moment von Geschichte (das er wissenschaftlich als „die ideale Geschichte" herausarbeitet, aber auch theologisch unter die „Vorsehung" subsumiert): Ein überindividuelles, nicht in den Plänen der Menschen, sondern im Wesen ihrer Institutionen und letzten Endes in ihrer Gemeinschaftlichkeit begründetes Gesetz, nach dem alles entsteht und unter bestimmten Umständen wieder vergeht (und sogar wiederkehrt). „Die N a t u r der Dinge ist nichts anderes als ihr Entstehen in bestimmten Zeitläuften und unter bestimmten Umständen; jedesmal, wenn diese so sind, entstehen die Dinge daraus so und nicht anders" 5 . Vicos Einsichten nehmen die Erkenntnis der Geschichte als eines dauernden Klassenkampfes vorweg, und sie bezeugen ein frühes, historisch ganz vereinzeltes Verständnis für einen völlig anderen Menschentyp, Vicos kindlichen, vernunftlosen, „wilden", schreckhaften 4

2. Buch, Prolegommena, 2. Kap., zitiert nach der deutschen Ausgabe von E. Auerbach, vgl. auch Auerbach: Vico und Herder, in DVjS 1932. 5 i.Buch, „Elemente" 14, a . a . O . S. 81.

12

Rationalismus,

Historismus,

Idealismus

und überaus phantasievollen Menschen der Geschichtsanfänge. Besondere Wichtigkeit erlangt später sein methodisches P r i n z i p : „ d a ß diese historische Welt ganz gewiß v o n den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre P r i n z i pien a u f g e f u n d e n w e r d e n " 6 . D a ß der Mensch nur das wirklich verstehen könne, w a s er selbst gemacht habe, ist das entscheidende Argument f ü r die Berechtigung der Geisteswissenschaften bis in die Diskussionen unserer T a g e geblieben. D e r V o r r a n g der Geisteswissenschaften (bei V i c o als „ P h i l o l o g i e " zusammengefaßt) v o r den Naturwissenschaften und der Metaphysik gründet sich v o r allem auf zwei Auszeichnungen des historischen S t o f f s : E r ist menschlich, verständlich, erlebbar gegenüber der nicht verstehbaren N a t u r , und er ist konkret, gegeben gegenüber der abstrakten Spekulation (besonders gegenüber Descartes' Mathematik). Allerdings ist der Widerspruch zwischen diesem Ausgehen v o m Menschen und der A n n a h m e einer Übermacht der Vorsehung in Vicos System nicht aufgelöst, und ebenfalls haben die Ä q u i v o k a t i o n e n in seinem Prinzip — Geschichte als gerade geschehend („gemacht w e r d e n d " ) und als fertige, früher „gemachte"; Geschichte als die des Einzelmenschen und die des Menschengeschlechts — bis heute Ungenauigkeiten, Mißverständnisse und genauere Untersuchungen hervorgerufen.

Aktivität und organische Einheit der Zeit E i n ganz anderes Moment bringen die frühe, revolutionäre R o m a n t i k und der deutsche Nationalismus ursprünglich gegen den Historismus, aber doch im Zusammenhang mit ihm zum Ausdruck: die „ A k t i o n " und die A k t i v i t ä t des Menschen. D e r ältere Historismus w a r kontemplativ, beinahe passiv gewesen, und sofern er doch politisch reagierte, erwies er sich als konserv a t i v . Fichte dagegen w i l l die Philosophie auf die „ T a t " statt 6

a. a. O. S. 125 u. ö.

13

Vorgeschichte

des

Begriffs

auf die bloße „Betrachtung" ausrichten. D i e Priorität der praktischen Vernunft vor der theoretischen hatte auch schon K a n t und hatten die meisten Moralisten vor ihm gelehrt. Fichte aber bestimmt den Menschen überhaupt als das tätige Wesen, sein Leben als Handeln. E r findet seinen Gegenbegriff gegen das statische Sein nicht im Werden, sondern im „ T u n " oder „Machen" 7 . Aber bei Fichte steht dieser Grundbegriff der A k t i vität nur in einem praktischen Verhältnis zur Revolution und zur Befreiung, hat noch nichts mit der vergangenen Geschichte und kaum etwas mit der großen weitergehenden Völkergeschichte zu tun. Erst bei Dilthey wird A k t i v i t ä t selbst schon eine Grundlage seines Systems der „Geschichtlichkeit", und im modernen Dezisionismus wird sie schlechthin als die menschliche Geschichtlichkeit deklariert. Schelling und Hegel machten zuerst aus der geschichtlichen Bewegung, der Dialektik, sowohl den Gegenstand als das Prinzip von philosophischen Arbeiten. Schellings Lehre von der „organischen Z e i t " ist freilich hinter dem viel großartigeren System seines älteren Schülers vergessen. Hegel bringt auch tatsächlich die geschichtliche Bewegtheit viel entschiedener und umfassender zur Geltung; nur in einer Eigenart sieht Schelling weiter als H e g e l : F ü r ihn f a ß t sich nicht die ganze Geschichte in der Gegenwart zusammen, sondern hat die Zukunft eine konstitutive Funktion für jede einzelne Zeit. Schelling schreibt zur Begründung seiner Ansicht vom „organischen" Wesen der Zeit, nach der jede einzelne Zeit die ganze Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, enthält: „Also setzt jede einzelne Zeit die Zeit als ein Ganzes schon voraus. Ginge ihr nicht die ganze Zeit der Idee nach voran, so könnte sie diese nicht als zukünftig setzen, d. h. sie könnte sich selbst nicht setzen, indem sie ohne diese bestimmte Zukunft selber nicht diese beVgl. dazu und zur Bedeutung dieses Prinzips für den Idealismus: H . H . F . Flöier; Die Begründung der Geschichtlichkeit der Geschichte in der Philosophie des deutschen Idealismus, von Herder bis Hegel, 1936.

7

14

Hegel

stimmte Zeit sein könnte" 8 . Daraus gewinnt er dann eine A n schauung, nach der auch die geschichtliche Vergangenheit nichts einfach Gegebenes ist, sondern ein gesteigertes, bewußtes und „eigentliches" Verhältnis zur Zeit, zur Gegenwart sowohl als zur Zukunft, notwendig ist, damit der Mensch überhaupt einer Vergangenheit fähig ist: „Ohne bestimmte entschiedene Gegenw a r t gibt es keine [sc. Vergangenheit]; wie viele erfreuen sich einer solchen? Der Mensch, der sich nicht scheiden kann von sich selbst, sich lossagen von allem was ihm geworden und ihm sich tätig entgegensetzen, hat keine Vergangenheit oder vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr . . . N u r der Mensch, der die K r a f t hat, sich über sich selbst zu erheben, ist fähig, eine wahre Vergangenheit sich zu erschaffen; eben dieser genießt auch allein einer wahren Gegenwart, wie er allein einer eigentlichen Zukunft entgegensieht; und schon aus diesen Betrachtungen würde hervorleuchten, daß der Gegensatz der Zeiten auf einer Steigerung beruht, nicht aber durch ein stetiges Verfließen der Zeit-Teile ineinander hervorgebracht w i r d " 9 . — Die Fragmente, in denen diese Zeitspekulation enthalten ist, waren wenig wirksam (sie wurden 1946 erstmalig in dieser ursprünglichen Form ediert). Doch die hier schon angedeutete Begründung der geschichtlichen Zeit auf den Zeitverlauf im einzelnen Menschenleben und besonders auf die Entschiedenheit des Verhältnisses zur Gegenwart und zur Zukunft mußte auf die Moderne, jedenfalls auf den Existenzialismus, anziehend wirken.

H E G E L

Es tritt später kaum ein Zug in dem reichen und disparaten Begriff „Geschichtlichkeit" auf, der sich nicht in irgendeiner 8

D i e Weltalter, F r a g m e n t v o n 1 8 1 1 , ed. M . Schröter, 1 9 4 6 , S. 8 1 . — D e r endgültige E n t w u r f v o n 1 8 1 6 , der allein in die Gesamtausgabe aufgenommen wurde, ist in dieser reinen Zeitspekulation weniger klar, schon stärker v o n Theologie überdeckt. 9

a. a. O . S. 1 1 9 , F r a g m e n t v o n 1 8 1 3 .

15

Vorgeschichte

des

Begriffs

Weise auf Hegel zurückführen ließe, den nicht Hegel wenigstens angedeutet oder aber ausführlich reflektiert hätte. So kommt der Begriff Zeitlichkeit in der „Phänomenologie" vor, der Begriff Endlichkeit in der „Logik" (I), Wirklichkeit und Dasein (Logik I), Weltlichkeit (Phänomenologie), Bestimmtheit (Logik I), Leiblichkeit (Phän.), Gemeinschaft (Philosophie der Weltgeschichte), Entfremdung (Phän.). Gegensatz und Widerspruch sind überhaupt Zentralbegriffe seiner Dialektik. Einzig die Zukünftigkeit läßt sich bei ihm nicht deutlich belegen, sie scheint eher zurückgedrängt, aus dem System verbannt zu sein. — Es kann sich hier aber nicht darum handeln, die einzelnen Ideen oder aperçus aufzusuchen, in denen die Nachkommen ihre „Geschichtlichkeit" wiedergefunden haben. Vielmehr ist zu untersuchen: Wie weit und in welcher Weise hat Hegel selbst die Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Lebensäußerungen erkannt und ausgesprochen? Also Hegels eigene Lehre vom geschichtlichen Charakter des Bewußtseins und der Philosophie ist das Thema dieses Abschnitts.

Die endliche und empirische

Wahrheit

Das „Historische" bedeutet auch noch bei Hegel: „Die Endlichkeit im Gegensatz zur Absolutheit, das Empirische, Mannigfaltige im Gegensatz zur Identität" 1 0 . Darin hat Hegel noch den rationalistischen Gebrauch und die Abwertung des Wortes „historisch" beibehalten. So bestimmt er die historische Wahrheit folgendermaßen (die Stelle steht in der Vorrede der „Phänomenologie" in einem Zusammenhang, der von der Bestimmtheit handelt und die historische und die mathematische Wahrheit von der philosophischen, als dem Dasein in seinem Begriff, abhebt): „In Ansehung der historischen Wahrheiten, insofern nämlich das rein Historische derselben betrachtet wird, wird leicht zugegeben, daß sie das einzelne Dasein, einen Inhalt 10

Z u s a m m e n f a s s u n g v o n K r o n e r , V o n K a n t bis H e g e l II, S. 147.

16

Hegel nach der Seite seiner Zufälligkeit und Willkür, Bestimmungen desselben, die nicht notwendig sind, betreffen." (2, 40). Schon hier aber modifiziert Hegel diese Negativität des Historischen: „Selbst aber solche nackte Wahrheiten, wie die als Beispiel angeführten [wann Caesar geboren worden usw.] sind nicht ohne die Bewegung des Selbstbewußtseins. Um eine derselben zu kennen, muß viel verglichen, auch in Büchern nachgeschlagen oder, auf welche Weise es sei, untersucht werden; auch bei einer unmittelbaren Anschauung wird erst die Kenntnis derselben mit ihren Gründen für etwas gehalten, das wahren Wert habe, obgleich eigentlich nur das nackte Resultat das sein soll, um das es zu tun sei." (ibd). Das „rein Historische" bleibt also weit unter dem Dasein in der Idee. Die Tatsache, daß es in lauter Einzelheiten besteht und sich der strengen Zusammenfassung entzieht, wertet es einerseits ab, zwingt aber andererseits die Vernunft selbst, von ihren Ergebnissen (den „nackten Resultaten") immer wieder zu den historischen Gründen zurückzugehen.

Die Erinnerung

und das lebendige

Wissen

Geschichte in ihrem vollen Sinn, deren Begriff Hegel auf den zwei letzten Seiten der „Phänomenologie" entwickelt, hat mit diesem immer noch gering bewerteten Historischen fast nichts mehr gemeinsam. Sie ist vielmehr die eine Seite, bzw. in der letzten Zusammenfassung als „begriffene Geschichte" schon der ganze Prozeß, des zu sich selbst kommenden Geistes. Der Geist muß (hier zum letzten Mal, aber zugleich die ganze bisherige Bewegung zusammenfassend) sich selbst entäußern, ja sogar sich aufopfern. „Seine Grenze wissen, heißt sich aufzuopfern wissen" ( 2 , 6 1 8 ) . Das tut er in den zwei Formen: indem er „sein reines Selbst als die Zeit außer ihm", also in der Form des „freien zufälligen Geschehens" darstellt, und indem er sein Sein als Raum, also in der Form der Natur anschaut (ibd). Uns interessiert hier nur die Geschichte (obgleich spätere Bestimmungen der Geisteswissenschaft auch Hegels Grundüberzeugung

17

Vorgeschichte des

Begriffs

von der Gleichberechtigung und dem gleichen Ursprung von Natur und Geist entscheidendes Gewicht beimessen) 11 . Die Geschichte ist „das wissende sich vermittelnde Werden" des Geistes. „Dies Werden stellt eine träge Bewegung und Aufeinanderfolge von Geistern dar, eine Galerie von Bildern, deren jedes mit dem vollständigen Reichtum des Geistes ausgestattet, eben darum sich so träge bewegt, weil das Selbst diesen ganzen Reichtum seiner Substanz zu durchdringen und zu verdauen hat." Indem aber der Geist seine Substanz (also die wirkliche Geschichte, in der er gestalthaft erscheint) durchdringt und sie vollkommen ins Wissen überführt, verläßt er zugleich sein Dasein und zieht sich in die „Nacht seines Selbstbewußtseins" zurück. Hier tritt nun „die Erinnerung" ein, als wäre sie etwas vom Geist Getrenntes und ihm gegenüber Selbstständiges: Der Geist „übergibt seine Gestalt" der Erinnerung und sie bewahrt sein „verschwundenes Dasein" auf. Freilich bewahrt sie es nur, um es ihm wiederum auszuliefern. Darin aber liegt eine wichtige Unterscheidung. Die Erinnerung bietet dem Geist ihren Inhalt in der doppelten Form: als sein verschwundenes Dasein, das aber neu geboren wird und eine „neue Welt- und Geistesgestalt", also die „Situation" für den neuen Anfang, darstellt, und als die „Erfahrung der früheren Geister". Oder um es noch deutlicher und gröber zu sagen: Im Medium der E r innerung bzw. der historischen Wissenschaft präsentieren sich dem Geist sowohl die gegenwärtige geschichtliche Welt mit ihren Aufgaben als auch die Mittel der bisherigen Lebensbewältigung als Möglichkeiten für die heutige (geradezu als geistiges Kapital). „ . . . sein [desGeistes] verschwundenes Dasein ist in ihr [der Erinnerung] aufbewahrt, und dies aufgehobene Dasein — das vorige, aber aus dem Wissen neugeborene — ist das neue Dasein, eine neue Welt- und Geistesgestalt. In ihr hat 11

H . Marcuse, Hegels Ontologie und die G r u n d l e g u n g einer T h e o r i e

der Geschichtlichkeit, 1 9 3 2 , vgl. auch H . Wein, Realdialektik, 18

1957.

Hegel

er ebenso unbefangen von vorn bei ihrer Unmittelbarkeit anzufangen und sich von ihr auf wieder großzuziehen, als ob alles Vorhergehende f ü r ihn verloren wäre und er aus der E r fahrung der früheren Geister nichts gelernt hätte. Aber die Er-Innerung hat sie aufbewahrt und ist das Innere und die in der T a t höhere Form der Substanz. Wenn also dieser Geist seine Bildung, von sich nur auszugehen scheinend, wieder von vorn anfängt, so ist es zugleich auf einer höheren Stufe, daß er anfängt." (619). Freilich sind alle diese geschichtlichen Stufen des Geistes nur Teile des Weges zu einem festen Ziel, dem „absoluten Wissen". Aber hier betont Hegel gerade die Notwendigkeit des Weges. Er muß „ a u f b e w a h r t " werden von der Geschichte, in ihr hat darum der absolute Geist erst sein Leben und seine Wahrheit. „Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist, hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame w ä r e ; nur — aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm seine U n endlichkeit." (620). Die „begriffene Geschichte" vereinigt in sich die aufbewahrten historischen Erscheinungen und den „wissenschaftlichen" D r a n g zu Resultaten. Sie enthält die gesamte Erfahrung und Erinnerung, die dem menschlichen Geist erreichbar ist. Und sie präsentiert sich nicht als etwas Abstraktes, sondern als „Leben", d. h. als Bewegung und sogar als jeweils bestimmte Situation oder Gelegenheit.

19

Vorgeschichte des

Begriffs

Die Gebundenheit an das eigene geistige Erbe W i r müssen untersuchen, w a s H e g e l mit dem am E n d e der „Phänomenologie" gewonnenen postiven Begriff der Geschichte im Sinne v o n Leben im weiteren Ausbau seines Systems angefangen hat. Z w e i einander widersprechende Tendenzen lassen sich beobachten: die Unterordnung der Geschichte unter die Philosophie (vor allem in der „Philosophie der Weltgeschichte") und der Durchbruch der Geschichte durch die A u t o nomie und Selbstgenügsamkeit der Vernunft (vor allem in der „Geschichte der Philosophie"). Seinen Vorlesungen über die „Philosophie der Weltgeschichte" legt H e g e l die Überzeugung zugrunde, „ d a ß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte v e r n ü n f t i g zugegangen sei" ( 1 1 , 3 4 ) . D i e V e r n u n f t gemäßheit kann er nur dann erweisen, wenn die ganze G e schichte nach einem übersehbaren (und in der Durchführung sogar äußerst einfachen) P l a n v o r sich gegangen ist. D a s Schema, das er an die Geschichte heranbringt, ist z w a r nicht einfach ausgedacht, sondern enthält selbst schon echt geschichtliche Züge. A b e r es tut doch dem geschichtlichen Verlauf in vielen E i n z e l heiten G e w a l t an, und es richtet auch die Geschichte im G r o ß e n nach einer unbeweisbaren Forderung der Vernunft aus: einer streng durchgeführten Teleologie, welche die Geschichte in Hegels G e g e n w a r t gipfeln läßt. Die Geschichte behält z w a r ihre Endlichkeit und Vorläufigkeit, verliert aber ihre Offenheit gegenüber der Z u k u n f t und damit am E n d e auch ihren B e w e gungscharakter. S o k a n n H e g e l die Weltgeschichte als eine zurückliegende S t u f e betrachten und sogar v o n ihr sagen, sie lehre allein, daß niemand etwas aus ihr lerne ( 1 1 , 3 1 , v g l . 8 1 ) . V o n weit höherer Bedeutung w a r f ü r ihn die Geschichte der Philosophie, denn aus ihr hat er wirklich gelernt. Sie soll z w a r ebenfalls erweisen, daß es in der Geschichte v e r n ü n f t i g zugegangen sei, ja sogar, „ d a ß die A u f e i n a n d e r f o l g e der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die A u f e i n a n d e r 20

Hegel

folge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee" ( 1 7 , 59). Nach Hegels Intention müßte diese Behauptung zwei Folgerungen zulassen. Doch davon funktioniert eigentlich nur die eine: die Ableitung der Ideenstufen aus dem Geschichtsgang. Die umgekehrte Ableitung nämlich führt Hegel mittels einer Einschränkung doch wieder auf die erste zurück: „ U m gekehrt, den logischen Fortgang f ü r sich genommen, so hat man darin nach seinen Hauptmomenten den Fortgang der geschichtlichen Erscheinungen; — aber man muß freilich diese reinen Begriffe in dem zu erkennen wissen, was die geschichtliche Gestalt enthält" (ibd.). Wenn also auch in der Betrachtung der Geschichte unter dem Aspekt der logischen Ableitung noch die geschichtliche Gestalt eine Gegebenheit ist, dann ist die Geschichte eben nicht logisch konstruierbar. In einer zweiten Einschränkung betont Hegel auch noch die Andersartigkeit der historischen und der logischen A b f o l g e : „Ferner unterscheidet sich allerdings auch nach einer Seite die Folge als Zeitfolge der Geschichte von der Folge in der Ordnung der Begriffe." (ibd.). Das Verstehen des historischen Ablaufs der Philosophie geht in Wirklichkeit niemals von der bloßen Vernunft, sondern stets von der Geschichte aus. Die „Geschichte der Philosophie" zeigt in vielen einzelnen Beispielen und einigen allgemeinen Bemerkungen, wie weit Geschichte konstituierend f ü r unseren eigenen gegenwärtigen Geist ist. „ D e r Besitz an selbstbewußter Vernünftigkeit, welcher uns, der jetzigen Welt, angehört, ist nicht unmittelbar entstanden und nur aus dem Boden der Gegenwart gewachsen, sondern ist dies wesentlich in ihm, eine Erbschaft und näher das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts zu sein." ( 1 7 , 28). In diesem Zusammenhang kommt Hegel sogar zu einer Formulierung, die das schon vorwegnimmt, was man später die Begründung der Geschichte aus der Geschichtlichkeit des Menschen nennt: „Diese Taten des Denkens erscheinen zunächst, als 3 Bauer

21

Vorgeschichte des Begriffs geschichtlich, eine Sache der Vergangenheit zu sein und jenseits unserer Wirklichkeit zu liegen. In der T a t aber w a s w i r sind, sind w i r zugleich geschichtlich; oder genauer, wie — in dem, was in dieser Region, der Geschichte des Denkens [liegt] — das V e r gangene nur die eine Seite ist: so ist — in dem, was w i r sind — das gemeinschaftlich Unvergängliche unzertrennt mit dem, d a ß wir geschichtlich sind, verknüpft." (ibd.). Bezeichnend ist an dieser Stelle schon der Ausgangspunkt seiner Argumentation: A u f der einen Seite, in der Geschichte, nur das Vergängliche, in unserem gegenwärtigen Sein aber nur das „gemeinschaftliche Unvergängliche". Diesen ersten Eindruck (wie seiner Z e i t die Geschichte „erscheint") hebt er nun durch eine doppelte K o r rektur auf: S o w o h l in uns als auch in der Geschichte des Denkens ist das Unvergängliche mit Vergänglichem

„unzertrennt

verknüpft". H i e r bedeutet die grundlegende Bestimmung, daß der Mensch geschichtlichen Wesens sei, noch ganz unspekulativ: D e r Mensch ist an sein Erbe, auch das geistige Erbe, gebunden, das die Generationen v o r ihm erarbeitet haben. U n d das Erbe w i r d wieder (wie in der „Phänomenologie", aber jetzt im Gegensatz zu der dort parallelisierenden „ N a t u r " ) als nicht feststehend, sondern lebendig und progressiv beschrieben: „Diese Tradition . . . ist nicht nur eine Haushälterin, die nur Empfangenes treu verwahrt und es so den Nachkommen unverändert erhält und überliefert; — w i e der Lauf der N a t u r , in der unendlichen V e r änderung und Regsamkeit ihrer Gestaltungen und Formen, nur immer bei den ursprünglichen Gesetzen stehen bleibt und keinen Fortschritt macht. Sie ist nicht ein unbewegtes Steinbild, sondern lebendig, und schwillt als ein mächtiger Strom, der sich vergrößert, je weiter er v o n seinem Ursprünge aus vorgedrungen ist." (17, 13). Geschichte gehört also zur Selbsterkenntnis, sow o h l z u m Stoff als zum P r o z e ß der Selbsterkenntnis. In einigen Hypotasten wie der zuletzt zitierten sieht Hegel auch die geschichtliche Tradition als eine den Individuen weit überlegene 22

Nachfolger und Gegner Hegels objektive Macht — ein echt geschichtlicher Zug in seiner Lehre vom „objektiven Geist", denn diese Überlegenheit gründet sich nicht nur auf die statische Übermacht des Wissens und der festen Institutionen, sondern wie hier auf einen dynamischen Prozeß, der alle Einzelnen umfaßt und alle mitreißt. A m Rande muß noch ein anderer Gebrauch von „Geschichtlichkeit" erwähnt werden, der bei Hegel nur vereinzelt vorkommt, in dem aber das Wort „Geschichtlichkeit", meines Wissens zum ersten Mal, auftaucht. Hegel bewundert die Fähigkeit der Aneignung bei den Griechen: daß sie „heimatlich bei sich, zufrieden in sich sind", „daß sie ihre Welt sich zur Heimat gemacht" haben (17, 188). Sie haben alles, auch das Fremde, als ihr Eigenes vorgestellt, haben es „historisch bei sich entstehen sehen als ihre Werke und Verdienste" (189). „In dieser existierenden Heimatlichkeit selbst, aber dann dem Geiste der Heimatlichkeit, in diesem Geist des vorgestellten Beisichselbstseins, des Beisichselbstsein in seiner physikalischen, bürgerlichen, rechtlichen, sittlichen, politischen Existenz, in diesem Charakter der freien schönen Geschichtlichkeit, der Mnemosyne — (daß was sie sind, auch als Mnemosyne bei ihnen ist) — liegt auch der Keim der denkenden Freiheit, und so der Charakter, daß bei ihnen die Philosophie entstanden ist." (189 f.). Hegel erkennt hier schon die Geschichtlichkeit als „Geborgenheit", als Bezug der Welt auf sich selbst und auf die eigene Gemeinschaft. Doch in seinem System spielt diese Komponente noch keine große Rolle. Sie taucht erst viel später (im Existenzialismus) wieder auf und gewinnt dann eine überragende Bedeutung 12 .

N A C H F O L G E R

U N D

G E G N E R

H E G E L S

Schon in Hegels eigener Lehre wird die Geschichte unter dem Aspekt der Gegenwart betrachtet: Der heutige Geist braucht 12

Vgl. Bollnow, Unruhe und Geborgenheit im Weltbild neuerer Dichter, 1953, und K. Stavenhagen, Heimat als Grundlage der menschlichen Existenz, 1939. S. auch unter „Nationalsozialismus". 3*

23

Vorgeschichte des

Begriffs

seine Geschichte. E r erkennt durch sie nicht nur, wie er geworden ist, sondern auch, was er ist. Aber Geschichte selbst, wie notwendig sie auch mit der Gegenwart verknüpft ist, bleibt doch noch Vergangenheit. Wenn Hegel sich „der Geschichte" zuwendet, so blickt er eindeutig „zurück". Nach Hegels Tod und in dem Streit um sein Erbe gewinnt „Geschichte" noch eine ganz andere Bedeutung: Sie bezeichnet die Aktion, die Wirkung, das Leben. Sie kann darum auch die Gegenwart für sich bezeichnen, sofern diese als Aktion aufgefaßt wird. Vor allem wird der „lebendige Geist" im Gegensatz zu Hegels absolutem Geist „historisch" genannt — aus diesem Gegensatz kommt überhaupt erst das Pathos, mit dem man jetzt vom „historischen" oder „wirklichen" Geist spricht 18 . „Historisch" ist also in dieser Verwendung ein politischer und zeitkritischer Begriff, und sein Zusammenhang mit der Historie und der Geschichtsphilosophie tritt demgegenüber zurück.

Rüge Rüge ist, soviel ich sehe, der erste, der den Schritt von Hegels Absolutem zur (politisch verstandenen) Geschichte hin tut, der also, wie es von ihm an immer wieder postuliert wird, Hegels Beschaulichkeit durch Fichtes „Tatkraft" erwecken will 1 4 . — Die aktivistische Interpretation und die versuchte Weiterführung der Philosophie Hegels machte eine grundsätzliche Veränderung des Gesichtsbildes nötig: Die Geschichte darf nicht heute ihr Endstadium erreicht haben, sie darf sich überhaupt nicht so 13

S. zu der aktivistischen Bedeutung v o n „historisch": R ü g e in seiner Rezension der 2. A u f l a g e von Hegels „Rechtsphilosophie" (zitiert bei L ö w i t h , V o n Hegel bis Nietzsche. S. 1 1 3 ff.): „ D i e F r a n zosen haben dies v o r uns voraus: sie sind überall historisch. Bei ihnen ist der Geist lebendig und bildet die Welt nach sich." 14

Diese Vorstellung, daß man Hegel und Fichte „ k o m b i n i e r e n " müsse, k e h r t später immer wieder: f ü r unsere Untersuchung wichtig bei D i l t h e y , bei H e i d e g g e r und bei Litt. 24

Nachfolger

und Gegner

Hegels

völlig im gegenwärtigen Augenblick zusammenfassen. Vielmehr muß sie sich in die Zukunft hinein fortsetzen, muß für den Fortschritt offen sein. Die grundverschiedene neue Einstellung verrät sich darin, daß alle großen Leistungen prinzipiell nicht mehr als Vollendung der vorangegangenen Entwicklung, sondern erst als Anfangspunkte eines kommenden Fortschritts verstanden werden: „Das Absolute erreichen wir nur in der Geschichte . . . Nicht in Christus ist die Form der Religion, nicht in Goethe die der Poesie, nicht in Hegel die der Philosophie vollendet; alle sind so wenig das Ende des Geistes, daß sie vielmehr ihre größte Ehre darin haben, der Anfang einer neuen Entwicklung zu sein15." Marx

Freilich bleibt diese energiegeladene Konzeption der Geschichte bei Rüge selbst noch ein Begriff innerhalb der Philosophie. Seine Funktion ist wesentlich eine kritische. Gänzlich anders wird das in Marx' Umdeutung von Hegels Philosophie und in seiner Ausbildung einer eigenen Lehre, die vor allem die richtige Praxis (die Arbeiterbewegung) begründen sollte. Hier sind alle Begriffe vom Willen zur Tat, zur Revolution bestimmt. Dabei hat Marx aber nicht (wie später viele Marxisten) die Praxis gegen die Theorie ausgespielt, so als ob das Handeln das Philosophieren überflüssig machen könnte. Vielmehr ist das bewußte Zentrum des Handelns stets eine Theorie — Marx war ein leidenschaftlicher Theoretiker —, und ohne eine solche muß jedes Tun versagen. Genauso impliziert nach seiner Überzeugung jede Philosophie auch umgekehrt ein praktisches Verhalten zur Welt. Die „richtige" Philosophie soll nicht mehr kontemplativ sein, d. h. die gegebenen Zustände hinnehmen und damit zugleich legitimieren, sondern soll die Antriebe der revolutionären Bewegung selbst enthalten. In diesem Sinne und nicht einfach als „Ablösung der Theorie durch die Praxis" ist auch der berühmte 15

Hallische Jahrbücher für dt. Wiss. und Kunst, 1840, S. 1 2 1 7 , zitiert bei Löwith: Von Hegel bis Nietzsche.

25

Vorgeschichte des Begriffs

Satz (aus den Feuerbach-Thesen) zu verstehen, daß die bisherige Philosophie die Welt nur anders interpretiert habe, daß es aber darauf ankomme, sie zu verändern. Das philosophische Fundament von Marx' Lehre ist schon in Hegels Satz ausgesprochen, daß der gegenwärtige Geist „das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts" sei (17, 28, s.o. S. 21). In zwei Richtungen aber radikalisiert Marx diesen Satz: Er bezieht ihn, statt auf den objektiven Geist über dem Menschen, auf den Menschen selbst, und zwar weniger auf sein Wesen als vor allem seine Zustände. Und er erhöht diesen Satz zum Prinzip, mit dem er alle Metaphysik und alle Einordnung des Menschen in etwas Naturhaftes und Bleibendes ablehnen kann. Bezeichnend für diese Umdeutung ist schon ein Zitat, in dem er seine Hochschätzung der hegelschen Dialektik ausdrückt: „Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultat — der Dialektik, der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip — ist, . . . daß er das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen, weil wirklichen Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift 16 ." Die Selbsthervorbringung des Menschen, die bei Hegel noch ein sukzessiver Prozeß durch die ganze Geschichte hindurch war, wird bei Marx immer ausschließlicher die aktuelle Selbstverantwortung des Menschen für seinen gegenwärtigen Zustand. Und auch wo er sein Prinzip im großen und für die ganze Menschengeschichte ausspricht: „Nicht die Natur macht den Menschen, sondern der Mensch macht aus der Natur sich selbst" („Das Elend der Philosophie"), will er keine biogenetische Aussage machen, sondern alle „beschauliche" Betrachtung des Menschen abwehren, die er vorwiegend in der („romantischen") Anschauung vom Menschen als einem Naturprodukt begründet fand. Das menschliche Dasein ist nach Marx unbedingt künstlich, es wird erst hergestellt: durch Maschinen, Industrie, also durch 16

Frühschriften, hg. S. Landshut, S. 269.

26

Nachfolger

und Gegner

Hegels

Erzeugnisse des Geistes — und in der Gesellschaft. Das Dasein des Menschen ist bis in seinen Kern gesellschaftlich. Und das heißt: Nicht „der" Mensch, auch nicht die historische Summe der Menschen, sondern die jeweils zusammengeordneten Menschen, die „Klassen", sind Träger der Geschichte und sie erst verwirklichen „den Menschen". Wenn also Hegel und Marx den Satz „der Mensch macht sich selbst" gemeinsam haben, so legt Hegel alles Gewicht auf das Objekt, das schließlich vollkommene R e sultat dieses geschichtlichen Prozesses, Marx aber auf das Subjekt, den von der Natur und allen vorgegebenen Ordnungen noch nicht festgelegten Menschen, der sich selbst und sein eigentliches Wesen erst noch verwirklichen soll. Bei beiden besagt die dialektische „Gegenständlichkeit" des Menschen: daß der Mensch bei seinem Gebrauch der Welt ebenso sich selbst erzeugt, wie zugleich sich mit sich selbst entzweit 1 7 . Aber nur bei Marx ist diese Selbstentzweiung noch gegenwärtig akut und sogar kurz vor ihrem Kulminationspunkt: der schärfsten Zuspitzung des Klassenkampfes. Was in der Zukunft verwirklicht werden wird, wie also der eigentliche Mensch aussehen soll, kann wiederum keine Theorie voraussagen. Marx hat zwar selber nicht konsequent auf solche Zukunftsbilder verzichtet. Doch seinem eigenen Prinzip nach darf die Theorie gar nicht über die vorhandenen Zustände (etwa bis zu deren „Umschlagen" und noch weiter) hinausgehen, um nicht selber ungeschichtlich, bloße „Idee" oder „Utopie" zu werden. Entsprechend heißt es im „Kommunistischen Manifest": „Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prizipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer entdeckt oder erfunden sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung 1 8 ." Ursprünglich sind Marx' große Einsichten Vgl. dazu J. H o m m e s , D e r technische Eros. Das material. Geschichtsauffassung, 195J, S. 5 1 — 5 4 . 18 Gesamtausgabe I, 6, S. 538. 17

Wesen

2

7

der

Vorgeschichte des Begriffs

in die gesellschaftliche Grundlage und den Kampfescharakter der Geschichte tatsächlich aus der Beobachtung und einer scharfen kritischen Analyse der gegebenen Verhältnisse gewonnen. Die Gültigkeit seiner Lehre aber ist dadurch eingeschränkt, daß sie den Endzustand, als eine einfädle Konsequenz aus der gegenwärtigen Lage, schon vorauskonstruierte und also selbst ungeschichtlich wurde. Die Lehre von der Geschichtlichkeit des Menschen ist auf anderen Wegen als durch die Nachfolge von Marx ins 20. Jahrhundert gelangt. Sie steht heute sogar in ziemlich schroffem Gegensatz zu seiner weiterentwickelten und dogmatisierten Lehre, die ihrerseits alles tut, um das unbequeme Moment der Geschichtlichkeit aus dem Tnarxschen Erbe zu eliminieren 19 . Dennoch hat die ursprüngliche Lehre weitergewirkt in der ganzen deutschen Soziologie und zum Teil auch in der Geschichtswissenschaft selbst, sofern in ihr die gesellschaftliche Wirklichkeit als Grundlage oder als bewegende K r a f t der Historie aufgefaßt wurde.

Kierkegaard Eine Weiterentwicklung von Hegels Geschichtlichkeit des Menschen nach der subjektiven Seite hin müssen wir noch heranziehen: Kierkegaards Lehre von der Existenz. Sie ist im 19. Jahrhundert ohne rechte Nachwirkung geblieben, hat aber seit ihrem Wiederaufleben am A n f a n g unseres Jahrhunderts die Philosophie, Theologie und Weltanschauung stark beeinflußt. Kierkegaard bestimmt die Existenz des Menschen im Gegensatz zu Hegels „Geist" als die endliche, schwache, unvollkommene Existenz. In ihr glaubte er, die Wirklichkeit des Menschen zu ergreifen. Um sie auszusprechen, muß er freilich ebenfalls eine weitläufige Dialektik entwickeln. E r hat eigentlich in seinen Schriften jede einmal ausgesprochene Aussage auch wieder 19

Vgl. L. Stern, G . v . R a u c h , und „prinzipiell" dagegen: Jaspers, Litt. 28

Nachfolger

und Gegner

Hegels

negiert. Aber seine Dialektik ist nirgends synthetisch, geht nie zu Resultaten fort — die „falsche Versöhnung" macht er gerade Hegel zum Vorwurf. Kierkegaard bohrt sich nur immer tiefer in seine Probleme hinein, er analysiert dialektisch, zieht immer mehr Falsches vom Menschen ab, bis er seinen reinen Kern, möglichst in Negationen, ausspricht: Unfreiheit, Verzweiflung, Angst, theologisch bestimmt als „Sünde". Zu den „nicht existenziellen" Bezügen des Menschen gehört auch die Objektivität in der Wissenschaft und der Geschichte. Ich muß ganz ich selber werden, muß auf alles Allgemeingültige, schon auf die bloße Vergleichbarkeit, verzichten. Jede Wissenschaft kann ihre Sätze immer nur wahrscheinlich, nicht gewiß, machen. Das „persönliche Interesse" und die „subjektive Leidenschaft" verlangen aber Gewißheit. Sie schaffen darum auch auf ihrem Gebiet Gewißheit, freilich nur eine Gewißheit, deren Subjektivität zugleich mitgewiß ist. Kierkegaard gibt ein glänzendes und wie immer scharfsinniges Beispiel für die Mißlichkeit einer „objektiven" Gewißheit für den Glauben, der immer mehr als bloß objektive Gewißheit haben will: „Wenn ein liebendes Mädchen aus zweiter Hand die Gewißheit bekäme, der verstorbene Geliebte habe anderen beteuert, was sie selbst aus seinem eigenen Munde nie hatte hören dürfen: daß er sie liebe — mögen dann die Zeugen die zuverlässigsten Menschen sein, mag die Sache so in der Ordnung sein, daß ein spitzfindiger und ungläubiger Advokat sagen wird: es ist gewiß — die Liebende wird bald die Mißlichkeit entdecken, und der Liebenden, die sie nicht entdeckt, macht man nicht gerade ein Kompliment: Objektivität ist keine Tugend der Liebe" (7,233). Dieses Verfahren, den persönlichen Bezug von aller objektiven Gewißheit abzuheben, wird besonders wichtig für seine Beurteilung des Christentums und seiner Geschichte. Schon der eben zitierte Fall ist ein Beispiel dafür, er steht unter dem Grundproblem der „Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift": Kann man eine ewige Seligkeit (die eine ewige Gewißheit sein

Vorgeschichte des Begriffs

muß) auf ein historisches Wissen bauen? Kierkegaard versucht hier, die paradoxe Antwort: Man muß es sogar! durchzuführen, doch ohne einsehbaren Erfolg. Seine letzte Auskunft ist, daß er sich die Gewißheit doch aus einer anderen Quelle beschafft: der Glaube macht uns gleichzeitig mit Christus und ist nur darum wirklicher, gewisser Glaube. Hier wendet sich Kierkegaard am stärksten gegen die reale Geschichte und die historische Gebundenheit des Mensdien. Er will die 1800 Jahre Geschichte zwischen Christus und sich durchstreichen, will über die Zeit frei verfügen können. Er hat in der späteren Theologie sowohl in dieser Ungeschichtlichkeit als auch in der Anerkennung unseres völligen Angewiesenseins auf die Geschichte, die dabei unserem persönlichen Interesse doch nie genug tut, Nachfolge gefunden (vgl. S. 98 ff. und 107 f.). Sein Eingeständnis jedoch, daß er sich durch sein persönliches Interesse in jedem Fall außerhalb der Wissenschaft stellt, hat kaum einer seiner Nachfahren in unserem Jahrhundert wiederholt. Ein Zug von Kierkegaards Analyse des menschlichen Daseins wirkte noch besonders stark auf die späteren Existenzialisten: Sein Existenzbegriff steht nicht nur im Gegensatz zum begrifflich Allgemeinen, sondern ebenso in scharfem Gegensatz zu allem geschichtlich Allgemeinen: zur wirklichen, vorhandenen Gemeinschaft. Gewissen, Angst und Verzweiflung hat immer nur der einzelne. Die Menge ist in diesem Sinne gar nicht wirklich, weil sie nicht „eigentlich" existiert, nicht bewußt, reflektierend, ist. Die Historiker des 79. Jahrhunderts „Geschichtlichkeit" ist mehr ein philosophischer als ein historischer Begriff. Die Historie kann sehr wohl ohne ihn auskommen, er dringt in die Geschichtswissenschaft überhaupt nur dann ein, wenn die Historiker philosophieren. Die großen Historiker des 19. Jahrhunderts, vor allem die beiden Schulhäupter Ranke 3°

Nachfolger und Gegner Hegels und (in der Kirchengeschichte) Baur 20 , haben auch philosophiert, jedoch nirgends um eines philosophischen Endresultates willen, sondern nur, sofern es f ü r die historische Darstellung nötig war. Die Darstellung von „Ideen" in der Geschichte oder „des Christentums" in seiner Geschichte machten in der Tat methodische Erwägungen nötig. Aber diese Art von Philosophie erscheint lediglich in den Darstellungen selbst, wirkt darum nicht weiter auf die Philosophie, sondern nur wieder auf andere Historiker, die sich aus den „klassischen" Werken bilden. Im ganzen läßt sich der zusammenfassenden Formel Freyers zustimmen: „Die große Geschichtsschreibung hat die Geschichte nicht in der Linie der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, der geschichtlichen Struktur der gegenwärtigen Welt . . . gesehen", doch hat „mittelbar zu allen diesen Themen Unerschöpfliches beigetragen 21 ." Der „unerschöpfliche Beitrag" bestünde vor allem in der immer genaueren Einsicht, wie die Entwicklung der menschlichen Gemeinschaften und aller ihrer Institutionen sich „wirklich zugetragen" (Ranke). Zwei Zeugnisse f ü r die grundsätzliche Besinnung der großen Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert müssen aber noch besonders hervorgehoben werden: Droysens „Historik" und Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen". Hier nämlich werden die Methoden und Überzeugungen, die sonst in der Ge20

Zwischen R a n k e und B a u r bestehen (bei großer persönlicher V e r schiedenheit) auffällige Parallelen, sowohl nach ihrer geschichtlichen Stellung als nach ihrer W i r k u n g . Beide bleiben ihr Leben lang „ H e g e l i a n e r " '.ind verfolgen in der Geschichte die B e w e g u n g v o n kämpfenden Prinzipien. Allerdings waren Baurs D o g m e n noch einen G r a d näher mit Hegels Vernunftprinzipien v e r w a n d t als R a n k e s Staatszustände, die „ I d e e n " des Lebens selbst. V g l . C . Hinrichs, R a n k e und die Geschiditstheologie der G o e t h e - Z e i t , 1 9 5 4 , z u m G a n z e n vgl. Fueter: Geschichte der Geschichtsschreibung, 1 9 1 1 , Brandi, Geschichte der Geschichtswissenschaft, 1 9 4 7 , Breysig, Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung, 1 9 3 6 , S r b i k : Geist und Geschichte v o m deutschen H u m a n i s m u s bis z u r G e g e n w a r t , Bd. 2, 1 9 5 1 . 21

F r e y e r : Theorie des gegenwärtigen Zeitalters,

1 9 5 5 , S. 1 7 6 .

31

Vorgeschichte des Begriffs

schichtsschreibung nur angewandt werden, f ü r sich untersucht und führen sie selbst, auch abgesehen von aller historischen V e r wirklichung, zur Einsicht in Lebensprinzipien 2 2 . Sie sollen besonders, in der Zeit der immer stärker vorherrschenden N a t u r wissenschaften, den Menschen v o n seiner „sittlichen

Natur"

(Droysen) oder einfach v o n seiner „Menschlichkeit" aus (Burckhardt) bestimmen. Bei beiden hat es die Historie mit einer „mittleren Ebene" zwischen der hohen Spekulation und der bloßen physikalischen Erklärung zu tun. Droysen siedelt sie darum im dritten Gebiet des alten Kanons der Wissenschaften (Logik, Physik, Ethik) an und ordnet ihr dementsprechend als ihre eigene Methode das „Verstehen" zu (§ 14). Bei beiden bedeutet darum „geschichtlich" 1. soviel wie empirisch (gegenüber der philosophischen Deduktion), aber 2. auch: Betrachtung aus dem Gesichtswinkel

des Menschen und seiner Person

(nach

Droysen auch seiner „Freiheit"), nicht aber v o n einem lenkenden Weltgeist aus. Burckhardt sieht auch schon als den obersten Gegensatz den zwischen der theoretischen Erkenntnis und der „Absicht", die beide in die Geschichtsforschung gehören und beide die Führung beanspruchen. Burckhardt verteidigt

aber

leidenschaftlich, gegen den Z u g seiner Zeit, das tendenzlose Erkennen, das „Betrachten". Er sieht in der wahren Historie sogar eine Erzieherin zur ruhigen Betrachtung 23 .

Nietische Eine sehr scharfe, weil bis zum Zynismus kritische Zusammenfassung alles dessen, was die Historiker des 19. Jahrhunderts von der historischen Verfassung des Menschen erarbeitet haben, Jede Tatsachenerkenntnis ist nach Burckhardt „Kunde v o n einer bestimmten Epoche des wandelbaren Menschengeistes und Zeugnis von der Kontinuität und Unvergänglichkeit dieses Geistes." (Weltgeschichtl. Betracht. S. 18). 22

25

Vgl. auch die Gegenüberstellung mit Nietzsche von A . v. Martin,

4 1947-

32

Nachfolger und Gegner Hegels hat Nietzsche gegeben. Seine Philosophie gehörte als eine bewußt anti-historische gar nicht in unseren Zusammenhang, wenn nicht in ihr die historische Stimmung seiner Zeit so grell reflektiert wäre — wir können aus ihr in der Tat mehr Einsichten über die Historiker und ihre Errungenschaften gewinnen als aus der viel sachlicheren und bescheideneren Arbeit der Historiker selbst. Außerdem aber konnte Nietzsches Philosophie des Lebens selber nicht ganz auf die Geschichte verzichten. E r bildete gerade in seiner antihistorischen Gesinnung eine neue positive Bedeutung des Wortes Geschichte aus, die im Vitalismus und Voluntarismus seiner Zeit und erst recht im späteren „Dezisionismus" große und teilweise ganz destruktive Auswirkung fand. Nietzsche schildert das „verzehrende historische Fieber" (2, 1 0 $ ) und, im Gegensatz dazu, den „rechten Gebrauch" der Historie zuerst in der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung". H i e r bringt er schon fast alle Aspekte seiner Verachtung und seiner eingeschränkten Anerkennung der Geschichte zum Ausdruck. Der Anlaß dieser Betrachtung „ V o m Nutzen und Nachteil der Historie f ü r das Leben" ist die Furcht vor der seit zwei Menschenaltern unter den Deutschen immer mehr zunehmenden „historischen Zeitrichtung" ( 2 , 1 0 4 ) . Nietzsche sieht seine Gegenwart als durch und durch historisch: Sie keucht unter der „großen und immer größeren Last des Vergangenen" (108). Sie kann nicht vergessen, oder nicht schnell und energisch genug vergessen 24 . „Es gibt einen G r a d von Schlaflosigkeit, von "Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrundegeht, sei es nun ein Mensch oder ein V o l k oder eine K u l t u r " ( 1 1 0 ) . Nietzsche stellt dieser historischen Lebensweise drei andere gegenüber: die unhistori24

A u f einigen Gebieten ist schon das gegenwärtige L e b e n nichts anderes m e h r als seine eigene Vergangenheit. Daß z. B. „die ganze Philosophie v o n jetzt ab der H i s t o r i e v e r f a l l e n sei", sieht er als unbestreitbares F a k t u m an (Menschliches-Allzumensdil. II, A p h . 10, W e r k e 4, 18).

