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German Pages [321] Year 2019
Angelika Dörfler-Dierken (Hg.)
Reformation und Militär Wege und Irrwege in fünf Jahrhunderten
Reformation und Militär Wege und Irrwege in fünf Jahrhunderten
Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegeben von Angelika Dörfler-Dierken
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: »Dr. Martin Luther«, Gemälde (Ausschnitt, gespiegelt), 1529, von Lucas Cranach d. Ä. bpk/Hermann Buresch Redaktion und Projektkoordination: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0855-01) Koordination, Lektorat, Bildrechte: Michael Thomae Satz: Carola Klinke Karten: Bernd Nogli
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprechtverlage.com ISBN 978-3-666-31115-4
Inhalt Vorwort .......................................................................................................
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*** Angelika Dörfler-Dierken Einleitung: Von Luthers Kriegsleuteschrift zum Leitbild des Gerechten Friedens .............................................................
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Erster Teil Luthers Innovationen Volker Stümke Der Soldat: Freier Herr und dienstbarer Knecht..................................... Matthias Gillner Thomas von Aquin und die reformierte katholische Lehre von der Gewissensfreiheit heute ............................................................. Klaus Beckmann Ist Gehorsam eine Tugend? Ethische Anstöße, ausgehend von Martin Luther und der Theologie der Bekennenden Kirche ...................
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Zweiter Teil Sicherung der Reformation durch Krieg Astrid von Schlachta »Du sollst nicht töten!« Täuferische Wehrlosigkeit als Lebenshaltung in der Reformationszeit .......................................................................... Kai Lehmann Der Schmalkaldische Bund. Militärischer Schutzpanzer der Reformation..................................................................................... Dominik Gerd Sieber »Aber Gott ist stercker, dann ally wellt«. Die militärische Sicherung der Reformation in den oberschwäbischen Reichsstädten 1525-1555 .........
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Inhalt
Reinhard Baumann Die deutschen Condottieri und die Reformation. Neue Unabhängigkeit oder neue Abhängigkeiten? ........................................... 103 Harald Potempa Der Löwe aus Mitternacht und Retter des Protestantismus. Gustav II. Adolf von Schweden in der protestantischen Hagiografie ...... 115
Dritter Teil Preußische Herzenstreue Jobst Reller Gustav Adolf von Schweden: Organisator evangelischer Militärseelsorge ...................................................................................... 129 Benjamin Marschke Militärseelsorge in Preußen – Sozialdisziplinierung im Pietismus ........... 141 Gabriele Bosch Der »gute« Soldat. Entstehung und Charakteristika protestantischer Militärethik .................................................................. 153
Vierter Teil Protestantische Volten – nationalreligiöse Verklärungen Tim Lorentzen Reformationsjubiläum und Völkerschlachtgedenken. Alternative Erinnerungskulturen um 1817 ............................................. Jens Boysen Soldatischer Protestantismus in Zeiten von Macht und Ohnmacht. Die Bedeutung der evangelischen Konfession für das preußische Offizierkorps 1740-1919 ...................................................................... Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein »Gott der Herr hat unsere braven Truppen gesegnet«. Kaiser Wilhelm II. als überzeugter Verfechter des »gerechten« und »heiligen« Krieges 1914-1918 ........................................................ Anke Napp Unter Luthers Führung zum Heldentod an die Front. Völkisches Christentum in Bildbandvorträgen 1921-1941..................................... Friedrich Lohmann »Gott mit uns«. Die lutherische Geschichtstheologie und ihre militaristische Vereinnahmung ........................................................
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Inhalt
Fünfter Teil Gottesgehorsam und Widerstand Winfried Heinemann Widerstand und irrendes Gewissen. Von Marwitz bis Stauffenberg .................................................................................... 235 Roger Töpelmann Gehorsam und Konspiration. Dietrich Bonhoeffer, Theologe bei der Militärischen Abwehr ................................................................. 245
Sechster Teil Soldat für den Frieden Friedemann Stengel Frieden, Militär und Kirche in der DDR ............................................... 257 Angelika Dörfler-Dierken »Reformation« im Militär. Baudissin, die Innere Führung und die westdeutsche Sicherheitspolitik ........................................................ 267 Nico Ditscher-Haußecker Soldatenglaube bei den Verbündeten. Evangelikale Einflüsse auf das US-Militär ................................................................................. 281
Siebenter Teil Politik und Religion Hans-Peter Großhans Religion und Politik. Der Beitrag der Reformation zur Entspannung eines spannungsvollen Verhältnisses ....................................................... 291 Reiner Anselm Die Bedeutung der Reformation für das Militär. Zusammenfassende Bemerkungen und Anschlussfragen aus der Perspektive der theologischen Ethik ........................................... 307 *** Personenregister........................................................................................... 313 Autorinnen und Autoren ............................................................................. 319
Vorwort Die Reformation war eines der zentralen Themen im medialen Diskurs des Jahres 2017. Am 31. Oktober wurde der Reformationstag erstmals deutschlandweit als Feiertag begangen; der Deutsche Bundestag hat das Reformationsjubiläum zum »Ereignis von Weltrang« erklärt. Auch die Bundeswehr beschäftigt sich seit 2017 verstärkt mit dem Stellenwert der Reformation und von Religion überhaupt für das Militär. Sie fragt danach, welche Bedeutung individueller Glaubensüberzeugung in militärischen Auseinandersetzungen zukommt und wie einander antagonistisch gegenüberstehende religiöse Ansprüche ausgeglichen werden können. Im März 2017 hat das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) dazu eine dreitägige Tagung veranstaltet: »Die Bedeutung der Reformation – für das Militär Die Bedeutung des Militärs – für die Reformation«. Die Veranstaltung erinnerte einerseits daran, dass die neu aufgetretene Religion, die sich wenig später als evangelische Konfession im Unterschied zur altgläubig-katholischen Konfession verdichten sollte, militärisch gesichert wurde, und dass andererseits gerade evangelische Theologen ein besonderes Interesse an der ethischen Bildung der Waffenträger hatten, wie es beispielsweise an Luthers Kriegsleuteschrift, an der Entstehung von Katechismen und an der geistlichen Betreuung von Söldnern und ihren Anführern sichtbar wird. Viele Konflikte der Gegenwart zeigen, dass die Integrations- ebenso wie die Destruktionspotenziale von Religion enorm sind. Die Reformation mit ihren Wirkungen kann ein probates Paradigma für die Deeskalationspotenziale von religiösen Überzeugungen in den gewaltsam ausgetragenen Konflikten und Kriegen der Gegenwart bereitstellen, weil sie zeigt, dass religöse bzw. konfessionelle Identität zwar Vielfalt hervorbringt, diese aber auch ausgehalten und rechtlich geregelt werden kann. Gewalteinhegend wirken die Unterscheidung zwischen weltlichem und geistlichem Bereich, die Achtung der Menschenwürde und die Anerkennung individueller Gewissensfreiheit. Ich danke Frau Prof. Dr. Angelika Dörfler-Dierken für Konzeption und Durchführung der Veranstaltung sowie für diesen Tagungsband und den beteiligten Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge. Dr. Jörg Hillmann Kapitän zur See Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Angelika Dörfler-Dierken
Einleitung: Von Luthers Kriegsleuteschrift zum Leitbild des Gerechten Friedens
Als am 18. Januar 1871 der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum Deutschen Kaiser proklamiert wurde, feierte der Königliche Hofund Garnisonprediger von Potsdam, Divisionsprediger der 1. Garde-InfanterieDivision Bernhard Rogge (1831-1919), an einem eigens für die Zeremonie in diesem großen Saal aufgebauten Feldaltar den Gottesdienst.1 Zum Ende der Veranstaltung sangen alle Anwesenden – die deutschen Fürsten, die schon zuvor Mitglied des Norddeutschen Bundes gewesen waren, ebenso wie die neuen, die sich wegen des Kriegsglücks der Preußen und ihrer Verbündeten nun dem neuen Deutschen Reich anschlossen – das evangelische Kirchenlied »Nun danket alle Gott«,2 den Choral von Leuthen, den die Soldaten Friedrichs des Großen schon 1757, nach dem entscheidenden Sieg im Siebenjährigen Krieg, angestimmt hatten.3 Ziel der Kaiserproklamation in Versailles war die Stiftung einer kleindeutschen nationalen Identität. Da die evangelische Konfession im Deutschen Reich jetzt eine Zweidrittelmehrheit hatte, waren Reich, Kaiser und Protestantismus eng miteinander verbunden: Der Große Fritz, Gustav Adolf als Retter des Protestantismus und der Reformator Luther wurden in der borussischen Ahnenreihe verortet. In einem dem Kronprinzen von Preußen gewidmeten Prachtband »Die Evangelischen Geistlichen im Feldzuge von 1866«4 stell1
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Paul Bronsart von Schellendorff, Geheimes Kriegstagebuch 1870-1871. Hrsg. von Peter Rassow, Bonn 1954, S. 295-299. Text von Martin Rinckart (1586-1649) aus dem Jahr 1636. Der Choral findet sich noch heute in jedem evangelischen Gesangbuch. Bernhard R. Kroener, »Nun danket alle Gott.« Der Choral von Leuthen und Friedrich der Große als protestantischer Held. Die Produktion politischer Mythen im 19. und 20. Jahrhundert. In: »Gott mit uns.« Nation, Religion, Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hrsg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, Göttingen 2000 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 162), S. 105-134. Vgl. auch Roland Kurz, Nationalprotestantisches Denken in der Weimarer Republik. Voraussetzungen und Ausprägungen des Protestantismus nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Begegnung mit Volk und Nation, Gütersloh 2007 (= Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten, 24), mit Fallstudien zu Wilhelm Stapel, Otto Dibelius und Paul Althaus. Die Evangelischen Geistlichen im Feldzuge von 1866. Nach eigenen Erlebnissen und amtlichen Berichten bearb. von Bernhard Rogge, Berlin 1867; vgl. auch Rudolph Kögel, Kirchliche Gedenkblätter an die Kriegszeit 1870/71. Evangelische Zeugnisse aus dem Dom in Berlin, Berlin 1871.
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te Rogge die amtlichen Rechenschaftsberichte der Feld- und Lazarettprediger zusammen. Damit wollte er »noch einmal die schöne und große Zeit ins Gedächtnis zurückrufen, da wir im Hochsommer des letzten Jahres zu der Ernte Handlangerdienste tun durften, die der Herr auf den Schlachtfeldern und an den Kranken- und Sterbelagern unsrer Kameraden halten wollte.«5 Hier verklärten die Militärgeistlichen den Sieg und die Einheit Deutschlands zum Ausfluss göttlichen Wohlwollens: Gott habe sein auserwähltes Volk mit einem protestantischen Staat belohnt. Eine »nationalprotestantische Mythenkonstruktion«6 fand in Versailles ihren Ankerpunkt. Der mit dem Hinweis auf Versailles markierte geistlich-geschichtliche Bogen konnte unschwer im Ersten7 und im Zweiten Weltkrieg weitergesponnen werden: Noch die Rekruten des Infanterieregiments 9, aus dem während des Zweiten Weltkrieges viele Widerständler hervorgehen sollten, wurden vereidigt an den Sarkophagen von Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen unter Absingen des Chorals von Leuthen. Dass es zu einer solchen Verquickung von konfessioneller Präferenz und nationaler Identität kam, war kein Zufall. Denn schon in der Reformationszeit selbst war die neue Form des alten Glaubens mit Hilfe der weltlichen Obrigkeiten eingeführt und geschützt worden – nicht nur durch Gott und sein reines, unverfälschtes Wort, sondern auch durch Soldaten und Festungsbau, durch Aufstand und Krieg. Deshalb arbeitet dieser Sammelband mit einer doppelten Perspektive: Die Beiträge fragen einerseits nach der Bedeutung, die das Militärische für die Reformation und deren Etablierung hatte, und andererseits nach der Bedeutung der Reformation für die innere Ordnung des Militärs. Ausgangspunkt der Konzeption für die Tagung im März 2017, deren Ergebnisse diesem Band zugrunde liegen, war die Beobachtung, dass in den Programmen für Festvorträge und Feierstunden im Jubiläumsjahr 2017 der Themenkomplex Krieg, Gewalt, Religionshass, Verfolgung und Flucht weitgehend fehlte. Zwar ging das von der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz verabschiedete Papier »Erinnerung heilen« auf die schuldhafte Konflikt- und Leidensgeschichte der christlichen Konfessionen miteinander ein, mahnte Vergebung von Schuld an und erbat sie auch, aber Form wie Inhalt des Papiers und die dort publizierte Heilungsliturgie wurden kritisiert, weil die von militärischer Gewalt oder Vertreibung betroffenen zivilen und soldatischen
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Die Evangelischen Geistlichen im Feldzuge von 1866 (wie Anm. 4), S. VIII. Kroener, »Nun danket alle Gott« (wie Anm. 3), S. 105; vgl. auch Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, Frankfurt a.M. 1995, S. 383. Die nationalprotestantischen Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896) und Gustav Freytag (1816-1895) konstruierten und popularisierten in den Folgejahren die als spezifisch deutsch dargestellte Kontinuität von Luther über Gustav II. Adolf und Friedrich den Großen bis – um es mit den Worten des Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909) zu sagen – zur Geburtsstunde des »heiligen evangelischen Reiches deutscher Nation« unter Wilhelm I. Auch später noch setzte sich dieses Denken fort: Vgl. Kurz, Nationalprotestantisches Denken (wie Anm. 3). Martin Greschat, Krieg und Kriegsbereitschaft im deutschen Protestantismus. In: Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Beiträge zur historischen Friedensforschung. Hrsg. von Jost Dülffer und Karl Holl, Göttingen 1986, S. 33-55.
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Einleitung
Subjekte kaum in den Blick kommen.8 Dabei war es doch gerade die gewaltsame Verteidigung reformatorischer Errungenschaften, die beigetragen hat zur dauerhaften Etablierung zweier christlicher Kirchengebilde und Glaubensweisen in Deutschland und Europa. Erinnert sei in diesem Zusammenhang besonders an den Dreißigjährigen Krieg, dessen Ausbruchs Europa im Jahr 2018 gedachte.9 Die schmerzhafte und mit vielen Ungerechtigkeiten behaftete Blutgeschichte Deutschlands und Europas ist kein »schönes« Erinnerungsthema. Trotzdem ist sie wichtig, denn sie stellt ein zur Beilegung heutiger religiöser oder religiös überhöhter Konflikte geeignetes Modell vor. Entstanden ist daraus die Urform der gegenwärtigen staatskirchenrechtlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland, die als vorbildhaft für große Teile der Welt gilt: die »hinkende Trennung« (Ulrich Stutz) zwischen Kirche und Staat. Sie erlaubt, dass auch andere als die beiden christlichen Großkirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts anerkannt werden können. Zudem haben nach dem Zweiten Weltkrieg die christlichen Kirchen in Deutschland, weiten Teilen Europas und der Welt dem Krieg als Mittel der Politik abgeschworen; sie wollen die Waffenpotenziale ihrer Nationen allein zur Verteidigung oder zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des Friedens oder zur Abschreckung eingesetzt sehen. Das markiert eine entscheidende geistig-moralische Wende, die sich seit den 1980er Jahren auf das neue christliche Leitbild des Gerechten Friedens fokussiert hat. Ob die Friedensorientierung des europäischen Christentums, erwachsen aus der Einsicht in Kriegsverbrechen und das Verbrechen des Krieges, angesichts der weltpolitischen Lage Bestand haben wird, ob die Europäer tatsächlich aus ihrer Geschichte gelernt haben – das war eine geheime Leitfrage der Tagung, die unter einer doppelten Perspektive stand: »Die Bedeutung der Reformation für das Militär – Die Bedeutung des Militärs für die Reformation«. *** Dieser die Tagung dokumentierende Sammelband bietet weniger eine Geschichte zum Themenfeld Reformation, Krieg und Militär als vielmehr Einblicke in neuere Forschungsergebnisse und Fragestellungen, die für das Verständnis der Neuausrichtungen des Protestantismus seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Bedeutung sind. Eben deshalb, weil der deutsche Protestantismus zutiefst eingewurzelt ist in den historischen Fehlstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts, ist es notwendig, sich in einem kritischen Blick auf die eigene Vergangenheit zu 8
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Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen. Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017. Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Hannover, Bonn 2016 (= Gemeinsame Texte, 24). Zur Kritik vgl. HansPeter Großhans, Schuld und Vergebung in Martin Luthers Auslegung der Bergpredigt. In: Schuld und Vergebung. Festschrift für Michael Beintker zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Peter Großhans [u.a.], Tübingen 2017, S. 109-130. Herfried Münkler, Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, Deutsches Trauma 1618-1648, Berlin 2017; vgl. auch 1618. Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Hrsg. von Robert Rebitsch, Wien [u.a.] 2017; Christian Mühling, Die europäische Debatte über den Religionskrieg (1679-1714). Konfessionelle Memoria und internationale Politik im Zeitalter Ludwigs XIV., Göttingen 2018 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 250)
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üben und Weichenstellungen für die Zukunft vor diesem Hintergrund zu prüfen. Der Bruch mit einer verhängnisvollen Nationalgeschichte ist seit 1945 intendiert; die deutschen, von Luthers Reformation geprägten Kirchen haben ihr Verhältnis zu militärischen Gewaltmitteln und zu Soldaten grundlegend verändert. Diese Prozesse von Bruch und Beharrung werden hier analysiert. Deshalb spannt sich der thematische Bogen von der Reformation bis in die Gegenwart. Einleitend werden »Luthers Innovationen« exemplarisch verdeutlicht: Volker Stümke erläutert die Formel »Der Soldat: Freier Herr und dienstbarer Knecht« und Matthias Gillner untersucht die Frage der Gewissensfreiheit für Soldaten von Thomas von Aquin bis heute (beide Wissenschaftler dozieren an der Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg). Klaus Beckmann (Militärdekan im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Berlin) fragt, ob Gehorsam als Soldatentugend heute noch gelten könne. Grundbegriffe der lutherischen Theologie werden hier diskutiert: die Freiheit des Christenmenschen vor Gott und sein Dienst am Nächsten, die Bindung des Gewissens des Christen an Gott und das Verhältnis von Gottesgehorsam zu Menschengehorsam. Der Notwendigkeit einer »Sicherung der Reformation durch Krieg« widmet sich ein zweiter Teil. Einleitend untersucht Astrid von Schlachta (Mennonitisches Forschungszentrum Weilersdorf/Universität Regensburg) das Konzept der »Wehrlosigkeit als Lebenshaltung« bei mehreren Täufergruppen. Kai Lehmann (Direktor des Museums Schloss Wilhelmsburg, Schmalkalden) stellt dann den Schmalkaldischen Bund als »militärischen Schutzpanzer« der Reformation dar. Dominik Gerd Sieber (Universität Tübingen) untersucht Befestigungsbau, Kriegsrüstung und Bündnispolitik in den oberschwäbischen Reichsstädten 1525-1555. Reinhard Baumann (München) beschäftigt sich mit den »deutschen Condottieri« und ihren Abhängigkeiten. Harald Potempa (ZMSBw) zeichnet das Bild Gustav II. Adolfs von Schweden, des »Retter[s] des Protestantismus«, in der protestantischen Hagiografie nach. Mit Vorläufern und Konzepten »preußischer Herzenstreue« setzen sich im dritten Teil Jobst Reller (Militärpfarrer, Munster), Benjamin Marschke (HumboldtUniversity, Arcata/USA) und Gabriele Bosch (Leiterin der Bibliothek des ZMSBw) auseinander. Während Reller die These aufstellt, dass der Schwedenkönig Gustav Adolf der eigentliche Erfinder der Militär- bzw., wie es damals hieß, Feldseelsorge gewesen sei, diskutiert Marschke die Bedeutung des Hallischen Pietismus für die Disziplinierung des Soldaten. Äußerlich und vor allem innerlich sollte diese Disziplinierung wirken, damit der Soldat sich auch dann zum Handeln im Sinne seines Vorgesetzten zwang, wenn dessen wachsames Auge sich gerade nicht auf ihn richtete. Bosch skizziert ihre Überlegungen zur Entstehung und zu den Charakteristika einer protestantischen Militärethik und wirbt dafür, Militärethik als eine eigene literarische Gattung zu erforschen. Im vierten Teil geht es um »Protestantische Volten«, also um »nationalreligiöse Verklärungen« der eigenen Tradition. Entsprechende Konstruktionen, wie sie zum 300. Reformationsjubiläum und 100. Gedenken der Völkerschlacht von Leipzig im Jahre 1817 öffentlich inszeniert wurden, destruiert Tim Lorentzen (Universität Kiel). Die spezielle Kriegsfrömmigkeit, die sich nicht zuletzt in der auf die Koppelschlösser deutscher Soldaten geprägten Formel »Gott mit uns« ausspricht, analysiert Silvia Kleeberg-Hörnlein (Universität Jena). Jens Boysen (Deutsches Historisches Institut Warschau) untersucht die Bedeutung der evangelischen Konfession im preußischen Offizierkorps. Anke Napp (Leiterin der
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Bibliothek des Kunstgeschichtlichen Seminars, Universität Hamburg) zeigt, wie mit bebilderten Vorträgen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Rekurs auf Luther dafür geworben wurde, den »Heldentod« an der Front zu suchen. Die geschichtstheologische Dimension der Proklamation »Gott mit uns« nimmt Friedrich Lohmann (Universität der Bundeswehr, München) in den Blick. Im fünften Teil geht es um »Gottesgehorsam und Widerstand«. Dietrich Bonhoeffer, der – anders als die Wissenschaft bisher gesehen hat – eine militärische Grundbildung durchlaufen hatte, stellte sich bewusst in den Dienst des Dritten Reiches und rechtfertigte als evangelischer Theologe das Attentat auf Hitler, sagt Roger Töpelmann (Pressestab des Evangelischen Militärbischofs, Berlin). Winfried Heinemann (Berlin) gibt einen Überblick zur Geschichte von Widerstand und »irrendem Gewissen« von Marwitz bis Stauffenberg. Mit der »Kehrtwendung« des Protestantismus infolge der eigenen Fehlorientierungen setzen sich im sechsten Teil Friedemann Stengel (Universität Halle) und Angelika Dörfler-Dierken (ZMSBw) auseinander. Charakterisiert ist der deutsche Protestantismus nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch seine Spaltung in einen ostdeutschen und einen westdeutschen Flügel, die sich in ihrer gesellschaftlichen Position stark unterschieden: Während Stengel am Beispiel der evangelischen Kirchen in der DDR deren spezifisch-militärkritische Form der Friedensarbeit würdigt, untersucht Dörfler-Dierken die »Reformation« im Militär, mit der Wolf Graf von Baudissin die neuen friedensorientierten Weichenstellungen des Grundgesetzes in die Bundeswehr hinein implementierte. Nico Ditscher (Universität Jena) legt dar, wie die Kritik mehrerer großer US-amerikanischer Kirchen am Vietnamkrieg dazu geführt hat, dass die Military Chaplaincy in den Vereinigten Staaten bis heute stark bestimmt wird von Pfarrern aus evangelikalen Kirchen. Abschließend wird im siebten Teil das Oberthema »Politik und Religion« in den Blick genommen: Hans-Peter Großhans (Universität Münster) belegt anhand zahlreicher Beispiele aus Afrika und Asien, welch großen Beitrag der Protestantismus zur Ent-Spannung des spannungsvollen Verhältnisses von Staat und Kirche leistet. Aus der Perspektive des Tagungsberichterstatters ordnet Reiner Anselm (Universität München) die Tagungsbeiträge in das Konzept eines öffentlichen Protestantismus ein, der nicht nur – wie die sogenannte öffentliche Theologie – vor der Öffentlichkeit für das Gemeinwesen Verantwortung übernimmt, sondern auch protestantischen Pluralismus aushält und die individuelle, die kirchliche wie auch die gesellschaftlich-politische Dimension des evangelischen Christentums in den Blick nimmt.10 Anselm fordert von den Protestanten und ihren Kirchen dreierlei: Freiheitssinn muss gepaart sein mit Realitätssinn, die Versöhnungsbereitschaft zwischen Menschen und Gruppen muss gefördert werden und die Christen müssen ihre Traditionen als Gestaltungsaufgabe annehmen. Wer sich mit der Geschichte von Konfessionen und Religionen auseinandersetzt, erkennt, dass deren Friedensorientierung keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine bewusste Entscheidung der theologisch-kirchlichen Eliten, die eine unter wechselnden Herausforderungen ständig neu zu aktualisierende mentale Ausrichtung der Gläubigen zur Voraussetzung hat. Dass die Transformation des 10
Vgl. ausführlich Christian Albrecht und Reiner Anselm, Öffentlicher Protestantismus. Zur aktuellen Debatte um gesellschaftliche Präsenz und politische Aufgaben des evangelischen Christentums, Zürich 2017.
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Angelika Dörfler-Dierken
Protestantismus zu einer friedensorientierten Konfession ebenso wie die ähnlich gelagerte Bewegung innerhalb des Katholizismus ein gutes Modell für anstehende Wandlungsprozesse auch bei anderen Religionen und Konfessionen abgeben kann, ist schon dargelegt worden. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Weg in anderen Kulturkreisen nicht ebenso blutig verläuft, wie er bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in Deutschland, in Europa und auch in den europäischen Kolonien verlaufen ist. Auch wer – wie fast die Hälfte der Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten – sich selbst keiner der christlichen Konfessionen bzw. überhaupt keiner Religion zuordnet, lernt in der Auseinandersetzung mit der Reformation und ihren weltgeschichtlichen Wirkungen, dass religiöse Entscheidungen rechtliche Folgen haben, dass sie zu Krieg führen oder zur Überwindung von Krieg beitragen können. Die Fixierung der Unterscheidung zwischen den beiden Sphären Kirche und Staat ist ein hohes zivilisatorisches Gut. Fragen der religiösen Überzeugung und Identität sowie absolute Wahrheitsansprüche können einerseits durch Recht eingehegt werden. Andererseits ist der moderne Staat nicht Erfüllungsgehilfe einzelner Konfessionen oder Religionen; er kann nicht in Anspruch genommen werden, um deren Wahrheits- und Geltungsansprüche durchzusetzen. Der Staat sichert vielmehr die individuelle und kollektive Religions- und Gewissensfreiheit und dient damit dem innergesellschaftlichen Frieden. Dass er sein Handeln auch von Angehörigen und Amtsträgern der Religionsgemeinschaften immer wieder darauf hin befragen lassen muss, ob es dem äußeren Frieden dient, ist typisch für Diskussionsprozesse in demokratischen Gesellschaften. Frieden ist eben kein Zustand, sondern ein dauernder Prozess in einer konfliktträchtigen Welt.
Erster Teil Luthers Innovationen
Volker Stümke
Der Soldat: Freier Herr und dienstbarer Knecht
Martin Luther redet an sehr prominenter Stelle vom freien Herrn und vom dienstbaren Knecht, nämlich in seiner programmatischen Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520)1. Allerdings ist diese Doppelstruktur gemäß der reformatorischen Hauptschrift – wie ihr Titel es ausdrückt – das Merkmal eines Christenmenschen; vom Soldaten ist in der Freiheitsschrift hingegen nicht die Rede. Auch sonst finden sich bei Luther nur wenige Texte, in denen er sich dezidiert mit dem Beruf des Soldaten auseinandersetzt. Es erscheint daher schon vom Quellenbefund her fragwürdig, gerade bei Luther Auskunft über den Soldaten erhalten zu wollen. Hinzu kommt, dass Luthers Erfahrungen mit Soldaten aus einer völlig anderen Epoche stammen, sodass der zeitliche Graben von fast 500 Jahren selbst die rudimentären Einsichten Luthers als inzwischen überholte und irrelevante Beschreibungen markiert. Neben dieser Problemlage deutet die Überschrift aber auch einen Lösungsvorschlag an, den ich so überzeugend finde, dass ich ihm folgen werde: Luthers Rede vom freien Herrn und dienstbaren Knecht ist die Zusammenfassung seines normativen Bildes vom Christen als einer Person. Dieses Menschenbild steht für Luther über dem Beruf. Wenn Luther vom Soldaten – oder prominent in seiner Schrift von 1526 von den Kriegsleuten – spricht, dann geht es ebenfalls um ein normatives Bild vom Soldaten und nicht um die reale Beschreibung von Landsknechten und Reisigen im 16. Jahrhundert. Näherhin hat dieses normative Bild zwei Facetten: Es geht zum einen um das Berufsbild eines Soldaten, also um seine Aufgaben und deren Legitimität, und zum anderen um die Person, die einen solchen Beruf ausübt. Und die Norm ist für beide Facetten der christliche Glaube. Es handelt sich folglich erstens darum, ob und inwiefern der Soldatenberuf aus christlicher Perspektive ein legitimes Amt darstellt, und zweitens darum, woran man sich als christlicher Soldat bei der Berufsausübung zu orientieren hat, wie also ein christlicher Soldat agieren sollte.
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Vgl. WA (= Martin Luther, Weimarer Ausgabe) 7, S. 21, 11-4 (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520): »Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.«
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Volker Stümke
Luthers Sicht des Soldatenberufs Die zentrale Aussage sei gleich vorweggenommen: Für Luther ist Soldat ein Beruf ! Das Wort »Beruf« ist bekanntlich von Luther geprägt worden: Es beschreibt seit 1522 die alltäglichen und zeitaufreibenden Verrichtungen eines Menschen, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdient. Solche regelmäßigen Arbeiten bezeichnet Luther als Beruf, weil der Mensch in ihnen und mit ihnen das Gebot der Nächstenliebe erfüllen kann.2 Jeder Mensch könne in seinem Stand und an seinem Ort dieses Grundgebot Gottes erfüllen, er müsse also keine religiös hervorgehobenen Werke (wie Fasten oder Pilgern) vollbringen; er müsse nicht monastisch leben (wie Mönch oder Nonne), um gute Werke zu vollbringen. Denn – so lautet Luthers reformatorische Grundeinsicht – diese guten Werke haben nicht den Sinn, sich bei Gott anzubiedern, sondern sie haben nur einen einzigen Zweck: sie sollen dem Nächsten zugute geschehen. Vor Gott stehe der Mensch schon gut da, sofern er an das Evangelium Christi glaube, sofern er also schlicht der Zusage vertraue, dass ihm die Sünden vergeben seien und dass Gott ihn liebe wie ein gnädiger Vater seine Kinder.3 Mit diesem Versprechen im Rücken habe er gleichsam die Hände und den Kopf frei, um nicht sich selbst vor Gott zu profilieren, sondern um seinen Nächsten zu unterstützen.4 Und genau das könne er dadurch tun, dass er seinem Beruf nachkomme, dass er also regelmäßig und verlässlich einen Beitrag für das Gemeinwohl erbringe. Die christliche Tradition hat grundlegend unterschieden zwischen dem Seelenheil des Menschen und seinem irdischen Wohlergehen. Während das Seelenheil bis in das ewige Leben reiche und die Gewissheit des Christen umschreibe, von Gott geliebt zu sein und zu bleiben, auch über den Tod hinaus, bezeichnet das Wort »Wohl«, dass es dem Menschen auf Erden gut gehe, dass er also beispielsweise gesund sei, zu essen habe und nicht allein sei. Wenn man nun mit Luther bedenkt, dass es nicht nur einzelnen Menschen, sondern auch einer Gemeinschaft gut gehen sollte, dann ist klar, was mit dem Begriff »Gemeinwohl« gemeint ist. Dazu sollen die Christen beitragen, indem sie sich für die Nächstenliebe sowohl 2
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Vgl. WA 10 I.1, S. 308, 6-12 + 14-20 (Auslegung von Joh 21,19-24 in der Kirchenpostille, 1522): »Du möchtest einwenden: Wenn ich nicht berufen bin, was soll ich dann tun? Antwort: Wie ist es möglich, dass du nicht berufen seiest? Du wirst ja immer schon in einem Stand sein, du bist immer schon Ehemann oder Ehefrau, Sohn oder Tochter, Knecht oder Magd. Nimm den geringsten Stand für dich: Bist du ein Ehemann, meinst du, du habest nicht genug zu schaffen in diesem Stand? So Ehefrau, Kind, Gesinde und Güter zu regieren, dass alles im Gehorsam gegen Gott geschehe und du niemandem Unrecht tust? [...] Ebenso wenn du ein Sohn oder eine Tochter bist, meinst du, du habest nicht genug mit dir zu tun, dass du züchtig, keusch und Maß haltend deine Jugend hältst, deinen Eltern gehorsam bist und niemanden mit Worten oder Werken zu nahe trittst? Weil man es verlernt hat, solche Befehle und Berufe zu achten, geht man statt dessen hin und betet Rosenkränze und tut dergleichen, was nicht dem Beruf dient, und keiner denkt daran, dass er seinen Stand wahrnehme.« Vgl. Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, S. 41-61. Vgl. Michael Trowitzsch, Gott als ›Gott für dich‹. Eine Verabschiedung des Heilsegoismus, München 1983 (= Beiträge zur evangelischen Theologie [BevT]. Theologische Abhandlungen, 92), S. 116-122.
Der Soldat: Freier Herr und dienstbarer Knecht
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im konkreten Nahbereich wie in der Sozialgestalt des Gemeinwohls engagieren. Zwar trügen nicht alle Berufe zum Gemeinwohl bei, beispielsweise werden von Luther der Räuber und die Prostituierte kritisiert, weil sie das Zusammenleben der Menschen im Dorf wie in der Ehe zerstören; solche Berufe sollte man als Christ nicht ergreifen.5 Soldat hingegen ist für Luther ein Beruf; als Christ dürfe man also nicht Räuber, wohl aber Soldat werden, weil man damit dem Gemeinwohl diene. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Luther keine normativen Probleme mit dem Soldatenberuf hat. Zwar stellt er in der Kriegsleuteschrift 1526 fest, dass viele Soldaten böse Buben, also eine Mischung aus unreifen Bengeln und halbwüchsigen Kriminellen seien.6 Aber diese pejorative Beschreibung teilen die Soldaten durchaus mit anderen Berufsgruppen. Und in allen Fällen gilt, dass nicht der Beruf selbst, sondern die Berufsausübung kritisiert wird. Mit der Einsicht, dass es in jedem Beruf »schwarze Schafe« gibt, also bestechliche Richter, mordende Soldaten oder auch schlampige Handwerker, dürfte Luther damals wie heute konsensfähig sein. Hier soll es jedoch darum gehen, dass für ihn der Beruf des Soldaten normativ unproblematisch ist. Für viele Christen war und ist das aus zwei Gründen nicht so. Erstens gehört das Töten zum Berufsbild des Soldaten, der damit gegen ein Grundgebot Gottes verstößt. Zweitens schwören Soldaten ihrem militärischen Führer oder dem politischen Herrscher einen Treueid. Und steht der daraus ableitbare absolute Gehorsam nicht im Widerspruch zum ersten Gebot? Wie kann man als Christ einen Beruf akzeptieren oder gar ergreifen, in welchem man einem weltlichen Herrscher und nicht dem einen Gott absoluten Gehorsam schwört und zudem noch ein weiteres der 10 Gebote bewusst missachtet? Luthers Antwort auf diese Frage findet sich in seiner Zwei-Regimente-Lehre. Gott habe zwei Regimente gleichermaßen eingesetzt, mit unterschiedlichen Aufgaben betraut und ihnen auch unterschiedliche Mittel an die Hand gegeben.7 Das geistliche Regiment werde von Christus selbst sowie vom Geist Gottes, jedenfalls nicht von menschlichen Herrschern, geführt. Es diene dazu, dass die Menschen durch das Wort Gottes zum Glauben geführt und in ihm erhalten werden. Kirchliche Mitarbeiter unterstützten diesen göttlichen Auftrag, der ohne Gewalt allein auf der Macht des Wortes beruhe. Das weltliche Regiment hingegen sei an den oder die politischen Herrscher delegiert worden. Sie sollen auf Erden für Gerechtigkeit, Frieden, Ordnung und Sicherheit sorgen und dürften sich dabei der Mittel des Rechts und des Schwerts bedienen. Während also der Staat als weltliches Regiment über das Gewaltmonopol verfüge, verwalte die Kirche das Wort Gottes. Beide nähmen unverzichtbare Funktionen für die Menschen ein, sodass auf keine von beiden verzichtet werden könne. Aber sie existieren auch relativ selbstständig voneinander, stünden also nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, sondern seien beide mit einer klaren Aufgabe von Gott be5
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Vgl. Volker Stümke, Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik, Stuttgart 2007 (= Theologie und Frieden, 34), S. 187-195. Vgl. WA 19, S. 660 f. (Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, 1526). Vgl. WA 11, S. 251, 15-18 (Von weltlicher Obrigkeit, 1523): »Darum hat Gott zwei Regimente verordnet: das geistliche, welches Christen und fromme Menschen macht durch den heiligen Geist, unter Christus, und das weltliche, das den Unchristen und Bösen wehrt, dass sie äußerlich Frieden halten und still sein müssen, ob sie wollen oder nicht.«
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traut und ihm gegenüber auch rechenschaftspflichtig. Der Kampf der beiden mittelalterlichen Alphatiere Kirche und Staat bzw. Papst und Kaiser wird von Luther überwunden, indem er beiden ihre Berechtigung, ihre Aufgaben, ihre Mittel, aber ebenso ihre Grenzen und ihre Unterordnung unter Gott vor Augen führt.8 Sicherlich hat Luthers Zwei-Regimente-Lehre auch Schwächen. Sie reduziert das gesellschaftliche Zusammenleben auf Kirche und Staat und hat andere Institutionen wie die Wirtschaft oder die Bildungseinrichtungen ausgeblendet. Auch bleibt ungeklärt, wie sich Kirche und Staat auf den Schnittfeldern bewegen, wie man also Religionsunterricht oder Diakonie konzipiert und wie man Feiertage oder Friedhöfe anlegt. Zudem hatte Luther die Verantwortlichkeit des Staates nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber den Bürgern und den gesellschaftlichen Institutionen nicht im Blick. Welche Rechte und welche Protestmöglichkeiten es gegen den Herrscher gibt, wird von Luther nicht hinreichend bedacht. Dennoch halte ich sein Konzept für weiterführend, weil es darlegt, dass und wie die Politik und der Staat auch für Christen eine eigenständige und unverzichtbare Funktion wahrnehmen. Luther betont die Legitimität staatlicher Gewalt und deren Begrenzungen. Der Staat hat ein Eigenrecht und ist nicht nur von Gnaden der Religion eingesetzt. Die direkte Beauftragung durch Gott ist zudem das politische Argument, das die personalen Forderungen des Dekalogs übersteuert. Allerdings ist diese Beauftragung limitiert. Näherhin nennt Luther drei Schranken, um eine Verabsolutierung des Staates zu verhindern:9 1. Der Staat ist kein Selbstzweck, sondern hat klare Aufgaben (Frieden, Ordnung, Gerechtigkeit) und konkrete Mittel (Recht, Gewalt) zur Zielerreichung. 2. Er ist kein totaler Staat, sondern muss neben sich noch andere Größen (für Luther die Kirche) akzeptieren. 3. Er ist kein absoluter Staat, sondern er steht unter Gott, was als Selbstbeschränkung durchaus in einer Landesverfassung zur Sprache kommen sollte. Der Soldat wiederum gehört für Luther als exekutive Kraft zum weltlichen Regiment. Damit hat er Anteil an der Legitimation des weltlichen Regiments. Als Christ darf man folglich Soldat werden. Gleichermaßen gelten aber auch die drei normativen Beschränkungen für den Soldatenberuf: 1. Der Soldatenberuf ist kein Selbstzweck. Er hat vielmehr die Aufgaben, zum einen Menschen vor der Gewalt anderer zu schützen und zum anderen die Ordnung zu erhalten und zu stabilisieren. Daher darf er seine Gewaltmittel nur in einem Verteidigungsfall anwenden, niemals aber von sich aus andere Menschen angreifen oder sich an einem Angriffskrieg beteiligen. Angreifer hingegen darf und muss er stoppen, und sei es mit letaler Gewalt. Nothilfe ist demnach der normative Leitbegriff, der das Töten des Soldaten legitimiert. Dementsprechend müsste nach Luther bei gegenwärtigen Einsätzen der Bundeswehr gefragt werden, ob auch humanitäre Interventionen oder
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Vgl. dazu Volker Mantey, Zwei Schwerter – zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-ReicheLehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005 (= Spätmittelalter und Reformation, N.F., 26). Vgl. Volker Stümke, Frieden, Recht, Ordnung – Luthers Impulse für ein gegenwärtiges Staatsverständnis. In: Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Zu Martin Luthers Staatsverständnis. Hrsg. von Rochus Leonhardt und Arnulf von Scheliha, Baden-Baden 2015 (= Staatsverständnisse, 82), S. 215-241.
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Blauhelmeinsätze der Vereinten Nationen als Akte der Nothilfe verstanden und dann im Grundsatz legitimiert werden können. 2. Der Soldatenberuf ist keine totale Einrichtung. Er hat zu akzeptieren, dass es in einem Staat oder in einer Gesellschaft neben ihm andere gleichberechtigte Kräfte gibt. Einen totalen Krieg, der nichts anderes in einer Gesellschaft mehr stehen ließe, würde Luther ablehnen. Für ihn ist hingegen klar, dass der Soldat sich an geltendes Recht halten muss, dass er sich weder über die Rechtsprechung, noch über die Polizei, noch über zivile Einrichtungen hinwegsetzen darf. Der Soldat dient dem Gemeinwohl, indem er seinen Beruf erfüllt und andere neben sich akzeptiert, die ihren Dienst ebenfalls leisten. Mit diesem Ansatz ist sowohl personalethisch die Rede vom Bürger in Uniform und sozialethisch das gegenwärtige Konzept der zivil-militärischen Zusammenarbeit vereinbar. 3. Der Soldat darf weder sich noch seinen Beruf verabsolutieren. Dass er unter Gott steht, betrifft ihn nicht nur als Person, für die wie für jeden Menschen das Evangelium von der Gnade Gottes gilt, das er im Glauben ergreifen sollte, sondern man kann diese Unterstellung auf den Beruf ausdehnen: Auch ein tapferer Kämpfer steht vor Gott nicht als Held, der himmlische Belohnung verdient hätte, sondern als sündiger Mensch, der auf die Zusage Christi angewiesen ist. Zudem darf er seinen militärischen Auftrag nicht verabsolutieren und damit die Würde der Menschen, mit denen er zu tun hat, missachten. Weder die Folter eines feindlichen Soldaten noch riskante Einsätze, die einseitig zulasten der Zivilbevölkerung gehen bei gleichzeitiger Minimierung der eigenen Verluste, sind nach meiner Lesart mit Luthers Soldatenbild zu vereinbaren,10 denn in beiden Fällen würde der Soldat sich selbst verabsolutieren. Zusammenfassend kehre ich zum Eingangssatz zurück: Luther legitimiert den Soldatenberuf als ein weltliches Betätigungsfeld zugunsten der Nächstenliebe. Der Christ kann als freier Herr demzufolge auch diesen Beruf ergreifen und in ihm als dienstbarer Knecht wirken.
Luthers Blick auf den Soldaten als Person »Weil es nun mit Blick auf das Amt und den Stand der Soldaten keinen Zweifel geben kann, dass alles recht und von Gott eingesetzt ist, wollen wir nun die Personen und ihren Gebrauch dieses Standes behandeln. Denn darauf kommt es am meisten an, dass man weiß, wer dieses Amt ausfüllen soll und wie.«11 Mit diesen Sätzen leitet Luther in seiner Kriegsleuteschrift von 1526 den zweiten Hauptteil ein, der weitaus umfangreicher ist. Luther hatte, wenn er von der weltlichen Obrigkeit und den ihr subsumierten Ämtern und Berufen sprach, stets Personen und nicht Funktionen oder Strukturen vor Augen. Die weltliche Obrigkeit, das war der Kaiser Karolus, während das geistliche Regiment von Christianus geführt werde.12 Die beiden Regimente werden also von ihren Aufgaben und Zielen her 10
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Vgl. Michael Walzer, Erklärte Kriege – Kriegserklärungen. Hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Otto Kallscheuer, Hamburg 2003, S. 52-81. WA 19, S. 630, 3-6 (Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, 1526). WA 30 II, S. 116, 23 f. (Vom Kriege wider die Türken, 1529).
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konzipiert und nicht einem Schema unterworfen, sodass eine geistliche Führung der Christen eben innerlich durch den Geist Christi geschehe, während die weltliche Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Menschen auf einen menschlichen Herrscher samt Personal angewiesen sei. Allerdings verbleibt Luther auch bei seinen Ausführungen zum Soldaten als konkreter Person in der normativen Argumentation. Die Ausführungen in der Kriegsleuteschrift fokussieren auf den christlichen Soldaten. Nachdem Luther geklärt hat, dass man als Christ Soldat sein, der Obrigkeit in weltlichen Fragen gehorchen und zur Verteidigung des Landes und seiner Bürger einen Angreifer bekämpfen und töten dürfe, zeichnet er ein Idealbild des christlichen Soldaten. Auch hier ist Luther um eine klare These nicht verlegen. Er behauptet gleich am Anfang der Schrift von 1526, dass Christen die besseren Soldaten seien, weil sie mit »gutem, wohl unterrichtetem Gewissen« kämpfen,13 und dieses christliche Gewissen modifiziere sowohl kognitiv wie affektiv die Kontur des Soldatenberufs: – Der kognitive Impuls des christlichen Gewissens bestehe darin, dass der christliche Soldat um sich als freien Herren und dienstbaren Knecht wisse. Er ist ein freier Herr, weil er dem Evangelium vertraut. Das verleihe dem Christen die geistige Souveränität, sich denjenigen und nur denjenigen Befehlen zu beugen, die dem Gemeinwohl dienen. Der Christ wisse also, dass, wann und wie er kämpfen dürfe. Und auf genau diesem Wissen basiere die Tugend der Tapferkeit. Schon für Aristoteles war die Tapferkeit die Tugend der Seele und sie bestand darin, die Extreme der Tollkühnheit und der Feigheit gleichermaßen zu meiden und stattdessen eine mittlere Position anzustreben.14 Luther greift dieses Tugendschema auf, aber er behauptet, dass die Grundlage der Tugend das informierte Gewissen sei. Die Freiheit eines christlichen Soldaten zeigt sich in der Gewissheit, seinen Beruf ausüben zu können – selbst im Fall der Lebensgefahr. Luther spricht in diesem Zusammenhang vom »tapferen Herzen« und vom »getrosten Mut«.15 Was damit gemeint ist, erschließt sich aus den beiden negierten Extremen: Weder sei das Gewissen durch Ungewissheit belastet (wie beim Feigling), noch müsse es verdrängen (wie beim Tollkühnen); vielmehr könne sich der Christ ganz auf seine Berufsausübung konzentrieren. Der Mut des Christen ist folglich »getrost«, weil er in der Gewissheit des Glaubens seinen Trost hat. Darüber hinaus vermag der Glaube diese Konzentration auf die geforderte Tapferkeit sogar noch zu steigern, indem er eine zusätzliche Motivation bereitstellt: Das Herz des Christen (als Organ des Glaubens) vermittelt also nicht nur Tapferkeit, sondern ist auch selbst tapfer, weil es durch das Wissen um das göttliche Gebot gestärkt ist.