33

Vorgeschichte des Begriffs

sehe, die überhistorische und eine dritte, aktive, die er ebenfalls historisch nennt, die aber im richtigen Ausgleich mit der unhistorischen stehen müsse. 1. Unhistorisch leben heißt vergessen können. Nur durch das Vergessen kann man handeln und glücklich sein. „Bei dem kleinsten aber und bei dem größten Glück ist es immer eins, wodurch Glück zum Glück wird: das Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Wer sich nicht auf der Sdiwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkt wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer, er wird nie etwas tun, was andere glücklich macht" (109). Unhistorisch sein heißt mithin: vom ganzen Zeitverlauf, von der Vergangenheit wie von der Zukunft, absehen und nur „im Augenblick" leben. Unhistorisch handeln heißt: nur an die Zukunft, nicht an die Vergangenheit denken. 2. Der überhistorisdie Mensch im Sinne Nietzsches vergißt nicht die Geschichte, sondern durchschaut sie. Er hat gelernt, „an jedem Mensdien, an jedem Erlebnis . . . die Frage zu beantworten, wie und wozu gelebt werde" ( n j ) . Dadurch aber ist er „davon geheilt, die Geschichte noch übermäßig ernst zu nehmen", ja er würde, wäre er konsequent, schließlich „gar keine Verführung mehr zum Weiterleben und zur Mitarbeit an der Geschichte verspüren" (114). Nietzsche zitiert hierzu Niebuhr, und generell bilden die großen Historiker das Urbild seiner „überhistorischen" Menschen. Die „historischen" Menschen bleiben in der Historie befangen, werden von ihr beherrscht, die „überhistorischen" aber erheben sich durch ihren großen Überblick darüber, werden von ihrer Herrschaft frei und — das ist die Kehrseite — töten die eigentliche Wirksamkeit der Historie durch ihre Erkenntnis. „Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnisproblem aufgelöst, ist für den, der es erkennt, tot: denn er hat in ihm den Wahn, die 34

Nachfolger

und Gegner

Hegels

Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft, und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos geworden, vielleicht noch nicht für den Lebenden" (118). 3. Der wirklich aktive Mensch, Nietzsches Idealbild in diesem Abschnitt, hält wie der „historische" Mensch seine Vergangenheit fest und sieht sie wie der „überhistorische" in ihrem inneren Zusammenhang und ihren treibenden Kräften, wie der „unhistorische" Mensch aber ist er primär auf das Handeln und Leben, nicht auf die Erinnerung ausgerichtet. Er braucht seine Geschichte nur, um energischer handeln zu können. Der aktive Mensch ist „ungerecht", wie alles Leben ungerecht ist. Und er hat die „plastische Kraft", „jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen". N u r diesem „lebendigen" Menschen gehört die Geschichte legitim, und zwar gebraucht er sie (in ihren drei Arten der monumentalischen, antiquarischen und kritischen Historie) zur Tat, zur Verehrung und zur Befreiung von Leid (118 f.). Der Sprachgebrauch ist jedoch, hier wie in allen folgenden Werken, verwirrend, nicht durch eine Verworrenheit Nietzsches, sondern nur durch seine nicht ganz glückliche Terminologie. Nietzsche will mit dem Wort „historisch" eine negative und eine positive Tendenz ausdrücken (die auf dem doppelten Sinn des Wortes „Geschichte" als Vergangenheit und als gegenwärtige T a t basiert): „historisch" als der Vergangenheit hingegeben wird abgelehnt und statt dessen lieber der ganz „unhistorische Mensch" propagiert. Andererseits heißt „historisch" (jetzt im Gegensatz zu „überhistorisch" = kontemplativ) auch gerade der, der von der Vergangenheit den rechten Gebrauch macht, nämlich sie ganz in den Dienst der Gegenwart stellt: „Wir wollen sie die historischen Menschen nennen; der Blick in die 35

Vorgeschichte des Begriffs

Vergangenheit drängt sie zur Zukunft hin, feuert ihren Mut an, es noch länger mit dem Leben aufzunehmen, entzündet die Hoffnung, daß das Rechte noch komme, daß das Glück hinter dem Berg sitze, auf den sie zuschreiten. Diese historischen Menschen glauben, daß der Sinn des Daseins im Verlaufe seines Prozesses immer mehr ans Licht kommen werde, sie schauen nur deshalb rückwärts, um aus der Betrachtung des bisherigen Prozesses die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft heftiger begehren zu lernen; sie wissen gar nicht, wie unhistorisch sie trotz aller ihrer Historie denken und handeln, wie auch ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der reinen Erkenntnis, sondern des Lebens steht" ( n 6 f ) 2 5 . Doppeldeutig bleibt Nietzsches Stellung zur Geschichte und zum geschichtlichen Sinn bis zu seinem Ende. Gewöhnlich verachtet er alle Historie, „jene schauerliche Herrschaft des Unsinns und Zufalls". Er nennt die ernsthafteste Parodie, die er je hörte, eine „histora in nuce": „Im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott! und Gott (göttlich) war der Unsinn 26 ." Und dennoch glaubte er, vorsichtig und mit häufigen Selbsteinwürfen, an einen gewissen geschichtlichen Fortschritt und, viel weniger vorsichtig, an seine eigene geschichtliche Stellung 25

G . R i t t e r kritisiert die v o n Nietzsche entworfenen Möglichkeiten v o n Geschichte sehr eindringlich: Es gibt unter Nietzsches M u s t e r verhältnissen zur Geschichte überhaupt keine „verstehende" G e schichte, die Historie w i r d nur, unter verschiedenen subjektiven Tendenzen, zurechtgedeutet, w i r d also „ M y t h o s " . G e r a d e Nietzsches „kritische Geschichte" läuft auf eine Begründung und R e c h t f e r t i g u n g der Tendenzgeschichte hinaus. E i n gewisses historisches Recht gesteht R i t t e r dennoch Nietzsches K r i t i k an der zeitgenössischen Geschichtsschreibung zu und anerkennt seine leidenschaftliche F o r d e r u n g , daß Bewegung und K r a f t nicht aus der Historie gestrichen, nicht alles historisch eingeebnet und nicht alle Gestalten bloß nach ihrem historischen E r f o l g bewertet dürfen. S. Historie und Leben. Eine Auseinandersetzung mit Nietzsche und der modernen Lebensphilosophie, in: G . R i t t e r : V o m sittlichen Problem der Macht, Dalp 355, 1961. 26

Menschliches-Allzumenschliches II, A p h . 22, W e r k e 4, S. 2 2 .

36

Nachfolger

und Gegner

Hegels

und Tat. Seine Züchtungsgedanken braudien uns in diesem Zusammenhang gar nicht zu interessieren, sie waren bei ihm nur utopische und recht verzweifelte Einfälle, und sie wurden erst viel später mit einem festen geschichtlichen Programm verknüpft (s. u, S. 143 f.). N u r eine ungewöhnliche Stelle aus der „fröhlichen Wissenschaft" muß noch ausführlich zitiert werden, um neben dem „unhistorischen" Nietzsche auch seine Hoffnung gerade auf den historischen Sinn zu belegen: „Die zukünftige Menschlichkeit. Wenn ich mit den Augen eines fernen Zeitalters nach diesem hinsehe, so weiß ich an dem gegenwärtigen Menschen nichts Merkwürdigeres zu finden als seine eigentümliche Tugend und Krankheit, genannt ,der historische Sinn'. Es ist ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wunderbares Gewächs mit einem ebenso wundervollen Geruch werden, um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre als bisher. Wir Gegenwärtigen fangen eben an, die Kette eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden, Glied um Glied — wir wissen kaum, was wir tun. Fast scheint es uns, als ob es sich nicht um ein neues Gefühl, sondern um die Abnahme aller alten Gefühle handele, — der historische Sinn ist noch etwas so Armes und Kaltes, und viele werden von ihm wie von einem Froste befallen und durch ihn noch ärmer und kälter gemacht. Anderen erscheint er als das Anzeichen des heranschleichenden Alters, und unser Planet gilt ihnen als ein schwermütiger Kranker, der, um seine Gegenwart zu vergessen, sich seine Jugendgeschichte aufschreibt. In der Tat, dies ist Eine Farbe dieses neuen Gefühls: wer die Geschichte der Menschen insgesamt als eigene Geschichte zu fühlen weiß, der empfindet in einer ungeheuren Verallgemeinerung allen jenen Gram des Kranken, der an die Gesundheit, des Greises, der an den Jugendtraum denkt, . . . aber diese ungeheure Summe von Gram tragen . . . dies alles auf seine Seele nehmen, Ältestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der Mensch4 Bauer

37

Vorgeschichte

des

Begriffs

heit; dies alles endlich in Einer Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrängen: — dies müßte doch ein Glück ergeben, das bisher der Mensch noch nicht kannte — eines Gottes Glück voller Macht und Liebe, voller Tränen und voll Lachens, ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus ihrem unerschöpflichen Reichtume wegschenkt und ins Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dieses göttliche Gefühl hieße dann — Menschlichkeit27!" Hier nähert sich Nietzsche am weitesten der „historischen Lebensphilosophie" (etwa Diltheys): die ganze Geschichte soll in das gegenwärtige Leben aufgenommen werden. Nur daß Nietzsche die Vergangenheit ästhetisch ansieht, als eine Summe von Gefühlen, in Gestalten und Situationen verbildlicht, und daß er wiederum die Spontaneität des gegenwärtigen Lebens und seine Kraft hervorhebt, „dies alles in ein Gefühl zusammenzudrängen". In der schwärmerischen historischen Gefühlsseligkeit war Nietzsche nur ein kleiner Zeuge für eine große Bewegung seiner Zeit. Seine eigentliche Wirkung lag in der Emphase, mit der er die Historie kritisierte und die Ungerechtigkeit in jeder historischen Kritik zugleich bloßstellte und verteidigte.

27

Die fröhliche Wissenschaft, A p h . 3 3 7 , W e r k e 6, S. 2 8 4 ff. Parallel dazu gibt es einige andere Äußerungen, die die neuzeitliche Geistesentwicklung positiv beurteilen, doch die Untersuchung v o n N i e t z sches „materialer Geschichtsphilosophie" gehört nicht zu dieser Arbeit.

38

Kategoriale Fassung bei Dilthey und Yorck DIE GEMEINSAME NACH DEM NEUEN

SUCHE PRINZIP

Wie die bisherige Untersuchung ergeben hat, wurde im späten 18. und ganzen 19. Jahrhundert die Geschichtlichkeit des Menschen, der Völker oder der Menschheit auf verschiedenen Wegen erkannt und von einigen historischen Denkern (Herder, H u m boldt, Hegel, den Historikern und Marx) zum Prinzip gemacht. Doch erst von Dilthey und Yorck wird sie in ihrer vollen Bedeutung konstatiert. Dilthey macht sie zuerst ausdrücklich zum Gegenstand seiner Untersuchungen, er bildet auch zuerst den philosophischen und hermeneutischen Begriff „Geschichtlichkeit" aus und versucht eine (bewußt vorläufige) anthropologische Begründung dieser seiner neuen „Kategorie". Das Wort „Geschichtlichkeit" 1 tritt zuerst im Briefwechsel 1

Das Wort „Geschichtlichkeit" war vor dieser Neuprägung durch Yorck selten und nur eine Gelegenheitsbildung. Bei Hegel kommt es vor, aber meines Wissens nur in einer beiläufigen Wendung (s. o. S. 23). Sonst begegnet es im 19. Jahrhundert (ältere Belege sind mir nicht bekannt) nur in der Bedeutung: zur Geschichte gehörig, auch im negativen Sinn: ohne Gegenwartsbezug (z. B.: „Alles, was Marcus wußte, wußte er nicht lebendig organisch, sondern als tote Geschichtlichkeit." — Heine, Werke 1862, 14, S. 185). — Daß hier Yorck und nicht Dilthey das Wort neu gebildet oder aber in dem (von ihm verehrten) Hegel entdeckt hat, scheint mir außer Frage zu stehen. Yorck benutzt es zuerst (S. 59), und seine Sprache ist überhaupt an dieser Art von Abstraktbildungen außergewöhnlich reich, vgl. in „Bewußtseinsstellung und Geschichte" seine Hauptbegriffe neben „Geschichtlichkeit": „Gestaltlichkeit", „Wissentlichkeit" und (schon älter, aber bei ihm enorm häufig): Bildlichkeit, Leiblichkeit, Körperlichkeit, Sichtlichkeit, neben ausgesprochenen Mißbildungen wie Verschiedentlichkeit (47, 74), Verselbständlichkeit (44). 39

Kategoriale Fassung bei Dilthey

und

York

zwischen Dilthey und dem Grafen Yorck von Wartenburg auf 2 . In diesem Briefwechsel liegt überhaupt ein entscheidender Teil der Reflexion Diltheys über die Prinzipien seiner historischen Arbeit, und auch das Prinzip der Geschichtlichkeit wird dort am ausführlichsten diskutiert. Yorck definiert sogar einmal das Motiv ihres Gedankenaustauschs als „das uns gemeinsame Interesse, Geschichtlichkeit zu verstehen" (S. 185). Der Grundbegriff der Geschichtlichkeit soll darum zunächst aus diesen Briefen verstanden werden. Der Briefwechsel wird in diesem Kapitel als Gespräch, also als eine beide Schreiber umfassende Einheit, aufgefaßt. Der Unterschied beider ist zwar unverkennbar, aber die Ergebnisse ihrer vielen mündlichen und schriftlichen Unterhaltungen sollten nach ihrer beider Willen beiden zusammen gehören und sind in der Tat heute nicht mehr zu trennen und einem von ihnen als ihrem „Urheber" zuzuschreiben. N u r im ganzen läßt sich feststellen, daß Yorcks Anteil an diesem Briefwechsel innerlich und äußerlich überwiegt. Yorck behandelt die gemeinsamen Probleme, besonders in seinen Kommentaren oder Wünschen zu Diltheys Arbeiten, viel strenger und bohrender und besteht auf festen begrifflichen Ergebnissen, während Dilthey stets vorsichtigere Ausdrücke und weniger scharfe Begriffe bevorzugt.

Lebendigkeit „Geschichtlichkeit" ist zugleich der Gegenstand, die Methode und das Programm im Kampf Diltheys und Yorcks gegen die Philosophie ihrer Zeit. Die meisten bestimmten Formulierungen des „neuen" Prinzips stammen überhaupt erst aus dem A f f r o n t der beiden Denker gegen das „alte" oder „tote" Denken der gleichzeitigen Philosophie. Sie haben ihrem Abscheu vor dem Positivismus, dem Utilitarismus, dem Medianismus und der „Naturwissenschaft des Denkens" in diesen Briefen starken, zu2

Hg. 1923 v. S. v. d. Sdiulenburg. 40

Gemeinsame

Suche nad> dem neuen

Prinzip

weilen übertreibenden Ausdruck gegeben. So urteilt Yorck über die philosophischen Zeitschriften: „das monotone sich in engem Zirkel drehen eines von einer leblosen Methode gleichsam vor den K o p f geschlagenen Denkens" (45). Die beiden Bestimmungen dieses Zitats: daß das derzeitige Denken blind war, die nächstliegende Wirklichkeit nicht sah, und daß es an einer leblosen Methode litt, führen uns schon auf den dabei intendierten Gegensatz: Dilthey und Yorck wollten „die Wirklichkeit" erfassen und wollten sie „lebendig" darstellen. Dilthey will „durch die bisher gebrauchten Kategorien für Auffassung der geschichtlichen Erscheinungen des Geisteslebens hindurchbrechen und ins Freie, Offene gelangen, w o man mit wirklichen Seelen zu tun hat" (47). Und Yorck verlangt: „Historische Gestalten müssen flüssig gemacht werden, sonst kommt Staub zu Staube" (59). Leben und Geschichte durchdringen also einander: die Geschichte wird erst durch das gegenwärtige Leben bestimmt, ausgewählt, beurteilt, lebendig gemacht, und das eigene Leben wird durch die Geschichte (als geschichtliche „Lebendigkeit") aktiviert und bereichert. „ N u r was der Kraft nach gegenwärtig, in der Gegenwart aufzeigbar ist, gehört zum Bereiche der Geschichte" (167, Yorck). „Die geschichtliche Welt führt durch die Selbstbesinnung auf eine siegreiche spontane Lebendigkeit" (156f., Dilthey). Gerade diese Lebendigkeit, selber zu leben und sein Leben zu gestalten, vermissen beide an dem „geschichtslosen" Menschen ihrer Zeit, dessen Leben vom „Mechanismus" bestimmt ist. „Medianismus" heißt ihnen die Erklärung des Lebens, auch des Seelenlebens, aus isolierten elementhaften Einheiten, nicht aus „Sinn- und Erlebniszusammenhängen". „Erschreckend, wie man so gar nicht leben kann, wie alle Wandelung die der Umgebung. Der geschiditslose Mensch sieht zu, wie sein ,Programm' sich erfüllt, schreibt auch ab und zu sein Wörtchen. Er ist wirklich der von vornherein fertig gemachte homunculus. So zeigt sich denn allen Ernstes der Mechanismus als Menschenbildner, als Demiurg" (Yorck, zu Freytags Autobiographie, 63). 4i

Kategoriale Fassung bei Dilthey und

York

Wirklichkeit

A l l diese prinzipiellen Sätze geben erst den allgemeinsten Grundsatz der historischen Arbeit Diltheys an, welchen Yorck einmal auf die Formel bringt, „daß nicht eine dogmatische Position — im weiten und wissenschaftlichen Wortverstand —, sondern das Leben das Organon f ü r die Auffassung der geschichtlichen Lebendigkeit ist" (167). Gegenüber den psychologischen Diskussionen des Lebens- und Verstehensbegriffs in Diltheys eigenen systematischen Werken bietet der Briefwechsel den V o r teil, daß Yorck das aufnehmende Organ „Leben" sofort in ein enges Verhältnis zur Philosophie setzt, es sogar als Philosophie oder als „Denken" faßt. E r kann das, weil er Philosophie überhaupt versteht als „die Philosophie, die keine Wissenschaft ist, sondern Leben, und im Grunde Leben gewesen ist auch da, w o sie Wissenschaft sein wollte" (255 f.). Dilthey geht völlig darauf ein. E r kann z. B. ihre Zusammenarbeit als „unser Denken, das unser Leben ist", beschreiben (49). Yorck entwickelt ganz innerhalb der Philosophie und im Gegensatz zu der „hergebrachten Trennung des Historischen von dem Systematischen" seine „andere Auffassung der Geschichtlichkeit" (68 f.). E r fordert die A u f g a b e des „metaphysischen Restes", der „Nicht-Vergeschichtlichung des Philosophierens". Die Philosophie wie überhaupt jede Betätigung des Menschen ist notwendig durch ihre Geschichtlichkeit bedingt: „Wie die Physiologie von der Physik nicht abstrahieren kann, so die Philosophie — gerade wenn sie eine kritische ist — nicht von der Geschichtlichkeit." „Das Selbstverhalten und die Geschichtlichkeit sind wie Atmen und Luftdruck." Eine von der Historie abgesonderte Systematik ist inadäquat wegen „der inneren Geschichtlichkeit des Selbstbewußtseins" (69). — Mit dem letzten Ausdruck, der „inneren Geschichtlichkeit des Selbstbewußtseins", hat Yorck die Formel ausgesprochen, unter der er bis zum Ende seines Lebens die europäische Geistesgeschichte darzustellen ver-

42

Gemeinsame Suche nach dem neuen Prinzip sucht hat. Wir müssen untersuchen, was hier Geschichtlichkeit bedeutet. Yorck erläutert diesen Wortgebrauch, wobei er die von ihm geforderte historische Philosophie als „positive" Philosophie bestimmt, die es mit dem wirklichen Ich („der Fülle meines Selbst") statt mit einem nur möglichen zu tun hat: „ I n Ihrem früheren Briefe haben Sie mit Recht bestimmt, was ich unter Historizität des Bewußtseins nicht verstanden haben könne, ohne mich einer Metaphysik der Bewegung schuldig zu m a c h e n . . . Wenn ich der psychologischen Behandlung die historische gegenüberstellte, so geschah das in dem Sinne, in welchem man Naturrecht und positives Recht trennt . . . Wesentlich werden die Ergebnisse der Psychologie wie die des Naturrechts negativer N a t u r sein, und in einem gewissen Sinne wird sich die Schellingsche Scheidung in eine negative und eine positive Philosophie als ein tiefes und geistvolles aperçu herausstellen. D a ß die gesamte psycho-physische Gegebenheit nicht ist, sondern lebt, ist der Keimpunkt der Geschichtlichkeit. Und eine Selbstbesinnung, welche nicht auf ein abstraktes Ich, sondern auf die Fülle meines Selbst gerichtet ist, wird mich historisch bestimmt finden, wie die Physik mich kosmisch bestimmt erkennt. Gerade so wie N a t u r bin ich Geschichte, und so einschneidend ist das goethesche Wort von dem mindesten dreitausend J a h r e Gelebthaben zu verstehen" (71). Der K e r n seiner Konzeption der Geschichtlichkeit liegt demnach in der Wirklichkeit, im Eingetroffensein der Möglichkeiten (und nicht schon im Moment der Veränderung, nicht in einer „Metaphysik der Bewegung"). D a ß das wirkliche Ich „historisch bestimmt" ist, daß es „Geschichte ist", darin besteht der Fortschritt seiner Definition. Mit der vorigen Stelle zusammengenommen bedeutet das: Die Geschichtlichkeit ist nicht nur eine Bedingung der (systematischen) Philosophie, sondern bestimmt schon die ganze Philosophie, ihre Gestalt und ihr Wesen. Das aber kann sie nur, sofern sie selbst nichts Außerphilosophisches 43

Kategoriale Fassung bei Dilthey und York (nicht etwa bloßer „Unterbau") ist. Sie ist vielmehr die gesamte Wirklichkeit einer Epoche, der „Geist", der die Epoche prägt. Yorck nennt sie nur dann, wenn er so allgemein von ihr spricht, „Geschichtlichkeit". Wenn er sich auf einzelne Fälle, auf die Epochen selbst, bezieht, spricht er von „Gedankenstellung" (253), „Denkstellung" (255), später vorwiegend von „Bewußtseinsstellung" (so auch Dilthey, 189). In der spezifischen Geprägtheit des Bewußtseins will er dasjenige fassen, was für eine Epoche unmittelbar gegeben ist und wohinter die historische und philosophische Analyse nicht mehr zurückgehen kann. „Generische Differenz von Ontischem und Historischem" Bisher waren die Gegenbegriffe zu „geschichtlich" die Begriffe „abstrakt", „systematisch" oder überhaupt „tot" und im letzten Punkt „möglich". Auf einer anderen Ebene entsprechen dem Geschichtlichen in dem obigen Zitat die Begriffe „kosmisch" und „naturhaft". Sie bezeichnen zugleich aber den größten Gegensatz: den Wesensunterschied zwischen der geschichtlichen Welt und der „Natur". Mit ihm beschäftigen sich die meisten grundsätzlichen Arbeiten Diltheys. Hier stimmt wiederum Yorck zu und drängt auf noch grundsätzlichere Erfassung. Er möchte (in Diltheys Arbeit über „das Erlebnis und die Dichtung") stärker die „generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem" betont sehen (191). Das Ontische und das Historische sind zwei grundsätzlich verschiedene Kategorien. Sie stellen sich in zwei ganz verschiedenen Bereichen („Welten") dar: der Natur und der „geschichtlichen Welt" (Yorck nennt sie, noch lieber als Dilthey, auch die „moralische Welt"). Und sie erfordern zwei grundsätzlich verschiedene Wissenschaften: Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Diese Unterscheidung ist das bekannteste Ergebnis von Diltheys Gesamtwerk. Sie geht, wie gezeigt, bis auf Vico zurück. Nur daß sie sich heute so allgemein durchgesetzt hat, ist vorwiegend dem Einfluß Diltheys und seiner Schule zu verdanken. 44

Gemeinsame Suche nach dem neuen Prinzip Persönlichkeit, Charakter, Verantwortlichkeit, Praxis Noch in einer vierten Front steht dieser Begriff der Geschichtlichkeit, jetzt freilich vorwiegend für Yorck, dem Dilthey in diesem Punkt nicht völlig folgen konnte und manchmal nur Zugeständnisse machte. Innerhalb der historischen Darstellung wird eine wirklich „geschichtliche" Erfassung der Gestalten, Epochen, Ideen von einer „ästhetischen" oder „okularen" abgehoben. Die Gegenfigur ist hier Ranke. Unter dem Stichwort der „Okularität" wird die Unpersönlichkeit und kühle Distanz seiner Geschichtsdarstellung angegriffen: „Ranke ist ein großes Okular, dem nicht, was entschwand, zu Wirklichkeiten werden kann." „Nicht eigentlich Subjekte oder ein Subjekt hat nach ihm die Geschichte — ebensowenig wie die Hegeische Weltanschauung —, sondern subjektivierte Potenzen . . . Ranke ist ganz Auge als Historiker, die Empfindung als ein rein Persönliches behält er für sich, es ist ein Geschichte sehen, nicht ein Geschichte leben. Darum fehlt es am letzten Sinn solcher Geschichte3." In einem späteren langen grundsätzlichen Brief über Diltheys „Erlebnis und Dichtung" sieht Yorck die ästhetische Geschichtsbetrachtung bis in die Gegenwart hinein durchweg herrschend und mit der Vorherrschaft der Naturforschung notwendig verknüpft: „Jenem [Windelband] ist Geschichte: eine Reihe von Bildern, von Einzelgestalten, ästhetische Forderung. Dem Naturforscher bleibt eben neben der Wissenschaft als eine Art von menschlichem Beruhigungsmittel nur der ästhetische Genuß" (193). Dagegen setzt er hier das grundlegend Neue, das Dilthey mit seinem Begriff des Typus gebracht habe, welchen Yorck in Gegensatz zu „Gestalt" und zum „Vergleichen" bringt: „Ihr Begriff des Typus ist ein durchaus innerlicher. Da handelt es sich um Charaktere, nicht um Gestalten . . . Ihr Begriff von Geschichte ist doch der eines Kräftekonnexes, von Krafteinheiten, auf welche die Kategorie Gestalt nur übertragenermaßen anwend3

B r w . 60, dito 1 1 3 , vgl. dagegen auch die rühmende E r w ä h n u n g v o n R a n k e s Weltgeschichte (Bd. I V ) , in der Y o r c k doch noch „ P e r s o n e n " erkennt, 2 5 2 .

4S

Kategoriale Fassung bei Dilthey und York bar sein sollte" (193). Z u r Verdeutlichung können w i r eine frühere Stelle heranziehen, in der er den Gegensatz schärfer faßt, nämlich als Gegensatz zwischen naturhaft-ästhetisch (auf Seiten Rankes) und historisch-ethisch (hier in der Römischen Geschichte Neumanns): „Das ist doch das wesentliche, daß ein Charakter sich ganz ausspricht, daß sonach nicht eine Rankeske Schilderung gleichsam einer natürlichen Abwandelung gegeben wird, sondern eine ethische Wertung. Alle wahrhaft lebendige und nicht nur Leben schillernde Historie ist K r i t i k " (19). Also eigentlich spielt Yorck hier unter dem Stichwort „geschichtlich" die Ethik gegen die Okularität aus. D a z u gehört (was auch schon im Begriff „ C h a r a k t e r " eingeschlossen ist): Yorck nimmt selbst Partei zu den Fragen seiner Zeit (freilich politisch mehr im Hintergrund und mehr der Überzeugung nach als wirklich aktiv), und er verlangt Bekenntnis und Parteinahme. „Verantwortlichkeit" fordert er — auch und gerade Verantwortlichkeit f ü r das Denken (254). Freilich gibt er dieser Verantwortlichkeit f ü r das Denken eine nicht unbedenkliche Konkretion, indem er sie in Gegensatz stellt zu der „dünnen jüdischen Routine, der das Bewußtsein der Verantwortlichkeit f ü r die Gedanken fehlt, wie dem ganzen Stamme das G e f ü h l psychischen und physischen Bodens" (ibd.). Bedenklich ist diese Stelle*nicht nur wegen ihres voreiligen Urteils über den ganzen jüdischen Stamm, auf das unsere Zeit besonders aufmerksam geworden ist, sondern auch in einem anderen Sinne wegen der Rückbindung der Verantwortlichkeit an den „psychischen und physischen Boden", also an eine frühere, so nicht mehr vorhandene natürliche Verwurzelung des Denkens 4 . Dieser Zug zur 4

F. K a u f m a n n stellt die ganze Philosophie Y o r c k s unter diesen Begriff der „ B o d e n s t ä n d i g k e i t " . In ihr faßt er das zusammen, was hier mit den ethischen B e g r i f f e n Festigkeit und C h a r a k t e r ausgelegt wurde, und durch sie sieht er auch die Geschichtlichkeit definiert: „Geschichtlich ist das, was die Lebenszugehörigkeit, den V e r b a n d (syndesmos) des Lebens vertieft, unhistorisch, was diesen Z u s a m m e n hang zersetzt." — J b . 1928, S. 48.

46

Gemeinsame Stiche nach dem neuen Restauration

von

natürlichen

Prinzip

Lebenszusammenhängen

ist

in

Y o r c k s D e n k e n stark a u s g e p r ä g t . Es w ä r e jedoch i r r e f ü h r e n d , ihn nur unter der heute leicht romantisch k l i n g e n d e n Bezeichn u n g der „ B o d e n s t ä n d i g k e i t " z u sehen. D e n n Y o r c k s D e n k e n ist g a r nicht romantisch, sondern sehr kritisch, selbstkritisch s o w o h l als zeitkritisch. D i e V e r a n t w o r t u n g ist nicht schon durch die gegebenen Lebensverhältnisse bestimmt, sondern sie w i r d r a d i k a l im G e w i s s e n v e r a n k e r t . G e w i s s e n aber k a n n nur j e d e r einzelne haben, u n d es m u ß streng persönlich u r t e i l e n :

„Staatspädago-

gische A u f g a b e w ä r e es, die elementare öffentliche M e i n u n g z u zersetzen u n d möglichst die I n v i d u a l i t ä t des Sehens u n d A n sehens b i l d e n d z u ermöglichen. Es w ü r d e n d a n n statt eines so g e n a n n t e n öffentlichen Gewissens — dieser r a d i k a l e n V e r ä u ß e r lichung — w i e d e r E i n z e l g e w i s s e n , d. h. G e w i s s e n m ä c h t i g w e r d e n " (249 f.).

Vergeschichtlichung D i e bisherigen I n t e n t i o n e n der beiden Briefschreiber sind z u s a m m e n g e f a ß t in Y o r c k s F o r d e r u n g eines neuen geschichtlichen P r i n z i p s des geistigen L e b e n s : „ E s k a n n nicht scharf g e n u g ausgesprochen u n d b e s t i m m t g e n u g nachgewiesen w e r d e n , d a ß die l e t z t e n drei J a h r h u n d e r t e v e r g a n g e n sind, nicht das K a p i t a l f ü r die erforderliche neue geschichtliche Wirtschaft abgeben, insbesondere d a ß die ästhetische A u s h i l f e , das ästhetische K o m p l e m e n t der M e c h a n i k B a n k r o t t gemacht h a t . . . " (128). Dieses P r o g r a m m der „geschichtlichen W i r t s c h a f t " bezeichnet er durch „ r e i n e v o l l e S e l b s t b e s i n n u n g " u n d spricht auch v o n

„Vergeschichtlichung".

E r g i b t an z w e i Stellen k u r z e A n g a b e n , eigentlich nur S t i d i w o r t e , w i e er sich solche Vergeschichtlichung des Menschen durch Wissenschaft u n d P ä d a g o g i k

d e n k t : D i e wissenschaftliche

Ge-

schichtsaneignung soll selbst ein „ l e b e n d i g e r V o r g a n g " sein, ein Ineinander

von

„historisch

Ontischem"

(geschichtlich-empiri-

schem S t o f f ) u n d „ l e b e n d i g e r H i n b e w e g u n g des A u f f a s s e n d e n "

47

Kategoriale Fassung bei Dilthey und York

bzw. „eingewebter psychologischer Analysis". Darin liegt „zugleich eine erweiternde Entäußerung. Ein höherer Vorgang der Vergeschichtlichung des Menschen" (223). Und ebenso soll in seinem (verloren gegangenen) Schulreformprogramm ein entscheidender Gesichtspunkt für das Gymnasium „der innerer geschichtlicher Bereicherung, der der Vergeschichtlichung" sein. Diese sieht er allerdings allein durch die alten Sprachen gewährleistet, denn nach seiner Meinung herrscht nur in ihnen „Ausgang vom Ganzen der Lebendigkeit, wahre Analysis, Bildungskraft der Transposition . . . Beschäftigung mit sich selbst im Anderen" (101). In diesem Programm einer kraftvollen Vergeschichtlichung ist eine Lösung des Dilemmas, wie es etwa Nietzsches „historische Krankheit" darstellt, wenigstens in der Theorie vorgestellt, denn die hier entworfene Art von Wissenschaft und Bildung ertrinkt nicht im Stoff und verliert auch nicht die Basis des Konkreten, bedeutet also keine bloße Hingabe an historische Phänomene und auch keine bloße Spekulation. Insgesamt ging es Yorck mit dem Prinzip der Geschichtlichkeit nicht so sehr um eine Theorie, sondern um seine zu praktizierende Einsicht. „Das Praktisch-werden-können ist ja nun allerdings der Rechtsgrund aller Wissenschaft". „Die praktische Abzweckung unseres Standpunkts ist die pädagogische, im weitesten und tiefsten Wortsinne. Sie ist die Seele aller wahren Philosophie und die Wahrheit des Piaton und Aristoteles" (42 f.). Freilich war es ihm selbst verwehrt, seine Einsichten an einer bedeutenden Stelle in die Tat umzusetzen, doch wenigstens ihre Wirkungsmöglicbkeit ist in seiner Philosophie immer mitbedacht. So hat er viel schärfer und gründlicher als seine Zeit sonst die von ihm und Dilthey postulierte „geschichtliche Wirtschaft" beschrieben: als eine neue, bewußte, traditions- und verantwortungsbewußte, charaktervolle, dynamische Gestaltung des „öffentlichen Lebens und der Wissenschaft. Doch zur Auslegung dieser kraftvollen Prinzipien findet man in dem Briefwechsel wenige 48

Gemeinsame Suche nach dem neuen Prinzip positive Konkretionen, vorwiegend nur Kritik an dem vielen Kleinlichen des 19. Jahrhunderts. Abstraktion

vom geschichtlichen Verlauf

Die Gegensätze in den Charakteren und Zielsetzungen der beiden Symphilosophierenden sind fast immer in gemeinsamer begrifflicher Arbeit und in gegenseitiger Korrektur versöhnt. Daraus resultiert eben die Fruchtbarkeit ihres Gedankenaustauschs. Nur in einer grundsätzlichen und methodischen Frage bleibt ein offener Streit zwischen ihnen bestehen: Wie weit darf in der Herausarbeitung der „Lebendigkeit" oder „Geschichtlichkeit" als des bewegenden Zentrums der Geschichte von dem konkreten Verlauf der Geschichte und von ihren Trägern (von den „Namen") abstrahiert werden? Yorck und Dilthey diskutieren diese Frage an einem für beide entscheidenden Beispiel: an der Auffassung der christlichen Dogmen, im Anschluß an Diltheys „Natürliches System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert". Yorck verteidigt hier den Lebensbezug des Dogmas gegen die rationalistische Kritik, der Dilthey recht gegeben hatte. „Ein Dogma lebt so lange, als das intellektuelle oder allgemein lebendige Motiv wirksam ist, welches es hervorgetrieben." Er rekurriert wie Dilthey von der dogmatischen Gestalt auf den lebendigen Sinn, doch will er die historische Entstehung des Dogmas und seine Ausprägung in bestimmten Gemeinschaften wahren. Die Inhalte der alten Dogmen sind noch in der gegenwärtigen christlichen Gemeinde lebendig. Die Lehre von dem stellvertretenden Opfertod z. B. macht Yorck folgendermaßen plausibel: „Nicht ein anderer, sondern ein Mensch und historische Kraft ist Jesus: Das Kind gewinnt durch das Opfer der Mutter, ihm kommt es zugute. Ohne diese virtuelle Zurechnung und Kraftübertragung gibt es überhaupt keine Geschichte" (155). Dilthey will jedoch von der Beschränkung dieser Lehre auf die christliche Gemeinde loskommen. Er vermerkt schon hier am Rand: „umgekehrt: alle Geschichte ist solche 49

1Categoriale Fassung bet Dilthey und

York

Kraftübertragung, nicht bloß das Christentum" (ibd.). U n d in seiner E r w i d e r u n g expliziert er: „ A l l e D o g m e n müssen auf ihren universellen Lebenswert f ü r jede menschliche Lebendigkeit gebracht werden. Sie waren einst in einer geschichtlich begründeten Beschränkung entworfen. Werden sie v o n dieser befreit, dann sind sie freilich, wenn Sie so wollen, das Bewußtsein v o n der übersinnlichen und überverständigen N a t u r der Geschichtlichkeit schlechthin . . . in ihrem universellen Sinne bezeichnen sie den höchsten lebendigen Gehalt aller Geschichte. A b e r in diesem Sinne verlieren diese B e g r i f f e ihre starre ausschließende und so alles in besondere F a k t i z i t ä t v e r w a n d e l n d e Beziehung auf die Person Jesu, welche alle anderen Beziehungen ausdrücklich ausschließt" ( 1 5 8 ) . H i e r versteht D i l t h e y unter der Geschichtlichkeit

schlechthin

und dem Gehalt aller Geschichte bestimmte Einheiten v o n Sinn, die gerade v o n der konkreten Geschichte absehen. Denn er w i l l j a die Dogmen auf einen allgemeinen menschlichen G e h a l t bringen, der sowohl v o n dem historischen Bezugspunkt (der Person Jesu) als v o n ihrer Entstehung (durch das geschichtlich bedingte frühe Christentum) und auch v o n der Institution ihres heutigen Weiterlebens (der „lebendigen christlichen G e m e i n d e " ) abstrahiert. Gleichwohl bindet er sie in seiner Terminologie noch an Geschichte überhaupt. Geschichtlichkeit in diesem weitesten Sinne bedeutet das Substrat an Sinn oder Bedeutsamkeit, das übrigbleibt, wenn man die gesamte Geschichte zusammenzieht und dabei v o n ihrer Differenziertheit, also v o n demjenigen, w a s f ü r den älteren Historismus und die Historiker überhaupt erst die Geschichte zur Geschichte machte, absieht 5 . H i n t e r dieser einzelnen F r a g e der Auslegung verbirgt sich also ein radikaler Unterschied im Blick auf Geschichte überhaupt, der auch, soviel ich sehe, nirgends zwischen ihnen ganz ausgetragen ist und der sich vermutlich auch nicht ausgleichen ließ. 5

Vgl. dazu die Darstellung von C. Antoni in „Historismus und Soziologie", 1950.

50

Yorks System der geschichtlichen Y O R C K S S Y S T E M B E W U SS TS

Bewußtseinsstellungen

D E R G E S C H I C H T L I C H E N E I N S S T E L L U N G E N

Die bisherigen Zitate haben gezeigt, daß durchweg Yordk genauere Rechenschaft über die angewandten historischen Begriffe verlangt als Dilthey. Deshalb soll, obgleich er jünger und der Wirkung nach viel später ist, seine Gesamtauffassung der Geschichtlichkeit zuerst dargestellt werden. Die Erörterungen im Briefwechsel lassen Yorcks Geschichtsdenken schon in groben Umrissen erkennen 6 . Ein fast vollständiges System entwirft die von ihm nicht mehr abgeschlossene Schrift „Bewußtseinsstellung und Geschichte" 7 . Von dieser Schrift sind bisher noch keine sichtbaren Wirkungen ausgegangen. Doch uns interessiert hier Yorcks Lehre selbst, sein eigenartiger Versuch einer christlichen Gesdiichtsphilosophie, von der bisher nur eine einzelne Linie weitergelebt hat (in der „Aneignung" der Gedanken aus dem Briefwechsel durch Heidegger und seine Nachfolger) und die insgesamt fast unbekannt geblieben ist, für unser Thema aber ein frühes wichtiges Zeugnis darstellt.

Ausprägung

einer

„radikalen

Urteilung"

Das Verwirrende an der Schrift ist gerade die sehr häufige und mehrdeutige Verwendung des Wortes „Geschichtlichkeit". Im großen lassen sich ein allgemeiner und ein aussondernder, wertender Gebrauch unterscheiden. Geschichtlichkeit als das, was 6 W i e nahezu vollständig man die ganze Philosophie Y o r c k s aus diesen konzentrierten Bemerkungen erschließen kann, beweist F. K a u f m a n n s A r b e i t : Die Philosophie des G r a f e n Y o r c k , im J b , 1 9 2 8 , vgl. auch v o n demselben: Y o r c k s Gesdiichtsbegriff, in D V j S 1 9 3 0 . D i e wenigen K o r r e k t u r e n Fetschers aus seiner Kenntnis des gesamten Nachlasses heraus (in Einleitung und A n m e r k u n g e n zu „Bewußtseinsstellung und Geschichte") beziehen sich m e h r auf Y o r c k s inhaltliche A u f f a s s u n g und Gliederung der Geschichte als auf seine Philosophie und die Kategorien, m i t denen er die Geschichte erfaßte. 7

H g . I. Fetscher, 1 9 5 6 . 51

Kategoriale Fassung bei Dilthey und York

alle Geschichte erst zur Geschichte macht, war schon im Briefwechsel einigermaßen bestimmt worden: als Veränderung, Bewegung, Lebendigkeit, als Wirklichkeit, genauer als die Wirklichkeit des Menschen, sein ethischer Charakter und die Bindung an das „Gewissen". In dieser Arbeit aber schreitet Yorck von der bloßen Prinzipienuntersuchung zum wirklichen Geschichtsverlauf und seinen großen Motiven fort. Er zieht aus der „generischen Differenz des Historischen gegenüber dem Ontischen" noch eine Konsequenz, die seine ganze Problemstellung in dieser Untersuchung'bestimmt: „Geschichte ist nicht von der Selbständigkeit des Natürlichen, sondern gerade sofern sie geschichtlich ist, gerade ihre Historizität als Ferment der Lebendigkeit, ist hineinbezogen in die historische Bewußtseinsaktualität historischer Kontraposto" (36). Alle Lebensäußerungen aller Menschen sind an die in ihrer Epoche sich ausprägende Bewußtseinsstellung gebunden. Yorck will deshalb die „Bewußtseinszuständlichkeit" skizzieren, um „Einsicht in die Stellung zur Geschichte" und „Wertung des Geschichtlichen" zu gewinnen (ibd.). Das leitende Prinzip und die Voraussetzung seiner Untersuchung faßt sich für ihn im Begriff der „radikalen Urteilung" zusammen: Nur diejenigen Nationen „können Geschichtlichkeit beanspruchen, deren besondere Anlage Effekt einer radikalen Urteilung ist" (56). „Wenn eine der radikalen psychischen Funktionen das Organon der gesamten Lebendigkeit wird, gleichsam das bestimmende Medium der Totalität, ist damit eine besondere Bewußtseinsstellung gegeben, welche die Geschichtlichkeit und die typische Bedeutsamkeit konstituiert" (85). „Der Wechsel des Organons für die Manifestation der konkreten Lebendigkeit bezeichnet die Epochen der Geschichtlichkeit" (184). Das Schema der Abfolge dieser Epochen ist denkbar einfach und grob: Es gibt nur drei radikale Urteilungen, entsprechend den drei psychischen Funktionen: „Vorstellen, Wollen, Empfinden erfüllen den Umkreis der historischen Möglichkeit" (56). Er ordnet sie dem S2

Yorks System der geschichtlichen

Bewußtseinsstellungen

Griechentum, Judentum und Christentum zu. Diese sind schon allein dadurch, daß sie jeweils eine der drei möglichen Bewußtseinsstellungen radikal oder „typisch" ausgebildet haben, auch geschichtlich. Das ist der allgemeine Begriff von Geschichtlichkeit, der von der inhaltlichen Besonderung ganz absieht und lediglich durch die Konsequenz in der Ausbildung einer Bewußtseinsstellung bestimmt ist. Doch auch bei dieser weiten Fassung kennt Yorck noch den Gegenbegriff von ungeschichtlichen Bewußtseinsstellungen, und er sieht sie z. B. im Buddhismus ausgeprägt, dem er damit jede Lebendigkeit abspricht.

Entstehung und Verdeckung des metaphysiklosen Denkens In der inhaltlichen Bestimmung dessen, was diese Bewußtseinsstellungen ausmacht, gewinnt der Begriff der Geschichtlichkeit aber eine bewertende und auszeichnende Funktion. Jetzt ist das jüdische Bewußtsein „geschichtlicher" als etwa das der Griechen. Und innerhalb der jüdischen Religion wird die Geschichtlichkeit auch erst allmählich erschlossen durch die Propheten, die die „moralische Substanzialität" auflösten zu einer „inneren A k t i v i t ä t " . Erst diese psychische Wendung „eröffnet den Blick in die ganze Tiefe dieses Standpunktes, im eminenten Sinne die Geschichtlichkeit desselben ausmachend" (48 f). U n d andererseits hat die jüdische Bewußtseinsstellung gerade im H i n blick auf ihre Geschichtlichkeit noch eine bestimmte Schranke: geschichtlich ist allein Gott, nicht der Mensch, wertvoll allein die Zukunft, nicht die Gegenwart: „Tätig allein und allein historisch ist der jüdische Gott. Die Geschichtlichkeit, welche unter den vorchristlichen Religionen das jüdische Bewußtsein auszeichnet, ist in Gott konzentriert. Bei ihm ist Gegenwart, Aktualität; dem Religiösen bleibt allein Zukunft, H o f f n u n g , E r w a r t u n g " (48). Die „Zeitlichkeit" ist das bestimmende Element f ü r das jüdische Bewußtsein, es ist „die gespannte Aussicht nach der unsichtbaren Zukünftigkeit", Vergangenheit und Gegenwart werden „nur durch die Zukunft legitimiert und ge$ Bauer

53

Kategoriale

Fassung bei Dilthey und York

schätzt" (50/52). Innerhalb der Charakteristik des Christentums f ä l l t dann das Urteil, daß diese jüdische reine Z u k ü n f t i g keit doch noch keine volle Geschichtlichkeit f ü r sich beanspruchen könne, da das Judentum das Bewußtsein des Subjekts und der Situation noch nicht ausgeprägt habe, das zum vollen Erfassen des geschichtlichen Lebens gehört. A n e r k a n n t bleibt aber — w a s auch in der Folgezeit noch wiederholt entdeckt w i r d — daß die J u d e n durch ihren H o r i z o n t des im Gehorsam bestimmten W i l lens, der menschlichen T a t v e r a n t w o r t u n g und des „Lebens aus der Z u k u n f t " die Geschichtlichkeit des Menschen zuerst erfahren und (religiös) ausgedrückt haben 8 . D a s Griechentum bekommt in der inhaltlichen Bewertung meistens das P r ä d i k a t „ungeschichtlidi", da in ihm auf allen Gebieten die Vorstellung vorherrscht. D i e Geschichtlichkeit beginnt erst „ m i t dem A k t e der Trennung v o n Leib und Seele" (89), im antiken Griechenland aber w u r d e gerade das rein Somatische ausgebildet, die reine „Leiblichkeit", „ K ö r p e r l i c h k e i t " , „ B i l d lichkeit", „ O k u l a r i t ä t " oder auch „Gestaltlichkeit" 9 . Wegen der Gebundenheit des griechischen Bewußtseins an die Vorstellung und an die Verkörperung alles Inneren w i r d es „ungeschichtlich" genannt. Doch ist es nicht ausschließlich v o n der einen psychischen Funktion Vorstellung beherrscht. Es ist nicht nur „theoretisches V e r h a l t e n " , „ K o n t e m p l a t i o n " (75), sondern auch Wille, und genau so weit ist es selbst „geschichtlich". „ D a s griechische philosophische Denken ist ein konkretes, in eins w i l lentlich und anschaulich bestimmt." A l s Beleg dazu verweist Y o r c k auf das in der ganzen Graecität gültige D o g m a v o n der „ T r i n i t ä t des Guten, Wahren und Schönen" (73). D a s Christentum ist die „extreme und intimste" Bewußtseinsstellung (37). E s ist charakterisiert durch das G e f ü h l , in dem 8

Vgl. den Exkurs über den Anfang der Geschichtlichkeit, Anm. 94 zu S. 1 1 3 . 9 92, 102, 61, 86. — „Gestaltlichkeit ist der Charakter der primären griechischen Lebendigkeit", die Gestaltlichkeit wird geradezu das griechische Gegenprinzip gegen die christliche Geschichtlichkeit, 60 ff. 54

Yorks System der geschichtlichen Bewußtseins Stellungen aber auch die beiden anderen psychischen Funktionen aufgehoben sind. Das Gefühl „verinnerlicht" sowohl den Willen als die Vorstellung. Sie werden vom Gegebenen abgelöst und auf eine innere Wirklichkeit bezogen, welche Yordk hier „Seele" nennt. Problematisch ist die Stellung der Vorstellung in dieser seelischen Einheit. Sie drängt darauf, auch ihre inneren Erfahrungen in äußeren, räumlichen Anschauungen zu konkretisieren. Jede Verräumlichung aber verfälscht die innere Wirklichkeit. Daher lehnt Yorck die „Gestalt" ab, und daher wertet er die christliche Trennung der Seele vom Leib so hoch 10 . Durch die „Verengung oder Verinnerlichung der Seele" (hier spricht Yorck vom „christlichen Prinzip") wird der Kern der Geschichte und das volle Verhältnis zur Geschichte erreicht. „Man kann sagen, daß gerade dieser Vorgang die Seele der Geschichte, die innere Geschichtlichkeit ausmacht" (138). Erst seit dem Christentum gibt es die „transzendente" statt der metaphysischen Bewußtseinsstellung: weil hier „das Gefühl in sich, ja gegen sich gewandt und frei von aller Gegebenheit ist" (43 f.). Dieser Vorgang jedoch zieht sich noch durch das ganze Christentum hin, ist nicht schon mit seinem Anfang geschehen. Das reine unanschauliche Gefühl ist wohl schon bei Paulus oder auch bei Jesus selbst wirklich. Es wird aber in der Kirche verdorben, in der Gestalt von Dogmen verräumlicht und veräußerlicht. Das von der kirchlichen Idee bestimmte Denken konnte deshalb kein historisches Bewußtsein ausbilden („der geschichtliche S t o f f " seines „historischen Wahrheitsbildes" „ermangelte der inneren Geschichtlichkeit"), weil es den geschichtlichen Zusammenhang nur als Wertverhältnis der größeren oder geringeren Annäherung an die offenbarte Wahrheit und nicht in seiner lebendigen (dialektischen) Bewegung sah (33 f.). Vollendet wird die christliche Bewußtseinsstellung erst in der Reformation. Erst in ihr geschieht die Loslösung von der grie10

Seine B e w e r t u n g

moralischen

dieser T r e n n u n g

Abwertung

hat also gar nichts mit der

des Leibes zugunsten

der Seele, w i e

radikal etwa die Gnosis ausgeprägt hat, zu tun.

5*

55

sie

1Categoriale Fassung bei Dilthey und York duschen Bildlichkeit und ihren Nachwirkungen im christlichen Dogma. Durch den Abbau des metaphysischen Bewußtseins, der „metaphysischen Selbstsicherungen" (Fetscher) und durch Kritik an jeder Glaubens„gestalt" hat die Reformation das christliche, radikal geschichtliche Bewußtsein wiedergewonnen, durch Bezug „auf die Zentrali tat des Menschen" aber ist ihre ganz neue Bewußtseinsstellung bestimmt (36). Im Briefwechsel begründet Yorck, warum er gegen Diltheys Urteil Luthers Theologie und nicht die Zwingiis f ü r spezifisch geschichtlich hält: weil Luther, ohne die Kirche als Gnadengarantie, „ein ganz freies Verhältnis zu Gott hat, statt aller Garantie nur persönliches Vertrauen . . . Das liberum arbitrium ist ihm allein auf Seiten Gottes. Darum ist er allein der religiöse, alle anderen sind säkular. Darum ist er allein der Empiriker, alle anderen in der Wurzel metaphysisch. M. E. muß er als historische Kraft, als geschichtliches Motiv, nicht als Lehrgestalt betrachtet werden" (Brw. 144). Auch das moderne Raumgefühl sieht Yorck bei Luther anfangen. E r sieht in ihm die Befreiung des Willens von allen gesetzten, auch selbstgesetzten Schranken, und dadurch wird der Raum, was er bis heute geblieben ist, der unendliche K o n struktionsplatz. Dieses Raumgefühl wurde dann grundlegend für die gesamte Neuzeit, freilich nicht in der Wirkung Luthers, sondern durch Descartes, Leibniz und die Naturforscher. A b Descartes wird die Tendenz der Philosophie „bildnerisch" statt wie bis dahin „bildlich" (136). Diesem neuen Raumbild schreibt Yorck geradezu eine verpflichtende K r a f t zu, wenn er seine Nichteinhaltung K a n t zum Vorwurf macht 1 1 : K a n t tritt mit seiner Raumvorstellung „aus der Geschichtlichkeit der Bewegung des modernen Denkens heraus, welches auf die Genesis des Raumes, auf die Konstruktion des Raumbildes gerichtet w a r " (77). 11 K a n t ist „rückschrittlich" in Y o r c k s Betrachtung der Philosophiegeschidite, z. B. ein Rückschritt gegenüber Leibniz; seine R a u m v o r stellung ist statisch und bloß „ f o r m a l " .

S*

Yorks

System der geschichtlichen

Bewußtseinsstellungen

In diesem Punkt erkennt Yorck die Konzeption der Moderne voll an. Das positive Neue seit Luther ist vor allem: „Voraussetzungslosigkeit" und „Kritik als schöpferisches Verhalten" (36). Sonst jedoch hat er an dem modernen Bewußtsein viel auszusetzen. Besonders hat der Mechanismus der Moderne keine ordentliche Historie und Philologie ausbilden können: „Nicht in, sondern über der Geschichte ist die Stellung des independenten Individuums, welches die Geschichte als eine Rüstkammer für die Darstellung der eigenen Überzeugung ansieht, als einen Schatz von Beispielen zu moralisch-rhetorischer Verwendung" (143). Der Mechanismus ist die große, ja eigentlich die einzige und ganze moderne Bewegung, und alle, die sich ihm entziehen, bilden nur eine Nebenströmung. Das gilt auch von der wichtigsten Gegenbewegung, von der Romantik und der „sogenannten historischen Schule". Die letztere ist eine rein deutsche „Nebenströmung", hat zum wahren Geist der Zeit nur „Gesamtgefühl" hinzugebracht (Brw. 68 f.) 12 . Über die Romantik urteilt Yorck meist positiver, besonders über Schelling und Hegel, denen er selbst viel verdankte. Ihre Wirkung jedoch schätzt er als schwach und gar nicht ausreichend ein. So sieht Yorck zu seiner Zeit eigentlich alle die Ansätze, die er positiv beurteilt, wieder zugeschüttet: die Reformation durch eine neue Dogmatik, Leibniz* Ansatz durch Kant, und was am Idealismus groß und neuartig war, durch den Mechanismus und Materialismus der Gegenwart. — Noch eine Parallele dazu läßt sich aus der Dichtung anführen: Yorck sieht das wirklich geschichtliche Drama bei Schiller verwirklicht 1 3 und beanstandet an Diltheys nicht genügend radikaler Darstellung (in „Erlebnis und Dichtung"): „Den Absturz von geschichtlichen Bedingungen zu den pathologischen Im Gegensatz zu D i l t h e y , der viel leichter an die Errungenschaften der historischen Schule anknüpfen konnte, hebt Y o r c k sein R e f o r m p r o g r a m m radikal v o n ihr ab: sie sei gar nicht wirklich historisch, sondern n u r „antiquarisch, aesthetisch konstruierend" gewesen (ibd). l s Im Gegensatz zu D i l t h e y auch im D o n Carlos, an dem sich hier die Auseinandersetzung entzündete. 12

57

¡Categoriale Fassung bei Dilthey und

York

Abhängigkeiten [er denkt an Kleist] finde ich nicht betont. In diesen aber im Gegensatz zu der inneren Geschichtlichkeit Schillers treibt sich die moderne französisch-deutsche Dichtung umher" (Brw. 192). Wiederholung und Neuansatz in der Gegenwart D a gerade die betont „geschichtlichen" Bewegungen in der bisherigen Geschichte versagten, sieht Yorck f ü r seine Zeit einen unbedingen Neuansatz nötig. Besonders verlangt er: Das Denken muß radikal werden, darf nicht in Halbheiten (wie bei den Romantikern) stecken bleiben, sondern muß mit der Geschichtlichkeit ganz erst machen. Einen tragfähigen Boden für diesen Neuansatz hat er nur in der Reformation gesehen. Auf ihr Prinzip müßte man also zurückgehen, ohne es aber wieder zu verräumlichen, ohne eine neue Metaphysik daraus auszubilden, Alle anderen Bewußtseinsstellungen nämlich liefern uns wieder der Metaphysik aus: Jedes vorstellende Bewußtsein verräumlicht, d. h. zerstört die ursprüngliche Lebendigkeit des Gedachten. Obgleich nun Yorck zugibt, daß ein Gedanke ohne räumliche Vorstellung kein Gedanke ist („alles Bewußtsein ist ein Verräumlichen" und „Räumlichkeit ist der Grundcharakter alles Denkens", 149), sucht er doch f ü r die Reformation und ihr noch heute gültig sein sollendes transzendentes Denken eine Ausnahmestellung zu gewinnen. Freilich kommt er nicht über die Formulierung in Paradoxen hinaus — und in dieser fehlenden Vorstellung (oder fehlenden Ausdrucksmöglichkeit einer wirklichen Vorstellung) ist der Hauptgrund zu suchen, daß die Schrift Fragment blieb. „ I m [reformatorischen] Christentum findet in der Projektion der Empfindung eine radikale Selbstentäußerung statt, so daß die lebendige Verhaltung . . . über alle Faktoren des Selbstbewußtseins hinaus tendiert, rein transzendenter A r t ist." E r verspricht nachzuweisen, „wie die einzelnen Bewußtseinsfaktoren dadurch in ihrer Weltanschauung konträr bestimmt werden: das Wollen als Nichtwollen ohne Einbuße der Kraft,

58

Yorks

System

der geschichtlichen

Bewußtseinsstellungen

frei, weil radikal bestimmt im Gegensatz zu der Autonomie, denn Autonomie und Freiheit sind Konträritäten, das Empfinden als Energie unter Verzehrung des Pathologischen ohne Verlust der Reizbarkeit, das Vorstellen ohne Gegenständlichkeit und doch nicht leer, die gesamte Funktionalität in höchster Lebendigkeit, aber gleichsam gegen sich gerichtet und auf einen Bezugspunkt, welcher der Gegebenheit nicht zugehört, nicht zugehören kann, auf Gott, der vorgestellt wird, ohne Objekt zu sein, gewollt wird, ohne psycho-physisch motiviert zu sein, empfunden wird, ohne empfindbar zu sein" (134). So wenig dieser Nachweis konkret wird, so deutlich ist doch die Intention dieses Transzendierens: Yorck will über alle Gegebenheiten hinauskommen und will doch alle Kraft und Empfindung, die der Mensch jetzt noch auf dieäe Gegebenheiten richtet, bewahren und in sich steigern. Hier bleibt jedoch ungelöst, ob er damit nicht nach den überzeugenden Beweisen der geschichtlichen K r a f t auch einen spezifisch ungeschichtlichen Zug am Christentum, seine jeder Konkretion widersprechende und selbst nicht konkretisierbare spekulative Kraft, bezeichnet hat. Übrig bleibt am Ende nur die Überzeugung, daß etwas Neues anfangen wird, weil einfach etwas Neues anfangen muß. „Nach meiner sich befestigenden Überzeugung stehen wir an einem historischen Wendepunkt ähnlich wie das 1 5 . Jahrhundert. Im Gegensatz zu der Art des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der in verschärfter Abstraktion und Isolation besteht, bildet sich ein Neues dadurch, daß der ganze Mensch wieder einmal Stellung nimmt und herzutritt zu dem Problem des Lebens. Jedesmal ist es eine neue Lebensstellung und -auffassung, welche eine neue Epoche einleitet und bestimmt, nicht irgendeine Einzelentdeckung oder -erfindung" (Brw. 128). Virtuelle Gegenwart der Geschichte Was auch immer in der neuen Epoche Prinzip werden würde, so war sie nach Yorcks Auffassung sicher durch zweierlei be59

Kategoriale Fassung bei Diltbey und York stimmt und in Spannung gehalten: sie würde wie jede frühere Epoche einseitig sein, und sie würde doch, darauf lag für Yorck das Hauptgewicht und darin blieb er Hegelianer, in ihrem Denken alle begriffenen früheren Epochen enthalten. „Es kann als die Fatalität aller Geschichtlichkeit ausgesprochen werden, daß die Lebendigkeit in der Unmöglichkeit ist, sich voll und ganz zum Ausdruck zu bringen, weil das Medium stets eine psychische Einzelheit ist" (84). U n d : „Philosophische Gedanken, aus der Tiefe der Lebendigkeit geschöpft, bleiben als Ferment immer gegenwärtig, und ihre richtige Würdigung hebt das Nacheinander der geschichtlichen Folge in die virtuelle Gegenwärtigkeit auf 1 4 ." Hier hat Yorck sein eigenes, sonst streng durchgeführtes System von festen und unüberschreitbaren Bewußtseinsstellungen durchbrochen: f ü r das philosophische Denken und besonders für seine Gegenwart wird die strikte Zeitgebundenheit aufgehoben in eine „virtuelle Gegenwart" aller Stufen der Geschichte. Im Gegensatz zu Hegel aber betont er das „virtuell" stets viel stärker: Die volle bewußte Gegenwärtigkeit der ganzen Geschichte ist nicht schon Tatsache, sondern nur eine Möglichkeit, allein durch strenges und stets geschiditsbewußtes Philosophieren kann es Wirklichkeit werden.

DILTHEYS

HISTORISMUS

Diltheys Prinzipien kamen schon im Briefwechsel zum Ausdruck. Doch wegen der Wichtigkeit für die Folgezeit muß hier noch einmal seine Auffassung von der Geschichtlichkeit für sich und im ganzen untersucht werden. Ersatz für die „rationalistischen"

Allgemeinbegriffe

Ausgangspunkt soll wiederum Diltheys Stellungnahme gegen die „abstrakte Theorie vom Menschen" sein. Doch jetzt müssen 14 Aus der Heraklit-Arbeit, zitiert in Anm. zu „Bewußtseinsstellung und Geschichte", S. 206.

60

Diltheys Historismus wir sie in ihrem genauen historischen Bezug: auf den Rationalismus des 18. Jahrhunderts, verfolgen. Seine Hochschätzung und seine Ablehnung des Rationalismus 1 5 läßt sich ziemlich klar aus dem „Programm" erkennen, das er 1887 der Berliner Akademie der Wissenschaften vortrug: „Das philosophische Jahrhundert [so nennt er das 18.] wollte das Leben aus einer allgemeingültigen, abstrakten Theorie von der Menschennatur umgestalten. Diese Theorie hat sich in Reform und Revolution zugleich als siegreich, gültig und als unzulänglich, ja in ihren Anmaßungen zerstörend erwiesen. Unser Jahrhundert hat in der historischen Schule die Geschichtlichkeit des Mensdien und aller gesellschaftlichen Ordnungen erkannt. Aber es steht vor der Aufgabe, die großen Anschauungen der geschichtlichen Entwicklungslehre in klare, durch die Wahrheiten des 18. Jahrhunderts eingeschränkte und für das Leben fruchtbare Begriffe fortzubilden. Hierzu bedarf es feinerer psychologischer Methoden und Begriffe, die dem geschichtlichen Leben gewachsen sind; besonders aber muß in allen Leistungen des Mensdien, auch in denen der Intelligenz, die Totalität des Seelenlebens, das Wirken des ganzen wollend-fühlend-vorstellenden Menschen nachgewiesen werden" (V, 1 1 ) . Die Haupterkenntnis, die Geschichtlichkeit der menschlichen Natur und der menschlichen Welt, setzt er hier schon voraus 1 6 . Sich selbst aber setzt er die Aufgabe, diese Erkenntnis von der Geschichtlichkeit theoretisch zu erfassen — und zwar in Aussöhnung mit den Ergebnissen der rationalistischen Philosophie. Mit diesem Zusatz meint er: 1. philosophisch statt nur anschauend, 2. ohne durch die Auslegung der geschichtlichen Natur des Menschen in Spekulation oder Metaphysik zu geraten. 13 Z u Diltheys persönlicher Stellung z u m Rationalismus hacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 2 6 1 ff.

s.

16

Rot-

Gewöhnlich schreibt er sie nicht der Historischen Schule allein zu, sondern f ü h r t ihre A n f ä n g e über Hegel und die R o m a n t i k bis zu H e r d e r und Winckelmann zurück (I, S. X V I u. ö.).

61

1Categoriale Fassung bei Dilthey

und

York

Die vielgestaltige und immer neu entworfene Lehre Diltheys von den „historischen Kategorien" kann hier nicht inhaltlich verfolgt werden 17 . N u r ihren erkenntnistheoretischen Ort müssen wir bestimmen: Alle historischen Kategorien sind Relationsbegriffe, sie drücken eine Bewegung oder Tätigkeit bzw. deren Horizont und Ursachen (in der treibenden „Kraft" oder in der Zielstrebigkeit zu einem „Zweck") aus. Sie alle sind auf das konkrete historische Material gerichtet und ihm angepaßt. Aber zugleich erlauben sie eine Abstraktion von dem einzelnen Fall. Sie intendieren eine neue Allgemeingültigkeit. Die historisch gewonnenen Begriffe sollen an die Stelle der „Vernunftwahrheiten" treten, d. h. eben nicht die Vernunftwahrheiten mitsamt ihrer Funktion aufheben, sondern gerade dieselbe Funktion ausüben, die das 18. Jahrhundert den „ewigen Wahrheiten" zuschrieb. Dilthey opponiert gegen die Allgemeingültigkeit, die aus dem „reinen Begriff", aus dem „abstrakten Denken", der „zur bloßen Denktätigkeit verdünnten" Vernunft (I, S. XVIII) fließen sollte. Aus der Geschichte aber gewinnt er durch eine neue Abstraktion (die er selbst die Verallgemeinerung des für alle „Verbindlichen" nennen würde) die Allgemeingültigkeit seiner geschichtlich verifizierten „Wahrheiten". „Was das Leben sei, soll die Geschichte lehren. Und diese ist auf das Leben angewiesen, dessen Verlauf in der Zeit sie doch ist, daher sie an diesem ihren Gehalt hat. — Aus diesem Zirkel gäbe es einen einfachen Ausweg, wenn es unbedingte Normen, Zwecke oder Werte gäbe, an denen die geschichtliche Betrachtung, Auffassung einen Maßstab hätte. Die Geschichte selbst realisiert Sätze, deren Geltung aber aus der Geltung der im Leben enthaltenen Verhältnisse entspringt. Ein solches ist die Verbindlichkeit, die im Vertrag beruht, und die Anerkennung der Würde und des Wertes in jedem Individuum, angesehen als Mensch. Diese Wahrheiten sind allgemeingültig, weil sie an jedem Punkt 17

Vgl. dazu Bollnow, Dilthey, besonders z. Teil II, 6 und Misch in der Einleitung zum V. Band der Ges. Schriften. 6z

Diltheys

der geschichtlichen (VII, 262).

Welt

Historismus

eine Regelung

möglich

machen"

Die „Geschichtlichkeit" selbst erscheint nun nicht ais eine Kategorie neben den anderen, sondern ist gleichsam der Horizont, in dem alle diese historischen Kategorien gelten. Sieben Momente der Geschichtlichkeit lassen sich erkennen und der Deutlichkeit halber (nicht im wirklichen Verfahren Diltheys) voneinander trennen: Geschichtlichkeit bedeutet Bedingtheit / Wirklichkeit / Gemeinschaft / Entwicklung, Bewegung, Tätigkeit / Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit / Repräsentation der Vergangenheit in der Gegenwart / Freiheit und Souveränität.

Bedingtheit Dilthey übernimmt von der Soziologie und dem Positivismus des 19. Jahrhunderts die Auffassung, daß Geschichte jeweils das sei, was den Menschen bedingt, also die Faktoren, von denen er abhängig ist. Audi die gegen die Bedingtheit gerichtete „eigene schöpferische Kraft" des Menschen nennt Dilthey bedingt, aber sie ist doch, wie das folgende Zitat zeigt, nur erst von außen bedingt: „Die allseitige Bedingtheit des Menschen, seine Abhängigkeit von der ihn umgebenden Gesellschaft, seine Geschichtlichkeit, und wie er nun doch unter diesen Umständen nach einer ihm eigenen schöpferischen Kraft sich entfaltet: das ist, was einem Dichter in einem Zeitalter der Naturwissenschaft, der politischen Ökonomie und der Geschichte vorschwebt" (V, 302). Dieser Wortgebrauch ist noch nicht der für Dilthey spezifische, doch eine Bedeutung der Einschränkung behält das Wort Geschichtlichkeit auch noch, wo er es für das Innere des Menschen, für sein Bewußtsein oder Selbstbewußtsein verwendet: „Immer sind Wände da, die uns einschränken. Tumultarische Bemühung, sie ganz loszuwerden, in Feuerbach, Schopenhauer, Nietzsche. Unmöglichkeit hiervon; denn man stößt eben an die Geschidit-

63

Kategoriale Fassung bei Dilthey und York lichkeit des menschlichen Bewußtseins als eine Grundeigenschaft desselben" (VIII, 38). Der Mensch ist unlösbar an seinen historischen Ort gebunden. Selbst der Philosoph muß sein Schaffen „wissen als ein Glied in dem historischen Zusammenhang, in welchem er mit Bewußtsein ein Bedingtes erwirkt" (V, 364). Er kann also seine historische Bedingtheit nicht aufheben, er kann sie nur — das ist die große Leistung der „historischen Vernunft" — sich selbst bewußt machen.

Wirklichkeit und Geprägtheit

durch Geschichte

Die gleiche Funktion der Geschichte, daß sie den Menschen festlegt, hat nicht nur den negativen Aspekt, daß der Mensch unfrei, wie in Mauern in sie eingeschlossen ist, sondern viel häufiger sieht Dilthey die positive Seite: Die Geschichte gibt erst dem Menschen seine volle Wirklichkeit, nur in ihr findet er seine Existenz 18 . Diltheys berühmtes Wort: „Was der Mensch sei, sagt nur die Geschichte 19 ", hat seinen Grund in dieser Realisierungsfunktion der Geschichte. Der Mensch kann sein Wesen, auch seine Möglichkeiten, nur verstehen, wenn sie sich irgendwo manifestiert haben, wenn sie objektiv geworden sind. Hierin liegt zugleich die Begründung für Diltheys Begriff des Verstehens und seine Hermeneutik: „Nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere belehren den Menschen über sich selbst; so lernt er sich nur auf dem Umweg des Verstehens selber kennen 20 ." Zugleich mit dieser hermeneutisdien Grundtatsache spricht er seine persönliche Uberzeugung aus: der Mensch soll auch in die Geschichte sehen und soll möglichst viel Geschichte in sich aufnehmen, um seiner selbst 18

D a s W o r t „ E x i s t e n z " k o m m t bei D i l t h e y schon v o r , aber noch nicht als zentraler Begriff. 19 I V , 5 2 9 ; nicht die Introspektion, V I I , 2 7 9 , nicht die Grübelei und keine psychologischen Experimente, V , 180, s. w e i t e r e Belege bei B o l l n o w , D i l t h e y , S. 1 7 J . 20

V I I , 87, v g l . 1 , 3 2 9 - 3 3 1 .

64

Diltheys

Historismus

bewußt zu werden. Es gibt wohl eine andere Weise der Selbsterkenntnis, aber diese ist gänzlich unfruchtbar: „Denn der Mensch versteht sich selber durch keine Art von Grübelei über sich; aus dieser entspringt nur das große nietzschesche Elend der überspannten Subjektivität: Allein an dem Verständnis der geschichtlichen Wirklichkeit, die er hervorbringt, gelangt er zum Bewußtsein seines Vermögens, im Guten und im Schlimmen 21 ." In einer anderen Formulierung führt er dieses Sich-selbstverstehen nur aus der Geschichte fort zum Selber-leben durch die Geschichtsauffassung. Hier ist die Geschichte zugleich mit der Poesie verknüpft. Diese Stelle ist besonders typisch für Diltheys eigenes Verhältnis zur Geschichte, und ebenfalls typisch für seine Zeit, doch ist sie wiederum als eine generelle Aussage über das menschliche Wesen gegeben: „Und zwar ist der Mensch so geschichtlich durch und durch, daß nicht nur sein Denken, sondern sein Leben selbst nach seinen tiefsten Bezügen nur in dieser Atmosphäre von Poesie, Geschichtsschreibung, Denken über Menschliches atmet, wächst und sich gestaltet. Wir wissen es nicht, ohne darüber nachzudenken: dennoch ist Poesie das Organ der Auffassung der Natur, Verständnis der Menschen, der Art, wie wir in Liebe, Ehe, mit Freunden unser Leben führen; Geschichtsschreibung gibt uns den Standpunkt und die Konzeptionen, mit denen wir in Gesellschaft und Staat, religiös, kirchlich, im Berufsleben wirksam sind 22 ."

Gemeinschaft Wenn Dilthey seinen „geschichtlichen Menschen" noch besonders gegen den „Einzelmenschen" abhebt, so scheint seine Konzeption der Geschichtlichkeit auch soviel wie Gemeinschaft einzuschließen. Freilich gibt es keine Stelle bei Dilthey, an der „ge21

III, 2 1 0 , vgl. über das „schreckende Beispiel" Nietzsche a u s f ü h r licher: I V , 528 f. 22

V, 27$, Anm.

65

Kategoriale Fassung bei Dilthey und York

schichtlich" rein und nur diesen Sinn hätte 23 . Doch ist das einfädle und in jeder namhaften Philosophie anerkannte Faktum, daß der Mensch nicht allein da ist, selbstverständlich immer in Diltheys Begriff der Geschichtlichkeit mitverstanden; ohne dasselbe ist dieser Begriff überhaupt nicht voll zu realisieren. N u r wegen einiger Mißverständnisse späterer Interpreten (Erxleben, s. u.) muß auf diese Komponente noch eigens aufmerksam gemacht werden. Eine geschichtliche Rolle spielt sie eigentlich nur in der Abgrenzung gegen Husserl und seine Geschichtlichkeit des reinen Ich 24 . Tätigkeit Daß der Mensch ein durch und durch geschichtliches Wesen sei, hat noch eine weitere Bedeutung: Er ist erst durch die Geschichte zu dem geworden, was er ist. Seine Geschichtlichkeit bezeichnet gerade das, was er nicht von N a t u r aus ist, sondern erst durch die „Arbeit der Geschichte", d. h. seine eigene Arbeit — „eigene", nicht auf das Individuum, sondern auf die Gattung und den Traditionszusammenhang bezogen — aus sich gemacht hat. „Die geschichtliche N a t u r des Menschen ist seine höhere N a t u r überhaupt." Wir wissen zwar noch nicht, wie „die höheren Leistungen von Selbstbewußtsein, Denken und sittlichem Wollen" aus dem „Zusammenwirken von Elementen und elementaren Prozessen" entspringen, auch nicht, ob sie gänzlich „aus der Zusammensetzung von Elementen und Prozessen" abgeleitet werden können. „Doch, was wir wissen, berechtigt mindestens zu dem Schlüsse, daß der höhere Gehalt, welcher früher als die ursprüngliche Mitgift der Menschennatur angesehen wurde, vielmehr überall in der mühsamen Arbeit der Geschichte erworben wird." Schon der „Kern der Person, dies Höchste in all unserem menschlichen Tun, ein einheitlicher Wille, welcher durch die Eindrücke von außen, durch die Ansammlung von Erfahrungen 23

Gegenüber der späteren völkischen Geschichtlichkeit, s. u. unter „Nationalsozialismus". 24 Vgl. S. 77 f.

66

Diltheys

Historismus

bedingt ist und seinerseits das Handeln bedingt, ist uns nicht mitgegeben, sondern er ist der Erwerb der Arbeit in Sitte und Sprache, in Poesie und Mythos 25 ." An dieser Stelle scheint Dilthey über sein eigenes Forschungsgebiet hinauszugehen in die Vorzeit, in der er nicht mehr historisch forschen, sondern nur noch Überzeugungen aussprechen kann 28 . Dennoch ist diese Überzeugung keine willkürliche, sie ist nur die letzte und darum mit so viel Emphase verkündete Folgerung aus dem, was Dilthey in seiner ganzen historischen Arbeit immer wiederfand: Überall ist der Mensch der Geschichte-Schaffende, der sich selbst Bestimmende und sich selbst Verändernde. Hier findet Dilthey sich einig mit Fichtes „tiefster Intention". Denn in Diltheys Sicht hat Fichte bereits „die Energiebegriffe der geschichtlichen Welt ausgebildet": „In der angestrengten Versenkung des Ich in sich findet es sich nicht als Substanz, Sein, Gegebenheit, sondern als Leben, Tätigkeit, Energie 27 ." Freilich besteht nun ein Widerspruch zwischen der Realisation des Lebens in festen Gestalten, objektiven Gebilden, die nur dadurch fruchtbar werden können, daß sie objektiviert werden, und dem dauernden Weiterschreiten der schaffenden Kraft. Für die Frage der Möglichkeit des Schaffens selbst ist dieser Widerspruch unschwer aufzulösen: In der Formel „Explikation, die zugleich Schaffen ist", haben sowohl Misch als auch Bollnow die beiden feindlichen Kategorien „Kraft" und „Bedeutung" versöhnt gesehen28. Schwieriger wird die Frage nach dem Sinn 25

I V , 560 f. — Dennoch hat D i l t h e y die R e d e v o n der „ N a t u r des Menschen" nicht ganz aufgegeben, s. u. S . 70.

26 V g l . die oben (S. 26 f.) zitierten Belege der gleichen Gebietsüberschreitung bei Hegel und ihrer K o r r e k t u r durch M a r x . 27

V I I , 1 5 7 . — D a ß Diltheys „Leben, Tätigkeit, E n e r g i e " selbst schon

eine Übersetzung der ganz anderen Intentionen Fichtes

(„Setzung"

und „ T a t " ) ist, weist B. Schaidnagl nach (Diss. Berlin 1 9 2 7 , S. 40). 28

Misch: Lebensphilosophie und Phänomenologie, S. 1 6 4 , B o l l n o w :

D i l t h e y , S. 1 3 8 .

67

Kategoriale Fassung bei Dilthey und

York

dieses Sachverhalts — sie hängt mit der Relativismusfrage überhaupt zusammen und ist weiter unten zu diskutieren. Mannigfaltigkeit Vorher ist noch eine andere Konsequenz aus dem Entwicklungsbegriff zu ziehen: Wenn die Geschichte erst die höheren Formen des Menschseins hervorbringt, so bleiben diese auch nicht dieselben, sondern verändern sich weiterhin und treten gegeneinander. Dem „ E r w e r b " des höheren Gehalts „entspricht auch, daß dieser höhere Gehalt nicht allgemeingültig sich in der Menschennatur als stets derselbe ausprägt: er besteht nur in unterschiedenen geschichtlichen Formen" ( I V , 560). D a s sieht D i l they gewöhnlich als Reichtum, als Mannigfaltigkeit des geschichtlichen Lebens. E r bewertet es sehr positiv und sieht in diesem Zug den eigentlichen Gewinn des historischen Studiums. E r hat sich aber nicht nur die positiven Seiten herausgesucht. E r anerkennt auch in der Geschichte den realen Widerspruch der Gehalte. Der Mensch kann nicht alle Gehalte verwirklichen, er ist auf wenige festgelegt. „ D e r Lebenslauf vollzieht an jedem Menschen eine beständige Determination, in welcher die in ihm liegenden Möglichkeiten eingeschränkt werden. D i e Gestaltung seines Wesens bestimmt immer jedem seine Fortentwicklung." Aber „das Verstehen öffnet ihm nun ein weites Reich von Möglichkeiten, die in der Determination seines wirklichen Lebens nicht vorhanden sind" ( V I I , 2 1 5 ) . Es tritt also ein neuer Gegensatz zu dem Aspekt der „Verwirklichung" auf: N u r die eigene Geschichte legt fest, die weitere Geschichte aber läßt Möglichkeiten offen, bietet eigentlich einen Überfluß an Möglichkeiten an. Repräsentation der Vergangenheit in der Gegenwart Eine Bereicherung kann die Verschiedenheit der Gehalte, in denen das „höhere Menschentum" sich manifestiert, nur dadurch sein, daß diese verschiedenen Gehalte in einem Bewußtsein zusammen da sind. Die einzelnen Formen müssen also von ihrer 68

Diltheys

Historismus

jeweiligen historischen Stelle gelöst und in der Gegenwart repräsentiert werden. Die „virtuelle Gegenwart" w a r f ü r Dilthey viel weniger Problem als f ü r den doch noch strenger an den historischen Stoff gebundenen Grafen Yorck. Dilthey setzt sie schon als einen Grundbestandteil seiner geistesgeschichtlichen Methode voraus. Aber ebenso wie Yorck benutzt er sie auch als letzten Ausblick und Sinn seiner historischen Arbeit. „Eine solche vergleichende Betrachtungsweise erhebt den menschlichen Geist über die in seiner Bedingtheit gegründete Zuversicht, in einer dieser Weltanschauungen die Wahrheit selber ergriffen zu haben. Wie die Objektivität des großen Geschichtsschreibers die Ideale der einzelnen Zeiten nicht meistern will, so muß der Philosoph das betrachtende Bewußtsein selber, das sich die Gegenstände unterwirft, geschichtlich-vergleichend auffassen und sonach über ihnen allen seinen Standpunkt einnehmen. Dann vollendet sich in ihm die Geschichtlichkeit des Bewußtseins" (V, 380).

Freiheit Gerade durch die geschichtliche Vergleidiung wird das geschichtliche Bewußtsein nun „ f r e i " gegenüber der Vergangenheit. Diese Freiheit besagt noch nicht gleich, daß das Bewußtsein die geschichtlichen Bedingungen, unter denen es wie alles Menschliche steht, aufhebt — diese Deutung würde Diltheys ganzem Ergebnis widersprechen. Es bleibt an seinen historischen Ort, an die historischen Tatsachen, ihre Realität und ihre Kontinuität gebunden. Aber es ist frei von allen unhistorischen, dogmatischen Setzungen und verfügt in freier Wahl über eine reiche Vergangenheit von Formen und Anschauungen. In dieser Souveränität hat Dilthey die höchste uns erreichbare Freiheit gesehen. Weil er die Relativität jedes in der bisherigen Geschichte verkündeten Glaubens durchschaute, glaubte Dilthey von allem Glauben frei zu sein: „Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaft6 Bauer

69

Kategoriale Fassung bei Dilthey und

York

liehen Zustandes, von der Relativität jeder A r t von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe; der Geist wird souverän allen Spinnweben dogmatischen Denkens gegenüber. Jede Schönheit, jede Heiligkeit, jedes Opfer, nacherlebt und ausgelegt, eröffnet Perspektiven, die eine Realität aufschließen. Und ebenso nehmen wir dann das Schlechte, das Furchtbare, das Häßliche in uns auf als eine Stelle einnehmend in der Welt, als eine Realität in sich schließend, die im Weltzusammenhang gerechtfertigt sein muß. Etwas, was nicht weggetäuscht werden kann. Und der Realität gegenüber macht sich die Kontinuität der schaffenden K r a f t als die kernhafte historische Tatsache geltend" ( V I I , 290 f.). Ein ganz konkretes Beispiel dieser Befreiung durch das historische Bewußtsein gibt er f ü r sein Lieblingsgebiet, die Dichtung, an: „ D i e moderne Poetik leistet der Poesie der Gegenwart einen weiteren Dienst, indem sie die geschichtliche N a t u r der Technik erkennt und so den heutigen Poeten mit den aus der N a t u r des Menschen fließenden Regeln und den in geschichtlicher Arbeit erworbenen Kunstgriffen bekannt macht, dagegen ihn von den Fesseln ererbter Formen und Regeln befreit 2 9 ." Dilthey ist also kein radikaler Historist. E r läßt noch, wie das letzte Zitat zeigt, „die N a t u r des Menschen" gelten, aus der sogar bestimmte Regeln sich von selbst ergeben sollen.

Relativismus Dilthey begnügte sich nie mit der bloßen Geschichte. E r gewann der Geschichte Theorien ab, die den alten Anforderungen der Allgemeingültigkeit und Objektivität genugtun sollten. E r 28

Die Einbildungskraft des Dichters, in Philos. Aufsätze für E. Zeller, 1887, S. 478.

70

Diltheys Historismus stellt seine ganze Arbeit nachträglich (in seiner Rede zum 70. Geburtstag) unter das Problem des Relativismus: „Die geschichtliche Weltanschauung ist die Befreierin des menschlichen Geistes von der letzten Kette, die Naturwissenschaft und Philosophie noch nicht zerrissen haben — aber wo sind die Mittel, die Anarchie der Überzeugungen, die hereinzubrechen droht, zu überwinden?" (V, 9). Seine systematischen Arbeiten sollten diese Frage f ü r die verschiedenen Gebiete beantworten. Seine Hermeneutik hatte „gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch [zu] begründen" (V, 3 3 1 ) . Seine Ethik sollte aus der „großen Unruhe" und „Unsicherheit" seiner Zeit wieder auf die „allgemeinen und beständig wirkenden Triebfedern des sittlichen Lebens" zurückführen. Hier begründet er sogar etwas, was er nur paradox als „geschichtliches Naturrecht" bezeichnen kann 30 . N u r in der Weltanschauungslehre, seinem obersten Problem, kommt er nicht zu bestimmten allgemeingültigen Sätzen, sondern nur zu einer Typologie der Weltanschauungen. In dieser Gegenüberstellung von Ethik und Weltanschauung läßt sich einmal der „Relativismus" Diltheys erfassen: Für die Ethik braucht er eine strenge Notwendigkeit. Sie soll nur insofern geschichtlich sein, als sie nicht wie das alte Naturrecht dem geschichtlichen Leben von außen auferlegt wird, sondern aus der Geschichte und der Einsicht in die geschichtliche Menschennatur selbst stammt. Für die Weltanschauung aber verlangt er vor allem Freiheit. E r sieht viele Möglichkeiten nebeneinander, von denen alle „groß" oder „überzeugend" sind. Er sieht zwar auch die Widersprüche zwischen ihnen, aber sie müssen auf diesem Gebiet nicht so unbedingt entschieden werden. Theoretische

Lebenshaltung

Dilthey ist insofern Relativist, als die Geschichte im Sinne der vielen, anschaulichen, untereinander gleichberechtigten Bilder 30

6*

X, 14, 92 ff., 103. 71

¡Categoriale Fassung bei Dilthey

und

York

(von der Welt oder ihrem Sinn) den Vorrang über die Geschichte als persönliche feste Verpflichtung hat. Er lebte noch in einer Zeit, in der nicht das ganze Leben unter dem „Gebot der Tat" stand. Die theoria war für ihn der oberste Wert des Lebens. Man kann von Dilthey feststellen, daß er schon (genau wie später Heidegger) „die Geschichte auf die Geschichtlichkeit des Menschen begründet", d. h. das geschichtliche Wesen als Bedindung jedes betrachtenden Verhaltens zur Geschichte definiert: „Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen" (VII, 278). Aber das „Geschichtliche-Wesen-Sein" hat bei ihm noch nicht die aktive Färbung von „Geschichte machen" oder „seine Geschichte wählen" — er umschreibt es hier als „in die Geschichte verwebt sein" (VII, 277). Und vor allem: So sehr er in diesem Zusammenhang die Geschichtlichkeit des menschlichen Wesens betont, so bleibt doch das Geschichte-betrachten ganz undiskutiert als der zweite Schritt des Bedingungsverhältnisses, also wiederum als das Höhere oder gar als das Ziel stehen.

72

Bereicherungen und Verengung zwischen Dilthey und Heidegger V O R B E M E R K U N G ÜBER DIE B E G R I F F S E N T W I C K L U N G SEIT DILTHEY Bis zum Beginn der 30er Jahre ließe sich die Geschichte unseres Begriffs ohne große Mühe nur an den Nachwirkungen und Umdeutungen von Diltheys Gedanken verfolgen. Es ist erstaunlich, wie völlig verschiedene Denker und Systembauer in den 20er Jahren sich auf Dilthey berufen und seinem Werk „dienen" oder es weiterführen wollen: Schüler wie Misch, Spranger, Nohl, Litt, Ortega, Antipoden: Hartmann, Frey er, Heidegger, „Neutrale" wie Scheler, Plessner. Bei dieser Rezeption von Diltheys Gedanken wirkt sich aber auch die besondere Eigenart seines Werkes aus: Es war recht uneinheitlich und die Resultate nie sehr fest, die verschiedenen Elemente seines Denkens nie zu einer eindeutigen „Gestalt" vereinigt. Nur selten nehmen die Nachfolger zusammen mit Diltheys Werk auch seine historischen Intentionen auf und führen sie weiter (so vor allem Misch und Rothacker). Die meisten deuten seine Begriffe, voran den Begriff der Geschichtlichkeit, in ihre eigenen Systeme und Überzeugungen um, die dann jeweils Diltheys „wahre" Intentionen erst erfüllen sollen. Der Einfluß Diltheys ist darum kein geeignetes Gliederungsprinzip. (Er ist nur jeweils, sofern das überhaupt noch nötig ist, anzumerken.) Statt dessen sind jetzt die neuen Ideen, die zur Umdeutung von Diltheys „Geschichtlichkeit" führten, je für sich zu verfolgen. Denn seit dem ersten Weltkrieg treten viele neue Begriffe auf, die ebenfalls als „Geschichtlichkeit" bezeichnet oder unter den 73

Zwischen Dilthey

und

Heidegger

Oberbegriff „Geschichtlichkeit" subsumiert werden, die aber oft mit Diltheys Begriff nur noch nominell verwandt sind. Diese neuen Motive stellen sich in so verschiedenen Konstellationen zusammen und gegeneinander, daß in den folgenden Kapiteln nur noch wenige Konzeptionen der Geschichtlichkeit, die nun immer häufiger werden, ganz in sich dargestellt werden können. Durchweg müssen einzelne, oft sogar abgebrochene Züge von einem ganzen Bild der Geschichtlichkeit als Beispiele für die großen Richtungen in dem modernen Begriff überhaupt dienen. Zumal in diesem Kapitel kommt es mir nur auf diese Richtungen an: Ich möchte diejenigen neuen Motive untersuchen, die Diltheys lebensphilosophischen Begriff „Geschichtlichkeit" bis zu seinem ganz neuen Gebrauch bei Heidegger alterierten. Wenn diese Grundideen hier „neu" genannt werden, soll damit nicht behauptet werden, sie seien zu Beginn unseres Jahrhunderts zum ersten Mal aufgetreten. Alle lassen sich schon im 19. Jahrhundert belegen, und zum Teil haben sie sogar lange Traditionen. „Neu" aber sind sie insofern, als sie seit dem Anfang dieses Jahrhunderts oder seit dem ersten Weltkrieg mit einer vorher noch nicht dagewesenen Radikalität zu Prinzipien erhoben wurden, sogar zu moralischen oder politischen Schlagwörtern wurden und plötzlich ins Zentrum der ganzen Philosophie (oder Geschichtsdeutung oder Weltanschauung) rückten. Wenn die Spezialisierung den Geist der Moderne bestimmt und wenn „Spezialisierung" auch ein inneres Sich-beschränken oder Sich-versteifen, nicht nur äußerliche Abgrenzung bedeutet, dann ist in diesem Weltanschauungskampf vor allem der zwanziger Jahre ein ganz moderner Zug ausgeprägt: Man begnügt sich mit einem, möglichst großartigen, Prinzip oder mit der einen Seite eines allumfassenden Gegensatzpaares. Man belegt die Größe und Wirksamkeit dieses Prinzips mit den meist wenigen Beispielen, aus denen es vorher erst gewonnen wurde, und läßt darüber die ganze Welt mit ihren unendlich vielen anderen Unterschieden in zwei große und schon in kurzer Ferne nebel74

Vorbemerkung haft verschwimmende Blöcke auseinandertreten. — Ungenauigkeit tritt freilich nicht erst in der Philosophie des 20. Jahrhunderts a u f 1 . Aber das Absehen vom Ganzen und die Selbstbescheidung mit einem einzigen Prinzip, das dann jeweils „das Wesentliche" enthalten soll, ist typisch für die Philosophie seit dem zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. „ N e u " ist auch die große Resonanz dieser Ideen in allen Literatur- und Kunstkreisen und in deren Publikum, in fast der gesamten jungen und einem großen Teil der mittleren Generation der zwanziger Jahre. B. E. Werner spricht von einem „neuen epochalen Bewußtsein" und bestimmt es näher als „das Erlebnis der Zeitlichkeit": Die Wichtigkeit der Zeit und die Veränderlichkeit aller Zustände wird allgemein bewußt. Die Einsichten, daß das Geschehen vom Menschen aus gemacht wird und daß es dabei auf sein Glück ankommt, werden nun erst wahre Gemeinplätze. Was im 19. Jahrhundert nur einzelne, verkannte Geister geahnt haben, das sehen oder glauben jetzt alle 2 . Die weite Resonanz dieser Einsichten und die durchweg populäre Form, in der sie diskutiert werden, verstärken noch ihre Verengung zu einseitigen Prinzipien. Hatte der Mensch schon seit geraumer Zeit in der ganzen geschichtlichen Welt und allen früheren Überwelten immer nur sich selbst wiedergefunden, so wird jetzt dasjenige, was er da findet, noch auf seinen bloßen Kern zurückgeführt, der historischen Mannigfaltigkeit weitgehend entkleidet und tatsächlich als „ich selbst" oder „ebenso wie ich" verstanden. Die neue Vielfalt von Systemen in dieser Zeit, auch die Fülle von neuen Konzeptionen der „Geschichtlichkeit", ist nur z. T. geschichtliche Vielfalt, auf verschiedenen Traditionen beruhend, zum größeren Teil aber entsteht sie aus einem bewußten Absehen von der geschichtlichen Bedingtheit: 1

Vgl. das scharfe Urteil über die Ungenauigkeit der ganzen nachhegelschen Philosophie in Löwiths „Von Hegel bis Nietzsche". 2 B. E. Werner: Literatur und Theater in den Zwanziger Jahren, in: Die Zeit ohne Eigenschaften, hg. L. Reinisch, 1961, S. 55—57; vgl. auch die anderen in diesem Band vereinigten Referate. 75

Zwischen Dilthey

und

Heidegger

Jeder dieser neuen Grundleger kann von sich aus, indem er elementar und konsequent denkt, schon die Prinzipien aller Geschichte auffinden. „Geschichtlichkeit", so vielerlei Verschiedenes sie auch bedeutet, impliziert nun meist diese Beschränkung auf sich selbst und soll eben diese Beschränkung rechtfertigen. Die zeitliche Einteilung ist in den folgenden Kapiteln nur provisorisch, denn die Zuordnung der einzelnen Aspekte der Geschichtlichkeit zu einzelnen Jahren oder Jahrzehnten ist mir nicht gelungen. Die verschiedenen Ideen oder Impulse laufen oft jahrelang nebeneinander her oder behaupten sich gegeneinander, ohne daß sich sicher bestimmen ließe, welche jeweils nach ihrer Überzeugungskraft, nach der Anhängerzahl, nach dem Widerhall im Zeitbewußtsein überwiegt. Doch wenigstens zwei große Einschnitte gibt die Geschichte selber zu erkennen: Von 1927 an (nach dem Erscheinen von „Sein und Zeit") läßt sich ein starkes Anschwellen der Literatur über die Geschichtlichkeit feststellen. Auch das Wort selbst wird jetzt geläufig. Es wird Schlagwort etwa ab 1930, wird dann von der politischen Bewegung dieser Zeit aufgegriffen und in ihre Richtung eingespannt. Die Neubesinnung seit 1945 erfaßt dann auch unseren Begriff. Sie hat zunächst die Folge, daß er nochmals verallgemeinert und noch weiter als bisher popularisiert wird. Nur innerhalb der Wissenschaft führt die allzuweite Ausdehnung seiner Bedeutung wieder zu einer Restriktion oder zur gänzlichen Verwerfung des Begriffs.

DIE

PHÄNOMOLOGIE

Wenn auch dieses Kapitel nur „Ideen" und keine Philosophen und „Schulen" darstellen soll, so muß doch wenigstens eine Schule und Methode noch für sich erwähnt werden, weil sie im folgenden oft ein gleichberechtigter oder konkurrierender Faktor neben den diltheyschen Nachwirkungen wurde. Es ist die einzige große geisteswissenschaftliche Methode, die in unserem Jahrhundert

76

Die Phänomologie ausgebildet wurde, die phänomenologische8. Nach Plessners Würdigung4 war der positive Ertrag der Husserlschen Methode vor allem eine Schärfung des Blicks, die später auch der historischen Eigenart zugute kam: „Die Schärfung des Sinnes für Wesensstrukturen, für Urformen, Sinneinheiten und Strukturzusammenhänge, die Freude an der Unauflöslichkeit einer Person, einer Epoche, die Achtung vor Intentionen, die den unsrigen fremd sind: mit einem Wort die Zurückdrängung kausal analysierender zugunsten wesenstypisch, ,morphologisch' beschreibender, verstehender Haltung ist, wenn nicht der Phänomenologie zu danken, doch nur durch das phänomenologische Prinzip zu rechtfertigen gewesen 5 ." Scheler aber verspricht sich sdion an ihrem Anfang von der neuen Methode und auf ihrem Boden „erst die volle Nutzung auch der großen Antriebe, die Nietzsche, Dilthey und Bergson unserem Denken erteilt haben" (III, 339).

Husserls „Intentionalität" Bei Husserl selbst ist die phänomenologische Methode noch nicht auf historische Inhalte gerichtet. Er untersucht das Bewußtsein, sein Verhältnis zur Zeit und seine Inhalte („Wesensformen"). Man kann zwar nachträglich ein ganzes System der 3

In einer Untersuchung der Entwicklung von Geschichtskategorien und von philosophischen Ansichten zur Geschichte im Ganzen müßten ebenfalls die Schulen des Neukantianismus, besonders die Badener, und weiterhin die Hegel-Renaissance (seit 1910) eine führende Rolle spielen. A n der Herausarbeitung der Geschichtlichkeit selbst (außer in dem rein technischen Sinne als „Wesen der Geschichte") sind sie jedoch, soweit ich sehe, nicht führend beteiligt. Ihr Beitrag liegt vielmehr in der Kritik („Entlarvung") und philosophischen Zurechtweisung der neuen Prinzipien. Typisch dafür ist Rickerts „Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit." 1920. 4 Pleßner selbst verdankte der Phänomenologie viel, obwohl er sich sträubte, Phänomenologe genannt zu werden; vgl. das Vorwort zu: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928. 5 Zwischen Philosophie und Gesellschaft, S. 57.

77

Zwischen Dilthey

und

Heidegger

Geschichtlichkeit aus seinen Analysen herauskonstruieren 6 . Doch Husserl selbst untersucht als Geschichtlichkeit noch nicht das Problem der intersubjektiven Gemeinschaft, sondern allein den Erlebnisstrom im monadischen (zunächst solipsistischen) Ego7. Seine grundlegende Entdeckung, die „Intentionalität" des menschlichen Bewußtseins, bildet in späteren (vor allem existenzialistischen) Theorien, den wichtigsten Zug dessen, was dann „Geschichtlichkeit" genannt wird. Doch in seinem eigenen Gedankenbau hat sie noch nicht diese Zuspitzung, ist mehr auf Logik und Erkenntnistheorie als auf die „Existenz" bezogen. Eine „Geschichte" kann es bei Husserl nur innerhalb des Ichs geben: Die Erlebnisse des Ich sind selbst so etwas wie „sedimentierte Geschichte". Alles Außen jedoch und aller Austausch mit dem Außen wird ferngehalten oder „reduziert". Der Mensch muß gerade zum reinen Ich „entweltlicht" werden. In seinen letzten Jahren wandte sich Husserl freilich auch der Geschichte als Kultur und als intersubjektivem Geschehen zu 8 . Aber auch dann sah er noch die einzige Lösung und das einzige Ziel im Bei-sich-selbst-sein des Geistes, der sich von den „äußeren" Dingen gelöst hat: „Nur wenn der Geist aus seiner naiven Außenwendung zu sich selbst zurückkehrt und rein bei sich selbst bleibt, kann er sich genügen 9 ." Hatte Husserl die Geschichtlichkeit erst in ihrem subjektivsten Kern, dem Zeitbewußtsein des Subjekts, anerkannt, so wurde von der folgenden Phänomenologie doch immer stärker auch die historische Wirklichkeit, d. h. die Verschiedenheit der menschlichen Lebensformen und in geringerem Maße auch die 6

s. S. K o h n , Untersuchungen des Phänomens der Geschichtlichkeit

auf der G r u n d l a g e der Forschungen E . Husserls, Diss. F r e i b u r g 1 9 5 6 . 7

K o h n a. a. O . S. 1 5 — 1 8 .

8

S. den V o r t r a g „Philosophie in der Krisis der europäischen Mensch-

h e i t " , in Husserliana V I . S. auch die Andeutungen, die Misch schon 1930

mitteilt

(Lebensphilosophie

und

Phänomenologie,

ganz abgedruckt bei: A . Diemer, E . Husserl, 1 9 5 6 , S . 394. 9

Husserliana V I , S. 3 4 5 f.

78

S. 2 1 5 ff.),

Die

Phanomologie

Gesellschaftlidikeit berücksichtigt. Auf sie ließ sich die phäno menologische Methode nicht so „rein" anwenden, sie leistete mehr Widerstand gegen die „ideierende Abstraktion" und entzog sich ihr überhaupt in vielen Fällen. Doch findet hier die Phänomenologie überhaupt erst ihre wichtigste Anwendung. Und, ganz abgesehen von der Bewertungsfrage, scheint mir wenigstens die Tatsache, daß die Phänomenologen selbst immer stärker historisch arbeiteten, ganz unzweifelhaft — wenn man z. B. die in Husserls Jahrbuch vereinigten Arbeiten als repräsentativ f ü r die Entwicklung „der Phänomenologie" nehmen kann 1 0 .

Schelers

„Relativität"

Scheler nimmt eine zentrale Stellung im Ausgleich zwischen der Phänomenologie und dem Historismus ein. E r blieb seiner Überzeugung nach immer Phänomenologe. E r glaubte, daß wir „reine" Formen und in der Ethik „ w a h r e " Werte erkennen können. E r hatte aber zugleich einen scharfen Blick f ü r die Verschiedenheit in allen geschichtlichen Ausprägungen dieser seiner „Wesensformen", und er teilte die historistische Begeisterung f ü r die Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Formen. Dadurch steht er in einem dauernden K a m p f mit dem Relativismus: E r will ihn nicht ablehnen oder „überwinden", sondern will ihm seinen rechten Platz und dort eine sinnvolle Funktion anweisen. Diese Lösung ist am ausführlichsten dargestellt in seiner großen Untersuchung „ D e r Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik 1 1 ." Scheler will in diesem Buch nicht nur eine „ E t h i k " schreiben und auch nicht nur den ethischen Formalismus „korrigieren", sondern zugleich den wesentlichen K e r n aller Geschichte untersuchen, nämlich „die innere Geschichte des Ethos selbst, diese zentralste Geschichte in aller Geschichte" ( 3 1 8 ) . 10 Vgl. etwa die vorwiegend „historischen" Bände I X , X , X I mit den Anfängen, Bd. I bis IV. 11

Zuerst im Jb. 1 9 1 3 und 16, jetzt in Ges. Werke Bd. II.