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WA 19, S. 623, 23 (Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, 1526). Aristoteles hat im zweiten Buch seiner Nikomachischen Ethik (Hrsg. von Günther Bien, 4. Aufl., Hamburg 1985, S. 36-43) die vier Kardinaltugenden Platons (Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit) übernommen und sie jeweils als das ausgewogene mittlere Verhalten zwischen den beiden schädlichen Extremformen verstanden. Demnach ist die Tapferkeit die rechte Mitte (mesotes) zwischen Feigheit (zu wenig Mut) und Ungestüm (ein Übermaß an Mut). Vgl. dazu Ursula Wolf, Über den Sinn der Aristotelischen Mesoteslehre. In: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Hrsg. von Otfried Höffe, Berlin 1995, S. 83-108. WA 19, S. 623 f. (Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, 1526).
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– Der affektive Impuls des christlichen Glaubens ergibt sich aus dieser Gewissheit. Im Glauben, dass weder Tod noch Leben den Christen trennen könne von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist (Röm 8,38 f.), schwindet die Angst nicht nur vor dem Tod, sondern vor allem davor, dass die letzten Taten im Leben böse waren und man dafür die Hölle verdient habe.16 Diese Angst hat Luther als Hintergrund für das tollkühne und angeberische Verhalten der meisten Soldaten vor einer Schlacht ausgemacht. Das sei nichts anderes als das Pfeifen im Walde, um die Angst zu überstimmen – und zumeist gehe es einher mit Glücksspiel, Saufen und Huren, um die verbliebene Angst zu verdrängen.17 Demgegenüber wisse sich der Christ selbst zu disziplinieren, er werde sich im Gebet konzentriert auf ein Gefecht und dessen mögliche Konsequenzen vorbereiten. Und dementsprechend werde er demütig und konzentriert kämpfen.18 Der christliche Soldat wird also seinen Beruf mit gutem Gewissen und daher effektiv ausüben. Luther greift hier eine Einsicht griechischer Philosophie auf, die bis heute wiederholt wird, nämlich dass »der Sieg über den anderen in der Regel nicht ein bloßes brutum factum ist; er ist Ausdruck nicht nur physischer Stärke, sondern auch größerer Selbstdisziplin und der größeren Bereitschaft, sein Leben zu riskieren, also der Tugend der Tapferkeit«.19 Allerdings ist für Luther solche Tapferkeit keine dem Menschen frei verfügbare Einstellung, sie hängt vielmehr am guten Gewissen und das wiederum am christlichen Glauben und seiner Gewissheit. Nur eine Gewissheit, die sowohl das moralische wie das existenzielle Problem des Soldatenberufs, also das Töten und die Lebensgefahr, einer Lösung zuführe, vermag in der Extremsituation standzuhalten.20 Das verdeutlicht Luther, 16
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Sowohl Angst vor Verwundung und Tod wie die Befürchtung, im Kampf schuldig zu werden durch eine direkte Beteiligung an Kriegsverbrechen oder indirekt durch das Verwunden und Töten anderer Menschen, sind Affekte angesichts eines bevorstehenden Gefechtes, die alle Soldaten ereilen können. Kennzeichnend für den christlichen Soldaten ist eine aktive Auseinandersetzung im Gewissen mit diesen Affekten, die weder verdrängt noch überhöht werden. Denn Angst vor dem Tod haben sogar die Heiligen. Es gibt nach Luther niemanden, der nicht alle schlechten Dinge auf sich nähme, um dem Tod zu entgehen. Folglich gebe es keine größere Aufgabe für die göttliche Barmherzigkeit, als die Kleingläubigen angesichts dieses Übels zu stärken. Vgl. WA 6, S. 109, 35-38 (Tessaradecas consolatoria pro laborantibus et oneratis, 1520). Vgl. WA 19, S. 659, 14-30 (Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können, 1526). Vgl. ebd., S. 651, 5-12: »Ein Kriegsmann, der eine gerechte Ursache hat, der soll zugleich mutig und verzagt sein. Wie will er kämpfen, wenn er verzagt ist? Kämpft er aber unverzagt, so ist es wiederum eine große Gefahr! So soll er aber tun: Vor Gott soll er verzagt, furchtsam und demütig sein und ihm die Sache anbefehlen, dass er es nicht nach unserem Recht, sondern nach seiner Güte und Gnade füge, auf dass man Gott zuvor gewinne mit einem demütigen, furchtsamen Herzen. Gegen die Menschen soll man tapfer, frei und trotzig sein, weil sie doch Unrecht haben, und so mit trotzigem, zuversichtlichem Gemüt sie schlagen.« Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München 1997, S. 408. Vgl. WA 10 I.2, S. 281, 13-16 (Auslegung von Joh 14,23-31 aus der Sommerpostille, 1526). Eine analoge Argumentation findet sich in der Auslegung des 1. Gebots in Luthers Großem Katechismus, demzufolge als Gott dasjenige bezeichnet werde, woran man sein Herz hänge. Aber ob jede dieser vermeintlichen Gottheiten dieses herzliche Vertrauen verdiene, werde sich zeigen, wenn der Mensch in Gewissensnöten stecke, wenn er namentlich durch Schuld oder Tod sich bedroht sehe. Der biblische Gott erweist sich nach Luther in genau diesen Situationen als wahrer Gott (WA 30 I, S. 133-139).
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indem er die nicht christlichen Soldaten als böse Buben zeichnet, auf deren persönliche Einstellungen eben kein Verlass sei. Inwiefern Luthers Charakterisierung der Soldaten im 16. Jahrhundert eine Verzerrung ist, sei dahingestellt. Das ist historisch wichtig,21 aber ethisch irrelevant. Denn dass eine existenzielle Gewissheit positiv auf die Berufsausübung ausstrahle, gilt unbeschadet dieser Negativfolie. Weitaus gravierender ist demgegenüber gegenwärtig die Frage, ob nur der christliche Glaube diesen wünschenswerten Effekt erreichen könne, oder inwiefern nicht auch andere Gewissheiten vergleichbare Folgen für die soldatische Tapferkeit zeitigten. Aus Sicht der Bundeswehr, die in einem pluralistischen und weltanschaulich neutralen Staat verankert ist, markiert diese Frage ein virulentes Problem: Sie kann einerseits nicht einfach auf die christliche Gewissheit zurückgreifen und sie »an den Mann bringen«, denn sie verfügt weder theologisch (Gottes Geist weht, wo er will) noch rechtlich (Religionsfreiheit als Grundrecht) und auch nicht psychisch (der äußerliche Befehl erreicht nicht die innere Einstellung) über das Gewissen. Andererseits ist ihr angesichts des Effekts daran gelegen, die Tapferkeit der Soldaten möglichst solide zu verankern. An dieser Stelle stoßen wir an eine Grenze des liberalen Staates, die oft als Böckenförde-Paradox bezeichnet wird. Der moderne Staat ist auf eine ethische Legitimation angewiesen, die er aber als liberaler Rechtsstaat nicht selbst verfügen kann.22 Das gilt auch für die Soldaten als Staatsdiener. Die lutherische Sozialethik bietet eine Legitimation und eine Vergewisserung ihres Berufes, aber auf der Grundlage der christlichen Rechtfertigungslehre. Ohne diese evangelische Basis hinge die Tapferkeit gleichsam in der Luft. Versuche, sie zu kompensieren – sei es durch eine politische Ideologie, eine Funktionalisierung des Berufs oder durch religiöse Nettigkeiten (»Wir kommen alle in den Himmel, weil wir so brav sind«, so Jupp Schmitz 1952) – sind entweder hohl oder gefährlich, sodass die Bundeswehr wohl mit dieser Sollbruchstelle leben muss. Und die Militärseelsorge sollte auf ihren Auftrag behaftet werden, auch im lebenskundlichen oder ethischen Unterricht die christlichen Grundannahmen nicht zu verschweigen oder zu verharmlosen: Als freier Herr, der durch die Zusage des Evangeliums aus Angst und Selbstsucht herausgelöst wurde, kann der Christ guten Gewissens auch im Beruf des Soldaten seinen Dienst tun und Nächstenliebe in einem politischem Amt ausüben. Wir Christen sind den Soldaten schuldig, dass wir die Legitimität ihres Berufes wie die Grenzen der praktischen Umsetzung klar begründen. 21
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Vgl. z.B. Matthias Rogg, Landsknechte und Reisläufer. Bilder vom Soldaten. Ein Stand in der Kunst des 16. Jahrhunderts, Paderborn [u.a.] 2002 (= Krieg in der Geschichte, 5); Martin Kutz, Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2006. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, erweiterte Ausg., Frankfurt a.M. 2006, S. 92-114, 113: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.«
Matthias Gillner
Thomas von Aquin und die reformierte katholische Lehre von der Gewissensfreiheit heute
Die historische Entwicklung einer Konzeption des Gewissens bei Thomas von Aquin anzunehmen, ist nicht einfach eine willkürliche Setzung.1 Denn wenn auch die Wurzeln der Begriffsgeschichte in Jerusalem bzw. Athen liegen und sich bildhafte Sprechweisen in nahezu allen Kulturen finden lassen, eine systematische Theorie des Gewissens wird erst durch die scholastische Theologie des Mittelalters begründet. Und hierbei kommt der Lehre des Thomas von Aquin eine herausragende Rolle zu.2 Im Folgenden werde ich mich aber lediglich auf wichtige Impulse beschränken, die das Verständnis des Gewissens bei Thomas von Aquin für die gegenwärtige katholische Lehre von der Gewissensfreiheit im Allgemeinen und für die Soldaten im Besonderen gesetzt hat. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Gewissensfreiheit als menschliches Grundrecht, das zudem »als Grundlage der modernen individuellen Freiheitsrechte, ja des modernen Freiheitsgedankens überhaupt angesehen«3 wird und von daher vom Staat zu gewährleisten und zu sichern ist, dem mittelalterlichen Denken noch fremd ist.
Das Gewissen bei Thomas von Aquin Jahrhundertelang beherrscht neuplatonisches Denken die christliche Theologie und Philosophie. Ihm entspricht eine ausgeprägte Jenseitsorientierung, die das 1
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Die in der Überschrift des Beitrags verwendete Formulierung »reformierte Lehre« bezieht sich auf den Paradigmenwechsel, den die katholische Kirche unter dem Pontifikat Johannes XXIII. während des Zweiten Vatikanischen Konzils vollzog. Sie setzte sich damit von der antiliberalen Tradition ab, die mit der von Papst Gregor XVI. am 15.8.1832 veröffentlichten Enzyklika »Mirari vos« begann. Vgl. Michael Kneib, Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit. Zur Rezeption der Gewissensfreiheit durch die katholische Moraltheologie und das kirchliche Lehramt zwischen 1832 und 1965, Frankfurt a.M. 1996. Natürlich konnte auch Thomas von Aquin auf frühere Studien zurückgreifen. Zum Einfluss von Albertus Magnus auf dessen Gewissenskonzeption vgl. etwa Matthias Perkams, Gewissensirrtum und Gewissensfreiheit. Überlegungen im Anschluss an Thomas von Aquin und Albertus Magnus. In: Philosophisches Jahrbuch, 112 (2005), S. 31-50. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit. In: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1991, S. 253-317, hier S. 255.
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Matthias Gillner
Diesseits abwertet und die Welt nur als stufenweisen Abfall (Geist, Welt-Seele, Materie) von dem vollkommenen Ur-Einen betrachtet, aus der sich die menschliche Seele durch Reinigung (Katharsis) lösen muss.4 Thomas von Aquin nun justiert in Auseinandersetzung mit den Schriften des Aristoteles die Schöpfungstheologie neu, indem er die Welt positiv bestimmt und so den biblischen Gedanken der Schöpfung als Gottes gutes Werk in ein neues Licht setzt. Die Welt hat einen eigenen Wert, eine eigene Größe und Erhabenheit – und das schlicht deshalb, weil Gott sie geschaffen hat. Und was für die Schöpfung im Allgemeinen gilt, das kommt in besonderer Weise dem Menschen zu, weil er ein mit Vernunft begabtes Wesen ist und damit an dem ewigen Gesetz Gottes teilhat, dem »Plan der göttlichen Weisheit, insofern sie alle Handlungen und Bewegungen lenkt«.5 Denn für Thomas ist die »menschliche Ratio [...] von Gott so gewollt und geschaffen, dass sie aus eigener Fähigkeit und Initiative heraus Wirklichkeit und Wahrheit erkennen und danach handeln kann, ohne dazu noch einmal einer besonderen Erleuchtung oder Bewegung vonseiten Gottes zu bedürfen.«6 Und diese spezielle Auswertung des biblischen Schöpfungsgedankens lässt ihn auch dem Einzelnen eine besondere Wertigkeit zusprechen. Nicht der Mensch im Allgemeinen, sondern der Mensch in seiner Individualität – »propter se et in specie individuo« – ist von Gott gewollt: Ihm kommt die besondere Würde zu. Damit bricht Thomas von Aquin mit dem im platonischen und neuplatonischen Denken der Antike vorherrschenden und in das frühe Mittelalter hineinreichenden Primat des Allgemeinen: »das Höchste ist nicht mehr das Allgemeinste, sondern das Besondere, das Einzelne, oder genauer gesagt, der Einzelne.«7 Und diese besondere Wertschätzung erfährt auch das einzelne Gewissen. Die mittelalterliche Lehre kennt bekanntlich zwei Begriffe für das Gewissen: synderesis und conscientia.8 Diese terminologische Differenz ermöglicht die Unterscheidung zwischen einem habituellen und einem aktuellem Gewissen, also einer »Gewissensanlage« als Wissen um Gut und Böse und einer »Gewissenstätigkeit«, die sich im konkreten situationsbezogenen Gewissensspruch ausdrückt. Die synderesis enthält gewissermaßen den »Grundstock an prinzipieller sittlicher Einsicht«,9 über den jeder Mensch von Natur aus verfügt, das sogenannte Naturgesetz (lex naturalis), und mit dem er aktiv teilhat am ewigen Gesetz Gottes
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Vgl. hierzu die instruktive Studie von Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2001. Thomas von Aquin, Summa Theologica, Bd 13: Das Gesetz. I-II, q. 90-105. Hrsg. von der Phil.-Theol. Hochschule Walberberg, Graz [u.a.] 1977, hier q. 93, a. 1. Richard Heinzmann, Der Mensch als Person. Zum Verständnis des Gewissens bei Thomas von Aquin. In: Das Gewissen: Subjektive Willkür oder oberste Norm? Hrsg. von Johannes Gründel, Düsseldorf 1990, S. 34-52, hier S. 42. Ebd., S. 45. Für Thomas von Aquin stellen beide rationale Vermögen der Handlungsbeurteilung dar. Diesen »Intellektualismus« teilten aber nicht alle Theologen des Mittelalters. Je nach Schule wurde stärker das Wissen um Gut und Böse (Thomas von Aquin und die dominikanische Schule) oder der ursprunghafte Wille zum Guten betont (Bonaventura und die franziskanische Schule). Eberhard Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen. Eine ethische Orientierung, Freiburg i.Br. 2003, S. 104.
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(lex aeterna).10 Das Naturgesetz beinhaltet zuerst das grundlegende Prinzip »Das Gute ist zu tun und zu erstreben, das Böse ist zu meiden«.11 Auf diesem formalen Grundsatz bauen für Thomas dann die allgemeinen inhaltlichen Normen auf, wie sie beispielsweise in den sich auf das menschliche Zusammenleben beziehenden Gebote des Dekalogs zum Ausdruck kommen, wie etwa »Du sollst nicht töten!« oder »Du sollst nicht stehlen!« Die Anwendung der allgemeinen Normen auf einen bestimmten Fall aber, also auf das, was in einer bestimmten Situation zu tun gefordert wird, ist die Aufgabe der conscientia. Das einzelne Gewissensurteil der conscientia aber schließt den Irrtum nicht aus. Und dieser Irrtum kann sich sowohl auf die konkreten Umstände als auch auf die allgemeinen Normen beziehen;12 es kann sich dabei um eine Tatsachenunwissenheit oder um eine Unkenntnis der Handlungsregeln handeln, wobei Thomas der Unkenntnis von Normen stets eine Nachlässigkeit attestiert, die niemals ganz frei von Schuld ist. Aber ob schuldlos oder schuldhaft, der Irrtum hebt den Verpflichtungscharakter des Gewissensurteils nicht auf. Denn in jedem Gewissensspruch, insofern die beurteilte Handlung als gut vorgestellt wird, spricht, ob wahr oder irrig, für Thomas das formale Gesetz Gottes zum Menschen. Wörtlich: »Und daher muss gesagt werden, dass jedes Gewissen, ob wahr oder irrig, verpflichtend ist, sodass, wer gegen sein Gewissen handelt, sündigt.«13 Die Bindung des »irrenden« Gewissens gilt nicht nur bei Verfehlung einer für Thomas objektiv geltenden Wahrheit, sondern ebenso – und das ist nun auch für die Soldatinnen und Soldaten von Bedeutung – wenn das Gewissensurteil im Widerspruch zur obrigkeitlichen Autorität steht. Denn das Gewissen des einzelnen Untergebenen behält immer den Vorrang gegenüber der Autorität des Vorgesetzten, weil ja das göttliche Gebot gegen das Gebot des Vorgesetzten mehr als das Gebot des Vorgesetzten selbst bindet.14 Auch das Gehorsamsgelübde – und hier können wir den Vergleich zum Eid der Soldatinnen und Soldaten ziehen – rechtfertigt keine Ausnahme. Das Gewissensurteil bindet für Thomas von Aquin kategorisch: immer und unter allen Umständen.15
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Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica (wie Anm. 5), q. 91, a. 2. Ebd., q. 94, a. 2. Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, Bd 11: Vom Übel/De malo, Teilbd 1. Hrsg. von Rolf Schönberger, Hamburg 2009, q. 3, a.8c. »Et ideo dicendum est quod omnis conscientia, sive recta, sive erronea [...] est obligatoria; ita quod qui contra conscientiam facit, peccat.« Thomas von Aquin, Quaestiones quodlibetales I-XI. In: S. Thomae Aquinatis Opera Omnia, Bd 3, Stuttgart 1980, S. 438-501, hier III, q. 12, a. 2c. Vgl. Thomas von Aquin, Über die Wahrheit 1. In: Edith Stein, Übersetzungen III, Freiburg i.Br. 2008 [u.a.] (= Edith-Stein-Gesamtausgabe, 23), q. 17, a. 5c. Weiterführende Gedanken finden sich in William J. Hoye, Die Wahrheit des Irrtums. Das Gewissen als Individualitätsprinzip in der Ethik des Thomas von Aquin. In: Individuum und Individualität im Mittelalter. Hrsg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer, Berlin, New York 1996, S. 419-435.
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Das Zweite Vatikanische Konzil zur Gehorsams- und Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen Das Zweite Vatikanische Konzil greift in seiner pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute »Gaudium et Spes« (GS) wieder auf die Lehre des Thomas von Aquin von der »Würde des Gewissens« zurück und erkennt seine bindende Kraft für den Menschen an. Das Gewissen ist die Mitte personaler Existenz selbst. Im Gewissen entdeckt jeder Mensch ein ihm selbst von Gott eingeschriebenes Gesetz, »das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat«, dessen Stimme »ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft« und dem er sich im freien Gehorsam verpflichtet weiß (GS 16). Allerdings bleibt »Gaudium et Spes« in seiner Lehre vom irrenden Gewissen hinter Thomas von Aquin zurück, weil das Gewissen dabei nur dann nicht seine Würde und seinen Verpflichtungscharakter verliert, wenn es »aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt« (GS 16).16 Die Achtung vor der »Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung« (GS 41) bewegt das Zweite Vatikanische Konzil aber nun endlich, das Recht auf Gewissensfreiheit zu lehren und sich dafür auch in einem konkreten Bereich einzusetzen: für den Rechtsschutz der Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen.17 Über die moralische Berechtigung, den Wehrdienst zu verweigern oder Wehrdienst zu leisten, unterlässt das Dokument ein eigenes Urteil. Vielmehr würdigt es sowohl diejenigen, die sich der Gewaltlosigkeit verpflichtet sehen, insofern sie die Rechte und Pflichten anderer nicht verletzen, als auch die Soldaten, wenn sie nicht nur den nationalen Interessen, sondern der Sicherheit und Freiheit der Völker insgesamt dienen. Dagegen kritisiert »Gaudium et Spes« mit scharfen Worten den blinden Gehorsam von Soldaten, vor allem dann, wenn damit Befehle ausgeführt werden, die offensichtlich die »Prinzipien des natürlichen Völkerrechts« verletzen, worunter in erster Linie der Genozid genannt wird. Vielmehr zollt es denen Respekt, die sich solchen Befehlen »offen widersetzen« – mit anderen Worten: die sich ihnen aus Gewissensgründen verweigern. Mit dieser Anerkennung ermöglicht das Konzil eine Ausdehnung des Rechts auf Verweigerung aus Gewissensgründen auch auf Soldaten, die den Gehorsam zur Teilnahme an einem bestimmten Krieg und gegenüber einem konkreten Befehl aus Gewissensgründen verweigern.
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Zur Gewissensfreiheit in GS siehe vor allem Markus Patenge, Grundrecht Gewissensfreiheit. Genese, Funktion und Grenzen aus moraltheologischer und rechtlicher Perspektive, Münster 2013, S. 40-44. »Ferner scheint es angebracht, dass Gesetze für die in humaner Weise Vorsorge treffen, die aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern, vorausgesetzt, dass sie zu einer anderen Form des Dienstes an der menschlichen Gemeinschaft bereit sind.« (GS 79) Hier zitiert nach: Gaudium et spes. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Ergänzungsbd: Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen. Lateinisch und Deutsch. Teil III. Hrsg. von Josef Höfer und Karl Rahner, 2. Aufl., Freiburg i.Br. [u.a.] 1968, S. 241-592.
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Die Deutsche Bischofskonferenz und die Gewissensfreiheit des Soldaten Der Gemeinsamen Synode der Bistümer kommt 1975 dann die Aufgabe zu, die konziliare Lehrverkündigung auf deutsche Verhältnisse hin zu konkretisieren. In Bezug auf das Grundrecht auf Gewissensfreiheit und den Rechtsschutz für Kriegsdienstverweigerer (KDV) aus Gewissensgründen gibt es nichts einzufordern.18 Schließlich wird in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland die Verpflichtung zum Kriegsdienst mit der Waffe19 bereits in Art. 4 Abs. 3 GG unter einen Gewissensvorbehalt gestellt: »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.« Die Synode konzentriert sich allein auf das Problem der Gewissensprüfung in Form einer mündlichen Anhörung der Antragsteller, das der Gesetzgeber in einem gemäß Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG für das KDV-Verfahren notwendigen Gesetz vorsah. Dieses Anerkennungsverfahren kritisiert sie aber als »diskriminierend und darüber hinaus als Gewissensprüfung vom christlichen Verständnis her unzumutbar«. Sie fordert die Politik daher auf, »statt der Gewissensprüfung in der bisherigen Form bessere, der personalen Würde angemessene Wege der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen«20 zu finden.21
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In anderen Dokumenten hat die katholische Kirche in besonderer Weise dieses Grundrecht in der deutschen Verfassung ausdrücklich gewürdigt, so etwa die Deutsche Kommission Justitia et Pax in einem Grundlagenpapier: »Die Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen als ein verfassungsrechtlich verbürgtes Grundrecht (Art. 4 Abs. 3 GG) gilt als Errungenschaft und tragender Pfeiler der Glaubens- und Gewissensfreiheit des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates.« Kirchliches Verständnis vom Dienst am Frieden – Dienste für den Frieden. Grundlagenpapier der Deutschen Kommission Justitia et Pax, 2. Aufl., Bonn 2004 (= Gerechtigkeit und Frieden, 103), S. 46. Der Begriff »Kriegsdienst mit der Waffe« schließt jede Tätigkeit mit ein, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Einsatz militärischer Gewalt steht, und umfasst auch den Wehrdienst in Friedenszeiten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts regelt Art. 4 Abs. 3 GG die Wirkungen der Gewissensfreiheit im Bereich der Wehrpflicht abschließend. Von daher kann bei einer Gewissensentscheidung gegen den Wehrdienst nicht auf Art. 4 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden. Das Wort »Kriegsdienst« bezieht sich auf den gesamten Krieg; ethische Konfliktsituationen innerhalb des Krieges regelt das Soldatengesetz (SG): Unverbindlich sind alle Befehle, die die Menschenwürde verletzen (§ 11 Abs. 1 S. 3 HS1 Alt. 1 SG), die zu nicht-dienstlichen Zwecken (§ 11 Abs. 1 S. 3 HS1 Alt. 2 SG) erteilt werden und durch deren Befolgung eine Straftat begangen würde (§ 11 Abs. 2 S. 1). Vgl. Rainer Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem des Rechts. Zur Überwindung des Dezisionismus im demokratischen Rechtsstaat, Baden-Baden 1986, S. 342. Entwicklung und Frieden. In: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von der Deutschen Bischofskonferenz, Freiburg i.Br. 1976, 2.2.4.3. Die detaillierteste Stellungnahme zur Frage der Begründbarkeit von Gewissensentscheidungen im katholischen Bereich hat der Moraltheologe Franz Böckle im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses zur Novellierung des KDV-Rechts im Januar 1980 abgegeben. Vgl. Franz Böckle, Wehrdienst und Gewissensprüfung. Eine Stellungnahme zur Frage der Begründbarkeit von Gewissensentscheidungen. In: Herder-Korrespondenz, 34 (1980), 5, S. 261-263.
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Nach gescheiterten Reformversuchen in den 1970er Jahren tritt schließlich am 1. Januar 1984 ein Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz (KDVNG) in Kraft,22 welches das Prüfungsverfahren für den Großteil der ungedienten Antragsteller im Frieden erheblich erleichtert23 und auf das mündliche Anhörungsverfahren weitestgehend verzichtet.24 Die Neuregelung des Rechts der KDV (KDVNeuRG) vom 9. August 2003 vereinheitlicht das Verfahren für alle Antragsteller und bezieht Soldatinnen ausdrücklich mit ein.25 Diese Änderungen entsprechen weitgehend den ursprünglichen Forderungen der Synode und werden daher vonseiten der katholischen Kirche ausdrücklich begrüßt.26 Allerdings vergisst die Synode zu thematisieren, dass der Gesetzgeber die Inanspruchnahme des vom Konzil geforderten Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen auf prinzipielle Verweigerer eingeschränkt hatte.27 Dies holten dann 1985 der katholische Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde und sein evangelischer Kollege Ernst Gottfried Mahrenholz gemeinsam nach. In einem Sondervotum28 wenden sich beide gegen den Gewissensbegriff und damit gegen den verfassungsrechtlichen Gehalt der in Art. 4 Abs. 3 geschützten Gewissensentscheidung. Denn danach sei allein dasjenige Gewissen geschützt, das sich in einer generellen, absoluten Entscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe äußere, nicht aber das auf eine konkrete Situation bezogene. Nach Böckenförde und Mahrenholz wird damit einerseits die Eigenart von Gewis22
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Mit Art. 1 des KDVNG wird das Kriegsdienstverweigerungsgesetz (KDVG a.F. vom 28.2.1983) erlassen. Die grundgesetzliche Vereinbarkeit wird vom 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in einem Urteil vom 24.4.1985 bestätigt. Vgl. BVerfGE 69,1. Die Prüfungsverfahren fanden nunmehr vor dem Bundesamt für Zivildienst (BAZ) und nicht mehr vor den Ausschüssen und Kammern für KDV in den Kreiswehrersatzämtern und Wehrbereichsverwaltungen statt. Der KDV-Antragsteller muss neben einem ausführlichen Lebenslauf und einem polizeilichen Führungszeugnis eine schriftliche Begründung der Gewissensentscheidung einreichen, die von dem BAZ vor allem auf Vollständigkeit und Schlüssigkeit geprüft wird und nur im Zweifelsfalle schriftlich oder mündlich nachgefragt wird. Die Gewährleistung einer »echten« Gewissensentscheidung sieht der Gesetzgeber nunmehr in der Verlängerung der Zivildienstzeit gegeben, nach der sie um ein Drittel länger als der Grundwehrdienst dauern muss. Das KDVNeuRG enthält in Art. 1 das neue Kriegsdienstverweigerungsgesetz (KDVG n.F.). Vgl. z.B. Dienst am Frieden (wie Anm. 18), S. 46. § 25 des Wehrpflichtgesetzes vom 21.7.1956 (WPflG a.F): »Wer sich aus Gewissensgründen der Beteiligung an jeder Waffenanwendung zwischen den Staaten widersetzt und deshalb den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, hat statt des Wehrdienstes einen zivilen Ersatzdienst außerhalb der Bundeswehr zu leisten. Er kann auf seinen Antrag zum waffenlosen Dienst in der Bundeswehr herangezogen werden.« Der katholische Politiker Heiner Geißler hat bereits in seiner Dissertation von 1960 den § 25 WPflg a.F. für verfassungswidrig erklärt, insofern auch die situationsbezogene Kriegsdienstverweigerung durch Art. 4 Abs. 3 GG geschützt sei. Vgl. Heiner Geißler, Das Recht der Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes, Tübingen 1960, S. 122. In einem Beschluss vom 20.12.1960 erklärt der 1. Senat des BVerfG den § 25 WPflG a.F. mit dem Grundgesetz für vereinbar. BVerfGE 12,45. Vgl. auch Thomas Hoppe, Menschenrechte im Spannungsfeld von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Grundlagen eines internationalen Ethos zwischen universalem Geltungsanspruch und Partikularitätsverdacht, Stuttgart 2002. Dabei handelt es sich um das Urteil des BVerfG über das Kriegsdienstverweigerungsgesetz von 1983.
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sensentscheidungen – die conscientia von Thomas von Aquin – selbst verkannt, da sie immer konkrete moralische Entscheidungen der Person in einer bestimmten Situation sind, in ihnen Norm- und Situationsbezogenheit gewissermaßen zusammenfließen.29 Andererseits werden alle Gewissensentscheidungen von vornherein ausgeschlossen, die nicht auf einen grundsätzlichen Pazifismus gründen.30 Für die beiden Verfassungsrichter ist der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 3 GG dagegen auch dann eröffnet, wenn sich die Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst auf bestimmte Kriege und einen darauf ausgerichteten Kriegsdienst bezieht, in denen die Bedingungen nicht erfüllt sind, unter denen die betreffende Person sich moralisch zu einer Kriegsbeteiligung imstande sähe. Dann könnten auch Wehrpflichtige, Zeit- oder Berufssoldaten den Kriegsdienst verweigern, insofern die Bedingungen dafür, den Waffendienst leisten zu können, nicht mehr gegeben wären. Ein möglicher Ausweg aus dieser verfahrenen rechtlichen Situation zeigt sich in einem Urteil des BVerwG von 1987.31 Der 2. Wehrdienstsenat beschäftigt sich hierin ausdrücklich mit dem Konflikt zwischen soldatischen Pflichten und persönlichem Gewissen – nämlich bei einer Beteiligung an einem Einsatz von ABCWaffen in einem Verteidigungsfall. Ein solcher Befehl sei nicht schon durch die im Soldatengesetz gezogenen rechtlichen Grenzen unverbindlich. In einem solchen Gewissenskonflikt gesteht das BVerwG zum ersten Mal zu, dass der Soldat sich in einem Gewissenskonflikt auf das Recht auf Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG berufen kann (hier: »Die Freiheit des Gewissens ist unverletzlich«), dass also die persönliche Gewissensentscheidung zu einer Unverbindlichkeit eines Befehles führen könne.32 Zu einer grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses von 29
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Das Sondervotum bezieht sich hier auf eine Stellungnahme des katholischen Moraltheologen Johannes B. Hirschmann SJ vor dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages am 1.6.1956: »Dabei unterstellen wir, wenn wir vom Gewissen sprechen, einen Gewissensbegriff, von dem ich glaube, dass er sich doch im Wesentlichen mit dem von unseren evangelischen Brüdern geteilten deckt, insofern nämlich, als auch wir im Gewissen eine Stellungnahme der menschlichen Person in der Beurteilung der sittlichen Qualität – also gut oder böse, erlaubt oder unerlaubt, geboten oder verboten – einer der Person in einer jeweiligen Situation aufgegebenen Entscheidung sehen. Das Gewissen ist also immer individuell und situationsbezogen. Es ist zugleich normbezogen.« BVerfGE 69,1 (82). Böckenförde und Mahrenholz berufen sich dabei auch auf die Lehre der katholischen Kirche: »Für die katholische Lehre sind dafür die Bedingungen des gerechten Krieges maßgebend, die sich auf die Ursache (iusta causa), das Ziel und die eingesetzten Kampfmittel (debitus modus) beziehen [...] Bezugspunkt und Gegenstand der Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst sind danach gerade und nur bestimmte Kriege und ein darauf bezogener Kriegsdienst, nicht hingegen der Krieg oder Kriegsdienst schlechthin.« Sie beziehen sich hier u.a. auf GS 79-81 (wie Anm. 17) und Gerechter Friede. Die deutschen Bischöfe. Hirtenschreiben, Erklärungen. Nr. 66. Hrsg. vom Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, Bonn, 27.9.2000, 3.5. Das Sondervotum beruft sich gleichermaßen auf die »weitergehende Glaubenslehre« der evangelischen Kirche und auf einschlägige Publikationen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). BVerfGE 69,1 (81 f.). Es handelt sich um das Urteil vom 25.11.1987 über den Missbrauch des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (BVerwGE 83,358). »Unter Umständen kann im Konflikt mit anderen Verfassungsbestimmungen in der konkreten Lage, in der es innerlich unabweisbar wird, sich zu entscheiden, auch dem Grundrecht der Freiheit des Gewissens nach Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber einem Befehl das
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Art. 4 Abs. 1 und Abs. 3 GG oder eines möglichen Konflikts mit dem verfassungsrechtlichen Rang der »Funktionsfähigkeit der Bundeswehr« kommt es aber nicht. Angesichts dieser noch nicht völlig geklärten Rechtslage und der neuen moralischen Herausforderungen, vor denen die Soldaten durch das erweiterte Aufgabenspektrum der Bundeswehr stehen, mahnt das Hirtenwort der Bischöfe »Gerechter Friede« (GF) vom 27. September 2000 zu einer verantwortungsbewussten, gewissensbestimmten Befehlsgebung und -ausführung.33 Aber selbst eine gute ethische Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten schließt objektive oder einfach nur subjektiv empfundene illegitime Befehle nicht aus, sodass ein wirksamer rechtlicher Schutz einer gewissensbestimmten Gehorsamsverweigerung erforderlich ist. Deshalb fordert »Gerechter Friede« einen »rechtlicher Freiraum, der es dem Befehlsempfänger auch praktisch ermöglicht, sich solchen Anordnungen zu widersetzen, die moralische Grenzen verletzen. Positives Recht hat auch für den Soldaten die Gewissensfreiheit zu garantieren« (GF 141). Das Recht auf Gewissensfreiheit hat gemäß der bischöflichen Erklärung »Soldaten als Diener des Friedens« vom 29. November 2005 auch für Soldaten uneingeschränkt zu gelten, da dieser elementare Grundrechtsschutz die Rechtsstellung sowohl der Bürger im Allgemeinen als auch der Soldaten im Besonderen bestimmt. Dieses Grundrecht »kann nicht unter Berufung auf Gesichtspunkte der militärischen Zweckmäßigkeit oder Funktionsfähigkeit außer Kraft gesetzt werden.«34 In seinem Urteil vom 21. Juni 2005 schließlich spricht der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) einem Berufssoldaten im Range eines Majors, der keinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nach Art. 4 Abs. 3 GG gestellt hatte, das Recht zu, den Gehorsam unter Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG zu verweigern. Der Befehl, an einem IT-Projekt mitzuarbeiten, von dem nicht ausgeschlossen werden konnte, einen Beitrag im Irak-Krieg zu leisten, war unverbindlich, da dem Grundrecht der Gewissensfreiheit der Vorrang gegenüber dem Befehl zukam. Mit diesem Grundsatzurteil über die Grenzen der Gehorsamspflicht von Soldatinnen und Soldaten in einem demokratischen Rechtsstaat stellt das BVerwG unmissverständlich dar, dass weder die Schutzwirkung des Art. 4 Abs. 1 GG durch Art. 4 Abs. 3 GG verdrängt werde, noch die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr mit ihr kollidiere.35 Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit gilt – auch für die Soldatinnen und Soldaten.
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höhere Gewicht zukommen mit der Folge, dass der Befehl unverbindlich ist.« BVerwGE 83,358 (360 f.). »Weder gibt es eine uneingeschränkte Befehlsgewalt noch eine uneingeschränkte Gehorsamspflicht.« Gerechter Friede (wie Anm. 30), S. 141. Soldaten als Diener des Friedens. Die deutschen Bischöfe. Hirtenschreiben, Erklärungen. Nr. 82. Hrsg. vom Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, Bonn, 29.11.2005, S. 8. Vgl. BVerwGE 127,302.
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Gesetzestexte sowie Entscheidungen des Bundesverfassungs(BVerfG) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 (GG) Wehrpflichtgesetz in der Fassung (i.d.F.) der Bekanntmachung (Bek.) vom 21.7.1956 (WPflG) Kriegsdienstverweigerungsgesetz i.d.F. der Bek. vom 28.2.1983 (KDVG a.F.). Kriegsdienstverweigerung-Neuordnungsgesetz i.d.F. der Bek. vom 1.1.1984 (KDVNG) Soldatengesetz i.d.F. der Be. vom 14.1.2001 (SG) Kriegsdienstverweigerungs-Neuregelungsgesetz i.d.F. der Bek. vom 9.8.2003 (KDVNeuRG) Kriegsdienstverweigerungsgesetz i.d.F. der Bek. vom 9.8.2003 (KDVG n.F.) Beschluss des Ersten Senats vom 20.12.1960. Zur Berechtigung, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern (GG Art. 4 Abs. 3; WPflG § 25) – Bedeutung einer Kompetenzbestimmung hinsichtlich ihres materiellen Inhalts (GG Art. 73 Nr. 1). In: Entscheidungen des BVerfg 12,45-61 (BVerfGE 12,45) Urteil des Zweiten Senats vom 24.4.1985. Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung. In: Entscheidung des BVerfg 69,1-57 (BVerfGE 69,1) Abweichende Meinung der Richter Böckenförde und Mahrenholz zum Urteil vom 24.4.1985. In: Entscheidungen des BVerfG 69,57-87 (BVerfGE 69,1) Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 25.11.1987. In: Entscheidungen des BVerwG 83,358-372 (BVerwGE 83,358) Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21.6.2005. In: Entscheidungen des BVerwG 127,302-374 (BVerwGE 83,302)
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Ist Gehorsam eine Tugend? Ethische Anstöße, ausgehend von Martin Luther und der Theologie der Bekennenden Kirche »Wahrer Geist ist Widerstand gegen den Geist der Macht.« Ilija Trojanow
Tugend, zum Vorbild geeignete Haltung, kann der Gehorsam schlechterdings nicht sein, allein schon, weil er Nicht-Haltung ist, Unterlassen eigenen Sich-Haltens. Als Handeln auf Befehl hat der Gehorsam logischerweise nicht das Zeug zur ethischen Leistung, im Unterschied zur persönlichen Treue, die sich einem anderen Menschen oder einer Gemeinschaft in eigener Verantwortung unterstützend anschließt. Im Gehorsam tue ich, was anderen Orts, »höher«, entschieden wurde. Als nur ausführendes Organ bin ich der Verantwortung ledig, handle ich eigentlich gar nicht selbst; nicht erst seit dem 8. Mai 1945 ist das oft wiederholt worden. Befehlen unterworfenes Handeln resultiert aus Furcht vor Strafe oder Gier nach Belohnung, ist – darauf kommt es in der ethischen Beurteilung wesentlich an – ohne persönlichen Bezug zum Inhalt der Handlung. Mit reformatorischem Auge besehen, betritt im Befehlsgehorsam ein Verwandter des Ablasses die Bühne: Ein im Ansatz irregehender Versuch, ultimative Anerkennung zu erwerben. Setzt die erwartete obrigkeitliche Sanktion dem Handeln die Norm, so mutiert der Empfänger der Handlung zum Mittel eines ihm fremden Zweckes. Zwischen dem auf Befehl Handelnden und dem Menschen, der das Handeln als Objekt erfährt, zerreißt das Band der Mitmenschlichkeit. Modern gesprochen: Orientiere ich mich gehorsam an einer höheren Autorität, dann kündige ich opportunistisch die Loyalität zum Mitmenschen auf. Streng genommen bin ich gar kein Mitmensch mehr, da ich mich nicht in gemeinsamer Situation mit dem Nächsten sehe. Die Bereitwilligkeit zum Gehorsam, literarisch als »Ferien« von Verantwortung porträtiert,1 entspringt der Selbstherabsetzung: Als hinge mein Existenzrecht an obrigkeitlichem Wohlwollen und als wäre ich nicht durch mein bloßes Dasein als Geschöpf, dem Gott bejahend gegenwärtig ist, beauftragt, mit meinen Gaben meine Welt mitzugestalten. Solange ich bei weltlicher Autorität letzte Anerkennung suche und die Zusage, vor aller Leistung angenommen zu sein, abweise, wer1
Vgl. Joseph Roth, Rechts und Links. Roman (1929), Köln 2001, S. 83.
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de ich mir selbst und anderen Menschen gnadenlos begegnen.2 Darin bewahrheitet sich Luthers Aussage, ohne Gottes bedingungslose Gnade sei »die Welt nichts als Tod und Finsternis«.3 Die Abweisung der relative Handlungsautonomie stiftenden frohen Botschaft gebiert Egoismus und Entsozialisierung, letztlich Entmenschlichung. »Neinsagenkönner« – und so im Sinne Max Schelers wahrhaft Mensch – bin ich schließlich nur als »unwiderruflich anerkannte Person«.4 »Sie töteten mit Hühnerverstand auf Weisung höherer Wesen«: Diese Charakterisierung des Personals einer NS-Euthanasieanstalt erinnert an den jedem Gehorsam inhärenten Abgrund, wobei die »Führer«-Hörigkeit der Wehrmachtgenerale belegt, wie wenig unterschichtspezifisch das Phänomen ist.5 Der in der jungen Bundesrepublik ob seiner radikal rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Orientierung anstößige Jurist Fritz Bauer stellte demgegenüber fest: »Legales Verhalten des Bürgers wird unsittlich, wenn es zum Deckmantel einer Feigheit wird, die sich nicht getraut, gegen offensichtliche Rechtsverletzungen aufzutreten.«6 Dem möchte ich auf der Grundlage reformatorischer Ethik und in Zuspitzung auf Belange militärischer Führungskultur nachgehen.
Treue oder Gehorsam Martin Luther postuliert mehr und anderes als Gehorsam: Nächstenliebe und moralischen Mut. Auf dem Wormser Reichstag hatte er mit seiner persönlichen Überzeugung den höchsten Autoritäten des Reiches getrotzt – um nicht allein sich selbst treu zu bleiben, sondern um dem angefochtenen Gewissen seiner Mitchristen zu dienen. Es war sein Grundvertrauen auf den gnädigen Gott, das ihn treu und zugleich ungehorsam machte. Dieser Linie gemäß hat nach Luther der Einzelne von »oben« kommende Anordnungen zu prüfen, eigenständig zu urteilen und in eigener Verantwortung zu handeln. In der »Kriegsleuteschrift« von 1526 findet sich diese einschlägige Passage: »Wenn du sicher bist, dass [dein Landesherr] unrecht hat, so sollst du Gott mehr fürchten und gehorchen als den Menschen, und sollst nicht mitkämpfen noch dienen, denn du kannst ja kein gutes Gewissen vor Gott haben. Ja, sagst du, mein Herr zwingt mich, er nimmt mir mein Lehen, gibt mir mein Geld, den Lohn und Sold nicht, außerdem würde ich verachtet und verleumdet als einer, der sich fürchtet, ja, der treulos ist vor der Welt, der seinen Herrn in der Not verlässt usw. Die Antwort: Das musst du riskieren und um Gottes willen fahrenlassen, was dir genommen wird […] Weil Gott aber will, dass 2
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Vgl. Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, 2. Aufl., Tübingen 1999, S. 154. Zitiert nach ebd., S. 7. Vgl. Wolfhart Henckmann, Max Scheler, München 1998, S. 207; Jüngel, Evangelium (wie Anm. 2), S. 228. Vgl. den Artikel »Gesundes Volksempfinden«, in: Der Spiegel, 10.3.1965, , letzter Zugriff 16.11.2018. Zitiert nach Udo Dittmann, Widerstandsrecht und Menschenrechte (veröffentlicht am 9.9.2011), , letzter Zugriff 16.11.2018.
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man um seinetwillen auch Vater und Mutter verlässt, so muss man freilich um seinetwillen auch den Herrn verlassen usw. Wenn du aber nicht weißt oder nicht erfahren kannst, ob dein Herr unrecht hat, sollst du den klar gebotenen Gehorsam nicht um des nicht sicher feststellbaren Rechtes willen in Frage stellen, sondern, wie die Liebe es tut, das Beste von deinem Herrn vermuten.«7 Luther rät, dem Fürsten mit Nächstenliebe, das heißt loyal zu begegnen, nicht aber bedingungslos gehorsam zu sein. »Geboten« ist Gehorsam durchaus, nämlich im routinierten »Grundbetrieb« zur Gewährleistung eines möglichst konfliktarmen Alltags. Mechanische Disziplin verlangt das freilich nicht, vielmehr seines Zweckes bewusstes Sichunterstellen. Quelle des Gebots ist für Luther Römer 13,1-7, wo Paulus sich um die Wahrung politischer Ordnung in der bis zum Jüngsten Tag verbleibenden Zwischenzeit sorgt. Diese Funktionsbeschreibung, die sich auf das in Kürze erwartete Endgericht bezieht, nimmt der Obrigkeit die Willkür. Christinnen und Christen, die aus Dankbarkeit für Gottes Güte handeln, emanzipieren sich von der Meinung ihrer Mitmenschen. Die Anerkennung der »Welt« lassen sie getrost »fahren«. Jedoch verzichten sie nicht darauf, die Welt in Entsprechung zum geglaubten Willen Gottes zu gestalten. Sicherlich wäre es unhistorisch, in Luther den Erfinder der freiheitlichen Demokratie zu sehen. Dass sein radikaler Gewissensbezug aber nicht nur »privat« zwischen der Seele und Gott, sondern ebenso für das öffentliche Leben gilt und darin modernisierende Impulse setzt, ist evident. Nicht zufällig tritt der Protestantismus in der Gesellschaftsgeschichte als Bildungsbewegung auf den Plan. Individuelle Verantwortung verlangt nach entwickelten, fundiert urteilenden und mutig entscheidenden Persönlichkeiten. Die Reformation realisiert den »notwendigen Zusammenhang von Bürgersinn und Schulbildung für die Vitalität einer couragierten Zivilgesellschaft«.8 Wie beflissen demgegenüber autokratische Systeme Bildung auf abrichtende Erziehung reduzier(t)en, muss nicht ausgeführt werden. Die reformatorische Akzentuierung von Bildung weckt Fragen an das Bildungswesen der Bundeswehr: Wird dieses den Anforderungen einer vernetzten Sicherheitsstrategie gerecht, die nicht tumbe »Kämpfer«, sondern reflektiert vorgehende, zu Empathie und Kritik fähige Fachleute benötigt? Und was geschieht mit der Persönlichkeit werdender Soldatinnen und Soldaten? Dass das Militär als Disziplinorganisation »den Körper und die Seele beeinfluss[t]«, um »ein militarisiertes und kriegstaugliches Ich« zu schaffen, scheint zwar plakativ vorgetragen, bleibt aber ernstzunehmende Mahnung von humanwissenschaftlicher Seite, gehe die zur militärischen Sozialisation gehörende »Persönlichkeitsumwandlung« doch mit Regression und Infantilisierung einher.9 7
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Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526). Hrsg. im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs von Angelika Dörfler-Dierken und Matthias Rogg, Delitzsch 2014, S. 69 f. Vgl. Christoph Matschie, Die Reformation war eine Bildungs-Bewegung, , letzter Zugriff 16.11.2018. Zitiert nach Serena Bilanceri, »Sexismus in zugespitzter Form«. Interview mit dem Sozialpsychologen Rolf Pohl, in: Frankfurter Rundschau vom 12.4.2017, , letzter Zugriff 16.11.2018.