79

Zwischen Dilthey

und

Heidegger

Unter Ethos versteht er „das Fühlen [oder ,Erkennen'] der Werte selbst, die Struktur des Vorziehens von Werten und das Lieben und Hassen" (312). Es nimmt eine Mittelstellung ein zwischen der Ethik — dem bewußten oder unbewußten Urteil über die Werte — und der praktischen Moralität (318). Es steht zugleich hinter beiden bzw. liegt ihnen zugrunde, denn es bildet in der Geschichte die großen typischen Formen aus, die sowohl das ethische Urteil als das praktische Verhalten bestimmen (315). Diese „wesenhafte Geschichtlichkeit, die schon das Ethos selbst als Erlebnisform der Werte und ihrer Rangordnung besitzt", macht er geltend 1. gegen die formale absolute Ethik ( = Kants Ethik, die Hauptgegnerin und wichtigste Grundlage seines Buches), 2. gegen den Relativismus (freilich einen noch sehr unentwickelten Relativismus, der „die Werte selbst für bloße Symbole für die in seinem Kulturkreis herrschenden Wertsdiätzungen . . . hält und sich nun die gesamte Geschichte als bloße wachsende technische Anpassung an die so faktisch absolut gesetzten Werte seines Zeitalters, und somit als Fortschritt' auf sie hin willkürlich konstruiert", 3 1 7 f.). Sdieler will nun durch die sachliche Einordnung der „Relativität" des Ethos allem „Relativismus" die Spitze abbrechen. E r sieht zwischen seiner „radikalen Relativität" der sittlichen Wertschätzungen und der Annahme einer absoluten oder objektiven Wertordnung gar keinen Widerspruch. „Gerade die recht verstandene absolute Ethik ist es, die diese Verschiedenheit, jene emotionalen Wertperspektiven der Zeit- und Volkseinheiten und jene prinzipielle Unabgeschlossenheit der Bildungsstufe des Ethos selbst geradezu gebieterisch fordert." Hier ist jedoch eine Inkonsequenz in seiner Ausdrucksweise (und vielleicht schon seiner Vorstellung) zu bemerken, die sein ganzes System zweifelhaft macht. Innerhalb der Geschichte treten immer nur wieder „andere" Werte auf, die durch historischen Vergleich und durch ethisdie Besinnung als „höher" oder „niedriger" eingestuft werden können. „Die Erneuerung und das Wachstum des Ethos" erschließen „höhere" Werte (besonders durch die „Bewegung der Liebe", 318 f.). Und 80

Die

Phänomologie

umgekehrt schließt die Geschichte des Ethos auch Wert- und Vorzugstäuschungen ein (320). Diese Entdeckungen von höheren Werten in der Geschichte werden aber gleichzeitig „eine Erschließung des Reiches der objektiven Werte und ihrer Ordnung" genannt. Und die ethischen Beurteilungsformen und Maßstäbe sind dann den objektiven Wertrangordnungen nicht nur mehr oder weniger, sondern ganz oder gar nicht „angemessen" (3"). Also ist innerhalb von Schelers System der Weg von dem vorgestellten objektiven Wertreich zur Historie ganz leicht zu finden: Selbstverständlich werden die wahren Werte in der geschichtlichen Wirklichkeit besondert und modifiziert12. Von der Historie aber führt zu jenem Wertreich kein gangbarer Weg, sondern nur ein Gedankensprung: Das immer nur Komparative des historischen Urteils wird plötzlich zu etwas Absolutem in Beziehung gesetzt, es soll sogar dieses Absolute selbst ausdrücken und sein. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, daß Schelers Absolutes nicht, wie in der Pflichtethik Kants, im autonomen Individuum selbst, also schon in der kleinsten Einheit aller Geschichte liegt, sondern in einem platonischen Reich über den Individuen besteht. Gleichermaßen liegt auch die ethische Spannung nicht im Subjekt. Erst zwischen verschiedenen Zeiten und ihrem verschiedenen Ethos kann eine Spannung und dadurch auch eine historische Dynamik auftreten. Das Subjekt dagegen ist beinahe statisch, es hat nicht „das Gute" vor sich, sondern verschiedene (persönlich modifizierte) Werte in sich13. 12

Genau so einfach stellt sich der W e g auch in der Religion dar: D e r „ S a t z v o n der notwendigen Geschichtlichkeit der Gotteserkenntnis" besagt: „ D e r steigend volle und reine Sinn des nur per analogiam gültigen Satzes , G o t t ist G o t t ' kann sich nur im geschichtlichen Wachstum des v e r n ü n f t i g e n Geistes an den ja nie wiederkehrenden Konstellationen der W e l t erschließen." ( I V , 206). 13 S. die ganze Gegenüberstellung in I. Heidemanns Diss.: suchungen zur K a n t - K r i t i k M a x Schelers, K ö l n 1 9 5 j .

Unter-

81

Zwischen

Dilthey

und

Heidegger

„Geschichtlichkeit" f a ß t Sdieler also in einem sehr großen Maßstab auf: als die Veränderung des grundlegenden Gefühls der Epochen und Gruppen. Bis zuletzt interessiert ihn die Frage in dieser überindividuellen Stellung: „Was ändert nicht nur die jeweilige Moralität der Gruppen — gemessen an dem gegebenen Ethos —, sondern das Ethos selbst, das je innerlich wirksame (darum nicht notwendig bewußte) Maßsystem jeder Moralität und Immoralität 1 4 ?" Die späte Antwort darauf ist ebenfalls aus der Geschichte gegeben. Er deutet ein prinzipielles, faktisch nachweisbares Ursprungsgesetz dieser Idealbildung an: „Es ist der Wechsel des je als vorbildlich geltenden und darum erst zur Führung und Leitung gelangenden Menschentypus, der zum Wechsel der sachlichen Idealbildungen allererst hinführt — ein Wechsel, der erst seinerseits wieder den Wechsel der Spielräume der möglichen Geschichte je bestimmt" (ibd.). — Dieses Ergebnis führt aber in einen viel späteren Zusammenhang. Vorher muß erst die Entstehung der neuen Ideen verfolgt werden — an denen Scheler durchaus mitwirkte, denen gegenüber er aber wie ein Statthalter der älteren Prinzipien wirkte. DAS „ P R I N Z I P DES

UNVOLLENDBAR"

Was unterscheidet die vielfachen Untersuchungen und Dogmatiken, die den Begriff der Geschichtlichkeit involvieren oder umschreiben, vom zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts an von allen früheren Ansätzen, auch noch von Diltheys fragmentarischem System? Es ist vor allem: das starke Grenzbewußtsein, das Bestehen auf der Vorläufigkeit und Unfertigkeit aller Aussagen, der nicht nur offene, sondern „stets unabschließbare" Horizont, die Dialektik, die Widersprüchlichkeit, die bewußt erkannte und bejahte Unvollkommenheit. Dieses Prinzip des „Unvollendbar" und sein Einfluß auf den jetzt ganz neu gefaßten Begriff Geschichtlichkeit soll in diesem Abschnitt untersucht werden, in den folgenden Abschnitten aber die Verflechtung 14

Vorbilder und Führer, im Nachlaß, X, 320 f. 82

Das „Prinzip des Unvollendbar" dieses Prinzips mit dem Voluntarismus, dem Lebensbegriff, der Gestaltlehre und der Morphologie sowie seine A u s p r ä g u n g in den neuen Schlagwörtern: Entscheidung, Person und Zeitlichkeit. Dieser Abschnitt ist also nur eine vorläufige Skizze des neuen Geistes unseres Jahrhunderts und kann erst durch die folgenden historisch und philosophisch verifiziert werden. D a s Prinzip des U n v o l l e n d b a r läßt sich in deutlichen Linien bis in die Diskussionen nach Hegels T o d zurückverfolgen, und es w a r ein H a u p t m o m e n t schon in den damaligen Erfassungen der Geschichtlichkeit 15 . Während es aber im 1 9 . J a h r h u n d e r t v o r wiegend positiv ausgelegt, nämlich mit der Entwicklungslehre verbunden und so als G a r a n t des Fortschrittsglaubens angesehen wurde, bekommt es in unserem Jahrhundert eine negative F ä r bung. Es w i r d ein P r i n z i p der Zurückhaltung und des Widerstandes gegen den G o t t Fortschritt selbst. Gleichwohl w i r d es nicht allzu pessimistisch gedeutet (die Pessimisten sind noch immer eine kleine Minderheit). D i e negativen Aussagen über das Leben und die Wissenschaft, also „Bedrohtheit" und „ U n vollendung", werden sogar Schlagwörter mit positivem Sinn. Sie repräsentieren die neue frappierende Einsicht unserer Z e i t und eine A b w e h r aller großen Synthesen. D e r Protest gegen den Fortschritt ist also nicht mehr still und zurückgezogen — in diesem Sinne haben ihn auch schon im 19. Jahrhundert p r i v a t e und kontemplative Geister w i e K i e r k e g a a r d und Burckhardt f ü r ihren kleinen Kreis vertreten —, sondern er w i r d öffentlich, kommt selbst an die Tagesordnung und durchdringt alle G e biete mit Skeptizismus und Vorsicht. Nietzsches und Diltheys Erbe w i r d jetzt, in seinen einfachsten Grundgedanken, Allgemeingut der Zeit. So bestimmt J . G o l d Stein im J a h r e v o n Diltheys T o d den C h a r a k t e r der „neuen" Philosophie mit dem G r u n d b e g r i f f e der U n f e r t i g k e i t : sie findet überall „eine noch unfertige, in ihren Schicksalen noch nicht f ü r immer bestimmte Welt, in der daher auch das Entstehen v o n 15

Rüge und Kierkegaard, s. o.

83

Zwischen Dilthey und Heidegger etwas wirklich Neuem möglich ist" 1 8 . Er bezieht sich dabei vor allem auf James, Bergson und Eucken, sieht aber auch die Grundlage dieser Erkenntnis der Wandelbarkeit: Nietzsche. Eucken selbst versuchte im Jahre 1896 noch, diese Unfertigkeit einzuschränken, und mußte dazu den Menschen gewissermaßen einteilen: „Der Mensch aber ist ein ungeschichtliches Wesen der bloßen Natur nach, ein übergeschichtliches im Kerne seiner Geistigkeit, ein geschichtliches nur in der Unfertigkeit seines Geisteslebens und in dem Ringen nach seiner Vervollkommnung" 1 7 . Mehr und mehr aber erweist sich der geschichtliche Charakter des Menschen, eben sein unabschließbares Ringen, als sein wirkliches Wesen, das auch noch den „Kern seiner Geistigkeit" bestimmt. Also wird schon vor dem ersten Weltkrieg das neue Prinzip des Unvollendbar deutlich gesehen und auch schon weitgehend diskutiert. Nur wird es noch meist wieder beschwichtigt, es darf keine direkten skeptizistischen Konsequenzen haben. Im Krieg wurde es überspielt von einem ungeahnten Aufkommen des Nationalismus, der wieder direkte, ausführbare, „heilige" A u f gaben setzte und mit ihnen auch die Geisteswissenschaftler (nahezu ohne Ausnahme) völlig beschäftigte 18 . Die Erfahrung des Krieges kam dann aber wieder der genaueren Herausarbeitung der Unvollendbarkeit aller menschlichen Planungen zugute: im Krieg und vor allem in seinem Ende war der reale Widerstand der „Welt" oder der „Anderen" erfahren, der alle eigenen Pläne abbiegt oder durchkreuzt. Die Dialektik blüht wieder auf, in verschiedenen Formen, aber immer als Dialektik „der Sachen selbst" verstanden. Der Kampfcharakter des Daseins 18

Wandlungen in der Philosophie der G e g e n w a r t , 1 9 1 1 , S. 1 6 9 .

17

D e r K a m p f um einen geistigen Lebensinhalt, 1 8 9 6 , S. 1 8 2 .

18

In einem anderen Sinne freilich schärfte der Krieg selbst den Sinn f ü r die Geschichtlichkeit ganz ungeheuer: D e r Geschehenscharakter w u r d e allen wieder bewußt, nachdem „die Geschichte" v o r h e r etwas stagnierend gewesen w a r und beinahe statisch aufgefaßt w u r d e (s. Simmel und unten, S . 109). 84

Das „Prinzip des

Unvollendbar"

wird jetzt als die eigentliche Ursache erkannt, weshalb das Dasein niemals vollendet werden kann oder jede Vollendung wieder überschreitet. Schon Simmel hatte die Schachspielhaftigkeit des Lebens, als einen schönen Kompromiß zwischen der radikalen Dialektik und der absoluten Planung, ausgesprochen: Das Spiel wäre unmöglich, wenn ich nicht einige Züge „voraussehen" könnte. Es wäre aber ebenso unmöglich, wenn ich alle Züge voraussehen könnte 19 . Der Schachweltmeister E. Lasker schreibt dann nach dem Krieg ( 1 9 1 9 ) eine „Machologie", in der er den Kampf zu dem Grundelement aller. Wirklichkeit erklärt und die er „Die Philosophie des Unvollendbar" überschreibt. Die radikalste Bewegung des Anti-Idealismus ist in dieser Zeit die „Dialektische Theologie" 2 0 . Nach ihr ist das Menschenleben völlig offen und unvollkommen. Sein Sinn kann nicht und darf auch gar nicht vom Menschen selbst gefunden werden. Alles eigenmächtige Tun des Menschen, besonders seine „Kultur" und auch seine „Religion", sind Verblendung, der Mensch muß sich ganz dem Fremden ausliefern. „Offen zu bleiben" ist die einzige Möglichkeit, das Unfaßbare zu fassen 21 . Dieses Gegenüber, das alle menschlichen Entscheidungen ungültig macht oder revidiert, ist f ü r Barth einfach Gottes Autorität in seinem Gebot und Gericht 22 . Bei Brunner ist das Gegenüber (wie schon bei Kierkegaard) als ein anderes U f e r vorgestellt, auf das der Glaube hinüberzuspringen hat. Jeder Weg und jede Vermittlung ist eine Illusion 23 . Gogarten aber erkennt das Gegenüber von Anfang an im anderen Menschen und seinem Anspruch an .mich. Die Geschichte wird dementsprechend der „Ort der Entscheidung", „ein wirkliches, existenzielles, ein für allemal entscheidendes 19 Es w a r mir leider nicht möglich, diese interessante und schon alte Vorstellung v o m Lebensschachspiel noch weiter z u r ü c k z u v e r f o l g e n . 20 A u f den Beitrag der Theologie z u m P r o b l e m der Geschichtlichkeit kann erst unten näher eingegangen werden, s. S. 1 0 7 f. 21 G o g a r t e n : V o n Glauben und O f f e n b a r u n g , 1 9 2 3 , 1. V o r t r a g . 22 S. v o r allem seine f r ü h e n A u f s ä t z e , v e r ö f f . 1924 und 1928. 23 Erlebnis, E r k e n n t n i s und Glaube, 1 9 2 1 .

7 Bauer

85

Zwischen

Dilthey

und

Heidegger

und irreparables Geschehen" 24 . Wenn Gogarten „das Bewußtsein für die Geschichtlichkeit unseres Menschseins wecken" will 2 5 , so meint er positiv, daß es dem Menschen auf seine Geschichte „ankommt", negativ aber, daß er nichts anderes als seine Geschichte hat und daß er diese Geschichte selbst nie ganz hat, daß er sie nie völlig wissen und nie vorwegnehmen kann 2 6 . Eine entscheidende Korrektur fand die Dialektische Theologie durch Grisebach, der ihr dialektisches Prinzip auf die Spitze trieb. Er ging noch weiter als sie und verdammte alle Theorien, Deutungen, Erinnerungen überhaupt. Alles, was aus dem menschlichen Innern kommt, ist „gestrig", ist keine „Gegenwart" und deshalb nicht „wirklich". Wirkliches kann der Mensch einzig in der Begegnung mit dem Außen und der (unberechenbaren) Zukunft erfahren. Darum kann auch „Gott" noch keine Wirklichkeit erschließen. Auch er und sein Wille sind noch Deutungen vom Ich aus: auch sie werden „erinnert" und sind nicht wirkliche, fremde, dem Ich entgegentretende und unvorhersehbare Ansprüche. In Grisebachs „kritischer Ethik" 2 7 bleibt am Ende als einziges Kriterium für alles Handeln nur die immer wieder ganz neue Situation (aus dem „Zufall"). Auf sie haben wir unvoreingenommen und ohne alle Erinnerung immer neu zu „antworten". Jede inhaltliche Bestimmung und schon das Reden über diese Antwort muß vermieden werden, sonst bleibt sie wieder nicht „wirklich". Grisebachs Stärke ist seine energische Kritik: Er durchschaut den„Ich"-zug in allen Handlungen. Seine ganze Kritik aber steht unter der monomanen und nie disku24

Ich glaube an den dreieinigen G o t t , 1 9 2 6 , S. 24, 84 f., 1 8 1 , vgl. auch „ H i s t o r i s m u s " in Z Z 1 9 2 4 . 25

Ich glaube an den dreieinigen G o t t , S. 84.

26

V g l . auch die philosophische Z u s t i m m u n g zu dieser theologischen B e w e g u n g : N a t o r p , I n d i v i d u u m und Gemeinschaft, 1 9 2 1 , und die Ubersetzung in die katholische Theologie: Guardini, D e r Gegensatz. Eine Philosophie des L e b e n d i g - K o n k r e t e n , 1 9 2 5 .

27

G e g e n w a r t . Eine kritische E t h i k , 1 9 2 8 . 86

Das „Prinzip des

Unvollendbar"

tierten Voraussetzung, daß das „Ichliche" als solches schon schädlich oder schlechterdings nichtig sei. Eine andere Bewegung der völligen Offenheit, der „Aufsprengung" aller verhärteten Fronten, und zwar der Revolution um der Revolution willen ist der Kreis unter Tillichs Führung, der sich um die Mitte der zwanziger Jahre den programmatischen Namen „Kairos" beilegte. Auch er ist der Dialektischen Theologie nahe verwandt und will sie zugleich korrigieren: Die Dialektische Theologie sei nur ein abstraktes Nein, argumentiert Tillich, und unterwerfe sich deshalb dem Geist der bürgerlichen Gesellschaft 28 . Seine eigene Opposition ist sozialistisch, doch sein Bestreben ist eigentlich, alle Bewegungen gegen den Geist des Kapitalismus ( = das „Dämonische" seiner Zeit), also Jugendbewegung, Bildungsidealismus, liturgische Bewegung, („immerhin auch") Anthroposophie, Phänomenologie, Expressionismus und neue Metaphysik zusammenzufassen, sowie auch noch Marx und Nietzsche zu verbinden. E r muß anerkennen, daß alle früheren Anti-Bewegungen erst ein Rausch waren. Die jetzige aber sei „zum härtesten Realismus geläutert" 2 9 . — Seine wie die vielen verwandten Bewegungen 30 nehmen nicht recht Gestalt an. Sie werden konkret nur in dem, was sie nicht wollen oder was sie zerstören wollen. Ihre eigenen Ziele aber sind nur durch radikale Nichtfestgelegtheit gekennzeichnet und zum Verschwin28

Kairos, 1926, S. 6 f.

29

Kairos, S. 17 f.

30

Hier wäre als eine große Einwirkung des östlichen Geistes Berdjaev zu nennen, der zeitweise zum Kairos-Kreis gehörte und der eine ähnlich negative Lehre verkündigte: Der Sinn der Geschichte, 1925. Seine Lehre ist nicht nur rückwärtsgewandt (christlich-orthodox), sondern auch (in nicht näher definierter Weise) eschatologisch und „katastrophal". E r erkennt z. B. das große negative Verdienst des „teuflischen" Marxismus an: daß er alle halben, alle halbideologischen Richtungen des 19. und 20. Jahrhunderts abtat und das Dilemma schuf: „entweder in das Nichtsein sich zu versenken oder umzukehren zum inneren Mysterium des menschlichen Schicksals." (a. a. O. S. 43.) 7*

87

Zwischen

Dilthey

und

Heidegger

den bestimmt. Doch lösen sie sich nicht spurlos auf, sondern wirken wieder auf die Zeitstimmung, diesen Geist der Unzufriedenheit und der Erwartung eines ganz Neuen zurück. Die philosophischen Bestimmungen des Prinzips der Unbestimmtheit sind naturgemäß selten. Es fehlt der philosophische Ort dazu, eine Disziplin, in der diese Prinzipien selbst diskukiert werden könnten. Am geeignetsten erweist sich noch die gleichfalls neue Richtung der Lebensphilosophie. In bezug auf „das Leben" können sowohl Plessner wie Bollnow Diltheys Ansatz zu einer positiven Bestimmung der „Unbestimmtheitsrelation" fortführen: „In den Aussagen über die Unfaßbarkeit des Lebens und die Unerschöpflichkeit menschlichen Könnens kommt nicht ein Denken, das in Form negativer Grenzbegriffe asymptotische Anschmiegung an das Leben sucht, zum Ausdrude, sondern eine sehr positive Haltung im Leben zum Leben, die um seiner selbst willen die Unbestimmtheitsrelation zu sich einnimmt" 31 . „Unergründlichkeit bedeutet nicht eine Unzulänglichkeit des menschlichen Verstandes gegenüber einer unbeherrschbaren Wirklichkeit, sondern das eigene Wesen des Lebens selbst: Leben ist nicht darum unergründlich, weil wir nicht zu seinem Grund vorzudringen vermöchten, sondern weil es wesensmäßig keinen ,Grund' hat, sondern ,offen' ist in seine Möglichkeiten hinein" 32 . Plessner gewinnt zudem durch subtile Abgrenzungen und Methodenerwägungen in einer neuen Anthropologie den Ort, an dem er die „Unbestimmtheit" (Nichtfestgelegtheit) des Menschen zur Sprache bringen kann. Der Mensch ist deshalb ein geschichtliches Wesen, weil er sich nie direkt versteht, sondern sich ausdrücken und den Ausdruck wiederum verstehen muß. So sah es auch schon Dilthey 3 3 . Im Unterschied zu Diltheys Optimismus aber erkennt Plessner — und hier läßt sich einmal der 31

Pleßner, Macht und menschliche Natur, 1 9 3 1 , S. 51.

32

Bollnow, Dilthey, S. 1 4 1 .

33

Vgl. S. 64. 88

Sachgebundene

und willentliche

Begrenzung

Fortschritt der Philosophie der Geschichtlichkeit über Dilthey hinaus erfassen — daß nie die volle Intention und schon gar nicht das ganze Leben des Menschen in den Ausdruck eingeht. Jeder Ausdruck ist, soweit er fixiert ist, auch schon überholt, der Mensch versucht es immer von neuem und immer vergeblich. Darum liegt noch nicht im bloßen Schöpfertum (nicht schon in der „natürlichen Künstlichkeit"), sondern in dieser dauernden Unangemessenheit der Schöpfungen, in der „Expressivität" der innere Grund für den historischen Charakter des Menschen34. Die Grundlagen und verwandten Theorien dieser „vermittelten Unmittelbarkeit" können erst in den folgenden Abschnitten, die weiteren Konsequenzen bei Jaspers dargestellt werden. Hier wurde Plessners Anthropologie nur zum Beweis herangezogen, daß die Unvollendbarkeit und „Gewagtheit" des Lebens doch einer philosophischen Behandlung fähig waren.

SACHGEBUNDENE UND WILLENTLICHE BEGRENZUNG

In diesem Abschnitt ist zu untersuchen, wie sich das bisher erst recht vage beschriebene Prinzip der Unvollendbarkeit mit den verschiedenen schon bestehenden Theorien oder Weltanschauungen verbindet. Es hatte eine Affinität besonders zur Lebensphilosophie, wie wir gesehen haben. Es befruchtete und alterierte aber auch die Morphologie und die Phänomenologie. Auffällig ist dabei, daß das gleiche Prinzip sich sowohl im Sinne des Voluntarismus (bei Spengler, Th. Lessing) wie auch als Mahnung zur Skepsis oder zur wissenschaftlichen Vorsicht oder als relativistisches Prinzip auswirkte (bei Simmel, Bollnow, Jaspers). Es ist also selbst noch nicht weltanschaulich gefärbt, sondern empfängt diese Deutung erst durch den jeweiligen Forscher (oder Dichter). Geschichtlichkeit wird dabei ganz verschieden verstanden: als Unruhe und Selbstüberschreiten, als Geprägtheit, 34

Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928, S. 333, vgl. S. 309—321. 89

Zwischen Dilthey und

Heidegger

als wissende oder blinde Erfüllung des immanenten Gesetzes oder der Seelenhaltung. „

Voluntarismus"

Simmel ist unser Hauptzeuge für das Zusammentreffen und den Ausgleich dieser sonst weit auseinandergehenden Motive. Er ist Voluntarist und Skeptiker. Er sieht in der Geschichte die Ausprägung des inneren Gesetzes durch den freien Willen. Er hat entscheidenden Anteil an der Lebensphilosophie, aber er fühlte doch immer das Ungenügen mit dem bloßen „Lebens"begriff. Er kommt schließlich zu der Formulierung: „Selbsttranszendenz des Lebens" 35 : Der Prozeß des menschlichen Lebens selbst verlangt immer „mehr Leben und mehr als Leben" 36 . Weil es Leben ist, braucht es die Form, und eben deshalb braucht es mehr als die Form. Der Gedanke der Selbsttranszendierung kommt eigentlich aus der (idealistischen) Theologie: „L'homme passe infiniment l'homme", hat schon Pascal gesagt 87 . Und er wird später wieder für die theologische (besonders katholische) Menschenlehre wichtig 38 . Simmel selber versteht diese Selbsttranszendenz jedoch nicht als Transzendierung auf Gott oder irgendein schon bestimmtes Ziel hin, sondern nur als eine Richtung im Ich, über seinen gegenwärtigen nie befriedigenden Stand hinauszukommen. Er sieht nun aber in der Religion eine eigengesetzliche totale Welt, freilidi nur eine neben anderen 39 . In allen diesen Ordnungen will das Leben sich verabsolutieren. Jede Ordnung proklamiert ihre völlige Autonomie und Ausschießlichkeit, bis zum „fiat iustitia, pereat mundus". Simmel sieht also, daß gerade im geistigen Bereidi die Transzendierung nicht beliebig weit geht, sondern in festen und gegeneinander 35

Lebensanschauung, i. Kap. a. a. O . S. 20 ff. 37 Pensecs, Paris 1 7 2 0 , p. 27. 58 s. Schmaus: V o n den letzten Dingen, 1 9 4 8 S. 22. 39 Kunst, Wissenschaft, auch Recht und Wirtschaft, anschauung, K a p . 2. 36

90

s.

Lebens-

Sachgebundene

und willentliche

Begrenzung

intoleranten Formen erstarrt. Er läßt sich faszinieren von dieser Eigengesetzlichkeit des „Geistes" oder der „Idee". Er verfolgt sie bis in Wirtschaft, Kunst und Religion hinein 40 . Seine Hoffnung aber liegt doch im Leben, das alle Formen wieder sprengt und neue Formen sucht. Die Objektivierung gehört zur Kultur und läßt sich nidit wieder rückgängig machen, die persönliche Leistung und Gestaltung aber kann doch (das erhofft er vom Krieg) wieder stärker erlebt werden 41 . Simmel hofft auf die Ethik, nicht auf irgendeine Teleologie. Auch in seiner „Ethik" 42 propagiert er die persönliche Verantwortung, sogar die Selbstverantwortlichkeit im ganz strengen Sinne. Denn sowohl die Gesetze wie auch die Normen für alle möglichen Gesetze sind in uns43. Der Mensch ist nicht nur für das Tun der Pflicht, sondern auch für die Bestimmung der Pflicht verantwortlich. Das Problem des Sollens wird jedoch bei Simmel (etwa gegenüber Kant) zur beinahe künstlerischen Frage der rechten „Gestaltung" des Lebens. Der kategorische Imperativ erscheint in der Form der Frage: „Kannst du wollen, daß dieses dein Tun dein ganzes Leben bestimme?" 44 Das Leben des Einzelnen steht also unter dem gleichen Gesetz wie die überindividuellen Kulturformen: es ist ebenfalls Ausprägung einer „inneren Form". Im individuellen Leben bedeutet diese Form aber niemals Erstarrung, auch die höchste Erfüllung ist immer noch „lebendig", noch voller „Möglichkeiten". Auch der Geschichtsforscher steht nun unter diesem, positiv verstandenen, eigenen Gesetz. D. h. er wird nicht schon vom bloßen Objekt selber bestimmt. Er wird „nicht von bloßer Wirklichkeitsbetrachtung, vom Erkenntniswillen, sondern vom 40

„Philosophie Religion".

des Geldes",

„Zur

Philosophie der

Kunst",

41

„Die

D e r K r i e g und die geistigen Entscheidungen, 1 9 1 7 , S . 48 f. W e n n man seine Untersuchung über das „individuelle G e s e t z " (in Lebensanschauung, K a p . 4) so nennen darf. 43 Lebensanschauung, S. 2 4 3 . 42

44

ibd. S. 2 4 1 . 91

Zwischen Dilthey und Heidegger Schaffenswillen getrieben". Simmel stellt sich zweimal 4 5 die Frage Droysens: Wie w i r d aus der Wirklichkeit b z w . „dem Geschehen" Geschichte (als ein theoretisches Gebilde)? Jedoch viel weniger historisch gesonnen als Droysen, betrachtet er nicht die Summe der Methoden, die die Geschichte zu einer selbständigen, berechtigten Wissenschaft machen, sondern insistiert auf dieser U m f o r m u n g : die Geschichte w i r d erst durch den betrachtenden, vollkommen erst durch den geschichteschreibenden, Menschen gemacht. U n d genau wie K a n t den Menschen von der N a t u r h ö r i g k e i t befreit hatte durch seine Untersuchung, wie N a t u r möglich sei, so will Simmel uns der Geschichte gegenüber „ f r e i " machen 4 8 . Geschichte ist z w a r nicht wie die F a k t e n der Naturwissenschaft bloßer Rohstoff f ü r unsere Erkenntnis, sondern liegt uns als „eine A r t H a l b p r o d u k t " vor 4 7 . Z u m „historischen Gegenstand" aber w i r d sie erst durch unser Verstehen, durch unsere „ f o r m e n d e P r o d u k t i v i t ä t " . Freilich k ö n n e n w i r nicht willkürlich mit der geschehenen Geschichte umgehen, aber nicht an den Stoff sind wir gebunden, sondern a n die in ihm wirkenden K r ä f t e : „Die Realität der Geschichte liegt nicht in dem Lebensinhalt, den sie, wie er wirklich w a r , nachzeichnete, sondern darin, d a ß ihr unvermeidliches Anders-sein-als-dasLeben irgendwie den Triebkräften, den Gesetzen dieses Lebens selbst entspringen m u ß " 4 8 . Diese Formulierung bedeutet noch keinen Fortschritt gegenüber Dilthey. Doch in der A n w e n d u n g dieses Prinzips auf die historische Zeit sehe ich einen entschiedenen Fortschritt. N a c h Simmel ist die D a u e r selber noch ohne historische Bedeutung. Alle historische A n w e n d u n g k a n n sie erst durch Zerlegung in Einzelheiten gewinnen. Anschaulich sind zunächst nur wirkliche, fremde, einzelne Geschehenspunkte, die 45

in: Probleme der Geschichtsphilosophie, 1892, und in: Das Problem der historischen Zeit, 1916. 46 Vorwort zur 2. und 3. Aufl. der Probleme der Geschichtsphilosophie. 47 48

a. a. O. S. 36 f. Das Problem der historischen Zeit, S. 3 1 .

92

Sachgebundene und willentliche

Begrenzung

in sich stärker als untereinander zusammenhängen. Deren V e r bindung, mithin alle historische Kontinuität, ist erst eine abstrakt hinzugebrachte

Vorstellung,

die nicht

aus

dem

historischen

S t o f f , sondern aus unserer Überzeugung v o m „wirklichen" V e r lauf v o n Geschehnissen stammt 4 9 . Dieses genaue A b w ä g e n aller geistigen Produkte, auch der Geschichte, unter dem kantischen Gesichtspunkt, w a s d a v o n aus dem Subjekt stammt, w a s im O b j e k t selber liegt, scheint mir typisch f ü r Simmel. Dadurch w i r k t e er v o r allem auf seine Zeit, viel mehr als durch alle wirklichen „Ergebnisse" seiner Philosophie. Viel stärkere Wirkung als Simmeis feine Synthesen hatten jedoch die radikalen Geister seiner Zeit, die nur noch die geschichteschaffende Subjektivität oder nur noch die Erstarrung alles Lebens in „sachlich notwendigen" E n d f o r m e n sahen und aus ihnen die ganze Welt erklärten, die also Voluntaristen oder Fatalisten und Morphologen waren. Gleich nach dem Weltkrieg erschien die radikalste A n w e n dung des Voluntarismus auf die Geschichte: Th. Lessings Buch mit dem programmatischen Titel „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen"

(1919).

Geschiehtsschreibung

ist immer nur

eine

Dichtung 5 0 . Sie sagt niemals „so ist es", sondern nur „so soll es gewesen sein". Ihr Ergebnis ist ein Ideal, aber eine Illusion („Rauschersatz"). D e r Mensch braucht z w a r die Geschichte, aber 49

ibd. S. 1 8 — 2 3 .

50

a. a. O. s. v o r allem S. 1 7 9 — 1 8 1 . Vgl. die weit vorsichtigere F o r m u lierung f ü r aktuelles Geschehen in einer Bemerkung des Generals Stumm zum Mann ohne Eigenschaften" Ulrich: „Schau, du verlangst immer Klarheit . . . Ich bewundere dich ja dafür, aber du mußt auch einmal geschichtlich denken: Wie sollen denn die an einem Ereignis unmittelbar Beteiligten im voraus wissen, ob es ein großes wird? Doch höchstens, weil sie sich einbilden, daß es eines ist! Wenn ich also paradox sein darf, möchte ich behaupten, daß die Weltgeschichte f r ü h e r geschrieben wird, als sie geschieht; und sie ist zuerst immer so eine A r t Tratsch. U n d da stehen die energischen Menschen eben v o r einer sehr schwierigen A u f g a b e . " (R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. A . Frise, 1958, S. 998).

93

Zwischen

Dilthey

und

Heidegger

er braucht sie nur, um seine eigenen Wünsche und Tugenden in großen Mythen anzuschauen. In diesem eingeschränkten Sinne ist auch hier der Mensch noch wesentlich geschichtlich, aber diese Geschichtlichkeit ist selbst bedeutungslos. Sie meint nicht mehr die Beziehung auf die „Geschichte" im gewöhnlichen Verstände, sondern nur eine Richtung der menschlichen „Willenschaft" (statt der „Wissenschaft", an die frühere Generationen glaubten). Der Mensch soll überhaupt nicht seine Gegenwart aus der Vergangenheit deuten, er soll nur endlich zur Einsicht kommen, daß er sowieso schon immer das Gegenteil tut. Eine „Grundlegung der Kulturphilosophie" aus dem gleichen Geist erscheint ein Jahr später 51 . G. Burckhardt verfolgt an den wichtigsten kulturellen Gebilden ebenfalls das subjektive, aktivistische Moment, doch bleibt er nicht beim Willensprinzip stehen, sondern geht viel genauer auf die „Werkform" ein. In jedem Werk erkennt er das Resultat eines Kampfes, eines „Arbeitskampfes". Auch die Geschichte ist solch ein erkämpftes Werk: Erst der Bericht und die Einordnung macht irgendwelche Ereignisse, die an sich nur „Naturereignisse" sind, „geschichtlich". Andererseits aber ist die Geschichte auch „Kampfdarstellung", mithin Darstellung von etwas wirklich Geschehenem so wie es geschehen ist52. In dieser (vom Verfasser nicht näher ausgeführten) Doppelstellung scheint mir Simmeis Prinzip, daß die Geschichte in ihrer Andersartigkeit als das Leben doch zugleich die Triebkräfte des Lebens selbst ausdrücken muß, sowohl gewahrt als auch Simmeis Fülle von Triebkräften in eine einzige Kategorie verengt zu sein. Daß jedoch diese eine Form, der Kampf, so absolut gesetzt wurde, ist bezeichnend für eine wichtige Strömung der zwanziger Jahre und sehr folgenreich in der weiteren Ausprägung des Begriffes Geschichtlichkeit. 51

Kulturphilosophische Systeme werden in der Zeit zwischen 1 9 2 0 und 1 9 3 6 überaus häufig, und „ G r u n d l e g u n g e n " v o n K u l t u r p h i l o sophien schätzungsweise noch häufiger.

52

I n d i v i d u u m und W e l t als W e r k , 1 9 2 0 , S. 2 2 3 .

94

Sachgebundene und willentliche

Begrenzung

„Gestaltlehre" In und nach dem Weltkrieg kam noch eine ganz andere Richtung des Voluntarismus zu großer Geltung, die schon am Ende des vorigen Jahrhunderts entstanden war: die Schule von George mit ihrer zunächst nur für die Ästhetik ausgebildeten, später aber alle Gebiete des „höheren Lebens" umgreifenden Lehre von der „Gestalt". George selbst war stark antihistorisch eingestellt. Er ließ die Geschichte einzig im Sinne von Nietzsches „monumentaler Geschichte" gelten. Genau wie er lehnte auch Gundolf die lebensphilosophischen Methoden ab und verdammte die Einfühlung, die wesentliche Unfertigkeit und den Entwicklungsbegriff als einen Mangel an direkter Anschauung 53 . Auf das Gestalten-Sehen kommt es an. Jede historische Gestalt ist unteilbar und auf nichts anderes zurückzuführen. In jeder großen Gestalt (und der George-Kreis kennt eigentlich nur große Gestalten) prägt sich „das Ewige" einzigartig und nur einmalig aus. So esoterisch diese Lehre ihrem Wesen nach war, sie gab doch einen starken Impuls für die Geisteswissenschaften und wirkte sich besonders in einer neuen, ganzheitlichen („monographischen") Art der Biographie aus. In der Gestaltlehre nämlich ist ein Prinzip zunächst rein und einseitig zur Geltung gekommen, das für die Geschichte überhaupt konstitutiv ist. Freilidi ist es trivial und schon immer in jeder Geschichtsschreibung angewandt worden. Als historischer Grundsatz und als Grundlage der historischen Wissenschaft überhaupt wurde es aber erst in dem Streit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vor der Jahrhundertwende ausgesprochen. Die erste ganz feste Begründung der historischen Wissenschaft auf das Gestaltprinzip stammt von Windelband 54 : Geschichte hat es wie die Natur53 s. G u n d o l f . D a s Bewegung 1910.

Bild

Georges,

im

Jahrbuch

für

die

geistige

54

In seinem A u f s a t z „Geschichte und Naturwissenschaft" im 2. Band der „ P r ä l u d i e n " .

95

Zwischen Dilthey und Heidegger Wissenschaften mit Tatsachen zu tun, verwertet sie jedoch ideographisch statt nomothetisch, d. h. sucht Gestalten u n d nicht Gesetze. W e n n W i n d e l b a n d in diesem Z u s a m m e n h a n g ebenfalls das „ Ü b e r m a ß des rezeptiven Anschauens" (die G e f a h r der Historie) verwirft u n d vielmehr die spontane Anschauungsfähigkeit stärken will, so sehen wir schon in diesem relativ f r ü h e n Zeugnis die aktivistische, bildnerische Ausrichtung der gesamten Gestaltlehre. Bei W i n d e l b a n d als einem wirklichen Geisteshistoriker ist jedoch diese Bestimmung der historischen Wissenschaft nicht die einzige; ebenso grundlegend ist ihr C h a r a k t e r als „Ereigniswissenschaft". U n d der Ausdruck „Ereignis" hält neben dem festen Bezug zur Zeit 5 5 doch noch die „Tatsächlichkeit" als einen G r u n d z u g des Geschichtlichen fest.

Spenglers

„Morphologie"

Spengler repräsentiert eine ganz andere Linie in unserer Begriffsgeschichte. Seine „Morphologie der Weltgeschichte" hat weniger die philosophische Begriffsausbildung als vielmehr die Anschauung von der Geschichtlichkeit, u n d z w a r v o n der Macht der Geschichte selbst beinflußt. Seine geschichtlichen Vergleiche u n d seine ganze „wissenschaftliche Morphologie", die n u r streng isolierte Kulturseelen von streng (jeweils gleich lang) bemessener Lebensdauer kennt, w u r d e n sehr b a l d als haltlos erwiesen u n d haben seine Lehre allgemein in Verruf gebracht (besonders in der Wissenschaft einfach „unmöglich" gemacht) 5 6 . Sehr wirksam und eindringlich aber w a r seine Sdiilderung der unmittelbaren G e g e n w a r t u n d nächsten Z u k u n f t : der Technisierung, Intellektualisierung,Vergreisung,Verstädterung (des „Fellachendaseins") des gegenwärtigen europäischen Menschen. 55

D a z u s. u. S. 109 ff.

56

S. die Z u s a m m e n f a s s u n g der ganzen Diskussion v o n M . Schröter: D e r Streit u m Spengler, K r i t i k seiner K r i t i k e r , 1 9 2 2 , und noch später v o n demselben: M e t a p h y s i k des U n t e r g a n g s , 1 9 4 7 .

96

Sachgebundene und willentliche

Begrenzung

Spengler ist weder mit diesem Kulturpessimismus nodi mit seiner morphologischen Methode originell. E r selbst beruft sich vorwiegend auf Nietzsche. Noch nähere V o r g ä n g e r w ä r e n Breysig und Lamprecht 5 7 . N e u aber ist Spenglers Verbindung v o n Pessimismus und Morphologie zu einer fatalistischen Untergangslehre: D e r Pessimismus w i r d dadurch zu einem eisernen Gesetz sanktioniert, der Untergang unvermeidlich, denn es gibt keine Freiheit (wie noch bei Burckhardt und Tocqueville). U n d die „Blumenlehre" der Morphologie gilt mit ihren früher so anziehenden Vergleichen (der Selbstentfaltung einer K u l t u r seele) nur f ü r die Vergangenheit. In der G e g e n w a r t ist die Seele der europäischen K u l t u r eigentlich schon gestorben. D e r Mensch kann sie jetzt im G a n z e n überschauen, aber auch diese Weisheit macht ihn nicht frei. E r bleibt weiterhin in seine Z e i t eingekerkert, machtlos gegen sie, er kann nur ihre Bewegungen „mitmachen". Plessner f a ß t die Wirkung Spenglers ( 1 9 3 8 ) gerade im H i n blick auf unser Problem zusammen: „Nicht die Ereignisse, nicht die zu ihnen gehörenden Perspektiven v o n H o f f n u n g und Furcht, v o n Uberlieferung und E r w a r t u n g k n ü p f e n mehr den Faden der Geschichte. M i t der Relativierung der Maßstäbe, Werte und Ideale z e r f ä l l t sie und hinterläßt als Rückstand eine ebenso verhängnisvolle als rein f o r m a l e Bestimmung menschlichen Wesens: seine Geschichtlichkeit. D i e kann alles besagen, f ü r sich selbst besagt sie nichts." Sie deckt bloß „die Melancholie eines nur noch in sich sinnvollen Geschehens" 5 8 . Geschichtlichkeit besagt bei Spengler: das Eingeschlossensein des Menschen in seine Geschichte. Geschichte w i r d dabei in einem ganz großen Maßstab verstanden: es sind nur die großen Bewegungen nocli 57

K . Breysig: Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte, 1905, K. Lamprecht, Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft, 1896, s. F. Seifert, Der Streit um Lamprechts Geschichtsphilosophie, in: Sozialphilosophische Vorträge und Abhandlungen 1925. 58

Zwischen Philosophie und Gesellschaft, S. 1 5 .

97

Zwischen

Dilthey

und

Heidegger

weit über Nationen und Generationen hinweg, die alles determinieren, aber auch selbst streng determiniert ablaufen. Offen bleibt jedoch die Frage — und sie w i r d in der Folgezeit zu einem Fluchtweg aus dem Fatalismus —, wie denn der einzelne Mensch die großen Bewegungen insgesamt so gut kennen kann, wenn doch er selbst samt seiner Einsicht von seiner historischen Stelle unaufhebbar abhängig ist. DIE

„ENTSCHEIDUNG"

Der eigentliche Zentralbegriff der neuen Überzeugungen seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, der Kern dessen, was man später „Existenzialismus" nennen wird, ist „die Entscheidung". Er w a r die historisch notwendige Konsequenz aus der Einsicht in die Unabschließbarkeit aller unserer Erkenntnis und dem starken Willen, „dennoch" zum Tun oder zur „Tat" fortzuschreiten. Er trägt deshalb immer etwas subjektiv Dogmatisdies an sich: Aus der reinen Erkenntnis der Objektivität (sofern solche überhaupt noch für möglich gehalten w i r d ) und aus aller Reflexion kann doch niemals ein Entschluß entspringen. Der Mensch muß vielmehr an einem Punkt die Reflexion ausschalten und eine Möglichkeit „wählen". Das Element der Unvernunft und des Zufalls bekommt positive Bedeutung. D a ß und wofür man sich entscheidet, ist logisch nicht weiter zu rechtfertigen, sondern ein A k t der „Existenz". Darum w i r d vor allen anderen Kierkegaard als der Stammvater des Existenzialismus zu Ehren gebracht — während Nietzsches Lehre mehr in der idealistischen Form des Voluntarismus weiterlebt, in der z w a r ebenfalls das Ich sich frei von allen äußeren Kriterien entscheidet, aber nach einem (selbstgegebenen) sinnvollen Plan. Die Existenzialisten verzichten auf diesen Rest von Vernunft, welcher nur eine gefährliche Einbildung sei, und entschließen sich jeweils „aus der Situation heraus". Der Entscheidungsbegriff, den die zwanziger J a h r e im strengen Widerspruch zu allem Idealismus herausgearbeitet haben, ist 98

Die

„Entscheidung"

belastet durch eine unleugbare Einseitigkeit und Radikalität, und heute ist er vollends durch seine direkte Aufnahme und Weiterverwendung von Seiten des Nationalsozialismus diskreditiert. Doch kann man heute auch schon diese Einseitigkeit als nur zeitbedingt erkennen und andererseits das berechtigte Motiv in der Ausbildung dieses Begriffes anerkennen. D e r Begriff selbst impliziert außer der notwendigen Mahnung zur Aktivität auch schon die Betonung der Verantwortlichkeit des Menschen und die Forderung, die jeweilige Lage gewahr und ihr gerecht zu werden. Freilich wird in den zwanziger Jahren noch mehr das prinzipielle Element darin als seine Anwendung

diskutiert,

doch wurde diese genauere Diskussion und die Herausbildung seiner wirklich historischen Gestaltungskraft eben durch die enge Festlegung im Nationalsozialismus unterbrochen. D a ß der B e griff aber nicht nur und eindeutig zum Faschismus

führen

mußte, beweist schon die Tatsache, daß er nach dem Krieg als ein treibendes Moment in der Ausbildung der deutschen D e m o kratie wirkt. Über den Begriff der Entscheidung gibt es schon eine kritische Monographie: C. v. Krockows Dissertation 5 9 . Krockow untersucht den modernen „Dezisionismus" bei Jünger (als „ K a m p f " ) , C. Schmitt

(„Entscheidung")

und

Heidegger

(„Entschlossen-

heit"). E r stellt auch die enge Beziehung des Entscheidungsbegriffes zu dem bemäntelnden W o r t „Geschichtlichkeit" fest. I n seiner Diskussion der historischen Entwicklung macht er die dezisionistische Tendenz für die politische Verdummung und Dogmatisierung verantwortlich, aus der dann der Faschismus die praktische Konsequenz zog. „Die Abwertung der O b j e k t i v i tät impliziert eine Ausschaltung jedes Vernunftarguments im politischen Bereich und verkehrt den Makel des Vorurteils in die Tugend des ,Existenzialurteils'." Wichtig für unser T h e m a ist besonders die Herausarbeitung der „romantischen S t r u k t u r " 59

Erschienen als Bd. 3 der Göttinger Abhandlungen zur Soziologie, 1958.

99

Zwischen Dilthey und Heidegger bei Heidegger: Heidegger glaubt an die occasio statt an die causae u n d f ü h l t sich deshalb den zweckhaften oder n o r m a t i v e n Zusammenhängen u n d Bindungen überlegen 6 0 . Krockow nennt in seiner geistesgeschichtlichen H e r l e i t u n g des Dezisionismus nach den zwei Quellen Kierkegaard u n d M a r x n u r die großen „Bewegungen" v o n der Lebens-Philosophie bis zur Weimarer Republik. W i r müssen hier etwas genauer auf die f r ü h e n Ausprägungen eingehen u n d wählen dazu je einen Zeugen aus dem Weltkrieg u n d aus den A n f ä n g e n der Republik. Auf die Ausbildung u n d Durchsetzung des Entscheidungsprinzips hat der erste Weltkrieg außerordentlich förderlich gew i r k t . Nicht n u r leicht entflammbare, sondern auch viele recht kritische u n d skeptische Geister 6 1 erkannten in ihm eine „unbedingte A u f g a b e " . So schreibt Simmel 6 2 dem Krieg eine positive, reinigende W i r k u n g zu. Äußerlich: Die „ V e r a r m u n g " , die er gebracht hat, ist gut gegen die „Überschwemmung" der Wissenschaft u n d Literatur, u n d sie w i r k t vernichtend gegen den Mammonismus, indem sie alle ihm noch nicht ganz Anheimgefallenen aus ihrer „geschichtslosen" Gefolgschaft aufschreckt 6 3 . Aber auch innerlich: D i e Deutschen erleben jetzt eine „absolute Situation, dadurch d a ß die ganze Welt gegen sie steht. D e r Wille zu Deutschland steht „über allen D e d u k t i o n e n u n d Relativismen". D i e Deutschen würden, wenn nötig, sogar gegen allen „Sinn der Geschichte" f ü r ihr V a t e r l a n d k ä m p f e n . Freilich hat er diese absolute Bejahung schon vorher historisch relativiert, indem er ein gewisses Gesetz im „Lebensrhythmus 60

a . a . O . S. 81 ff., 88 f.

61

In der Literatur etwa neben R i l k e , H o f m a n n s t h a l , G e o r g e auch Musil, Broch, M a n n , vgl. Rilke, Fünf Gesänge A u g u s t 1 9 1 4 , H o f mannsthal, Kriegsaufsätze in: Prosa III, Musil, A u f s ä t z e in und nach dem Krieg, in: Tagebücher, A p h o r i s m e n , Essays und R e d e n , h g . A . Frise, 1 9 5 5 , M a n n , Betrachtungen eines Unpolitischen, 1 9 1 9 . 62

In der S a m m l u n g : D e r K r i e g und die geistigen Entscheidungen, 1917.