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Zu bedenken bleibt, dass Soldaten harte Ausbildung, Professionalität, Disziplin und Gruppenidentität benötigen, um dem Gemeinwesen in gefährlichen Einsatzszenarien dienen zu können. Weniger »politisch korrekter« Führungsphilosophie zuliebe, vielmehr aus Rücksicht auf das diffizile Aufgabenspektrum der modernen Armee und die seelische Gesundheit der Dienenden ist gleichwohl auf die Pflege verantwortungsfähiger Individuen durch adäquate Bildungsarbeit größter Wert zu legen. Eine Kultur eigener Verantwortlichkeit fördert überdies die nachhaltige Aneignung von Verhaltensnormen. Sozial dienliche Verhaltensstandards stabilisieren sich intrinsisch, wohingegen eine Prägung durch Befehl und Repression sich bei Abwesenheit strafender Autorität ins ethische Vakuum verflüchtigt.10
Treu’ und Glauben Obwohl begrifflich fest in der christlich-theologischen Tradition etabliert, erweist sich »Glaubensgehorsam« als fragwürdige Zusammenstellung. Im Handeln nach Gottes Geboten folgt der Glaubende nämlich nicht einer sichtbar herrschenden Macht, sondern unterscheidet konkurrierende Ansprüche konträren Charakters. Bei Luther wie bei späteren Vertretern der reformatorischen Theologie wird die Kategorie »Entscheidung« maßgeblich für den »Gehorsam«.11 Die Gefolgschaft des Glaubens lebt aus eigenverantwortlicher Prüfung: »Was darf mich ganz beanspruchen?« Ganz beanspruchen darf aber einzig, was auch ganz macht (Eberhard Jüngel). Der springende Punkt dabei ist: Gott kann nicht nur »ganz machen«, sondern hat es im gekreuzigten Christus definitiv getan. Gott gegenüber kann ich mich im Glauben nicht opportunistisch verhalten, da über das Heil in Christus hinaus nichts zu »verdienen« übrig bleibt. Die von der in Christus geschenkten letztgültigen Rechtfertigung ausgehende Ethik fokussiert frei, was dem Nächsten nützt. Indem es sich unegoistisch dem Nächsten zuwendet, wird Handeln aus Glauben zur göttlichen Analogie. Die Folgsamkeit des Glaubens ist die in Treue und Freiheit gegebene Antwort auf ein vorheriges Handeln Gottes – nicht zufällig sind im Vokabular der biblischen Sprachen »Glaube«, »Vertrauen« und »Treue« bis zur Identität verwoben, während »Gehorsam« etymologisch davon absteht. Die Gebote binden nicht, weil sie förmlich allerhöchste Gebote sind, sondern weil eine unhinterschreitbare Treueerfahrung zwischen Gott und dem Menschen zugrunde liegt. Ihnen zu folgen, hat partnerschaftlichen Charakter. Nach reformatorischem Verständnis zielt Gott auf freie Menschen, die das Anliegen seiner Gebote zu ihrer eigenen Sache machen, nicht auf »Automaten seines Willens«.12 10
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Dies illustriert Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017, S. 254, plausibel an sexuellen Übergriffen, die aus hochkonservativ-repressiven Gemeinschaften stammende Flüchtlinge im öffentlichen Raum verübt haben. Vgl. Ulrich Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, S. 225. Vgl. Wolf Krötke, Karl Barth und der »Kommunismus«. Erfahrungen mit einer Theologie der Freiheit in der DDR, Zürich 2013, S. 78.
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In ihrer Partnerschaftlichkeit hebt die göttliche Autorität weltliche Macht als absolute Größe auf, humanisiert sie aber zugleich. Der Fürst wird – gerade im Zweifelsfall, bei dem Luther zur Gefolgschaft rät – vom »Herrn« zum »Nächsten«. Erst das souveräne Selbstverständnis der unwiderruflich anerkannten Person ermöglicht, im Träger weltlicher Autorität statt der Unperson den geliebten Mitmenschen wahrzunehmen.13 Du sollst, »wie die Liebe es tut, das Beste von deinem Herrn vermuten«.
Altdeutsches Herkommen Wie »innovativ« Luther in unserem Zusammenhang tatsächlich gewesen ist, harrt umfassender Erforschung. Ins Auge sticht jedenfalls, dass Luther in seinem Gewissensappell an den Einzelnen mittelalterlich-deutsche Tradition aufgreift und durch den Ausblick auf das Jüngste Gericht theologisch anreichert.14 Im »Sachsenspiegel«, der Rechtssammlung aus dem frühen 13. Jahrhundert, findet sich diese Passage, die Gefolgschaftstreue durch übergeordnetes Recht limitiert: »Der Mann muss wohl auch seinem König, wenn dieser Unrecht tut, widerstehen und sogar helfen, ihm zu wehren in jeder Weise, selbst wenn dieser sein Verwandter und Lehnsherr ist. Und damit verletzt er seine Treuepflicht nicht.«15 Bezeichnenderweise wurde dieser alte deutsche Rechtssatz durch den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in die öffentliche Debatte der noch jungen Bundesrepublik eingeführt. In den 1960er Jahren betrieb Bauer nahezu einzelkämpferisch die Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Er verfolgte die moralisch legitime wie inhaltlich instruktive Absicht, den unter NS-Schergen exerzierten Kadavergehorsam vom Nimbus der »deutschen Treue« zu entkleiden und eine von der nationalsozialistischen Ideologie emanzipierte Betrachtung deutscher Rechtsund Mentalitätsgeschichte zu eröffnen. Bauer sah das politische Handeln der ehedem »alles andere als gesetzesgläubig[en]« Deutschen durch die Inpflichtnahme des individuellen Gewissens bestimmt und durch die »Überzeugung, dass auch Gesetz und Befehl rechtswidrig und verbrecherisch sein könnten«, was in Spannung zum römischen Recht stehe.16 Solcherart in deutscher Tradition wurzelnd – obgleich im historisch gewucherten Bündnis von Thron und Altar domestiziert –,17 zeugt Luther gegen jene nationalkonservative Fraktion des Luthertums im 19. und 20. Jahrhundert, die unbedingtem Untertanengehorsam das Wort redete und den Auftrag des Staates, 13 14
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Vgl. Jüngel, Evangelium (wie Anm. 2), S. 230. Im reformatorischen Duktus verkörpert das Jüngste Gericht keinen drohenden Strafgott, der lediglich Apotheose »diesseitiger« Lohn-Strafe-Logik wäre, sondern das Offenbarwerden der Versöhnungstat Christi, die im Kreuz das Gericht als »fröhlichen Wechsel und Streit« endgültig vollzogen hat. Der Gerichtsbezug schüchtert den Glaubenden somit nicht ein, stärkt ihn vielmehr zu selbstbewusstem »irdischem« Gehen. Zitiert nach Fritz Bauer, Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns (1962), Hamburg 2016, S. 41. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 42.
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vorläufig für Frieden zu sorgen, totalitär entgrenzte. Danach konnte der Staat niemals mit Rechtsgarantien »gegen den Missbrauch der Entscheidungsgewalt durch die Regierenden« beschränkt werden, stehe er doch »nicht unter dem Recht, sondern über dem Recht, das ihm Mittel zu einem Ziele ist«.18
Antitotalitäre Stoßrichtung Für Luther wird Widerstand dann zur Pflicht, wenn weltliche Macht das Gewissen eines Abhängigen zwingt; ebenso dann, wenn die Predigt des Evangeliums gehindert wird. Ohne der Gefahr des Anachronismus zu erliegen, lässt sich Luthers Haltung zur Staatsmacht näher bei der Bekennenden Kirche der NS-Zeit und insbesondere deren Mentor, dem aus der Schweiz stammenden Reformierten Karl Barth, verorten als bei solchen Protestanten, die – wie eben gesehen – totalitäre Tendenzen regelrecht befeuerten. Obrigkeitliche Interessen dürfen nach Luther nie so exzessiv durchgesetzt werden, dass sie basale Lebenskontexte vergewaltigen. Der Staat ist Gottes Diener, den Menschen zu Gute – und darin begrenzt (Römer 13,4). Wenn Kaiser Wilhelm II., nominell Bischof der preußischen Landeskirche, anlässlich einer Rekrutenvereidigung seinen Soldaten auferlegte, im Fall innerer Unruhen die eigenen Eltern niederzuschießen, oder wenn – komplementär dazu – der deutschnationale Pfarrer Emanuel Hirsch während des Ersten Weltkriegs einer Soldatenmutter das persönliche Gebet für ihren im Feld stehenden Sohn abschlug, um sein Gemeindeglied in die kollektive Opferbereitschaft der Nation hineinzuzwingen, markierte dies den politischen Irrgang eines Protestantismus, der weltliche Macht nicht mehr funktional der vorläufigen Friedensordnung des »Diesseits« unterzuordnen wusste. Ein norwegischer Offizier diagnostizierte seinerzeit, die deutsche Monarchie fordere »die Seele« ihrer Untertanen. Genau das war aber, was Luthers Zwei-Reiche-Lehre unterbinden wollte.19 Christlicher Glaube, so folgt aus reformatorischen Grundannahmen, enthält konstitutiv eine antitotalitäre Stoßrichtung. »Soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann«: Mit diesem Zusatz wollte Barth als Bonner Hochschullehrer im Spätjahr 1934 den Beamteneid auf den »Führer« leisten; seinem nunmehr »deutsch-christlichen« Widerpart Hirsch, der als Berater des braun-protestantischen »Reichsbischofs« sofort intervenierte, war klar, dass Barth damit die geforderte Eidesverpflichtung nicht beschränken, sondern umfassend negieren würde. In Eigenverantwortung erwogene, bedingte Gefolgschaft entzieht totaler Herrschaft die Basis; nichts hat sich daran geändert.20 18
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Vgl. Emanuel Hirsch, Christliche Rechenschaft, Bd 2, Neuausg. besorgt von Hans Hirsch, Tübingen 1989, S. 283 f. Vgl. Sven Lange, Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, Bremen 2003, S. 78; Emanuel Hirsch, Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums (1936), Tübingen 1986, S. 41 f. Vgl. Heinrich Assel, Grundlose Souveränität und göttliche Freiheit. Karl Barths Rechtsethik im Konflikt mit Emanuel Hirschs Souveränitätslehre. In: Karl Barth in Deutschland (1921-1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand. Hrsg. von Michael Beintker [u.a.], Zürich 2005, S. 205-222, S. 219; Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986, S. 229.
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Ist Gehorsam eine Tugend?
Nüchternheit Die Gelöbnisformel der Bundeswehr setzt die Treue an die traditionelle Stelle des Soldatengehorsams. Der treu Dienende macht sich selbst für das Wohlergehen der Gemeinschaft verantwortlich. Echte Loyalität dieser Art erfordert inneren Abstand und kritische Nüchternheit. Das kontrastiert radikal die Führungspraxis der Wehrmacht, die auf den Massengebrauch von Drogen als Gehorsamsgaranten setzte, um bei Soldaten den Intellekt zu hemmen und Kritikfähigkeit herabzusetzen.21 Mein Vater berichtete von seiner Vereidigung auf den »Führer« im Januar 1945, anlässlich derer den damals 17-Jährigen je zu dritt eine Flasche Schnaps ausgegeben wurde. Vorübergehend hob der ungewohnte Rausch angesichts der zur Gehorsamserzwingung angedrohten Strafen die Laune. Schlichte Nüchternheit spiegelt das demokratisch-rationale Staatsverständnis ästhetisch und setzt darüber hinaus den Scheidepunkt von Treue und Gehorsam. Pathetische Repräsentation kennzeichnet Diktaturen, die sich ihre Untertanen sinnenfällig unterwerfen; das garstige Wort »Gehorsamsliturgie« umschließt den entmündigenden Zweck solchen emotionalen Spektakels sowie die Religionsfunktionären darin zugedachte Rolle.22 Eine der Demokratie assoziierte Armee wird hingegen alle Überwältigungsversuche meiden. Wo Begründungen der Nachfrage standhalten, bedarf es keiner Rauschmittel. Barth, der in den 1950er Jahren der verteufelnden Agitation gegen den »Osten« widersprach, doch zugleich die westlich-rechtsstaatliche Konstitution mit theologischen Argumenten bejahte, hat strukturell Anteil an der die Führungsdoktrin der Bundeswehr bestimmenden nüchternen Verantwortungsethik. Er nannte es unvertretbar, die Verantwortung für kriegerisches Handeln auf die »Obrigkeit« oder ein anonymes Kollektiv abzuschieben, »auf das Vaterland, das ruft, auf das Volk, das aufsteht, auf den Staat, der befiehlt. Jeder Einzelne ist selbst das Vaterland, das Volk, der Staat, Kriegführender: er handelt, wenn Krieg geführt wird, und er ist gefragt, ob das zu Recht oder zu Unrecht geschehe.«23
Checks & Balances Treue erwächst aus einer Begegnung, die zwanglos Dankbarkeit generiert. Gehorsam entfließt der Überwältigung durch Macht. Dass Infantilismus, Flucht aus Verantwortung und fehlende Nachhaltigkeit ethischer Prägungen letztlich jedes von Befehl, Gehorsam und Strafe bestimmte Gemeinschaftsmodell belasten, liegt offen zutage. Eine Gesellschaft, die von militärisch Dienenden treuen Dienst erwartet, muss folglich im Dienstalltag Sorge tragen für den Schutz des Einzelnen gegen Überwältigung. Individuelle Mitverantwortung und hierarchische Struktur 21
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Vgl. Norman Ohler, Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich, Köln 2015, S. 262 und passim. Vgl. Ilija Trojanow, Macht und Widerstand. Roman, Frankfurt a.M. 2015, S. 132. Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd III/4: Das Gebot Gottes des Schöpfers, Zürich 1951, S. 516. Dazu Krötke, Karl Barth (wie Anm. 12), S. 41.
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stehen in natürlichem Antagonismus; nur wo dies eingeräumt wird, kann dem Militärischen ein System von Checks & Balances zuwachsen, das den Einzelnen einlädt, auf Basis demokratischer Partizipation zu dienen. Dazu gehören offene Debatten über Einsatzgründe und -ziele sowie die ehrliche Bilanzierung geleisteter Einsätze. So erst wird die nach außen verteidigte Grundordnung auch im Innern der Armee real. Die im Militärseelsorgevertrag von 1957 definierte Unabhängigkeit der Militärgeistlichen ist dazu ein Baustein. Wenn demgegenüber ein Stabsoffizier die Ansicht vertritt, die einst als Garant gegen »totalitären Ungeist« erwünschte Autonomie der Militärseelsorge sei der gefestigten und bewährten Führungskultur der Bundeswehr wegen heute »nicht mehr nach[zu]vollziehen«, ist Widerspruch geboten. Als erfahrener Seelsorger in der Truppe kenne ich aus eigenem Erleben sowie aus Berichten im Kollegenkreis genügend Beispiele versuchter Übergriffe, um die einschlägige Rechtskonstruktion in ihrer Schutzwürdigkeit sehr hoch zu bewerten.24 Angehörige helfender Berufe finden sich innerhalb des hierarchischen Systems Militär leicht im Loyalitätsdilemma wieder. Dabei ist ein der Demokratie assoziiertes militärisches Gefüge notwendig darauf angewiesen, gerade ihre Unabhängigkeit zu garantieren, also die reale Möglichkeit der Ärzte, Psychologen und auch Militärpfarrer25 zu wahren, frei vom Druck militärischer Interessen mit den ihnen anvertrauten Menschen umzugehen. In seinem kürzlich neu verlegten Stalingrad-Roman lässt Heinrich Gerlach einen jungen Truppenarzt die Doppelrolle als Offizier und professioneller Helfer durchleiden: »Darf ich denn noch Arzt sein? Selbst wenn ich noch wollte und könnte, ich darf es ja nicht mehr [...] Vor einigen Tagen war der Korpsarzt hier, hat einen furchtbaren Krach gemacht [...] Wir müssten hart sein, rücksichtslos ... Wir sollten nicht vergessen, dass wir in erster Linie Offiziere seien, die Belange der Führung im Auge behalten müssten.«26 Selbstverständlich liegt dieser Splitter des niedergehenden »Dritten Reiches« von den Realitäten der Bundeswehr weltenweit entfernt. Auf weniger drastische Weise habe ich gleichwohl bei in die Hierarchie der Armee inkorporierten »Helfern« Unbehagen am inneren Zwiespalt wahrgenommen. Das reformatorische Kirchenverständnis ist geeignet, militärische Führungskultur konstruktiv herauszufordern. Nach protestantischer Überzeugung bestehen in der Gemeinde zwar Unterschiede nach Qualifikation und Befugnis, jedoch nicht des »Ranges« im Sinne wertender Abstufung; verschiedene Ämter »begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes«, wie es die »Barmer Theologische Erklärung« als Manifest der Bekennenden Kirche festhält. Dies korrespondiert mit der humanwissenschaftlichen Einsicht, dass »alles Streben
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Vgl. Bernd Presse, Militärseelsorge für Muslime in der Diskussion. In: if. Zeitschrift für Innere Führung, 2/2017, S. 55-59, hier S. 56. Zur realen Stellung der Militärgeistlichen vgl. Klaus Beckmann, Damit »autoritär« nicht »totalitär« wird. Thesen vom 9. November 2013 zu Militär und Seelsorge. In: Pfälzisches Pfarrerblatt, 103 (2013), S. 464-467. Heinrich Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad 1944. Roman. Hrsg. und mit einem Nachw. und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel, Berlin 2016, S. 246 f.
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nach wirklicher Demokratie« scheitern muss, wo nicht »die einseitige Anordnung durch gegenseitige Aussprache, ein Oben und Unten durch ein Wir« ersetzt ist.27 Das Schlusswort dieses das Thema keineswegs erschöpfenden Beitrags soll Fritz Bauer gehören. Eingedenk des jederzeit möglichen »Absturzes« eines Gemeinwesens mahnt der streitbare Jurist: »Der große Widerstand im Unrechtsstaat bleibt nur möglich, wenn der kleine Widerstand gegen das Unrecht im staatlichen Alltag geübt und wie eine kostbare Pflanze gehegt und gepflegt wird.«28
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Vgl. Bauer, Die Wurzeln (wie Anm. 15), S. 119. Zitiert nach Dittmann, Widerstandsrecht (wie Anm. 6).
Zweiter Teil Sicherung der Reformation durch Krieg
Astrid von Schlachta
»Du sollst nicht töten!« Täuferische Wehrlosigkeit als Lebenshaltung in der Reformationszeit Nickel Mines, Pennsylvania, Anfang Oktober 2006: Ein bewaffneter Mann dringt in eine kleine Amisch-Schule ein, kidnappt die Kinder, erschießt fünf von ihnen und richtet die Waffe dann gegen sich selbst. Die Ereignisse waren dramatisch und traurig; die Welt fühlte mit den betroffenen Amisch-Familien. Die kleine täuferische Gemeinschaft rückte in das Licht der Öffentlichkeit, obwohl das ihrem Lebensstil als immer noch weitgehend abgesonderte und von vielen Innovationen der Moderne und Einflüssen der Gesellschaft unberührte Gemeinschaft so gar nicht entsprach. Doch umso interessanter war, was die Öffentlichkeit von der Reaktion der Amisch-Familien mitbekam: Hass und Vergeltungssucht schienen ihnen fern zu sein. Vielmehr gingen sie auf die Familie des Täters zu und streckten die Hand zur Versöhnung aus. Sie gründeten sogar einen Unterstützungsfonds für die nach dem Tod des Mannes mit drei Kindern zurückgebliebene Frau des Attentäters. Ein Blogger feierte die Reaktion als »the Power of pacifism«.1 Diese Begebenheit führt eindrücklich vor Augen, was es heißt, Wehrlosigkeit als Lebenshaltung zu praktizieren. Was die Amischen nach außen transportierten, war eine Feindes- und Nächstenliebe, die nicht nach Vergeltung rief, sondern die Bereitschaft zeigte, auf Rache zu verzichten und Gewalt nicht mit Gewalt zu beantworten, auch nicht mit verbaler Gewalt. Man übte Vergebung und Nächstenliebe in einer Grenzsituation. In einer ganz ähnlichen Lage befanden sich die Vorfahren der Amischen, die frühneuzeitlichen Täufer, die im 16. Jahrhundert schon einmal für sich durchbuchstabieren mussten, was es heißt, Gewalt nicht mit Gewalt zu beantworten.
Die Vielfalt der Täufer und der Begriff der Wehrlosigkeit Im Evangelium nach Matthäus (5,21) heißt es kurz und knapp: »Du sollst nicht töten.« Eine Handlungsanleitung und unmissverständliche Botschaft für alle Christen, klar und deutlich formuliert. Doch ganz so einfach war es nicht, weder 1
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Astrid von Schlachta
im 16. Jahrhundert noch in späteren Jahrhunderten, mit der Umsetzung dieses Gebots Jesu an seine Nachfolger. Nicht ganz so einfach verhält es sich auch mit den Begrifflichkeiten: Heutzutage sind die Nachfolger der Täufer des 16. Jahrhunderts – die Mennoniten, die Amisch und die Hutterer – gemeinhin als Friedenskirchen bekannt. Ihre Wehrlosigkeit wird, wie im erwähnten Fall von Nickel Mines, meist als Pazifismus bezeichnet. Oft wird diese Klassifizierung auch sehr schnell auf die historische Situation übertragen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass der Begriff »Pazifismus« erst aus dem frühen 20. Jahrhundert stammt. Es ist anachronistisch, ihn auf die frühneuzeitlichen Täufer zu übertragen. Seine ideelle Einbettung hatte der Pazifismus in der zwischenstaatlichen Konfliktregelung, als es das Ziel der im Zuge des Ersten Weltkriegs sich formierenden Friedensbewegung war, die Beziehungen der Staaten auf eine von Friedensmaßnahmen geprägte Konfliktlösung auszurichten.2 Wenn auch manche Motivation pazifistisch ausgerichteter Akteure im christlichen Weltbild verankert sein mag, so unterscheidet sich die täuferische Wehrlosigkeit der Frühen Neuzeit grundsätzlich von der auf den politischen Bereich fokussierten Friedensarbeit moderner Prägung. Denn letztendlich sahen die Täufer des 16. Jahrhunderts Existenzmöglichkeiten nur in einer möglichst scharfen Absonderung von der »Welt«. Über die Beziehungen von Staaten und politischen Akteuren, über gewaltfreie Konfliktlösungen in Politik und Gesellschaft oder um die Befriedung von Auseinandersetzungen machten sich die meisten Täufer deshalb kaum Gedanken. Es gilt viele Faktoren zu berücksichtigen, wenn man die Frage der Wehrlosigkeit der Täufer im 16. Jahrhundert untersuchen möchte.3 Denn Wehrlosigkeit hieß nicht einfach nur, Kriegsdienst abzulehnen. Dahinter stand ein komplexes Denkgebäude biblisch legitimierter, an christlich-täuferischen Normen ausgerichteter Lebensführung, dem eine umfassende Gesellschaftsanalyse und eine mit biblischen Texten untermauerte Beweisführung zugrunde lag. Die Frage nach Gewalt, Krieg und Wehrlosigkeit muss eingebettet werden in den täuferischen Blick auf die »Welt« an sich, auf die Beziehungen zur und in die Gesellschaft sowie auf die Rolle der Obrigkeiten. Sie betrifft die täuferischen Ideen vom christlichen Leben ganz allgemein. Die Wehrlosigkeit eröffnet ein komplexes Feld theologischer und lebenspraktischer Probleme, das überspannt wurde von der Absonderung von der »Welt« und der strikten Abgrenzung der »Gemeindepolitik« gegenüber allen Einflüssen der Obrigkeit, sei sie territorial oder staatlich, ländlich oder städtisch. Die Entscheidung, ein Leben in Wehrlosigkeit zu führen, bedeutete nicht nur, sich zur Frage zu positionieren, ob man selbst Gewalt ausübt, sondern auch dazu,
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Vgl. als Überblick aus dieser Zeit Ludwig Quidde, Die Geschichte des Pazifismus, Berlin 1922. Vgl. generell James M. Stayer, Anabaptists and the Sword, 2. ed., Lawrence, KN 1976; HansJürgen Goertz, Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen, Göttingen 2007 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 93); Astrid von Schlachta, Gefahr oder Segen. Die Täufer in der politischen Kommunikation, Göttingen 2009 (= Schriften zur politischen Kommunikation, 5); Franklin H. Littell, Das Selbstverständnis der Täufer, Kassel 1966; Hans J. Hillerbrand, Die politische Ethik des oberdeutschen Täufertums. Eine Untersuchung zur Religions- und Geistesgeschichte des Reformationszeitalters, Leiden, Köln 1962 (= Beihefte der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 7).
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ob man mit Gewalt auf Gewalt reagiert. Wollte man also in Gegenwehr gehen oder stillhalten und Gewalt erdulden, wie es in Matthäus 5,39-40 heißt: »Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.«4 Allerdings bildeten die Täufer keineswegs eine homogene Gesellschaft. Und so lässt sich nur schwer die täuferische Sicht auf die Gesellschaft und die Form täuferischer Wehrlosigkeit ausmachen. Ein zentrales Element des täuferischen Glaubens war jedoch die namensgebende Erwachsenen- oder Glaubenstaufe, deren Funktion der hutterische Täufer Peter Riedemann so beschrieb: »Gottes Erkenntnis kommt aus gehörtem Wort des Evangeliums. Darum lehren wir, dass man die, so das Wort gehöret, demselben geglaubt und Gott erkannt haben, taufen solle und nicht die Kinder.«5 Zudem predigten die Täufer, dass ein Christ keinen Eid leisten, keine Steuern für Kriege zahlen und sich von der Gesellschaft absondern sollte. Am markantesten zeigte sich diese abgesonderte Lebensweise bei den Hutterern, die auf ihren Höfen in Südmähren die Gütergemeinschaft praktizierten, eine weitgehend autarke Wirtschaftsweise etablierten und so auch räumlich eine eigene Einheit in den Dörfern bildeten. Vor allem die »politischen« Artikel ihres Glaubens, das heißt die Wehrlosigkeit, das Fernhalten vom politischen Handeln und die Eidesverweigerung sorgten für eine sehr rasche, sehr harte Verfolgung aller Täufer. Diese Entwicklung ließ die Gewaltfrage für die Täufer in einer Grenzsituation wichtig werden. Täuferische Vielfalt drückte sich vor allem in der Anfangszeit in einem Spektrum aus, das von apokalyptisch ausgerichteten Gruppen, die mit Gewalt und Schwert Städte erobern wollten, um das Neue Jerusalem aufzurichten, bis hin zu Täufern reichte, die sich an einer wehrlosen und abgesonderten, aber stets obrigkeitstreuen Lebensweise orientierten. Täufer, die nur langsam ihr gewaltbereites Erbe des Bauernkriegs aufgaben, standen Täufern gegenüber, die vermutlich schon im 16. Jahrhundert eher »still im Land« waren, mit den Nachbarn gut auskamen und in den Quellen gar nicht auftauchen.6 Bekannte Beispiele für täuferische Gruppen, die zur Waffe griffen, um eine täuferisch-theokratische Herrschaft aufzurichten, sind jene in Erfurt (1527) und Münster (1534/35). Deshalb wird die Darstellung täuferischer Wehrlosigkeit immer durch diese Geschichten gebrochen.7
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Zitiert nach: Luther-Bibel, Ausgabe 2017. Peter Riedemann, Rechenschaft unsrer Religion, Lehre und Glaubens. Von den Brüdern, die man die Huterischen nennt, Falher, Alb. 1988, S. 72. Vgl. generell Hans-Jürgen Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung, 2. Aufl., München 1988; C. Arnold Snyder, Anabaptist History and Theology. An Introduction, Kitchener, ON 1995; George Hunston Williams, The Radical Reformation, 3. ed., Kirksville, MO 1992. Ralf Klötzer, Die Täuferherrschaft von Münster. Stadtreformation und Welterneuerung, Münster 1992 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 131); von Schlachta, Gefahr oder Segen (wie Anm. 3), bes. S. 81-117; Claus Bernet, »Gebaute Apokalypse«. Die Utopie des himmlischen Jerusalem in der Frühen Neuzeit, Mainz 2007 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung für abendländische Religionsgeschichte,
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Der gemeinsame Name für alle täuferischen Gruppen und ihre Vielfalt war im 16. Jahrhundert »Wiedertäufer«, ein von ihrer Umwelt gegebener pejorativer Begriff.8 Unter diesen gemeinsamen Namen müssen so unterschiedliche Gruppen und Gemeinden gezählt werden wie die Schweizer Brüder, die Hutterer, die Melchioriten, die Mennoniten und viele einzelne Gemeinden. Täufer lebten unter anderem in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland, in der Eidgenossenschaft, aber auch in der Kurpfalz, in Bayern, Hessen, Thüringen, in Württemberg sowie in allen Teilen der habsburgischen Länder. Wichtige Persönlichkeiten waren der friesische Täufer Menno Simons, nach dem später die »Mennoniten« ihren Namen erhielten, sowie der Tiroler Täufer Jakob Huter, auf den sich die gütergemeinschaftlich lebenden Hutterer zurückführen, und der durch seine täuferische Reformation in Nikolsburg bekannte Balthasar Hubmaier, von dem viele Schriften überliefert sind. Auch der ebenfalls aus Tirol stammende Pilgram Marpeck, der nach seiner Vertreibung aus Tirol in Augsburg wirkte, muss als wichtiger Denker und Theologe unter den Täufern des 16. Jahrhunderts erwähnt werden, ebenso wie der von apokalyptischen Ideen geleitete Melchior Hofmann.9
Wehrlosigkeit als Lebenshaltung »Mit Gewalt verfahren und herrschen ist gar keinem Christen erlaubt, der sich seines Herrn rühmen will.« So heißt es in der Schrift »Von der wahren Liebe« des Täufers Hans Denck aus dem Jahr 1527. Und es geht weiter: »Nicht, dass die Gewalt in sich selbst unrecht sei – mit Blick auf die böse Welt – denn sie dient Gott zu seiner Rache. Aber die Liebe lehrt alle ihre Kinder noch ein Besseres [...], nämlich jedermann zur Besserung [zu] dienen. Wer aber ein Hausvater ist, der handele mit Weib und Kind, Knecht und Magd, wie er will, dass Gott mit ihm handelt [...] Und sofern es einer Obrigkeit möglich wäre, auch so zu handeln, so könnte sie wohl auch geistlich in ihrem Stand sein. Dieweil es aber seit je die Welt nicht leiden kann, so soll und kann
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215); Astrid von Schlachta, Die Täufer in Thüringen. Von wehrhaften Anfängen zur wehrlosen Gelassenheit, Jena 2017 (= Beiträge zur Reformationsgeschichte in Thüringen, 10). Vgl. zur Rezeption der Täufer durch die Obrigkeiten: Astrid von Schlachta, Der Reichsabschied von Speyer 1529. Von den Schwierigkeiten antitäuferische Normen durchzusetzen. In: Kirche und Politik am Oberrhein im 16. Jahrhundert. Hrsg. von Ulrich A. Wien und Volker Leppin, Tübingen 2015 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 89), S. 415-432; Eike Wolgast, Stellung der Obrigkeit zum Täufertum und Obrigkeitsverständnis der Täufer in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Radikalität und Dissent im 16. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Jürgen Goertz und James M. Stayer, Berlin 2002 (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 27), S. 89-120; Horst W. Schraepler, Die rechtliche Behandlung der Täufer in der deutschen Schweiz, Südwestdeutschland und Hessen 1525-1618, Tübingen 1957 (= Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte, 4). Generell: Goertz, Die Täufer (wie Anm. 6); Radikale Reformatoren. 21 biographische Skizzen von Thomas Müntzer bis Paracelsus. Hrsg. von Hans-Jürgen Goertz, München 1978.
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ein Freund Gottes nicht in die Obrigkeit, sondern [muss] draußen wachsen, will er Christum für einen Herrn oder Meister halten.«10 Denck beschäftigt sich in seiner Schrift mit der Frage, inwieweit ein Christ sich politisch-gesellschaftlich engagieren kann und darf. Seiner Auffassung nach sind diesem Engagement sehr rasch Grenzen gesetzt, wenn ein Christ seinem Gewissen verpflichtet bleiben möchte. Denn ein Christ könne dort nicht Christ sein, wo mit Gewalt verfahren und mit Gewalt geherrscht wird. Und damit ist für ihn der politische Bereich tabu. Schließlich sei es die Grundeinstellung politischer Führung, Gewalt als Handlungsoption zu ihrer Verfügung zu halten. Wie viele andere Täufer seiner Zeit war Hans Denck davon überzeugt, dass eine obrigkeitliche Institution nie »geistlich« sein könne, und deshalb könne ein täuferisch glaubender Christ nie Teil der Obrigkeit sein, also nie ein obrigkeitliches Amt übernehmen. Dencks Argumentation zufolge würde es die »Welt« nie dulden, wenn die Obrigkeit »christlich« herrsche, und deshalb könne es für die Obrigkeit auch nie opportun sein, ihr Handeln an christlichen Normen auszurichten. Es ist ein sehr dualistisches Weltbild, das Denck vertritt, ein Weltbild, das der Gesellschaft in ihrer ganzen Breite und Tiefe nicht zubilligt, friedfertig und versöhnlich miteinander zu leben. Es gehörte zu den Grundüberzeugungen vieler Täufer des 16. Jahrhunderts, dass die »Welt«, also jene die Täufer umgebende Gesellschaft, nie den Normen würde genügen können, die die Täufer an ein christliches Leben anlegten. Wie definiert man nun die eigene Rolle in der Gesellschaft, wenn diese sich so diametral von den eigenen Denkmustern unterscheidet? Die Frage nach Aktion und Reaktion stellte sich zunächst im persönlichen Bereich: Was sollten wehrlos lebende Täuferinnen und Täufer tun, wenn der eigene Hof überfallen wurde? Was, wenn die Häscher der Landesfürsten sie als Glaubensflüchtlinge verfolgten und gefangen nahmen? Und welche Gegenstände führten Täufer auf der Reise bei sich, angesichts der Tatsache, dass das Reisen in der Frühen Neuzeit gefährlich und es eigentlich üblich war, sich zu bewaffnen, um bei Überfällen von Räubern gewappnet zu sein? Die Antworten hätten der täuferischen Norm entsprechend einfach sein können, wenn Wehrlosigkeit Lebenshaltung war. Also wäre es nicht opportun gewesen, in irgendeiner Form Widerstand zu leisten – ganz im Gegenteil. Verlangten die den Hof überfallenden marodierenden Truppen drei Stück Vieh, so hätte man ihnen drei weitere Stück Vieh dazu geben sollen. In der Konfrontation mit Räubern, die Reisenden auflauerten, wäre es darauf angekommen, jeden Konflikt im Ansatz zu vermeiden. Und als Gefangener hätte man sich wegführen lassen müssen wie ein Lamm zur Schlachtbank, um ein gängiges Bild aus dem alttestamentlichen Buch Jesaja (53,7) zu verwenden. Von Hans Denck sind entsprechende Worte überliefert. Denck habe gelehrt, so erzählt der fränkische Täufer Martin Weischenfelder im Verhör, man solle zwei Pfennige geben, wenn jemand einen Pfennig fordere, und auch die andere Backe hinhalten, wenn man auf die eine geschlagen werde.11 Tatsächlich blickt die täuferische Bewegung auf viele Märtyrer zurück, die ihren Glauben bis in die letzten Momente standhaft verteidigten und wehrlos 10
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Hans Denck, Von der wahren Liebe, Worms 1527. In: Hans Denck, Vom Gesetz und von der Liebe, Weisenheim am Berg 2007 (= Täufer Texte, 1), S. 80 f. Vgl. Paul Wappler, Die Täuferbewegung in Thüringen von 1526 bis 1584, Jena 1913 (= Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens, 2), S. 243.
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litten.12 Doch die Quellen verweisen auf ein noch wesentlich bunteres Bild an Reaktionen; Norm und Praxis konnten im Notfall, wenn das eigene Leben auf dem Spiel stand, auch für Täufer zwei verschiedene Dinge sein. Vielleicht waren selbst die täuferischen Führergestalten nicht ganz so eindeutig in manchen Aspekten der Lebensführung, wie eine Passage aus einer Quelle zu Jakob Huter, dem Namensgeber der Hutterer, nahe legen könnte. Über ihn heißt es in den Quellen, er habe ein »hackl« am Arm getragen; in manchen Quellen ist sogar von einer »püchsen« die Rede. Die täuferische Geschichtsschreibung debattierte über die Interpretation dieser Passagen.13 Handelte es sich nur um Polemik seiner Gegner, um den täuferischen Prediger in seiner Wehrlosigkeit zu diffamieren? Oder hatte Huter sich auf seinen zahlreichen Reisen wirklich bewaffnet, um das eigene Leben zu schützen? Wie auch immer es tatsächlich war – in diesem Fall bleiben die Quellen die Antwort schuldig. Etwas eindeutiger ist dagegen die Beschreibung einiger Täufer in Sachsen. Über sie heißt es, sie trügen »Stäblein« in ihren Händen; sonst hatten sie keine Verteidigungsmittel bei sich.14 Hebt man die Wehrlosigkeit auf die nächsthöhere gesellschaftliche Ebene, so ist der Blick auf jene Fragen zu richten, die Hans Denck ansprach. Wie ordneten die Täufer die zeitgenössische Gesellschaft und das Wirken der politischen Entscheidungsträger in ihr Weltbild ein? Wie definierte man die eigene Stellung zu einer Obrigkeit, die ihre Macht so rigoros durchsetzte, dass sie Andersgläubige verfolgte? Welche Legitimation sprach man ihr zu? Wenn die Obrigkeit Krieg führte, strafte und Todesstrafen exekutierte – in hutterischen Worten »schnurschlecht das Gegenteil« von dem, was das Neue Testament forderte –, wie wollte man das bewerten?15 Hier ging es nicht nur darum, wie eingangs am Zitat von Hans Denck diskutiert, ob ein Christ ein Amt in der Obrigkeit übernehmen darf, sondern im Extremfall betrafen diese Fragen ein mögliches Recht auf Widerstand. Die Täufer haben sich dazu sehr viele Gedanken gemacht, die zu einem nicht unwesentlichen Teil ihrer Theologie wurden. Die Antworten fielen nicht alle im Sinne Dencks aus. Doch sprachen die Täufer der Obrigkeit ihre Legitimation nicht grundsätzlich ab, ganz im Gegenteil. Ihre Theologie war ambivalent und ließ verschiedene Auslegungen zu, auch jene, die Täufer würden die Obrigkeit nicht anerkennen. Die Ambivalenz bestand darin, die Obrigkeit einerseits auf christlich-täuferische Maßstäbe festzulegen, und andererseits die offenkundige Unzulänglichkeit 12
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Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004 (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, 35); Brad S. Gregory, Salvation at the Stake. Christian Martyrdom in Early Modern Europe, Cambridge, London 1999 (= Harvard Historical Studies, 134); Astrid von Schlachta, »Die Sach, darumb man leydet, machet einen Märtyrer«. Täuferische Identität und Märtyrertum in der Frühen Neuzeit. In: Opfer – Helden – Märtyrer. Das Martyrium als religionspolitische Herausforderung. Hrsg. von Józef Niewiadomski und Roman A. Siebenrock, Innsbruck, Wien 2011 (= Innsbrucker theologische Studien, 83), S. 51-63. Werner O. Packull, Die Hutterer in Tirol. Frühes Täufertum in der Schweiz, Tirol und Mähren, Innsbruck 2000 (= Schlern-Schriften, 312), S. 198 f. Paul Wappler, Die Stellung Kursachsens und des Landgrafen Philipp von Hessen zur Täuferbewegung, Münster 1910 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Heft 13 und 14), S. 140. Das große Geschichtbuch der Hutterischen Brüder. Hrsg. von den Hutterischen Brüdern in Amerika, Canada, durch Rudolf Wolkan, Falher, Alb. 1990, S. 233.
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der Obrigkeiten zu beobachten, jemals diesen Maßstäben genügen zu können. Deshalb konnte der täuferische Glauben bis ins 18. Jahrhundert in der öffentlichen Debatte mit Rebellion und Aufruhr zusammengebracht werden.16
Du sollst nicht töten ... Im Folgenden soll die täuferische Wehrlosigkeit in ihrer vielfältigen Interpretation anhand verschiedener Beispiele dargestellt werden, zunächst anhand von zwei Texten, einem von Michael Sattler und einem von den Hutterern aus Mähren. In beiden Stellungnahmen wird die Wehrlosigkeit zur alles bestimmenden Lebenshaltung für Christen erklärt. 1527 versuchte der ehemalige Benediktinermönch und nunmehrige Täufer Sattler der recht diversen und heterogenen täuferischen Bewegung Normen vorzugeben. Er schrieb sie im »Bekenntnis von Schleitheim« nieder, das sich in einem Punkt auch der Wehrlosigkeit widmet: »Das Schwert ist eine Gottesordnung außerhalb der Vollkommenheit Christi.« Zwar habe eine politische Macht das Recht, das Schwert zu benützen, um die Bösen zu strafen und die Guten zu beschützen, doch reiche diese Macht nicht in das Reich Christi hinein. In der christlich-täuferischen Gemeinde oder, wie es in den »Artikeln von Schleitheim« heißt, »in der Vollkommenheit Christi« würden andere Maßnahmen zur Konfliktregelung ergriffen. Hier werde »der Bann gebraucht allein zur Mahnung und Ausschließung dessen, der gesündigt hat, nicht durch Tötung des Fleisches, sondern allein durch die Mahnung und [den] Befehl nicht mehr zu sündigen«.17 Betreffen diese Aussagen weitgehend die Art der Rechtsprechung, also den Umgang mit Konflikten und Straffälligkeit, so geht es wenig später auch um den Gebrauch des Schwertes als Mittel der Herrschaftsausübung. Unter Bezug auf zwei Verse aus dem Matthäus-Evangelium (Kap. 16, Vers 24 f.) verweist Sattler darauf, dass Jesus Christus seine Jünger gelehrt habe, Nachfolge heiße, das Kreuz auf sich zu nehmen. Weltliche Fürsten würden herrschen, die Jünger Jesu dagegen nicht. Somit könne ein Christ, so die gleiche Schlussfolgerung wie bei Hans Denck, auch nicht Mitglied einer weltlichen Obrigkeit sein, da diese immer mit dem Schwert herrschen würde, mit »Waffen des Streits und Kriegs«. Christen seien dagegen gewappnet mit »Wahrheit, Gerechtigkeit, Friede, Glaube, Heil und mit dem Wort Gottes.«18 Noch etwas detaillierter und theologisch ausgefeilter behandelt ein etwas späterer Text aus der Tradition der Hutterischen Gemeinde die Frage der Wehrlosigkeit. Die »Fünf Artikel« genannte Schrift stammt aus den 1540er Jahren, als die Hutterer in Mähren allmählich in eine Phase des wirtschaftlich erfolgreichen und 16
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von Schlachta, Gefahr oder Segen? (wie Anm. 3), S. 81-117; Astrid von Schlachta, Erzählungen von Devianz. Die wiedertauffer zwischen interner Absonderung und äußerer Exklusion. In: Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter. Hrsg. von Eric Piltz und Gerd Schwerhoff, Berlin 2015 (= Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 51), S. 311-332; Schraepler, Die rechtliche Behandlung (wie Anm. 8). Das Schleitheimer Bekenntnis 1527. Hrsg. von Urs B. Leu und Christian Scheidegger, Zug 2004, S. 69. Ebd., S. 70.
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Astrid von Schlachta
weitgehend tolerierten Lebens eintraten.19 Die Hutterer unterschieden sich von den übrigen täuferischen Gruppen dahingehend, dass sie in Gütergemeinschaft auf Höfen lebten, die bis zu 400 Hutterer aufnahmen. Allerdings hinderte die sehr deutliche Absonderung von der »Welt« die Hutterer nicht daran, sehr erfolgreiche handwerkliche Unternehmen aufzubauen, die sie zu angesehenen und willkommenen Untertanen in Südmähren machten. Die vielfach protestantisch gesinnten Grundherren gewährten den Hutterern immer wieder Schutz vor den Verfolgungen, die von habsburgischer Seite in Gang gesetzt wurden. Durch diese Tolerierung war es den Hutterern möglich, ein gut organisiertes und strukturiertes Leben zu etablieren, das ein reichhaltiges schriftliches Erbe hinterließ. Die »Fünf Artikel«, die wesentliche Glaubenselemente der Hutterer zusammenfassen, stammen vermutlich von dem hutterischen Gemeindeältesten Peter Walpot. Unter der Überschrift »Daß die Christen nicht mögen kriegen noch das weltliche Gericht und Schwert oder Gewalt führen und die in solchem Amt nicht für Christen gehalten werden können«20 leitet Walpot die Wehrlosigkeit aus der historischen und biblischen Entwicklung her. Für ihn ergibt sich die Verpflichtung der Menschen, in Wehrlosigkeit zu leben, aus dem Wechsel vom Alten zum Neuen Testament. Dieser Wechsel markiert gleichzeitig den Anbruch des christlichen Reiches. An der Schwelle vom Alten zum Neuen Testament, am Übergang vom jüdischen zum christlichen Reich, hätten sich die verpflichtenden Normen geändert. Mit dieser Veränderung legitimiert der Verfasser auch die Wehrlosigkeit. Er verweist in seiner Begründung auf eine Prophezeiung des Erzvaters Jakob im alttestamentlichen Buch Mose, die dieser kurz vor seinem Tod aussprach: »Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der komme, dem es gehört, und ihm werden die Völker anhangen« (1. Mose 49,10). Nach hutterischer Auslegung weist dieser Ausspruch auf Jesus Christus hin, dessen Kommen das »jüdische Regiment« beenden würde. Das »Zepter« weiche von Juda, das Reich Christi breche an. In diesem neuen Reich würde Christus nicht durch das »weltliche Schwert« regieren, wie noch die Juden im Alten Testament regiert wurden, sondern mit dem »geistlichen Schwert«. Somit ist für die Hutterer klar festgelegt: Wenn das neue Reich Christi anbricht, dann hat das weltliche Schwert dort keine Macht mehr und keine Legitimation. In den »Fünf Artikeln« wird die scharfe Trennung der Reiche, die die Täufer vornahmen, also mit der biblisch-historischen Prophetie und dem darin sichtbar werdenden Handeln Gottes legitimiert. Im »Geschichtbuch« der Hutterer, ebenfalls eine Erbschaft der schriftlichen Produktivität der Hutterer im 16. Jahrhundert, heißt es: »Denn das geistlich und weltlich Schwert hat jedes ein sondere Scheiden. Das geistlich gehört in die Gemein Christi, das weltlich in die
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Leonard Gross, The Golden Years of the Hutterites. The Witness and Thought of the Communal Moravian Anabaptists During the Walpot Era, 1565-1578, 2. ed., Kitchener, Ont. 1998 (= Studies in Anabaptist and Mennonite History, 23); Astrid von Schlachta, Hutterische Konfession und Tradition (1578-1619). Etabliertes Leben zwischen Ordnung und Ambivalenz, Mainz 2003 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte. Abteilung Religionsgeschichte, 198); Hutterite Studies. Essays by Robert Friedmann. Ed. by Harold S. Bender , Goshen, IN 1961. Zit. nach: Das große Geschichtbuch der Hutterischen Brüder (wie Anm. 15), S. 208-240.