63

a. a. O . S. 1 4 , 1 7 f.

100

Die

„Entscheidung"

der Menschheit" erwogen h a t : V o n Zeit zu Zeit in der G e schichte gibt es solche „Epochen der Differenzierung" (der Scheidung zwischen Licht und Finster), und dann wieder eine k o n tinuierliche Verbindung ihrer Pole, einen „toleranten Relativismus ihrer W e r t e " 6 4 . Die gleiche Haltung des überschwenglichen Bekenntnisses zum eigenen Volk (aus dem inzwischen das „Volkstum" geworden ist) zeigt nach dem Krieg die Programmschrift „Prometheus" von Freyer 6 5 . Freyer entwickelt darin in halbdichterischer Sprache das „prometheische Ereignis" — das ist im K e r n die Erfahrung vom Widerstand der W e l t und von der Notwendigkeit der menschlichen Kraft. Diese triviale und für seine Zeit so faszinierende Erkenntnis kann nun eigentlich überall eingesetzt werden. Freyer aber will sie in den Dienst des Volkstums stellen und begründet diese Entscheidung gerade aus der Enge und Nichtidealität der Aufgabe. Fünfmal in einem Satz unterstreicht er die Begrenzung: Die „Helfershelfer der Zukunft" „schwärmen nicht, sondern halten sich an die herrliche Enge: auf vorgegebenem R a u m aus dem Geist eines vorgegebenen Volkstums ein endliches Gebilde auf Zeit zu gestalten" 6 6 . In den zitierten politischen Meinungen war die Entscheidungshaltung noch nicht rein „existenzialistisch", sondern je nachdem konservativ oder revolutionär — für die Befürworter des K r i e ges und des jungen Staates nach dem Krieg lag beides nahe zusammen, denn immer sollte aus der bewußten Verteidigung des Eigenen etwas „ganz Neues" entstehen 6 7 . Es bestand also schon eine bestimmte Aufgabe, und sie wurde mit werbenden Argumenten empfohlen oder gepriesen. Typisch für die existenzialistische Entscheidung wurde aber, daß sie von dem Inhalt der 64

S. 16, s. S. 20 ff.

65

Prometheus. Ideen zur Philosophie der Kultur, 1 9 2 3 , im gleichen J a h r wie seine viel sachlichere „ T h e o r i e des objektiven Geistes".

66

a. a. O . S. 1 3 0 .

67

V g l . H o f m a n n s t h a l s Kriegs- und Nachkriegsaufsätze, in Prosa III.

8 Bauer

roí

Zwischen Dilthey

und

Heidegger

verteidigten Werte überhaupt absieht, v o n Werten selbst gar nicht spricht, sondern nur v o n der Situation, und in der Situation nur das Plötzliche, nicht mehr zu Motivierende, den reinen A k t des Entschlusses betont, alle tatsächlichen M o t i v e vernachlässigend. Bultmann z. B . f o r d e r t den unbedingten und „ k o n kreten" Einsatz: „ D i e Welt durchdringen und erobern kann man nicht mit einem formalen Ideal [er denkt an die J u g e n d bewegung], sondern nur, wenn man sich f ü r konkrete Sachen einsetzt, weil man konkrete Autoritäten kennt und nicht im Trieb, sondern im Gehorsam handelt." E r behandelt aber diese Autoritäten wieder als beinahe beliebig. E r nennt nur eine A u s wahl solcher „konkreter Sachen": die nationalistische, die kirchliche (katholische), die proletarische Sache 68 . I w a n d sieht 1 9 2 9

die große „augenblickliche

Beliebtheit"

dieses neuen Entscheidungsbegriffs innerhalb der Theologie. A b e r er kritisiert ihn wegen seines Schematismus, seiner Simplifizierung, und damit trifft seine K r i t i k ebenso auch die dezisionistischen Richtungen außerhalb der Theologie. D e r Entscheidungsbegriff sei eine bedenkliche ethische Rationalisierung, denn er vereinfache (oder formalisiere) das sittliche Leben. „ D a m i t , daß der Mensch v o r die Entscheidung gestellt wird, w i r d er ihr gerade entnommen, da d a n k dieser theoretischen Manipulation die Entscheidungen f ü r oder wider G o t t wie zwei Möglichkeiten vor dem Menschen liegen, und man muß doch schließlich wieder zu dem Antrieb der Imperative und zu den Lockungen der Werturteile greifen, um den Menschen aus der N e u t r a l i t ä t herauszubekommen, in die m a n ihn künstlich versetzte" 6 9 . I n der T a t ist im strengen Dezisionismus alle „ E t h i k " im Sinne einer ausdrücklichen Mahnung zu einem bestimmten T u n eine I n k o n sequenz, und w o man doch nicht auf sie verzichten kann, muß 68

Bultmann 1924, in Glauben und Verstehen I, S. 78.

69

D L Z 1929, Sp. 1228, in einer Besprechung von E. Hirsch, Der Sinn des Gebets.

102

Die

„Entscheidung"

man zu besonderen, noch jenseits Quellen der Autorität greifen.

der Situation

liegenden

Noch vor der festen „Entscheidung" (als der Form des tätigen Augenblicks) liegt die allgemeine Sorgestruktur des Daseins: daß der Mensch alles auf sich und seine Lebensmöglichkeiten bezieht, daß er sich mit der Zukunft beschäftigt, weil er es muß, und daß er seine Vergangenheit nur heranzieht, weil er sie f ü r die Gestaltung der Zukunft braucht. Hier wird also der Satz Diltheys, der Mensch erkenne, was er sei, nur aus der Vergangenheit, noch enger gefaßt: er erkennt es auch nur so weit, als er es f ü r die Zukunft braucht. Diese Entdeckung der „Sorge" wird heute allgemein mit Heideggers Namen verknüpft. Sie w a r aber unter anderen Namen schon v o r „Sein und Z e i t " aufgetreten. Ortega macht in seinem Vortrag „Vergangenheit und Zukunft im heutigen Menschen" 70 darauf aufmerksam, daß er schon 1 3 Jahre v o r seinem Freund Heidegger die Sorgestruktur des Daseins entdeckt habe, und zwar unter dem Namen „préoccupation": „Des Menschen primäre und entscheidende Realität besteht darin, sich mit seiner Zukunft zu beschäftigen." In diesem menschlichen Wesenszug der préoccupation sieht er (in der späteren Zusammenfassung) die „Ursprünge der Geschichtlichkeit" — und hier heißt „Geschichtlichkeit" ebensowohl geschichtlich leben wie G e schichte erforschen: „ D e r Mensch macht Geschichte, weil er gegenüber der Zukunft, die nicht in seiner Macht ist, feststellt, daß alles, was er wirklich besitzt, seine Vergangenheit ist" 7 1 .

DIE

„PERSON"

Das andere große und nach der Überzeugung aller Anhänger wirklich neue Prinzip des 20. Jahrhunderts ist die Bestimmung 70

Veröffentlicht in einem Sammelband unter dem gleichen Titel, 1955, dort S. 26. Er bezieht sich auf seine Meditationes des Quijote, 1914. 71 a. a. O. S. 71. 8*

103

Zwischen Dilthey und Heidegger des Menschen als „Person". Sie steht in vielfachen Beziehungen zu der älteren und inhaltsreicheren Aussage, daß der Mensch „Individuum" sei. Im Großen kann man sagen, daß der Personalismus eine Folge aber späterhin auch eine Ablehnung des Individualitätsprinzips darstellt. Die theoretische Erfassung der menschlichen Individualität und in eins mit ihr der praktische Individualismus nehmen durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch immer mehr zu. Beinahe unabhängig von Revolution und Konservativismus, sogar gegen ausgesprochen individualitätsfeindliche Tendenzen (Systemtrieb, Ordnungstrieb), unabhängig von Historismus und Antihistorismus (im Naturalismus und Positivismus) scheint der „historische Sinn", soweit er die Verschiedenheit der Individuen aufspürt, immer feiner und stärker zu werden. (Jedenfalls bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts, ich wage nicht zu sagen: bis heute.) Zu Beginn der zwanziger Jahre wurde dann der Reichtum der erkannten individuellen Formen so groß, daß man schon ganze Systeme aus ihnen zusammenstellen konnte. Man entwarf Typologien 7 2 der verschiedenen Lebensformen (Spranger), Denkformen (Leisegang), Weltanschauungsformen (Jaspers), Physiognomien (Klages) 73 , und, gegenüber dem Typisieren, Phänomenologien: der Gesinnungen (Pfänder), des Wertfühlens, des Schamgefühls (Scheler), des ästhetischen Genusses (Geiger), des Ekels (Kolnai) 7 4 . Die anfängliche nahe Verwandtschaft und der grundlegende Unterschied zwischen dem neuen Prinzip der Personalität und dem der Individualität läßt sich vielleicht an einem Vergleich von W. Sterns Philosophie eines „kritischen Personalismus" mit 72 Die T y p o l o g i e n w u r d e n später gerade zugunsten der „ E i n m a l i g k e i t " des Individuums zurückgewiesen, ursprünglich aber w a r e n sie selbst als ein Schema zur genaueren und gerechteren E r f a s s u n g der Individuen angelegt. 73 Eine lange Liste v o n T y p o l o g i e n Historismus" ( 1 9 3 2 , S. 3 3 ) an. 74

A l l e in: Husserls Jahrbuch.

104

f ü h r t Heussi

in „Krisis

des

Die „Person"

der „Philosophie der Individualität" von Müller-Freienfels zeigen. Müller-Freienfels kann, was die Individualität selbst sei, nicht sagen, sondern nur die verschiedenen Erscheinungsweisen dieses selbst nicht erscheinenden Wesens angeben. Er versucht verschiedene, ganz lebensphilosophische Charakteristiken: Die Individualität verändert sich in der Zeit, spaltet sich auch simultan, ist äußerlich, innerlich und zeitlich nicht abgrenzbar. Das einzige positive Kriterium für die Individualität bleibt schließlich ihre Einzigartigkeit, und gerade über sie kann man nichts Genaueres sagen. Prinzipiell steht Müller-Freienfels gegen die Mechanisierung des Lebens. Er will die Vergänglichkeit, den Wert des Lebens und (ein altes Wort mit damals ganz neuem Klang) „das Staunen" lehren 75 . Stern steht in der gleichen Front gegen den „mächtigen Mechanisierungs- und Organisierungszug unserer Zeit". Er stellt sich auch ein ganz ähnliches Ziel: aus seinen Prinzipien so etwas wie eine Anthropologie zu entwickeln. Er geht aber weniger analytisch vor als Müller-Freienfels, er steht schon viel stärker in der neu belebten Metaphysik (besonders durch seine teleologische Auffassung der Person) 78 . Schon in der Einleitung zum z. Band von „Person und Sache" verkündet er wie ein Programm, daß er grundsätzlich den Begriffsgegensatz von Person und Sache zu einem kosmischen Gegensatz erheben wolle 77 . Der Personalismus also spricht nicht so sehr vom einzelnen Menschen im Gegensatz zum allgemeinen oder durchschnittlichen „Einheitsich" oder „Normalich" (wie in der „Philosophie der Individualität"), 75

Philosophie der Individualität, 1921.

Vgl. zur jetzt wieder „möglich" oder sogar wieder M o d e gewordenen Metaphysik die z w e i völlig verschiedenen Zusammenfassungen v o n K e i l e r : Die auferstandene Metaphysik, 1921, und W u s t : D i e Auferstehung der Metaphysik, 1920. Besonders die letztere ist ein klarer Beleg der großen W e n d u n g in der Philosophie: v o n einer „ o b j e k t i v e n " Wissenschaft zur Selbstaussage und Seinsergriffenheit, also z u m „Existenzialismus". 76

77

a. a. O . S. V I I f. 105

Zwischen Dilthey

und

Heidegger

sondern von dem Menschen überhaupt gegenüber der Sache (und der Natur). Stern kennt allerdings noch die „Besonderheit" als ein Grundmerkmal der Person, genauso wie er noch mit Vorliebe von „Persönlichkeit" spricht. Beides wird in der weiteren Ausbildung des Personalismus aufgegeben. Die Dialektischen Theologen und ihre philosophischen oder katholischen Bundesgenossen (Grisebach, Buber, Guardini, Ebner u. a.) setzen die Person absolut. „Die" Person wird Repräsentativbegriff für alle Menschen, gerade unter Absehung von ihrer individuellen Eigenart. Person zu sein ist das den sonst noch so verschiedenen Menschen Gemeinsame, besonders das den armen, unvollkommenen Menschen Auszeichnende. Dieser Personbegriff soll darum auch die „hochmütige" Auffassung vom Menschen als Persönlichkeit überwinden. Die grundsätzliche Eigenart der Person gegenüber dem Individuum wurde nicht in der Reflexion auf das Ich, sondern im Erlebnis des „Du", also in der „Begegnung" erkannt. Die neue Erkenntnis ist in Bubers Fassung als das „dialogische Prinzip" am bekanntesten geworden: Es gibt durch die ganze Welt hindurch, zu Menschen, zur Natur und zum Geist, eine persönliche und eine sachliche Beziehung, die „Grundworte" Ich-Du und Idi-es. Nur in der persönlichen Beziehung gewinnen wir „Gegenwart", „Gegenseitigkeit", wirkliche Gemeinschaft und wirklichen Sinn unseres Lebens. Diese Personalbeziehung steht zwischen Subjektivismus und Objektivismus (als den beiden Irrwegen des Menschen), denn sie führt niemals das Du auf das Ich zurück, macht es aber ebensowenig zu einem Gegenstand, auch nicht zum Gegenstand der Erkenntnis. Von Buber stammt auch die erste kurze Geschichte der „neuen Sicht des Du 7 8 ". Als die ersten Zeugen des erneuerten Prinzips vor und nach dem Weltkrieg gibt er an: Cohen, Rosenzweig, Ebner, Gogarten und sich selbst. Als frühere und teilweise jetzt wieder aufgenommene 78

Im N a c h w o r t seiner „Schriften über das dialogische P r i n z i p " , 1 9 5 4 . V g l . dazu auch L ö w i t h , D a s I n d i v i d u u m in der R o l l e des M i t menschen, 1 9 2 8 .

106

Die

„Person"

Quellen: Jacobi und Feuerbach (der letztere aber mit einer V e r kehrung des wirklichen D u zu einem mystischen Prinzip). Einen besonderen

Einfluß

schreibt

er auch H a m a n n

zu 7 9 .

Cohen

betont als Quelle noch besonders das Alte Testament: D i e „Entdeckung des Menschen als des Mitmenschen" ist ein Verdienst des jüdischen Volkes 8 0 . Hier wäre darauf hinzuweisen, daß bei der philosophischen Neuentdeckung und vor allem in der Betonung des Vorrangs des D u vor dem Ich wiederum die deutschen Juden die ersten waren. W i r dürfen aber nicht vergessen, daß dieses Prinzip, wenn auch selten so prinzipiell, in der Theologie schon immer und in der philosophischen E t h i k mindestens seit K a n t lebendig war 8 1 . In der Theologie wird zugleich damit die bisher ausgeklammerte älteste Bedeutung des Wortes „Geschichtlichkeit": zur Geschichte gehören, als wirklich (gelebt habend) bezeugt sein, wieder für unser Thema relevant. V o n Schleiermacher an bis zu Herrmann und Kähler hatte sich die Frage nach der „Geschichtlichkeit" Jesu immer mehr zu der Frage nach seiner „Person" und „Wirksamkeit" verschoben, oder wurden die Ergebnisse der zweiten Frage auch schon als Antworten auf die erste genommen 8 2 . So gewann die „Geschichtlichkeit" Jesu, zusätzlich zu der nie ganz aufgegebenen Faktizitätsfrage, eine innerliche oder existenzielle v9

Humboldt und Grimm wären ebenfalls zu nennen, denn Sprachbetrachtungen werden nun das wichtigste Medium der neuen „Lehre". Sie führen bei Ebner wieder zu einer ausgeprägten Sprachphilosophie: „Der Mensch ist nur im Wort gegeben" (Wort und geistige Realitäten, S. z5). 80

Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Kap. VIII. 81

S. zur Entwicklung der Theologie die Theologiegeschichten von E. Hirsch oder von F. Kattenbusch.

82

s. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der gesdiichtliche biblische Christus, 2 1896, vgl. demgegenüber Troeltsch, Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu f ü r den Glauben, 1 9 1 1 . 107

Zwischen Dilthey und Heidegger oder „kerygmatische" Bedeutung 83 . Und in dieser Auslegung wird die Persönlichkeit Jesu (d. h. um die Jahrhundertwende: die einzigartige Prägung seiner Person, später: sein Gehorsam) zum einzigen Garanten seiner Lehre. Nicht nur Jesu Persönlichkeit, sondern das Personsein des Menschen überhaupt tritt immer mehr in das Zentrum der Theologie. In der Dialektischen Theologie wird das „Person-seinvor-einem-Gegenüber" radikalisiert und von allem theologischen Idealismus „gereinigt". Die Person wird von „dem Anderen" aus bestimmt: Das Du ist das Subjekt der Idi-Du-Beziehung. Freilich ist der Gebrauch des Wortes „ D u " schillernd, es kann ebensowohl Gott wie den Nächsten meinen, häufig sogar beides in einem: Die Begegnung mit dem menschlichen D u ist die Begegnung mit Gott. Niemals aber gibt es die eine ohne die andere 84 . In dieser Theologie ist die Personalität direkt aus der Begegnung, dem Zufallenden, also von außen bestimmt. Die Personalität führt darum, anders als die Individualität, ohne weiteres zur Gemeinschaft mit anderen hin, und sie kann darum auch direkt zur Geschichtlichkeit oder zu einem Element der Geschichte erklärt werden. So z. B. von Brunner: „Der christliche Persongedanke und der christliche Geschichtsgedanke sind letzten Endes ein und dasselbe 85 ." Genauer gesagt: zur Geschichte gehört das Personsein und das Gemeinsamsein mit anderen. Geschichte ist i. Entscheidung und 2. „Verflochtensein meiner Existenz in die Existenz der andern." „Der Sinn der Geschichtlichkeit ist Solidarität 86 ." 83

Im vollen Sinne erst in den späteren Schriften v o n und Gogarten.

84

Gogarten, Historismus, in Z Z

85

D e r Mensch im Widerspruch, S. 4 5 1 f.

86

ibd. S. 60 f.

108

Bultmann

1 9 2 4 , Brunner, D e r M i t t l e r ,

1927.

DIE

„ G E S C H E H E N S S T R U K T U R "

Das Zeitelement, das schon in dem Begriff der Entscheidung steckte („in einer Situation stehen"), ist noch besonders zu untersuchen, denn in ihm scheint mir die eigentliche Wendung von der Lebensphilosophie zum Existenzialismus und andererseits zu einer „historischeren" Art von Geisteswissenschaft zu liegen. Diese Wendung vollzieht sich nun gerade im Gebrauch des Wortes „Geschichtlichkeit". An der jeweiligen Situation wurde das Einmalige, Unwiederholbare, Irreparable erkannt, und die ganze Geschichte wurde als die in sich unumkehrbare Folge solcher einmaligen Geschehnisse betrachtet. Diese neue Sicht der „Ereignishafligkeit" war noch viel stärker als die vorher betrachteten Aspekte des modernen Geschichtlichkeitsbegriffs durch den Krieg (und die Revolution und Inflation) bedingt. Ich glaube, man kann sagen, daß sie direkt aus der Anschauung der unerwarteten neuen Art von Zeitgeschehen entstand: aus dem Erlebnis eines ganz schwankenden, gar nicht mehr zu berechnenden Zusammenhangs von Geschehnissen, deren jedes nur durch vielerlei Zufälle an einer bestimmten Zeitstelle möglich war und die insgesamt das Leben aller einzelnen so stark bestimmten, wie man es von der vorhergegangenen „ruhigen" Geschichte nie gespürt hatte. Ich finde den klarsten Beleg für diese Herleitung wiederum in Simmeis Kriegsaufsätzen: In den Zeiten des Umschlags, in den „Metamorphosen des Lebens", fühlen wir alle die Geschichte als ein Einmaliges, als die Geburt eines noch nicht Dagewesenen. Und während wir sonst „unter oder über der Geschichte" gelebt haben, nämlich im Alltäglichen oder im Zeitlosen, so leben wir in solchen Zeiten geschichtlich87. Am schärfsten ist diese neue Konzeption der „Historizität" in Freyers Kritik an Dilthey ausgesprochen88. Hier ist das Geschehensmoment so stark betont (sogar als das einzige Charakte87

Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, S. 13 f.

88

In der Festgabe für W. Götz, 1927, s. S. 489 ff, 494, 499.

109

Zwischen Dilthey und

Heidegger

ristikum der Geschichte), daß Diltheys vorwiegend inhaltlich orientierte Geschichtsauffassung demgegenüber als „völlig ungeschichtlich" erscheint. „Diltheys geschichtliche Welt hat etwas merkwürdig Unhistorisches. Man kann geradezu sagen, echte Historizität mangelt ihr durchaus." Frey er sieht in Diltheys Konzeption der Geschichte eine Wendung, „die das Moment echter Geschichtlichkeit geradezu aufhebt": „Der Akzent rückt vom Moment des Geschehens auf das Moment des Gehaltes, von der Zeit auf die Dauer, vom lebendigen Tun auf seinen objektiven Ertrag." „Diltheys geschichtliche Welt ist, pointiert gesprochen, echtes Perfektum, sie ist weder Imperfektum noch Perfektum historicum. Sie ist ,das Totenreich des Gedächtnisses', der Reichtum der vergangenen Menschlichkeit, der durch den Zauberstab des geschichtlichen Verstehens beschworen wird." Hier geht der schöne Vergleich entschieden über den Tatbestand hinaus, denn etwas Imperfektives, gerade nicht Perfektives liegt in allen historischen Darstellungen Diltheys. Dagegen ist die Vernachlässigung des historischen Ablaufs klar erfaßt. Und typisch für die neue Geschichtsauffassung ist nun, daß gerade der Ablauf, das historische Nacheinander, zur „Achse" der Geschichte erklärt wird: „Die geschichtliche Welt ist damit aus ihrer eigenen Achse, aus ihrer Geschichtlichkeit gelöst und im Grunde in ein zeitloses Nebeneinander von geschaffenen Formen und sinnvollen Gehalten verwandelt." Die Geschichte der Philosophie z. B. wird „zu einem Nebeneinander weniger großer Gedankenmotive, die ihren eigenen Gehalt in immer neuen Formen entfalten." Nun kann Freyer nicht ganz leugnen (obgleich er es auch nirgends wirklich zugesteht), daß in der Philosophie tatsächlich die Gedankengehalte an sich stets stärker wirken als die geschichtliche Reihenfolge. Doch für seine Auffassung kommen in Diltheys Darstellung entschieden zu kurz: Geschichte, Soziologie und Psychologie, denn sie haben es nicht mit Formen und deren Sinngehalten, sondern mit Wirklichkeiten zu tun. So begründet er sogar so etwas wie eine Gebiets- und Methodentrennung, die schließlich beiden Geschichtsauffassungen, der am no

Die

„Geschehensstruktur"

Gehalt und der am Geschehen orientierten, ein eigenes Recht zugestünde: „Geist ist nicht nur gültiger Gehalt, zeitentrückter Sinn, sondern auch Wirklichkeit, zeitgebundenes Geschehen." Wichtig, wenn auch für die Folgezeit noch nicht wirksam genug, ist hier die Tatsache, daß Freyer Historie und Soziologie als nah verwandte Wissenschaften bestimmt. Beide arbeiten historisch, beide versetzen die Geschichte „in denjenigen Aggregatzustand zurück, in dem sie noch Entscheidung war", machen sie „noch einmal zur Gegenwart mit ihren akuten Alternativen 89 . Beide sind „Wirklichkeitswissenschaften", und „Wirklichkeit" wird jetzt primär als „Entscheidung in der Zeit" verstanden. Hier ist ein Nachtrag zu machen und die These zu korrigieren, die Aufmerksamkeit auf die Zeit in der Geschichte sei erst durch die Geschehnisse seit 1914 verursacht. In der wissenschaftlichen Diskussion der Begründung der Historie wurde schon lange vorher vom Geschehenscharakter der Geschichte, allerdings auf rein theoretische Weise und ohne solche Akzentuierung wie „Ereignis" und „Entscheidung", gesprochen. Daß die Kategorie der Zeit für die Geschichte konstituierende Bedeutung hat, ist schon in jeder Reflexion über die Geschichte erkannt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt es auch Versuche, in der zeitlichen Bestimmtheit die schlechthin begründende oder überhaupt die einzige historische Kategorie zu sehen. Gottls Vortrag „Die Grenzen der Geschichte" (1903) ist zum ersten Mal auf diese Frage zugespitzt. Er geht von dem gleichen Problem aus, das schon Vico gestellt hatte, und gibt im wesentlichen dieselbe Lösung: Geschichte hat es, im Gegensatz zur Naturwissenschaft, mit der „Wirklichkeit" zu tun, weil sie vernünftiges Geschehen (aus historischen Quellen) wieder erschließt. Neu aber ist gegen89 Der Unterschied ist demgegenüber „gering". Die geschichtliche Wirklichkeit wird in der Historie als Geschehen und Entscheidung gedacht, in der Soziologie in einem bestimmten Querschnitt auf ihre Grundstruktur zusammengezogen. Auch bei diesem Zusammenziehen soll aber das Geschehensmoment nicht eliminiert werden, also ist Soziologie selbst Historie in einem weiteren Sinne.

in

Zwischen Dilthey

und

Heidegger

über V i c o der A k z e n t auf dem „Geschehen". In der Geschichte und nur in der Geschichte „geschieht" etwas, entsteht etwas Neues — w ä h r e n d in der N a t u r sich nur die Kulissen verschieben, nur das Seiende sich wandelt 9 0 . Dittrich geht noch weiter und bestreitet, daß historische G e genstände überhaupt durch ihren Inhalt schon zureichend bestimmt seien 91 . D i e Historie zeichnet sich gerade dadurch v o r anderen Wissenschaften aus, daß ihre Gegenstände außenbezüglich bestimmt sind, und z w a r sowohl chronologisch w i e topologisch: „ D i e B e s o n d e r u n g der historischen Erscheinungen kommt einzig und allein durch ihre außenbezüglich zeitlich-räumliche Bestimmtheit zustande." — Diesen Versuchen steht gegenüber, daß die großen Geschichtsphilosophien der Zeit die historische Einmaligkeit noch immer inhaltlich bestimmten (Rickert durch die „ W e r t h a f t i g k e i t " , Troeltsch später durch die „ I n d i v i d u a l i tät"). Innerhalb der abstrakten Geschichtslogik w i r d diese Frage, soviel ich sehe, entschieden durch Thyssens Untersuchung „ D i e Einmaligkeit der Geschichte" ( 1 9 2 4 ) , und z w a r jetzt rein zugunsten der Zeiteinmaligkeit: Allein die Fixierung an eine Zeitstelle genügt schon (die inhaltliche Besonderheit m a g hinzukommen, ist aber nicht erforderlich), um einen Gegenstand der Historie v o n allen anderen zu unterscheiden. Anschaulicher ist Simmeis Bestimmung, daß ein Wirklichkeitsinhalt erst dann historisch sei, wenn w i r ihn innerhalb unseres Zeitsystems an eine bestimmte Stelle geheftet wissen: E i n bahnbrechendes E x periment w i r d erst durch seine bestimmte Stelle in der Zeit zum historischen Ereignis, an früherer oder späterer Stelle hätte es ganz ungeschichtlich bleiben können 9 2 . Dieser kurze E x k u r s in die Geschichtslogik sollte nur zeigen, daß in der historischen Kategorienlehre schon die entscheidenden neuen B e g r i f f e f ü r die E r f a s s u n g der Geschichtlichkeit entdeckt 90

Die Grenzen der Geschichte, S. 23.

91

Die Grenzen der Geschichte, in H Z 1905.

92

Das Problem der historischen Zeit, S. 14 f. 112

Die

„Gescbehensstruktur"

waren, daß sie darin aber noch ganz theoretisch blieben, bis sie durch eine neue Art, geschichtlich zu erleben, aktualisiert wurden. Dann aber wurden sie auch gleich generell verstanden und auf weite Gebiete angewandt 93 . Die Frage: geschichtlich oder nicht? wurde weit über die eigene Gegenwart hinausgetragen und von den zwanziger Jahren an bis heute in immer noch wachsendem Maße als ein Kriterium der Beurteilung an alle Größen der Geschichte angelegt. Von jetzt an muß man bei jedem historischen Vergleich berücksichtigen (oder gar als oberstes Prinzip herausarbeiten), daß die Griechen oder das Mittelalter oder die Aufklärung „noch nicht geschichtlich waren" oder „noch nicht geschichtlich dachten94". So schreibt schon Spann in seiner „Kategorienlehre" über Hegel, er hätte doch „die absolute Geschichtlichkeit, d. h. Einzigartigkeit, Unwiederholbarkeit und Unableitbarkeit alles Geschehens erkennen müssen, für welche das Bestehen rein formal gleichbleibender Gesetzlichkeiten ein 93 In den folgenden Zitaten ist besonders zu beachten, daß die Soziologie so großen Anteil nahm. 94

Exkurs über den Anfang der Geschichtlichkeit.

Die Frage, wo unsere Geschichtlichkeit der Sache nach zuerst aufgetreten sei, wird verschieden beantwortet. Die Geschichtlichkeit in dem oben herausgearbeiteten Sinne als „Geschehentlichkeit" stammt von der jüdischen Gottesvorstellung ab (so alle Theologen, spätestens ab Baui, ebenso Yorck, Windelband, Cohen, Natorp). E. Brunner gibt „Israel und Persien" an (Das Einmalige in der Geschichte, 1929, S. 80). Streitig bleibt, ob man die eigentlich geschichtliche Kraft schon dem frühen, vorprophetischen Credo, dem Prophetismus oder erst der späteren Escharologie zuschreiben soll. Die meisten Theologen sehen überdies die gereinigte oder „volle" Geschichtlichkeit erst bei Jesus, der Urgemeinde oder Paulus anfangen (s. Dinckler, Geschichte II A 7 in R G G 3 ) . Dagegen sind in einem anderen Sinne von Geschichtlichkeit: als Urheber des Vergangenheitssinnes, mit der Kraft, Vergangenes aufzufassen, zusammenzufassen und auf das eigene politische und kulturelle Werden zu beziehen, immer wieder die Griechen genannt worden (s. E. Schwartz: Über das Verhältnis der Hellenen zur Ge" 3

Zwischen Dilthey

und

Heidegger

leerer Begriff bleibt 9 5 ". In diesem Z i t a t ist nur die „ E i n z i g a r t i g keit und Unwiederholbarkeit des Geschehens"

wirklich neuer

Gebrauch (Einzigartigkeit der Individuen w i r d seit H e r d e r diskutiert). D i e „ U n a b l e i t b a r k e i t " aber und die Gegnerschaft gegen bloß f o r m a l e Gesetzlichkeit ist eine direkte A n k n ü p f u n g an die Lebensphilosophie. H i e r ist jedoch zu fragen, ob nicht die Aufstellung einer „ a b soluten Geschichtlichkeit" vielleicht gerade wieder einen über das Gegebene (die Geschichte) hinausgehenden, zu formalen B e griff einführt. So verwendet in der oben zitierten Stelle S p a n n eine Einsicht seiner Zeit als Kriterium f ü r die Beurteilung weit früherer Systeme, löst also die Einsicht „geschichtlich" v o n ihrem geschichtlichen O r t und legt sie als gleichbleibende „ K a t e g o r i e " an die frühere Geschichte an. Diese G e f a h r spielt besonders in der Soziologie eine Rolle. Sie ist ausführlich diskutiert in G . Sterns Rezension v o n Mannheims „Ideologie und U t o p i e 9 6 " . Mannheim selbst hatte schon gegen die „ f o r m a l e Soziologie" schichte, und: Geschichtsschreibung und Geschichte bei den Hellenen, in: Ges. Werke Bd. I, 1938). A u d i Freyer, der doch die Einmaligkeit als das Kernstück aller Geschichte verteidigt, sieht bei den Griechen und nicht im jüdischen Messianismus „das normale Verhältnis zur Vergangenheit" (Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 206 f.). ö h l e r setzt ebenfalls den A n f a n g des eigentlich geschichtlichen Sinns hinter das Christentum zurück, und zwar in die Sophistik (Zs. f. ph. Fg. 1957, S. 509). Neuerdings wird auch Ä g y p t e n und besonders das „ A l t e Reich" als A n f a n g unserer Geschichtlichkeit bezeichnet, sowohl in dem Sinne, daß dort große geschichtliche Spannung und wirkungsbewußte Ü b e r lieferung zuerst auftraten, als auch in dem Sinne, daß es den realen Quellen unserer K u l t u r , Judentum und Griechentum, die entscheidenden Impulse durch eine (freilich nicht streng belegbare) Nachahnung vermittelte (s. J. Spiegel: Das Werden der altägyptischen Hochkultur. Ägyptische Geistesgeschichte im 3. Jahrtausend v o r C h r . 1953, J- A . Wilson: Ä g y p t e n , in Propyläen-Weltgeschichte Bd. I, 1961). 95

Kategorienlehre,

96

Im Archiv 1930.

114

1924, S. 38.

Die

„Gescbehensstruktur"

jedes Wissen auf eine Stufe der menschlichen Existenz (vor allem des gesellschaftlichen Prozesses) bezogen und hatte den „ R e l a tionismus" in allen Typen des Wissens „entdeckt" 9 7 . E r hatte aber dabei gerade von der bestimmten historischen Erscheinungsform abstrahiert zur „Geschichtlichkeit" überhaupt, vom w i r k lichen sozialen Wandel zur „Wandelbarkeit". Seine historischen Gesetze sind durchweg mit „jeweils" und „immer dann wenn" formuliert. E r muß ganz konsequent den Gedanken der „historischen Einzigartigkeit" ablehnen, denn eine strenge Einzigartigkeit ließe gar keine „historischen Schlüsse" mehr zu. Sterns Kritik ist insofern eine Parallele zu Freyers Stellungnahme gegen Dilthey, als auch er, gegen die Verallgemeinerung Mannheims, den wirklichen Ablauf der Geschichte bewahren will. E r wirft Mannheim vor, er ignoriere den „Situationskoeffizienten 98 ". Stern wendet aber die „Situation" noch ganz anders als Freyer seine „jeweilige Situation" auf den einen Grundzug der Neuzeit (oder des Abendlandes) überhaupt an: Die Tatsache, daß der Mensch Geschichte hat und sie als Geschichte erlebt, ist nicht absolut, sondern selbst eine spezifische Situation, etwa im Unterschied zur geschichtslosen Existenz früherer und gleichzeitiger Völker. „Geschichte ist nicht das apriorische Medium, in dem menschliches Leben sich überhaupt abspielen muß. Sie kann beginnen, sie kann ein Ende haben." Es gibt nicht nur außerhalb unserer Geschichtlichkeit ein „Noch-nicht oder Nichtmehr-geschichtlich-sein", sondern „es gibt so etwas wie mehr oder weniger Geschichtlichsein, wie mehr oder weniger sekundär Geschichtlichsein, mindestens Typen des Geschichtlichseins als ontologisch verschiedene Seinsweisen." Daraus folgt dann direkt: Wir dürfen frühere Epochen nicht mit unseren „kategorialen Apparaturen", z . B . der Kategorie „Geschichtlichkeit", messen 99 ! Die zweite kritische Einwendung Sterns geht noch tiefer, sie 97 98 99

S. Kap. V, 4 in: Ideologie und Utopie, 1928. a. a. O. S. 492 f. S. 504—507.

Zwischen

Dilthey

und

Heidegger

geht auf die Struktur der Geschichte selbst ein: Mannheim übergeht die Geschichte, denn er schiebt „die Selbstauslegung und die Auslegung dessen, was der Geschichte je als eigentliches Sein und ihre eigentliche Welt gilt", beiseite. Keine historische Situation nämlich ist „factum brutum" oder „reines Geschehen", zu der die Auslegung noch hinzukommen könnte, sondern alles Historische ist erst historisch, sofern es ausgelegt ist 100 . Durch die notwendige Beziehung auf eine Auslegung verliert aber auch der Begriff „Sein", wie ihn Mannheim gebraucht, seine naive Eindeutigkeit. Wenn das Sein selbst schon eine Deutung enthält, kann man nicht mehr einfach sagen, daß das Bewußtsein hinter dem Sein zurückbleibt. U n d dann wird es überhaupt fraglich, welches denn wem „unangemessen" sei. „Es macht geradezu die Geschichtlichkeit des Menschen bzw. jedes Geschichtssubjektes aus, jeweils nicht nur in einem gerade erstiegenen eindeutigen Heute zu stehen (das ja jede Vergangenheit verschwinden machen würde), sondern jeweils mit dem einen Fuß schon hier, mit dem anderen noch dort zu sein, d. h. ein vieldeutiges Heute zu haben." In Mannheims Wissenssoziologie ist aber „unser Heute kein richtiges, weil kein historisches Heute, weil nicht das Heute seines Gestern". „So versagt der Historismus an seiner eigenen Verabsolutierung — am Begriff der Geschichte, sofern er ihn entgegen der jeweiligen Seinsauslegung und entgegen dem jeweiligen Geschichtsbegriff der jeweiligen Geschichtsepoche selbst zum eigentlichen Seinsprinzip erhebt 1 0 1 ." Z U S A M M E N F A S S U N G

Als Zusammenfassung der verschiedenen Aspekte und A n triebe im Begriff „Geschichtlichkeit" wähle ich eine spätere und, wie mir scheint, sehr sorgfältig abwägende und gerechte „Meditation": „Gestalt und Geschichte" von F. K . Schumann ( 1 9 4 1 ) . Schumann ist Theologe, doch spricht er hier nicht als Theologe. 100

S. 498, unter Bezug auf Heidegger.

101

Schlußsatz, s. auch S. 4 9 9 — 5 0 1 .

116

Zusammenfassung E r nimmt an der existenzialistischen Bewegung vollen Anteil, und er sieht doch ihre Paradoxe und ihre Unzulänglichkeit, das menschliche Leben wirklich zu erfassen. Die gewählte kurze Schrift ist deshalb zu einer Zusammenfassung dieses Kapitels so gut geeignet, weil sie die verschiedenen kuranten Strömungen nur beschreibt und, von einem überlegenen Standpunkt aus, gedanklich verfolgt, ohne doch selbst schon ein eigenes System oder ein Programm daraus abzuleiten. Schumann geht von einer Betrachtung der Geschichte, in der er schon den Bezug auf uns Menschen als das eigentlich Historische anspricht, zurück zur Bestimmung der „inneren Geschichtlichkeit" des Menschen selbst, wird aber immer wieder von dieser zur wirklichen Geschichte zurückgeführt: „Erst in der Historie erfüllt sich die Geschichtlichkeit des Geschichtlichen 102 ." Die eigentliche Geschichtlichkeit des Menschen liegt in seinem inneren „Widerspruch": E r ist wesentlich Gestalt, aber unabschließbare Gestalt. Der Gestaltbegriff hat hier etwas andere Bedeutung als die Objektivität bei Simmel und Plessner: er bezeichnet nicht die vom Menschen abgelösten Gestalten, die immer schon überholt sind und deshalb immer neue Gestaltungen nötig machen, sondern die Gestalten bleiben mit dem gestaltenden Ich noch verbunden. Die Gestalt, die der Mensch selber ist, läßt sich nicht objektivieren und wird natürlich niemals fertig. Schumann sucht den Grund, warum keine Selbstausprägung dem Menschen genügen kann: „DerMensch ist deshalb unabschließbareGestalt, weil das menschliche Dasein ein Unformalisierbares, nicht Gestalthafles in sich schließt, die Entscheidung 103 ." In der Entscheidung (Schumann sagt: in der „letzten Entscheidung") und nicht im „Formalen, Gestalthaften" liegt schließlich auch der „Sinn der Geschichte" — das ist die damals ganz allgemeine theolo102 z . B . : die Helden sehnen sich nach R u h m , Alexander nach einem H o m e r , a. a. O. S 33. 103

S. 3 2

9 Bauer

Zwischen Dilthey

und

Heidegger

gische Affirmation des Prinzips, das Freyer gegen Dilthey vertreten hatte. Die Geschichtlichkeit des Menschen ist immer „worthaft": Im Anfang aller echten Geschichte steht das Wort. Die Grenze der Geschichte zur Vorgeschichte hin will Schumann deshalb noch nicht nach aufgefundenen Geräten, sondern erst nach gewollten Formen, Ornamenten usw. bestimmen. Auch die Tiefe des geschichtlichen Verständnisses sieht er differenziert nach der Fülle der verschiedenen Funktionen des Wortes. Entscheidend ist das Zeitwort. (Dessen Simplifizierung deutet er als Zeichen für die Abnahme der Seinstiefe, als Preis für die Ausdehnung der Seinsbreite, beim Menschen der letzten Jahrhunderte 104 ). Er unterscheidet nach den drei Personen der Konjugation die drei Funktionen der Sprache: Bezeichnung, Ausdruck und Anrede, von denen die letzte (das Wort „Du") die jüngste sei, aber zugleich „das bedeutsamste Moment an der Geschichtlichkeit des Daseins". Zuletzt arbeitet er, Bubers „Grundworten " folgend, die zwei grundsätzlichen „Wendungen der Geschichtlichkeit" heraus: Die Bezeichnung liegt dem kulturgeschichtlichen Dasein zugrunde, die Anrede dem politisch-geschichtlichen Dasein. Hier treten wieder die beiden Hauptbedeutungen von Geschichte auseinander, denn offenbar hat es das kulturgeschichtliche Dasein sehr viel stärker mit der vergangenen und berichteten Geschichte, das politisch-geschichtliche Dasein aber vor allem mit der jetzt geschehenden Geschichte zu tun. Wir sehen an dieser Untersuchung, wie alle „neuen" Aspekte der Geschichtlichkeit: die Unvollendbarkeit, die Entscheidung, der Anredecharakter, die Aktualität und die Geschehensstruktur, miteinander verflochten sind und wie sie insgesamt die frühere Bestimmung der Geschichtlichkeit: „Kultur" oder Zusammenhang von Gestalten, ablösen oder zumindest zurückdrängen. 104

S. 23 f., 36.

118

Radikalisierung im Existenzialismus und Nationalsozialismus H E I D E G G E R

Heideggers Begriff der Geschichtlichkeit enthält nicht alle, aber doch die meisten der bisher dargestellten Aspekte. Heidegger entwickelt aber aus diesen verschieden gerichteten Gedanken eine geschlossene, beinahe einheitliche (und bekanntermaßen eigenwillige) philosophische Lehre, die einen zentralen Teil seiner existenzialistischen Anthropologie ausmacht. Weil diese Lehre später überaus mächtig und vielfach als „die" philosophische Erfassung der Geschichtlichkeit angesehen wurde, müssen wir sie hier für sich analysieren. Wir untersuchen sie im Hinblick auf ihre existenzialistische Richtung, die in ihr implizierte Wertung, ihre Tauglichkeit, wirklich „Geschichte" zu begründen, und ihr Verhältnis zu den Vorgängern Dilthey und Yorck. Zeitlichkeit, Zukünftigkeit und Endlichkeit Der Horizont, in dem Heidegger die Geschichtlichkeit abhandelt, ist die Untersuchung der Zeit in „Sein und Zeit" (1927) 1 . Geschichtlichkeit bezeichnet so etwas wie die „Geschehensstruktur" des menschlichen Daseins. In der Analyse der Geschichtlichkeit fragt Heidegger nach der „spezifischen Bewegtheit und Beharrlichkeit, die dem Geschehen des Daseins eignen" (S. 375). In diesem Sinn ist Geschichtlichkeit dasselbe, was Heidegger schon vorher viel breiter, aber noch weniger genau als „Zeitlichkeit" dargestellt hat. In einem anderen Sinn soll aber auch die Geschichtlichkeit sekundär gegenüber der Zeitlichkeit 1

Sein und Zeit, 1927, Abschnitt II und besonders Kap. 5.

119

Radikalisierung

im Existenzialismus

u.

Nationalsozialismus

sein: „ D i e A n a l y s e der Geschichtlichkeit des Daseins versudit zu zeigen, daß dieses Seiende nicht ,zeitlich' ist, weil es ,in der Geschichte steht', sondern daß es umgekehrt geschichtlich nur existiert und existieren kann, weil es im G r u n d e seines Seins zeitlich ist" (376). Eigentlich soll die Interpretation der G e schichtlichkeit „ n u r eine konkrete Ausarbeitung der Zeitlichkeit" sein (382). Schon die Zeitlichkeit w a r als das „einheitliche P h ä n o m e n " der „ gewesend-gegen wärtigenden Z u k u n f t " bestimmt w o r d e n , und die Z u k u n f t als ihr „primärer S i n n " (326 f.). Demgegenüber müßte die Geschichtlichkeit die Betrachtung des Daseins unter dem A s p e k t der Vergangenheit („Gewesenheit") sein ( 3 8 1 ) . Sie hat es mit dem „Übernehmen des E r b e s " zu tun. I n Wirklichkeit steht aber auch sie unter der eindeutigen Ausrichtung auf die Z u k u n f t . D a s E r b e ist nichts Selbständiges, v o m

Dasein

irgendwie Abtrennbares. M a n darf es gar nicht aus der „ W e l t " und dem „innerweltlichen Z e u g " bestimmen, denn diese sind selber nur sekundär geschichtlich, nur das Dasein ist p r i m ä r geschichtlich (388). D a s Dasein hat aber auch kein direktes V e r hältnis zur Geschichte, es nimmt sie nie um ihretwillen, sondern nur um seiner eigenen W a h l willen auf. D i e Geschichte besteht nur aus lauter „Möglichkeiten" des Existierens, und diese M ö g lichkeiten selber sind nur, soweit das gegenwärtige Dasein sie wählt. „ D i e Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zurückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als g e w o r f e n e übernimmt" (383). Nicht das Erbe bestimmt das gegenwärtige Dasein, sondern die Entschlossenheit. U n d audi die Möglichkeiten werden nicht in ihrer alten Gestalt wiederholt, sondern werden neu beantwortet (was freilich keinen Fortschritt, nur ein Reaktivieren einschließt): „ D a s wiederholende Sichüberliefern einer gewesenen Möglichkeit 2 erschließt jedoch das dagewesene 2

Der Ausdruck ist hier dreideutig. Gemeint ist: das Dasein überliefert sich selbst eine gewesene Möglichkeit. 120

Heidegger

Dasein nicht, um es abermals zu verwirklichen. Die Wiederholung des Möglichen ist weder ein Wiederbringen des ^ e r gangenen' noch ein Zurückbringen der Gegenwart' an das ,Überholte' . . . Die Wiederholung erwidert vielmehr die Möglichkeit der dagewesenen Existenz. Die Erwiderung der Möglichkeit im Entschluß ist aber zugleich als augenblickliche der Widerruf dessen, was im Heute sich als ,Vergangenheit' auswirkt" (385 f.). An dieser Stelle bekennt Heidegger einmal ausdrücklich, daß es ihm auf den Zusammenhang in der Zukunft ebensowenig wie auf den der Vergangenheit ankommt: „Die Wiederholung überläßt sich weder dem Vergangenen, noch zielt sie auf einen Fortschritt. Beides ist der eigentlichen Existenz im Augenblick gleichgültig" (386). Das existierende Dasein ist also im Grunde nur an sich selbst interessiert, statt an der Geschichte oder der Zukunft nur an der „Geschichtlichkeit" und „Zukünftigkeit", weil sie zu seiner Existenz gehören. Daß die Geschichtlichkeit so primär aus der Zukunft und nicht aus der Vergangenheit bestimmt wird, hat seinen weltanschaulichen Grund in Heideggers eigentümlicher Auffassung von der „Endlichkeit" des Daseins. Heidegger faßt die „Endlichkeit" zunächst streng wörtlich auf. Sie bezeichnet nicht nur die empirische Gebundenheit und die unaufhebbare Unvollkommenheit, sondern primär die Tatsache, daß jedes Dasein mit seinem Tod enden muß, und zugleich das Wissen um dies Ende („Sein zum Tode"). Dann aber soll erst dieses Wissen vom Ende „das Dasein auf sich selbst zurückwerfen", d. h. bewirken, daß das Dasein sich mit seinem eigenen Leben befaßt, Möglichkeiten wählt und „eigentlich" existiert. „Die Geschichte hat als Seinsweise des Daseins ihre Wurzel so wesenhaft: in der Zukunft, daß der Tod als die charakterisierte Möglichkeit des Daseins die vorlaufende Existenz auf ihre faktische Geworfenheit zurückwirft und so erst der Gewesenheit ihren eigentümlichen Vorrang im Geschichtlichen verleiht. Das eigentliche Sein zum Tode, d. h. die Endlichkeit der Zeitlichkeit, ist der verborgene Grund der 121

Radikalisierung

im Existenzialismus

u.