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»Du sollst nicht töten!«
Welt unter die Bösen.«21 In der »Welt« herrschten »schlagen, hauen, stechen, schießen und einander beschädigen, verderben, hadern, balgen, töten und Blut vergießen«.22 Eine Gemeinde, die die Normen Jesu Christi ernst nehme, könne deshalb in dieser Welt nicht existieren, denn die »Welt« dulde die Friedfertigen nicht – und dies erlebten die Täufer täglich am eigenen Leibe. Auch eine Passage aus den Seligpreisungen aus Matthäus 5,5-10 – »Selig sind die Sanftmütigen [...] Selig sind die Barmherzigen [...] Selig sind, die Frieden stiften [...] Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden« – kommentieren die Hutterer folgendermaßen: »Ist alles entgegen dem Amt des Schwerts und Gewalts.«23 Mit mahnenden Worten heißt es im »Geschichtbuch« weiter: »Aus welchem wir sehen und lernen, daß viel mehr ein Christ (welche in der Schrift allenthalben den Oelbäumen, Feigenbäumen, Weinreben und geschlachten Bäumen vergleicht sind) kein weltlich Obrigkeit sein mag, daß er sein christliche Pflicht des Friedens, Senftmut, Demut lassen soll und hingeht mit der Welt sich zu reißen, kratzen, hadern und zanken, wie der Dornbusch pflegt. Aber wir sollen nicht, lieben Brüder, wir sollen nicht also sein, sonder wie Jesajas [55,13] sagt: Für Dorn werden Tannen wachsen, und Myrten anstatt der Hecken.«24 Ein wenig bunter wird das Bild, wenn der Blick nicht bei Michael Sattler und den Hutterern verweilt, sondern sich ein paar Kilometer weiter in der mährischen Landschaft, auf die Stadt Nikolsburg, richtet.
Du darfst töten, aber ... In Nikolsburg wirkte Mitte der 1520er Jahre der Täufer Balthasar Hubmaier, der zunächst als Domprediger in Regensburg tätig war und sich dann über erste reformatorische Bewegungen und den Bauernkrieg dem täuferischen Glauben zugewandt hatte.25 Hubmaier führte in Nikolsburg eine täuferische Reformation durch, was die Stadt für die täuferische Geschichte einzigartig macht. In keiner anderen Stadt konnten Täufer die Reformation derartig bestimmen. 1526 gelang es Hubmaier, die Stadtherren, das waren die adeligen Herren von Liechtenstein, für seine Ideen zu gewinnen. In der Folge gestaltete er den Gottesdienst nach täuferischem Muster um und führte Taufen von Erwachsenen durch. Folgt man zeitgenössischen Berichten, so zog Hubmaier mit seinen Predigten und seinem Taufunterricht Massen von Menschen an. Es heißt, aus Mähren und Niederösterreich, selbst aus Wien seien Interessierte nach Nikolsburg gekommen, um Hubmaiers Taufunterricht zu erleben und sich dann taufen zu lassen.26 Überliefert ist, dass auch Hans Denck von Hubmaier getauft wurde. Hubmaiers Wirken in 21 22 23 24 25
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Ebd., S. 230. Ebd., S. 228. Ebd. Ebd., S. 227. Zu seiner Biographie: Torsten Bergsten, Balthasar Hubmaier. Seine Stellung zu Reformation und Täufertum 1421-1528, Kassel 1961 (= Acta Universitatis Upsaliensis, 3). Martin Rothkegel, Von der schönen Madonna zum Scheiterhaufen. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich, 120 (2004), S. 49-73, hier S. 63.
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Astrid von Schlachta
Nikolsburg war allerdings zeitlich begrenzt, denn immer wieder wurden Anordnungen des habsburgischen Landesfürsten Ferdinand I. an die Stadtherren von Nikolsburg gerichtet, den Täufer zu inhaftieren und auszuliefern. Nach anfänglichem Widerstand geschah dies 1528; Hubmaier wurde in Wien auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Zwischen seiner Ankunft in Nikolsburg und seinem Tod auf dem Scheiterhaufen verfasste Hubmaier unter anderem die Schrift »Von dem Schwert«, deren zentrales Thema die Wehrlosigkeit ist. Darin vertritt er eine Auffassung, die von den bisher geschilderten Lehren der Täufer abweicht. Zunächst einmal geht Hubmaier davon aus, dass die »Christen« keineswegs so getrennt von der »Welt« leben und sich die beiden Reiche nicht so klar scheiden lassen, wie in täuferischen Kreisen vielfach behauptet. Es »sagen etlich Brüder, das ein Christ nit müg das schwert fieren, wann der Cristen reich sey nit von dieser welt. Antwurt: So solch leüt die augen recht auff thetten, wurden und müstent sy vil anders sagen. Namlich da[ss] unser reych nit von dieser welt sein sollte. Aber laider, Gott sey es klag. Es seye von dieser welt, wie wir uns denn schuldig geben im Vaterunser, da wir betten: Vater, Dein Reich komme, denn wir seind in dem Reich der Welt.«27 Die Zeilen spiegeln auch eine gute Portion zeitgenössischer innertäuferischer Polemik wider. Hubmaier geht zudem davon aus, dass ein Christ ein Amt in der Obrigkeit übernehmen könne, was angesichts seines Eingebundenseins in die Stadt Nikolsburg und der Notwendigkeit der Absicherung seiner städtischen Reformation eine kaum überraschende Aussage ist. Hubmaier spricht der Obrigkeit auch zu, christlich eingestellt sein zu können; seiner Meinung nach gab es christliche und nicht-christliche Obrigkeiten. Jeder Obrigkeit gestand er darüber hinaus zu, das Schwert gebrauchen zu dürfen und zu müssen, um Gerechtigkeit und Ordnung zu garantieren, unabhängig davon, ob es sich um eine christlich eingestellte oder eine »weltliche« Obrigkeit handle. Das Schwert, so Hubmaier, sei eine »gute Rute und Geisel Gottes«. Und da sei es doch wesentlich besser, wenn eine christliche Obrigkeit, die sich mit ihrem Gewissen an täuferisch-christliche Normen gebunden fühle, das Schwert führe. Jedoch legt Hubmaier ganz konkrete Maßstäbe an eine christliche Obrigkeit an. Denn fundamental seien die innere Einstellung und die Motive für den Gebrauch des Schwertes. Eine christliche Obrigkeit müsse sich dadurch auszeichnen, dass sie auf Befehl Gottes, in der »dienstbarkhait nach der ordnung Gottes«, also als Dienerin Gottes, handelt. Der Gebrauch des Schwertes muss deshalb darauf beschränkt sein, Gerechtigkeit herzustellen; »Zorn, Spottworte« oder »Verachtung« dürften keine handlungsleitenden Motive sein. Hubmaier betont nachdrücklich, eine Obrigkeit solle »nicht zanken, kriegen und fechten«. Expansionsdrang mit dem Schwert sei ebenfalls nicht die Aufgabe der Obrigkeit: Man solle Land und Leute nicht mit dem Schwert und mit Gewalt erobern.28 Schwertgebrauch ist für Hubmaier also legitim, wenn er dazu diene, Gerechtigkeit herzustellen, nicht Krieg zu führen. Unter den Anhängern von Balthasar Hubmaier in Mähren hielt sich die Auffassung, das Schwert unter gewissen Umständen gebrauchen zu dürfen, auch 27
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Balthasar Hubmaier, Von dem Schwert. In: Balthasar Hubmaier, Schriften. Hrsg von Gunnar Westin und Torsten Bergsten, Heidelberg 1962 (= Quellen zur Geschichte der Täufer, 9), S. 434-457, hier S. 436. Ebd.
»Du sollst nicht töten!«
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nach seiner Gefangennahme. Daraus ergab sich eine innertäuferische Kontroverse, als sich zunehmend von der Schweizer Richtung und von Jakob Huter geprägte Täufer in Mähren ansiedelten. Ab 1528 erreichten immer mehr Flüchtlinge, die später zu den »Hutterern« wurden, Mähren, da sie dort auf die Duldung durch die Grundherren hoffen konnten. Sie kamen mit Ideen der vollständigen Wehrlosigkeit und siedelten sich ebenfalls im Raum Nikolsburg an. Ihr Leiter war der aus Memmingen stammende Jakob Wiedemann. Konflikte ließen nicht lange auf sich warten. Das hutterische »Geschichtbuch« berichtet, die Nikolsburger hätten sich gegen diese neuen Gedanken der Wehrlosigkeit gewandt und gegen sie gepredigt. Entsprechend ihrer Einstellung zur Gewalt wurden die Neuankömmlinge als »Stäbler« bezeichnet, die bereits in Nikolsburg lebenden Täufer erhielten den Beinamen »Schwertler«.29 Bezeichnenderweise erlaubten die Herren von Liechtenstein den »Stäblern« nicht die dauerhafte Ansiedlung, sondern sie vertrieben sie wieder. Die »Stäbler« zogen weg, bis in die Gegend von Austerlitz. Diese Vertreibung und die Tatsache, dass die Flüchtlinge offenbar schon recht mittellos nach Mähren gekommen waren, sorgten dann für den Gründungsakt der späteren hutterischen Gütergemeinschaft. Im »Geschichtbuch« heißt es: »Indem haben sie sich aufgemacht, hin zwischen Tannewitz und Muschau in eim öden Dorf sich gelägert, ein Tag und ein Nacht da aufgehalten, um gegenwärtiger Not willen mit einander sich im Herren beratschlaget [...] Zu der haben diese Männer ein Mantel vor dem Volk niedergebreit und Jedermann hat sein Vermögen dargelegt, mit willigem Gemüt, ungezwungen, zur Unterhaltung der Notdürftigen nach der Lehr der Propheten und Aposteln.«30
Von der Wehrlosigkeit zum Pazifismus – Ausblick und Resumée Auch wenn die Wehrlosigkeit zum Programm der verschiedenen täuferischen Gruppen im 16. Jahrhundert gehörte, so zeigen sich in der lebenspraktischen Umsetzung der theologischen Normen Unterschiede. Sie betrafen nicht so sehr den konkreten Griff zur Waffe, um in Kriegen und Rebellionen mitzumachen, sondern die Frage nach der Einstellung zur Obrigkeit. Aus der klaren Scheidung der Reiche, der Legitimation des Schwertgebrauchs im weltlichen Bereich und der klaren Trennung der Aufgaben im geistlichen und weltlichen Reich folgte für viele Täufer des 16. Jahrhunderts, dass kein im täuferischen Sinne gläubiger Christ ein Amt in der Obrigkeit übernehmen könne. Zudem kann die Wehrlosigkeit der frühneuzeitlichen Täufer nicht dargestellt werden, ohne die alles überspannende Idee der Absonderung zu berücksichtigen. Die meisten Täufer sahen die Konsequenz der klaren Trennung der Reiche im Rückzug der »wahrhaft« Gläubigen aus der »Welt«. Dass die Gesellschaft pazifiziert werden sollte, war im 16. Jahrhundert dagegen keine Lehrmeinung der Täufer, jedenfalls nicht unter den Hutterern und den frühen Schweizer Täufern. Vielmehr bedeutete dort Mission für den täufe-
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Das große Geschichtbuch der Hutterischen Brüder (wie Anm. 15), S. 62. Ebd., S. 62 f.; Packull, Hutterer (wie Anm. 13), S. 77-79.
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Astrid von Schlachta
rischen Glauben, die neuen Gläubigen aus der Gesellschaft heraus und in die Absonderung hinein zu führen. Während die Ablehnung von Kriegen und Rebellionen bis ins frühe 19. Jahrhundert Grundeinstellung mennonitischer, hutterischer oder ab dem späten 17. Jahrhundert auch amischer Täufer blieb, so brach sich in Bezug auf das obrigkeitliche Amt im Verlaufe der Frühen Neuzeit ein gewisser Pragmatismus Bahn. Der Text von Balthasar Hubmaier hat dies deutlich gemacht. Auch Menno Simons vertrat wohl keine so scharfe Trennung zwischen dem christlichen und dem säkularen Reich wie frühere Täufer. Er schrieb 1556 in seinem »Sendbrief« an den reformierten Prediger Martin Micron: »Dass der Obrigkeit Amt aus Gott und Gottes Verordnung ist, gebe ich mit vollem Herzen zu [...]; allein Denjenigen, der ein Christ ist und sein will, und seinem Fürsten, Haupt und Vorgänger Christo nicht folgt, sondern nur seine Ungerechtigkeit, Vermessenheit, Pracht, Prahlerei, Habsucht, Räuberei und Tyrannei mit dem Wort ›Obrigkeit‹ verzieren und bemänteln will, hasse ich: denn wer ein Christ ist, muss Christi Geist, Wort und Vorbild folgen, er sei dann Kaiser oder König, oder wer immer er sei.«31 Darüber hinaus gibt es Debatten, ob Simons vielleicht sogar den Dienst in der Armee unter gewissen Umständen erlaubte. Eine Passage in den »Wismarer Artikeln« von 1554 kann jedenfalls entsprechend interpretiert werden. Allerdings geht eine andere Interpretation davon aus, Simons habe seinen Anhängern lediglich erlaubt, eine Waffe auf Reisen mitzunehmen, jedoch nur zur Tarnung, nicht zum Gebrauch.32 Bereits 1581 gestatteten die Waterländer, eine liberalere Richtung der holländischen Mennoniten, ihren Mitgliedern, obrigkeitliche Ämter zu übernehmen. In Friedrichstadt an der Eider und in Westpreußen saßen Mennoniten ab dem frühen 17. Jahrhundert im Stadtrat beziehungsweise hatten Schulzenämter in den Dörfern inne. In Friedrichstadt beharrten einige Mennoniten, die ein Amt im Stadtrat hatten, jedoch darauf, in Fällen der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit aus Gewissensgründen nicht am Rat teilnehmen zu wollen. 1711 gab es in Friedrichstadt dann den ersten mennonitischen Bürgermeister.33 Auch die Hutterer gerieten mit ihrer strikt wehrlosen Haltung manchmal in Konflikt mit ihrer eigenen handwerklichen Produktion. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden sie bekannt für ihre qualitätvollen und zuverlässigen Produkte und entsprechend stieg die Nachfrage. So setzten innerhalb der Gemeinde Diskussionen ein, wo die Grenze
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Menno Simons, Ein herzensgründlicher Sendbrief. In: Die vollständigen Werke Menno Simon’s, Aylmer, Ont., LaGrange, IN 2002 (Reprint der Ausgabe von 1876), S. 576; generell: von Schlachta, Gefahr oder Segen? (wie Anm. 3), S. 60-79; Abraham Friesen, Menno Simons. Dutch Reformer between Luther, Erasmus, and the Holy Spirit, o.O. 2015, bes. S. 210-217. Vgl. Michael Driedger, Kanon, Schießpulver und Wehrlosigkeit. Cord, Geeritt und B. C. Roosen in Holstein und Hamburg 1532-1905. In: Mennonitische Geschichtsblätter, 52 (1995), S. 101-121, hier S. 106 f. Vgl. Willi Friedrich Schnoor, Die rechtliche Organisation der religiösen Toleranz in Friedrichstadt in der Zeit von 1621-1727, phil. Diss., Kiel 1976, S. 130-132; Sem C. Sutter, Friedrichstadt. An Early German Example of Mennonite Magistrates. In: The Mennonite Quarterly Review, 53 (1979), S. 299-305, hier S. 302.
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der Produktion trotz vorhandener Nachfrage liegen sollte. Bereits 1545 stellte Peter Riedemann in der grundlegenden »Rechenschaft« fest: »Darum wir weder Schwerter, Spieße, Büchsen, noch dergleichen Wehr oder Waffen machen. Was aber zu nutz und täglichen Gebrauch der Menschen gemacht wird, als Brotmesser, Äxte, Hauen und dergleichen mögen wir wohl auch machen, und thun es auch.«34 Bis ins 18. Jahrhundert war es immer wieder die Wehrlosigkeit, die die Täufer verdächtig machte und zu ihrer Verfolgung führte. So wird beispielsweise die Weigerung, das »Vaterland« zu verteidigen, noch im späten 17. Jahrhundert in der Schweiz als Grund dafür angeführt, die Täufer des Landes zu verweisen. In einem Mandat in Bern aus dem Jahr 1695 heißt es: Man müsse leider feststellen, dass sich »ettlicher Ohrten ihrer Landes [...] annoch die Sect der ungehorsammen, widerspenstigen und rebellischen Widertäüfferen sich aufhalte, welche da den Oberkeitlichen Stand und den Gebrauch der Waffen verwerffen und sich aller Schuldigkeit gegen dem lieben Vatterland entziehend«.35 Deshalb solle man die Täufer aufspüren. Als Begründung für diese Maßnahmen führte der Berner Stadtrat an, in der Schweiz herrsche zwar noch Frieden und Freiheit, doch wisse man nie, wann Gottes Zorn über die Schweiz hereinbreche, weil auch die Schweizer in »Sünden und Lastern« verharrten. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die Mennoniten zu »Pazifisten«, wenn man der strengen begrifflichen Definition folgt. Es war eine Reaktion auf die Abkehr von der Wehrlosigkeit, wie sie seit dem 19. Jahrhundert unter den Mennoniten um sich gegriffen hatte. Der sich verstärkende Nationalismus hatte damals auch unter den Mennoniten seine Anhänger gefunden, und der Griff nach der Waffe, um das Vaterland zu verteidigen, war zur Norm erklärt worden. In beiden Weltkriegen kämpften Mennoniten an der Front mit; eine Geschichte, die erst in jüngster Zeit aufgearbeitet wird.36
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Riedemann, Rechenschaft (wie Anm. 5), S. 110. Zit. nach: Hermann Rennefahrt, Die Rechtsquellen des Kantons Bern, 1. Teil: Stadtrecht, 6, Erste Hälfte. Das Stadtrecht von Bern VI. Staat und Kirche (= Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, II. Abteilung), Aarau 1960, S. 471. Vgl. grundlegend: Mark Jantzen, Mennonite German Soldiers. Nation, Religion, and Family in the Prussian East, 1772-1880, Notre Dame 2010; sowie neuerdings die verschiedenen Beiträge. In: Mennoniten in der NS-Zeit. Stimmen, Lebenssituationen, Erfahrungen. Hrsg. von Marion Kobelt-Groch und Astrid von Schlachta, Weierhof 2017 (= Schriftenreihe des Mennonitischen Geschichtsvereins, 10).
Kai Lehmann
Der Schmalkaldische Bund. Militärischer Schutzpanzer der Reformation
Geschichte, strukturelle Entwicklung und Organisation des Schmalkaldischen Bundes sind seit den Arbeiten von Ekkehart Fabian1 und Gabriele HaugMoritz2 hinlänglich bekannt, auch wenn erst im Jahr 2017 eine monografische Darstellung erschienen ist, die den gesamten Zeitraum des Bestehens des Bundes von 1530/31 bis 1547) abdeckt.3 In dieser überblickartigen Darstellung der bündischen Entwicklung von der Gründung bis zum Ausbruch des Schmalkaldischen Krieges soll der Focus auf dem militärisch-organisatorischen Ereignisbereich liegen. Dabei werden auch zwei Aspekte beleuchtet, die entweder aus dem Blickfeld der Forschung geraten oder uminterpretiert worden sind oder bisher kaum Berücksichtigung gefunden haben: einerseits die Doppelehe des hessischen Landgrafen Philipp, welche die europäische Vernetzung des Schmalkaldischen Bundes entscheidend ausbremste und der bis jüngst jegliche Präjudiz für den Regensburger Geheimvertrag von 1541 abgesprochen wurde. Dabei soll auch beleuchtet werden, wie sich Landgraf Philipp an die Vertragsbestimmungen noch Jahre später hielt und so – unwissentlich – Kaiser Karl V. half, den Schmalkaldischen Krieg außenpolitisch vorzubereiten. Zum anderen soll ein Aspekt in die historische Forschung implementiert werden, der auf bisher kaum beachteten Quellenbeständen im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW) und im Hessischen Staatsarchiv Marburg (HStAM) basiert4: die bevorstehende Ausweitung des Schmalkaldischen Bundes um Kurköln und Kurpfalz sowie weitere Fürsten und Reichsstädte in der ersten Jahreshälfte 1546, die Kaiser Karl V. dazu zwangen, den Schmalkaldischen Krieg zu beginnen, obwohl er noch nicht angriffsbereit war. Ein kurzes Fazit charakterisiert den Schmalkaldischen Bund als Schutzpanzer der Reformation. 1
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Ekkehart Fabian, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes und seiner Verfassung 1524/29-1531/35, Tübingen 1962. Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530-1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002 (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, 44). Kai Lehmann, Der Schmalkaldische Bund. Hrsg. vom Zweckverband Kultur des Landkreises Schmalkalden-Meiningen, Untermaßfeld 2017. Zeitgenössische Zitate aus den Archivalien werden aufgrund der besseren Verständlichkeit in moderner Orthografie und Grammatik wiedergegeben.
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Gründung des Bundes Der von den protestantischen Reichsständen mit viel Spannung erwartete Reichstag von Augsburg endete mit einer Zuspitzung der Bedrohungslage. Der Reichstagsabschied vom Spätherbst 1530 setzte faktisch das Wormser Edikt erneut in Kraft und verlangte die Wiederherstellung der früheren kirchlichen Verhältnisse. Bei Zuwiderhandlung drohte den Neugläubigen nicht nur eine Flut an Prozessen am Reichskammergericht, sondern auch ein gewaltsames militärisches Vorgehen Kaiser Karls V. gegen die fürstlichen und städtischen Anhänger der Reformation. Diese gefährliche Situation ließ Martin Luther umdenken. Bislang hatte der Reformator Bedenken, zur Sicherung der Reformation gegen den Kaiser Widerstand zu leisten und damit gegen die gottgegebene Ordnung aufzubegehren. Nach den Augsburger Ereignissen gutachtete er, dass eine bewaffnete Gegenwehr erlaubt sei, sollten die neugläubigen Stände angegriffen werden. Damit machte er den Weg zur Gründung des Schmalkaldischen Bundes frei, des politischen Arms und militärischen Schutzpanzers der Reformation.5 Auf Einladung des sächsischen Kurfürsten und des Landgrafen von Hessen trafen sich ab dem 22. Dezember 1530 neugläubige Fürsten und Vertreter von Reichs- und Hansestädten im südlich des Thüringer Waldes gelegenen Schmalkalden, um über die Gefährlichkeit der Lage nach Augsburg zu beraten. Aus den Beratungen wurden schnell Bündnisverhandlungen. Noch am 31. Dezember beschlossen die meisten Anwesenden, sich gegenseitig Schutz und Beistand zu gewähren, sollte ein Stand von ihnen der Religion wegen angegriffen werden. Da einige Städtevertreter nicht mit ausreichenden Vollmachten ausgestattet waren, trat der eigentliche Bündnisvertrag erst am 27. Februar 1531 in Kraft. Gründungsmitglieder waren sechs Reichsfürsten und Grafen sowie zehn Reichsund Hansestädte (siehe Karte).6 Während seines Bestehens wuchs der Schmalkaldische Bund auf 50 Mitglieder an, entwickelte sich so zu einem »auf Zuwachs angelegten Staat im Staate«7 und wurde zur »bedeutendsten innerdeutschen Macht, die europäisches Ansehen genoss«.8 Der Schmalkaldische Bund warb gezielt um Mitglieder und wurde gleichzeitig auch umworben. Von der Gründung bis zu seiner Auflösung gab es nur ein Kriterium für die Aufnahme neuer Mitglieder: das Bekenntnis zur Reformation.9
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Fabian, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes (wie Anm. 1), S. 102-124; Martin Brecht, Martin Luther, Bd 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532, Stuttgart 1986, S. 390-399. Die Hansestadt Lübeck wurde zwar in der Gründungsurkunde genannt, trat aber erst kurze Zeit später offiziell bei. Vgl. Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 26 f. Heinrich Lutz, Reformation und Gegenreformation, München, Wien 1979 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 10), S. 40. Fabian, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes (wie Anm. 1), S. 301. Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 2), S. 143-147; Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 38 f.
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Der Schmalkaldische Bund
Der Schmalkaldische Bund Gründungsmitglieder Schmalkaldischer Bund: Fürstentümer:
1 = Fsm. Anhalt-Bernburg Dessau 2 = Gft. Mansfeld 3 = Gft. Tecklenburg
Landgrafschaft Hessen Kurfürstentum Sachsen Herzogtum Braunschweig-Lüneburg Fürstentum AnhaltBernburg-Köthen Herzogtum Braunschweig-Grubenhagen
Lübeck
Wes er
Hzm. Pommern Hamburg Reichs- und Hansestädte: Biberach Elb Hzm. e Bremen BrunschweigBremen Mgft. Lüneburg-Celle Isny BrandenburgKonstanz Ode Küstrin r Lindau Minden Hannover Braunschweig 3 Lübeck Dem Bund bis 1546 Magdeburg beigetretene ReichsMagdeburg Tecklenburg Hildesheim Goslar und Hansestädte: Memmingen Einbeck Hannover Augsburg 1 Kfsm. Reutlingen Göttingen Heilbronn Bopfingen Sachsen Straßburg 2 Braunschweig Hildesheim Ulm Nordhausen Hzm. Kempten Dinkelsbühl Sachsen Minden Einbeck Hzm. Lgft. Sachsen Nordhausen Esslingen Hessen Gft. Frankfurt a.M. Osnabrück Schmalkalden NassauWeilburg Ravensburg Goslar Riga Göttingen Frankfurt Schwäbisch Hall Hamburg in Ma
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ein Rh
Gft. Weilburg Saarbrücken
Rhe in
Straßburg
Heilbronn
Gft. Erbach Schwäbisch-Hall
Hzm. Württem- Esslingen Dinkelsbühlu Dona berg Reutlingen Augsburg Ulm Biberach Isny Konstanz
Memmingen Kempten
Lindau
Dem Bund bis 1546 beigetretene Fürstentümer: Fürstentum AnhaltDessau Fürstentum AnhaltZerbst Grafschaft Erbach Grafschaft NassauWeilburg Grafschaft Schwarzburg-Arnstadt Grafschaft Tecklenburg Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel
Herzogtum Pommern-Stettin Herzogtum Pommern-Wogast Herzogtum Rochlitz Herzogtum Württemberg Herzogtum Sachsen Markgrafschaft Brandenburg-Küstrin
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Strukturen des Bundes Im Verteidigungsfall sollte der Schmalkaldische Bund unverzüglich in der Lage sein, ein Heer aus 10 000 Infanteristen und 2000 berittenen Söldnern aufzustellen und für mindestens zwei Monate zu besolden. Für diese sogenannte »eilende Hilfe« wurden 140 000 Gulden benötigt, die zu gleichen Teilen von den Fürsten und Städten aufgebracht werden mussten. Mit der Verfassung zur Gegenwehr, die 1535/36 in Kraft trat, wurden die 140 000 Gulden auf die damaligen 23 Mitglieder des Bundes umgelegt. Dieser Einmalbetrag – als »Große Anlage« bezeichnet – war der wichtigste Mitgliedsbeitrag zum Schmalkaldischen Bund. Er musste in vorab definierten Städten in bar hinterlegt werden, um im Ernstfall schnell da-
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rauf zugreifen zu können. Durch den Beitritt weiterer Mitglieder stieg die »Große Anlage« bis Januar 1539 auf 200 000 Gulden an.10 Sollte der Verteidigungsfall ausbleiben oder der Bund sich auflösen, würden die Mitglieder ihre Einlagen zurückerhalten. Trat aber der Kriegsfall ein und reichten die Einlagen nicht aus, hatten die Mitglieder gemäß Verfassung bis zu drei weitere Monatssolde zu zahlen. Kristallisierte sich heraus, dass die Truppenstärke nicht ausreichte, dann entschied ein Bundestag über ein größeres Heer, die »beharrliche Hilfe«. Neben der einmal zu zahlenden »Großen Anlage« gab es im Schmalkaldischen Bund noch einen zweiten Mitgliedsbeitrag, die jährlich zu leistende »Kleine Anlage«. Dieses Geld – ca. zehn Prozent der »Großen Anlage« – diente zur Begleichung der Geschäftsausgaben wie Kanzleikosten, Botenlöhne usw. Ab Mitte der 1530er Jahre wurde es aber immer mehr für militärische Zwecke verwendet. Vor allem wurde mit der »Kleinen Anlage« bereits in Friedenszeiten der Auf- und Ausbau des militärischen Potenzials des Bundes vorangebracht: Vorrangig wurden mit dem Geld bewährte Söldnerführer unter Vertrag genommen, die im Kriegsfall rasch die benötigten Truppen aufstellen konnten. Diese »Bestallungen«, die eine Laufzeit von zwei oder drei Jahren hatten, sollten verhindern, dass die Söldnerführer in die Dienste der altgläubigen Seite traten. Für die Vertragslaufzeit erhielten sie ein »Wartgeld«. 1538 schloss beispielsweise Landgraf Philipp von Hessen mit elf Rittmeistern und 19 Hauptleuten solche Bestallungsverträge.11 Seit dem Schmalkalder Bundestag von 1537 zahlten die Mitglieder zudem eine einmalige »Anlage zum Geschütz«, die der Bereitstellung der so wichtig gewordenen Artillerie diente.12 Der Schmalkaldische Bund reichte bereits bei seiner Gründung von der Nordsee bis in den Alpenraum. Aufgrund der großen Entfernungen zwischen nord- und süddeutschen Mitgliedern wurde der Bund in zwei Bundeskreise gegliedert: den sächsischen Kreis, dem der Kurfürst von Sachsen vorstand, und den oberdeutschen Bundeskreis, der vom Landgrafen von Hessen geführt wurde. Beide waren zugleich die Bundeshauptleute des Schmalkaldischen Bundes. Die Hauptmannschaft wechselte halbjährlich, rotierend zwischen beiden. Der Schmalkaldische Bund, der während seines Bestehens zu insgesamt 29 Tagungen zusammenkam,13 verstand sich als ein Bündnis unter Gleichen. Zwar hatten im Bund grundsätzlich alle Mitglieder das gleiche Mitspracherecht, die Entscheidungsgewalt über die Bundesabschiede lag allerdings in den Händen der sogenannten Stimmstände. Obwohl Fürsten und Städte zu gleichen Teilen die finanziellen Lasten des Bundes trugen, hatten die Fürsten eine Stimme mehr als die Städte. Auf den sächsischen Kurfürsten und den hessischen Landgrafen entfielen je zwei Stimmen. Hinzu kam als fürstlicher Vertreter der Herzog von Braunschweig-Lüneburg mit einer Stimme. Die Städte hielten dagegen vier Stimmen, die sich auf Straßburg, Ulm, Bremen und Lübeck verteilten. Bei der großen Erweiterung des Bundes von 1536 erhielten der Herzog von Württemberg und der Herzog von Pommern zwei zusätzliche fürstliche Stimmen; bei den Städten 10 11 12 13
Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 2), S. 443 f. Beispiele dafür bei Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 95 f. Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 2), S. 443-445, 454. Vgl. die Auflistung der Tagungen und Tagungsorte bei Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 58, sowie zu Themen, Tagungsvorbereitung, Abläufen, Versorgung während der Tagungen, Anreisen usw., S. 58-65, 74-77.
Der Schmalkaldische Bund
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waren es Augsburg, Magdeburg und Hamburg (durch den erzwungenen Austritt Lübecks14) mit jeweils einer Stimme.15 Für den Kriegsfall besaß der Schmalkaldische Bund eine eigene militärische Struktur, die die Führung übernehmen sollte: die Kriegsräte. Ursprünglich bestand das Kriegsrätegremium aus acht, ab der großen Bundeserweiterung von 1536 aus zwölf erfahrenen Söldnerführern und Kommandeuren. Ausdrücklich wurde in der bündischen Verfassung gefordert, dass jeweils die Hälfte der Kriegsräte von bürgerlichem, die andere von adeligem Stand sein müsse. Die Städte des oberdeutschen und des sächsischen Bundeskreises stellten jeweils drei Kriegsräte, die Herzöge von Pommern und Württemberg jeweils einen und die beiden Bundeshauptleute jeweils zwei. Reagierend auf bedrohliche Lageszenarien kamen die Kriegsräte mit den beiden Bundeshauptleuten zu separaten Beratungen, den »Kriegsrätetagen«, zusammen. Im militärischen Ernstfall führten die beiden Bundeshauptleute mit den Kriegsräten das Bundesheer.16
Das Wachsen des Bundes durch die Reichskammergerichtsprozesse Aufgrund der ständigen Bedrohung durch das Osmanische Reich war Kaiser Karl V. im Jahr 1532 gezwungen, mit den protestantischen Reichsständen den Nürnberger Religionsfrieden zu schließen. In diesem auch »Nürnberger Anstand« genannten Vertrag wurde eine (befristete) gegenseitige Rechts- und Friedensgarantie vereinbart, wodurch der gegenwärtige konfessionelle Besitzstand gewahrt werden sollte, was zugleich bedeutete, dass der Schmalkaldische Bund de facto keine neuen Mitglieder aufnehmen durfte. Dagegen verpflichtete sich der Kaiser, die Prozesse am Reichskammergericht gegen die Neugläubigen einstellen zu lassen, bis eine Klärung der Religionsfragen auf einem Konzil oder Reichstag herbeigeführt worden war. Die Prozesse am Reichskammergericht, das 1495 als oberste rechtliche Instanz gegründet worden war und seit 1527 seinen Sitz in Speyer hatte, stellten eine erhebliche Gefahr für die protestantischen Stände dar. Führte eine Obrigkeit die Reformation ein, wurde sie regelmäßig vom altgläubigen Klerus beim Reichskammergericht auf Herausgabe der konfiszierten Kirchengüter verklagt, denn dieser hielt die Auflösung von Klöstern oder die Umwidmung von kirchlichen Stiften im Zuge des reformatorischen Prozesses schlicht für Diebstahl. Die Neugläubigen sahen dagegen in der Beschlagnahmung und weltlichen Verwaltung der Kirchengüter die Zuführung zu deren wahrer göttlichen Bestimmung. 14
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Wegen der Niederlage bei der sogenannten Grafenfehde und der darauf folgenden unmissverständlichen Aufforderung Kaiser Karls V., die alte Ordnung wiederherzustellen, musste Lübeck aus dem Schmalkaldischen Bund austreten. Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 53 f. Fabian, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes (wie Anm. 1), S. 294 f., 360 f.; Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 31. Vgl. »Verfassung zur eilenden Rettung« vom 23.12.1535, zitiert in: Fabian, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes (wie Anm. 1), S. 362; Haug-Moritz, Der Schmalkalische Bund (wie Anm. 2), S. 356 f.
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Da das Reichskammergericht mehrheitlich mit altgläubigen Richtern besetzt war, drohten in diesen Prozessen gefährliche Rechtstitel, im ungünstigsten Fall die Reichsacht, die mit Waffengewalt durchgesetzt werden konnte. Für die Neugläubigen bedeuteten folglich diese Verfahren einen Rechtskrieg als Vorstufe zum »heißen Krieg«. Trotz der Zusage im Nürnberger Anstand wurden diese Prozesse – unter anderem weil Unklarheit darüber herrschte, was überhaupt als Religionssache einzustufen war17 – nicht ausgesetzt. Im Gegenzug fühlten sich auch die Schmalkaldischen Verbündeten nicht verpflichtet, tatsächlich keine neuen Mitglieder in den Bund aufzunehmen. Am Kammergericht verklagte protestantische Stände, vor allem Reichs- und Hansestädte, drängten regelrecht in den Bund hinein, um den Schutz der Schmalkaldischen Verbündeten zu erlangen. Wurden die gegen sie am Kammergericht laufenden Verfahren von der Bundesversammlung als Religionsprozess eingestuft, dann würde im Fall der militärischen Exekution der vom Reichskammergericht verhängten Reichsacht der Bündnisfall eintreten.18 Es waren also vor allem die Prozesse am Reichskammergericht, die den Schmalkaldischen Bund in den 1530er Jahren auf über 40 Mitglieder anwachsen ließen.
Die Eroberung des Herzogtums Württemberg Im Jahr 1536 kam es zu zahlreichen Neuaufnahmen in den Schmalkaldischen Bund, darunter auch Herzog Ulrich von Württemberg. Der Beitritt Württembergs hatte eine Vorgeschichte, die europaweit für Aufsehen gesorgt hatte: Im Jahre 1519 überfiel Herzog Ulrich rechtswidrig die Reichsstadt Reutlingen. Daraufhin wurde gegen ihn die Reichsacht verhängt und auch vollstreckt und der Württemberger aus seinem Land vertrieben. Die Tatsache, dass das Herzogtum Württemberg dem Habsburger Ferdinand, dem Bruder von Karl V., übertragen wurde, sorgte im Reich konfessionsübergreifend für Unmut und schürte Ängste. Die deutschen Fürsten fürchteten den Verlust der deutschen Libertät und Freiheit. Zudem trieb sie die Sorge um, dass sich das Haus Habsburg ein deutsches Territorium nach dem anderen aneignen und das Reich in eine zentralistische Erbmonarchie nach spanischem Vorbild umwandeln könnte. Herzog Ulrich fand ab 1526 Asyl bei seinem entfernten Verwandten, dem hessischen Landgrafen, der spätestens ab Ende der 1520er Jahre dezidiert antihabsburgische Intentionen verfolgte. Landgraf Philipp beabsichtigte insgeheim, 17
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Die Richter am Reichskammergericht erbaten von Karl V. als höchster Rechtsinstanz im Reich Auskunft darüber, was als Religionssache zu behandeln sei und was nicht. Der Kaiser verweigerte jedoch eine grundsätzliche Aussage und verkomplizierte so die ohnehin schon unklare Rechtslage noch zusätzlich. Er wies die Kammerrichter an, selbst zu entscheiden, was eine Religionssache sei, und delegierte so seine Verantwortung. Vgl. Martin Lies, Zwischen Krieg und Frieden. Die politischen Beziehungen Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg 1534-1541, Göttingen 2013 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, 231), S. 259 f. Vgl. zu den Reichskammergerichtsprozessen und dem Wachsen des Bundes, auch mit konkreten Beispielen, Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 68-70.
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dem nunmehr zum Protestantismus übergetretenen Herzog Ulrich sein Territorium zurückzuerobern. Anfang des Jahres 1534 reiste der Hesse nach Frankreich, um König Franz I. für sein Vorhaben zu gewinnen. Der französische König – im Dauerkonflikt mit den Habsburgern um die Hegemonialstellung in Europa – und Landgraf Philipp wurden schnell einig: Gegen die Verpfändung der zum Herzogtum Württemberg gehörenden Grafschaft Mömpelgard versprach Franz I. das militärische Vorhaben Philipps mit 100 000 Kronen zu unterstützen. Gegenüber dem Schmalkaldischen Bund und seinem Mithauptmann, dem sächsischen Kurfürsten, versuchte der Landgraf seine Pläne zu verschleiern. Erst kurz vor dem Beginn des Feldzuges informierte er im April 1534 den sächsischen Kurfürsten, der sich darüber höchst verärgert zeigte.19 Landgraf Philipp ließ sich jedoch nicht abbringen von seinem Vorhaben. Gemeinsam mit Herzog Ulrich marschierte er mit 6000 Reitern und ca. 17 000 Landsknechten sowie entsprechender Artillerie in Württemberg ein. Philipps Tross führte auch 500 Wagen mit Pontons für den Übergang über den Rhein und andere Flüsse mit sich. Der Einmarsch in das Herzogtum Württemberg kam für die Habsburger überraschend, ihre Truppen waren zahlenmäßig deutlich unterlegen. Bereits am 13. Mai 1534 kam es bei Lauffen am Neckar zur entscheidenden Schlacht. Durch geschicktes Taktieren gelang Landgraf Philipp ein vollständiger Sieg. Aufseiten der Habsburger waren 2000 Tote zu beklagen. Das Gelingen des Feldzuges war ein Affront gegen das Haus Habsburg. Kaiser Karl V. und sein Bruder Ferdinand schäumten vor Wut, mussten sich aber im Vertrag von Kaaden auf Friedensverhandlungen und Kompromisse einlassen. Herzog Ulrich wurde zwar wieder als Regent in Württemberg eingesetzt, erhielt es aber nur als Afterlehen von König Ferdinand. Zudem erkannten Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, Herzog Ulrich von Württemberg und Landgraf Philipp von Hessen die im Jahr 1531 erfolgte, im Reich höchst umstrittene Königswahl des Habsburgers Ferdinand an.20 Für den Protestantismus im Reich war die Rückeroberung Württembergs durch Landgraf Philipp eine wichtige Stärkung. Noch 1534 führte Herzog Ulrich die Reformation ein. Im Jahr 1536 trat er dem Schmalkaldischen Bund bei, der dadurch im Südwesten des Reiches erheblich an Einfluss gewann.
Krieg lag in der Luft Ende der 1530er Jahre erreichten die Spannungen zwischen Alt- und Neugläubigen einen ersten Höhepunkt. Im Jahr 1537, auf der Tagung des Schmalkaldischen Bundes in der namensgebenden Stadt, positionierten sich die Neugläubigen unversöhnlich antirömisch. Der Schmalkaldische Bund lehnte nicht nur das vom Papst nach Mantua einberufene Konzil geschlossen ab, sondern versagte auch dem Kaiser die dringend benötigte Türkenhilfe und ließ keine Einigung in Bezug auf die Religionsprozesse am Reichskammergericht zu. Sowohl dem Schmalkaldischen Bund als auch dem auf der Tagung anwesenden Matthias Held, dem Vizekanzler 19
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Kai Lehmann, Fatale Lust. Philipp von Hessen und seine Doppelehe. Hrsg. vom Zweckverband Kultur des Landkreises Schmalkalden-Meiningen, Untermaßfeld 2016, S. 72-76. Vgl. ausführlich Lies, Zwischen Krieg und Frieden (wie Anm. 17), S. 123-178.
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des Kaisers, ging es darum, den eigenen absoluten Anspruch auf Wahrheit zu behaupten und Recht zu bekommen. Sie trugen nur ihre jeweiligen Definitionen und Interpretationen vor, ohne Kompromiss- oder Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Die sehr heftigen und aggressiven Verhandlungen führten zu gegenseitigem Misstrauen und verschlechterten die politische Atmosphäre im Reich erheblich. Altgläubige wie Neugläubige rechneten mit einem Angriff der jeweils anderen Seite.21 Im Juni 1538 gründete sich in Nürnberg das Pendant zum Schmalkaldischen Bund: der altgläubige Nürnberger Bund. Ihm gehörten neben König Ferdinand I. die Herzöge von Bayern, Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel sowie weitere altgläubige Fürsten an. Später trat auch Kaiser Karl V. bei. Die Kriegsgefahr im Reich stieg erheblich, und mit dem nun ausbrechenden Erbfolgestreit um das Herzogtum Geldern schien für beide konfessionellen Blöcke der Kriegsgrund gefunden.22 Nach dem kinderlosen Tod des letzten Herzogs von Geldern, Karl von Egmond, im Jahre 1538 hätte das Herzogtum vertragsgemäß an Kaiser Karl V. fallen müssen. Die habsburgischen Besitzungen im Nordwesten wären damit territorial verbunden gewesen. Vor seinem Tod hatte aber Karl von Egmond Herzog Wilhelm V. von Jülich zum Nachfolger bestimmt. Wilhelm war der Schwager des sächsischen Kurfürsten. Er wollte die Reformation einführen und versuchte später auch, Mitglied des Schmalkaldischen Bundes zu werden. Karl V. gab seine Ansprüche freilich nicht auf, sondern bestand auf Geldern und wollte seine Ansprüche notfalls auch gewaltsam durchsetzen.23 Das Herzogtum Geldern schien die Lunte zu sein, an der sich das Pulverfass entzünden konnte. Diese familiäre, konfessionelle und machtpolitische Konstellation ließ den sächsischen Kurfürsten seine bisherige, eher abwägende und zurückhaltende Position gegenüber dem Kaiser aufgeben. Kurfürst Johann Friedrich glich seine Haltung Ende der 1530er Jahre der aggressiven anti-habsburgischen Gangart Landgraf Philipps an. Auch für ihn rückte jetzt die Bündnisoption mit Frankreich, mit der Landgraf Philipp bei der Rückeroberung Württembergs gute Erfahrungen gemacht hatte – und für die sich der Hesse 1535 erneut einsetzte, mit der er zuvor aber am Widerstand des Kursachsen gescheitert war24 –, in den Blickpunkt des Möglichen. Beide Hauptleute des Schmalkaldischen Bundes zogen nunmehr die Handlungsperspektive Krieg mehr und mehr in Betracht. Auf der Schmalkaldischen Bundestagung im Februar 1539 in Frankfurt versuchten sie erstmals, ihre Verbündeten zu einem Präventivkrieg zu bewegen. Beide Bundeshauptleute beabsichtigten, das außenpolitisch günstige Zeitfenster zu nutzen: Einerseits stieg nach der verheerenden Niederlage in der Schlacht von Osijek (Kroatien) im Oktober 1537 die Gefahr eines erneuten Angriffs der Osmanen, anderseits bahnte sich ein Bündnis des Schmalkaldischen Bundes mit Frankreich an. Die meisten Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes lehnten jedoch einen 21 22
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Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 88-90. Vgl. ausführlich Joachim Lauch, Bayern und die deutschen Protestanten 1534-1546. Deutsche Fürstenpolitik zwischen Konfession und Libertät, Neustadt a.d. Aisch 1978 (= Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, 56), S. 63-150. Heribert Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Land und Konfession 1500-1650. Hrsg. von Anton Schindling [u.a.], Bd 3: Der Nordwesten, Münster 1995, S. 86-107. Lehmann, Fatale Lust (wie Anm. 19), S. 77.