Nationalsozialismus

Geschichtlichkeit des Daseins" (386). Ebenso gelten alle Existenziale, die früher als Kennzeichen der Sorge beschrieben waren: Tod, Schuld, Gewissen, Freiheit und Endlichkeit, jetzt als inhaltliche Merkmale der Geschichtlichkeit (385). „Geschichtlichkeit" ist ein zusammenfassender Ausdruck f ü r die „Seinsweise" des menschlichen Daseins. Entschlossenheit und Einzigkeit. Gemeinschaft. „ Geschicklichkeit" Konkurrierend mit diesem Wortgebrauch, der Geschichtlichkeit jedem Menschen (jedem „Dasein") zuschreibt, hat Heidegger noch einen wertenden Gebrauch, der die Geschichtlichkeit bzw. die „eigentliche Geschichtlichkeit" wenigen Menschen vorbehält. (Schon der erste Wortgebrauch war keineswegs neutral, sondern enthielt diese Wertung implizit.) „Eigentlich geschichtlich" ist nur, wer völlig entschlossen, sich selbst treu, kritisch gegenüber der Vergangenheit und der Öffentlichkeit, „schicksalhaft-augenblicklich" lebt und sich nicht aus dem Vorhandenen, aus „Geschäften" und „Vorfällen", aus der „Weltgeschichte" versteht. „Das Man weicht der Wahl aus. Blind f ü r Möglichkeiten, vermag es nicht Gewesenes zu wiederholen, sondern es behält nur und erhält das übrig gebliebe ,Wirkliche' des gewesenen Weltgeschichtlichen, die Überbleibsel und die vorhandene Kunde darüber. In die Gegenwärtigkeit des Heute verloren, versteht es die ,Vergangenheit' aus der ,Gegenwart'. Die Zeitlichkeit der eigentlichen Geschichtlichkeit dagegen ist als vorlaufend wiederholender Augenblick eine Entgegenwärtigung des Heute und eine Entwöhnung von den Üblichkeiten des M a n " (391). Die eigentliche Geschichtlichkeit wäre demnach verwirklicht in dem ganz auf sich selbst stehenden, absolut kritischen Individuum, das auch die Welt und die Geschichte nicht als Korrektiv außerhalb seiner, sondern in sich selbst hat (als „schon sein bei der Welt" und „faktisch geworfen sein auf seine Möglichkeiten"). Dieser Geschichtlichkeit würde aber aller Zusam122

Heidegger

menhang in der Zeit und alle Verbindlichkeit zwischen den Individuen fehlen. Um diesem Einwand zu begegnen, macht Heidegger, soviel ich sehe, zwei nicht im System begründete Hinzufügungen: Er führt die Begriffe des Schicksals und des Geschickes ein. „Schicksal" bezeichnet die Konsequenz („Ständigkeit") des entschlossenen Selbst. „Die Endlichkeit der Existenz reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden nächsten Möglichkeiten des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals." „Das Dasein kann nur deshalb von Schicksalsschlägen getroffen werden, weil es im Grunde seines Seins in dem gekennzeichneten Sinne Schicksal ist. Schicksalhaft in der sich überliefernden Entschlossenheit existierend, ist das Dasein als In-der-Welt-sein für das Entgegenkommen' der glücklichen' Umstände und die Grausamkeit der Zufälle erschlossen. Durch das Zusammenstoßen von Umständen und Begebenheiten entsteht nicht erst das Schicksal" (3 84). Schicksal ist also wiederum subjektives Schicksal, mithin nur ein anderer Ausdruck für Geschichtlichkeit (385), allerdings ein Ausdruck, der doch noch die entgegenstehenden äußeren Zufälle anerkennt. „Geschick" aber bezeichnet das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes. „Gemeinschaft" klingt bei Heidegger sehr ungewohnt, und wir müssen untersuchen, wie weit er wirklich seinen strengen Individualismus modifiziert. An zwei Stellen in „Sein und Zeit" stellt Heidegger das „Mitsein" als ein ursprüngliches Existenzial auf 3 . Das fremde Dasein soll nicht erst nachträglich zum isolierten Ich hinzukommen. Es ist schon immer „auch" da, das Ich ist Ich „unter" anderen und „mit" anderen (117—120). Zunächst werden die anderen von der Welt aus verstanden: sie „begegnen mit" mit allem Zeug, sie begegnen zunächst „umweltlich" (119). Nur zwei voll menschliche Beziehungen werden erörtert: das Ich „sorgt f ü r " die anderen und „versteht" die anderen (121—125). In der Darstellung der Fürsorge und des 3

Hier in einem Absatz S. 384 f. und in § 26.

Radikalisierung

im Existenzialismus

u.

Nationalsozialismus

Verstehens zeigt sich aber: das Mitsein f ü h r t nicht zur Gemeinschaft (Gemeinschaft erscheint hier nur als die schlechte Ö f f e n t lichkeit, als das Man). D a s Mitsein bedeutet nur ein Ebenso-sein und Gleichfalls-dasein. Heidegger w i l l z w a r den anderen nicht zur „Dublette des Selbst" machen, aber im wesentlichen w i r d er dodi als der Mit-daseiende gleichgeschaltet. N u r ein einziges M a l spricht Heidegger v o m Sein „ z u " anderen als einem „irreduktiblen Seinsbezug" ( 1 2 5 ) . A b e r diese Grundbeziehung bleibt im weiteren System folgenlos. In unserem Zusammenhang f ü h r t Heidegger dann durch die K a t e g o r i e des Mitseins plötzlich das V o l k und die Gemeinschaft ein, und hier ist die Geschichtlichkeit (die er nun „Geschick" nennt) ganz o f f e n b a r an das Miteinandersein gebunden. I n „ M i t t e i l u n g " und „ K a m p f " hat er z w a r noch nicht alle, aber doch zwei entscheidende Z ü g e erfaßt, die die wirkliche Geschichte („Weltgeschichte") konstituieren. U n d der zusammenfassende S a t z : „ D a s schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner .Generation' macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus" (384 f.), hört sich vollends so an, als ob m a n ihn einer wirklich historischen A r b e i t zugrundelegen könnte 4 . N u r geht der Versuch, das „ v o l l e Gesdiehen" zu begreifen, nicht mehr weiter, sondern Heidegger zieht sich dann wieder auf die E x i stenziale und die grundsätzliche Diskussion der Zeitlichkeit und ihres wichtigsten „ S i n n s " , der Z u k u n f t , zurück. Später f ü h r t Heidegger das „Geschick" noch weiter bis zur „Geschicklichkeit", die dann überhaupt an die Stelle der G e schichtlichkeit tritt 5 . J e t z t aber besteht das „Geschick" nicht mehr im Geschehen „zwischen" den Menschen und V ö l k e r n , sondern gleichsam dahinter: D a s Sein selbst ist „das Schickend-Geschickliche". Geschichte besteht nicht mehr in der Entwicklung der 4

Heidegger beruft sich hier auf Dilthey.

5

Brief über den „Humanismus", 1947, S. 7 1 , 81 u. ö., s. auch „Ursprung des Kunstwerkes" und „Zeit des Weltbildes", in: Holzwege, 1951. 124

Heidegger

Menschen und ihrer Beziehungen zueinander, sondern allein in der Steigerung und dem Verfall („Degeneration") des Seins. Begründung

der Historie aus der

Geschichtlichkeit

Heidegger will aus seinem Begriff der Geschichtlichkeit die wirkliche „Historie" (als Wissenschaft) begründen. „Begründen" heißt bei ihm: sowohl die existenzialen Grundlagen dieser Forschungsrichtung aufsuchen, als auch die Historie selbst nach seinem Begriff von der Existenz neu bestimmen. Er begründet also nicht „die" Historie, sondern eine existenzialistische Art von Geschichtsforschung. „Die ,Auswahl* dessen, was für die Historie möglicher Gegenstand werden soll, ist schon getroffen in der faktischen existenziellen Wahl der Geschichtlichkeit des Daseins, in dem allererst die Historie entspringt und einzig ist" (395). Diese „eigentliche" Historie ist nicht auf die „Tatsachen" selbst, sondern auf die „Möglichkeiten" (von vergangenen Existenzen) gerichtet (394 f.). Sie kümmert sich weniger als jede andere Wissenschaft um die „Allgemeingültigkeit der Maßstäbe". Sie weist die „Ansprüche auf .Allgemeinheit', die das Man und seine Verständigkeit fordert", ausdrücklich zurück (395). In ihr kann deshalb ein Problem des „Historismus" gar nicht erst aufkommen (396). Aber im Grunde verlangt die existenziale Geschichtlichkeit des Daseins nicht einmal nach einer Geschichte. Die eigentliche Geschichtlichkeit „bedarf nicht notwendig der H i storie. Unhistorische Zeitalter sind als solche nicht auch schon ungeschichtlich" (396). Das alles heißt: Die Geschichtlichkeit Heideggers hat mit der Geschichte nicht mehr viel zu tun. Ihr fehlt die Kontinuität, die Bindung an die Tatsachen und (nicht völlig, wie wir gesehen haben) die Intersubjektivität. Man kann das kritisieren, als eine Inkonsequenz oder als „expressionistischen" Sprachmißbrauch (Misch), der der Sprache ganz neue Bedeutungen auferlegt und der tatsächlich immer wieder Kritik herausfordert. Krockow findet z.B., daß Heidegger sich am Ende selbst widerlegt: „In 12*

Radikalisierung im Existenzialismus u. Nationalsozialismus der Unbezüglichkeit des radikalen Zukünftigseins kann ein eigentlicher Kontakt mit der Wirklichkeit — d. h. dem die Gegenwart Durchwirkenden — des Vergangenen niemals gewonnen werden; die Geschichtlichkeit bleibt, so viel man auch von ihr redet, als Wiederholung von .Möglichkeiten' immer unbezüglichzukünftig, also im Sinne der konkreten, die Gegenwart durchwirkenden Bezüge abstrakt und ungeschichtlich — so abstrakt und ungeschichtlich wie nur je eine naturrechtliche Konstruktion 6 ." Uns kommt es hier nicht auf diese Kritik an, die ja nur eine andere (postexistenzialistische) Konzeption von Geschichtlichkeit gegen die Heideggers ausspielen kann, sondern allein auf die Einsicht, daß das Wort „geschichtlich" bei Heidegger ganz grundsätzlich, wie in vielen Andeutungen schon vorher, eine eigene und selbständige Bedeutung gewonnen hat. Es hat nichts mehr mit dem Partizip „geschehen" zu tun, von dem es ursprünglich abgeleitet wurde, sondern bezieht sich allein noch auf den Infinitiv „geschehen7". Geschichtlichkeit in diesem Sinn kann und soll gar keine Geschichte begründen, sondern bezeichnet umgekehrt die Rudimente von subjektiver Aktivität, auf die alle Geschichte (die zu tuende wie die zu betrachtende) zurückgeführt werden soll.

Vergleich mit Dilthey und Yorck Heidegger bezeichnet seine Exposition des Problems der Geschichtlichkeit als eine Frucht der Aneignung der Arbeit Diltheys. Er beruft sich in einem besonderen Paragraphen (§ 97) auf Dilthey, noch stärker auf Yorck, und zitiert wirklich die zentralen Stellen aus ihrem Briefwechsel. Die Übereinstimmung ist erstaun6

D i e Entscheidung, S. 1 3 1 .

7

Diese U m d e u t u n g , R e a k t i v i e r u n g und Potenzierung v o n v e r g a n gener Wirklichkeit ist bei Heidegger so stark, daß er selbst das „gewesen" (sein W o r t f ü r Vergangenheit) umschreibt zu „ g e w e s e n d " , was keinen rational verstehbaren, sondern n u r noch „bedeutenden" Sinn hat.

126

Heidegger lieh groß. Freilich wird einiges nur zitiert, nicht wirklich aufgenommen (so die Zeitkritik und die Pädagogik oder sogar Staatspädagogik Yorcks). Die ethische Reflexion und alle historischen Urteile sind bezeichnenderweise ganz ausgelassen. Anderes wird sogleich umgedeutet. In einer Tendenz stimmen Heidegger und Yorck völlig überein: daß endlich „statt eines sogenannten öffentlichen Gewissens — dieser radikalen Veräußerlichung — wieder Einzelgewissen, d. h. Gewissen mächtig werden" sollen 8 . Entsprechend bestimmen beide die Aufgabe aller Geschichte als Kritik, die aber Heidegger bis zur Entwertung der Tradition überhaupt fortführt 9 . Den grundsätzlichen Unterschied zwischen der neuen Konzeption und Diltheys Richtung hat Misch in seinem beinahe schiedsrichterlichen Buch „Lebensphilosophie und Phänomenologie" drei Jahre nach „Sein und Zeit" schon in allen Einzelheiten erfaßt. Für unsere Zwecke können wir daraus nur die großen Tendenzen zusammenfassen. Heideggers Begriff von Geschichtlichkeit enthält gegenüber dem von Dilthey erstens eine Verengerung. E r läßt nicht mehr die volle, bei Dilthey noch besonders reiche Geschichte gelten. Heidegger ist gegen das bloße „Angaffen" und alle nicht existenziell verwirklichten, also „überflüssigen" Möglichkeiten der Geschichte. Zweitens stellt Heideggers Begriff gegenüber dem früheren eine Aktivierung dar. Heidegger will Diltheys Bestrebungen durch Yorcks Ideen mehr „Stoßkraft" geben 10 . 8

S. 403 =

9

So schon S. 2 i .

B r w . 2 4 9 f.

10

Es ist auffällig, daß in diesem U r t e i l Y o r c k gegenüber D i l t h e y dieselbe R o l l e zufällt wie im Urteil der Nachhegelianer Fichte gegenüber Hegel (s. Rüge, S . 24). Die V e r f o l g u n g dieses Unterschiedes w ü r d e ebenfalls auf eine prinzipielle Z w e i d e u t b a r k e i t im Begriff Geschichtlichkeit selbst und m. E . nicht bloß auf eine V e r b i n d u n g einer einzigen A u f f a s s u n g mit jeweils zwei verschiedenen T e m p e ramenten f ü h r e n .

" 7

Radikalisierung im Existenzialismus u. Nationalsozialismus

Drittens unterliegt der Begriff jetzt der Einordnung in die „neue" Metaphysik 11 . Heidegger glättet die „generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem": Beides ist jetzt „Seiendes" und beiden übergeordnet ist „das Sein" — das in „Sein und Zeit" noch erst eine offene Frage ist, in Heideggers weiterer Entwicklung aber der „Ursprung" und der „Horizont" des Alls, kurz ein metaphysischer Angelpunkt wird, der ihn aus der Geschichte hinaushebt. E X I S T E N Z I E L L E UND „SACHLICHE" G E S C H I C H T S A U F F A S S U N G

Die Nachwirkung von Heideggers Begriff der Geschichtlichkeit und verwandten existenzialistischen Fassungen des Begriffs erstreckt sich bis in die Gegenwart. Sie erlebte jedoch ein zweimaliges An- und Abschwellen: von 1927 bis zum Kriegsende, und wieder, unter ganz anderen Voraussetzungen, von 194$ bis heute. Wenn dabei im folgenden (wie schon bisher) von „Existenzialismus" gesprochen wird, so ist zu beachten, daß dieser Name der Bewegung erst durch einen bewußt Außenstehenden (F. Heinemann) beigelegt wurde 12 , und daß die beiden Hauptvertreter Heidegger und Jaspers ihn nur teilweise oder zeitweise akzeptierten 13 . Der Name trifft jedoch gut die subjektive („daseinsmäßige") Auffassung von der Geschichtlichkeit des Menschen und kann darum für unsere Untersuchung beibehalten werden. Insofern Geschichtlichkeit ein bloßes für jedes Dasein zutreffendes „Existenzial" sein soll, ließ sich der Begriff kaum noch weiter entwickeln, nur immer weiter wiederholen und in noch anderen Terminologien ausspinnen 14 . Der Satz etwa, daß das Sein 11

S. Anm. 76 zu S. 10$.

12

Neue Wege der Philosophie, 1929.

13

Heinemann in Zs. f. ph. Fg. 1950/51.

14

Vgl F. J Brecht, Landgrebe, M. Müller, später Berlinger, Häuptner — über diesen s. u. S. 152. 128

Existenzielle

und „sachliche"

Geschichtsauffassung

selbst die Geschichtlichkeit der Geschichte sei 15 , ist gewiß noch ein Schritt über „Sein und Z e i t " hinaus, ist aber ebensowenig verifizierbar wie die obersten metaphysischen Bestimmungen von Heidegger selbst. Wirkliche gedankliche Arbeit an dem f r a g lichen Begriff wurde nur von denen geleistet, die ein Problem in ihm anerkannten und die ihn wieder zu den historischen Problemen in Beziehung setzten. Die Geschichtlichkeit muß, wenn sie wirklich diskutiert und philosophisch bestimmt werden soll, einen Gegenbegriff zulassen und darf nicht selbstverständlich sein, d. h. sie muß als geschichtliches oder als Werturteil untersucht und nidht als Kategorie einfach hingenommen werden. In der T a t w a r die neue „Geschichtlichkeit" eher eine Streitfrage als ein sicherer und anwendbarer Begriff der Philosophie. Geschichtlichkeit im existenzialistischen Sinn soll nämlich dieselbe Tatsache positiv oder neutral ausdrücken, die in den H i storismus- und Relativismusdiskussionen stets als Anlaß der Skepsis gewirkt hatte. Die Tatsache der radikalen Verschiedenheit unter den Menschen w a r jedoch nur dann so einfach hinzunehmen oder positiv zu bewerten, wenn man allein an der eigenen Existenz interessiert und gegenüber allen anderen E x i stenzen gleichgültig war, oder aber wenn man eine pluralistische Weltanschauung hielt und sich widersprechende Lebensprinzipien f ü r gleichberechtigt anerkannte. Überall jedoch, w o die alten Prinzipien der Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit nicht so leicht aufgegeben wurden, blieben die Fragen übrig: Wie verhält sich meine Wahl zu den vorgegebenen Möglichkeiten von E x i stenz, wie zu den verwirklichten Möglichkeiten, also der Wahl anderer? Wie verhält sich insgesamt meine Geschichtlichkeit zu „der Geschichte"?

Unabschließbarkeit der Existenz Jaspers' Lehre von der Unabschließbarkeit der Existenz ist in diesem Punkt der entschiedene Gegensatz gegen Heideggers 15

M. Müller, Existenzphilosophie, 19 j 3. 129

Radikalisierung im Existenzialismus u. Nationalsozialismus existenzialistische Wahl. Jaspers nämlich hat die oben genannten Fragen nicht nur beschwichtigt, sondern hat sie vorher ausführlich diskutiert 16 . In der Darstellung können wir uns eine Eigenart Jaspers' zunutze machen: Weil er versucht, „das Umgreifende" zu denken, bringt er beinahe in jedem Satz, der doch immer nur eine Seite des Umgreifenden andeuten kann, zugleich auch durch Einschübe das Gegenteil der einseitigen Hauptaussage zum Ausdruck. Deshalb läßt sich Jaspers eigentlich nie auf „eine Meinung" festlegen, er ist „der schwebende Philosoph" (Heinemann). Deshalb können wir aber auch umgekehrt in einem einzigen Satz seine ganze Lehre von der Geschichtlichkeit zusammengefaßt finden: „Eine Erweiterung des Sehens und Mitwissens auf alles, was möglich ist, hat heute die Ungebundenheit gezeitigt, in der es nur noch die eine unübertragbare Wahl gibt: entweder zum Nichts oder zur absoluten Geschichtlichkeit des eignen Grundes, die zu Hause ist in aller Möglichkeit mit dem Bewußtsein von bindender Grenze 17 ." Jaspers sieht hier die Frage der Geschichtlichkeit erst akut werden durch den Historismus, wobei er den Historismus in seinem doppelten Sinn versteht: als Erweiterung der Einsicht und als „Ungebundenheit", die zugleich positive Freiheit und Schwäche der eigenen Haltung bedeuten kann. Die Geschichtlichkeit nun, die der Historismus hervorgetrieben hat, ist keine schon vorhandene Tatsache, sondern wird erst in einer Wahl gewählt. Jaspers betont ebenso stark wie Heidegger, daß die Tradition gar nicht an sich besteht, sondern erst dadurch Tradition wird, daß das gegenwärtige Ich sie übernimmt 1 8 . Seine abweichende Auffassung verrät sich aber darin, daß er statt der 18

Schriftlich hat er diese Reflexionen erst verhältnismäßig spät m i t -

geteilt: zuerst in der „Geistigen Situation der Z e i t " , 1 9 3 1 , zusammenhängend unter dem Titel „Geschichtlichkeit" in seiner sophie", 1 9 3 2 , Bd. II, I.. Hauptteil, K a p . 4. 17

D i e geistige Situation der Zeit, S. 1 3 1 .

18

a. a. O . S. 83 f.

130

„Philo-

Existenzielle und „sachliche" Geschichtsauffassung bloßen Wiederholung von Möglichkeiten, statt dieser „unwahren Geschichtlichkeit", die wirkliche „Aneignung" fordert 19 . Ebenso radikal wie Heidegger ist Jaspers in der Formulierung der Wahl: entweder die Geschichtlichkeit in genau der Weite und der Bindung, wie er sie versteht, oder das pure Nichts! Was gewählt wird, ist die „Geschichtlichkeit des eigenen Grundes", also für jeden Menschen die zugehörige Tradition. Die eigene Tradition genügt aber nicht, sondern die „absolute Geschichtlichkeit" ist erst die, welche mit allen Möglichkeiten vertraut ist. Von dem hier geäußerten Absolutheitsdrang Jaspers', der dadurch, daß er „alle" Möglichkeiten zu verstehen sucht, über die Bedingtheit und Vorläufigkeit dieser Möglichkeiten hinwegkommen will, können wir hier absehen. Entscheidend ist nur, und das macht auch den Hauptunterschied gegenüber Heideggers endgültig gewählter Wahl aus, daß Jaspers nie mit dem Nun-einmal-so-sein zufrieden ist. Er brandmarkt den „Drang zum J a und zu sich, wie man nun einmal ist", die „Ganzheitsbetrachtung" und das „Heute um jeden Preis" als die große Suggestion und den Grundirrtum seiner Zeit 20 . Die Voraussetzung für seine Geschichtlichkeit ist: sich gegenwärtig Entscheiden und doch noch Offenbleiben und nicht Festgelegtsein 21 . Das Offenbleiben für alle Möglichkeiten darf nun aber nicht das gleiche sein wie die Ungebundenheit des Historismus. Zur absoluten Geschichtlichkeit gehört deshalb noch das „Bewußtsein von bindender Grenze" (in der „Philosophie" ausführlich beschrieben als Verpflichtung und Treue). Zwischen den beiden Notwendigkeiten der Existenz, sich festzulegen und doch noch offen zu bleiben, findet Jaspers ebensowenig wie Scheler und Simmel eine endgültige Lösung. Seine letzte Auskunft ist, daß der Widerstreit in der Praxis je schon immer gelöst wird. Die Philosophie kann nur die Weltanschau19

S. 106 f. » S. 22. 21 Philosophie II, S. 128. 2

131

Radikalisierung

im Existenzialismus

u.

Nationalsozialismus

ungen („Denkstandpunkte") miteinander zu vereinbaren suchen, die „geschichtliche Wahrheit" aber, die Wahl der eigenen Existenz, läßt sich nicht theoretisch erfassen. (Und dennoch bleibt Jaspers' ganze Philosophie ein Versuch der theoretischen Umschreibung dieser existenziellen Wahrheit). „Es entspricht dieser existenziell-geschichtlichen Wahrheit die formale Unvermeidlichkeit des Denkens: man kann mit keinem Standpunkt als objektiv gültig ausgesprochenem zufrieden sein und muß doch in jedem Augenblick auf einem Standpunkt stehen, wenn man überhaupt denkt. Während sich jedoch die Gesamtheit der Denkstandpunkte wohl formal in Kategorienund Methodenlehre versuchsweise übersichtlich machen und beherrschen läßt, sind dagegen die geschichtlichen Standpunkte Schritte einer Freiheit, in der Existenz wird; sie sind weder übersehbar noch nach Anfang und Ende, Ursprung und Ziel abschätzbar oder theoretisch vorauszusehen. Sie sind als existenzielle Schritte die Wahrheit, die in Kommunikation und in bezug auf Transzendenz sich ihrer gewiß ist, nicht aber eine Wahrheit, die theoretisch und allgemein gewußt werden kann 22 ."

Dialog mit der Geschichte Jaspers' Geschichtlichkeit hat es wieder mit beidem, mit der gegenwärtigen Existenz und mit der wirklichen Geschichte zu tun. Die Zukunft ist nicht mehr der einzig bedeutsame Zeitsinn. Der Mensch ist „nach beiden Richtungen auf lange Sicht in die Substanz seiner Geschichtlichkeit eingesenkt . . . Sein Eigentum ist der unantastbare, enge Raum, von dem aus er teil hat an dem Gesamtraum der menschlichen Geschichtlichkeit23." Dem entspricht auch, daß Jaspers „historisch" gearbeitet (und später über die Geschichte selbst philosophiert) hat. Seine Art von Philosophiegeschichte unterscheidet sich aber auffällig von der 22

ibd. S. 1 2 4 f.

28

D i e geistige Situation der Z e i t , S. 49.

132

Existenzielle

und „sachliche"

Geschichtsauffassung

bisherigen Philosophiegeschichte: Er bezieht jeden Einzelzug in seiner historischen Darstellung auf den heutigen Menschen und seine Lebensfragen. E r ist stets mehr an der möglichen sinnvollen Deutung (auch Veränderung und Verbesserung) eines einmal ausgesprochenen Gedankens interessiert als an der Zurechnung des Gedankens zii seinem Autor und seiner Zeit 24 . Doch darin steht Jaspers keineswegs allein in seiner Zeit. E r nimmt nur führenden Anteil an einer großen Bewegung, die in mehreren Gebieten der Geistesgeschichte versuchte, nicht Geschichte an sich darzustellen, sondern die jeweils „akzeptierte" Geschichte, „je mein" Erbe aus der Vergangenheit zu erschließen. Natürlich wird nicht erst jetzt die Bezogenheit der Geschichte auf die Gegenwart bewußt. Dieses Bewußtsein liegt vielmehr schon, mehr oder minder deutlich, jeder Beschäftigung mit der Geschichte zugrunde. Aber diese Gegenwartsbezogenheit galt früher ganz selbstverständlich und brauchte nicht diskutiert zu werden. Sie war dann durch die Kritik von Nietzsche bis Th. Lessing fragwürdig geworden, und seitdem war sie die Hauptfrage über aller Beschäftigung mit der Geschichte. Die historischen Wissenschaften konnten nur dann einen Wert haben, wenn die Geschichte etwas mit unserem gegenwärtigen Leben zu tun hat. (Wobei noch immer die andere Frage offen bleibt, wie weit auch die Gegenwart von sich aus auf ihre Vergangenheit angewiesen ist.) Den grundsätzlichen Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart im Menschen nachzuweisen, war ja sdion das Hauptbemühen Heideggers gewesen. Nur war für sein entschlossenes Ich, das sich sein Erbe selbst überliefert und durch seine Wahl erst wirklich macht, die Gesdiichte keine echte Geschichte geblieben. Bei Jaspers haben die „Möglichkeiten" der Geschichte immerhin so viel eigenes Recht, gegenüber dem Subjekt, bewahrt, daß sie seine Entscheidung korrigieren („offen halten") können. Ausgezeichneten Individuen der Geschichte Vgl. seinen „Nietzsche", dazu auch „Vernunft und Existenz" und neuerdings „Die großen Philosophen". 24

io

Bauer

133

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im Existenzialismus

u.

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aber gesteht er mehr und mehr auch eine verpflichtende Kraft zu, sie „appellieren" an unseren Entschluß und wollen ihren besseren Willen (durch Uberzeugung, nicht durch Autorität) durchsetzen. Das volle zweiseitige Verhältnis zwischen Gegenwart und Geschichte ist zuerst in der Theologie ausgesprochen worden. Nicht zufällig gerade in der Theologie, denn in ihr hat von jeher die Geschichte eine viel zentralere Stellung gehabt als in jeder anderen Wissenschaft. Die Formel „Dialog mit der Geschichte" (Bultmann) beruht auf der Erkenntnis des personhaften (dialogischen) Seins des Menschen und sieht das Du des Dialogs in der Geschichte selbst, d. h. den „großen" Personen der Geschichte. Die Geschichte ist nicht zur Betrachtung, sondern zur „persönlichen Begegnung" da. Das Verhältnis zur Geschichte ist doppelt: Der Mensch hört ihren Anspruch (als Autorität), und er befragt sie seinerseits. Er erhält über die Möglichkeiten seiner Existenz erst durch die Geschichte Aufschluß, und andererseits wird jede Befragung der Geschichte schon „von der Frage bewegt, wie wir selbst, die wir in der Bewegung der Geschichte stehen, zur Erfassung unserer eigenen Existenz gelangen können, d. h. Klarheit gewinnen können über Möglichkeiten und Notwendigkeiten unseres eigenen Wollens 25 ." Das klingt beinahe wie Heidegger. Im Unterschied zu Heidegger aber geht Bultmann von dem „vulgären Zeitverständnis" aus (und hält auch trotz des später noch stärkeren existenzialistschen Einflusses daran fest), nach dem wir in der Geschichte sind und nicht die Geschichte in uns haben. Die Geschichte ist „ein Zusammenhang, in dem wir selbst stehen 26 ". Geschichtsphilosophie

Das rein „dialogische Verhältnis" zur Geschichte bleibt, soviel ich sehe, auf die Theologie beschränkt. Allenfalls läßt sich bei 25

B u l t m a n n , Einleitung zu „ J e s u s " , 1 9 2 6 , S. 9 f., 1 2 f.

26

a. a. O . S. 8. r

34

Existentielle

und „sachliche"

Geschichtsauffassung

Jaspers und später bei Bollnow eine säkularisierte Form davon wiederfinden. Jedoch kam die Geschichtsphilosophie auf ihren eigenen Feldern schon zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Sie lassen sich am kürzesten nach dem Forschungsbericht von F. Kaufmann 27 wiedergeben. Kaufmann konstatiert als die neue Einsicht (gegenüber den älteren Versuchen von Rickert und Simmel), daß der Mensch, auch der Historiker selbst, in der Geschichte steht. Der Schatten der eigenen Geschichtlichkeit ist nicht zu überspringen 29 . Daraus folgt für ihn direkt, daß der Sinn der Geschichte nicht erst im Ganzen liegt, das wir ja niemals erreichen können, sondern schon in unserer Geschichtlichkeit selbst als der konzentrierten Auswirkung unseres geschichtlichen Vermögens 29 . Und das Kriterium für die geschichtliche Wirklichkeit ist jeweils „die Betroffenheit des eigenen gegenwärtigen Lebens 3 0 ". — Alle drei Prinzipien sind gegenüber Dilthey nicht wirklich neu, sie sind aber jetzt erst Allgemeingut geworden. Insofern wird Dilthey erst in dieser Zeit ganz aktuell. Zugleich sind aber alle drei Prinzipien auch gegenüber Dilthey fester und dogmatischer gefaßt. Sie sind jetzt weniger Methoden als vielmehr grundsätzliche Überzeugungen, die man auch, abgesehen von aller Anwendung, beinahe wie Glaubenssätze, diskutieren kann.

Problemgeschichte Gleichzeitig und etwas später erfuhr aber Diltheys Geistesgeschichte auch eine wichtige Einschränkung, nämlich durch die sogenannte Problemgeschichte. In der Literaturwissenschaft war die „Problemgeschichte" als direkte Fortsetzung und Anwendung von Diltheys geistesgeschichtlichen Methoden eingeführt 27

Geschichtsphilosophie der G e g e n w a r t , 1 9 3 r.

28

a. a. O . S. J I , $8.

29

S. 53

30

S. 3 1 .

135

Radikalisierung

im Existenzialismus

«.

Nationalsozialismus

worden (Unger 31 ). In der Philosophie jedoch sollte „Problemgeschichte" die „Geistesgeschichte" zurückdrängen oder ganz ersetzen. Sie sollte die sachlichen Ergebnisse des Philosophierens durch die Geschichte „aufsammeln" (Hartmann 3 2 ). Die Philosophiegeschichte soll nicht mehr die ganzen Systeme darstellen (Systeme sind doch meistens nur ausgebaute Irrtümer), sondern soll die Weiterarbeit an den Problemen verzeichnen. Der Zusammenhang der Gedanken zu einer bestimmten Zeit, das also, was Dilthey und seine Schule erforsditen, ist bestenfalls eine Vorarbeit zu einer philosophischen Gesdiidite. Der wahre Philosophiehistoriker nimmt an allem, was die Philosophen gelehrt haben, nur das wichtig, was sie „erkannt" haben und versucht es wiederzuerkennen 33 . Er kann tatsächlich die „wahren" Erkenntnisse erkennen, also das nur Geschichtliche einer Aussage vom Übergeschichtlichen scheiden, denn er hat als Epigone den Vorteil, daß der Irrtum sich schon herausgeklärt hat 3 4 . Hartmann geht es in seinem Kampf gegen den übertriebenen Historismus nur um den sachlichen Ertrag der vielen Systeme, nicht um ihre geschichtliche Stellung. J. Ritter aber will auch 31

Literaturgeschichte als Problemgeschichte, 1924, s. von demselben: Herder, Novalis und Kleist, Studien zur Entwicklung des Todesproblems, 1922, vgl. auch F. Strich, W. Strich, A . Korff, J. Petersen. 32 Der philosophische Gedanke und seine Geschichte, 1936. 33 a. a. O. S. 36 f. 34 S. 32. Hartmann stützt sich dabei auf seine eigene Kategorienlehre vom geschichtlichen Geist (eine „Geistesdogmatik in einer ungeistigen Zeit" nennt sie Löwith): Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, 1933. Darin hatte er, ebenfalls um den Historismus zu überwinden, den „ontologischen Bau unserer Geschichtlichkeit" untersucht. Geschichtlich in vollem Sinn ist nur der „objektive" Geist. Weder der „individuelle" noch der „objektivierte" Geist sind von sich aus geschichtlich: der individuelle Geist wird es nur, wenn er Träger des objektiven Geistes wird, und der fixierte Geist besitzt überhaupt nur eine Geschichtlichkeit zweiter Ordnung, dadurch daß der lebende Geist ihm jeweils seine Geschichtlichkeit verleiht (a. a. O. S. 249—200, 412, 429, 440, 482 f.). Nur der objektive Geist 13*

Existenzielle und „sachliche"

Geschichtsauffassung

„das geschichtliche Sein der Erkenntnis" bestimmen 35 . Jede Wahrheit läßt sich im sachlidien Sinn und im physiognomischen Sinn (nach Ausdruck, Motiv, Absicht, Tendenz, Sinn, Typus) verstehen 38 . Die Sachbedeutung der Erkenntnis aber „hat zumindest das gleiche Gewicht für die Bestimmung ihres geschichtlichen Seins wie die unmittelbare Ausdrucksdeutung" 37 . Ritter begründet in diesem kurzen Aufsatz seine Vermutung, daß „die dem Prinzip der Geschichtlichkeit eigene Gleichgültigkeit gegen die Sachwahrheit bzw. die ihm eigene Tendenz, die Sachwahrheit allein als Erscheinungsform, als Symbol des sprechenden Lebens zu deuten, auf einer Schranke beruht, die nicht im Wesen der Geschichtlichkeit selbst begfündet ist, sondern ihm aus dem polemischen Gegensatz zum logischen Erkenntnisbegriff anhängt" 38 . Zur vollen Erfassung des Geschichtlichen gehört also eine sachliche Bestätigung oder Widerlegung ebenso wie das Verständnis des in ihm sich äußernden Lebens. Die Geschichtlichkeit alles menschlichen Seins, also auch der Wissenschaften und der wissenschaftlichen Erkenntnis, ist offenkundig und nicht mehr zu bestreiten 39 . Das Kriterium der sachlichen Richtigkeit aber ist darum nicht ausgeschaltet, sondern in ihrem geschichtlichen Sein beziehen sich doch alle Erkenntnisse (positiv oder negativ) notwendig auf eine Sachwahrheit. kann wachsen, aber er kann nicht nur wachsen. Hartmann sieht sehr wohl, im Gegensatz zu Hegels Optimismus, daß der objektive Geist nur durch dauernde Selektion fortschreitet, also auch Lücken hat, daß also nicht die ganze Geschichte im Resultat aufgehoben ist. In dem späteren Aufsatz jedoch kennt der „philosophische Gedanke" seine Geschichte nur als dauerndes Wachstum des Geistes. Die Geschichte hat nur dann einen Sinn, wenn die in ihr aufbewahrten Ergebnisse weiter vermehrt und verbessert werden. 35 Uber die Geschichtlichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis, in Bl. f. dt. Ph. 1938. 39 a. a. O. S. 182 f. 37

S. 188.

38

S. 183.

39

S. 17s.

137

Radikalisierung

im Existenzialismus

u.

Nationalsozialismus

Hier läßt sich schon die spätere Erwiderung von Rothacker anschließen40. Rothacker kritisiert die angebliche „Sachlichkeit" der Problemgeschichte: Die Sache ist überhaupt nur dann richtig zu sehen, wenn das ganze Leben und die ganze Gesellschaft, in der der Sachverhalt sich abspielte, mitgesehen wird. Die Beispiele Rothackers machen jedoch deutlich, daß er auf

ganz

anderen Gebieten (der Ethik und Weltanschauung) argumentiert, für die die physiognomische Verwirklichung von dem sachlichen „Beitrag" in der T a t unablösbar ist, während Hartmann eine solche Trennung für die reine philosophische Erkenntnis gefordert hatte. 40

Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte, in: Mensch und Geschichte, 1950.— Sachlich hierher gehörig (doch, soviel ich sehe, niemals in diese Kontroverse einbezogen) sind auch die Reflexionen über das geschichtliche Sein des Erkennens, des Wissens und der Wissenschaften überhaupt von R. Hermann, vor allem in seinen Aufsätzen: Zur Frage der Zeitlichkeit des Erkennens und: Das Wissen und seine Welt in der Zeitlichkeit des Seins, in: Zs. f. syst. Theol. 1932 und 1933. J e de Erfahrung oder Erkenntnis ist, nach Herrmans gründlichen Analysen des Lebensverhaltens, schon primär auf ihre Ablösung von mir, also auf ihre Objektivierung hin ausgerichtet. Die objektivierte Erkenntnis ist nun zwar nicht „zeitfremd", denn das vermeintliche „Immer" ihrer Geltung zeigt sich nur als Vielzahl von konkreten Augenblicken, aber sie ist doch, durch die Überlieferung und die notwendige Ablösung der Subjekte in der Wissenschaft, nur sach- und nicht mehr personbezogen. Selbst unser Zurückgehen auf die Person in den historischen Wissenschaften dient „keineswegs der Repristination . . . , sondern der Vertiefung des Problems selbst und der volleren Erhebung der sachlichen Wahrheit" (Zs. syst. Th. 1933, S. $66). Hermann sieht also jede „physiognomische Wahrheit" (eines je besonderen Ich) durch die leidenschaftslose, beharrliche Ordnungskraft der Wissenschaft überwunden. Dagegen stellt er aber eine durchgehende Spannung zwischen der Objektivierung und der „Einzigartigkeit" (dem „Ich bin" eines jeden Menschen) fest (a. a. O. S. $52 ff., 578 ff. u. ö.). Diese Einzigartigkeit ermöglicht erst das Sich-selbst-objektiv-werden und damit das Weitergeben und Anwenden von Erkenntnissen, geht aber selbst nie in solchen Objektivationen auf.

138

Existenzielle und „sachliche" Geschichtsauffassung Antihistorismus Die existenzialistische und die „sachliche" Geschichtsauffassung stehen untereinander in scharfem Gegensatz. Einen Zug jedoch haben sie gemeinsam: Sie bringen schon eine feste Vorstellung von dem, was die Geschichte sie lehren kann und überhaupt lehren darf, an die Geschichte heran. Sie geben sich nirgendwo der Geschichte hin, wie die Historisten der Jahrhundertwende sich ihr hingegeben haben. Gerade das Sichführenlassen von der Geschichte lehnen diese Antihistoristen streng ab. Die eigene Position oder mindestens die eigene Frage muß alles Geschichtsverständnis leiten. Die Existenzialisten und die Problemgeschiditler vertreten keineswegs die einzigen (sondern nur die gedanklich klarsten) Positionen gegen den Historismus. Heussi sieht (1932) seine Zeit voll von Antihistorismus, der sich vor allem in einem neuen Dogmatismus äußert: als Nationalismus, Militarismus, Bolschewismus (den Faschismus nennt er noch nicht beim Namen, umschreibt ihn jedoch) 41 . E r sieht schon im Umlauf des Schlagworts „Historismus" im Sinne eines negativen Werturteils ein Anzeichen f ü r die Krisis des geschichtlichen Denkens. Dieser negative Historismus, die zu weit gehende Historisierung, gilt in seiner Zeit durchweg als „überwunden", ist aber gleichwohl nicht widerlegt, sondern nur durch einen neuen Aktivismus abgelöst.

N A T I O N A L S O Z I A L I S M U S

Die bisher verfolgten Diskussionen über die Geschichtlichkeit waren geistige Diskussionen gewesen. Seit den zwanziger Jahren war das Element der persönlichen Uberzeugung immer stärker geworden, die Diskussionen dienten auch immer mehr der Bekehrung oder dem „Appell". Unter dem Titel „Geschichtlich41 Die Krisis des Historismus, 1 9 3 2 (zuerst als Vortrag 1929), vor allem Kap. I.

139

Radikalisierung im Existenzialismus u. Nationalsozialismus keit" wurden Verpflichtung, Treue, Charakter, auch Verbundenheit mit den „Wurzeln" der eigenen Existenz und dgl. gefordert. Aber in allen Programmschriften der zwanziger Jahre 4 2 hatte die eigentliche Forderung („Entschlossenheit", „Selbstsein", „Entscheidung") noch verschiedene Möglichkeit offengelassen oder war inhaltlich überhaupt unbestimmt geblieben. Sogar dort, wo gerade das Sichfestlegenmüssen proklamiert wurde, blieb noch ganz offen, worauf man sich denn festzulegen habe 43 . Seit Beginn der dreißiger Jahre und zumal seit dem Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland wird aus der Diskussion ein politischer Kampf. „Geschichtlichkeit" wird ein Schlagwort der nationalistischen Bewegung, freilich kein alltägliches, sondern quasi ein wissenschaftliches Schlagwort. Es bedeutet den Einsatz oder den Grund des Einsatzes für die deutsche Volksgemeinschaft oder die germanische Rassengemeinschaft. Es verliert zwar nie ganz den Glanz und den Bedeutungsreichtum von früher, doch alle anderen Bedeutungen werden gleichgeschaltet, abweichende Konzeptionen und selbst abweichender Wortgebrauch werden verdammt 4 4 . A u ß e r g a n z b e s t i m m t e n nationalistischen P r o g r a m m e n , die damals noch m i t der Geschichdichkeitsdiskussion gar nichts zu tun hatten. 42

43

S. o. S. 101 f.

H i e r stößt die D a r s t e l l u n g an die S c h r a n k e des politischen U r t e i l s . U b e r den N S selbst k a n n m a n nicht w e r t u n g s f r e i sprechen. D o c h läßt sich f o l g e n d e A b g r e n z u n g versuchen: D e r Nachweis, daß ein Wissenschaftler unserem Begriff eine besonders nationalistische o d e r nationalsozialistische Z u s p i t z u n g gegeben habe, schließt noch nicht das U r t e i l ein, daß er auch ein „ f ü h r e n d e r N a t i o n a l s o z i a l i s t " gewesen sei. Allein u m die erste F r a g e aber geht es in dieser U n t e r s u c h u n g . D i e an sich w o h l interessante R e f l e x i o n , wieso nicht n u r A n h ä n g e r des N S , s o n d e r n auch G e s i n n u n g s g e g n e r seine P r i n z i p i e n a n n a h m e n u n d auf seine Sprache eingingen, h a t hier keinen Platz. 44

140

Nationalsozialismus

Volksgemeinschaft,

Volksordnung,

Volkswille

Ein prägnantes Beispiel für die Verengung und Ausrichtung des Begriffs Geschichtlichkeit ist Erxlebens Untersuchung über Dilthey 45 . Erxleben weist Diltheys „historischem Bewußtsein" 46 seine „Pseudogeschichtlichkeit" nach, da es eigentlich über Raum und Zeit erhoben ist47. Dilthey konnte alles und jedes verstehen, war nicht an „seine Gemeinschaft" gebunden. Die wahre Geschichtlichkeit ist demgegenüber das Bestimmtsein durch seine Gemeinschaft und ihre „geschichtlichen Kräfte". Diese geschichtlichen Kräfte sind: das „Volk", sein „Zusammenschluß", seine „innere Ordnung" und sein Kulturwille 48 . „Wer die Ordnung seines eigenen Volkes verläßt oder auflöst, um ,der Welt' zu dienen, verfehlt ,die Welt', denn er verfehlt die Geschichte"49. Auch Erxleben will den Historismus überwinden, ohne den Begriff der Geschichtlichkeit aufzugeben, doch er endet in einer Art von Volkspositivismus, einem ganz kritiklosen kulturellen Nationalismus. Seine Sprache verrät auch schon die Inflation, die das Wort „geschichtlich" inzwischen erlitten hat: Es wimmelt von geschichtlichen Kräften, Grenzen, Begriffen, Erscheinungen, geschichtlicher Verantwortung, Wahrheit, Wirklichkeit, geschichtlichem Leben, Verstehen, Zusammenhang 50 .

Kampf.

Politisierung

„Geschichtlichkeit" selbst wird in dieser politischen Diskussion vorwiegend im Sinne von „Geschehen" verstanden. Der Gegenwartssinn im Wort „Geschichte" dominiert. Auch wo „Tradition" 45

Erlebnis, Verstehen und geschichtliche W a h r h e i t ,

46

Ebenso auch Litts Fassung des Verstehens als „ N a c h e r l e b e n "

1937. —

w i e überhaupt in dieser F r o n t L i t t der w a h r e N a c h f o l g e r und gegenwärtige Repräsentant der Diltheyschen R i c h t u n g ist. 47

a. a. O . S. 1 1 3 .

48

S. 1 8 3 u. passim.

49

S. 1 7 8 .

50

Alles in einem langen A b s a t z , S. 1 9 2 f.

141

Radikalisierung im Existenzialismus u. Nationalsozialismus mitgemeint ist, wird sie aktiv gefaßt, als jetzt vollzogene, jetzt erst zu erkämpfende oder zu verteidigende Tradition. Der „volle" Begriff der Geschichtlichkeit umfaßt nicht mehr so sehr Vergangenheit und Gegenwart als vielmehr Aktivität und Passivität (Passivität im Sinne der Aktivität anderer Subjekte oder eines überindividuellen Subjekts): „Geschichtlichkeit ist die Strukturform solcher Wesenheiten, die . . . in einer Geschichte leben, durch diese Geschichte bestimmt werden und ihrerseits wieder die Geschichte bestimmen" (Bollnow) 5 1 . Und das heißt nichts anderes, als daß die Geschichte mit allen ihren Gehalten als Politik betrachtet wird. Bollnow sucht Dilthey (und im gleichen Sinne auch Heidegger) zu verbessern, indem er gegen ihn geltend macht, daß aller geistiger Inhalt „unter dem Gesetz der Politik steht". Jede Gestaltung ist „erkämpft" 5 2 . Als Vorbild gilt für Bollnow, wie übrigens f ü r viele in diesem neuen Sondergebiet zwischen Geistesgeschichte und Politik, H . Heyses „Idee und Existenz" (1935), ein Buch der „totalen Erneuerung" durch Kampf und Tapferkeit und Opfer. Auch die Disziplin, das Geführtwerden von einem „Führer", werden jetzt unabdingbare Bestandteile der geschichtlichen Existenz. Freyer verzeichnet 1 9 3 7 nicht nur das Politischwerden der Geschichte, sondern auch die militärische Ausrichtung aller Politik (in Ausdrücken wie „Bewegung", „Front", „Stoßtrupp" 5 3 ). Er findet selber die Schlagworte und Symbole „wichtiger und im Grunde wahrheitshaltiger als Beweise und ausgeklügelte Pläne". Insofern habe erst die Gegenwart mit dem geschichtlichen Bewußtsein ernst gemacht und es wirklich „gelebt" 5 4 . 51 Z u m Begriff der Geschichtlichkeit, in: G e g e n w a r t s f r a g e n der W i r t schaftswissenschaft, 1 9 3 9 , S. 3 2 4 f. 52

a. a. O . S. 3 5 0 .

53

„ A p p e l l " w ä r e ebenfalls zu nennen, das bis in die Philosophie (bei

Jaspers u. a.) eingedrungen ist. 64

F r e y e r : Das geschichtliche Selbstbewußtsein des 20. Jahrhunderts,

in: Kaiser-Wilhelm-Institut f ü r K u n s t - und Kulturwiss. I. 3 , 1 9 3 7 . -

142

Nationalsozialismus

Ruhm Überdies braucht man das W o r t „historisch" oder „geschichtlich", um den eigenen Ruhmesanspruch anzumelden. Das ist schon ein alter Wortgebrauch, hier aber wird er penetrant. „Es vergeht keine Woche, wo nicht irgendwer eine ,historische' Rede hält, d. h. eine Rede, die — im Gegensatz zur Gedenkrede — der Zukunft gedenkt, weil man annimmt, daß erst die Jahrhunderte nach uns würdigen können, was gegenwärtig getan w i r d " 5 5 . Dieser „pervertierte Wortgebrauch" verrät auch schon die H a l tung zur Geschichte im ganzen. M a n weiß, welchen Gang sie nehmen wird, man identifiziert die eigenen Ziele mit dem notwendigen Weltlauf und kann deshalb ganz sicher voraussetzen, daß Politik „werdende Geschichte ist" 5 6 .

Rasse I n alledem wirkt sich jetzt erst völlig Nietzsches Einfluß aus, während einzelne große Ideen von ihm schon seit dem J a h r hundertanfang sporadisch auftraten. Seine Lehre wird auch jetzt erst systematisiert, wird aus den vielen Aphorismen zu einem einheitlichen Ganzen zusammengestellt 5 7 . In den Auswirkungen seiner Lehre kann man schon einen Sieg Nietzsches, freilich eines Vgl. dazu Jüngers Vision des militärischen neuen Menschen: Der Arbeiter, 1930, und sein „Gegenbuch": Auf den Marmorklippen, 1939. S. zur Zuspitzung auf die Politik: die Herausarbeitung des Freund-Feind-Verhältnisses bei C. Schmitt, sowie Pleßner, Macht und menschliche Natur, 1 9 3 1 . S. zu der gleichen Aktivierung und Nationalisierung auf anderen Gebieten: für die Historie O. Westphal, für die Pädagogik W. Grebe, für die Theologie E. Hirsch. 55 Löwith, Von Hegel bis Nietzsche, 1941, S. 290. 58 Hitler, Mein Kampf, 7 ' i 9 3 3 , S. 467. 57

A. Bäumler: Nietzsche der Philosoph und Politiker, 1 9 3 1 , Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, 1933, K. Hildebrand: Uber Deutung und Einordnung von Nietzsches System, in Kantstudien 1936, Jaspers: Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 1936.

143

Radikalisierung

im Existentialismus

u.

Nationalsozialismus

recht willkürlich naturalistisch gedeuteten Nietzsche, über die „geschichtliche" Lebensphilosophie und auch über die Existenzphilosophie erkennen. Trotz aller Beschönigung durch das Wort „Geschichtlichkeit" geht die von Dilthey bis Heidegger herausgearbeitete grundlegende Unterscheidung von Geschichte und Natur wieder verloren. Das „Erbe", das bei den Existenzialisten noch das ganze „Werk" der Vergangenheit bezeichnet hatte, degradiert jetzt zur bloßen „Anlage" oder zu Blutsbestandteilen, der „Erbmasse". In der Rede von der „Verwurzelung" im eigenen „Boden" und von der „Rasse" setzen sich reine Naturkategorien (in Spenglersdier Auslegung) durch, die die Geschichte erklären und selber schon den Sinn der Geschichte ausmachen sollen. Die Rasse ist jetzt das endlich gefundene „Band zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften"58. Sie war früher nur eine untere Kategorie der Geschichte gewesen und wird jetzt zum leitenden Prinzip aller Geschichte erklärt.

Hier ist ein Generalurteil zu diskutieren, das gerade dem „historischen Bewußtsein" Schuld am Nationalismus und auch Schuld am Krieg gibt. Valéry nennt am Ende des zweiten Weltkriegs das Geschichtsbewußtsein „das gefährlichste Ereignis, das die Chemie des Verstandes hervorgebracht hat". Es „versetzt die Völker in Traum und Rausch, ruft trügerische Erinnerungen hervor, übersteigert ihre Aktionen, läßt alte Wunden nicht vernarben, quält ihre Ruhe, führt sie zum Wonnerausch über nationalen Glanz bis zur Raserei der Verfolgung, und es bewirkt, daß die Nationen bitter, herrisch, unerträglich und eitel werden" 59 . Litt faßt das gleiche Urteil genauer: Erst durch seine 58

L. Schemann, Geschichte des Rassengedankens, Bd. I, S. 10 f. P. Valéry, Regards sur le monde actuel, 194J, vgl. auch: R. Grousset, L'homme et son histoire, 1954, und H. Butterfield, Die Gefahren der Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1950. 59

144

Nationalsozialismus Pervertierung hat der historische Sinn zur größten Katastrophe beigetragen 60 . Natürlich ist nicht der historische Sinn selbst, sondern allenfalls die Art, wie er gebraucht wird, „schuld" an der Nationalisierung und Aggressivität. In dieser finsteren Epoche wird aber, wenigstens in allen „offiziellen" Lehren, viel zu wenig historischer Sinn gebraucht, statt dessen viel mehr voreilige, unhikorische und verabsolutierte Urteile. Es war jedoch ein praktisches Ergebnis der bisher verfolgten Begriffsentwicklung, daß diese Vorurteile sich ohne weiteres mit dem immer noch wohlklingenden Namen „Geschichtlichkeit" decken konnten 6 1 .

60

Wege und I r r w e g e geschichtlichen Denkens, 1 9 4 8 , S. 3 5 f. V g l . zur M o t i v a t i o n und zu parallelen V o r g ä n g e n die selber einseitige, aber viele Einseitigkeiten entlarvende Philosophiegesdiichte v o n L u k ä c s . Die Z e r s t ö r u n g der V e r n u n f t . D e r W e g des I r r a t i o nalismus v o n Schelling zu H i t l e r , 1 9 5 5 . 61

145

Neutralisierung und beginnende Präzisierung in der Gegenwart In ihrem letzten Teil kann die Untersuchung viel weniger als bisher eine Begriffs„geschichte" geben. Sie muß sich vorwiegend darauf beschränken, die verschiedenen gegenwärtigen Anwendungen des Begriffs nebeneinanderzustellen. Die geschichtliche Verfolgung des Gebrauchs führt nämlich auf zwei einander widersprechende Tendenzen: die allgemeine Anerkennung und immer weitere Verbreitung des Begriffs und dessen, was er aussagt 1 , und das wissenschaftliche Bestreben, den Begriff möglichst genauer zu definieren, ihn einzuschränken und, wo eine präzisere Fassung nicht gelingt, überhaupt zu vermeiden. Beide Tendenzen treffen und bekämpfen sich vielfach, wobei die Diskussionen fast immer durch fehlende begriffliche Arbeit und durch verschiedenes Verständnis des Begriffs Geschichtlichkeit selbst belastet sind. Heute läßt sich noch nicht mit Sicherheit sagen, ob einer der Versuche, dem Wort Geschichtlichkeit eine klare Bedeutung zu geben, sich durchsetzen wird.

NACHKRIEGSSITUATION

Der weite Gebrauch des Begriffs ist zunädist wieder an die Nachkriegssituation gebunden, d. h. an die Erfahrung des Krieges, des totalen Regimes und der Befreiung davon. In den ersten Jahren nach dem Krieg lebte der Existenzialismus wieder auf und wurde stärker (quantitativ) als je zuvor. Die Theologen Verbreitung auch als Popularisierung verstanden. In der Theologie z. B., die f ü r die weite Verbreitung überhaupt das wichtigste Beispiel ist, gelangt das W o r t nach dem zweiten Weltkrieg v o n den Fachzeitschriften (aus denen es freilich nie verschwand) bis in die Kirchenund Gemeindeblätter. 1

14 6

Nachkriegssituation sahen eine Epoche ganz neuer Wirksamkeit v o r sich. D i e unterdrückten Humanisten, Sozialisten und Idealisten kamen wieder zu W o r t . S o g a r der Kommunismus galt etwa zwei Jahre lang (bis er in Ostdeutschland alle Macht übernommen hatte) durchaus als verwandte Bewegung 2 . A l l e trafen sich in dem Bestreben, aufzubauen, eine menschenwürdige, zunächst noch in bescheidenem Maßstab konzipierte Existenz möglich zu machen, wobei die Parteiunterschiede erst ganz langsam wieder hervortraten. In vielen Zügen ist die L a g e der nach dem ersten Weltkrieg ähnlich. Ebenso w i e damals, und oft in der gleichen stimmtheit, spricht man v o n der Unvollendung,

Unbe-

der Person-

haftigkeit ( w o f ü r jetzt noch häufiger „Menschlichkeit"),

dem

alle Individuen mitreißenden (fatalen) Wechsel der Zeiten (statt der genaueren „Ereignisstruktur") und wiederum dauernd von der „Entscheidung"

(zu der jetzt als fester A n k e r p u n k t

2

die

Vgl. L i t t : Wege und Irrwege des geschichtlichen Denkens, 1948, H . Köhler: Geist und Geschichte, 1948. — Seit der Ausrichtung Ostdeutschlands auf die kommunistische Ideologie gibt es den Begriff „Geschichtlichkeit" nur noch in Westdeutschland. Die meisten seiner in Westdeutschland und im früheren Gesamtdeutschland entwickelten Bedeutungen lassen sich noch eher in fremde Sprachen als innerhalb der deutschen Sprache in das System des heutigen Kommunismus übersetzen. In der ostdeutschen Sprache ist auch das W o r t viel seltener. Wo es v o r k o m m t , bedeutet es: Gesetzmäßigkeit der G e schichte. „Historischer" Materialismus ist nur ein anderer N a m e f ü r das v o n der Partei jeweils „richtig" ausgelegte sozialistische P r o gramm, das mi r M a r x ' Lehren nur noch dem Wortlaut nach übereinstimmt (vgl. R . Schulz: Über den Sinn des geschichtlichen Daseins, in: Beiträge zur Kritik der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, 1958, und L. Stern, Gegenwartsaufgaben der deutschen Geschichtsforschung, 1952.) — Man könnte annehmen, daß der Begriff Geschichtlichkeit in dem Sinne, wie ihn der N S aufgenommen hat (als M i t machen und Dienst, s. o. S. 1 4 1 f.) auch dem Kommunismus entgegengekommen wäre. Diese Verwendung konnte ich aber nirgendwo finden, vermutlich deshalb, weil der Kommunismus in Ostdeutschland zu keiner Zeit eine Rechtfertigung mit geistigen Argumenten nötig hatte und sie nicht einmal wünschenswert fand.

147

Neutralisierung

und Präzisierung in der

Gegenwart

„Verantwortung" tritt). Alles das kann auch wieder als Geschichtlichkeit bezeichnet oder gepredigt werden. Zum Unterschied von damals fehlen aber die großen Programme. Man ist mehr verzweifelt als optimistisch, man sieht auch viel mehr harte Aufgaben als freie Möglichkeiten vor sich. Demzufolge wird die neue Konzeption der Geschichtlichkeit von der „Niedrigkeit des Menschen" (seiner Not, Fehlerhaftigkeit und Schuld) beherrscht. Die Hauptbedeutung dieser Geschichtlichkeit wird von der dem Individuum überlegenen Geschichte (oder Weltgeschichte) abgeleitet, und „geschichtlich" heißt darum zunächst: in der Geschichte befindlich und ihr ausgeliefert 3 . H . Stephan unterscheidet im allgemeinen Gebrauch von „Geschichtlichkeit" drei Momente, die vielfach ineinander übergehen: die bewußte, inhaltlich volle Gegenwärtigkeit, welche Rechenschaft über Vergangenheit und Zukunft verlangt und die Bedingtheit und Vergänglichkeit alles menschlichen Seins zeigt, das Erlebnis der Gegensätzlichkeit und des inneren Kampfes, vor allem zwischen Konkretheit und Möglichkeit, 8 Weinstocks „gebrochener H u m a n i s m u s " ist ein typisches Beispiel, w i e jetzt die verschiedenen v o r h e r feindlichen Richtungen zusammengebracht werden und sich ausgleichen: der H u m a n i s m u s mit der Theologie und dem Sozialismus, der Pessimismus (als E r b s ü n d e n lehre) mit der F o r d e r u n g nach A k t i v i t ä t und Einsatz f ü r die D e m o kratie (Weinstock, D i e Tragödie des H u m a n i s m u s , 1 9 5 3 ) . A n d e r e Beispiele f ü r die immer wieder anderen Synthesen aus der „ K o n k u r s masse" der alten Bewegungen und dem neuen „ G e s a m t g e f ü h l " w ä r e n : In der Philosophie O . Veits „Versuch zur geschichtsphilosophischen Erhellung der K u l t u r k r i s e " (Flucht v o r der Freiheit, 1 9 4 7 ) , im wesentlichen ein neuer und „zeitgerechter" A n g r i f f auf das alte Relativismusproblem. F ü r die N e u k o n z e p t i o n der Geschichtswissenschaft aus der „Bedrohlichkeit der W e l t " s. den Sammelband v o n Tübinger Vorlesungen (hg. R . Stadelmann, 1948). In der L i t e r a t u r stellen die in dieser Z e i t weit bekannten W e r k e v o n W . B o r d i e r t einen ähnlichen bescheidenen, „gebrochenen" H u m a n i s m u s dar.

148

Nachkriegssituation das Bewußtsein der Verantwortung für sein Wollen

und

Handeln, auch für die Gemeinschaft und „die W e l t " 4 . Das erste Moment wäre etwa die Geschichtlichkeit des H i s t o rismus, nur in etwas moderneren Ausdrücken. Das zweite entspräche am ehesten Jaspers' Konzeption des unabschließbaren Entschlusses. Das dritte war ebenfalls schon im Existenzialismus vorgeformt, war aber in den dreißiger Jahren einseitig ausgerichtet worden und wird jetzt in dieser Form und unter dem Schlagwort Verantwortung allgemein. Es wird sogar die H a u p t bedeutung

der

„Geschichtlichkeit"

in

jedem

politisch

oder

religiös mahnenden Sinne. Man könnte in ihm eine ideologische Ausprägung der Notwendigkeiten sehen, vor denen die neue deutsche Demokratie steht. WISSENSCHAFTLICHE Anthropologische

Bestimmungen

DISKUSSION der

Geschichtlichkeit

I m wissenschaftlichen Gebrauch der „Geschichtlichkeit" läßt sich durchweg eine Annäherung an den herkömmlichen (laut Heidegger „vulgären") Sinn von „Geschichte" feststellen. Es gibt zwar immer noch die Grundsatzdiskussionen über die rechte Verankerung der Geschichte in der menschlichen Existenz, also anthropologische Bestimmungen der Geschichtlichkeit. D i e neue Anthropologie® wird aber selber gegenüber der existen4

In: Die Sammlung 1952. Die wissenschaftliche Disziplin der „Anthropologie" (innerhalb der Philosophie) hat gegenüber Scheler und Pleßner kaum Fortschritte gemacht. Ihr Ziel erscheint zurückgesteckt in bloß prinzipielle Versicherungen. H. Wein umschreibt 1957 seine Idee einer philosophischen Anthropologie: „Philosophie als Zu-sich-selbst-kommen des Menschen, als Sich-nidit-mehr-verleugnen des Menschen" (Realdialektik, S. 184). Die Lust zu großen theoretischen Darstellungen des Wesens Mensch scheint erlahmt. Plessner, Rothacker und Gehlen wandten sich historischen Untersuchungen zu („Von der Menschenwissenschaft zur Menschheitswissenschaft"—Perpeet über Rothacker). Pleßner beschränkt in „Conditio humana" (in Propyläen-Welt-

5

1 1 Bauer

149

Neutralisierung

und Präzisierung

in der

Gegenwart

zialistischen Daseinslehre viel empirischer, geht v o n dem in der E r f a h r u n g gegebenen Ich aus und nimmt auch die v o r oder neben dem Existenzialismus entwickelten Prinzipien auf. A u s

Hei-

deggers nacktem „ s u m " w i r d das „respondeo ergo sura" des PostExistenzialisten Heinemann 6 und das „ich bin schuldig, also bin ich" von H . K u h n 7 , der das Gewissen trotz der A n k ü n d i g u n g einer „ M e t a p h y s i k " viel konkreter und „historischer" beschreibt als Heidegger

sein

zum

eigentlichen

Selbstsein

vorrufendes

Nichts. In der anthropologischen Philosophie w i r d genau w i e in der gleichzeitigen Geschichtsphilosophie die von den Existenzialisten erarbeitete „Geschichtlichkeit"

des Menschen wieder mit

Vergangenheit oder Tradition zusammengebunden. D a ß

der eine

Entscheidung und besondere A k t i v i t ä t zur A n n a h m e einer V e r gangenheit nötig sind, w i r d anerkannt. Doch die besondere Schwierigkeit dieser W a h l , die N o t w e n d i g k e i t also, daß man sie erst als solche bewußt machen muß, w i r d selbst wieder

ge-

schichtlidi eingeordnet als eine Eigenart unserer G e g e n w a r t . „ I n geschichte, Bd. I, 1961) noch stärker als in seiner früheren A n t h r o pologie (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928) die anthropologischen Aussagen über Geschichtlichkeit auf „ f u n d a m e n tierende", selbst nicht historisch bedingte Aussagen. „Einzig die schöpferische Bedingung, welche die organische N a t u r der menschlichen Furcht, dem menschlichen Planen und H o f f e n zur V e r f ü g u n g stellt, ist uns greifbar geblieben" (S. 86). E r sagt Entscheidendes über die menschliche Geschichtlichkeit, will aber nur diesen ihren „ U r sprung", nicht ihre Ausprägungen und ihre „ G r e n z e " , zur wissenschaftlichen Anthropologie zählen. Vgl. demgegenüber die naturwissenschaftliche Übernahme auch der „philosophischen" A n t h r o p o l o g i e : Portmann, Carre], Uexküll und viele neueren H b - und Wb-Artikel. Eine vorwiegend „geschichtliche" Anthropologie aus unserem Zeitraum ist: A . D e m p f , Theoretische Anthropologie, 1950. 6 A b 1950 (in Zs. f. ph. Fg. 1950/51), vgl. das frühere viel allgemeinere, noch nicht als spezifisch menschliche A n t w o r t konzipierte, „Resonanz"prinzip in: Neue Wege, 1929. 7 Begegnung mit dem Sein, Meditationen zur Metaphysik des Gewissens, 1954.

IJO

Wissenschaflliche

Diskussion

der Geschichte stehen heißt, aus bejahten geschichtlichen U r sprüngen leben. So wankend aber ist der Boden unserer Gegenwart, daß das Stehen nur als mühsames Sichinstandbringen, Bejahung nur als reuige Rückkehr gelingen will" 8 . In dieser Auffassung der Geschichtlichkeit trifft sich die Bedeutung, die dem Historismus zugrundelag, mit der existenzialistischen. Die Synthese im gegenwärtigen existenzialistischen Verständnis von Geschichtlichkeit müssen wir jedoch näher untersuchen. A . Brunners Buch „Geschichtlichkeit" ( 1 9 6 1 ) will „die Seinsweise des Geschichtlichen phänomenologisch erhellen" und erreicht das im wesentlichen durch eine anthropologische A n a lyse, da der Ursprung der Geschichte „im Wesen des Menschen" liegt, genauer in seinem Streben nach „Selbstverwirklichung", nach „Anerkennung" und „ R u h m " , im Schaffen von „Werken" und in der „Ausweitung der Gegenwart" (Kap. 1). Der Übergang von dieser Anthropologie zur Geschichte, auch zur G e schichtswissenschaft, ist nun schon ganz selbstverständlich und ist auch sachlich leichter als bei Heidegger, da hier ein prinzipielles Interesse an der Vergangenheit selbst vorausgesetzt ist und die gleiche Struktur von Menschenleben und Geschichte bis in Einzelheiten nachgewiesen wird. Doch bei dieser, heute schon nicht mehr sehr originellen, Begründung der Geschichte aus der Existenz des Menschen geht wiederum von der wirklichen G e schichte viel verloren. Unter den „Kategorien des Geschichtlichen" werden solche Grundbegriffe wie Stil und Epoche ausgemerzt (Kap. 3). „Gemeinschaft und objektiven Geist" erkennt Brunner z w a r als das Wichtigste am Geschichtsprozeß an, doch nur in dieser vagen Form als Gemeinschaft, ohne auf ihre genaueren Ausprägungen in Völkern und Staaten einzugehen (Kap. 4). Die „geschichtliche Bewegtheit" vollends wird in ein Wechselspiel zwischen drei fast gleichbleibenden Faktoren (dem Geistigen, Psychischen und Stofflichen) aufgelöst. Damit ist zwar ein Moment der Spannung beibehalten, doch durch diese 8

Kuhn: Begegnung mit dem Sein, S. 22j.

Neutralisierung

und Präzisierung

in der

Gegenwart

Spannung und ihren Ausgleich wird eigentlich nichts entschieden. Der Sinn der Geschichte kann nur außerhalb liegen — im Bereich der Person, letztlich im persönlichen Gott (Kap. 7). So wird das Leben angeblich als völlig „geschichtlich" gedeutet, doch wieder ist der Ausgangspunkt dafür ein neues, „ eigentliches" (und selbst wieder rein existentielles) Verständnis von der Geschichte und nicht der „vulgäre" Geschichtsbegriff. Einen Schritt weiter in der Erfassung der anthropologischen, obgleich auch nicht der historischen Struktur der „Geschichtlichkeit" führen G. Häuptners Analysen der „Historizität geschichtsbildenden Subjekts und der Zeitgestalt

des

der histo-

rischen Welt" 9 . Häuptner geht insofern über die

Struktur-

forschungen

unterhalb

der

Existenzialisten

hinaus,

als

er

der bewußten und entschlossenen Geschichtlichkeit noch eine Schicht des fatums ansetzt, das erst die Richtung der Geschichte bestimmt - eine Parallele zum Unbewußten also. Das fatum besteht im Sichverabreden mit den Dingen, im „anmutigintelligenten Entgegenkommen des Begegnenden" oder glücklichen „ Z u f a l l " der Dinge, es macht erst Antizipation der Zukunft und Improvisation möglich. Seine Zeitform ist nicht die gerade Linie, sondern der Bogen. „Schwingend" oder in „ K u r ven" erfährt das Subjekt seine Zukunft. Dieser temporale „Urzustand" oder die „historische Naturform" 1 0 ist jedoch gegenüber aller geschichtlichen Besonderung noch völlig neutral und selbst so wenig geschichtlich, daß Timoleon von Athen, N a p o leon und Casanova durchaus gleichrangig als seine bedeutendsten Vertreter

figurieren11.

Ü b e r das Zeitfernrohr, in Zs. f. ph. Fg. 1949 und ausführlich in seiner Habilitationsschrift „Verhängnis und Geschichte", 1956. 9

10

Verhängnis und Geschichte, S. 9.

Vgl. auch die parallelen A u s f ü h r u n g e n über „progressive regressive Geschichte" von E. Reisner in Zs. f. ph. Fg. 1 9 J 1 / J 2 .

11

152

und

Wissenschaftliche Diskussion Allgemeinheit

und Selbstverständlichkeit

der

Geschichtlichkeit

Gegen diese immer noch elementarisierende und gleichsam private existenziell-anthropologische Auslegung setzt sich in unserer Zeit die Verbindung der beiden Bedeutungen von Geschichtlichkeit, der anthropologischen und der historischen, immer mehr durch. Gerade der Versuch der Existenzialisten, sich auf die Geschichtlichkeit zurückzuziehen, um dadurch den Historismus loszuwerden und die eigene Bedingtheit nicht mehr diskutieren zu müssen, wird von den meisten Forschern als bloße Ausflucht angesehen. Sie wäre unhistorisches Denken, aber unhistorisch zu sein ist schon gar nicht mehr möglich. Die Erkenntnis von der Geschichtlichkeit des Menschen „ist eine Einsicht so fundamentaler und zugleich so evidenter Natur, daß vor ihr die Augen zu verschließen ohne Unredlichheit gar nicht möglich ist, ja, daß sich ihrem Eindruck zu entziehen und nicht mehr historisch zu denken unser Vermögen übersteigt" 12 . Es gibt keine „Überwindung des Historismus", sondern er „gehört einfach zum Menschen"13. „Das Denken hat den Menschen als geschichtliches Wesen in toto begriffen, und damit ist es selbst als historisches in den Zustand einer planen Verfügbarkeit geraten, welcher es zum selbstverständlichen und unentbehrlichen Besitztum des modernen Geistes macht. Geschichte als Betrachtungsweise ist die schlechthin legitime Denkform der Gegenwart, und ihre Alltäglichkeit und Geläufigkeit gehören zu deren essentiellen Bestimmungen" 14 . Ebenso wie der existenzialistische Begriff von „Geschichtlichkeit" immer mehr von dem aufnehmen mußte, was man gemeinhin unter „Geschichte" versteht, so wird auch in derjenigen Geschichtlichkeit, mit der es der Historiker zu tun hat — die letzten beiden Äußerungen stammen von Historikern - , ein Wesenszug des Menschen überhaupt entdeckt, also etwas, was die moderne Philosophie ein 12

K u h n a. a. O . S. 198.

13

R . W i t t r a m : Das Interesse an der Geschichte, 1 9 5 8 , S. 60.

14

A . H e u ß : Verlust der Geschichte. 1 9 5 9 , S. 67.

153

Neutralisierung

und Präzisierung

in der

Gegenwart

„Existenzial" nennen würde. „Der Historismus" bzw. „Geschichte als Betrachtungsweise" ist nicht mehr nur eine besondere Forschungsrichtung oder eine Haltung einzelner Menschen, sondern eine allgemeine und audi gemeinverbindliche Verhaltensweise „des modernen Geistes". Hermeneutische

Konsequenzen

der Geschichtlichkeit

Hier ist zu untersuchen, welche Auswirkungen die allgemeine Anerkennung der „Geschichtlichkeit des Menschen" und die Rezeption einiger ihrer Bestimmungen durch die Existenzphilosophie auf die Historie und die Geisteswissenschaften insgesamt gehabt haben. Die Geisteswissenschaften kamen mit dem Fundament nicht aus, das Dilthey in seinen kategorialen Analysen ihnen angewiesen hatte. Oben wurden schon kritische Stimmen zitiert, daß er die Geschichtlichkeit (als Wirksamkeit der Situation und Standortgebundenheiten des Forschers) nicht radikal genug gesehen und sie durch ungeschichtliche Faktoren (psychische Konstitution, Weltanschauungstypen) zugedeckt habe 15 . Aus der Praxis der Geisteswissenschaften ergab sich noch eine zweite Kritik: Die verschiedenen Philologien und die Historie sind insofern über Dilthey hinausgegangen, als sie nicht mehr nur die schöpferischen Personen, sondern vor allem die geschaffenen Werke zum Gegenstand ihrer Forschung nehmen und in ihnen ebensoviele sachliche Faktoren („Strukturen", Sinn- und Gattungszusammenhenänge) entdecken wie Dilthey Ausprägungen des schöpferischen Individuums in ihnen gefunden hatte. Beide Richtungen der Kritik an Dilthey treffen sich in der Ablehnung seines „Psychologismus", differieren jedoch wesentlich in ihren Intentionen und Konsequenzen. Die zweite Kritik stellt nur eine, obzwar entscheidende, Ergänzung zu Diltheys Bestimmungen der Geisteswissenschaften dar, da sie nur seine Kategorien der Bedeutung und der Kontinuität bereichert und sehr verfeinert, die Individualität und persönliche Kontingenz aber nicht grund13

S. o. bei Freyer, Bollnow, Erxleben. IJ4

Wissenschaftliche

Diskussion

sätzlich leugnet, sondern nur einschränkt. D i e erste K r i t i k dagegen fordert ganz neue Grundlagen f ü r die Geisteswissenschaften. Wir können hier nicht alle und nicht einmal alle grundlegenden Ausprägungen der neuen Konzeptionen von der Methode und den Aufgaben der Geisteswissenschaften verfolgen. Die meisten dieser Intentionen sind in Gadamers „Wahrheit und Methode" (i960) zusammengefaßt und den älteren Prinzipien scharf gegenübergestellt. A n dieser „philosophischen H e r meneutik" sollen deswegen die Konsequenzen verfolgt werden, die sich f ü r die Geisteswissenschaften ergeben, wenn man die Geschichtlichkeit des Menschen radikal ernst nimmt. Gadamer erhebt die „Geschichtlichkeit des Verstehens" zum hermeneutischen Prinzip. Das verstehende Ich soll aus seiner methodischen Isolierung bzw. aus seiner „epischen Selbstvergessenheit" 16 herausgelöst und als jeweils geschichtlich bestimmter Mensch, mit bestimmten Intentionen und einem bestimmten Horizont, anerkannt werden. Das Verstehen ist selbst ein G e schehen, und dieser Vorgang ist nicht wie eine mechanische Manipulation vom Verstandenen wieder abzuziehen, sondern er steht mit dem Verstandenen in einer übergreifenden Einheit, die durch die Kontinuität der Tradition garantiert ist und die Gadamer als „Wirkungsgeschichte" beschreibt. Gadamer bejaht die „Voreingenommenheit", sogar die domatische, als zum VerständAis unerläßlich, und er verteidigt das „Vorurteil" gegen das rationalistische „Vorurteil gegen Vorurteile". Es gibt keine Objektivität in den Geisteswissenschaften, ihre Ergebnisse sind auch durch keine Methode und keine formale Abstraktion zu sichern — diese verfälschen im Gegenteil das menschlich-geschichtliche Sein zu einem naturhaft objektivierten —, aber in jeder menschlichen Meinung und jedem Vorurteil ist „Wahrheit" enthalten, und an dieser hat der heutige Mensch teil im einfachen Vorgang des Verstehens, nicht in der kritischen Reflexion darüber. 16

Bei Ranke und noch bei Dilthey, a. a. O. S. 218.

155

Neutralisierung

und Präzisierung in der

Gegenwart

A n dieser Grundlegung einer neuen Hermeneutik, die sich auf die einheitliche Formel „(inhaltliche) Wahrheit statt M e t h o d e " bringen ließe, sind gleichwohl noch ganz verschiedene Momente zu unterscheiden, v o n denen hier zur genaueren kritischen D a r stellung wenigstens vier herausgestellt werden sollen. ( i ) G a d a m e r weist nach, daß die bisherige Hermeneutik von Schleiermacher an v o m primären F a k t u m des Mißverstehens v o n Texten ausging und wesentlich negativ und f o r m a l , nämlich auf das Ausschalten des Mißverständnisses, ausgerichtet w a r . D a h e r richtete sie ihr Augenmerk mehr auf die Person und die Zeitumstände des Autors als auf die sachliche Aussage des Textes. G a d a m e r hält demgegenüber, nach dem V o r b i l d der älteren Hermeneutik (bis Spinoza), das Verstehen, das E i n v e r ständnis über den Sinn des Textes, f ü r primär. W i r treffen uns mit dem früheren A u t o r immer schon in dem gleichen Interesse an der Sache, und w i r vernehmen den T e x t nicht zuerst als eine „ M e i n u n g " , sondern als „ W a h r h e i t " . W o unser Anspruch auf Wahrheit enttäuscht w i r d , üben w i r zunächst sachliche K r i t i k an dem Ausgesagten, und erst wenn sich gar kein Verständnis einstellt, muß die psychologische und historische E r k l ä r u n g aushelfen. D a s Verstehen geschieht also direkt, im Gespräch mit dem früheren A u t o r und im H ö r e n auf seinen Anspruch, nicht im Betrachten seiner Person, welches dem Verstehen eine andere, nicht mehr sachgemäße Richtung gäbe. G a d a m e r verweist selbst auf die Verwandtschaft seiner Hermeneutik mit der Fassung des Verstehens, die die K e r y g m a - T h e o l o g i e entwickelt h a t 1 7 . Seine A n a l y s e aber geht über die früheren Bestimmungen des Prinzips, „ m i t der Geschichte im Gespräch zu sein" 1 8 , noch um einen wichtigen Schritt hinaus, da er sauber unterscheidet z w i schen dem Verstehen, d. h. Auf-mich-beziehen, eines Befehls und dem Befolgen dieses Befehls (als Beispiel f ü r alle „ A n sprüche", S. 3 1 6 f.), mithin den Sprung v o m Verstehen der 17

Er nennt Ebeling und Fudis, S. 313.

18

Etwa bei Bultmann, s. o. S. 134. 156

Wissenschaftliche

Diskussion

fremden zur Anwendung in der eigenen Existenz doch noch als einen besonderen Entschluß, nicht schon als einen Teil des rein hermeneutischen Vorgangs gelten läßt. (2) Gadamer will also gegenüber früheren Bestimmungen der Geisteswissenschaften die „Geschichtlichkeit der geschichtlichen Erfahrung" retten (227 f.). Das tut er einerseits durch die Abweisung der allbeherrschenden historischen Methode und durch Konzentration auf den sachlichen Sinn und Anspruch aller historischen Texte. Andererseits richtet er sich auch gegen die Wissenschaft überhaupt und verlangt, weit radikaler als Dilthey und noch konsequenter als York, „Leben" statt Theorie und Reflexion. E r will die „Wahrheit", mit der es die Geisteswissenschaften als ihrem eigentlichen Gegenstand zu tun haben, der Vorherrschaft des theoretischen „Wissens" entreißen und sie wieder auf ihren eigentlichen Ort im Leben, insbesondere in der „Erfahrung", zurückführen. Das „geschichtlich erfahrene Bewußtsein" entsagt dem „Phantom einer völligen Aufkärung" (359)- Gadamer wendet sich gegen den Cartesianischen Grundsatz, der noch Dilthey beherrschte, daß das Wissen die bestehenden Bindungen zersetzen oder legitimieren müsse (224 f.). Das wissenschaftliche Wissen sei immer schon reflektiert, d. h. schon durch den Zweifel hindurchgegangen, alle Lebensobjektivationen aber, alle Maximen der Ethik und Urteile der Ästhetik, stünden prinzipiell vor dem Zweifel, hätten ihre Unbedingtheit gerade darin, daß sie dem Zweifel nicht unterlägen, und würden verfälscht, wenn sie ihre Sicherheit aus der wissenschaftlichen Bearbeitung gewinnen sollten. Nur durch die Festigung der Lebenserfahrung selbst, nicht durch Wissenschaft könne die Ungesichertheit des Lebens überwunden werden (225 f.). Er gibt Dilthey Recht darin, daß das Leben selbst schon „auf Besinnung angelegt" sei und ein ursprüngliches „Streben nach Festigkeit" enthalte. Doch diese Tendenz des Lebens gehe nicht bruchlos in die philosophische Selbstbesinnung über, sondern sei von dieser durch ihr eigentliches, eben „geschichtliches" Wesen völlig ge-

157

Neutralisierung und Präzisierung in der Gegenwart trennt. Zum Wesen der Erfahrung gehöre es, daß sie „ o f f e n " und jeder Zusammenfassung feindlich sei. Jede echte Erfahrung („Erfahrung, die man macht") löse ein vermeintliches Wissen oder eine vorschnelle Annahme auf 1 9 . Wenn wir die Geschichtlichkeit unserer Erfahrung retten wollen, müssen w i r nicht nur die allein methodische Ausrichtung, sondern auch das rationalistische Ziel der Wissenschaft aufgeben. (3) Nicht nur durch seinen Gegenstand und seinen A n knüpfungspunkt, sondern auch durch seinen inneren historischen Zusammenhang ist das Verstehen nach Gadamer „geschichtlich". Jedes Verstehen verändert das Verstandene, fügt etwas hinzu und führt die „Wirkungsgeschichte" des Textes und seiner Ideen fort. D e r zeitliche Abstand und die vielen vorausgegangenen Deutungen und Mißdeutungen ermöglichen erst das rechte Verständnis, sie sind darum keineswegs auszuschalten oder zu überbrücken. Jedes Verstehen stellt einen Zuwachs an Bedeutung zu dem ursprünglich Geschehenen oder Augesagten dar, so wie der Gegenstand eines Bildes durch die Abbildung „mehr" wird, d. h. an Deutlichkeit und Faßlichkeit des eigenen Wesens gewinnt 20 . Das Verstehen ist darum nichts Statisches, sondern es ist notwendig durch die gegenwärtige Situation bestimmt: es ist „Anwendung". „Historisch denken" heißt nicht, die eigenen Begriffe beiseitesetzen und fremde aufnehmen, sondern „die Umsetzung vollziehen, die den Begriffen der Vergangenheit geschieht, wenn wir in ihnen zu denken suchen" (374). D a jedes Werk mehr sagt, als seinem Autor bewußt ist, ist es ganz legitim, wenn w i r uns von der ursprünglichen Meinung lösen und die eigentliche Meinung suchen, die wir nur in dem finden können, was der T e x t uns innerhalb unseres heutigen Horizontes sagt. In dieser Anerkennung des wirkungsgeschicht19

S. 3 2 9 — 3 4 4 .

20

V g l . dazu Simmeis Reflexionen über den geschichtlichen Progreß und das Verhältnis v o n geschehener und gedeuteter Geschichte v o r allem in: Probleme der Geschichtsphilosophie, 4 1 9 2 2 , s. o. S. 90 f. IJ8

Wissenschaftliche

Diskussion

liehen Vorgangs in allen Geisteswissenschaften scheint mir die eigentliche Konsequenz aus der „Geschichtlichkeit des Verstehens" gezogen zu sein, stärker als in der Rückbindung an die „Existenz" und der etwas tendenziösen Ausschaltung der Reflexion und der historischen Rekonstruktion. Doch diese Wirkungsgeschichte wird auch im Großen wieder existentiell bestimmt, nämlich durch unseren tatsächlichen, je schon gegebenen Traditionszusammenhang. (4) Gadamer setzt an die Stelle der formalen Einheit des hermeneutischen Verfahrens (bei Sdileiermacher) die sachliche Einheit unserer Überlieferung. D a ß w i r einen antiken Autor verstehen, beruht vor allem auf der uns mit ihm verbindenden Tradition, auf der Kontinuität des Gedächtnisses. A u f g a b e der Geisteswissenschaften ist darum A u f n a h m e und Fortführung dieser Tradition und nicht Suche nach einem pseudo-objektiven Überblick über verschiedene Kulturkreise. Die Geschichtlichkeit des Verstehens besagt: „Zugehörigkeit des Interpreten zu seinem Gegenstand", und diese ist gegeben durch seine „Faktizität", seine „Geworfenheit", im weiteren Sinn durch die Teilhabe an der Tradition seiner Kulturgemeinschaft (249 f.). Was Gadamer dabei anvisiert, ist eine Rehabilitierung des Begriffs des „ K l a s sischen". Dieser Begriff ist weder inhaltlich noch historisch oder formal (als ein bestimmter „ S t i l " ) befriedigend abzugrenzen, denn das normative Element in ihm läßt sich nicht ausschalten. E r bezeichnet eigentlich „eine ausgezeichnete Weise des Geschichtlichseins selbst": „Klassisch ist, was der historischen K r i t i k gegenüber standhält, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung, aller historischen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durchhält" (271). Das klassische Werk ist zeitlos und doch eminent geschichtlich: Es braucht die historische Rekonstruktion nicht, weil es sich selbst bedeutet und deutet, aber es gibt mit sich selbst auch seine eigene „ W e l t " zu erkennen, gibt uns A n teil an dieser Welt und gehört dadurch auch schon zu unserer

159

Neutralisierung

und Präzisierung in der

Gegenwart

Welt (273 ff.). Die Tradition des Klassischen erschafft und beherrscht das historische Bewußtsein, nicht umgekehrt. Die T r a dition und nicht die Methode gibt dem Prozeß des Verstehens sowohl seinen Platz als seine Legitimation. Gadamers Buch hat das große Verdienst, daß es die hermeneutischen Prinzipien, die Heideggers Existenzialismus tatsächlich enthält, von dessen metaphysischer Zuspitzung befreit und in ihrer Anwendungsmöglichkeit auf die Geisteswissenschaften zeigt. Heideggers „Sein" etwa ist f ü r ihn die „das Denken aus der Subjektivität übersteigende E r f a h r u n g " (95), und er belegt solche Erfahrungen ganz konkret mit demjenigen, was in den Geisteswissenschaften mit dem Anspruch der Wahrheit auftritt. Freilich enthält sein Buch die Konkretheit und „ A n w e n d u n g " , die es fordert, wiederum nur in allgemeiner Form, als Prinzipien, und daraus ergibt sich eine entscheidende Einschränkung seiner Gültigkeit. In der genaueren Anwendung, d. h. in den Geisteswissenschaften selbst, wird sich nämlich herausstellen, daß diese keineswegs ohne methodische Sicherung, auch nicht ohne formale Kriterien arbeiten können, und wird sich v o r allem die eine große und nicht sehr scharf gefaßte „Wahrheit" Gadamers wieder in vielerlei Wahrheiten von sehr verschiedenem Gewicht auflösen. In Gadamers Programm erscheint Wissenschaft selbst als etwas Ungeschichtliches und Geschichtlichkeit als den wissenschaftlichen Methoden unzugänglich. Hier weichen andere K o n zeptionen des geisteswissenschaftlichen Verfahrens von ihm ab. Doch im Nachweis, daß die Geschichtlichkeit das geisteswissenschaftliche Verstehen noch fundamentaler bestimmt als Dilthey es angenommen hatte, ist sein Buch typisch f ü r eine bedeutende Wendung in den heutigen Geisteswissenschaften.

Bewertungen der Geschichtlichkeit Nach dem Bisherigen scheint die „Geschichtlichkeit" als Tatsache des menschlichen Lebens allgemein akzeptiert zu sein. Sie wird nicht mehr mit solchem Pathos verkündet wie zwischen 160

Wissenschaflliche

Diskussion

den beiden Kriegen, sondern wird viel häufiger schon vorausgesetzt. Und sie ist nicht mehr ein bloßes Existenzial, das pauschal bejaht oder verneint würde, sondern eine Art Skala, ein Wertmaßstab. Rüther spricht schon vom „Grad" der Geschichtlichkeit21. „Die Geschichtlichkeit wird eine der Normen, mit denen der Mensch die Werthöhe des einzelnen, seiner Gruppe und seiner Zeit mißt" 22 . Wenn aber die Geschichtlichkeit ein Wertmaßstab wird, dann ist um so mehr zu fragen: Welchen Wert repräsentiert sie selbst? Ist sie überhaupt ein positiver Wert, und unter welchem Aspekt erscheint sie wertvoll? Über diese Frage sind verschiedene sehr hartnäckige Diskussionen geführt worden, in denen meistens die Tatsache oder sogar die Zunahme der Geschichtlichkeit noch von beiden Seiten bestätigt wird. Eine ganz negative Auffassung von der Geschichtlichkeit entwickelt G. Krüger 23 . Er sieht, daß heute das ganze Menschsein, alles Gleichbleibende, Natürliche, bis zur Leiblichkeit hin, in die geschichtliche Bewegung hineingezogen wird. „Die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens ist heute in ihrem Umfang fast total und von traditionellen Hindernissen fast gänzlich frei." Sie ist extrem, besteht in Rastlosigkeit und dauerndem Kampf und läßt keine Tradition mehr gelten24. Aus dieser ganz unhistorischen Geschichtlichkeit, die Krüger vorwiegend aus dem Existenzialismus herausliest, ergeben sich auch lauter negative Konsequenzen: Es gibt keinen bleibenden Lebenssinn mehr, nur noch Skepsis und Angst. Es gibt nicht mehr ein bestimmtes „Wesen" des Menschen, nur seine „Existenz", die erst mit einem Inhalt gefüllt werden muß. Es gibt statt „der Gemeinschaft" nur noch „die Masse" und statt einer gemeinsamen Lebensund Weltanschauung lauter einzelne Meinungen. „Die Zeit 21

Die Straße der Menschheit, 1950, S. 59. Stephan in: Die Sammlung 1952, S. 450. 23 Zusammenhängend in „Grundfragen der Philosophie", 1958, andeutend schon in mehreren kleineren Schriften vorher. 24 Grundfragen der Philosophie. S. 3—6. 22

161

Neutralisierung und Präzisierung in der Gegenwart der totalen Geschichtlichkeit" ist auch „die Zeit der unvereinbaren Standpunkte" 2 5 . Als positive Möglichkeit sieht Krüger jedoch nur (nach einer gründlichen Untersuchung des griechischen und „unseren" Denkens) eine Erneuerung des alten „absoluten" Standpunkts, von dem dann wieder Sinn und Moral bis zu einer „Metaphysik als Wissenschaft" abzuleiten wären 2 6 . Diesen Standpunkt deklariert er selbst als „ungeschichtlich", und er kann auch nicht überzeugend erklären, wie das „neue" alte Denken gegen den Lauf der Geschichte plötzlich wieder möglich sein soll 27 . Litt verteidigt „den Historismus" gegen diese „Widersacher 28 " und mit dem Historismus zugleich auch die Geschichtlichkeit — hier werden einmal beide Begriffe nahezu identisch. Geschichtlichkeit bedeutet f ü r ihn keine gleichbleibende „ N a t u r " (oder Eigenschaft) des Menschen, sondern den Prozeß der immer neuen Antworten auf immer neue Lagen. Die Erkenntnis der Geschichtlichkeit aber schließt auch schon ihre positive Bewertung ein: „In einem Denkakt überzeugt sich der Mensch von der Tatsache, der Notwendigkeit und dem Recht seiner Selbstbesonderung" 2 9 . Jedes Entkommen aus der Geschichte und jedes 25

a. a. O . S. 6—IO.

26

S. 2 7 5 ff.

27

Ähnliche Standpunkte der Sehnsucht, aus unserer Geschichtlichkeit herauszukommen, vertreten: L ö w i t h in: Weltgeschichte und Heilsgeschehen (besonders S. 1 8 0 — 1 8 4 ) , W . Weischedel, der als Lösung f ü r unsere Zeit vorschlägt, „ i m wesentlichen Sinne wieder ungeschichtlich zu werden, nicht freilich in der aufklärerischen Blindheit v o r der Bedrohlichkeit des Gewesenen, sondern so, daß uns im vertieften Wissen um die eigene Geschichtlichkeit das geistige und immer gültige Bild des Menschen wieder erstehe." (Zs. f. ph. F g . 1 9 4 7 , S. 498), A D e m p f in: K r i t i k der historischen V e r n u n f t , 1 9 5 7 — der Titel meint im Unterschied v o n Diltheys V o r h a b e n eine negative Kritik an der allzu starken historischen V e r n u n f t .

28

S. die A b h a n d l u n g unter diesem Titel in „ W i e d e r e r w e c k u n g des geschichtlichen Bewußtseins", 1 9 5 6 . 29

a. a. O . S. 80 ff.

162

Wissenschaftliche

Diskussion

Sich-darüber-stellen ist für Litt ganz ausgeschlossen. Es gibt kein Außerhalb der Geschichte, weder für die Erkenntnis noch für das eigene Tun. Litt hält noch die ganze Begeisterung für die Besonderung aufrecht, die bei ihm aber nicht romantisch erscheint, sondern in der er erst die „wahre" Aufklärung erkennt 30 . Den Antihistoristen gibt er zu, daß die Einsicht in die Besonderung auch des Seinsollenden wohl die Lebenssicherheit schwächt. Dafür aber macht sie den Menschen selbst verantwortlich für die Gestaltung seiner selbst, und zwar verantwortlich nicht nur für die Erfüllung irgendwelcher Normen, sondern auch für die Normen selber31. Eine ganz ähnliche Diskussion wurde in der Theologie geführt: zwischen Bultmann und seinen wissenschaftlichen Gegnern sowie zwischen Gogarten und Kamiah. Im Streit um Bultmanns Entmythologisierung geht es noch vorwiegend um die Fragen der historischen Interpretation. Beide Seiten behaupten, die „wirkliche" Geschichte zu bewahren. Bultmann spricht dabei von „unserer" Geschichtlichkeit, ihm kommt es auf die Existenz des gegenwärtig „in der Geschichte" lebenden Menschen an. Nur im bezug auf ihn hat Geschichte irgendeinen Sinn. Die Geschichtlichkeit der biblischen „Tatsachen" liegt für uns darin, daß sie verkündet werden 32 . Seine theologischen Gegner bestehen dagegen auf der „Faktizität" der Geschichte 30 V g l . neben seinen systematischen Schriften v o r allem seine beiden Herder-Bücher, 1 9 3 0 und 1 9 4 3 . 31

Wiedererweckung des geschichtlichen Bewußtseins, S. 89 f. — V g l . die fast wörtliche Ü b e r e i n s t i m m u n g aber noch ganz andere F r o n t bei Simmel, s. o. S. 9 1 .

32

Schon in: O f f e n b a r u n g und Heilgeschehen, 1 9 4 1 , später in: G e schichte und Eschatologie, und: Glauben und Verstehen, II und III, — vgl. auch C o l l i n g w o o d s „Philosophie der Geschichte", 1 9 5 5 , die Bultmann als wissenschaftliche U n t e r s t ü t z u n g besonders stark anzieht und die doch seiner kerygmatischen Theologie den Boden eher entzieht als befestigt.

163

Neutralisierung

und Präzisierung

in der

Gegenwart

und werfen ihm daher eine „Entgeschichtlichung" vor 33 . „Bei Bultmann erscheint die kerygmatisdie Theologie so verabsolutiert, daß nunmehr gar kein Ton mehr darauf liegt, daß von Gott her etwas geschehen ist, sondern allein noch darauf, daß uns Geschehenes — u. U. auch Nichtgeschehenes, das Entscheidende entzieht sich ja der historischen Nachprüfung! - bezeugt, verkündigt wird" 34 . Das letzte Zitat zeigt schon mit wünschenswerter Deutlichkeit, daß mit dem „wirklich Geschehenen" nur vermeintlich etwas Geschichtliches, in Wahrheit aber, da „Gott" in ihm agieren soll, etwas jenseits unserer Geschichte Liegendes gemeint ist. An diesem Punkt setzt Gogarten an, und seine Behandlung erst macht aus dem historischen Prinzipienstreit eine Grundsatzerklärung für oder gegen die Geschichtlichkeit. Für Gogarten ist es, ebenso wie für Bultmann selbst, ausgemacht, daß die Theologie nicht mehr anders als geschichtlich (d. h. nicht mehr metaphysisch, auf keine Weise „übergeschichtlich") denken kann 35 . Das geschichtliche Denken stammt nach Gogarten aus dem Christentum selbst, und es ist nichts anderes als das säkularisierte (von den übergeschichtlichen Verkleidungen befreite) christliche Prinzip. „Geschichtliches Denken" ist dabei freilich, nur eine (und zwar die wissenschaftliche) Äußerungsform der allgemeinen christlichen und neuzeitlichen „Mündigkeit" des Menschen und seiner Verantwortung für sich selbst und seine Welt 36 . Kamiah bezweifelt, daß es wirklich „die Entscheidung 33

Schieder in: Ein Wort lutherischer Theologie zur Entmythologisierung, hg. E. Kinder, 1952, S. 93. 34 P. Althaus: Das sogenannte Kerygma und der historische Jesus, 1958, S. 22. Vgl. eine parallele Diskussion über das A T zwischen von Rad in seiner „Theologie des A T " und F. Hesse in Z T h K i960. 35 Entmythologoisierung und Kirche, 1953, S. 41. Vgl. die ausführliche Darstellung der gleichen Wendung Bultmanns von der („metaphysischen") Zeit-Ewigkeits-Dialektik zur („eschatologischen") Existenz-DIalektik bei J. Körner: Eschatologie und Geschichte, 1957. 30 Z T h K 1953, S. 394, vgl. zur Säkularisierung: Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 19J3. 164

Wissenscbaßliche

Diskussion

zwischen geschichtlichem und metaphysischem D e n k e n " gibt. E r will nicht noch immer weiter von der Metaphysik fort und hin zur Geschichtlichkeit, er will vielmehr wie Löwith und Krüger die „Hypertrophie des geschichtlichen Denkens"

überwinden.

Sein theologisches Argument dafür ist: Auch das Neue Testament handelt nicht von der Verantwortung für die Welt, „sondern vom Vergehen dieser "Welt und ihrer sorgenden Geschichtlichkeit" 3 7 . Gogarten lehnt in seiner Antwort 3 8 gerade diesen „gnostischen" Einwand ab. Das wahre Christentum ist niemals gegen die Welt gleichgültig, das Tun ist nicht beliebig, sondern steht unter der Verantwortung des Menschen. Spezifisch theologisch ist an dieser „zeitgemäßen" Auslegung des Christentums nur noch die Forderung, daß alles Tun in der „unablässigen Erwartung des Gerichts" getan werden soll. Auch diese Forderung soll aber keine „übergeschichtlichen" Vorstellungen voraussetzen, sondern meint, menschlich ausgedrückt, das „Offenbleiben" und die „Zukünftigkeit". D e n ganz verschiedenen Bewertungen der Geschichtlichkeit: als Chance, Befreiung, Selbständigkeit und als G e f a h r

und

Verderbnis, liegen zwei verschiedene Ansichten von der G e schichte zugrunde: Geschichte ist je meine Gegenwart, ist noch nicht entschiedenes Geschehen, Aufgabe, O r t der Gestaltung — oder Geschichte ist das große Geschehen über meinen K o p f und allen individuellen Willen hinweg, Geschichte machen wesentlich „die anderen" (oder ein überindividuelles Schicksal). Beide aber treffen sich in der Meinung, daß die Geschichtlichkeit immer mehr zunehme, der Mensch immer stärker in Geschichte verwickelt werde und kein oder nur schwer ein Residuum (einen Wesenszug, ein Prinzip, ein Gut) übrigbehalte. 37

In Ev. Th. 1954, s. S. 176.

38

In. Ev. Th. 1954, besonders S. 232—236.