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Präventivschlag ab. Sie setzten auf Verhandlungen mit dem Kaiser, der sich in dieser für ihn schwierigen Situation kompromissbereit zeigen musste. Im April 1539 kam es zum »Frankfurter Anstand«. Dieser auf sechs Monate angelegte Religionsfriede beendete zunächst die Prozesse am Reichskammergericht gegen die Protestanten. Zudem sollte der derzeitige konfessionelle Status quo gewahrt bleiben: Weder Schmalkaldischer noch Nürnberger Bund durften neue Mitglieder aufnehmen. Ein vom Kaiser in Aussicht gestelltes Religionsgespräch zwischen Alt- und Neugläubigen wurde gleichfalls verabredet.25 Die Frankfurter Vereinbarungen entspannten die kriegerische Situation nur temporär, auch weil weder der Frankfurter Anstand vom Kaiser ratifiziert noch das verabredete Religionsgespräch von ihm ausgeschrieben wurde. Überdies machten in der zweiten Jahreshälfte 1539 im Reich Gerüchte die Runde, wonach Kaiser und Papst planten, gemeinsam Reichsfürsten unter dem Vorwand der Religion anzugreifen. Kundschafter lieferten konkrete Hinweise, dass Karl V. mit Heeresmacht durch Frankreich auf die habsburgischen Niederlande zu marschierte, um die Erbfolgefrage im Herzogtum Geldern militärisch in seinem Sinne zu klären. Konfessionsübergreifend wuchs im Reich die Angst vor der Bedrohung der fürstlichen Libertät. Im Schmalkaldischen Bund wurden Szenarien debattiert, die vom Schlimmsten ausgingen: was einträte, wenn der Kaiser sich das Herzogtum Geldern mit Gewalt einverleibte. Zunächst stünde in einem solchen Fall ein habsburgischer Angriff auf die niederrheinischen Herzogtümer JülichKleve-Berg an, dann würden die Hochstifte Münster, Osnabrück und Paderborn folgen. Der gesamte deutsche Nordwesten könnte in die Hände der Habsburger fallen, was auch Folgen für die rheinischen Kurfürstentümer haben würde; so argumentierte beispielsweise der hessische Landgraf Philipp.26 Außenpolitisch ergab sich um den Jahreswechsel 1539/40 zudem eine neue Bündnisoption für den Schmalkaldischen Bund. Zwischen dem englischen König Heinrich VIII. und Anna von Jülich, der Schwester von Herzog Wilhelm V. und Schwägerin des sächsischen Kurfürsten, bahnte sich eine Eheabrede an. Zugleich intensivierten die beiden Bundeshauptleute ihre Bemühungen, Herzog Wilhelm V. von Jülich und Geldern in den Schmalkaldischen Bund aufzunehmen. Dieser Vorstoß stieß aber auf dem Schmalkaldischen Versammlungstag im November 1539 in Arnstadt genauso wie die Bündnispläne mit England auf Ablehnung der meisten Mitglieder. Der sächsische Kurfürst war darüber so erbost, dass er drohte, seine Hauptmannschaft niederzulegen.27 Anfang des Jahres 1540 spitzte sich das Gefährdungspotenzial in den Augen von Landgraf Philipp und Kurfürst Johann Friedrich dramatisch zu. Für beide stand fest, dass der Kaiser gemeinsam mit den Herzögen von Bayern und Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel jetzt einen Krieg gegen die deutschen Protestanten führen werde. Deswegen dürften die Schmalkaldischen Verbündeten nicht »still sitzen [und warten,] bis man uns angreift«, so der hessische Landgraf. Er beabsichtigte deshalb, mit einer »Koalition der Willigen« den »Vorstreich«
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Vgl. ausführlich zur Politik der beiden Bundeshauptleute zwischen 1537 und 1539 Lies, Zwischen Krieg und Frieden (wie Anm. 17), S. 251-471; Zusammenfassung bei Lehmann, Fatale Lust (wie Anm. 19), S. 69 f. Lies, Zwischen Krieg und Frieden (wie Anm. 17), S. 470, Anm. 503. Lehmann, Fatale Lust (wie Anm. 19), S. 116 f. und S. 122 mit Anm. 102.
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– also einen Präventivschlag – zu führen.28 Der Hesse stellte ganz konkrete Rüstungs- und Aufmarschpläne auf, in die er neben Mitgliedern des Schmalkaldischen Bundes auch den König von Dänemark einbezog.29 Die Vorschläge der beiden Bundeshauptleute trafen bei der Frühjahrstagung des Bundes im März/ April 1540 in Schmalkalden aber erneut auf den Widerstand der Verbündeten, nicht zuletzt deshalb, weil im Aggressionsfall eine Verdoppelung der »Großen Anlage« unumgänglich gewesen wäre. Die Mehrzahl der Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes setzte ihre Hoffnungen auf das sich doch noch abzeichnende Religionsgespräch.30
Die Doppelehe des Landgrafen und ihre Folgen Trotz der Widerstände der Schmalkaldischen Verbündeten setzten beide Bundeshauptleute ihre anti-habsburgische Politik fort und hielten sich ebenso die Bündnisoptionen mit Frankreich und England offen. Diese Wege beschritten sie zumindest bis in den Sommer des Jahres 1540 gemeinsam, dann sollte aber eine dramatische Veränderung der Lage eintreten.31 Wie viele andere Regenten seiner Zeit hatte auch Landgraf Philipp von Hessen neben seiner Ehe mit Christina von Sachsen zahlreiche außereheliche Affären. Das änderte sich, als er im Spätsommer 1539 das adelige Hoffräulein Margarethe von der Saale kennenlernte und sich in sie verliebte. Deren Mutter weigerte sich, ihm Margarethe als Mätresse zu geben, und verlangte eine Heirat. Weltliches wie auch Kirchenrecht verboten eine Zweitoder Doppelehe jedoch bei Todesstrafe. Landgraf Philipp sann daher nach einem Ausweg und fand ihn im Alten Testament, in dem an zahlreichen Stellen von Mehrehen der Erzväter die Rede ist. Landgraf Philipp konfrontierte im Dezember 1539 Martin Luther und Philipp Melanchthon sehr nachdrücklich mit seinem Wunsch, eine zweite Ehe einzugehen. Mit großem Bedenken stellten sie ihm den Wittenberger Beichtrat aus, der eine Doppelehe aus Gewissensnot ausnahmsweise gestattete, unter allen Umständen aber geheim bleiben musste. Am 4. März 1540 heiratete Landgraf Philipp Margarethe von der Saale. Nach der Hochzeit kamen im Reich schnell Gerüchte über die Doppelehe auf. Schuld daran war hauptsächlich die Schwester des Landgrafen, Elisabeth von Rochlitz, die sehr wütend auf die Zweitehe ihres Bruders reagierte und mit ihren halböffentlichen Klagen die Gerüchtemaschinerie eigentlich erst in Gang setzte. Bald schon war das Geheimnis kein Geheimnis mehr. Im Frühsommer 1540 wussten zumindest führende Häupter im protestantischen Lager über die Bigamie des Landgrafen Bescheid. Landgraf Philipp 28
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Landgraf Philipp von Hessen an Herzog Ulrich von Württemberg vom 1.1.1540, in: Dokumente zu den politischen Beziehungen Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg 1528-1541. Hrsg. von Jan Martin Lies, Marburg 2014 (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen, 46.13), S. 163-168. Landgräflicher Vorschlag zu Rüstungsleistungen zugunsten des Herzogs von Jülich und Geldern vom 15.2.1540, in: Dokumente zu den politischen Beziehungen Philipps des Großmütigen (wie Anm. 28), S. 177. Lehmann, Fatale Lust (wie Anm. 19), S. 121. Vgl. ausführlich ebd., S. 83-142.
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wollte aber die Deutungshoheit und das Heft des Handels in der Hand behalten. Er beabsichtigte deshalb, den Wittenberger Beichtrat publik zu machen und die Doppelehe öffentlich zu verteidigen. Gleichzeitig verlangte er, die Bigamie im bündischen Kontext als Religionssache einzustufen. Weil er sich von diesen Vorhaben nicht abbringen ließ, fielen die Verbündeten von ihm ab. Sein Mithauptmann im Schmalkaldischen Bund, der sächsische Kurfürst, führte ihm die unausweichlichen Konsequenzen vor Augen: Sollte der Kaiser die Doppelehe zum Anlass nehmen, um gegen ihn militärisch vorzugehen, dann könnte ihm der Schmalkaldische Bund nicht helfen, weil er sonst Verfassungsbruch begehen würde. Der Bund hatte sich zusammengeschlossen, um sich bei einem Angriff in Religionssachen zu verteidigen. Philipps Bigamie wäre aber eine reine Profansache, quasi seine Privatangelegenheit. Die Isolation Landgraf Philipps geschah zum ungünstigsten Zeitpunkt. Der sächsische Kurfürst vollführte im Sommer 1540 einen radikalen politischen Kurswechsel und entwickelte einen eigenen konfessionsübergreifenden, antihabsburgischen Bündnisentwurf auf europäischer Ebene, der »an Planungen, Ideen, Ambitionen und Hoffnungen an Philipp in seinen engagiertesten Zeiten erinnert«.32 Der Schmalkaldische Bund sollte sich mit dem Teilkönig von Ungarn, Johann Zápolya, mit Dänemark, Polen, Preußen, Brandenburg, dem französischen König und mit dem Herzog von Jülich zusammenschließen, um Letztgenannten bei der Verteidigung des Herzogtums Geldern zu unterstützen. Die Chancen für ein solches Bündnis seien günstig, die potenziellen Bündnispartner signalisierten ihre Teilnahme. Aus Paris hieß es beispielsweise: »Der König von Frankreich ist zu dieser Zeit mehr denn zu anderen Zeiten« bereit, sich in ein »ehrliches unverwüstliches«33 Bündnis einzulassen. Ausgerechnet Landgraf Philipp, der in der Vergangenheit keiner anti-kaiserlichen Allianz aus dem Weg gegangen war, hintertrieb jetzt aber den europäischen Bündnisplan des Kursachsen. Kurfürst Johann Friedrich erahnte die Gründe und versuchte – fast flehentlich und mehrfach – den Landgrafen umzustimmen: Philipp sollte nicht wegen des »bösen beschwerlichen Ärgernis[ses]« oder der »bewusste[n] geheimen Sache« (so wurde die Doppelehe umschrieben) die Verbindung mit Frankreich und anderen Mächten opfern, denn sonst würde das bisher Erreichte eher »zerschlagen denn gefördert werden.«34 Aber der hessische Landgraf ließ sich nicht mehr umstimmen. Für ihn stand als einziger Ausweg fest, sich dem Kaiser anzunähern und bei Karl V. um Vergebung der Doppelehe anzusuchen. Im Herbst 1540 bot Landgraf Philipp dem Kaiser Geheimverhandlungen an, auf die sich dieser sehr bereitwillig einließ, auch weil kurz zuvor das Osmanische Reich eine neue Großoffensive gestartet hatte. Die Geheimverhandlungen führten im Juni 1541 zum Geheimvertrag von Regensburg. Darin verpflichtete sich der hessische Landgraf, dass der Schmalkaldische Bund kein Bündnis mit Frankreich, mit England, mit dem Herzog von Jülich und Geldern oder mit einer
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Lies, Zwischen Krieg und Frieden (wie Anm. 17), S. 489. HstAM, PA, Nr. 2591, 235-241: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Landgraf Philipp von Hessen vom 17.9.1540. Ebd.
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anderen gegen den Kaiser gerichteten Macht eingehen würde. Dafür vergab ihm der Kaiser seine Doppelehe.35 Der Geheimvertrag von Regensburg war der Anfang vom Ende des Schmalkaldischen Bundes, weil Landgraf Philipp sich an die Abmachungen von Regensburg hielt und so (unwissentlich) Kaiser Karl V. half, den Schmalkaldischen Krieg vorzubereiten. Drei Beispiele, die direkt darauf bzw. auf die Doppelehe zurückzuführen sind, sollen dies belegen. Beispiel 1: Kaiser Karl V. benötigte Anfang der 1540er Jahre abermals die Reichsstände für seinen Kampf gegen das Osmanische Reich und Frankreich. Während die beiden Bundeshauptleute bislang stets eine gemeinsame Position bei den Hilfsgesuchen des Kaisers vertreten hatten, wurden sie nun uneinig. Auf den Reichstagen 1542 und 1544 setzte sich Landgraf Philipp von Hessen vehement für Türkenhilfe und Unterstützung des Kaisers ein. Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen war strikt dagegen. Er erkannte aber die Motivation des Landgrafen: Es war »die bewusste Sache«, die diesen so handeln ließ.36 Unterdessen genoss Landgraf Philipp so großes Vertrauen am Kaiserhof, das ernsthaft überlegt wurde, ihn für den Kaiser als Feldherrn im Kampf gegen Frankreich einzusetzen.37 Beispiel 2: Noch deutlicher zeigten sich die Einflüsse des Geheimvertrages in den Auseinandersetzungen um das Herzogtum Geldern. Anfang 1543 unternahm Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen widerholt den Versuch, seinen Schwager, den Herzog von Jülich und Geldern, als Mitglied in den Schmalkaldischen Bund aufzunehmen. Denn der Herzog war nunmehr offiziell zum Protestantismus übergetreten.38 Landgraf Philipp lehnte die Aufnahme ab, unter anderem mit dem Hinweis, dass er sich verpflichtet habe, den Herzog nicht als Mitglied im Bund zuzulassen.39 Auch der Erzbischof und Kurfürst von Köln, Hermann von Wied, der ebenfalls die Reformation in seinem Hoheitsbereich einführen wollte, versuchte mehrfach, Landgraf Philipp im bevorstehenden Kampf um das Herzogtum auf die Seite des bedrängten Herzogs von Jülich und Geldern zu ziehen. Ähnlich wie der Kurfürst von Sachsen argumentierte der Erzbischof mit dem drohenden Verlust der deutschen Libertät, würde sich der Kaiser das Herzogtum Geldern einverleiben: Solches werde zur »Zerrüttung und dem Untergang eines großen Teils der deutschen Nation« führen. Landgraf Philipp, der in früheren Zeiten bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Angst vor dem Verlust fürstli-
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Der Geheimvertrag von Regensburg vom 13.6.1541 ist abgedruckt in: Briefwechsel Landgraf Philipp’s des Großmütigen von Hessen mit Bucer. Hrsg. von Max Lenz, Bd 3, Leipzig 1891 (= Publikationen aus den k. preußischen Staatsarchiven, 47), S. 93-96. ThHStAW H, S. 467, Nr. 164, 1-7: Georg Brück an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen im Oktober 1542; ThHStAW H, S. 546, Nr. 180, 84-87: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Landgraf Philipp von Hessen am Mittwoch von Vitus (15.6.) 1543. ThHStAW H, S. 546, Nr. 180, 3-10: Sebastian Schertlins Bericht über eine Unterredung mit dem kaiserlichen Minister Granvella an Landgraf Philipp von Hessen im Mai 1543. ThHStAW H, S. 519 Nr. 175, 8-10: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Landgraf Philipp von Hessen vom Dienstag nach Fabian (20.1.) 1543; sowie ebd., 86-91: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Landgraf Philipp von Hessen am Freitag nach Estomihi 1543. ThHStAW H, S. 519 Nr. 175, 70-72, 92: Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen am 29.1.1543; sowie ebd., 96-98: Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen am 1.2.1543.
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cher Freiheiten vorgebracht hatte, entgegnete darauf lapidar: Es sei zwecklos, dem Herzog zu helfen, weil »der Kaiser das Geldernland [unbedingt] haben will«40. Beispiel 3: 1543 versuchte Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen erneut, seinen Mithauptmann Landgraf Philipp für ein Bündnis gegen den Kaiser zu gewinnen: Der Kurfürst beabsichtigte, sich mit den altgläubigen Herzögen von Bayern zusammenschließen, welche ein zu mächtiges Haus Habsburg befürchteten. Er legte die Vorteile eines solchen Bündnisses offen dar: Ein Keil würde so in den altgläubigen Nürnberger Bund getrieben und die deutsche Freiheit bliebe gewahrt. Auch dieses Angebot schlug Landgraf Philipp aus: Er hätte sich gegenüber dem Kaiser verpflichtet, »kein neues Bündnis in weltlichen Sachen einzugehen«. Daran werde er sich »ehrenhalber« auch halten.41 Das Festhalten des Landgrafen am Regensburger Geheimvertrag zeigte außenpolitisch Wirkung: Im Verlauf der 1540er Jahre kühlte sich das Verhältnis des Schmalkaldischen Bundes zu König Franz I. von Frankreich merklich ab.42 Die historische Forschung der letzten Jahrzehnte hat immer wieder den Versuch unternommen, den Kausalzusammenhang zwischen Doppelehe und Regensburger Geheimvertrag zu negieren. Sie führte einen zweifachen kaiserlichen Ministerbesuch im Juni und August des Jahres 1538 in Hessen als Argument an, um eine Annäherung des Landgrafen an den Kaiser bereits vor dessen Bigamie zu begründen.43 Unabhängig von der Banalität der Gesprächsergebnisse bei dem Treffen in Hessen44 lässt das Argument die Chronologie der Ereignisse außer Acht, denn der dezidiert anti-habsburgische Habitus Landgraf Philipps am Jahreswechsel 1539/40 erinnerte allenfalls an den Vorabend der Rückeroberung Württembergs.45 Der Hesse wollte den Krieg und eine anti-habsburgische Allianz im europäischen Kontext. Erst die der Doppelehe geschuldete Isolation Philipps von seinen Schmalkaldischen Verbündeten ließ ihn diesen radikalen Politikwechsel einschlagen. 40
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ThHStAW reg. H, S. 546, Nr. 180, 97 f.: Landgraf Philipp von Hessen an Erzbischof Hermann von Köln am 8.6.1543. Vgl. dazu auch ebd., 95 f.: Erzbischof Hermann von Köln an Landgraf Philipp von Hessen vom 6.6.1543; ebd., 100 f.: Erzbischof Hermann von Köln an Landgraf Philipp von Hessen am 11.6.1543; sowie 102 f.: Landgraf Philipp von Hessen an Erzbischof von Köln am 18.6.1543. ThHStAW H, S. 519 Nr. 175, 6 f.: Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen am 19.1.1543; vgl. auch ebd., 161-166: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Landgraf Philipp von Hessen in der Woche nach Invocavit 1543; ThHStAW H, S. 546, Nr. 180, 50 f. Landgraf Philipp von Hessen an Herzog Ulrich von Württemberg am 13.6.1543; ähnlich auch ebd., 57-62: Landgraf Philipp von Hessen an Dr. Leonhard von Eck am 12.6.1543. Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung, Deutschland 1500-1600, München 1989 (= Neue Deutsche Geschichte, 4), S. 252. Georg Schmidt, Gefangen vor der Gefangenschaft? Landgraf Philipp und der Regensburger Geheimvertrag von 1541. In: Hundert Jahre Historische Kommission für Hessen. Hrsg. von Walter Heinemeyer, Bd 1, Marburg 1997, S. 463-480. Vgl. zu den Ergebnissen des Gespräches zwischen Philipp und dem kaiserlichen Minister Naves Lies, Zwischen Krieg und Frieden (wie Anm. 17), S. 372-396. »So antihabsburgisch war er [Landgraf Philipp] seit Beginn der dreißiger Jahre nicht mehr aufgetreten. Ja, es war sogar eine nochmalige Verschärfung seiner antihabsburgischen Gesinnung zu Beginn der dreißiger Jahre, da er jetzt explizit anti-kaiserlich auftrat.« Lies, Zwischen Krieg und Frieden (wie Anm. 17), S. 457.
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Der erste Bündnisfall Einer der letzten altgläubigen Fürsten im Norden des Reiches, Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, führte seit Jahren eine erbitterte Auseinandersetzung mit den beiden Bundesmitgliedern Braunschweig und Goslar. Nachdem Goslarer Bürger drei Klöster außerhalb der Stadtmauern zerstört hatten, verklagte Herzog Heinrich die Stadt beim Reichskammergericht. Im Oktober 1540 wurde über Goslar die Reichsacht verhängt, mit der Vollstreckung wurde Herzog Heinrich beauftragt. Auch wenn die Reichsacht zu Beginn des Jahres 1542 ausgesetzt wurde, nahmen die gewaltsamen Übergriffe des Welfen auf Goslar sowie auf Braunschweig zu. Auf der Tagung des Bundes am Rande des Reichstages von Speyer 1542 wurden die Auseinandersetzungen mit Herzog Heinrich als Religionssache eingestuft. Die Schmalkaldischen Verbündeten beschlossen, ihren Mitgliedern militärischen Beistand zu gewähren. Es war das erste Mal seit der Gründung, dass der Bündnisfall eintrat. Die Kriegsvorbereitungen begannen im Frühling und Frühsommer 1542. Am 13. Juli wurde der Fehdebrief an Herzog Heinrich gesendet. Neun Tage später begannen die Kämpfe. Die Streitmacht des Bundes war zahlenmäßig weit überlegen. Wolfenbüttel wurde belagert und nach wenigen Tagen erobert, kurz darauf war das gesamte Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel eingenommen. Dem besiegten Herzog gelang allerdings die Flucht zu den bayerischen Herzögen, womit eines der wichtigsten Kriegsziele verfehlt wurde.46 Nach der Eroberung des Herzogtums wurde dort umgehend die Reformation eingeführt.47 Die Besetzung des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel währte drei Jahre, die von zwei Faktoren geprägt waren: einerseits die permanente Angst vor dem geflohenen Welfen, andererseits Geldmangel. Die Verbündeten fürchteten, Herzog Heinrich könne mit Hilfe des Kaisers, des Papstes oder anderer altgläubiger Reichsfürsten versuchen, sein Herzogtum zurückzuerobern. Wilde Gerüchte und Spekulationen über Rüstungen, Söldnerwerbungen und Truppenbewegungen machten unter den schmalkaldischen Verbündeten die Runde.48 Innerhalb des Bundes, vor allem bei seinen beiden Bundeshauptleuten, herrschte ein das protestantische Lager lähmendes »Gefühl der Unsicherheit«49. Gleichzeitig brach Streit ums Geld aus, der das Vertrauensverhältnis unter den Bundesmitgliedern entscheidend störte. Krieg und Besetzung des Herzogtums verschlangen riesige finanzielle Mittel. Beide Bundeshauptleute forderten 1543, die »Große Anlage« zu verdreifachen. Der Widerstand war enorm, einige 46
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Lehmann, Fatale Lust (wie Anm. 19), S. 143-149; vgl. auch Franz Petri, Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel. Ein niederdeutscher Territorialfürst im Zeitalter Luthers und Karls V. In: Archiv für Reformationsgeschichte, 72 (1981), S. 122-158. ThHStAW H, S. 519, Nr. 175, 238-240: Landgraf Philipp von Hessen an seine Statthalter und Räte in Wolfenbüttel am 21.2.1541; ähnlich auch ebd., 228 f., 248: Landgraf Philipp von Hessen an Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen am 20.2.1543. Vgl. die diesbezüglichen Beispiele aus dem Jahr 1543 bei Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 114. Georg Mentz, Johann Friedrich der Großmütige 1503-1554, Bd 2: Vom Regierungsantritt bis zum Beginn des Schmalkaldischen Krieges, Jena 1908 (= Beiträge zur neueren Geschichte Thüringens), S. 361.
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Mitglieder drohten offen mit Austritt. Kurfürst Johann Friedrich und Landgraf Philipp, dem sogar persönliche Bereicherung vorgeworfen wurde, drohten ihrerseits die Bundeshauptmannschaft niederzulegen.50 Die Erhöhung der »Großen Anlage« wurde auf der Bundestagung im Sommer 1543 zwar beschlossen, aber nicht alle zahlten ihren Beitrag. Zu den säumigen gehörten vor allem die Fürsten, so die Herzöge von Württemberg und Pommern. Die Städte, welche ihren Anteil meist nur durch Kreditaufnahmen aufbringen konnten, klagten, dass die »ganze Last des Bundes allein die Gehorsamen«51 tragen. Die Stimmung innerhalb des Bundes war so schlecht wie nie zuvor. Auf der Tagung wurde zudem beschlossen, die Kosten der Besetzung zu reduzieren. So sollten einige Festungen geschliffen, andere mit weniger Besatzung versehen werden. Auch wurde die bisherige kursächsisch-hessische Doppelverwaltung des Herzogtums zu einer einzigen zusammengeführt.52 Trotzdem brach der Streit ums Geld nicht ab. Immer mehr Mitglieder des Bundes zweifelten zudem an der Rechtmäßigkeit der Besetzung des Herzogtums. Auf dem Bundestag 1545 in Worms fiel dann gegen den Willen der beiden Bundeshauptleute der Beschluss, die Truppen des Bundes abzuziehen und das Herzogtum binnen eines Monats an den Kaiser zu übergeben. Dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel sollte eine Rückkehr jedoch verwehrt werden.53 Heinrich sah nun die Chance, sein Herzogtum zurückzuerobern. Mit einer mehrere Tausend Söldner zählenden Streitmacht stand er Ende September 1545 vor den Toren Wolfenbüttels. Der sächsische Kurfürst Johann Friedrich und Landgraf Philipp zogen ihre Heere in der Nähe der Reichsstadt Mühlhausen zusammen. Mit 24 000 Mann unter Waffen marschierten sie erneut in das Herzogtum ein. Am 21. Oktober 1545 kam es bei Kalefeld zur Schlacht zwischen den ungleichen Gegnern. Herzog Heinrich wurde vom zahlenmäßig überlegenen Heer des Schmalkaldischen Bundes erneut geschlagen. Dieses Mal gelang es, ihn gefangen zu nehmen. Er wurde von Landgraf Philipp im hessischen Ziegenhain unter harten Haftbedingungen eingekerkert – zum Unmut vieler Reichsfürsten.54
Der Kaiser ist zum Krieg gezwungen Auf dem Reichstag zu Regensburg im Frühsommer 1546 offenbarte Kaiser Karl V. unverhohlen seine Kriegsabsichten. Kurze Zeit später wurde die Reichsacht über die beiden Bundeshauptleute des Schmalkaldischen Bundes verhängt – der offizielle Beginn des Schmalkaldischen Krieges. Als vorgeschobener Grund für die Verhängung der Acht diente die Gefangensetzung von Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel im Vorjahr. Der Kaiser hatte den Krieg gut vorbereitet: 1544 zwang er den französischen König in den Frieden von Crépy, ein 50 51
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Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 115. ThHStAW H, S. 519, Nr. 175, 184-188, hier 184: Hessische Räte auf dem Tag von Nürnberg an den Landgrafen am 10.2.1543. Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 115 f. Ebd. Lehmann, Fatale Lust (wie Anm. 19), S. 148-150; Petri, Herzog Heinrich (wie Anm. 46), S. 148 f.; Mentz, Johann Friedrich, Bd 2 (wie Anm. 49), S. 427-437.
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Jahr später kam es zum Waffenstillstand mit dem Osmanischen Reich, und 1546 schloss Karl V. einen Vertrag mit dem Papst, der ihm Truppen und große Geldmittel zur Verfügung stellte. Außenpolitisch hatte der Habsburger nun völlig freie Hand. Es waren aber vornehmlich die Entwicklungen im Schmalkaldischen Bund, die Karl V. jetzt zum Handeln zwangen, obwohl er im Sommer 1546 noch nicht im vollen Umfang angriffsbereit war: Die Truppen des Kaisers waren noch nicht vereint und folglich dem Schmalkaldischen Bundesheer in Süddeutschland deutlich unterlegen. Bis Mitte September konnte sich das Heer des Kaisers nur passiv verhalten. Unstimmigkeiten im Kriegsrat des Schmalkaldischen Bundes verhinderten einen für diesen günstigeren Kriegsverlauf. Der Kaiser wollte mit seiner Aggressionspolitik unter allen Umständen verhindern, was man im Schmalkaldischen Bundeslager in der ersten Jahreshälfte 1546 einplante: die Erweiterung des Bundes um die Kurfürsten von Köln55 und von der Pfalz56, den Bischof von Münster, Osnabrück und Minden57 sowie um weitere süddeutsche Reichsstädte. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der Schmalkaldische Bund seine größte Erweiterung seit 1536 erlebte. Der Schmalkaldische Bundesabschied vom April 1546 in Worms hielt fest: »Die Notdurft erfordert, die christliche Einung zu erstarken, zu erweitern und christlich zusammenzusetzen, wie denn zu solcher Erweiterung auch die Kur und Fürsten von Köln, der Pfalz und von Münster alle geneigt.«58 Man rechnete fest mit weiteren Beitritten: Der Kurfürst von der Pfalz sei »starken Willens sich in die Einung [den Schmalkaldischen Bund] auch zu begeben«,59 so der sächsische Kurfürst Johann Friedrich. Landgraf Philipp wurde noch konkreter. Für die Novellierung der Bundesverfassung schlug er vor, dass die beiden Bundeshauptleute jeweils eine ihrer beiden Stimmen an einen der neu beitretenden Kurfürsten abgeben 55
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Rainer Sommer, Hermann von Wied, Erzbischof und Kurfürst von Köln, Bd 2: 1539-1543: Die Reichsreligionsgespräche und der Reformversuch im Erzstift Köln, Bonn 2013 (= Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 183); Andree Badea, Kurfürstliche Präeminenz, Landesherrschaft und Reform. Das Scheitern der Kölner Reformation unter Herrmann von Wied, Münster 2009 (= Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 154), S. 183-209. Albrecht Pius Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik 1530-1552 (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg), Göttingen 1982 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 20), S. 349-364. Franz von Waldeck, Bischof von Münster, Osnabrück und Minden, wandte sich ab 1541 offen der Reformation zu. Seine Reformationsversuche stießen aber vor allem im Münsterland auf starken Widerstand. Der Bischof wollte bereits 1543 Mitglied im Schmalkaldischen Bund werden. Sein Ansinnen wurde aber abgelehnt, da er noch nicht vollständig die Reformation durchsetzten hatte können. Vgl. Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 38, 69. 1546 zeigte sich der Bund kompromissbereiter: Anfang 1546 beschloss die Bundesversammlung, ihn notfalls auch nur mit den zum Protestantismus übergetretenen Ständen aufzunehmen. ThStAW EGA, Urkunden, Nr. 1648, 3 f.: Bundesabschied des Schmalkaldischen Bundes am 7.2.1546. ThHStAW H, S. 664 f., Nr. 205, 143-154: Schmalkaldischer Bundesabschied des Bundestages von Worms am 22.4.1546 (Zitat auf S. 144). ThHStAW H, S. 664 f., Nr. 205, 95-98, bes. 96: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen an Eberhard von der Thann und Franz Burchard zu Worms am Montag nach Palmarum 1546.
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sollten: »so möchte [Kur]Sachsen eine Stimme abgebrochen und Köln gegeben, dergleichen Hessen eine, dieselbe Pfalz zugeordnet werden, wenn diese beide Kurfürsten in diesen Bund kommen.«60 Nicht nur für die Bundeshauptleute, sondern auch für einzelne Mitglieder, wie etwa Konstanz, waren die Neuaufnahmen insbesondere der beiden Kurfürsten nur noch eine Formalität.61 Über Monate hinweg wurden zudem bereits Register über die zu zahlenden Beiträge der Schmalkaldischen Bundes- und Neumitglieder geführt. An erster Stelle im oberdeutschen Bundeskreis findet sich dort stets der Kurfürst von der Pfalz; im sächsischen Bundeskreis an oberster Stelle der Kurfürst von Köln, gefolgt vom sächsischen Kurfürsten (beide mit identischen Beiträgen), an dritter Stelle dann der Bischof von Münster. In den angesprochenen Bundesanschlägen finden sich auch Graf Wilhelm von Fürstenberg und Reichsstädte wie Rothenburg ob der Tauber, Schweinfurt, Donauwörth, Wimpfen oder Kaufbeuren mit jeweiligen Beitragszahlungen. Der Ausbruch des Schmalkaldischen Krieges verhinderte jedoch ihren Beitritt. Neu aufgenommen in den Schmalkaldischen Bund wurden 1546 tatsächlich nur noch die Reichsstädte Bopfingen, Dinkelsbühl und Ravensburg.62 Drei Kurfürsten im Schmalkaldischen Bund vereint, dazu eine große Erweiterung des ohnehin schon mächtigen protestantischen Zusammenschlusses: Diese Szenarien stellten eine zu große Gefahr für Kaiser Karl V. dar, als dass er untätig hätte bleiben können. Seine Handlungsoption bestand im Krieg. Verlauf und Ausgang des Schmalkaldischen Krieges sind bekannt, genau wie die – aus Sicht der Schmalkaldischen Verbündeten – unrühmliche Rolle, die Herzog Moritz von Sachsen dabei spielte. Mit der Wittenberger Kapitulation vom Mai 1547 war das Ende des Schmalkaldischen Bundes besiegelt, nicht aber dessen bis heute andauernde Nachwirkungen.63
Fazit Auch wenn der Schmalkaldische Bund letztlich zerschlagen wurde, hatte sich im Schutz und im Schatten des Bundes der Protestantismus im Reich soweit gefestigt, dass er nicht mehr zu verdrängen war. Das militärische Abschreckungspotenzial der Schmalkaldischen Verbündeten, gepaart mit der permanenten konfessions60
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ThHStAW H, S. 664 f., Nr. 205, 103-107, bes. 103: Bedenken des hessischen Landgrafen bezüglich der neuen Bundesverfassung, welche im Entwurf im Februar 1546 in Frankfurt erarbeitet wurde. Ambrosius Blarer an Heinrich Bullinger am 17.2.1546 sowie Heinrich Bullinger an Joachim Vadian am 13.2.1546, beide in: Heinrich Bullinger, Werke, 2. Abt.: Briefwechsel, 16: Briefe von Januar bis Mai 1546. Bearb. von Reinhard Bodenmann [u.a.], Zürich 2014, S. 154-156. HStAM Bestand 3, Nr. 855, 234-245: Bundesanschläge des Schmalkaldischen Bundes aus dem ersten Halbjahr 1546 (u.a. die Bundesanschläge von Frankfurt am Main und Worms); vgl. auch Lehmann, Der Schmalkaldische Bund (wie Anm. 3), S. 124 f. Gerhard Volk, Der Schmalkaldische Krieg 1546-47. In: Schmalkalder Geschichtsblätter, Heft 2. Hrsg. vom Verein für hessische Geschichte und Landeskunde, Zweigverein Kassel, Schmalkalden 1995, S. 6-44.
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übergreifenden Angst der deutschen Fürsten vor Verlust ihrer Libertät und mit der für die Neugläubigen außerordentlich günstigen außenpolitischen Konstellation (der Bindung des Hauses Habsburg durch die Türkenabwehr und durch die Hegemonialauseinandersetzung mit Frankreich), ließen die Reformation ihre »Kindheit« überleben. Während der 17 Jahre seines Bestehens ermöglichte der Schmalkaldische Bund, dass die Reformation staatlich-territoriale Wurzeln schlug, die trotz des 1548 verhängten Augsburger Interims nicht mehr »auszureißen« waren. Der Fürstenaufstand von 1551/52 und der daraus resultierende Passauer Vertrag (1552), der die Anerkennung des Protestantismus besiegelte, belegen dies eindrucksvoll. Der Fürstenaufstand baute auf den Fundamenten auf, die der Schmalkaldische Bund gelegt hatte.64
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Georg Schmidt, Der Kampf um Kursachsen, Luthertum und Reichsverfassung (1546-1553). Ein deutscher Freiheitskrieg. In: Johann Friedrich I., der lutherische Kurfürst. Hrsg. von Volker Leppin [u.a.], Heidelberg 2006 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 204), S. 55-84; Kerstin Schäfer, Der Fürstenaufstand gegen Karl V. im Jahr 1552. Entstehung, Verlauf und Ergebnis vom Schmalkaldischen Krieg bis zum Passauer Vertrag, Taunusstein 2009.
Dominik Gerd Sieber
»Aber gott ist stercker, dann ally wellt«. Die militärische Sicherung der Reformation in den oberschwäbischen Reichsstädten 1525-1555 Tiefste Beunruhigung rief im Frühjahr 1529 der Verlauf des Reichstages von Speyer bei Hans Ehinger1 hervor, der als Gesandter der Reichsstadt Memmingen persönlich an der Reichsversammlung teilnahm. Das Wormser Edikt von 1521 und somit die Bannung Luthers und seiner Lehren wurden nämlich im Ergebnis erneut in Kraft gesetzt. Dies bedeutete für die Evangelischen einen Rückschritt gegenüber dem ersten Speyrer Reichsabschied von 1526, als die Verfügungsgewalt in Glaubensdingen den einzelnen Reichsständen zugestanden worden war. Demnach konnte es ein jeder Reichsstand mit seinen Untertanen so halten, wie er annehme, dies gegenüber Gott und dem Kaiser verantworten zu können. Memmingen und die neugläubigen Reichsstädte hatten diesen Passus in ihrem Sinne ausgelegt und reformatorische Anliegen in die Praxis umgesetzt. So wurde etwa in Memmingen 1527 das Stiftungsvermögen aus dem Kirchengut in einen »Allgemeinen Kasten« überführt und eine Bettelordnung erlassen; im folgenden Jahr wurde dann die altgläubige Messe endgültig abgeschafft.2
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Ein kurzes Biogramm zu Hans Ehinger (1487-1545), der aufgrund seiner patrizischen Herkunft und seiner kaufmännischen Tätigkeit im Dienste der Welser und Besserer hohe Ämter der Stadt Memmingen bekleidete, bietet Johannes Müller, Die Ehinger von Konstanz. In: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins, 59 (1905), S. 19-40, hier S. 36–38. Die ersten offiziellen Schritte zugunsten des neuen Glaubens wurden in Memmingen bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1524 vollführt. Nach einer kurzzeitigen Beschleunigung durch die Ereignisse des Bauernkrieges erfolgte eine nur vorübergehende Unterbrechung, als sich die Stadt eine Besetzung durch die Truppen des Schwäbischen Bundes gefallen lassen musste, weil ihr eine Kooperation mit den aufständischen Bauern vorgeworfen wurde. Nach 1526 schien der Weg dann frei für den Aufbau eines evangelischen Gemeinwesens. Zur Memminger Reformationsgeschichte, v.a. den frühen Jahren, siehe Peter Blickle, Memmingen – ein Zentrum der Reformation. In: Die Geschichte der Stadt Memmingen. Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt. Hrsg. von Joachim Hahn, Wolfgang Bayer und Uli Braun, Stuttgart 1997, S. 349-418; Peer Frieß, Die Zeit der Ratsreformation in Memmingen. In: ebd., S. 419-456; Barbara Kroemer, Die Einführung der Reformation in Memmingen. Über die Bedeutung ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren, Memmingen 1981 (= Memminger Geschichtsblätter, 1980); und Wolfgang Schlenck, Die Reichsstadt Memmingen und die Reformation, Memmingen 1969 (= Memminger Geschichtsblätter, 1968), S. 30-90, bes. S. 64-67; Martin Brecht
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All diese Neuerungen schienen nun 1529 durch den zweiten Speyrer Reichstag und den daraus resultierenden »vnchristlichen abschid«3, wie Hans Ehinger es formulierte, konterkariert. Die neugläubigen Reichsstände, darunter die oberschwäbischen Reichsstädte Ulm, Konstanz, Lindau, Memmingen, Kempten, Biberach und Isny, legten dagegen eine formelle Protestation ein und so firmierten sie nun unter den Protestanten.4
Die bedrohte »civitas christiana« Memmingen Vor diesem Hintergrund befürchtete der Memminger Reichstagsgesandte Ehinger konkrete militärische Interventionen durch den Kaiser, der den Herzog von Bayern, den Schwäbischen Bund oder den kaiserlichen Feldhauptmann Caspar von Frundsberg damit hätte beauftragen können.5 Vielleicht hallte dabei auch noch die Drohung des prominenten Luther- und Reformationsgegners Johannes Eck nach, der als Reaktion auf die Abschaffung der römischen Messe Ende 1528 den neugläubigen Memmingern unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass diese Maßnahme nicht ohne Folgen bleiben würde, und am 11. Februar 1529 eine einschüchternde Botschaft übermittelte, die folgendermaßen lautete: »Gedenket an mich, es wird euch leid werden; praedixi vobis!«6 Im brieflichen Austausch riet Hans Ehinger seiner Vaterstadt, angesichts der entstandenen Unsicherheiten vorsichtshalber die Befestigungsanlagen in Stand zu setzen, zu verstärken und militärische Rüstungen zu beginnen: »Ist deshalben min getrywer Rautt: jer wellind, günstig w. l. herren, Ewer statt jnn guotter huott, vnder den thoren vnd sonst allenthalben jn vast guotter achtung haben, das des vngetrywen nyendertt mit Ewch gespillt werdj; dann zu sorgen, man werdj Ettlich stetten zusetzen, insonderhaitt strausbuorg, Costenz, lindo, memmingen vnd leicht nuorenberg auch. Aber gott ist stercker, dann ally wellt; den welin wier zu dem obersten hoptman haben vnd machen.«7
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und Hermann Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte. Zur Einführung der Reformation im Herzogtum Württemberg 1534, Stuttgart 1984, S. 67-69. Friedrich Dobel, Memmingen im Reformationszeitalter nach handschriftlichen und gleichzeitigen Quellen, Bd 3: Hans Ehinger als Abgeordneter von Memmingen auf dem Reichstage zu Speier und Abgesandter der protestierenden Stände an Kaiser Carl V. 1529, Augsburg 1877, S. 71 (Brief Hans Ehingers vom 25.4.1529). Brecht/Ehmer, Südwestdeutsche Reformationsgeschichte (wie Anm. 2), S. 134-139. Bereits im Februar 1529 bekamen es die Memminger in dieser Hinsicht mit der Angst zu tun, wie ein Brief des Memminger Prädikanten Simprecht Schenk an Zwingli zeigt: »Am 23. Tag Februarij umb iij nach mittemtag ist küng Ferdinandus zů Memmingen fast 4 hundert starck eingeritten, und am 24. umb die achten widerum hinwegk, Ulmm zů auff den pundstag. Hond meine hernn in der statt ainn treffenlich grossen wacht gehalten, alle ding, als miest man ain schlacht thon, haimlich fürgesehen.« Huldreich Zwingli, Sämtliche Werke, Bd 10, Leipzig 1929, S. 60 (Schreiben vom 24.2.1529). Zitiert nach Frieß, Die Zeit der Ratsreformation (wie Anm. 2), S. 425. Dobel, Memmingen (wie Anm. 3), S. 70 (Hans Ehinger in Speyer an den »Fiersichtigen Ersamen vnd weisen buorgermaister vnd gehaimen Raetten zu memmingen«, Brief vom 23.4.1529).
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Konkret schlug Ehinger vor, das östlich vor den Stadtmauern situierte Schottenkloster abzureißen, das durch die Einführung der Reformation inzwischen profaniert worden war. Zum einen sollte damit freies Schussfeld geschaffen und zum anderen Baumaterial für geplante Fortifikationsanlagen gewonnen werden. Bereits 1512 hatte der Magistrat die Wirtschaftsgebäude des Klosters abbrechen lassen, nachdem er seine Oberhoheit über das verwaiste Kloster durchgesetzt hatte, das schon seit Langem Schwierigkeiten hatte, eine ausreichende personelle Besetzung aufrechtzuerhalten. Bis 1529 waren dann auch alle anderen Gebäude der Anlage, mit Ausnahme der Kirche, sukzessive abgerissen worden.8 Der letzte Schritt zur endgültigen Beseitigung des Schottenklosters, nämlich der Abbruch seines Allerheiligsten, der dem heiligen Nikolaus geweihten Klosterkirche, wurde schon einige Jahre früher eruiert. Da sich die aufständischen Bauern 1525 während ihrer Belagerung Memmingens in den Resten des Klosters verschanzten9, beriet sich der Memminger Gesandte Hans Keller bereits auf dem Reichstag von Augsburg, der im Dezember 1525 und Januar 1526 tagte, mit anderen Städteabgeordneten über den vollständigen Abriss, wobei wohl die quasi reichsunmittelbare Stellung des Schottenklosterverbandes dies zunächst noch verhinderte.10 Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1529 boten die außenpolitischen Rahmenbedingungen dann erneut die Notwendigkeit, dieses Unterfangen zu realisieren.11 Durch Ehingers Nachrichten aufgeschreckt, handelte der Memminger Rat unverzüglich und setzte seine Vorschläge um. Eine Abordnung des Magistrats unter der Führung Ulrich Liebers, der seit 1525 Mitglied des Geheimen Rates und ein eifriger Befürworter der Reformation war, erschien vor dem Augustinereremitenkonvent, der die Rechtsnachfolge der Schotten angetreten hatte, und legte ihm den Abriss des verbliebenen Klosterbestandes samt Kirche nahe, unter Verweis auf drei Mandate König Ferdinands, in denen um Türkenhilfe angehalten wurde.12 Der Abriss des Schottenklosters wurde mit der Türkengefahr gerechtfertigt, denn die Osmanen belagerten passenderweise zeitgleich die habsburgische Residenzstadt Wien. Dass das reale Bedrohungsempfinden in der Reichsstadt in Wirklichkeit nicht sehr hoch sein konnte, geschweige denn ein Durchbruch der Heerscharen des »Erbfeinds christlichen Namens« bis ins Schwäbische tatsächlich befürchtet wurde, illustriert die Haltung der Stadt in den Jahren 1523 und 1526, als sie energisch für eine Verringerung ihrer Türkenbeiträge eintrat. 8
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Uli Braun, Stätte der Stille. Der Alte Friedhof zu Memmingen. In: Das schöne Allgäu, 38 (1975), 3, S. 114-116, hier S. 114; Adalbert Mischlewski, Die Abtei Ottobeuren und das Memminger Schottenkloster St. Nikolaus. In: Memminger Geschichtsblätter, 1963, S. 24-42, hier S. 38. Zur Situation und Belagerung Memmingens im Bauernkrieg vgl. Blickle, Memmingen (wie Anm. 2); Peer Frieß, Die Außenpolitik der Reichsstadt Memmingen in der Reformationszeit (1517-1555), Memmingen 1993, S. 70-79; Schlenck, Die Reichsstadt Memmingen (wie Anm. 2), S. 45, 50 f. Helmut Flachenecker, Das mittelalterliche Schottenkloster St. Nikolaus zu Memmingen. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, 109 (1998), S. 185-209, hier S. 198. Vgl. zur außenpolitischen Lage im Jahre 1529 Frieß, Außenpolitik (wie Anm. 9), S. 97. Maurus Feyerabend, Des ehemaligen Reichsstiftes Ottenbeuren Benediktiner Ordens in Schwaben Sämmtliche Jahrbücher, in Verbindung mit der allgemeinen Reichs- und der besondern Geschichte Schwabens, Bd 3: 1519-1740, Ottobeuren 1815, S. 87; Flachenecker, Das mittelalterliche Schottenkloster (wie Anm. 10), S. 199.