12 Bauer

Neutralisierung

und Präzisierung

in der

Gegenwart

Rückgang der Geschichtlichkeit Dieser Meinung steht nun aber eine andere stark vertretene Auffassung diametral gegenüber, nach der die Geschichtlichkeit in unserer Zeit weniger wird oder ganz verschwindet. Die moderne „ Ungeschicklichkeit" und der „ V e r f a l l " der Geschichte überhaupt kehren in vielen sonst recht heterogenen Urteilen über die Gegenwart wieder. Die Hauptkennzeichen der „ E n t geschichtlichung" sind die wachsende Rationalisierung des Menschen, seine „Zerebralisierung" (Benn), die Versachlichung des Lebens und die Uniformierung aller Menschen. Das „Fellachendasein", das Spengler f ü r jeweils eine sterbensreife Kultur vorausgesagt hatte, scheint jetzt alle Völker (die sich nicht mehr gegeneinander abgrenzen können) zu bedrohen, und es würde, wenn Spengler recht behielte, das Erstarren der Geschichte der ganzen Menschheit bedeuten. Die modernen Utopien beschreiben die Geschiehtslosigkeit als einen einheitlichen Zustand der ganzen Welt 39 . A . Weber sieht heute schon den A n f a n g des „Vierten Menschen", des weltweit domestizierten Herdentiers 40 . Nach R. Seidenberg ist schon der heutige Mensch „post-historic m a n " 4 1 . Das nach Scheler ( 1 9 1 6 ) „noch gar sehr junge historische Zeitalter" 4 2 wäre nach diesen Theorien schon zu Ende oder kurz vor dem Ende. 39

s. H u x l e y , Orwell, N . Shute, B. F. Skinner. — I m Deutschen werden die gleichen Befürchtungen weniger romanhaft und mehr „wissenschaftlich", besonders in der Soziologie und der „Gegenwartsgeschichte", behandelt. 40

Zuerst in: Kulturgeschichte als Kultursoziologie, 1934. In der Diskussion dieser Soziologen-Vision ist von besonderem Interesse der Beitrag von J. Hersch (in: K o m m t der Vierte Mensch? 1 9 5 2 ) . Sie findet im Vierten Menschen nicht eine zukünftige, sondern eine ewige Bedrohung des Menschen verkörpert, verknüpft also einerseits die allzu exzeptionell gesehene heutige Lage mit der ganzen bisherigen Geschichte, nivelliert aber andererseits die Geschichte selbst zu einer ewig gleichen Situation. 41

R . Seidenberg, Post-historic Man, 1950.

42

Werke 2, S. 3 1 0 .

166

Wissenschaftliche

Diskussion

So unbeweisbar diese Theorien im ganzen sind, so wenig sind sie auch zu widerlegen. Denn alle Argumente dagegen sind aus der bisherigen Geschichte genommen und müssen voraussetzen, daß es auch weiterhin ähnlich wie bisher zugehen werde. (Was freilich mehr Wahrscheinlichkeit für sich hat als das erst utopische Gegenteil.) Das gilt auch für den prinzipiellen Einwand gegen jede Vorstellung eines endgültigen stationären Zustands: „Geschichte verharrt immer im Un-Endgültigen. Sie kann nur als weitergehend gedacht werden" 43 . Doch unsere Aufgabe verlangt, nicht den Zukunftsaspekt, sondern allein die gegenwärtigen Äußerungen der Ungeschichtlichkeit zu untersuchen. Da läßt sich nämlich zeigen, daß in der Erfassung der Fakten und der Richtung der modernen Entwicklung die meisten Kritiker der Gegenwart übereinstimmen und daß nur eine verschiedene Akzentuierung ihre einander entgegengesetzten Urteile verursacht. Genau die gleichen Vorgänge: der Verfall der Tradition, des festen, inhaltlich bestimmten „Wesens" des Menschen und der Gemeinschaft können sowohl als Charakteristica der „reinen Geschichtlichkeit des Menschen" gelten (Krüger, s. o.), wie auch als Anzeichen des radikalen Verfalls seiner Geschichtlichkeit (Adorno, Freyer, Grabowsky, Heinemann, Jaspers, Jünger, R. Jungk, Ortega, A. Weber). Das zweite Urteil versteht also unter „Geschichtlichkeit" etwa dasselbe, was Dilthey darunter verstand und was schon der ältere Historismus 44 , wenngleich unter anderen Namen, kannte: Die Selbstausprägung des Menschen in vielen sinnvollen Formen, die Kultur als die Form, die er seiner Zeit gibt. Die „Entgeschichtlichung" ist dann direkt an der Reduktion der Formen abzulesen, denn je weniger und je stereotyper die Formen werden, desto geringer wird die „geschichtliche" Spannung. Das erste Urteil dagegen faßt die Geschichtlichkeit im existenzialistischen Sinne auf (obgleich es oft mit einer nicht43

F r e y e r , Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 2 1 6 .

44

I m Sinne Meineckes, s . o . S . 9 — 1 1 .

167

Neutralisierung und Präzisierung in der Gegenwart existenzialistischen Deutung verbunden wird): Sie ist vor allem meine Entscheidung, meine Selbständigkeit, meine „Verantwortlichkeit". Sie besteht nur im Handeln, läßt sich darum auch an keinen äußerlichen Formen ablesen. Man kann keine statistischen Ergebnisse über sie sammeln, nur aus dem eigenen Existenz-Erlebnis (und jetzt auch dem Erleben der anderen in ihrer Existenz) kann ich einen Schluß auf die Zunahme der Geschichtlichkeit ziehen. Das zweite Urteil ist demgemäß häufig in der Soziologie und Zeitkritik zu finden. Es gehört ganz in die Sphäre, für die Troeltsch den Namen „materiale Geschichtsphilosophie" vorgeschlagen hatte. Das erste tritt fast ausschließlich in derjenigen Philosophie und Theologie auf, die über „den Menschen" als das „von innen Bekannte" (nach Diltheys Ausdruck) philosophiert. Das zweite Urteil ist selbst ein geschichtliches Urteil, das erste eine Überzeugung vom Wesen des Menschen. Beide Deutungen (mit Bevorzugung der ersten) sind gegenübergestellt in Guardinis „Ende der Neuzeit" (1950). Das Budi erinnert nicht nur im Titel an Spenglers Werk. Guardini übernimmt fast ohne Widerspruch Spenglers Glauben, daß die neuzeitliche Dynamik, die schöpferische Persönlichkeit, also Spenglers „faustische Seele" 45 zum Erliegen gekommen sei. E r bricht ihm aber die fatalistische Spitze ab, denn bei Guardini folgt auf die Neuzeit noch eine „kommende Zeit", in der der Mensch nicht mehr „Persönlichkeit" (schöpferisch, idealistisch), sondern „Person" sei und alle Menschen „einzeln" und „gleich vor Gott". E r charakterisiert kurz die neuen Kräfte, die diese allgemeine Personalität möglich machen sollen: die moderne Wissenschaft, die Unheimlichkeit und nicht mehr Geborgenheit in der Welt. Im Grunde aber leitet er, immer noch wie die Dialektischen Theologen der zwanziger Jahre, direkt aus der Negation des 45

Bei G u a r d i n i hat die N e u z e i t ihre H a u p t w u r z e l im Christentum, doch dazu k a m ( „ f e r n e r " ) der E i n s t r o m des germanischen Wesens mit seinem T r i e b ins U n b e g r e n z t e und über die W e l t hinaus (a. a. O . S. 2 1 ) .

168

Wissenschaftliche Diskussion Alten schon das neue Positive ab: „ U n d da darf man wohl annehmen, im Verzicht auf die reiche und freie Fülle des Persönlidikeitskultes werde das, was eigentlich ,Person' ist, das Gegenüber zu Gott, die Unverlierbarkeit der Würde, die Unvertretbarkeit in der Verantwortung, mit einer Kraft und Klarheit hervortreten, die vorher nicht möglich war. Und so seltsam es klingen mag: die gleiche Masse, welche die Gefahr einer absoluten Beherrschbarkeit und Verwendbarkeit in sich trägt, hat auch die Möglichkeit zur vollen Mündigkeit der Person in sich" 46 . Natürlich können die gegensätzlichen Auffassungen über die Zu- oder Abnahme der Geschichtlichkeit, obgleich sie aus verschiedenen Bereichen kommen, aufeinander bezogen werden, sie müssen sogar einander korrigieren. Der Soziologe darf also nicht schon das Geringerwerden der geschichtlichen Vielfalt, gemessen an einem heute selbst nicht mehr verbindlichen Persönlichkeitsideal, als Verfall der dem Menschen wesentlichen Geschichtlichkeit deklarieren und muß einen inneren Bereich des Selbstverständnisses und der persönlichen Entscheidung anerkennen, welcher noch nicht ohne weiteres von der fortschreitenden „Verwaltung" des Menschen illusorisch gemacht wird. Und der E x i stenzphilosoph oder Theologe muß seinerseits diese je eigene innere Welt, da er sie doch zum Kern aller Geschichte erheben will, in ihrer Bezogenheit auf die äußeren Einrichtungen des Menschenlebens sehen, muß also in seine Deutung auch die Gefahren einbeziehen, die dieser wesentlichen Geschichtlichkeit durch die starke Beschneidung des Bereichs ihrer Wirkung und sogar schon ihres Ausdrucks drohen. Doch selbst bei dieser gegenseitigen Korrektur bleibt die Frage, ob man heute wirklich schon von einem „ V e r f a l l der Schicksalsfähigkeit" sprechen kann oder ob diese sich im Gegenteil heute erst recht und ohne die früheren Illusionen ausprägt, zu stark an die jeweiligen Grundauffassungen vom Menschen gebunden, als daß sie sich eindeutig entscheiden ließe. Demzufolge herrscht in der Beurteilung der Ge4e

a. a. O. S. 80. 169

Neutralisierung

und Präzisierung

in der

Gegenwart

schichte im ganzen ein permanenter Widerspruch der Meinungen: Je nach der Bewertung und Auswahl der Beispiele47 läßt sich eine hastigere oder gleichmäßigere Bewegung der Geschichte erkennen, nimmt der Mensch immer „wesentlicher" oder immer oberflächlicher an ihr teil. In der modernen Kunst etwa kann man den Versuch erkennen, „die Dynamik der Geschichte beschwörend am Leben zu erhalten" 48 , und man kann bei derselben Auswahl und anderer Interpretationen in der Kunst gerade die Technifizierung, das geschichtslose Machen, den „zerebralen Rausch" besonders typisch ausgeprägt finden49. Die aufgeworfene Frage nach der Geschichtlichkeit der Geschichte selbst bleibt ohne generelle Antwort. Verhältnis zur

Vergangenheit

Davon läßt sich aber die andere Frage unterscheiden, wie der Mensch sich zur Vergangenheit verhält und welche Bedeutung darum die GeschichtsWissenschaft für ihn hat. Sie ist nicht ganz von der erwähnten Grundsatzdifferenz und mithin von der Voraussetzungsgebundenheit abzutrennen, aber sie hat noch außerhalb der verschiedenen weltanschaulichen Deutungen eine bestimmte diskutierbare Bedeutung. Die Trends, die im vorigen Abschnitt zur Sprache kamen, bedeuten unter dieser Fragestellung mindestens eine Gefahr, vielleicht aber schon das Faktum, daß das Gewicht der Vergangenheit für den heutigen Menschen abnimmt. „Die Technik entfremdet die Zeit der Vergangenheit . . . Der Name unserer Zeit ist Gleichheit. Die Gleichheit ist keine Freundin der Geschichte" (Heimpel) 50 . 47

Die moderne Zeitkritik arbeitet nur mit Beispielen. Selbst wo sie Statistiken heranzieht, stehen diese gleich als Beispiele für viel größere Zusammenhänge. 48

Adorno, Prismen, S. 59 f.

49

Blöcker, Die neuen Wirklichkeiten, 1957.

50

Zitiert in D I E Z E I T 1. 1. i960. I/O

Wissenschaftliche

Diskussion

Die Versuche, den Schwund des historischen Gedächtnisses zu fassen, stehen noch in den Anfängen. Besonders erschwert werden sie durch die Schwierigkeiten, das Verhältnis zwischen der wissenschaftlichen und der Lebensbedeutung der Geschichte festzustellen, denn die wissenschaftliche Historie selbst spiegelt in ihrer Arbeit und ihrem Fortschritt keineswegs einen Verfall des historischen Sinnes. A. Heuss unterscheidet zwischen der Geschichte als Erinnerung und der Geschichte als Wissenschaft51. Nur die Erinnerung ist von einem wirklichen Verfall betroffen. Die Geschichtswissenschaft hat eher noch zugenommen, hat auch die Stelle der ursprünglichen Erinnerung eingenommen, doch kann diese nicht ausfüllen und läßt uns leer52. Heuss gibt drei Gründe für den Verfall der Geschichte als Erinnerung an (eine lange Entwicklung und zwei aktuelle Stimmungen): Die Wissenschaft selbst hat die Erinnerung getötet oder der Mensch will sich nicht mehr erinnern, weil die Erinnerung zu peinlich wäre und er nichts mehr zu verantworten bereit ist oder weil er „am eigenen Leibe zu viel Geschichte erfahren [hat], um für die Vergangenheit noch genug Kräfte frei zu haben" 53 . Heuss hat mit diesen Thesen energischen Widerspruch gefunden, der sowohl zwei seiner Gründe als auch seine Hauptfolgerung betraf. Vor allem sind nicht alle Geschichtsforschungen so von der Gegenwart abgeschnitten wie die „Alte Geschichte" und die klassische Philologie (Heuss'Forschungsgebiete). Die Loslösung der Geschichtswissenschaft von der Erinnerung 51

A. Heuß, Verlust der Geschichte, 1959.

52

a. a. O. S. 58. 53 a. a. O. S. 56—60. — Vgl. auch die (weniger konsequent durchgeführte) Darstellung der Selbstzerstörung des geschichtlichen Denkens von G. Siebers im Philos. Jb. der Görres-Ges. 1956.

171

Neutralisierung

und Präzisierung

in der

Gegenwart

trifft also nicht in gleicher Weise für die aktuellen Geschichtsgebiete und deshalb auch nicht für „die" Geschichte überhaupt zu. Es lassen sich auch in dieser Frage die Meinungen je auf den Optimismus und Pessimismus der Forscher zurückführen und darum nicht zu einem Gesamtergebnis zusammenziehen. N u r über einen Punkt besteht allgemeine Ubereinstimmung: daß die Erinnerung in sich selbst immer indirekter, durch immer mehr Reflexion oder mehr techne vermittelt, also selbst der historischen Wissenschaft immer ähnlicher wird. Das „Leben", das nach den Hoffnungen der früheren Kritiker der Historie (von Nietzsche an) das notwendige Korrektiv gegen das vergleichgültigende historische Wissen bilden sollte, scheint selbst nicht genug Widerstand gegen die „Methode" zu bieten, da schon in seine primären Funktionen, Erfahrung und Erinnerung, die um sich greifende Sachlichkeit und Verfremdung eingreifen. Es gab zwar auch, vor allem unmittelbar nach dem Krieg, die gegenteilige Befürchtung: daß das leidenschaftliche und radikale Denken zur Macht komme und das neutrale und objektive zur Seite dränge 54 . Aber diese Zukunftsperspektive erwies sich als sehr zeitgebunden, und heute wird vielmehr die Neutralisierung und Objektivierung auch der Erinnerung mit Genugtuung oder auch mit Besorgnis verfolgt 55 . Strenge Individualität

und

Neutralität

Innerhalb der Geschichtswissenschaft läßt sich noch eine Richtung verfolgen, die mit dem Spezialisierungsdrang aller Wissenschaften in Einklang steht, die sich aber noch mit besonderer, zuweilen leidenschaftlicher Überzeugung durchsetzen will: Man 54

R . Heiß: Der Gang des Geistes, 1948.

55

Mit Genugtuung: Grabowsky, H o f e r , Topitsch, Weidenbach, mit Besorgnis: E. Frank, Jünger (An der Zeitmauer), Rocker (Die Entscheidung des Abendlandes, z Bde. 1949).

172

Wissenschaftliche

Diskussion

kann die Geschichtlichkeit allein durch Festhalten an der historischen ( = zeitgebundenen) Individualität erreichen. Alle inhaltlichen Zusammenfassungen, alle Strukturforschung, vor allem alle Typologie (in Soziologie, Psychologie, Anthropologie) vergewaltigen die Geschichtlichkeit der Geschichte oder können überhaupt keine Geschichte erfassen. Diese Abwehr aller Abstraktionen von der geschehenen Geschichte zu geschichtlichen oder übergeschichtlichen „Formen" war in der Geschichtsschreibung schon lange lebendig und war auch in den zwanziger Jahren mit der gleichen Radikalität und als ein ganz neues Prinzip in der Geschichtsphilosophie aufgetreten 56 . Inzwischen gilt sie in dieser Richtung der Geschichtsphilosophie als selbstverständlich, und von diesem sicheren Grundsatz aus können jetzt alle Abweichungen von der beschreibenden Historie zu typologischen Schemata als „Sündenfälle" verurteilt werden. Typisch für diese Tendenz ist C. Antonis Aufsatzsammlung „Vom Historismus zur Soziologie" (1950), in der er allen Mitbegründern des modernen Historismus — Dilthey, Troeltsdi, Meinecke, Max Weber, Huizinga, Wölfflin — solch eine Abirrung, ein Sich-selbst-nicht-treu-bleiben vorwirft. „Nachdem einmal die wirkliche Bewegung und die Neuheit der Geschichte geleugnet war, mußte die Geschichtsschreibung sich ändern und in Typologie und Soziologie erstarren" 57 . Eine ganz ähnliche Überzeugung und Kritik vertreten: Collingwood, Bultmann 58 , Litt, Wittram. Das Ziel dieser „Puristen der Historie" (sit venia verbo) ist: Durch strenges Festhalten an der „konkreten historischen Realität" soll der Historismus ganz ernst genommen und dadurch zugleich seine relativistische Tendenz überwunden werden. Der 58

S. o. S. 1 0 9 — i n , 1 1 4 — 1 1 6 .

57

a. a. O. S. 56.

58

In: Geschichte und Eschatologie, 1958. I

73

Neutralisierung

und Präzisierung

in der

Gegenwart

„weltanschauliche" Historismus (der diese relativistische T e n denz ausprägte) ist überhaupt nur eine Ubergangserscheinung: Wenn der Mensch erkannt hat, daß alle „intentionale W e l t auffassung" (also jede A r t von „Naturrecht") nur eine freundliche Selbsttäuschung gewesen ist, dann kann sich zwar das Gefühlsleben nur langsam der Erkentnis anpassen und müssen Anpassungskrisen auftreten. Heute jedoch sollte es schon möglich sein, „neutral"

und „intentionslos"

alle historisch

getretenen Weltbilder zu betrachten (E. Topitsch) 5 9 .

59

Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1958. 174

auf-

Naturwissenschaftliche Parallelen In allen bisherigen Theorien hat „Geschichtlichkeit" zugleich die Bezogenheit auf den Menschen bedeutet, d. h. wir haben den Begriff bisher allein in den Geisteswissenschaften verfolgt. Auch in diesen war die Geschichtlichkeit schon auf sehr verschiedene Ebenen bezogen worden: „geschichtlich" war das Bewußtsein oder der Wille des entschlossenen Ichs oder die Bilder seiner Weltanschauung oder die Sitten und Einrichtungen seines täglichen Lebens. Noch andere Theorien aber verfolgen die Geschichtlichkeit auf noch weitere und tiefere Ebenen zurück 1 . Die beiden wichtigsten naturwissenschaftlichen Theorien müssen wir wenigstens zum Vergleich betrachten2: Alles Leben ist als solches schon geschichtlich oder der Geschichte verwandt. Die ganze Natur ist selbst geschichtlich. BIOLOGIE

Einen der Geschichte verwandten Zug des organischen Lebens hat zuerst R. Ehrenberg in seiner „Todesbiologie" theoretisch untersucht: „Theoretische Biologie vom Standpunkt der Irreversibilität des elementaren Lebensvorganges" (1923). Man kann in ihr die Grundbegriffe der historischen Lebensphilosophie wiederfinden: Der Organismus „ist nicht sondern er wird" 3 . Jedes Individuum ist ein Vorgang, eine „Ablaufsrichtung" 4 . 1 Im N S hatten wir schon den Ansatz der Geschichtlichkeit im rein Naturhaften des Menschen, seiner Erbmasse, konstatiert. 2 Leider kann ich sie nur ganz laienhaft referieren. 3 a . a . O . S. 15. 1 S. 185.

175

Naturwissenschaftliche

Parallelen

Sein Grundsatz aber klingt wie eine strenge biologische P a r a l lele zu Heidegger: Alles organische Leben steht unter dem G e setz von der Notwendigkeit des Todes. D a ß es ohne T o d kein Leben gibt, war schon seit Menschengedenken bekannt, Ehrenberg aber will diese Einsicht radikal ernstnehmen, will das Leben von seinem Tode her bestimmen. Sein Gesetz hat innerhalb der Biologie die einfache Begründung, daß in jedem lebendigen Gebilde das T o t e relativ immer mehr zunimmt. Ehrenberg nennt diese Bestimmung aller Organismen noch nicht „geschichtlich". Sie soll noch keine teleologische Bestimmung sein, genau so wie Darwins Deszendenztheorie noch nichts über die Richtung der Entwicklung aussagt 5 . Auch die N a t u r philosophie der nächsten J a h r e wahrt noch deutlich den Unterschied zwischen „Leben" und „Geschichte" 6 . N u r in einem ganz abgewerteten, unspezifischen Sinn kann auf die Ergebnisse dieser Theorien der Begriff der Geschichtlichkeit angewandt werden: „Fortschritt und Verfall sind als generelle Kategorien

ver-

braucht. Die Mechanik der Metamorphose ist problematisch geworden. So bleibt für die Naturgeschichte kaum mehr übrig als für die Geschichte des Menschen, nämlich die formale E r kenntnis von der Geschichtlichkeit des organischen Lebens" 7 . In Wirklichkeit hat es aber die Biologie nicht mit irgendeiner Geschichte zu tun, sondern nur mit der richtigen Zuordnung des Lebens zur Zeit. Bergsons grundlegende Unterscheidung tritt nicht erst im menschlichen Bereich auf, sondern markiert schon 5

S. 2.66.

6

s. Driesch und vgl. den Forsdiungsbericht von Th. Ballauf: Das Problem des Lebendigen, 1949. Heberer spricht schon von „echter Historizität" der Organismen, versteht aber darunter auch nur die Irreversibilität, die er auf die Komplikation der belebten Systeme und der sich verändernden Strukturen zurückführt (in Phil. nat. i960, S. 1 4 6 — I J I ) . 7

Pleßner: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, S. 26.

176

Biologie

den Unterschied zwischen belebter und unbelebter Natur. Die Naturphilosophen suchen jetzt die besondere biologische Zeit gegenüber der mathematischen zu bestimmen. Uexküll nennt sie die „objektive Zeit": „Eine objektive Zeit tritt erst innerhalb der Grenzen des Lebens auf", denn im Bereich des Unbelebten gibt es keine Jugend und kein Alter 8 . V. v. Weizsäcker findet die existenzialistische Beschreibung der Zeit für die biologische Zeit zutreffend: „daß das Leben nicht in der Zeit ist, sondern die Zeit im Leben ist oder genauer durch dessen Durchsetzung wird 9 ". Für ihn ist die biologische Zeit aber nicht wie für Uexküll objektiv, sondern der Grund für die Labilität des Lebens. In dieser Labilität hat er für die Biologie eine genaue Entsprechung zur Unbestimmtheitsrelation der Geschichte10 ausgesprochen: „Die Labilität ist nicht mehr eine bedauerliche Unvollständigkeit der Berechnung, eine Unbestimmbarkeit, sondern eine notwendige Unbestimmtheit zur Erzeugung realen Geschehens. Damit ist in die Idee der gesetzmäßigen Bestimmtheit der Natur eine gesetzmäßige Unbestimmtheit mit aufgenommen worden 11 ." So lassen sich mindestens die drei Aspekte Zeitlichkeit, Endlichkeit und Unbestimmtheit, die sonst als typisch für die menschliche Geschichte behandelt wurden, auf alles organische Leben anwenden. Sie begründen aber noch keine „Geschichtlichkeit" auf diesem Gebiet, und sie würden es mithin noch nicht rechtfertigen, von einer „Naturgeschichte" zu sprechen. Der alte Begriff der Naturgeschichte ist erst auf einem anderen Wege wieder zu Ehren gebracht worden: 8 9

Uexküll: Der Mensch und die Natur, 1955, S. 198. V. v. Weizsäcker: Gestalt und Zeit, i960, S. 19.

10

S. o. S. 88.

11

a. a. O. S. 21.

*77

Naturwissenschaflliche

Parallelen

P H Y S I K

In dem langen Kampf, den die Abgrenzung der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften erfordert hatte 12 , war der Prozeßcharakter der Natur selbst nicht genügend berücksichtigt worden. Die Natur galt den Geisteswissenschaftlern als bloßer Kreislauf, als „leere Unendlichkeit 13 " oder als neutrale bzw. chaotische Materie, die eine bestimmte Ablaufsrichtung erst durch die Deutung des Menschen empfängt 14 . In den Naturwissenschaften ist aber, mindestens seit der Entdeckung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, die eindeutige Zeitrichtung der Natur selbst erkannt. C. F. v. Weizsäcker nennt den Zweiten Hauptsatz den „Satz von der Geschichtlidikeit der Natur 1 5 ". „Geschichtlichkeit" hat jedoch bei Weizsäcker einen doppelten Sinn: sie bezeichnet der Zeitablauf selber (i) und die Beziehung der Zeit zu unserem Wissen (2). (1) Wenn das Naturgeschehen prinzipiell unumkehrbar und unwiederholbar ist, so bedeutet das, daß auch in der Natur, genau wie in der Geschichte, die verschiedenen Zeitstufen, also etwa auch die Zeiten, die wir von heute aus „Vergangenheit" und „Zukunft" nennen, nicht ausgetauscht werden können, weil sie selber thermodynamisch verschieden bestimmt sind. (2) Darüber hinaus unterscheidet Weizsäcker aber auch ganz formal zwischen Vergangenheit und Zukunft 16 . Er will die beiden Zeitrichtungen in der Naturwissenschaft, soweit sie vom Zweiten 12

V o n den Ü b e r z e u g u n g e n der f r ü h e n Historisten über genaueren Strukturanalysen v o n D i l t h e y , Rickert, G o t t l bis heute etablierten völligen T r e n n u n g der Wissenschaften. 13

D r o y s e n , Historik, § 4 $ — 4 9 .

14

G o t t l , die Grenzen der Geschichte, 1904.

15

Die Geschichte der N a t u r , 1 9 4 6 , S. 10. Rezensionen v o n Moser und Schrödinger in Ph. n. I, 1 — I , 3 ( 1 9 5 1 ) . 16

die zur

Wein,

D e r Z w e i t e H a u p t s a t z und der Unterschied v o n Vergangenheit und Z u k u n f t , in: A n n a l e n der P h y s i k 1 9 3 6 , auch passim in „ G e schichte der N a t u r " .

178

Physik H a u p t s a t z bestimmt w i r d , ebenso gebraudien w i e im „ p r a k tischen L e b e n " : D a s Vergangene ist wirklich, ist unabänderlich geschehen, das Z u k ü n f t i g e ist noch unbestimmt, ist erst möglich oder wahrscheinlich. D i e inhaltlichen Ausführungen über den Z e i t v e r l a u f ( i ) scheinen mir unwiderleglich. H i e r k a n n man also v o n der „Geschichte der N a t u r " sprechen, die freilich nur den ganzen A b l a u f (bis zu einem „ W ä r m e t o d " ) bezeichnen w ü r d e und sonst nichts enthielte, w a s w i r f ü r die menschliche „Geschichte" typisch gefunden haben. Weizsäcker geht nur z u weit, w e n n er die Geschichtlichkeit des Menschen auf die Geschichtlichkeit der N a t u r z u rückführen will. „ D e r Mensch ist ein geschichtliches Wesen, . . . weil er aus der N a t u r hervorgeht, denn die N a t u r selbst ist geschichtlich 17 ." Es gab z w a r schon viele Fatalisten (von H e n r y A d a m s an 1 8 ), die aus dem Z w e i t e n H a u p t s a t z eine A r t „ W ä r m e tod der Menschheit" ableiteten und die ganze Geschichte damit schon determiniert sahen. Ein statistisches Gesetz k a n n aber niemals eine ganze Geschichte ausmachen, denn es v e r f e h l t gerade die Geschichtlichkeit der menschlichen Geschichte. U n d

Weiz-

säcker selbst sieht keineswegs die ganze Geschichte fatalistisch bestimmt, er bringt es auch in seinem letzten K a p i t e l (über den Menschen) gar nicht fertig, die menschliche

Geschichtlichkeit

schon aus der Geschichtlichkeit der N a t u r abzuleiten. In der formalen Bestimmung des Unterschieds zwischen V e r gangenheit und Z u k u n f t (2) scheint mir Weizsäcker der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung überhaupt zu widersprechen. Es ist z w a r richtig, daß das Vergangene selbst „ w i r k l i c h " gewesen ist. M a n k a n n darum auch eine weitere Ähnlichkeit z w i schen Naturwissenschaft und Geschichte darin erkennen, auch der Naturforscher

„Zeugnisse"

aus der

daß

Vergangenheit

kennt 1 9 . D i e Vergangenheit jedoch, die der Naturforscher er17

Geschichte der Natur, S. 9.

Zitiert bei L. Marcuse, Amerikanisches Philosophieren, S. 99. 18

179

19J9,

Naturwissenschaftliche

Parallelen

schließt, ist stets ein Ergebnis von Schlüssen über äußeres Material und erlangt niemals den gleichen Grad von Realität (obgleich oft den gleichen Grad von Wahrscheinlichkeit) wie die historische Wirklichkeit 20 . Es ist eine andere Art von Realität, mit der beide zu tun haben. Und zur historischen Realität gehören als besondere Charakteristica (um nur die wichtigsten zu nennen): Bekanntsein von innen (Dilthey), Bezogensein auf Emotionen (Simmel), Bezogensein auf einen Willen (Croce), auf menschliche Taten (Collingwood) oder auch Leiden (Bultmann) 21 .

19

Gegenüber Gottl, der die „Zeugnisse" allein der menschlichen Geschichte vorbehält.

20 Vgl. dazu auch die Rezension von H . Wein in Phil. nat. I, i und I, 3, 19 51, in der diese methodische Ausweitung des Begriffs der Geschichtlichkeit zurückgeführt wird auf einen Fehlschluß von der Gegebenheitsweise der Natur f ü r den Menschen auf die Seinsweise der Natur, S. 439 f. 21 Moser gibt in seiner Besprechung von Weizsäckers Buch (in Phil, nat. I, 3, 1 9 5 1 ) noch einen Unterschied in der Zeitstruktur an: In der Natur gebe es nur das Nacheinander der Zeiten, mithin nur zwei verschiedene Richtungen der Zeit, allein im menschlichen Leben spiele der dritte Modus der Zeit, die Gegenwart, eine entscheidende Rolle.

180

Zusammenfassung Die Arbeit hat versucht, anschaulich zu machen, wie sich der Begriff „Geschichtlichkeit" historisch entfaltet hat. H i e r soll die Entwicklung noch einmal kurz zusammengefaßt werden. Die eigentliche Begriffsgeschichte setzt erst mit Yorck und Dilthey ein. Diese finden jedoch fast alle inhaltlichen Bestimmungen der Geschichtlichkeit des Menschen schon in der T r a dition v o r : die Entdeckung und immer genauere Anwendung des „historischen Sinnes" von Herder bis zu den Historikern und Philologen des 19. Jahrhunderts, den Sinn f ü r Tradition sowie die Rückbeziehung der eigenen Lebenseinrichtung und des Selbstverständnisses auf die Tradition bei den älteren Historisten und den Romantikern, die besondere Seinsweise der geschichtlichen oder menschlichen Welt gegenüber dem Sein der N a t u r und die konkrete Gemeinschaftlichkeit statt der abstrakten Gleichheit der N a t u r von Vico an, die D y n a m i k und den Z w a n g der überindividuellen Geschichte ebenfalls ab Vico, die spezifische Bewegungsweise der Geschichte, die Dialektik, vor allem bei Hegel, bei ihm auch die Zusammenfassung der Geschichte in der Gegenwart und ihrem philosophischen Selbstbewußtsein, und im Widerspruch des 19. Jahrhunderts gegen Hegel auch schon die Bedingtheit und Vorläufigkeit des Historischen. Dilthey und Yorck wollen diese großen Ideen gegen das naturwissenschaftliche, positivistische, mechanistische Denken ihrer Zeit zur Geltung bringen, sie wollen sie erst völlig ernst nehmen und alle Konsequenzen aus ihnen ziehen, wobei Dilthey besonderes Gewicht auf die methodischen und weltanschaulichen K o n sequenzen legt, Yorck mehr auf die praktisch-ethischen. „ G e schichtlichkeit" bedeutet ihnen beiden die Bedingtheit aller menschlichen Leistungen, auch der bisher als „Vernunftwahrheiten" geltenden, durch die Lebenstotalität des Menschen. Diese

13 Bauer

l8l

Zusammenfassung

Lebenstotalität setzen sie zwar als bekannt („von innen bekannt") und auch als psychologisch beschreibbar voraus, doch ganz erfüllt und gegeben ist sie selbst immer nur in historischer Gestalt: in jeweils „radikaler" oder „typischer" Ausprägung durch geschichtliche Bewegungen, und letzten Endes, jedenfalls für Dilthey, in der Summe dessen, was der Mensch schon gewesen ist und noch ist. Die weitere Radikalisierung der Geschichtlichkeit in den folgenden Bewegungen hebt auch diesen Diltheyschen Ausgleich zwischen Bedingtheit und Gültigkeit wieder auf. Das menschlich-geschichtliche Leben wird in noch elementarere Teile („Situation", „Entscheidung", „Begegnung") zerlegt, deren Sinn nicht mehr, wie der von Diltheys Erlebniseinheiten, ablösbar und generalisierbar ist — die Sinnfrage selbst wird als immer noch theoretische verdrängt durch das überwiegende Interesse an Wirklichkeit, Aktualität, Geschehen und Betroffenheit. Im Verhältnis zur Geschichte wird die Aktivität des auffassenden und auslegenden Ich immer stärker betont. Es ist nicht nur darüberstehender Richter (wie etwa in der „Problemgeschichte"), sondern auch beteiligter Partner (eines „Dialogs mit der Geschichte") oder gar schöpferischer Autor einer „Vision" von Geschichte. Für die existenzialistische „Entschlossenheit" ist vollends die wirkliche Geschichte gar nicht mehr nötig, denn die bewußte, entschlossene Existenz kennt eo ipso schon ihre je eigene Geschichtlichkeit und glaubt darum, von ihrer geschichtlichen Bedingtheit, von allen außersubjektiven Bestimmungen unabhängig zu sein. Diese Reduktion von Geschichte oder das Absehen von ihr zugunsten der eigenen, jetzt selber „geschichtlich" genannten, Subjektivität und Aktivität ist eine beherrschende Leidenschaft der zwanziger Jahre und prägt sich damals in vielen meist weltanschaulich gefärbten Spielarten aus. Sie erfährt eine einseitige Ausrichtung und Verfälschung in der pseudowissenschaftlichen Programmatik und der Schlagwortkunst des Nationalsozialismus. 182

Zusammenfassung

D i e weitere E n t w i c k l u n g des Begriffs ist noch offen, doch lassen sich f ü r die Zeit seit 1945 immerhin einige Tendenzen verfolgen, die auf seine Neutralisierung, sachliche Einschränk u n g und Präzisierung hinauszulaufen scheinen. D a s F a k t u m der Nichtübereinstimmung

der Menschen

und der

Bezogen-

heit aller ihrer Ä u ß e r u n g e n auf je ihre Existenz gilt weitgehend als selbstverständlich. Es w i r d k a u m noch mit der Entdeckerfreude der Historisten (bis zu D i l t h e y , Rothacker und Litt) gefeiert, es w i r d aber auch nicht mehr so selbstverständlich w i e bei den verschiedenen Existenzphilosophen als Rechtfertigung der Selbstbeschränkung auf meine Existenz und das mir G e m ä ß e ausgelegt. Vielmehr w i r d dieses F a k t u m selbst w i e d e r historisch eingeordnet, es w i r d , häufig unter Einklammerung der direkten Konsequenz f ü r meine Existenz, auf seine sachliche Reichweite, seine T r a g f ä h i g k e i t f ü r die Geisteswissenschaften und auf das immer noch in ihm enthaltene Werturteil hin analysiert oder wenigstens diskutiert. D i e große Zeit des Historismus scheint vorbei zu sein, und w e n n sich auch die historische Betrachtungsweise noch weiterhin ausdehnt und verfeinert, so ist doch unser Verhältnis zur Geschichte kühler und weniger direkt geworden, mehr sach- als persönlichkeitsbetont. M a n könnte in dieser N e u tralisierung des geschichtlichen Sinnes eine nur vorübergehende Angleichung an den Geist der westeuropäischen und amerikanischen Wissenschaft sehen, doch wahrscheinlich ist sie auch f ü r die Z u k u n f t folgenreich und sogar bestimmend. W i l l man aus der ganzen E n t w i c k l u n g einen Schluß f ü r unseren Begriff „Geschichtlichkeit" ziehen, so könnte m a n zunächst alle Bedeutungen zusammenstellen, die er im L a u f e seiner G e schichte angenommen hat und die alle noch in der heutigen V e r w e n d u n g mitverstanden werden können. „Geschichtlichkeit" heißt: Zugehörigkeit zur Geschichte, Positivität oder Nichtvernünftigkeit, Unableitbarkeit, 183

Zusammenfassung Unbestimmbarkeit, Unvollendbarkeit, Offenheit, Zukünftigkeit, Vergänglichkeit und Endlichkeit, Geschehentlichkeit, Zeitlichkeit, Individualität, Einzigartigkeit, Schöpfertum, Wirklichkeit, Lebendigkeit, Menschliches Geschick, besonders soziales Geschick, Gemeinschaftlichkeit, Verantwortlichkeit, Beteiligung an der Geschichte, Aktivität, Antwort auf die jeweilige geschichtliche Lage, Zielbewußtsein, Entschlossenheit, Nichtentrinnenkönnen, Unfreiheit, Bedingtheit, Fatalität, Bedrohtheit, Tradition, Kontinuität. Diese Liste ist jedoch einigermaßen irreführend, denn die hier aufgegliederten Begriffe haben eine ganz verschiedene Affinität zueinander und treten in sehr verschiedenen Kombinationen auf. Nie gilt nur eine dieser Bedeutungen, und nie sind alle in einer Verwendung zusammengefaßt. Mit der formalen Aufgliederung ist also noch wenig gewonnen, und wir müssen genauer auf die philosophischen Implikationen eingehen. Als ziemlich gleichbleibender Kern des Begriffs „Geschichtherausstellen. Sie ist fast lichkeit" läßt sich die Kontingenz allen philosophisch relevanten Verwendungen gemeinsam. Sie wird jedoch verschieden ausgelegt: als Relativismus oder als Relativität derjenigen Werte, die früher absolut gelten sollten, als bewußte Beschränkung auf das dem Menschen Gegebene und Mögliche, unter Abweisung der Transzendenz, oder als Versicherung der Transzendenz gerade im menschlichen Leben, in der Begegnung mit anderen und im Personsein. Dieser Kern 184

Zusammenfassung selbst drückt meist bloß negativ eine Ernüchterung, einen Verzicht auf Spekulation oder auf metaphysische Gewißheit aus. Dazu tritt aber meist auch eine positive Bedeutung, je nach dem, was an der „Geschichte" für das Wichtige oder Eigentliche gehalten wird: Reichtum der Erscheinungen, Bewegtheit, Kraft, überindividuelles (auch mitreißendes) Geschehen, Undeterminiertheit, Raum für die menschliche Entscheidung, Selbsterkenntnis oder Selbstspiegelung. Vornehmlich diesen positiven Bedeutungen und ihrer unterschiedlichen Betonung oder Verabsolutierung verdankt der Begriff der „Geschichtlichkeit" seine abwechslungsreiche Geschichte. Allerdings gab es immer wieder und gibt es heute noch auch eine Absolutsetzung des Negativen, eine gewisse Schwärmerei für die absolute Nüchternheit, welche die völlige Erkenntnis der menschlichen Geschichtlichkeit mit sich bringen soll. Eine gänzliche Neutralisierung des Begriffs dürfte nicht in einem bloßen Purismus bestehen, der allein die Kontingenz und Relativität untersuchte und von ihren weltanschaulichen Implikationen Historismus und Relativismus säuberte, sondern müßte auch das Berechtigte an den positiven Einschätzungen der Geschichte kritisch und sachlich herausarbeiten, was schwierig und ohne bessere Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaften wohl kaum zu leisten ist. Man könnte schließlich fragen, ob der so vieldeutige Begriff „Geschichtlichkeit" überhaupt einen brauchbaren Begriff darstellt. Die Verfolgung seiner Geschichte hat gezeigt, daß er tatsächlich oft mißverständlich, irreführend oder auch falsch verklärend gewirkt und insgesamt zv der Vagheit der Redeweise in den betroffenen Disziplinen beigetragen hat. Die Vieldeutigkeit braucht jedoch nicht unbedingt zu verwirren, jedenfalls nicht, wenn man sie sich bewußt macht. Und trotz seiner auch heute noch nicht aufgelösten Unbestimmtheit scheint mir der Begriff nicht einfach zu entbehren. Wenigstens als Bezeichnung der insgesamt durch seine Geschichte bestimmten Verfassung des Menschen, als Zusammenfassung oder Charakteristik derjenigen 185

Zusammenfassung

einzelnen Verhältnisse (Deutungen, Intentionen, Objektivationen), in denen der Mensch die Wirkung der Geschichte erlebt, und auch als Gradbezeichnung, wie wichtig ihm jeweils seine Geschichte ist, läßt sich „Geschichtlichkeit" wohl kaum durch eine treffendere Prägung ersetzen. Und gegenüber den Nachteilen der Unklarheit, die der junge Begriff noch mit sich führt, muß auch die positive Leistung gewürdigt werden, die die Bildung und vielfache Diskussion dieses Begriffs ermöglicht hat. Das im Wort „Geschichtlichkeit" ausgedrückte Bewußtsein von der schon durch das menschliche Sein gegebenen Zusammengehörigkeit von Mensch und Geschichte hat sich in zweifacher Richtung ausgewirkt: in der Wesensbestimmung des Menschen selbst und der seiner Geschichte. Man denkt meist nur an die erste Wirkung, also den Nutzen, den Anthropologie, Philosophie und auch Theologie von diesem Begriff gehabt haben. Darum scheint es mir nötig, auf die zweite Wirkung besonders hinzuweisen: Die Erkenntnisse, daß das Vergessen genausosehr wie das Bewahren zur Geschichte gehört, die Kritik genauso wie die Pietät, das Bewußtsein vom zeitlichen Abstand ebenso wie das Bestreben der Verlebendigung, daß geschichtliches Wissen nicht nur Gedächtnisstoff enthält, sondern auch die Möglichkeit neuer Applikation, Beziehung auf die Gegenwart, Entschiedenheit („Virtualität" in Yorcks Sprache), daß Geschichte insgesamt viel mehr praktisches als theoretisches Wissen ist, diese Erkentnisse oder mindestens ihre Verbreitung und Durchsetzung scheinen mir die für die Historie bedeutsame Auswirkung davon zu sein, daß man seit achtzig Jahren immer häufiger von der „Geschichtlichkeit des Menschen" spricht.

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Namenregister Die hochgestellten Ziffern bezeichnen die Anmerkungen. H . Adams 179 Adorno 167, 170 Althaus 164 34 Antoni 5, 50 5 , 173 f. Ballauf 176 6 K. Barth 85 Baur 31, 113 94 Benn 166 Berdjaev 5, 87 30 Bergson 77, 84, 176 G. Blöcker 170 Bollnow 23 12 , 62 17 , 64 19 , 67, 88, 89, 135, 142, 154 Borchert 148 3 F. J . Brecht 1 2 8 " Breysig 312°, 97 Broch 100 61 A. Brunner 5, 151 f. E. Brunner 85, 108, 113 94 Buber 106 f., 118 Bultmann 102, 10 8 83 , 134, 156 18 , 163 f., 173, 180 G. Burckhardt 94 J . Burckhardt 31 f., 83, 97 Cohen 106 f., 113 94 Collingwood 5, 163 32 , 173, 180 Croce 5, 180 Darwin 176 Dempf 150 5 , 162 27

Descartes 13, 56, 157 Dilthey 1, 14, 24 14 , 38, 39—50, 51, 56, 57, 60—72, 73 f., 77, 82, 83, 88 f., 92, 103, 109 f., 115, 118, 124 4 , 126 f., 135, 136, 141 f., 144, 154, 157, 160,162 2 7 , 167, 168, 173, 178 12 , 180, 181f„ 183 Dittrich 112 Driesch 176« Droysen 31 f., 92, 178 Ebeling 156 17 Ebner 106, 107 79 Ehrenberg 175 f. Eichendorff 2 Erleben 66, 141, 154 Eucken 84 I. Fetscher 51®, 56 Feuerbach 63, 107 Fichte 13 f., 24, 67, 127'° E. Frank 127 55 Freyer 31, 73, 101, 109—111, 114 94 , 115, 118, 142, 154, 167 Fuchs 156 17 Gadamer 1, 155—160 Gehlen 149 5 George 95, 100 61 Goethe 9 f., 25, 34 Gogarten 85 f., 106, 108, 163, 164 f. J. Goldstein 83 Gotti 111 f., 178, 179 19 Grabowski 167, 172 55 205

Namenregister W. Grebe 143 54 W. Grimm 6, 1077" Grisebach 86 f., 106 Guardini 8626, 106, 168 f. Gundolf 95 G. Häuptner 128 14 , 152 Hamann 107 N. Hartmann 73, 136—138 Heberer 176« Hegel 5, 14, 15—24, 25, 26 f., 28 f., 31 20 , 39 1 , 45, 57, 60, 611«, 672«, 83, 113f., 127 10 , 137 34 , 181 Heidegger 1, 24 14 , 51, 72, 73, 74, 76, 99 f., 103,116 100 , 119—129, 130 f., 133, 134, 142, 144, 150, 151, 160, 176 I. Heidemann 81 13 Heimpel 170 Heine 39 1 Heinemann 128, 130, 150, 167 R. Heiss 172 Herder 9 f., 11 f., 39, 61 16 , 114, 181 R. Hermann 138 40 W. Herrmann 107 J.Hersch 16640 A.Heuss 153 f., 171 f. Heussi 2 3 , 5, 104 73 , 139 H. Heyse 142 E. Hirsch 102", 107 81 , 143 54 Hitler 143 W. Hafer 172 55 Hofmannsthal 100 el , 101 67 J . Hommes 27 17 Huizinga 5, 173 Humboldt 9—11, 39, 1077» Husserl 66, 77—79 Iwand 102 f. Jacobi 107 W. James 84 206

Jaspers 28 19 , 89, 104, 128—135, 142 53 , 14357, 149, 167 Jesus 25, 30, 49 f., 55, 107 f., 11394 E. Jünger 99, 143 54 , 167, 172 55 R. Jungk 167 Kahler 107 Kamiah 163, 165 f. Kant 14, 56, 57, 80 f., 92 f., 107 F.Kaufmann 464, 51«, 135 D. H. Kerler 105 78 Kierkegaard 28—30, 83, 85, 98, 100 Klages 104 C. v. Krockow 99 f., 125 f. Kroner 1610 G. Krüger 161 f., 165, 167 H. Kuhn 150 f., 153 Lamprecht 97 Landgrebe 128 14 Lasker 85 Lessing 8 f. Th. Lessing 89, 93 f., 133 Leibniz 56, 57 Leisegang 104 Litt 4 7 , 102, 24 14 , 2 8 " , 73, 1414«, 144 f., 1472, 162 f., 173, 183 Lukaos 145 61 Luther 56, 57 Th. Mann 100 61 Mannheim 114—116 H. Marcuse 18 11 A. v. Martin 32 23 Marx 25—28, 39, 67 26 , 87, 100, 1472 Meinecke 5, 9 1 , 167 44 , 173 Misch 62 17 , 67, 73, 78", 125, 127 f. S.Moser 180« Moser 9 f. M. Müller 128 f

Namenregister Müller-Freienfels 105 Musil 9350, 100«1 Natorp 8628, 11394 Niebuhr 34 Nietzsche 32—38, 48, 63, 65, 77, 83 f., 87, 95,97, 98, 133, 143 f., 172 Nohl 73 Ohler 11494 Ortega 5, 73, 103, 167

Sdileiermacher 107, 156, 159 C. Schmitt 99, 14354 Schopenhauer 63 M. Schröter 9656 F.K. Schumann 116—118 E. Sdrwartz 11394 R. Seidenberg 166 G. Siebers 17153 Simmel 8418, 85, 89, 90—93, 94, 100 f., 109, 112, 117, 131, 135, 15 820, 16331, 180 Spann 113 f. Spengler 89, 96—98, 144, 166, 168

Pascal 90 Paulus 55, 11304 Pfänder 104 Plato 7, 48 Plessner 73, 77, 88 f., 97, 117, 14354, 1495, 176 Portmann 150® Ranke 30 f., 45 f. Raudi 2819 E. Reisner 152" Ridkert 773, 112, 135, 17812 Rilke 100 w G. Ritter 36 25 J. Ritter 1, 136 f. Rosenzweig 106 Rothacker 1, 58, 61", 73, 138, 1495, 183 J. Rüther 161 Rüge 24 f., 8315, 12710 B. Sdiaidnagl 6727 Scheler 1, 73, 77, 79—82, 104, 131,149 5 , 166 Schelling 14 f., 43, 57 Sdiemann 144 Schieder 163 f. Schiller 57 f.

J.Spiegel 11494 Spinoza 156 Spranger 73, 104 Stavenhagen 1, 2312 H. Stephan 148 f., 161 G.Stern 114—116 L. Stern 28 19 ,147 2 W.Stern 104—106 Thyssen 112 Tillich 87 f. Tocqueville 97 Topitsdi 17255, 174 Troeltsch 5, 10782, 112, 168, 173 Uexküll 1505, 177 Unger 136 Valéry 144 Veit 148 s Vico 12 f., 44, 111 f., 181 A. Weber 166, 167 M. Weber 173 Weidenbach 17265 Wein 18", 1495, 18020 Weinstock 1483 Weisdiedel 16227 207

Namenregister V.Weizsäcker 177 C. F. Weizsäcker 1, 178—180 B. E. Werner 75 Westphal 143 54 Winckelmann 9 £., 61 16 Windelband 45, 95 f., 11394

Wittram 153, 173 Wölfflin 173 P. Wust 105 76 Yorck 1, 39—60, 69, 113 94 , 126 f., 157, 181 f., 186

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