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Sehr wohl aber fürchtete man militärische Übergriffe altgläubiger katholischer Kräfte in das junge evangelische Gemeinwesen.13 Wie schon 1388, vor dem Hintergrund des Städtekrieges, konnte das Argument für ein freies Schussfeld im Vorfeld der Stadtbefestigung nun wieder geltend gemacht werden, vor allem unter dem Eindruck der Situation im Bauernkrieg von 1525, um jegliche religiöse Motivation zu verschleiern.14 Obwohl die Augustiner auf ihre kaiserlichen Privilegien hinwiesen und die Demolierung so zu verhindern suchten, wurde der Abbruch im Herbst 1529 durch die Machtvollkommenheit der städtischen Obrigkeit, die auch die Augustineremiten dominierte, rücksichtslos verwirklicht.15 Die Augustiner mussten den Arbeiten ohnmächtig zusehen, wobei sie aber in einem Bericht nicht nur diese unerhörten Vorgänge, sondern auch das Aussehen der ehemaligen Klosteranlage festhielten.16 Auf dem Abbruchareal wurde anschließend der neue außerstädtische Friedhof angelegt, der ab 1532 den gesamten ehemaligen Klosterbereich bedeckte und nach der Auflassung der innerstädtischen Sepulturen die Memminger Toten in den nächsten 400 Jahren aufnehmen sollte.17 Der Abriss der Klosterkirche stellte den Höhe- und Endpunkt einer Entwicklung dar, die auf die rechtliche Neutralisierung und schließlich die bauliche Auflösung des Schottenkonvents durch die Stadt abzielte und auch für deren Rechtsnachfolger, die Memminger Augustiner, jedes Eindringen in dieses Vakuum zu vereiteln suchte. Das Beispiel veranschaulicht, wie sich hier langfristig schon vorreformatorische (religions-)politische Ziele mit der neuen Lehre verzahnen konnten. Rückendeckung erhielten die Memminger dabei durch niemand geringeren als die führende Reformatorenfigur in Schwaben, Ambrosius Blarer aus Konstanz, der Bürgermeister und Rat im Februar 1529 einen bestärkenden Brief schrieb. Darin nimmt er auf die unsichere Lage Bezug und ermutigt zur Einhaltung des eingeschlagenen Kurses: »Ich habe Euch vorhergesagt, daß Verfolgung zu erwarten sei. O liebe Herren und Brüder, wie selig ist es, mit Christo das Kreuz zu tragen und danach seine Seligkeit zu genießen, statt mit dieser Welt einen dreitägigen Frieden zu haben, 13 14
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Flachenecker, Das mittelalterliche Schottenkloster (wie Anm. 10), S. 200. Braun, Stätte der Stille (wie Anm.8), S. 115; Christa Koepff und Christoph Engelhard, Der Alte Friedhof in Memmingen, Memmingen 2000 (= Materialien zur Memminger Stadtgeschichte. Reihe B: Forschungen), S. 12; Eugen Rohling, Die Reichsstadt Memmingen in der Zeit der evangelischen Volksbewegung, München 1864, S. 53. Flachenecker, Das mittelalterliche Schottenkloster (wie Anm. 10), S. 200, weist darauf hin, dass auch das Konstanzer Schottenkloster unter ähnlichen Bedingungen im Jahre 1530 abgebrochen wurde. Dieser Bericht wurde wahrscheinlich vom damaligen Prior Johannes Oster abgefasst. Der Ottobeurer Prior und Archivar P. Gallus Sandholzer (1569-1619) fertigte 1607 eine weitgehend identische, wohl aber erweiterte Abschrift des Manuskriptes von Oster an. Diese Abschrift ist wiederum in die »Chronologia universalis seu Annales monasterii nostri Ottoburani« des P. Alber Krez eingeflossen, wobei offenbleiben muss, inwieweit Krez den Bericht verändert oder erweitert hat; vgl. Flachenecker, Das mittelalterliche Schottenkloster (wie Anm. 10), S. 195. Zur seuchenhygienisch bedingten Friedhofsverlegung und den vorhergehenden vorreformatorischen Planungen siehe Braun, Stätte der Stille (wie Anm. 8 ); Koepff/Engelhard, Der Alte Friedhof (wie Anm. 14); Julius Miedel, Von Memminger Friedhöfen. In: Memminger Geschichtsblätter, 6 (1920), 3, S. 23 f.
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dem ewiges Verderben nachfolgt! Ich bitte Gott, Euch durch die Kraft seines Geistes zu stärken. Ihr habt durch Euere Prediger täglich Trost und Ermahnung; die nehmet dankbar an. Großes will Gott mit Euch vollbringen; darum muß er Euch zuvor demütigen. Wir haben nichts zu verlieren, gehe es, wie es wolle. Doch fürchte ich nicht, daß Ihr in zeitliches Verderben geraten werdet, sofern Ihr an Gott festhaltet. Viel Schrecken durch Drohungen, Mandate und dergleichen wird Euch widerfahren; damit aber wird es genug sein. Handelt männlich und harret des mächtigen Armes des Herrn. Gottes Freund und aller Welt Feind, wenn sie nicht anders will. Dabei mögt Ihr Euch großer Vorsicht und aller erlaubten Mittel bedienen und die Stadt wohl verwahren gegen alles, was in Kriegsnot nachteilig sein möchte, so besonders Euer Nachbar zu St. Nikolaus [...] Getröstet Euch des Schirmes Gottes, dem ich Euch befehle mit Entbieten all meiner Dienste; denn als ein guter Memminger will ich leben und sterben und soviel Gunst, Vertrauen, Ehre und Freundschaft, die Ihr Euere Gemeinde mit erwiesen, nimmer vergessen, und solltet Ihr in großer Gefahr meiner begehren, so würde ich Leib und Leben für Euch in die Schanze schlagen. Doch ich weiß, daß Gott seine Hand über Euch hält.«18 Der Rat zog daraus seine Konsequenzen und ließ durch eine Kommission die bestehenden Befestigungswerke inspizieren und ein Gutachten zu deren Verstärkung erstellen. Die Turm-, Tor- und Mauerwächter wurden zur besonderen Wachsamkeit angehalten und instruiert, keine verdächtigen Personen ein- oder auszulassen. Die Zünfte wurden angewiesen, die Harnische und Bewaffnung ihrer Mitglieder sicherzustellen.19 Gemäß der reichsstädtischen Chronistik wurde anschließend begonnen, die südliche Flanke und Teile der südöstlichen und südwestlichen Stadtbefestigung mit einem Wall, einem Graben und zwei Basteien zu verstärken, der »Nudelburg« an der Südwestecke und dem »Rondell« an der Südostecke der Stadt.20 Fast schon stereotyp berichten die Chroniken für den Juni des Jahres 1529: »Am 14. tag brachmonat hat mans bollwerck anfang zu bawen.«21 Zuvor waren die drei 18
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Zitiert nach Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer 1509-1548. Hrsg. von der Badischen Historischen Kommission. Bearb. von Traugott Schiess, Bd 1 und Bd 2, Freiburg i.Br. 1908, 1910, hier Bd 1, hier Bd 1, S. 182. Dobel, Memmingen (wie Anm. 3), S. 28, auf Basis der Ratsprotokolle vom 26.4., 10.5. und 14.5.1529. Memminger Chronik des Friedrich Clauß, umfassend die Jahre 1826-1892. Hrsg. von Friedrich Döderlein, Memmingen 1894, S. 21; Karl Fackler, Das alte Memmingen. Die baugeschichtliche Entwicklung der Stadt Memmingen von der Zeit ihrer Gründung bis zum Dreißigjährigen Kriege, Memmingen 1929, S. 31, 41; Christian Kayser, Die Stadtmauer von Memmingen, Memmingen 2016 (= Memminger Forschungen. Wissenschaftliche Reihe zur Memminger Geschichte, 8), S. 166-205. So der Wortlaut der Memminger Chronik von Erhart Wintergerst, Heinrich Löhlin und Galle Greiter, Teil 2, fol. 161r., Stadtarchiv Memmingen, A Handschriftliche Chroniken, 4° 2, 20. Daneben wissen noch folgende chronikalische Aufzeichnungen im Stadtarchiv Memmingen (A Handschriftliche Chroniken) davon, meist mit demselben Wortlaut wie das Geschichtswerk von Wintergerst/Löhlin/Greiter, was die Abhängigkeit der einzelnen Chroniken untereinander belegt, aber bislang noch nicht eingehender untersucht worden ist: 4° 2, 46, Michael-Laminit-Chronik, fol. 91r; 4° 2, 63, Tobias Bücheles Chronik, Eintrag unter dem Jahr 1529; 4° 2, 92, Haslacher Chronik, S. 164; auch Christoph Schorer, Memminger Chronick, Ulm 1660, Nachdr. Kempten 1964, S. 69. Davon abweichend gibt
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Stadtwerkmeister nach Konstanz geschickt worden, um sich die dort neu errichteten Schanzanlagen anzusehen.22 Dass die Baumaßnahmen mit der religionspolitischen Situation in Zusammenhang standen und auch von den Zeitgenossen damit in Verbindung gebracht wurden, legt der Eintrag Michael Fretschers in seiner um 1655 entstandenen Chronik nahe. Er nennt den Beitritt Memmingens zur »Tetrapolitana« und den Ausbau der Stadtbefestigung in einem Zuge und schreibt, dass die Memminger im Jahre 1530 »ein besondere Confesione ubergeben, aber hernach sie sich zu den anderen Confesione verwandten gethan und verglich [hätten.] Eodem fing man an das bollwerckh zu bawen.«23 Die zeitliche Abfolge der Ereignisse hat der Chronist angeglichen, um sie direkt aufeinander folgend geschehen zu lassen. Memmingens Beitritt und die Übergabe des Vierstädtebekenntnisses auf dem Augsburger Reichstag erfolgten im Juli des Jahres 1530, die Ausbauarbeiten an der Fortifikation bereits ein Jahr zuvor, nämlich im Juni 1529. Offensichtlich wusste Fretscher auch noch Mitte des 17. Jahrhunderts von diesem Zusammenhang und drückte dies mit seinem chronologisch nicht ganz korrekten Eintrag aus. Das Rondell oder »Bollwerk«, wie es die Memminger Quellen nennen, dem außerdem ein breiter Wassergraben vorgeblendet wurde, ist mit Beratung des durch den Magistrat angeworbenen Hauptmanns Schuody aus Lindau, der den Bau von Befestigungsanlagen in Italien studiert hatte, ab Juni 1529 errichtet worden.24 Zur Ausführung der Arbeiten wurden die Bauern des städtischen Territoriums und die Bürgerschaft selbst verpflichtet, die alternativ bezahlte Arbeiter oder Geld stellen konnte. Darüber hinaus wurde beschlossen, »auch frembd zimerleut zu bestellen.«25 Als Baumaterial für die Unmengen an Volumen benötigende Aufschüttung der Bastei sollen unter anderem der Abbruchschutt des Schottenklosters bzw. der St. Nikolauskirche wie auch die Kirchhofmauer der direkt hinter der Bastei innerhalb der alten Stadtmauer gelegenen Frauenkirche Verwendung gefunden haben.26 Interessant dabei ist die Um- und Weiternutzung von zuvor kirchlicher
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Michael Fretscher (4° 2, 47, S. 82) in seiner Chronik das Jahr 1530 an. Darauf aufbauend fand die Bautätigkeit auch Eingang in die Sekundärliteratur. Vgl. Wolfram Arlat, Die Stadtentwicklung von Memmingen von 350 bis 1400 (= Memminger Geschichtsblätter, 1977/78), Memmingen 1979, S. 110; Memminger Chronik des Friedrich Clauß (wie Anm. 20), S. 21, 74; Fackler, Das alte Memmingen (wie Anm. 20), S. 31, 41; Jakob Friedrich Unold, Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Anfang der Stadt bis zum Tod Maximilian Josephs I., Königs von Bayern, Memmingen 1826, S. 142 f. Schreiben an Konstanz vom 15.5.1529, vgl. Dobel, Memmingen (wie Anm. 3), S. 28, Anm. 26. Stadtarchiv Memmingen, A Handschriftliche Chroniken, 4° 2, 47, Michael Fretschers Chronik, S. 82. Dies weiß jedenfalls Arlat, Die Stadtentwicklung von Memmingen (wie Anm. 21), S. 110, ohne nähere Quellenangaben zu machen; wie auch Memminger Chronik des Friedrich Clauß (wie Anm. 20), S. 74; Fackler, Das alte Memmingen (wie Anm. 20), S. 43; Theophil Haffelder, Unser Frauen Memmingen, 2. Aufl., Regensburg 2011, S. 2; Martin Sontheimer, Die Geistlichkeit des Kapitels Ottobeuren. Von dessen Ursprung bis zur Säkularisation, Bd 5: Die Pfarreien und Benefizien des Kreuzherren-Klosters Memmingen, Memmingen 1920, S. 140. Dobel, Memmingen (wie Anm. 3), S. 28, Ratsprotokoll vom 24.5.1529. Unold, Geschichte der Stadt Memmingen (wie Anm. 21), S. 142 f.
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Bausubstanz. Ähnlich wie bei der Überführung des Kirchengutes zugunsten des »Gemeinen Kastens« wurden die zwischenzeitlich durch die Reformation frei werdenden Ressourcen in die Befestigungswerke verbaut; sie dienten nun dem »gemeinen Nutzen«.27 Das reformatorische Anliegen der Stadt deckte sich hier mit ihren militärischen Erwägungen: Die unter reformatorischen Vorzeichen im Aufbau begriffene »civitas christiana« war in ihrem Fortbestand gefährdet und musste verteidigt werden.28 Unklar bleibt, ob dabei in Memmingen auch ehemals sakrale Steinwerke in Skulpturenform oder Grabmonumente für den Festungsbau Verwendung fanden, wie etwa in Zürich, wo ein Grabstein im Oetenbachbollwerk in einer Schießscharte vermauert wurde.29 In Konstanz wurden steinerne Heiligenskulpturen, die infolge der Bilderentfernung ihre sakrale Funktion verloren hatten, einer profanen Sekundärnutzung unterzogen, indem man sie in das Fundament eines neuen Tores verbaute, das 1529/30 anstelle eines hölzernen Vorgängerbaus in der Vorstadt Petershausen errichtet wurde.30
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Zur Verwendung von Bildwerken, die durch die Reformation beseitigt und nun ökonomisch und karitativ nutzbar gemacht wurden, siehe Jörg Rosenfeld, Reformatorischer Bildersturm – Export ins Nichts? Skulpturen zwischen ökonomischer und karitativer Verwertung. In: Archiv für Reformationsgeschichte, 87 (1996), S. 74-89, der allerdings vor allem auf hölzerne Skulpturen bzw. Tafelmalerei und primär auf monetäre Gesichtspunkte abhebt. Allgemein zu den Kirchengütern in den protestantischen Reichsstädten am Beispiel Straßburg, Nürnberg und Frankfurt vgl. Anton Schindling, Die Reformation in den Reichsstädten und die Kirchengüter. Straßburg, Nürnberg und Frankfurt im Vergleich. In: Bürgerschaft und Kirche. 17. Arbeitstagung in Kempten, 3.-5. November 1978. Hrsg. von Jürgen Sydow, Sigmaringen 1980 (= Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung. Stadt in der Geschichte, 7), S. 67-88. Abbruchmaterial aus profanierten Sakralbauten wurde ab 1538 auch beim Bau der fünf Rondelle der württembergischen Stadtfestung Kirchheim unter Teck verwendet. So wurden die Steine der Marienkirche in der oberen Vorstadt, der Dominikanerinnenklosterkirche, der Kirche St. Calixtus zu Weilheim, der Kapelle St. Nikolaus zu Dettingen und der Kapelle St. Bernhard zu Ötlingen umgenutzt und dabei sogar die Grablege der Herzöge von Teck und der Gattin Herzog Eberhards im Bart, Barbara Gonzaga, die sich in der Dominikanerinnenklosterkirche befanden, nicht verschont. Vgl. dazu Rolf Götz, Von der ersten urkundlichen Nennung im Jahre 960 bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. In: Kirchheim unter Teck. Marktort, Amtsstadt, Mittelzentrum. Hrsg. von Rainer Kilian, Kirchheim unter Teck 2006, S. 97-274, hier S. 262. Vgl. dazu Peter Jezler, Der Bildersturm in Zürich 1523-1530. In: Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Hrsg. von Cécile Dupeux [u.a.], Bern 2000, S. 75-83, hier S. 76; und ebd., Abb. 14, S. 83: Dabei handelte es sich um die Grabplatte des Ulrich von Regensberg aus der Zeit um 1280, die heute im Schweizerischen Landesmuseum Zürich aufbewahrt wird. Die Platte stand bis zur Reformation in der Zürcher Barfüßerkirche. Danach wurde sie vom städtischen Werkmeister zusammen mit anderen Grabsteinen für den Festungsbau verwendet. Sie kam 1903 wieder zum Vorschein, als man das 1532 errichtete OetenbachBollwerk abbrach. Siehe dazu auch Dölf Wild, Zürich. In: Stadt- und Landmauern, Bd 2: Stadtmauern in der Schweiz. Kataloge, Darstellungen. Red.: Brigitt Sigel, Zürich 1996, S. 367-395, hier S. 390. Wolfgang Dobras, Konstanz zur Zeit der Reformation. In: Martin Burkhardt, Wolfgang Dobras und Wolfgang Zimmermann, Konstanz in der frühen Neuzeit. Reformation, Verlust der Reichsfreiheit, österreichische Zeit, Konstanz 1991 (= Geschichte der Stadt
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Besser dokumentiert und erforscht sind ganz ähnliche Begebenheiten im »Täuferreich von Münster« der Jahre 1534/35. Hier verwendeten die Täufer unter dem Druck der bischöflichen Belagerung Bildwerke in Gestalt von steinernen Skulpturen und vor allem Grabsteine und Epitaphien zum hastigen Ausbau der städtischen Wehrbauten.31 Bereits ein Augenzeuge von damals, der Chronist Heinrich Gresbeck, wusste davon zu berichten: »Die Steine von den Kirchen und aus den Kirchen und die Altarsteine und die großen steinernen Bilder und Leichensteine von den Kirchhöfen, damit haben sie gebaut und das Fundament damit gemacht unter die ›erthueser‹ [Rondelle] vor den Toren.«32 Vom späten 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit wurden bei Erdarbeiten immer wieder Funde dieser sekundär verbauten Objekte gemacht, so zum Beispiel am Kreuztor, Neuwerk, Mauritz- und Hörstertor.33 Auch hier waren es in erster Linie die für den artilleristischen Schlagabtausch konzipierten Rondellbauten, die mit entsakralisiertem Material unterfüttert wurden. Wohl aufgrund des Beitritts Memmingens zum Schmalkaldischen Bund im Jahre 1531 entspannte sich die Lage wieder und die Befestigungsarbeiten schliefen dem Anschein nach ein.34 Das Memminger Reformationswerk wurde nun durch das Bündnis mit den protestantisch-lutherischen Reichsständen und die gegenseitigen Beistandsversicherungen im Kriegsfall gesichert, sodass die kostenintensiven Baumaßnahmen ihre Dringlichkeit verloren. Der finanzielle Aspekt mag sicherlich der Hauptgrund gewesen sein, weshalb die Stadtbefestigung nicht mehr weiter
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Konstanz, 3), S. 11-146, hier S. 68; Wolfgang Zimmermann, Konstanz in den Jahren von 1548-1733. In: ebd., S. 147-312, hier S. 152, 155. Zu Münster siehe Karl-Heinz Kirchhoff, Die Belagerung und Eroberung Münsters 1534/35. Militärische Maßnahmen und politische Verhandlungen des Fürstbischofs Franz von Waldeck. In: Westfälische Zeitschrift. Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde, 112 (1962), S. 77-170; Hubertus Lutterbach, Das Täuferreich von Münster. Ursprünge und Merkmale eines religiösen Aufbruchs, Münster 2008, bes. S. 90; Martin Warnke, Durchbrochene Geschichte? Die Bilderstürme der Wiedertäufer in Münster 1534/35. In: Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks. Hrsg. von Martin Warnke, München 1973, S. 65-99, hier S. 86. Sergiusz Michalski, Die Ausbreitung des reformatorischen Bildersturms 1521-1537. In: Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? (wie Anm. 29), S. 46-51, hier S. 49, verweist allgemein auf die Verwendung der entfernten Bildwerke zu Festungsbauzwecken, so etwa im täuferischen Münster, im lutherischen Braunschweig wie auch im oberdeutschen Konstanz. Zitiert nach Karl-Heinz Kirchhoff, Bodenfunde aus der Täuferzeit in den Festungswerken der Stadt Münster. In: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde, 61 (1983), 2, S. 1-8, hier S. 1, Anm. 2. Auch andere zeitgenössische chronikalische Werke überliefern dies. Zu den Details siehe Kirchhoff, Bodenfunde (wie Anm. 32), mit Beschreibungen der Funde und Fundkontexte; und den Ausstellungskatalog Das Königreich der Täufer. Reformation und Herrschaft der Täufer in Münster. Hrsg. von Barbara Rommé, Münster 2000, S. 132-141. Einschränkend muss bemerkt werden, dass nicht alle diese Spolien auf die Aktivitäten der Täufer zurückzuführen sind, sondern erst ab 1541 verbaut worden sein dürften, als die Stadt wieder unter bischöflicher Herrschaft stand und die Befestigungsanlagen erneut modernisiert wurden. Hierzu wurde Material verwendet, das die Täufer gewissermaßen übrig gelassen hatten bzw. im Zuge der nunmehrigen Arbeiten wieder zum Vorschein kam. Zum Weg Memmingens in den Schmalkaldischen Bund siehe Frieß, Außenpolitik (wie Anm. 9), S. 130-140.
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ausgebaut wurde.35 Mit einem monatlichen Beitrag zum Schmalkaldischen Bund in Höhe von 1450 Gulden flossen die Gelder damit in eine ganz andere Art der Prävention und Verteidigung, die allerdings, weniger handfest auf dem politischen und diplomatischen Parkett angesiedelt, wesentlich mehr Sicherheit versprachen.36 Erst als 1546 die lange befürchtete militärische Eskalation des Religionskonflikts im Reich heraufzog, wurden die Schanzarbeiten wieder aufgenommen; sie umfassten erneut die intensive Verstärkung im südlichen und westlichen Bereich der Stadtbefestigung inklusive der Rondelle.37 Seit dem 24. März 1546 wurde der Bereich vom Krugstor bis zum Kemptener Tor »mit grossem un Costen [durch] ein bollwerckh mit pasteÿen[,] Rundelen und tieffen wasser graben« ausgebaut.38 Den Memminger Quellen zufolge geschah dies mit Unterstützung von Baufachleuten aus Augsburg und Hessen, wobei sich die verschiedenen Stadtchroniken und das Ratsprotokoll nicht einig sind, ob es sich nun ausschließlich um Experten aus der Reichsstadt am Lech, dem protestantischen Territorium Landgraf Philipps oder aus beiden zusammen handelte.39 Nach Wolfram Arlat oblag die Bauleitung dem Augsburger Bauvogt Hans Tirol, der mit dem Nürnberger Kriegsbaumeister Hans Behaim in Kontakt stand.40 35
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Zu den monetären Herausforderungen des Stadtmauerbaus siehe Antje Sander-Berke, Stadtmauer und Stadtrechnung. Schriftliche Quellen des Spätmittelalters zu den technischen Voraussetzungen des städtischen Befestigungsbaus. In: Die Befestigung der mittelalterlichen Stadt. Hrsg. von Gabriele Isenberg und Barbara Scholkmann, Köln [u.a.] 1997 (= Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, 45), S. 33-44. Die Beitragshöhe findet sich bei Frieß, Außenpolitik (wie Anm. 9), S. 135, und kam durch die Selbstveranlagung Memmingens zustande, womit es vor Konstanz und Esslingen rangierte. Die Summe bemaß sich nach der Anzahl von Söldnern, die vertragsgemäß für einen Monat unterhalten werden sollten. Da die Memminger Quellen nicht eindeutig differenzieren, muss offenbleiben, welche Teile der Fortifikation wann genau und wie weit gebaut wurden, also entweder der ersten Ausbauphase von 1529-1531 oder der späteren von 1546 angehören, was bereits Fackler, Das alte Memmingen (wie Anm. 20), S. 41, festgestellt hat. Dass aber auch in der Zwischenzeit weitere Bauten geplant waren, legt ein Ratsprotokolleintrag vom 13.4.1535 nahe, demzufolge beschlossen wurde, eine Mauer am Kemptener Tor zu errichten; vgl. Stadtarchiv Memmingen, A RP 1535, fol. 188r. Stadtarchiv Memmingen, A Handschriftliche Chroniken, 4° 2, 47, Michael Fretschers Chronik, S. 88. Bauleute aus Augsburg erwähnt das Ratsprotokoll vom 24.3.1546, vgl. Stadtarchiv Memmingen, A RP 1542-1550, 1546, fol. 126r, während folgende Chroniken nur die Hessen ins Spiel bringen (alle Stadtarchiv Memmingen, A Handschriftliche Chroniken): 4° 2, 47, Michael Fretschers Chronik, S. 88; 4° 2, 92, Haslacher Chronik, fol. 183; und 4° 2, 23 Mundart-Chronik, fol. 44r. Neutral äußern sich 2° 2,19 Kimpel-Chronik, S. 266; 4° 2, 25 Laber-Chronik, Teil II, S. 185; und 4° 2, 46, Michael-Laminit-Chronik, fol. 96v. Arlat, Die Stadtentwicklung von Memmingen (wie Anm. 21), S. 111 mit Anm. 425. Zu Hans Tirol siehe Art. Tirol, Hans. In: Lexikon der Kunst, Bd 5: T-Z, Berlin 1983, S. 155, und Fritz T. Schulz, Tirol, Hans. In: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd 33: Theodotos–Urlaub, Leipzig 1939, S. 203 f. Der Maler, Architekt, Schriftsteller und Verleger Hans Tirol (1505/06-1575/76) ist seit 1531 in Augsburg und ab 1542 über die hiesigen Baumeisterbücher als Bauvogt-Vorstand der Lechstadt nachweisbar, wo er mit der Neubefestigung beschäftigt war. 1546 kam er auf Bitten des Rats nach Memmingen, um die dortigen Festungsarbeiten zu besichtigen und zu beraten. Nach 1548 trat er in habsburgische Dienste.
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Abb. 1: Memmingen aus der Vogelschau um 1630. Kupferstich aus der Topographia Sueviae von Matthäus Merian, Frankfurt 1643. Gut erkennbar sind am linken Bildrand der Wall und die beiden Rondelle an der Südflanke der Stadtbefestigung. Universitätsbibliothek Tübingen
Abb. 2: »Am Kempter Graben« um 1800. Umrissradierung, gedruckt bei Jean Pierre Fehr, St. Gallen. Die dominierenden Erdmassen des Rondells sind gut im Vordergrund erkennbar. Stadtmuseum Memmingen
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Abb. 3 und 4: Gegenwärtiger Zustand des Torhauses des Kemptener Tores mit getreppten Schießscharten. Dominik Gerd Sieber
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Abb. 5: Die Reste des ehemaligen Rondells im heutigen Memminger Stadtpark. Dominik Gerd Sieber
Neben den Arbeiten am Bollwerk »wurden auch etliche Thurn abgetragen und der Maur gleich gemachet«41, ganz ähnlich wie im selben Jahr in Lindau oder wie in Ulm bereits 1529 geschehen. Des Weiteren wurde das Torhaus des Kemptener Tores mit getreppten Schießscharten ausgestattet, wodurch der Bereich bis zum Rondell hinunter bestrichen werden konnte.42 Trotz der Bautätigkeit im Kontext des Schmalkaldischen Krieges blieb die Memminger Rondellbefestigung Stückwerk, weswegen sie sich nur um Teile der West- und Ost- sowie um die gesamte Südseite der Stadt erstreckte. Der gewaltige Erdkegel des südöstlichen Bollwerks prägte noch lange die Silhouette und das Verteidigungskonzept der Stadt und ist trotz der endgültigen Schleifung im dritten Koalitionskrieg 1805 bis heute als Bodenerhöhung im Stadtpark, dem »Reichshain«, erhalten geblieben.43 Darüber hinaus lässt die Ausdehnung des heutigen Mulzer- und Kaisergrabens die ursprüngliche Dimension der Memminger Stadtbefestigung der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an dieser Stelle noch eindrucksvoll erahnen. 41 42
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Schorer, Memminger Chronick (wie Anm. 21), S. 84. Tilmann Breuer, Stadt und Landkreis Memmingen, München 1959 (= Bayerische Kunstdenkmale 4), S. 31; Fackler, Das alte Memmingen (wie Anm. 20), S. 41 f.; und Kayser, Die Stadtmauer von Memmingen (wie Anm. 20), S. 198. An die Wallinnenseite vom Kemptener Tor bis zur sogenannten Wacht war eine befahrbare Rampe angelehnt, mittels derer auch schwere Geschütze aufgefahren werden konnten. Nach der Memminger Chronik des Friedrich Clauß (wie Anm. 20), S. 130, Fackler, Das alte Memmingen (wie Anm. 20), S. 43, und Kayser, Die Stadtmauer von Memmingen (wie Anm. 20), S. 202 f., war das komplett aus Erde ausgeführte Rondell an seinem Fuß mit einer niedrigen und mit Schießscharten versehenen Zwingermauer ausgestattet. Obwohl die Memminger Befestigung aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts schon lange nicht mehr der damals modernen Fortifikationstechnik entsprach, wurde ihr dennoch in den Napoleonischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein gewisser militärischer Nutzen zugeschrieben, wie der Schleifungsbefehl Napoleons vom Oktober 1805 zeigt, nachdem die österreichische Besatzung die Stadt an die Franzosen übergeben hatte. Anfang Dezember wurden die frühneuzeitlichen Schanzwerke zwischen dem Krugstor und dem Rondell vor der Frauenkirche unter französischer Ägide demoliert. Vgl. Paul Hoser, Die Geschichte der Stadt Memmingen. Vom Neubeginn im Königreich Bayern bis 1945. Hrsg. im Auftrag der Stadt Memmingen von Hans-Wolfgang Bayer in Verbindung mit Uli Braun, Stuttgart 2001, S. 40-42, v.a. Anm. 23.
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Das Beispiel Augsburg: Die Befestigungsmaßnahmen der Stadt der Reformation und der Reichstage Neben Memmingen und dem bedeutenden Ulm, das hier nicht näher betrachtet werden soll, leistete sich Augsburg, die zweite »Großstadt« in Schwaben, ebenfalls eine moderne Rondellbefestigung. Die Entwicklung in der Metropole am Lech folgte dabei ganz ähnlichen Mustern, wie sie bereits für Memmingen dargestellt worden sind. Doch anders als in Memmingen oder auch in Ulm erfolgte der Ausbau der städtischen Fortifikationen nicht schon ab 1529/30 wegen des für die Protestanten negativen Speyrer Reichsabschieds, sondern erst 1537/38, nachdem sich die Bischofs- und Reichsstadt offiziell zur Reformation bekannt hatte und dem Schmalkaldischen Bund beigetreten war. Erklären lässt sich das wohl mit der lange lavierenden und auf Ausgleich bedachten Politik der Stadt, die als Schauplatz der für die deutsche und auch europäische Reformationsgeschichte wichtigen Reichstage besonders umsichtig vorgehen musste. Aber bereits vor dem systematischen Neubau der Stadtbefestigung ab 1538 wurden Einzelmaßnahmen zur Verbesserung der Wehrfähigkeit ergriffen, nachdem die Nürnberger Baumeister Hans Behaim und Hans von Riedlingen 1519 in einem Gutachten geraten hatten, die alte Stadtmauer mit Bollwerken und Wällen zu verstärken und zudem die gotischen Türme niedriger zu machen. Zunächst wurden diese Empfehlungen nur schleppend und vereinzelt in die Tat umgesetzt.44 Vermutlich waren es auch die religionspolitischen Unsicherheiten um 1530, die Augsburg schließlich energischer handeln ließen. So wurden die spitzen Türme in ihrer Höhe reduziert, wie etwa 1532 der Luginsland.45 Hauptelement der neuen Befestigung stellten hier gleichfalls sechs groß dimensionierte Rondelle dar, die an den Ecken der Stadt direkt an die bestehenden Stadtmauern angelehnt und nach Plänen des Grafen Reinhard von Solms zu Münzenberg aufgeworfen wurden.46
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Daniel Burger, Festungen in Bayern, Regensburg 2008 (= Deutsche Festungen 1), S. 50; Jürgen Kraus, Das Militärwesen der Reichsstadt Augsburg 1548-1806. Vergleichende Untersuchungen über städtische Militäreinrichtungen in Deutschland vom 16.-18. Jahrhundert, Augsburg 1980, S. 355. Zu Hans Behaim siehe das Biogramm in: Deutsche Architekturtheorie zwischen Gotik und Renaissance. Ausstellung in der Universitätsbibliothek Düsseldorf vom 20. Januar bis 8. März 1986, Düsseldorf 1986, S. 51-53. Hermann Kiessling und Ulrich Lohrmann, Türme – Tore – Bastionen. Die reichsstädtischen Befestigungsanlagen Augsburgs, Augsburg 1987, S. 81; Jürgen Zimmer, Die Veränderungen im Augsburger Stadtbild zwischen 1530 und 1630. In: Welt im Umbruch. Augsburg zwischen Renaissance und Barock, Bd 3: Beiträge. Hrsg.: Städtische Kunstsammlungen Augsburg/Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, Augsburg 1981, S. 25-65, hier S. 26. Dabei handelte es sich um folgende Basteien: am Eser und Bachenanger 1542, am Oberblatterwall 1543, am Göggingertor 1544, am Roten Tor 1545, am Judenwall 1551, womit die gesamte Stadt umschlossen war; vgl. dazu Franz Häussler, Augsburgs Tore. Der Reichsstadt Wehr und Zier, Augsburg 2002, S. 10-14; Alfred Heuchel, Städtischer Wehrbau in Süddeutschland während der Renaissance und des Frühbarock, Nördlingen 1940, S. 16 f.; Kiessling/Lohrmann, Türme (wie Anm. 45), S. 22; Kraus, Militärwesen (wie Anm. 44), S. 356.
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Darüber hinaus wurden einige Kirchen und Kapellen außerhalb des Verteidigungsgürtels abgebrochen, wie etwa die Wolfgangskirche zwischen Judenwall und Wertachbrucker Tor, die Leonhardskirche an der Gögginger Straße, wie auch St. Nikolaus, St. Servatius und Heilig Geist vor dem Roten Tor.47 Das daraus gewonnene Steinmaterial soll für den Befestigungsbau Verwendung gefunden haben.48 Dabei dürften wie in Memmingen verteidigungsstrategische Gründe mit dem reformatorischen Umgestaltungsanliegen übereingestimmt haben. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Ausbau der Augsburger Fortifikationen ab 1538 intensiviert wurde, nachdem sich die Stadt im Jahr zuvor offiziell zur Reformation bekannt und eine umfassende Kirchenordnung erlassen hatte.49 Am Vorabend des Schmalkaldischen Krieges wurden die Bauarbeiten noch einmal intensiviert, unter anderem mit Hilfe hessischer Bauleute.50
Militarisierung durch reformatorischen Wandel? Die Befestigungsarbeiten in den oberschwäbischen Reichsstädten standen nicht für sich allein, sondern wurden von weitergehenden Rüstungen für den erwarteten militärischen Ernstfall begleitet, was generell den Eindruck entstehen lässt, dass mit dem Aufkommen des neuen Glaubens eine gewisse »Militarisierung« der Reichsstände einherging. So wurden in Memmingen die Wachen verstärkt, die Bewaffnung der Bürgerschaft inspiziert, und sogar die Untertanenschaft des städtischen Territoriums sollte unter Waffen gestellt werden.51 Darüber hinaus war es allen Bürgern ab sofort untersagt, in fremde Kriegsdienste zu treten; der St. Ulrichs-Jahrmarkt wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt.52 Insbesondere das säkularisierte Kirchengut wurde von den protestantischen Reichsstädten nun zur Verteidigung mobilisiert. Nicolaus Thoman, ein altgläubiger Priester und entschiedener Gegner der Reformation, berichtet in seiner Weißenhorner Historie verächtlich von solchen seiner Meinung nach ketzerischen und widerrechtlichen Zweckentfremdungen. Auf den Beginn des Jahres 1530 bezogen, schreibt er beispielsweise: »In disem monat Januarii namen die
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Zimmer, Veränderungen (wie Anm. 45), S. 28. Friedrich Roth, Augsburgs Reformationsgeschichte, Bd 3: 1539-1547 bzw. 1548, München 1907, S. 253. Vgl. Die Augsburger Kirchenordnung von 1537 und ihr Umfeld. Hrsg. von Reinhard Schwarz, Gütersloh 1988 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 196); allgemein zur Augsburger Reformationsgeschichte konzise Herbert Immenkötter und Wolfgang Wüst, Augsburg. Freie Reichsstadt und Hochstift. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1650, Bd 6: Nachträge. Hrsg. von Anton Schindling und Walter Ziegler, Münster 1996, S. 8-35. Da die ca. 150 Festungsbaufachleute aus Hessen aufgrund von Regelverstößen öfter durch den Rat verwarnt wurden, scheinen sie in den Quellen auf; vgl. dazu Roth, Augsburgs Reformationsgeschichte (wie Anm. 48), S. 299. Frieß, Außenpolitik (wie Anm. 9), S. 102. Dobel, Memmingen (wie Anm. 3), S. 28; Schlenck, Die Reichsstadt Memmingen (wie Anm. 2), S. 68.
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von Memingen ain grosse glocken auß unser lieben frauen kirchenthuren, erschlugen die und liessen buxen darauß machen.«53 Die neugläubigen Kemptener ließen schon einige Jahre früher die Kirchenglocken einschmelzen, um daraus Waffen schmieden bzw. gießen zu lassen. So erzählt die Werdensteiner Chronik: »Item auch hat man in disem jar lassen machen 6 buechsen, 2 zillig schlangen und 4 halb schlangen zue Kempten, daran hat man gegeben und genumen 1 grossen gloggen aus sanct Mangen thurn und ein kleine gloggen aus sanct Wolfgangen capell, 2 gleggin ab der Steinrinnen, auch ein gleggin von sanct Steffan und ains von sanct Micheln.« Ohnehin standen die Glocken mit ihrem Geläute in der reformatorischen Kritik.54 Georg von Werdenstein schrieb seine Chronik 1525/26 während seines Aufenthaltes hinter den sicheren Mauern der Reichsstadt Kempten nieder, in die sich der Ritter und Erbkämmerer des Stifts Kempten vor den aufständischen Bauern geflüchtet hatte. Dass die von dem altgläubigen Adeligen geschilderten Aktionen der neugläubigen Bürger nicht allein dem Eindruck des Bauernkrieges geschuldet, sondern eindeutig reformatorisch motiviert waren, streicht er ausdrücklich heraus: »Also hand die Lutterische zue diser zeit die evangelische warheit beschutzt und beschürmpt den gotsdienst mit büchsen und bulfer, das testament Christi begangen, daß man numer mer mit gloggen leiten soll. Auch hat man bei dreisig doppelhaggen lassen machen auß disem zeig der gloggen, mer hantbuchsen bei hundert.«55 Auch in Biberach wurden die Glocken der Stadtpfarrkirche St. Martin eingeschmolzen, um daraus Geschütze zu gießen. Wieder ist es eine altgläubige, antireformatorisch positionierte Quelle aus der Feder des Geistlichen Heinrich von 53
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Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges in Oberschwaben. Hrsg. von Franz Ludwig Baumann, Tübingen 1876, S. 159. Die Episode kennt auch Unold, Geschichte der Stadt Memmingen (wie Anm. 21), S. 143. Die 75 Zentner wiegende Glocke wurde von Oswald Kisling von Biberach um 1476 gegossen; vgl. dazu Werner Bachmayer [u.a.], Der St. Martinsturm – seine Uhren, Glocken und Türmer. In: Memminger Geschichtsblätter, 2017/18, S. 283-364, hier S. 318. Siehe dazu jüngst Philip Hahn, The Reformation of the Soundscape. Bell Ringing in Early Modern Lutheran Germany. In: German History, 33 (2015), 4, S. 525-545. Die Reformatoren wandten sich speziell gegen den mit dem Glockengeläut traditionell verbundenen Glauben an dessen besondere, ja heilige Kräfte und wollten den Klang der Glocken stattdessen in erster Linie als Signalzeichen verstanden wissen. Die Schweizer und auch die oberdeutsche Auffassung ging dabei so weit, das Glockengeläut gänzlich abzuschaffen. Im sepulkralen Kontext sollten damit die altgläubigen und schriftwidrigen Funktionen des Geläuts abgestellt werden, die etwa Karl Stüber, Commendatio animae. Sterben im Mittelalter, Bern, Frankfurt a.M. 1976, S. 134, in folgende fünf Elemente unterteilt: Todesmitteilung, Gebetsaufforderung, Totenehrung, Dämonenabwehr und Seelengeleit. Erst mit der sukzessiven Lutheranisierung seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts kehrte diese Form kirchlicher Akustik wieder zurück in die oberschwäbischen Reichsstädte. Beide Zitate in Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges in Oberschwaben (wie Anm. 53), S. 492. Ebd., S. 493, finden sich auch biografische Details zu Georg von Werdenstein, dessen namensgebende Stammburg zwischen Kempten und Immenstadt lag. Georgs Chronik wurde von der Forschung bislang vor allem als aufschlussreiche Quelle des Bauernkriegs in Oberschwaben gewürdigt.
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Pflummern, die diese Aktionen überliefert hat.56 Genauso verhielt es sich in der Eidgenossenschaft. Hier beklagt der der römischen Kirche treu gebliebene Zürcher Patrizier Gerold Edlibach: »da wurdent uß den glöglinen und den grossen kertzstöcken, die möschin warend, büchsen uff die türn zuo der wer gossen etc.«57 In der Reformationsmetropole an der Limmat wurden neben den Glocken also auch Kerzenstöcke aus Messing zur Herstellung von Schusswaffen verwendet, mit denen die Stadtoberen dann die Stadtbefestigung bewehren ließen. Natürlich blieben die Rüstungen und Baumaßnahmen der Protestanten den Altgläubigen kaum verborgen. Nicht ohne Grund bemühten sich die Memminger 1529, wie oben dargelegt, den Abbruch der Schottenklosterkirche St. Nikolaus und die Errichtung der neuen Stadtbefestigung mitsamt des Bollwerks als eine – zugegebenermaßen wenig überzeugende – Abwehrmaßnahme gegen die Osmanen zu verbrämen. Man befürchtete nach deren Erfolg bei der Belagerung Wiens den Vormarsch nach Schwaben.58 Auch die evangelischen Prädikanten der Reichsstadt Reutlingen sahen sich im Frühjahr 1531 vor dem Hintergrund der Bilderentfernung genötigt, sich gegen die Anschuldigungen des altgläubigen Vikars von Pfullingen, Burkhard Sinz, zu rechtfertigen. In einem Ende Mai 1531 verfassten Brief schrieben sie: »Nach sollichem so verantwortest du ain lugen mit der andern, so du sagst, unsere herrn haben ab dir geclagt, sy brechen ab [kirchen] und bawen bollwerck darauß, welches dan offentlich am tag ligk. Das haist mir ja ain unverschampte, grobe bapstliche lugin.« Denn Sinz habe an Kirchweih über die Reutlinger behauptet, »sy brechen kirchen ab und bawen daraß bollwerck wider den kayser.« Stattdessen stellten die evangelischen Geistlichen der Achalmstadt klar: »Welchs dan schandtlich gelogen ist, dan wider den kayser nichtzit bawen noch rusten, dan wir uns zů seiner Mt. alles gnad und guts versen hend, obwoll ir beschraien büben den fromm, tewren fursten hart, das christlich blůt zů vergiessen, hetzen und triben. Dann wir haben uns bißher in aller un56
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Gudrun Litz, Die reformatorische Bilderfrage in den schwäbischen Reichsstädten, Tübingen 2007 (= Spätmittelalter und Reformation, N.R., 35), S. 169, mit Verweis auf Beiträge zur Geschichte der Einführung der Reformation in Biberach, Teil 1: Zeitgenössische Aufzeichnungen des Weltpriesters Heinrich von Pflummern. Hrsg. von Albert Schilling. In: Freiburger Diözesan Archiv, 9 (1875), S. 141-238, hier S. 200. Zitiert nach Peter Jezler, »Da beschachend vil grosser endrungen«. Gerold Edlibachs Aufzeichnungen über die Zürcher Reformation 1520-1526. In: Bilderstreit. Kulturwandel in Zwinglis Reformation. Hrsg. von Hans-Dietrich Altendorf und Peter Jezler, Zürich 1984, S. 41-74, hier S. 62. Siehe dazu Maurus Feyerabend, Des ehemaligen Reichsstiftes Ottenbeuren Benediktiner Ordens in Schwaben Sämmtliche Jahrbücher, in Verbindung mit der allgemeinen Reichs- und der besondern Geschichte Schwabens, Bd 3: 1519-1740, Ottobeuren 1815, S. 87-96; Flachenecker, Das mittelalterliche Schottenkloster (wie Anm. 10), S. 199. Interessanterweise hat Dürer seine Schrift »Etliche Underricht zur Befestigung der Stett, Schloss und flecken« von 1527 als Beitrag zur Türkenabwehr konzipiert. Vgl. Daniel Burger, Albrecht Dürers »Unterricht zur Befestigung« (1527) und der deutsche Festungsbau des 16. Jahrhunderts. In: Das Dürer-Haus. Neue Ergebnisse der Forschung. Hrsg. von Ulrich Grossmann und Franz Sonnenberger, Nürnberg 2007, S. 261-288, hier S. 265. Ob den Memmingern die Schrift vorlag und ob sie Dürers Widmung adaptierten bzw. instrumentalisierten, sei dahingestellt.
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derthenigkait und billicher gehorsam gegen Kay. Mt. gehalten und nach dem wort Christi dem kayser geben, das des kaysers und Gott was Gottes ist«.59 Der Vorwurf, sakrale Bauten abzubrechen und damit Wehrbauten zu errichten, die gegen den Kaiser und den alten Glauben gerichtet seien, stand als antiprotestantisches Argument im Raum, das angesichts der oben geschilderten Vorgänge auch nicht unbegründet war. Gerade deshalb war den protestantischen Reichsstädten daran gelegen, ihre tatsächliche Motivation im Befestigungsbau zu verschleiern. Diese sogenannte Dissimulation diente dazu, davon abzulenken, dass ein religiös motivierter militärischer Waffengang befürchtet wurde. Da man als evangelische Reichsstadt sich nicht gegen die Truppen des katholischen Kaisers wehren durfte, legitimierte man die Befestigungsbauten rein weltlich60 Sowohl der Kaiser als auch die evangelischen Reichsfürsten vermieden es, konfessionell begründete Kriege zu führen. So wurden etwa der Konflikt um Württemberg 1534 oder um Braunschweig-Wolfenbüttel 1542, der Schmalkaldische Krieg 1546 und der Fürstenaufstand 1552 mit der Wahrung der Reichslandfriedensordnung oder der »Teutschen Libertät« rein profan begründet.61
»Eine feste Burg ist unser Gott«: Der reformationshistorische Kontext der Festungsbauten Der Ausbau und die Modernisierung der Stadtbefestigungen geschahen in einem Klima, in dem die Angst vor einem religiös motivierten Waffengang im Reich und vor allem im oberdeutschen Raum aufseiten der Protestanten virulent war. Die benachbarten, am alten Glauben festhaltenden Territorialherrschaften und vor allem der Kaiser wurden in dieser Hinsicht als potenzielle Bedrohung gese59
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Stellungnahme der Reutlinger Prädikanten gegen die Anschuldigungen des Pfullinger Vikars Burkhard Sinz, Schreiben nach dem 26.5.1531, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, B 201 Reichsstadt Reutlingen, Bü 7, Nr. 13, abgedruckt und danach zitiert bei Litz, Die reformatorische Bilderfrage (wie Anm. 56), S. 307-311, hier S. 311. Die Reutlinger Stadtbefestigung war nach der handstreichartigen Einnahme durch Württemberg ab 1519/20 ausgebaut und verstärkt worden; vgl. dazu Alois Schneider, Reutlingen, Stuttgart 2003 (= Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg, 23), S. 134. Ähnliches geschah in Esslingen, das Herzog Ulrich ebenfalls 1519 auf einer fadenscheinigen Grundlage besetzt hatte; siehe dazu Christian Ottersbach, Eine reichsstädtische »Burg«. Zum Ausbau der Esslinger Stadtbefestigung im frühen 16. Jahrhundert. In: Festungsforschung, 14 (1999/ 2000), S. 157-174. Zur »Dissimulation« vgl. Perez Zagorin, Ways of Lying. Dissimulation, Persecution, and Conformity in Early Modern Europe, Cambridge, MA, London 1990. Zu den Hintergründen siehe Franz Brendle, Der Religionskrieg und seine Dissimulation. Die »Verteidigung des wahren Glaubens« im Reich des konfessionellen Zeitalters. In: Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens. Hrsg. von Andreas Holzem, Paderborn [u.a.] 2009, S. 457-469; Anton Schindling, Türkenkrieg und »konfessionelle Bürgerkriege«. Erfahrungen mit »Religionskriegen« in der Frühen Neuzeit. In: ebd., S. 596-621, bes. S. 597 f.; Franz Brendle und Anton Schindling, Religionskriege in der Frühen Neuzeit. Begriff, Wahrnehmung, Wirkmächtigkeit. In: Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa. Hrsg. von Franz Brendle und Anton Schindling, 2. Aufl., Münster 2010, S. 15-52.
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hen, stellten die protestantischen Reichsstädte in Oberschwaben doch lediglich vereinzelte Inseln in einem altgläubigen Umfeld dar, das von den Parteigängern des Reichsoberhaupts und der habsburgischen Hausmacht dominiert war. So wurden Werbungen und Truppendurchzüge speziell der Habsburger kritisch beäugt und eilig kommuniziert. Die Brüder Ambrosius und Thomas Blarer zum Beispiel tauschten sich darüber brieflich aus. Der »Reformator Schwabens« und der Konstanzer Ratsherr sahen sorgenvoll auf jedes Fähnlein Landsknechte, das die Ehrenberger Klause bei Reutte in Tirol nach Norden in Richtung Schwaben verließ, oder schreckten bei Nachrichten auf, die das Sammeln von Geschützen in Bregenz am habsburgischen Teil des Bodensees zum Inhalt hatten.62 Insbesondere das Jahr 1529 mit dem für die evangelische Seite so ungünstigen Speyrer Reichsabschied erschien den neugläubigen Städten krisenhaft. Auch im folgenden Jahr 1530 hatte sich die Lage keineswegs entspannt. Die Protestanten hatten zwar auf dem Augsburger Reichstag im Juni ihre genauen theologischen Standpunkte fixiert und zu rechtfertigen versucht, aber weder die Confessio Augustana noch die Confessio Tetrapolitana fanden die Akzeptanz bei den altgläubigen Reichsständen und dem Kaiser.63 Die kaiserliche Acht stand im Raum und die Furcht vor einer gewaltsamen Intervention blieb weiter bestehen, wie neben dem Memminger Beispiel etwa auch der Briefwechsel des Ulmer Bürgermeisters und Reichstagsgesandten Bernhard Besserer mit seiner Heimatstadt belegt.64 Bereits 1528 hatten die sogenannten Pack’schen Händel das Heilige Römische Reich an den Rand eines Konfessionskrieges gebracht. Otto von Pack, ein sächsischer Adeliger in hessischen Diensten, verbreitete das Gerücht einer Verschwörung altgläubiger Stände unter Führung König Ferdinands und Herzog Georgs von Sachsen zur Vernichtung des Protestantismus; Landgraf Philipp von Hessen veranlasste er damit beinahe zu einem präventiven Militärschlag.65 Obwohl sich das Ganze schließlich als Erfindung erwies, illustriert diese Krise die aufgeladene Stimmung und die schlimmen Befürchtungen, die auch die neugläubigen Reichsstädte in Oberschwaben erfassten.66 62
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Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer, Bd 1 und Bd 2 (wie Anm. 18), passim. Zum Augsburger Bekenntnis, dem von den schwäbischen Reichsstädten Reutlingen, Heilbronn und Kempten beitraten, vgl. Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang. Hrsg. von Wolfgang Reinhard, München 1981; zu dem von Straßburg, Konstanz, Memmingen und Lindau unterzeichneten Vierstädtebekenntnis siehe Bernd Moeller, Die Confessio Tetrapolitana als Station der Lindauer Reformation. In: Die Reformation in Lindau. Hrsg.: Museumsverein Lindau e.V., Lindau 2007 (= Neujahrsblatt 47), S. 43-62; Confessio Tetrapolitana und die Schriften des Jahres 1531. Hrsg. von Robert Stupperich, Gütersloh 1969 (= Martin Bucers Deutsche Schriften, 3). So schreibt er in einem Brief an Ulm vom 15.9.1530: »Ich glaub auch nit, das weder der keyser noch der kunig kriegen werden, es muß dann sein. Fahen sy aber ein krieg an, so werden sy wol sehen, was sy thund«, zitiert nach Gudrun Litz, Bekenntnis zur Reformation. In: StadtMenschen. 1150 Jahre Ulm: Die Stadt und ihre Menschen. Hrsg. von Michael Wettengel und Gebhard Weig, Ulm 2004, S. 81-102, hier S. 93. Für Einzelheiten empfiehlt sich die Studie von Kurt Dülfer, Die Packschen Händel. Darstellung und Quellen, Marburg 1958. Dazu siehe Frieß, Außenpolitik (wie Anm. 9), S. 93 mit Anm. 113, mit dem Fokus auf Memmingen, aber auch der Korrespondenz der oberschwäbischen Städte untereinander in dieser Sache.
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In diesem Klima wurden der Bau der damals modernsten Fortifikationen und militärische Rüstungen forciert, wobei die protestantischen schwäbischen Reichsstädte parallel stets den diplomatischen Ausgleich respektive den Anschluss an die evangelischen Stände und Territorien im Reich suchten. Allerdings gestaltete sich das Zustandekommen entsprechender Bündnisse problematisch. Gerade der Speyrer Reichstag machte religionspolitische Allianzen für die oberschwäbischen Reichsstädte dringender nötig als zuvor, doch ausgerechnet jetzt sollten entsprechende Anläufe wegen innerevangelischer Glaubensfragen scheitern. So kollidierten im Herbst 1529 in Marburg und Schwabach die Auffassungen der schweizerisch-oberdeutschen mit der lutherischen Theologie, die sich als unüberbrückbar erwiesen, sodass kein Bündnis zustande kam. Es war vor allem das Abendmahlsverständnis, das den Pakt der oberländischen Städte mit Kursachsen, Hessen, Brandenburg-Ansbach, Nürnberg und Straßburg verhinderte.67 Zum Jahreswechsel 1529/30 waren protestantische Reichsstädte wie Ulm und Memmingen politisch isoliert, nachdem auch erneute Annäherungsversuche an den Kaiser missglückt waren.68 Genauso ließ sich ein Bündnis mit den Schweizer Glaubensbrüdern nicht realisieren; zu sehr hatte sich die Eidgenossenschaft bereits aus dem Reichsverband gelöst. Als Zwingli dann im Oktober 1531 bei Kappel den Schlachtentod fand, rückte der Zusammenschluss mit den reformierten Eidgenossen in weite Ferne. Erst die Gründung und der Beitritt zum Schmalkaldischen Bund brachte für die evangelischen Reichsstädte Oberschwabens nach 1531 eine Erleichterung und ein Mindestmaß an Sicherheit.69 Bis dahin lag es nahe, sich hinter den eigenen Stadtmauern zu verschanzen und diese den Anforderungen der zeitgenössischen Belagerungstechnik anzupassen. Für den Notfall boten die Befestigungen, im Sinne des Lutherliedes auf Gott vertrauend und »einer festen Burg« gleich, einen sicheren Rückzugsort.70 Gerade die Haltung der Reformatoren kam solchen defensiven Maßnahmen entgegen. Obwohl Zwingli und die reformierte Theologie offensiven Waffengängen 67
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Aus der Ulmer Perspektive Martin Brecht, Ulm 1530-1547. Entstehung, Ordnung, Leben und Probleme einer Reformationskirche. In: Die Einführung der Reformation in Ulm. Geschichte eines Bürgerentscheids. Vortragsveranstaltungen, Ausstellungskatalog und Beiträge zum 450. Jahrestag der Ulmer Reformationsabstimmung. Hrsg. von Hans Eugen Specker und Gebhard Weig, Ulm 1981, S. 12-28, hier S. 12 f., und S. 130-140. Auf Memmingen bezogen siehe die exzellente Darstellung bei Frieß, Außenpolitik (wie Anm. 9), ab S. 97. Grundlegend zum Schmalkaldischen Bund siehe aktuell Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530-1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002; vgl auch Ekkehart Fabian, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes und seiner Verfassung 1524/29-1531/35. Brück, Philipp von Hessen und Jakob Sturm. Darstellung und Quellen mit einer Brück-Bibliographie, 2. Aufl., Tübingen 1962. Vgl. dazu die Auffassung von der Stadt als große Burg, woher sich die Bezeichnung ihrer Bewohner, nämlich »Bürger«, ableitet. Zu Luthers wohl zwischen 1527 und 1529 entstandenem Trost- und Danklied »Ein feste Burg ist unser Gott« siehe stellvertretend für die reiche Literatur Inge Mager, Martin Luthers Lied »Ein feste Burg ist unser Gott« und Psalm 46. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie, 30 (1986), S. 87-96; und jüngst Anja Grebe und Ulrich Grossmann, Ein feste Burg ist unser Gott, Petersberg 2017 (= Schriften des Deutschen Burgenmuseums Veste Heldburg, 6).
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in Gestalt regelrechter Missionskriege zur Verbreitung des »wahren Glaubens« durchaus positiv gegenüberstanden, stellte dies für die sich an der schweizerischoberdeutschen Theologie orientierenden Reichsstädte aufgrund ihrer vergleichsweise schmalen Machtbasis keine Option dar.71 Dagegen hatte Luther gemäß seiner Zwei-Reiche-Lehre allein der Obrigkeit das Gewaltmonopol zugestanden, das zwar ein Widerstandsrecht kannte, wenn der rechte Glauben bedroht war;72 ein offensiv-präventives Vorgehen lehnte der Wittenberger Reformator jedoch ab. So verwundert es auch nicht, dass er Philipp dem Großmütigen bei seinen Kriegsplanungen im Gefolge der Pack’schen Händel die theologische Rückendeckung versagte.73
Ausblick: Die Altgläubigen, die Neugläubigen und Netzwerke des Festungsbaus Die Wechselwirkungen zwischen Reformation und Festungsbau sind ein reiches und bislang kaum ausgeschöpftes Forschungsfeld. So gilt es künftig nach konfessionell motivierten Festungsbauten und ganzen Festungslandschaften zu fragen, sowohl auf das Heilige Römische Reich als auch darüber hinaus bezogen.74 Denn neben den Reichsstädten traten im Reich und auch in Schwaben vor allem die größeren Territorien im Festungsbau des 16. Jahrhunderts hervor. Herzog Ulrich von Württemberg etwa entwickelte nach seiner Rückkehr und der Einführung der Reformation in seinem Herzogtum ab 1534 ein neues Verteidigungskonzept, das sich auf sieben Landesfestungen konzentrierte. Das beherrschende Element der beiden Stadt- und fünf Höhenfestungen bildete ebenfalls das Rondell. Der Bau der Anlagen wurde von Ulrichs Sohn und Nachfolger Christoph weiterge-
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Siehe dazu Heinrich Richard Schmidt, Religion und Krieg im Reformiertentum. In: Krieg und Christentum (wie Anm. 61), S. 415-438, bes. S. 424 zu den Positionen Zwinglis und Bullingers. Zu Luthers Haltung siehe Volker Leppin, Das Gewaltmonopol der Obrigkeit. Luthers sogenannte Zwei-Reiche-Lehre und der Kampf zwischen Gott und Teufel. In: Krieg und Christentum (wie Anm. 61), S. 403-414; Eike Wolgast, Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1980; Diethelm Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechtes in der Reformationszeit (1529-1530), Berlin 1991. Martin Brecht, Landgraf Philipp von Hessen und sein Verhältnis zu den Wittenberger, Schweizer und Oberdeutschen Theologen. In: Reformation und Landesherrschaft. Vorträge des Kongresses anlässlich des 500. Geburtstages des Landgrafen Philipp des Großmütigen von Hessen vom 10. bis 13. November 2004 in Marburg. Hrsg. von Inge Auerbach, Marburg 2005, S. 51-72, hier S. 53. Exemplarisch sei auf das Festungsbauprogramm Heinrichs VIII. in England verwiesen, der ab 1539 schwerpunktmäßig die Südküste seines Königreiches mit für den Artillerieeinsatz konzipierten Befestigungen ausstatten ließ, um nach dem Bruch mit Rom einer befürchteten kaiserlichen und französischen Invasion zu begegnen. Bezeichnenderweise wurden diese sogenannten Device Forts maßgeblich durch die Auflösung der englischen Klöster finanziert; vgl. stellvertretend für die zahlreiche englischsprachige Literatur Peter Harrington, The Castles of Henry VIII., Oxford 2007.
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führt und Ende der 1560er Jahre weitgehend abgeschlossen.75 Interessanterweise kamen bei den württembergischen Festungsbauten ebenfalls hessische Bauleute zum Einsatz, wie sie bereits in Memmingen und Augsburg eingesetzt waren.76 Landgraf Philipp der Großmütige unterstützte Ulrich nicht nur in der Wiedergewinnung und Reformation seines Landes, sondern auch bei dessen Sicherung durch Festungsbauwissen und -experten. Insbesondere der hessische Graf Reinhard von Solms zu Münzenberg taucht als ausgewiesener Fortifikationsfachmann im gesamten süddeutschen Raum auf.77 Neben dem Herzogtum Württemberg findet sein Name sich auch im Zusammenhang mit den Befestigungsarbeiten in Augsburg. Da ebenso aus Memmingen hessische Bauleute überliefert sind, werden künftige Forschungen nach der Rolle Hessens zu fragen haben. Dass Philipp der Großmütige als einer der führenden Köpfe unter den Reformationsfürsten der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gelten kann, ist hinlänglich bekannt.78 Welche genaue Rolle er beim Wissenstransfer in den süddeutschen Raum in Bezug auf die Festungsbaukunst der Zeit spielte, liegt hingegen noch weitgehend im Dunkeln; so gut wie unerforscht ist desgleichen, wie sich in dieser Hinsicht seine personelle und finanzielle Unterstützung der schwäbischen Protestanten im Detail gestaltete. Der Landgraf führte als »Vater des politischen Protestantismus«79 die evangelische Aktionspartei im Reich nicht nur im ideellen und politisch-diplomatischen Sinne an, sondern leistete auch handfeste materielle Hilfe. Inwieweit sich hier Parallelen zwischen den Festungsbauten der oberschwäbischen Reichsstädte und den großen hessischen Festungsstädten wie zum Beispiel Kassel oder Ziegenhain ergeben, wäre ebenfalls
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Im Einzelnen handelt es sich um Kirchheim, Schorndorf, Hohenasperg, Hohentübingen, Hohenneuffen, Hohenurach und den Hohentwiel, Vgl. allgemein Hans-Martin Maurer, Die landesherrliche Burg in Wirtemberg im 15. und 16. Jahrhundert. Studien zu den landesherrlich-eigenen Burgen, Schlössern und Festungen, Tübingen 1956; vgl. eher populärwissenschaftlich Erwin Haas, Die sieben württembergischen Landesfestungen: Hohenasperg, Hohenneuffen, Hohentübingen, Hohenurach, Hohentwiel, Kirchheim/ Teck, Schorndorf, Reutlingen 1996; vgl. aktuell und konzise Christian Ottersbach [u.a.], Festungen in Baden-Württemberg, Regensburg 2014 (= Deutsche Festungen 3), S. 89-100 und S. 107-128. Maurer, Die landesherrliche Burg (wie Anm. 75), S. 89, 101. Heinz von Lutter, Balthasar von Darmstadt und Hieronymus Latz waren in Tübingen und die beiden erstgenannten auch auf dem Asperg tätig. Zur Person siehe die Biografie von Friedrich Uhlhorn, Reinhard Graf zu Solms, Herr zu Münzenberg 1491-1562, Marburg 1952. Darüber hinaus die Würdigung von Person und Werk in Günther, Deutsche Architekturtheorie (wie Anm. 44), S. 90-99. Walter Heinemeyer, Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen – politischer Führer der Reformation. In: Die Geschichte Hessens. Hrsg. von Uwe Schultz, Stuttgart 1983, S. 72-81; Dieter Stievermann, Reich, Religion und Territorium in der Politik des Landgrafen Philipp von Hessen (bis 1546). In: Reformation und Landesherrschaft (wie Anm. 73), S. 159-175; vgl. allgemein zu Hessen im Reformationszeitalter Manfred Rudersdorf, Hessen. In: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1600, Bd 4: Mittleres Deutschland. Hrsg. von Anton Schindling und Walter Ziegler, Münster 1992, S. 254-288. So Heinemeyer, Landgraf Philipp der Großmütige (wie Anm. 78), S. 75.
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zu klären, genauso wie die Verbindungen Hessens zum stärksten protestantischen Territorium im Reich, nämlich Kursachsen.80 In Anbetracht dieser sich ansatzweise abzeichnenden Netzwerke ist man fast versucht, von einer protestantischen »Internationale« des Festungsbaus auszugehen, die sich – jedenfalls im süddeutschen Raum – unter der Führung Hessens gegenseitig mit Know-how unterstützte. Allerdings finden sich die Aktivitäten Hessens und auch des Grafen von Solms, der wohl nie zum Protestantismus konvertiert war, auch im altgläubigen Bayern, wo beispielsweise ab 1539 Ingolstadt zur Landesfestung ausgebaut wurde.81 Umgekehrt arbeiteten wiederum bayerische Baumeister in den 1550er Jahren an der württembergischen Landesfestung Kirchheim mit.82 Neben den konfessionsunabhängigen Dienstverhältnissen, die Baumeister und Architekten in der Frühen Neuzeit vielfach problemlos eingehen konnten, könnte die Verbindung nach Bayern in einen größeren politischen Rahmen gesetzt werden, der jenseits der konfessionellen Bruchlinien die in Opposition zu den Habsburgern stehenden Wittelsbacher zur Konservierung der »Deutschen Libertät« und Verhinderung einer Universalmonarchie ganz bewusst einbezog und mit Schützenhilfe im Festungsbau bedachte.83 Abschließend zur hier behandelten Epoche sei noch auf die Nordtiroler Festung und Klause Ehrenberg an der Grenze zu Oberschwaben verwiesen, die sich während des Fürstenaufstands 1552 als zu schwach ausgebaut und besetzt erwiesen hatte, um Moritz von Sachsen und sein Heer daran zu hindern, bis ins Herz der habsburgischen Hausmacht Richtung Innsbruck vorzustoßen und beinahe Karl V. gefangen zu nehmen. Nicht zuletzt dieses Ereignis, in dem ein Festungsensemble eine wichtige, wenn auch negative Rolle für ihren Herrn spielte, führte neben der Resignation des Kaisers und dem endgültigen Scheitern seiner Religionspolitik schließlich zum Passauer Vertrag und dann zum Augsburger Religionsfrieden.84 80
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Zu den beiden hessischen Festungen vgl. Elmar Brohl, Festungen in Hessen, Regensburg 2013 (= Deutsche Festungen 2), S. 105-108 und S. 201-208. In diesem Zusammenhang sei auf die Festung Ziegenhain verwiesen, in deren Schutz im Jahre 1538/39 auf Anregung Martin Bucers von einer Theologenversammlung die sogenannte Ziegenhainer Zucht- und Ältestenordnung ausgearbeitet wurde, die die evangelische Konfirmation begründete. Burger, Festungen in Bayern (wie Anm. 44), S. 78 f. Dabei handelte es sich um den herzoglich bayerischen Baumeister Heinrich Schötten, den Bau- und Büchsenmeister Georg Stern von Ingolstadt und Baumeister Aberlin Tretsch, die 1554 und 1555 Baupläne lieferten. Vgl. Rosemarie Reichelt, Eine württembergische Amtsstadt von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des Herzogtums 1803. In: Kirchheim unter Teck (wie Anm. 28), S. 275-478, hier S. 278. Siehe dazu allgemein Franz Brendle, »Bündnis versus Bekenntnis«. Philipp der Großmütige von Hessen, die deutschen Protestanten und Frankreich im Zeitalter der Reformation. In: Historisches Jahrbuch, 122 (2002), S. 87-109. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf den im Mai 1532 geschlossenen antihabsburgischen Allianzvertrag, in dem sich Frankreich, Kursachsen, Bayern und Hessen miteinander verbanden. Zu den Ereignissen und Kampfhandlungen um Ehrenberg, das das Tiroler Außerfern vom östlichen Schwaben abriegelte, vgl. Richard Lipp, Ehrenberg. Geschichte und Geschichten, Reutte 2006, S. 102-108. Als Reaktion auf diesen »Schock« wurde von habsburgischer Seite in der Folgezeit der Ausbau der Festung betrieben, die im Dreißigjährigen Krieg dann so stark und gut ausgerüstet war, dass die Schweden sie nicht nehmen konnten und Tirol weitgehend von den Kriegshandlungen verschont blieb.
Reinhard Baumann
Die deutschen Condottieri und die Reformation. Neue Unabhängigkeit oder neue Abhängigkeiten?
»Münchlein, Münchlein, du gehest jetzt einen Gang« – die evangelische Christenheit in Deutschland hat Georg von Frundsberg seit dem 16. Jahrhundert stets als einen der ihren betrachtet und dafür Luther und Melanchthon mit Aussagen aus ihren Tischreden als Beweis angeführt. Ob der Condottiere tatsächlich auf dem Reichstag in Worms die oft zitierten Worte über Martin Luther gesagt hat,1 ist nicht von Bedeutung. Aber dass er in ihren Anfangsjahren mit der Reformation sympathisierte, ist heute ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass er 1528 nach schwerer Krankheit auf eigenen Wunsch nach katholischem Ritus begraben wurde: Die zentrale Frage lautet also nicht, ob er der Reformation nahestand, sondern ob er sich dies als Diener des Hauses Habsburg leisten konnte. Georg von Frundsberg war in den 1520er Jahren der berühmteste und erfolgreichste deutsche Condottiere im Reich.2 Dabei signalisiert der Begriff »Condottiere« den selbstherrlichen Renaissance-Typ des Kriegsunternehmers und durch militärische Erfolge berühmt gewordenen militärischen Anführers. Hingegen ist das Adjektiv »deutsch« nur in eingeschränktem Sinne zu verstehen. Die Condottieri im Reich waren eingebunden in ein Netz von Abhängigkeiten: Lehensbindungen und Treue zum Kaiser und zum Reich vor allem. Die gemeinsame Konfession von Kriegsherr und Condottiere war vor der Reformation kein Thema, beide gehörten derselben Kirche an. Mit der Reformation war das nicht mehr grundsätzlich gegeben. Das Bekenntnis wurde zu einer neuen Beziehungsebene und schied gegebenenfalls den Condottiere von seinem Kriegsherrn. Im Falle Frundsbergs sah das Netz von Abhängigkeiten folgendermaßen aus: Seine Herrschaft Mindelheim in Schwaben bestand neben dem Allodialbesitz zu einem wesentlichen Teil aus Lehensbesitz des Reiches; der Kaiser war also sein Lehnsherr. Die Gerichtsherrschaften St. Petersberg im Inntal und Straßberg1
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Zu Frundsbergs Lutherwort vgl. Reinhard Baumann, Erinnerungsort Frundsberg. In: Erinnerungsorte in Oberschwaben. Regionale Identität im kulturellen Gedächtnis. Hrsg. von Rolf Kießling und Dietmar Schiersner, Konstanz 2009 (= Forum Suevicum, 8), S. 155-180, hier S. 158. Reinhard Baumann, Die deutschen Condottieri. Kriegsunternehmertum zwischen eigenständigem Handeln und ›staatlicher‹ Bindung im 16. Jahrhundert. In: Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Stig Förster [u.a.], Paderborn [u.a.] 2010 (= Krieg in der Geschichte, 57), S. 111-125, hier S. 111-113.
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Sterzing im Wipptal sowie Frundsbergs Burg Runkelstein bei Bozen waren dagegen Lehen des Tiroler Landesherrn. In den 1520er Jahren also bedeutete das für Georg von Frundsberg enge Bindungen an das Haus Habsburg, an Kaiser Karl V. und an dessen Bruder Ferdinand, der als Erzherzog von Österreich auch Herrscher über die Grafschaft Tirol war. Diese Bindungen wurden noch dadurch verstärkt, dass Georg als Hofrat und Feldhauptmann von Tirol (d.i. der Befehlshaber der Landesverteidigung) zur habsburgischen Regierung der Grafschaft Tirol gehörte. Seit 1520 hielt die Reformation Einzug in der Herrschaft Mindelheim, nicht durch einen spektakulären Akt, sondern allmählich und fast unauffällig. Frundsberg hat wenig für die Förderung der Reformation getan, er stellte sich ihr aber auch nicht entgegen. Er selbst weilte in kaiserlichen und habsburgischen Diensten oft fern der heimatlichen Mindelburg, während seine Gemahlin Anna sich immer mehr der neuen Bewegung zuwandte. Sie wurde zum Motor der Reformation in den frundsbergischen Herrschaften, und ihr Ehemann ließ sie gewähren, obwohl er spätestens seit dem Wormser Reichstag sicher sein konnte, dass sein oberster Kriegs- und Lehnsherr Kaiser Karl und mit ihm das Haus Habsburg die Reformation ablehnten und bereit waren, sie zu bekämpfen. Wenn Frundsberg 1526 auf seinem letzten Feldzug (jenem, der im Sacco di Roma endete) im Kreise seiner Hauptleute äußerte, es sei notwendig, den Papst als den Verursacher dieses Krieges und Feind des Kaisers zu strafen und zu henken, »vnd solt ers mit seyner eygen Hand thun«3, so ist das wohl mehr aus der Sicht des Kriegsmanns und weniger aus der des Reformationsanhängers gesagt. Aufgrund der Situation im Reich und auf dem italienischen Kriegsschauplatz zwischen 1521 und 1528 konnte es sich Frundsberg tatsächlich leisten, der Reformationsbewegung nahezustehen und sie sogar in Maßen zu fördern. Sein Handeln in Mindelheim, das sich auflösende Augustinerkloster unter frundsbergische Verwaltung zu nehmen, sich nicht um dessen Übernahme durch einen anderen Orden zu bemühen und den Mess- und Altardienst dort durch einen Weltpriester versehen zu lassen, kam einer reformatorischen Säkularisationsmaßnahme gleich. Als seine Gemahlin, Gräfin Anna von Lodron, dem von Innsbruck geschickten Konstanzer Generalvikar Johannes Fabri, der die Frundsberg vom reformatorischen Gedankengut abbringen sollte, klar machte, dass er in Burg und Herrschaft unerwünscht sei, trug Frundsberg das mit.4 Dieses Verhalten war nur deshalb möglich, weil das Haus Habsburg ihn brauchte. Der berühmte Obrist und Söldnerunternehmer war 1525/26 unentbehrlich. Während der Anfänge der Revolution des gemeinen Mannes schien gerade er geeignet, mit Bauernführern im Schwarzwald zu verhandeln. Auf Frundsberg lag die Hoffnung der Innsbrucker Regierung zur Befreiung der kaiserlichen Besatzung in Pavia . Nur er konnte in so kurzer Zeit ein Landsknechtheer aufstellen, nur er konnte dieses Heer zusammen mit den Kontingenten der anderen kaiserlichen Obristen zum Sieg führen. Auch als der Revolution in Tirol mit Michael Gaismair ein äußerst fähiger Anführer erwuchs, setzte man in Innsbruck auf den Feldhauptmann, der als Oberhaupt der Landesverteidigung die von Gaismairs revolutionären Streitkräften ausgehende Gefahr zu bannen vermochte. Und als der Krieg gegen König Franz 3
4
Adam Reißner, Historia Herrn Georgen vnnd Herrn Casparn von Frundsberg, Frankfurt a.M. 1572, fol. 86v. Vgl. dazu Reinhard Baumann, Anna von Lodron. Ein adeliges Frauenleben in der Reformationszeit, Innsbruck 2015 (= Schlern-Schriften, 365), S. 42-47.
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von Frankreich mit seinen Bundesgenossen, vor allem dem Papst, in eine weitere Runde ging, war Frundsberg derjenige, von dem allein man Anwerbung, Finanzierung und Führung einer kaiserlichen Armee erwarten konnte.
Wenn der Kriegsherr die Konfession vorgibt Das Entstehen zweier Konfessionen war in den Jahren, bevor Frundsberg im Herbst 1526 zu seinem letzten Feldzug aufbrach, zumindest für die Zeitgenossen noch nicht abzusehen. Wer die althergebrachten Formen des Christentums kritisierte und sich gegen die römische Hierarchie stellte, gehörte damit noch nicht zu einer anderen Kirche. Ein Jahr lang lag Frundsberg 1527/28 krank in Ferrara. Hier entstand sein Wunsch nach politischer Aussöhnung von Papst und Kaiser; er selbst wollte bei den Riten der römischen Kirche bleiben. Die Nachrichten von der Nordseite der Alpen ließen ihn wohl erkennen, dass die Kritik an der römischen Kirche auf eine Spaltung hinauslief. Sein Wunsch, nach römischem Ritus von Klerikern der alten Kirche begraben zu werden, könnte vielleicht auch deshalb entstanden sein, weil er als Vater Betätigungsfeld und Karriere seiner Söhne sichern wollte. Als das Haus Habsburg im Herbst 1528 seine Vertreter nach Mindelheim zur Begräbnisfeier des großen Landsknechtführers schickte, zeichnete sich die Trennung in eine althergebrachte Kirche und einen vielfältigen, bekenntnismäßig und auch politisch gefestigten Protestantismus schon ab.5 Im oberschwäbischen Raum waren das die Reformationsmaßnahmen in verschiedenen Reichsstädten: der Zwinglianismus, das Luthertum und das Täufertum. In Innsbruck missbilligte man solche Strömungen jetzt nicht nur, sondern man ging in den österreichischen Erblanden engagiert dagegen vor, mit Ausweisung, Kerkerhaft und Hinrichtungen. Die Frundsbergsöhne hatten nicht den Ruf und die Verdienste des Vaters.6 Wollten sie in habsburgischen Diensten reüssieren, mussten sie bei der alten Kirche bleiben und im Sinne der Lehnsherrn und Arbeitgeber, Karl V. und Ferdinand, hart gegen reformatorische Bewegungen in ihren Herrschaften vorgehen, vor allem in den beiden Tiroler Gerichtsherrschaften. Ihre Stiefmutter Gräfin Anna von Lodron hatte durch Gewährenlassen die Reformationsanhänger unterstützt; nun begann die aktive Bekämpfung jeglicher reformatorischen Ansätze. Die Nachfolge des Vaters traten sein ältester Sohn Caspar und sein jüngster Sohn Balthasar an. Letzterer fand im Hofdienst des Kaiserbruders Ferdinand eine standesgemäße Betätigung; er diente als Mundschenk, verstarb allerdings schon 1531. Caspar begann nach seiner Heirat mit der Tirolerin Margareta von Firmian im Jahr 1530 und dem Wegzug der Stiefmutter auf die Limpurg bei SchwäbischHall drei Jahre später in den frundsbergischen Herrschaften eine rigorose Re5
6
Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012, S. 438-445. Friedrich Zoepfl, Geschichte der Stadt Mindelheim in Schwaben, Regensburg 1995 (= Reprint von 1948), S. 39-61, bes. 49-55; Reinhard Baumann, Georg von Frundsberg. Der Vater der Landsknechte und Feldhauptmann von Tirol. Eine gesellschaftsgeschichtliche Biographie, 2. Aufl., München 1991, S. 302-315.
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katholisierungspolitik. Ob dafür seine persönliche religiöse Überzeugung den Ausschlag gegeben hat, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall musste er Wohlverhalten gegenüber dem Haus Habsburg zeigen. Dass man ihm die Feldhauptmannschaft für Tirol nicht übertragen hatte, war für ihn und die Zeitgenossen ein deutlicher Hinweis, dass er sich nicht auf den Lorbeeren des Vaters ausruhen konnte. So setzte er seine Hoffnung auf ein Engagement als Söldnerunternehmer und Obrist. Ihm brachte die Reformation also keine neuen Freiräume, und er war viel mehr als sein Vater vom katholischen Kriegsherrn abhängig. Caspars Rechnung ging zunächst auf. In Innsbruck verlieh man ihm den Titel eines kaiserlichen Kriegsrats und verpflichtete ihn als Unternehmer und Obrist für einen Feldzug gegen Frankreich, doch starb er 1536 an einer schweren Fiebererkrankung. Die Herrschaft für seinen unmündigen Sohn Georg führte seine Witwe. Dieser Georg – als Georg II. der letzte Frundsberg – war noch stärker von Habsburg abhängig als seine Vorfahren. In der dritten Generation stand jetzt ein Frundsberg in Mindelheim als Söldnerunternehmer und Landsknechtobrist zur Verfügung. Nie hatte ein Frundsberg Zweifel aufkommen lassen an Kaiser-, Reichs- und Lehenstreue. Man darf annehmen, dass seine streng der alten Kirche verpflichtete Mutter Margareta nicht nur in den frundsbergischen Herrschaften jegliche protestantische Regung unerbittlich bekämpfte, sondern auch den Sohn zum überzeugten Katholiken erzogen hat. Georg II. von Frundsberg trat als Fußknechthauptmann in habsburgische Dienste und bewährte sich in Ungarn gegen die Türken. So hatte er bereits einen guten Ruf, als Ende der 1560er Jahre Kommissare König Philipps von Spanien nach deutschen Söldnerunternehmern Ausschau hielten, die in der Lage wären, Landsknechte für den niederländischen Kriegsschauplatz zu beschaffen und zu befehligen. Der letzte Frundsberg erfüllte die Anforderungen Philipps II.: Er war ein der römischen Kirche treu ergebener, erfahrener Kriegsmann. 1572 warb Georg in Süddeutschland sein erstes Fußknechtregiment gegen die niederländischen Rebellen und, wie man das in Spanien sah, gottlosen Ketzer. In den folgenden Jahren warb und führte Georg einige Regimenter für Spanien, obwohl der spanische Kriegsherr bankrott und häufig zahlungsunfähig war. Frundsberg wurde dafür von seinen unbesoldeten Landsknechten persönlich haftbar gemacht; sie bedrohten ihn und nahmen ihn in Haft, versammelten sich später in seiner Herrschaft Mindelheim, um ihren Sold einzufordern, und verklagten ihn sogar vor dem Reichskammergericht. Er aber blieb dem spanischen Kriegsherrn bis zu seinem Tod 1586 im Alter von 53 Jahren treu. Er sah wohl auch keine Alternative zum Dienst für Spanien und erhielt deshalb die enge Bindung an Habsburg aufrecht. Bei der alten Kirche war auch Conrad von Bemelberg geblieben, der Locotenent (Stellvertreter) Frundsbergs auf dem Romfeldzug. So stand Bemelbergs Karriere in kaiserlichen Diensten nichts im Wege. Man betraute ihn mit dem Oberbefehl über das Fußvolk im Reichsheer im Türkenfeldzug 1542. Das Haus Habsburg lohnte ihm seine Treue durch die Verleihung des Titels eines königlichen Rats und die Verpfändung verschiedener Herrschaften.7
7
Waldemar Küther, Konrad von Bemelberg. Ein Soldatenleben, Schelklingen 1994 (= Schelklinger Hefte, 19).
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Anders gelagert ist die Situation bei Herzog Erich II. von Braunschweig-Lüneburg.8 Erich war der Sohn des Begründers der Linie Braunschweig-LüneburgCalenberg-Göttingen. Er wollte Söldnerführer werden, so wie sein Vater Erich I., der im Bayerischen Erbfolgekrieg und in den Venezianerkriegen im Dienste Kaiser Maximilians I. gestanden hatte. Als Erich I. 1540 starb, übernahm seine Witwe Elisabeth von Brandenburg die Regentschaft für den noch unmündigen Sohn, führte die Reformation ein und ließ Erich protestantisch erziehen. Als Erich dann aber sein Herzogtum selbst regierte, wechselte er 1548 zum katholischen Glauben. Persönliche Überzeugungen dürften bei dieser Entscheidung nur eine geringe Rolle gespielt haben, sehr wohl aber geschäftliche. In den nächsten Jahren stand er als Condottiere in kaiserlichen und spanischen Diensten, befehligte Heere in Nordfrankreich und den Niederlanden. Gerade der spanische König legte Wert auf katholische Anführer, und diese Bedingung erfüllte Erich II. durch seinen Konfessionswechsel. Der war wenig konsequent: Einerseits führte Erich II. in seinem Herzogtum, bestärkt durch das Interim, 1548 Ritus und Lehre der katholischen Kirche wieder ein und ließ widerspenstige Pfarrer und Schuldiener ausweisen oder sogar in Festungshaft nehmen. Andererseits machte er die Säkularisationsmaßnahmen der Mutter nicht rückgängig. Die Frauenklöster hatte sie in Stiftungen umgewandelt, einige davon als Damenstifte zur Versorgung von Adelstöchtern weitergeführt. Die Mönchsklöster hingegen wurden erst in den ersten Regierungsjahren Erichs II. ins herzogliche Kammergut eingebracht. Nahezu alle herzoglichen Amtsbezirke und vor allem das Klostergut verpfändete der Herzog an im Land eingesessene Adelige. Er verpflichtete sie gleichzeitig, ihm jederzeit auf Anforderung Reiter zu stellen und als Obristen oder Rittmeister zu dienen. So nutzte er die ehemaligen Klöster als Grundlage für die Besoldung seiner Reitertruppen, der wegen ihrer schwarzen Rüstungen als »Schwarzreiter« bezeichneten Soldreiterei, die leichter gerüstet als die schweren Kürisser waren, aber deutlich besser als die leichte Reiterei wie Ringerpferd, Stradioten oder Husaren. Die ehemaligen Klöster hatten auch Transportpflichten mit Wagen, Rossen und Knechten zu erfüllen. Konfessionswechsel und Bindung an die katholischen habsburgischen Kriegsherren waren für Erich von Vorteil. Mit den Gewinnen aus seinem Kriegsunternehmertum mehrte er seinen Eigenbesitz, erwarb Woerden und Liesfeld, baute Schlösser, kaufte venezianische Paläste. Man brauchte ihn gegen den französischen König und in den Niederlanden, und Erich nutzte es geschickt aus, dass er gebraucht wurde.
8
Wolfgang Kunze, Welfenross und schwarze Reiter. Herzog Erich II. von BraunschweigLüneburg. Militärunternehmer in der Epoche Philipps II., Hannover 2012 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, 133). Vgl. auch Friedrich Edelmayer, Söldner und Pensionäre. Das Netzwerk Philipps II. im Heiligen Römischen Reich, München [u.a.] 2002 (= Studien zur Geschichte und Kultur der iberischen und iberoamerikanischen Länder, 7), S. 187-202.
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Protestanten in katholischen Diensten Die Forderung der Habsburger, dass von ihnen unter Vertrag genommene Condottieri katholischen Glaubens sein müssten, war deshalb nicht mit Problemen verbunden, weil einige Söldnerunternehmerfamilien ohnehin der reformatorischen Bewegung ablehnend gegenüber standen und sich als treue Katholiken erwiesen: im südlichen Tirol etwa die Arco, Lodron und Madruzzo, in Vorarlberg die Hohenems, in Oberschwaben die Waldburg und (in der zweiten und dritten Generation) die Frundsberg. Dogmatisch waren die Habsburger ebenso wenig wie einige Condottieri. Bezeichnend ist hier die Biografie des Lazarus von Schwendi.9 1522 wurde er im oberschwäbischen Mittelbiberach geboren, als unehelicher Sohn des Adeligen Ruland von Schwendi und seiner Haushälterin. Es gelang dem Vater, Lazarus vom Kaiser legitimieren zu lassen. Der Bub wuchs im väterlichen Stadthaus in der Reichsstadt Memmingen auf, die durch Testamentsverfügung des mitten im Bauerkrieg verstorbenen Vaters auch sein Vormund wurde. Die unter zwinglianischem Einfluss reformierte Reichsstadt setzte sein Erbe gegen die Ansprüche der Verwandtschaft durch, sorgte aber noch nicht für eine stringente reformatorische Erziehung, denn eine konsequente evangelische Glaubensunterweisung fehlte in den Anfangsjahren der Memminger Reformationszeit. Immerhin ließ der Rat der Stadt dem Mündel eine solide Bildung angedeihen. Zum Studium schickte man ihn an die reformatorisch geprägten Universitäten Basel und Straßburg. Schwendi studierte Rhetorik, Geschichte und Jurisprudenz. Anfang 1545 kam er nach Memmingen zurück, wurde für mündig erklärt und trat im Herbst zunächst als Diplomat in kaiserliche Dienste, aber schon ein Jahr später führte er zwei kaiserliche Fähnlein. Zu welcher Konfession sich Lazarus von Schwendi bekannte, interessierte zunächst niemanden. 1551 schätzte ihn ein englischer Gesandter als einen fanatischen Papisten ein, er scheint sich also in diesen Jahren mündlich und schriftlich als guter Katholik gegeben zu haben. Andererseits bekannte er später, dass er das Papsttum wegen seiner verderblichen Einwirkungen auf Deutschland hasse. Er warnte vor den Folgen der Gegenreformation für das Reich und wurde schließlich, wohl durch die reformatorischen Einflüsse aus seiner Kindheit und das Gedankengut seiner Studienorte beeinflusst, zum Anhänger der Lehre Calvins. Erklärbar ist das alles, weil Schwendi Karriere machen wollte, dabei konfessionelle Überzeugungen zurückstellte und letztlich ein sehr freies Verhältnis zu den reformatorischen Richtungen hatte. Im Dienste Habsburgs machte Schwendi sich bald unentbehrlich, zunächst als spanischer Truppenführer in den Niederlanden, dann als Söldnerunternehmer und Oberbefehlshaber in Ungarn gegen die Türken. Der konfessionelle Taktierer Kaiser Maximilian II. machte Schwendi zu seinem engen Mitarbeiter. Schwendis kritischer Blick auf das Kriegswesen des Reiches, seine analytischen Schriften zu Missständen und seine Verbesserungsvorschläge waren hoch geschätzt. Er galt als unbestrittene Autorität in Fragen des Türkenkrieges. Seine persönlichen religiösen Haltungen und Ansichten wurden am Wiener Hof seinem staatsmännischen 9
Thomas Nicklas, Um Macht und Einheit des Reiches. Konzeption und Wirklichkeit der Politik bei Lazarus von Schwendi (1522-1583), Husum 1995 (= Historische Studien, 442), S. 105-183.
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Urteil untergeordnet. Schwendi, dem von der Reichsidee Begeisterten, ging es um die Zukunft des Reiches, die er durch die Glaubensspaltung gefährdet sah. In der Gewährung religiöser Toleranz sah er mögliche Abhilfe; deshalb vertrat er unbeirrt die Forderung nach Gewissensfreiheit. In ganz anderer Weise spektakulär ist der Fall des »wilden Grafen« Wilhelm von Fürstenberg (1491-1549), Kriegsmann par excellence nicht nur in der Einschätzung der Zeitgenossen, sondern auch in seiner eigenen.10 Er dürfte der einzige deutsche Adelige sein, der sich im Harnisch mit der keineswegs adeligen Waffe Bihänder darstellen ließ. Das Gemälde entstand 1540 und hängt auf Schloss Heiligenberg am Bodensee. Graf Wilhelm war tatsächlich ein Condottiere, den man in die Reihe der italienischen Söldnerführer der Renaissance stellen kann. Der Wechsel des Kriegsherrn war für ihn kein Problem. So schloss er Verträge mit Frankreich und dem Kaiser, mit dem Schwäbischen Bund und mit Territorialfürsten wie dem hessischen Landgrafen Philipp – und das in rascher Abfolge. Graf Wilhelm war ein Condottiere, der es verstand, die Gunst der Stunde zu nutzen. Sich bei früheren Feinden zu verdingen, hatte er keine Vorbehalte. War er ein geschickter Geschäftsmann im »Business of War« oder ein gewissenloser Hasardeur? In Glaubensangelegenheiten zumindest war er überraschend konsequent: 1530 führte er in seiner Grafschaft die Reformation ein, ungeachtet der hohen Wahrscheinlichkeit, dass ihm das schaden würde. Zunächst waren die politischen Konstellationen aber so, dass diese Entscheidung sich nicht negativ auswirkte. Der Kaiser brauchte ihn, der französische König fragte sowieso nicht nach der Konfession seiner Söldner. Und so wurde er auch deshalb verpflichtet, weil man ihn lieber auf der eigenen Seite sah als auf der gegnerischen. Nach dem Schmalkaldischen Krieg fiel Wilhelm in kaiserliche Ungnade. Er hatte, erbost darüber, dass Karl V. keinerlei Anstrengungen gemacht hatte, ihn 1544 aus französischer Gefangenschaft auszulösen, und die Fürstenberg allein die hohe Lösegeldsumme aufbringen mussten, nach seiner Freilassung offen die Schmalkaldener unterstützt. Der Kaiser sah dann nach dem Sieg über die evangelischen Fürsten und auf dem Höhepunkt seiner Macht die Gelegenheit gekommen, ihn abzustrafen. Um die kaiserliche Drohung abzuwenden, die Fürstenbergsche Grafschaft zu besetzen, wurde Wilhelm von seinem Bruder in adelige Haft auf Schloss Ortenberg verbannt. Dort starb er, körperlich krank und in geistiger Umnachtung, im Sommer 1549. Sebastian Schertlin, der studierte Bürgersohn aus dem württembergischen Schorndorf, gehört ebenfalls zu den protestantischen Condottieri, die in katholischem Dienst standen.11 In den 1520er Jahren hatte er als Landsknecht Karriere gemacht, war in Pavia 1525 als Stadtverteidiger vom spanischen Vizekönig und 1532 von Karl V. für seine Verdienste im Türkenkrieg zum Ritter geschlagen worden. 1543 zog er gegen Frankreich als »kaiserlicher Großmarschall, General10
11
Thomas Bergholz, Fürstenberg, Wilhelm von. In: Biografisch-Bibliografisches Kirchenlexikon, Bd 25, Nordhausen 2005, Sp. 470-472; Johannes Volker Wagner, Graf Wilhelm von Fürstenberg 1491-154) und die politisch-geistigen Mächte seiner Zeit, Stuttgart 1966 (= Pariser historische Studien, 4). Friedrich Blendinger, Sebastian Schertlin von Burtenbach (1496-1577). In: Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, 2 (1953), S. 197-226; Christof Paulus, Sebastian Schertlin von Burtenbach im Schmalkaldischen Krieg. In: Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte, 67 (2004), 1,S. 67-84.
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kapitän, Justitiar, Musterherr und Brandschatzmeister«. Geradezu buchhalterisch listete er in seiner Autobiografie die Gewinne in Gulden, Heller und Pfennig auf, die er aus den Kriegszügen nach Hause brachte. 1532 kaufte er mit seinem angesammelten Vermögen die Herrschaft Burtenbach (nahe Günzburg). 1546 bekannte er sich zur lutherischen Lehre und führte in seiner Herrschaft die Reformation ein. Fast gleichzeitig trat er als oberster Fußknechtführer der oberdeutschen Städte in die Dienste des Schmalkaldischen Bundes. Dies brachte zunächst Gewinn und ihm, dem erfahrenen, umsichtig seine Knechte führenden Obristen, militärische Erfolge. Nach der Niederlage der protestantischen Fürsten fiel er in kaiserliche Ungnade. Schertlin floh und trat in französische Dienste. Karl V. verhängte deshalb die Reichsacht über ihn und zog seinen Besitz ein. 1553 kam es zur Aussöhnung, nachdem sich Schertlin maßgeblich für einen Vertrag zwischen Frankreich und dem Kaiser eingesetzt hatte. Er erhielt seinen Besitz zurück, wurde sogar zum kaiserlichen Rat ernannt. Auch Schertlin hat seine persönliche Glaubensüberzeugung über seinen geschäftlichen Vorteil gestellt. Auch ihm brachte das zunächst Ruhm, Ehre und Gewinn ein, stürzte ihn dann aber in große Schwierigkeiten. Letztlich konnte er in Ruhe seine alten Tage auf Schloss Burtenbach genießen.
Condottieri in eigener Sache In der Reformationszeit gab es im Reich auch einige Condottieri, die in eigener Sache Krieg führten, ohne einem Kriegsherrn vertraglich verpflichtet zu sein. Sie bekannten sich zur Reformation. Für das Handeln dieser Condottieri hatte die Reformation allerdings unterschiedliche Bedeutung. Franz von Sickingen galt sowohl der evangelischen Christenheit in Deutschland als auch der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert als früher Förderer der reformatorischen Bewegung.12 Ohne Zweifel stand er in den ersten Jahren der Reformation der lutherischen Lehre interessiert und wohlwollend gegenüber. Das ist deshalb bedeutsam, weil er in dieser Zeit für einige Jahre der wichtigste und wirkungsmächtigste Condottiere im Reich war. Bereits 1515 in seiner Fehde gegen Worms und noch einmal 1521 im Reichsheer gegen Frankreich beschäftigte er Kaspar Adler als Feldprediger, der dann als Caspar Aquila Superintendent in Thüringen wurde. Aquila wurde auch der Erzieher und Lehrer von Sickingens Kindern auf der Ebernburg, jener »Herberge der Gerechtigkeit«13, in der sich Humanisten und Reformatoren zusammenfanden: Neben Aquila kamen dorthin Ulrich von Hutten, Martin Bucer, Johannes Oekolampad und andere Reformatoren. Dies legt die Annahme nahe, dass die Ebernburg um 1522 ein Zentrum der reformatorischen Entwicklung war und der Burgherr Sickingen mittendrin agierte. Als Franz aber dann die Trierer Fehde begann und ein starkes Heer aus Adelsreiterei und Landsknechten aufstellte, ging es nicht um die 12 13
Karlheinz Schauder, Franz von Sickingen, Kaiserslautern 2006 (= Pfälzische Profile). Thomas Kaufmann, Franz von Sickingen und die Herberge der Gerechtigkeit – Historie und Mythos. In: Ritter! Tod! Teufel! Franz von Sickingen und die Reformation. Hrsg.: Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Evangelisch-Theologische Fakultät, und Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Regensburg 2015, S. 49-56.
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Reformation. Sickingen wollte vielmehr die Macht der geistlichen und weltlichen Territorialfürsten brechen, dem Reichsrittertum zu neuer, bedeutender Stellung im Reich verhelfen und schließlich Rache und Vergeltung üben am Erzbischof von Trier, den er als seinen persönlichen Feind betrachtete. Damit hatte sich der große Condottiere Sickingen indes übernommen. Ein Heer der drei verbündeten Fürsten von Trier, Kurpfalz und Hessen brach seine Burgen, besiegte seine Truppen, bestrafte seine Unterstützer. Bei der Belagerung der Burg Nanstein wurde Sickingen tödlich verwundet. Dass seine Landsknechte in ihm den großen Heilsbringer sahen, dass sie das Tetragramm (die vier hebräischen Buchstaben des Namens Gottes) als Felderkennungszeichen am Wams trugen und sich als Kriegsleute Gottes gegen die Feinde des Evangeliums verstanden, mag als reformatorisches Beiwerk gesehen werden. Einen Feldzug für die Reformation und deren Ideen hat Sickingen nicht geführt. Ebenso bekannte sich Albrecht Alkibiades II. von Brandenburg-Kulmbach – familienbedingt – zum Protestantismus. Dennoch trat er in die Dienste des Kaisers und diente ihm auch im Schmalkaldischen Krieg. Nach dem Passauer Vertrag begann er allerdings einen privaten Feldzug durch Franken, wohl enttäuscht, weil er vom Kaiser nicht angemessen belohnt und gewürdigt worden war. Er raubte und plünderte in den beiden fränkischen Hochstiften und bewegte sich auf das Elsass zu, wohl wissend, dass ihn derzeit niemand aufhalten konnte, und im Bewusstsein seines Erpressungspotenzials. Als der Kaiser nämlich Metz belagerte, das von französischen Truppen besetzt war, musste er befürchten, dass der Kulmbacher in französische Dienste einträte. In dieser Situation nahm der Kaiser den fränkischen Landraub hin und sah auch über den Landfriedensbruch und den Verstoß gegen das Söldneranwerbeverbot hinweg. Albrecht Alkibiades war damals tatsächlich für einige Monate unabhängig und selbstständig, führte Krieg als Kriegsherr in eigener Sache. Als der Kaiser im Januar 1553 die Belagerung von Metz abbrach, zog der Kulmbacher aus Lothringen weg und fiel ein zweites Mal in die fränkischen Territorien ein. Mit dem Zweiten Markgräflerkrieg überspannte er aber seine Möglichkeiten. Der Kaiser verhängte die Reichsacht über ihn; ein Fürstenheer besiegte ihn bei Sievershausen (1553); Kulmbach und die Plassenburg wurden belagert und zerstört. »Der skrupellose fränkische Markgraf« starb 1557, erst 35 Jahre alt.14 Man hat versucht seine wilden Kriegsunternehmungen auf reformatorische Beweggründe zurückzuführen. Aber das waren keine Kriegszüge gegen den Katholizismus, auch keine reformatorischen Säkularisierungsversuche in den Hochstiften Bamberg, Würzburg, Mainz und Trier, denn der »wilde Markgraf« belagerte auch die evangelischen Reichsstädte Nürnberg und Schweinfurt und erpresste hohe Zahlungen. Ihm ging es um die Errichtung eines Herzogtums Franken unter Herrschaft des Hauses Hohenzollern. Die Reformation gab ihm die Möglichkeit, solche Absichten zu verschleiern, jedoch zunächst auch den dafür notwendigen Handlungsfreiraum. In ganz anderer Weise ermöglichte die Reformation dem Tiroler Revolutionär Michael Gaismair, Condottiere in eigener Sache zu sein.15 Als der Bauernkrieg
14 15
Ferdinand Seibt, Karl V. Der Kaiser und die Reformation, Berlin 1990, S. 201. Michael Forcher, Um Freiheit und Gerechtigkeit: Michael Gaismair. Leben und Programm des Tiroler Bauernführers und Sozialrevolutionärs, 1490-1532, Innsbruck 1982, S. 88-96, 112-141.
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in Süddeutschland schon beendet, die Bauernhaufen niedergeworfen waren und die altangestammte Obrigkeit ihr blutiges Strafgericht abhielt, begann Gaismairs große Zeit. Im Mai 1525 hatten ihn, den ehemaligen Schreiber des Landeshauptmanns, dann Sekretär des Brixener Bischofs, aufständische Bauern und Bürger im Kloster Neustift zum obersten Feldhauptmann von Tirol gewählt. Zunächst verfolgte er einen gemäßigten Kurs, doch Erzherzog Ferdinand ließ ihn bei Verhandlungen in Innsbruck ins Gefängnis werfen. Gaismair gelang die Flucht. Im Exil in den Drei Bünden (ein sogenannter Zugewandter Ort der Eidgenossenschaft) schrieb Gaismair seine revolutionäre Landesordnung von Tirol nieder, die Grundlage für einen Gottesstaat der Bauern und Bergarbeiter in den Alpen. Geistiger Impulsgeber war der Züricher Reformator Huldrych Zwingli. Dessen reformatorische Ideen machten Gaismair frei von jeglicher Bindung an das Feudalsystem des Reiches, an Ständegesellschaft und Kaiser. Er war aber kein reformatorischer Theoretiker, sondern ein solider politischer Denker und militärischer Anführer. Seine Jahre als Schreiber des Landeshauptmanns hatten ihn auch in Kriegsangelegenheiten geschult. Um einen Gottesstaat zu realisieren, gab es nach seiner realistischen Einschätzung nur eine militärische Lösung: Er brauchte ein Heer – einerseits um den Revolutionären im Hochstift Salzburg zu helfen, andererseits um die Revolution nach Tirol hineinzutragen. Und so warb er in den Drei Bünden, in Appenzell und am Bodensee Kriegsknechte an, aus Süddeutschland geflüchtete Revolutionäre, Appenzeller Reisläufer sowie Landsknechte, und führte sie auf geheimen Pfaden nach Salzburg. Im Salzburgischen aber scheiterte die Revolution. Gaismair führte sein etwa 1500 Mann starkes Heer aus Revolutionären und Söldnern im Frühjahr 1526 über Osttirol nach Südtirol. Dort allerdings stellte sich ihm der Tiroler Feldhauptmann Georg von Frundsberg mit dem Landesaufgebot entgegen. Gaismair verlor zwar die Schlacht bei Bruneck, zog aber diszipliniert durch die Zentraldolomiten auf venezianisches Gebiet. Die kleine Streitmacht, die nun – unerreichbar für Frundsbergs Fähnlein – bei Agordo in Venetien stand, war Gaismairs Heer, das er allein befehligte und das er nun dem Dogen von Venedig anbot. Er erhielt einen Soldvertrag, eine condotta, und war als venezianischer Condottiere im Einsatz gegen kaiserliche Truppen bei Cremona erfolgreich. Es war das Heer, mit dem er seine von Zwingli geprägte Vorstellung einer reformierten Gesellschaft in Tirol durchsetzen wollte. Gaismair scheiterte – zunächst an Neid und Intrigen anderer venezianischer Condottieri, dann aber auch, weil er die Hoffnung auf den Gottesstaat auch als entlassener Condottiere und wohlhabender Privatmann in Padua nie aufgab: In Innsbruck sah man den Tiroler Condottiere als ständige Gefahr für das feudale Tirol. 1532 waren die von Habsburg gedungenen Mörder erfolgreich. Auch in diesem Fall hat ein Condottiere in eigener Sache Krieg geführt, allerdings nicht mit der Reformation als Vorwand, um seine eigentlichen Absichten zu verhüllen, sondern weil er die reformatorische Sache zu seiner eigenen Sache gemacht hatte.
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Kriegsknechte und Reiter: Die Machtbasis der Condottieri Ein zumindest kurzer Blick auf die Machtbasis der Condottieri ist nötig16: auf ihre Söldner zu Ross und zu Fuß. Anwerben ließen sich Katholiken ebenso wie Protestanten. Sie kämpften für katholische Kriegsherren und auch für protestantische. Für die Condottieri zählte der angeworbene Mann, unabhängig von seinem Bekenntnis. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Georg II. von Frundsberg sollte für den spanischen König 1572 ein Regiment Landsknechte in Süddeutschland anwerben. Philipp II. wünschte katholische Knechte. Sein Obrist Frundsberg warb aber vor allem im evangelischen Württemberg und in den evangelischen Reichsstädten Nördlingen, Dinkelsbühl und Esslingen.17 Mit diesen Knechten zog er in die Niederlande, wahrscheinlich auch mit katholischen und protestantischen Feldkaplänen, wie das für den Obristen Jakob Hannibal von Hohenems nachgewiesen ist. Sogar für den Söldnerrivalen, die Schweizer Eidgenossenschaft, sind solche Beispiele überliefert: Am Ende des 16. Jahrhunderts konnte das katholische Luzern seine vertraglich der katholischen Liga in Frankreich zugesicherten Kompanien nicht mit genügend in Luzern geworbenen Kriegsknechten füllen.18 Hilfesuchend wandte sich die Stadt an zwei katholische, der Eidgenossenschaft Zugewandte Orte: an das Fürstbistum Basel und an die Reichsstadt Rottweil. Viele der durch Rottweil angeworbenen Söldner waren keine Rottweiler. Sie kamen aus württembergischen Städten und Dörfern. Kurzum, der französische Kriegsherr bekam weder durchwegs die zugesicherten Schweizer noch durchwegs katholische Kriegsknechte. Die Konfession war den Söldnern nicht auf der Stirn ablesbar. Im Söldnergeschäft der Reformationszeit galten andere Kriterien.
Folgerungen Fragt man nach den Beweggründen der deutschen Condottieri der Reformationszeit, in die Dienste von Kriegsherren zu treten, so waren bei den meisten geschäftliche Überlegungen ausschlaggebend: Gewinn oder zumindest Sicherung des zukünftigen Arbeitsplatzes, manchmal auch für die nachfolgende Generation der Söhne und Enkel. Oft überschneidet sich die Entscheidung auch mit persönlichen Abhängigkeiten wie Lehnspflichten oder Überzeugungen wie Reichsidee, Reichs- und Kaisertreue. Bezeichnend für die Haltung der Condottieri ist – und 16
17
18
Fritz Redlich, The German Military Enterpriser and His Work Force. A Study in European Economic and Social History, 2 Bde, Wiesbaden 1956 (= Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 47, 48). Reinhard Baumann, Den Krieg nach Schwaben hereintragen. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Obristen Georg II. von Frundsberg und der Interessenvertretung seines Regiments in den Niederlanden 1576-1585. In: Krieg in der Region. Hrsg. von Reinhard Baumann und Paul Hoser, Konstanz 2017 (= Forum Suevicum, 12), S. 133-165, hier S. 145, 157, 165. Benjamin Hitz, Kämpfen um Sold. Eine Alltags- und Sozialgeschichte schweizerischer Söldner in der Frühen Neuzeit, Köln [u.a.] 2015, S. 119.
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darin entspricht sie dem Menschenbild der Renaissance – dass einige ihr persönliches religiöses Bekenntnis über ihr Geschäftsinteresse stellten und dafür Nachteile in Kauf nahmen. Die Kriegsherren hingegen erwarteten während des ganzen Jahrhunderts, dass der Kriegsunternehmer die gleiche, nämlich ihre eigene Konfession haben sollte. Es gibt nur wenige Ausnahmen von dieser Regel: Ein solcher Sonderfall ist Michael Gaismair, ein Condottiere, der nicht Geschäft und Gewinn, sondern einer reformatorischen Utopie verpflichtet war. Sowohl für das Soldgeschäft der deutschen Condottieri als auch für die Anwerbesituation der gemeinen Kriegsknechte brachte die Reformation einige Vorteile. Im Reich und in ganz Europa, vor allem in den Niederlanden und in Frankreich, wurden Kriege geführt. Katholische und protestantische Kriegsherren brauchten Condottieri und Söldnerkontingente. Davon profitierten die Condottieri in unterschiedlichem Ausmaß, erzielten Gewinne oder mussten Verluste hinnehmen. Für die meisten kamen zu den bisherigen Bindungen und Abhängigkeiten jetzt neu die konfessionellen Ansprüche der Kriegsherren hinzu. Bei Wallenstein, dem größten aller deutschen Condottiere, ging es – und damit dachte er ganz neuzeitlich – nicht um Konfession und Glaube, sondern um Macht. Und die erstrebte er mit hohem Einsatz. Das muss nicht bedeuten, dass er die Zivilisten drangsalierte: Als der katholische Generalissimus – ein Konvertit übrigens – 1630 nach vier Monaten Besatzung mit seinen Truppen die evangelische Reichsstadt Memmingen verließ, notierte der evangelische Chronist über die Erfahrungen unter seiner Herrschaft: »Dan weill der Herzig in der Statt gelegen, ist glick und heill gewest.«19
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Stadtbibliothek Memmingen, 2 ˚ 2, 22: Sebastian Dochtermann, Chronik, S. 195.
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Der Löwe aus Mitternacht und Retter des Protestantismus. Gustav II. Adolf von Schweden in der protestantischen Hagiografie Ein Bronzedenkmal in Göteborg zeigt den Schwedenkönig Gustav II. Adolf aus dem Hause Wasa als einen entschlossenen Mann in Feldherrenpose in der Bekleidung des 17. Jahrhunderts.* Er hat eine Hand auf der Hüfte mit dem Degen, die zweite zeigt, den Zeigefinger abgespreizt, nach unten. Warum aber ist er entgegen den üblichen Gepflogenheiten nicht im Harnisch dargestellt? Warum trägt er keinen Helm, sondern einen Federhut? Und warum ist er mit Uniformrock und Mantel bekleidet?1 Bereits die Zeitgenossen belegten ihn mit einer Vielzahl von Zuschreibungen: Löwe aus Mitternacht, Retter des Protestantismus, letzter männlicher Wasa, großer Feldherr, guter und frommer König, protestantischer Kaiseranwärter, der Zucht und Ordnung in seinem Heere halte. Seine Grabinschrift nennt ihn gar »den Großen« (Gustavus Adolphus Magnus), und neben seinem Grab ist ein Pelikan angebracht, das Symbol des selbstlosen Opfers, denn dieser Vogel nährt seine Jungen angeblich mit seinem eigenen Blut – ein Verweis auf die Stiftung des Abendmahles durch Jesus Christus. All diese Bilder aber schränken das Leben des Königs ein, unterwerfen es einer rein deutschen Perspektive und konzentrieren sich auf die letzten zwei Lebensjahre. Gustav Adolf wurde 1594 geboren, bestieg 1611 den Thron und griff im Frühsommer 1630 mit der Landung seiner Armee auf Usedom in den Dreißigjährigen Krieg ein. Er half somit den schwer bedrängten Protestanten, drängte die kaiserlich-katholischen Heere nach Süden zurück und fiel am 16. November 1632 in der Schlacht bei Lützen.2 * 1
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Diesen Beitrag widme ich meinem Urgroßvater Pfarrer Friedrich Paarmann (1873-1953), u.a. Gustav-Adolf-Kirche in Berlin-Charlottenburg. Auswahl: Günter Barudio, Gustav Adolf der Große. Eine politische Biographie, Frankfurt a.M. 1985; Gustav Adolf, König von Schweden. Die Kraft der Erinnerung 1632-2007. Hrsg. von Mark Reichel und Inger Schuberth, Dößel 2007; Bernhard R. Kroener, Ein protestantisch-arischer »Held aus Mitternacht«. Stationen des Gustav-Adolf-Mythos 1632 bis 1945. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, 59 (2000), 1, S. 5-22; Bernhard R. Kroener, Gustav II. Adolf. Vom »Löwen aus Mitternacht« zum »schwedischen Herkules«. In: Mythen Europas – Schlüsselfiguren der Imagination. Vom Barock zur Aufklärung. Hrsg. von Andreas Hartmann und Michael Neumann, Darmstadt 2007, S. 14-35. Barudio, Gustav Adolf der Große (wie Anm. 1), S. 363-404; André Schürger, Bleikugeln vom Schlachtfeld Lützen 1632 – Überlegungen zu Bewaffnung und Schlachtverlauf. In:
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Abb. 1: Gustav II. Adolf, Bronzedenkmal in Göteborg. picture alliance/dpa
Bei dieser verkürzten Betrachtung wird sein gesamtes Leben von 1594 bis zur Landung in Pommern außen vor gelassen; das gilt somit auch für seine Herrschafts- bzw. Regierungstätigkeit von 1611 bis zur Jahresmitte 1630. In diese Zeit fielen eine ganze Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Dauergegner Dänemark, desgleichen die Konflikte mit dem polnisch-litauischkatholischen Zweig der Wasa. In einer dieser vielen Schlachten und Belagerungen hatte er sich eine Verwundung zugezogen, die es ihm unmöglich machte, einen Harnisch zu tragen, was ihm letztlich bei Lützen zum Verhängnis geriet.3 Wann begann nun die Gustav-Adolf-Verehrung im Protestantismus? Wie und in welchen Bildern schlug sie sich nieder? Wie entwickelte sie sich?
Bilder und Sprachbilder Bereits sein Titel als »König von Schweden« ist verkürzt wiedergegeben. Tatsächlich handelt es sich in der eingedeutschten Version um »der Schweden, Goten und Wenden König, Großfürst von Finnland, Herzog von Estland und Karelien, Herr von Ingermanland«. Somit beherrschte er Territorien, die sich von der Südküste Schwedens über Finnland, den Bereich des heutigen St. Petersburgs bis
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Die Kraft der Erinnerung (wie Anm. 1), S. 71-80; Mathias Tullner, Politische und territoriale Verhältnisse in Mitteldeutschland als Rahmenbedingungen für das Eingreifen Gustav Adolfs von Schweden. In: ebd., S. 39-48; Lars Ericson Wolke, Die Schlacht bei Lützen. In: ebd., S. 61-70 Barudio, Gustav Adolf der Große (wie Anm. 1), S. 19-352; Babro Bursel, Die königliche Rüstkammer als Museum – Ein Vermächtnis Gustav Adolfs. In: Die Kraft der Erinnerung (wie Anm. 1), S. 93-104; Jens E. Olesen, Der schwedische Machtstaat als Kriegsunternehmer 1620-1660. In: ebd., S. 49-60.
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nach Estland rund um die Ostsee erstreckten. Das bedeutet aber auch, dass es sich bei seiner »schwedischen Armee«um eine äußerst heterogene Truppe handelte, in der auch Schweden dienten; hinzu kamen wie in den Armeen der anderen Kriegsparteien die aus zahlreichen Ländern angeworbenen Söldner. Ihm eignete der Ruf, ein guter König zu sein, nicht zuletzt deshalb, weil »die Schweden« aus der Retrospektive zu seinen Lebzeiten als diszipliniert und geordnet galten; der Schreckensruf »die Schweden kommen« verbreitete sich erst nach 1632.4 Der Beiname »Löwe aus Mitternacht« speist sich aus einer Vielzahl von Quellen. Zunächst einmal ist die Eigenschaft des Löwen in der Bibel nicht ganz eindeutig. Er gilt als ein starkes und gewaltiges Tier, das sowohl Rettung als auch Untergang bringen kann.5 Der Zusatz »aus Mitternacht« bezieht sich zum einen auf Gustav Adolfs Herkunft aus dem Land der Mitternachtssonne (seine Gegner verspotteten ihn als »Schneekönig«). Allerdings gab es zum anderen die bereits von dem spätmittelalterlichen Mystiker Joachim von Fiore aufgestellte, von Paracelsus aufgegriffene und im 17. Jahrhundert verbreitete Prophezeiung vom »Löwen aus dem Norden«, der den (kaiserlichen) Adler verjagt. Das Bild war den gebildeten Zeitgenossen also bekannt.6 Mitternacht selbst ist in der Bibel die Stunde der Entscheidung, der göttlichen Hilfe, aber auch des Untergangs der Gegner. Die härteste aller ägyptischen Plagen etwa, die Tötung aller Erstgeburt durch eine göttliche Pestilenzwolke, geschah um Mitternacht.7 Holofernes legte sich mitten in der Nacht alkoholumnebelt zur Ruhe und wurde von Judit enthauptet,8 und der Bräutigam im Gleichnis für die klugen Jungfrauen kommt zu der oben genannten Zeit; nicht umsonst lautet die entsprechende Zeile des Kirchenliedes »Wachet auf, ruft uns die Stimme«: »Mitternacht heißt diese Stunde, sie rufen uns mit hellem Munde«.9
Gustav II. Adolf – heute Was erinnert heute an König Gustav II. Adolf ? Zunächst einmal gehören zweifellos die Kirchen dazu, die seinen Namen tragen. Dies sind 25 in der Bundesrepublik Deutschland, vier in Österreich, zwei in Polen und sieben in Schweden, also 31 im deutschen bzw. ehemals deutschen Sprachraum.10 Dies klingt auf den ersten Blick nach einer uralten und durchgehenden Gustav-Adolf-Verehrung. Auf den zweiten Blick jedoch sieht die Sache anders aus. 19 dieser 31 Kirchen wurden erst im 20. Jahrhundert erbaut und benannt. Es handelte sich bei diesen 19 in der 4
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Friedrich Schiller, Werke in fünf Bänden, Bd 4. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hrsg. von Peter-André Alt [u.a.], München 2005, S. 363-745, hier S. 497-502. Gen 49,9; 2 Sam 17,10; Ijob 38,39; Ps 10,9; 22,14 und 22; Jes 31,4; Jer 49,19; Esra 19,2/3 und 5/6; 22,25; Hebr 11,33; Offb 4,7; 5,5; 9,8 und 17; 10,3. Barudio, Gustav Adolf der Große (wie Anm. 1), S. 368-374. Ex 11,4-9. Jdt 13,1-10; Apg 16,25. Mt 25,1-13; Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche Anhalts, die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg [u.a.], Berlin 1993, Nr. 147. (letzter Zugriff 10.12.2018).
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Masse um Neubauten in Diasporasituationen. Ähnliches gilt für die sieben im Laufe des 19. Jahrhunderts errichteten Kirchen. Somit sind 26 von 31 Kirchen erst in den letzten 160 Jahren entstanden. Diese Gotteshäuser wurden deshalb nach dem König benannt, weil die jeweiligen Kirchenbauvereine finanzielle bzw. ideelle Unterstützung durch das 1832, zum 200. Todestag des Königs, gegründete Gustav-Adolf-Werk (GAW), vormals Gustav-Adolf-Verein, erhalten hatten.11 Das GAW der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war bzw. ist für die Unterstützung evangelischer Christen in der Diaspora zuständig und handelt nach eigenem Bekunden nach dem Motto: »Lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen« (Gal 6,10). Hierbei steht ganz bewusst nicht der Kampf gegen oder die Konfrontation mit der Katholischen Kirche und anderen Religionen oder Konfessionen im Vordergrund, sondern der Kampf für oder vielmehr die Unterstützung von evangelischen Christen damals zunächst in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum, heute weltweit. Nicht zuletzt gibt es in Lützen selbst die vielbesuchte Gustav-Adolf-Gedenkstätte, die ihren Beitrag zur Erinnerungskultur leistet. Wer ihre Ursprünge sucht und ein heutiges Foto von ihr betrachtet, der muss sich die Holzgebäude mit der Ausstellung vor dem Jahre 1982 bzw. 1932, dem 350. bzw. 300. Todestag wegdenken. Die Gedenkkirche steht erst seit 1906 und konnte ab 1907 genutzt werden. Es bleibt also der eherne Pavillon im neu-gotischen Stil von Karl Friedrich Schinkel: Dessen Grundstein wurde zum 200. Todestag des Königs 1832 errichtet, der Pavillon selbst wurde 1837 fertiggestellt. Im Zeitraum von 1632 bis 1832, also 200 Jahre lang, befand sich nur der jetzt unter dem Pavillon liegende Findling dort, auf den die Initialen GA und das Jahr 1632 eingetragen sind.12 Somit reiht sich die heute noch bestehende Erinnerungskultur zu Gustav Adolf in die Erinnerungsgeschichte des 19./20. Jahrhunderts ein, denn erst ab dem 19. Jahrhundert wurden Denkmale in großem Stile gestiftet und entsprechende Vereine gegründet. Im Falle Lützen kommen noch einige Elemente hinzu. Die sächsische Stadt war infolge des Wiener Kongresses preußisch geworden, und im Preußen der nach-napoleonischen Epoche blühte die Kultur der Erinnerung an die Befreiungs- bzw. Freiheitskriege. Etliche Denkmäler, so etwa der Kreuzberg in Berlin, wurden von Schinkel ausgeführt. Unweit des Lützower Findlings soll 1813 Napoleon übernachtet haben, und zwar vor einer Schlacht, die in der französischen Geschichtsschreibung als Bataille de Lutzen firmiert und in der heutigen deutschen Historiografie als Schlacht bei Groß-Görschen bekannt ist. Dort fiel Prinz Leopold von Hessen-Homburg, und dort erlitt der preußische Heeresreformer Gerhard von Scharnhorst eine Verwundung, an der er wenige Tage später verstarb. Also ist die Errichtung der Denkmale für Groß-Görschen bzw. Lützen 1813 und Lützen 1632 in puncto Schaffung einer Erinnerungslandschaft in einer neuen preußischen Provinz miteinander verbunden. Hinzu kommt, dass im nahegelegenen sächsischen Breitenfeld 1831 mit einem Denkmal des Sieges Gustav Adolfs 200 Jahre zuvor gedacht wurde. Ähnlich wie bei Lützen wurde der Befehlsstand Marschall Blüchers in der Völkerschlacht 11
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Hans Wähner, Gustav-Adolf-Werk (GAW) – Entstehung und Wirkungsgeschichte. In: Die Kraft der Erinnerung (wie Anm. 1), S. 145-152. Inger Schubert und Lennart Limberg, Schweden und Lützen im 20. Jahrhundert: Kapelle, Reichsvereinigung und Lützenstiftung. In: Die Kraft der Erinnerung (wie Anm. 1), S. 159-166.
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bei Leipzig 1813, die Breitenfelder Mühle, und Breitenfeld als der Standort der Nordarmee mit einbezogen. Deren Oberbefehlshaber hieß mit bürgerlichem Namen Jean Baptiste Bernadotte, firmierte zu diesem Zeitpunkt aber bereits als schwedischer Kronprinz und bestieg unter dem Namen Karl XIV. Johann 1818 den Thron von Schweden. Somit waren mehrere Erinnerungsstränge miteinander verknüpft.13 Neben der Gedenkstätte in Lützen gibt es heute mehrere Denkmale für Gustav II. Adolf von Schweden in Deutschland, so etwa am Lützener Rathaus oder im Wörlitzer Park unweit von Dessau.14 Im Folgenden kann nur der Gedenkstein in Peenemünde auf Usedom behandelt werden. Er wurde 1930 von einer Gruppe namens »Deutsche Verehrer des Helden und Freunde seines Volkes« errichtet und trägt die Inschrift »Gustav Adolf landete hier Mittsommer 1630«. Offensichtlich wurde die Kenntnis seiner Person bei dem Publikum als so bekannt vorausgesetzt, dass jeder weitere Zusatz »König von Schweden« o.ä. komplett fehlt. Gleiches gilt für das über den Namen Gustav Adolf gesetzte Zitat »Verzage nicht Du Häuflein klein!« Dabei handelt es sich um ein Kirchenlied, das sich im Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) unter der Nummer 249 findet. Der Autor und Komponist Jacob Fabricius war Feld- und Hofprediger Gustav Adolfs. Die Liedzeile »Gott ist mit uns und wir mit Gott, den Sieg wolln wir erlangen« findet sich in bewusst verkürzter Form in dem Motto »Gott mit uns« ab 1847 auf den Koppelschlössern der preußischen Armee und auf denen der Wehrmacht, bei letzterer statt der Königskrone mit einem Hakenkreuz versehen.15
Protestantisch und Nordisch: 19./20. Jahrhundert In der populären Literatur des 19. Jahrhunderts griffen mindestens zwei Autoren das Thema Gustav Adolf auf: Theodor Fontane 1868 und Conrad Ferdinand Meyer 1882, also zum 250. Todestag.
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Helmut Börsch-Supan, »... Dem Stillen, Frommen, Tapferen«. Das Bild Scharnhorsts bei Künstlern seiner Zeit. In: Blutige Romantik. 200 Jahre Befreiungskriege. Essays. Hrsg. von Gerhard Bauer [u.a.], Dresden 2013, S. 226-233; Die Völkerschlacht bei Leipzig. Verläufe, Folgen, Bedeutungen 1813 – 1913 – 2013. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hrsg. von Martin Hofbauer und Martin Rink, Berlin, Boston 2017 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 77), S. 14; Jörg Koch, Von Helden und Opfern. Kulturgeschichte des deutschen Kriegergedenkens, Darmstadt 2013, S. 11-35; Harald Fritz Potempa, Preußenzentrierte Erinnerungsorte bis 1914. In: Wie Napoleon nach Waterloo kam. Eine kleine Geschichte der Befreiungskriege 1813 bis 1815. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hrsg. von Eberhard Birk [u.a.], Freiburg i.Br. 2015, S. 272-278; Arnold Vogt, Den Lebenden zur Mahnung. Denkmäler und Gedenkstätten. Zu Traditionspflege und historischen Identität vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Hannover 1993, S. 11-35. Reinhard Melzer, Die Kraft der Erinnerung als Versicherung eigenen Handelns – König Gustav II. Adolf im Gartenreich des Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von AnhaltDessau. In: Die Kraft der Erinnerung (wie Anm. 1), S. 125-134. Evangelisches Gesangbuch (wie Anm. 9), Nr. 249 und Nr. 956; siehe ebd. im Anhang unter dem Stichwort »Fabricius (Schmied), Jakob«.
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Fontanes Gedicht »Der 6. November 1632 (Schwedische Sage)« betrachtet den Schlachtentod des Königs aus der Perspektive zweier Bauern, die Himmelserscheinungen sehen. Dabei werden die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges mit evangelischem Liedgut verbunden: »Es ist wie Schlacht, die herwärts dringt, Wie Kirchenlied es dazwischen klingt, Ich hör’ in der Rosse wieherndem Trott: Eine feste Burg ist unser Gott!« Der König reitet hier einen Schimmel, der offensichtlich als Heldentier gilt (tatsächlich war Gustav Adolfs Pferd »Streif« braun, seine ausgestopften Überreste sind in Schweden ausgestellt); die »wilde Jagd« wird als Motiv bemüht: »Und kaum gesprochen, da Lärmen und Schrein, In tiefen Geschwadern bricht es herein, Es brausen und dröhnen Luft und Erd’, vorauf ein Reiter auf weißem Pferd. Signale, Schüsse, Rossegestampf, Der Nebel wird schwarz wie Pulverdampf, Wie wilde Jagd, so fliegt es vorbei; – Zitternd ducken sich die zwei. Nun ist es vorüber ... da, wieder mit Macht Rückwärts wogt die Reiterschlacht, Und wieder dröhnt und donnert die Erd’, Und wieder vorauf das weiße Pferd.« Schließlich erblicken die beiden Bauern das Reittier alleine am Himmel, woraus sie ihre Schlüsse ziehen: »Wie ein Lichtstreif durch den Nebel es blitzt, Kein Reiter mehr im Sattel sitzt, Das fliehende Tier, es dampft und raucht, Sein Weiß ist tief in Rot getaucht. Der Sattel blutig, blutig die Mähn’, Ganz Schweden hat das Ross gesehn: – Auf dem Felde von Lützen am selben Tag Gustav Adolf in seinem Blute lag.«16 Die Handlung von Conrad Ferdinand Meyers Novelle »Gustav Adolfs Page« wiederum kann nur wegen der bekannten Kurzsichtigkeit des Königs funktionieren. Nur so merkt er nicht, dass sein Page in Wirklichkeit eine verkleidete Frau ist, 16
Bursel, Die königliche Rüstkammer (wie Anm. 3), S. 95-100; Theodor Fontane, Werke. IV Bde. Hrsg. von Hannsludwig Geiger, Wiesbaden 1964 , hier Bd 1, S. 79 f.
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deren Geheimnis mehrfach aufzufliegen droht. Die Verfilmung aus dem Jahre 1960 mit Curd Jürgens und Lieselotte Pulver tat ein Übriges, um das Thema zu popularisieren. Im Gegensatz zur Novelle wird der König hier eher als nachdenklich-gebrochener Held dargestellt, der sich von der jugendlich-kämpferischen Glaubenseuphorie des Pagen abhebt. Bei dem Zusammentreffen mit dem Gegenspieler Wallenstein kommt heraus, dass beide vom Krieg mehr als bedient sind und ihn schnellstmöglich beenden wollen. Den Ausgangspunkt der gesamten Handlung der Novelle bildet der Ruf »Hoch Gustav, König von Deutschland«.17 Das Ansinnen, deutsch-römischer Kaiser zu werden, war Gustav II. Adolf bereits von den Zeitgenossen zugesprochen worden, sei es als Hoffnung oder als Schreckensvision. Tatsächlich hat es bis zum Ende des Alten Reiches 1806 keinen evangelischen Kaiser gegeben.18 Im Erscheinungsjahr der Novelle, 1882, war das protestantische Kaisertum in Gestalt des Hauses Hohenzollern jedoch seit elf Jahren Realität, das im Rahmen des Kulturkampfes einen eher anti-katholischen Kurs führte. Zudem war es im Zeitalter des Historismus bemüht, die Wurzeln von Preußens deutscher Sendung möglichst weit zurück zu verfolgen und mit den Anfängen des brandenburgisch-preußischen Staats- bzw. Herrschaftsgebildes zu verknüpfen. Dabei kam Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten (1640-1688), dem Schöpfer des stehenden preußischen Heeres und Reorganisator nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges, erhöhte Aufmerksamkeit zu.19 Gustav II. Adolf wiederum war seit 1620 mit Maria Eleonora von Brandenburg vermählt, einer Hohenzollern-Prinzessin, und war somit der Onkel des Großen Kurfürsten. Was lag also näher, als diesen evangelischen Staats- und Heeresreformer sowie Feldherren mit in die preußisch-evangelische Erinnerung einzufügen. Hinzu kam, dass Gustav II. Adolf den Titel »Suecorum, Gothorum et Vandalorum Rex« trug und sich und sein Reich somit auf den Stamm der Goten zurückführte; entsprechend benannte er die von ihm gegründete schwedische Stadt Göteborg (Gotenburg). Er selbst nahm sich den legendären, quellenmäßig schwer zu fassenden Gotenkönig Berik/Berig den Eroberer nach den antiken Autoren Jordanes und Tacitus zum Vorbild. Dieser war mit drei Schiffen nach Süden gesegelt und hatte das Reich der Goten errichtet.20 Im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts erlebte zum einen die »Germania« des Tacitus eine ungewöhnliche Blüte, zum anderen war Wilhelm II. wie ein nicht geringer Teil seiner Untertanen begeistert von den Ländern des Nordens, von ihrer Kultur, ihren Sagen, Liedern und Geschichten.21 Im Deutschland der NS-Zeit spielte ohnehin das Nordische und Arische eine großer Rolle, was der populären Figur eines schwedischen Königs aus dem Dreißigjährigen Krieg weitere Vorbildfunktion sicherte.22
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Conrad Ferdinand Meyer, Gustav Adolfs Page. Novelle. Anmerkungen und Nachwort von Sjaak Onderdelinden, Stuttgart 1977 (= Reclam Universalbibliothek, 6945), S. 5. Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und Neue Staaten 1495 bis 1806. Essays. Hrsg. von Heinz Schilling [u.a.], Dresden 2006; Joachim Whaley, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, 2 Bde, Darmstadt 2014. Kroener, Ein protestantisch-arischer Held (wie Anm. 1), S. 15. Barudio, Gustav Adolf der Große (wie Anm. 1), S. 26-37. Kroener, Ein protestantisch-arischer Held (wie Anm. 1), S. 16-18. Ebd., S. 19-22.
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Aber nicht nur in Deutschland, auch in Schweden selbst und in Finnland wurde der König im 19. Jahrhundert auf den Schild gehoben23. Er gilt als der letzte männliche Wasa und als der Herrscher, der Schwedens Vormachtstellung im Ostseeraum begründet hat. Gustav II. Adolf hinterließ keinen Thronfolger, sondern eine Thronfolgerin: Königin Christina. Sie allerdings konvertierte zum Katholizismus, hieß fortan Maria Alexandra, dankte 1654 ab und lebte dann in südlichen Gefilden. Der Thron ging an eine Nebenlinie des Hauses Wittelsbach, Pfalz-Zweibrücken, dem u.a. König Karl XII. entspross, unter dessen kriegerischer Regentschaft die Vormachtstellung im Ostseeraum wieder verloren ging. Er selbst starb 1718 unter ungeklärten Umständen bei der Belagerung einer norwegischen Festung. Es verwundert nicht, dass die schwedische Historienmalerei des 19. Jahrhunderts den Tod Gustav Adolfs als Thema aufgriff. Von der Einschiffung seines Leichnams in Wolgast existiert ein Gemälde von Karl Hellquist aus dem Jahre 1885, das, wie andere auch, als Druck popularisiert wurde und neben Gedichten und Theaterstücken das Andenken an den König wachhielt. Gustav Adolf wird hier als lorbeerbekränzter Held auf der Totenbahre gezeigt. Die Darstellung erinnert ganz bewusst an christliche Pietà-Darstellungen. Von Karl XII. malte derselbe Künstler ein ähnliches Gemälde. Auch hier wird der tote König quasi im Triumphzug davongetragen. In beiden Fällen wird nicht klar, wogegen die Könige gekämpft haben; der Feind ist nicht präsent auf den Bildern, lediglich das Motiv ihres Kampfes für etwas scheint auf.24 Gleiches gilt für das 1930 von Rudolf Schacht geschaffene Bildnis »Gebet Gustav Adolfs vor der Schlacht«. Hier sind schwedische Fahnen und Reiter zu sehen und ein kniend betender und zum Himmelslicht aufblickender König, aber eben wiederum kein Gegner.25 Das 1855 von Carl Wahlbohm erstellte Gemälde zum Schlachtentod Gustav Adolfs bei Lützen zeigt zwar Kampfgetümmel und den unmittelbaren Feind, dieser ist aber nicht abwertend dargestellt.26 Auch bei der weit verbreiteten Lithografie »Fels der Kirche«, die in mehreren Varianten in Umlauf war, ist auf den ersten Blick kein unmittelbarer Angriff auf die katholische Kirche oder eine andere Konfession zu erkennen. Über einem Altar, auf dem das Kruzifix als Hinweis auf das Abendmahl in beiderlei Gestalt durch Kelch und Hostienbehältnis flankiert wird, befindet sich ein Gesteinsbrocken, links und rechts davon Sprüche, die das Wort Gottes verkünden. Links neben dem Altar sind Luther und Melanchthon dargestellt, rechts davon Gustav Adolf und Bernhard von Weimar. Der König ist mit einem Degen ausgestattet; ein
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Klaus Fitschen, Ein problematischer Patron – Gustav-Adolf-Erinnerung im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts. In: Die Kraft der Erinnerung (wie Anm. 1), S. 137-144; Sverker Oredsson, Die Erinnerung an Gustav Adolf in Deutschland und Schweden. In: ebd., S. 17-26; Nils Erik Villstrand, Finnland und der Große Krieg: Erfahrung und Erinnerung. In: ebd., S. 27-36. Ingrid Bohn, Schweden. »Zu Größe und Freiheit geboren ...«. In: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Hrsg. von Monika Flacke, Berlin 1998, S. 422-445, hier S. 437-444. Museum im Schloss Lützen, Inv.Nr. 1976, (letzter Zugriff 10.12.2018). Bohn, Schweden (wie Anm. 24), S. 439 f.
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Abb. 2: »Der Fels der Kirche«, Lithografie, 19. Jahrhundert. Fränkisches Freilandmuseum
Spruchband verkündet, er habe bis in den Tod für seinen Glauben gestritten. Die antikatholische Tendenz wird erst auf den zweiten Blick deutlich, denn der Fels ist gleichzeitig der Name des Apostels Petrus, auf den sich die Päpste zurückführen. Dieser Fels ist auf der Darstellung nun fest in protestantischer Hand.27
Retter, Eroberer und Feldherr: 18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert war die populäre Erinnerung an Gustav II. Adolf in Form von Denkmalen, Gemälden oder Drucken deutlich geringer. Friedrich Schiller, unter anderem Professor für Geschichte an der Universität Jena, zieht in seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges eine sehr gemischte Bilanz des Lebenswerkes von Gustav Adolf. Er verkennt nicht die anfänglich hochfliegenden und enthusiastisch-idealistischen Motive des Königs, in den Großen Krieg einzugreifen, arbeitet aber heraus, dass der schlussendlich auch als Eroberer gehandelt habe. Schiller kommt zu dem Ergebnis, dass das Beste, was Gustav Adolf tun konnte, darin bestanden habe, zum richtigen Zeitpunkt zu sterben.28 Einen ganz anderen Erinnerungsstrang verfolgt Friedrich der Große, der, wie nur wenige Könige, ein umfangreiches schriftstellerisches bzw. publizistisches 27
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Gerhard Seib, Gustav Adolf und »Der Fels der Kirche« – Zu einer Populärgrafik des 19. Jahrhunderts. In: Die Kraft der Erinnerung (wie Anm. 1), S. 153-158. Schiller, Werke (wie Anm. 4), S. 363-745, hier S. 637.
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Werk hinterlassen hat. Die Zahl der Monarchen, die ihre Truppen im Krieg ins Feld begleiteten, nahm ab dem 17. Jahrhundert deutlich ab; noch geringer war die Anzahl derjenigen, die ihre Truppen als König und Feldherr auch noch aktiv kommandierten.29 Dazu gehörten Gustav Adolf, Friedrich II. und Napoleon. Und nur einer von diesen dreien fiel im Kampf an der Spitze seiner Truppen. So verwundert es nicht, dass gerade Friedrich in seinen Schriften auf diesen schwedischen Feldherrn-König abhob. In seinen Denkwürdigkeiten des Hauses Brandenburg attestiert er ihm wichtige Feldherren-Eigenschaften: Entschlussfreude, starken Willen und rasches Handeln.30 In zwei Manifesten für das Jahr 1756, in denen Friedrich seinen eigenen Präventivkrieg gegen Sachsen bzw. gegen die feindliche Koalition rechtfertigt, bemüht er rhetorisch Gustav Adolf. Damals wie heute, so Friedrich, habe der Wiener Hof das Ziel verfolgt, ein katholisch-zentralistisch-absolutistisches Regime auf Kosten der Freiheiten der deutschen Fürsten errichten zu wollen. Damals hätten Gustav Adolf und Richelieu dies verhindert, heute sei es Friedrich, der die Freiheiten der Fürsten und des Glaubens sichere und verteidige.31 Zum dritten Mal in Friedrichs Schriften erscheint Gustav Adolf in »Die Kunst des Krieges. Ein Lehrgedicht in sechs Gesängen«, und hier besonders im sechsten Gesang mit dem Titel »Die Schlacht«. Die allerdings erst sehr viel später erschienene deutsche Gesamtausgabe seiner Werke, die Originale sind in Französisch gehalten, beinhaltet eine Radierung von Menzel, auf der die größten von Friedrich, einem Bewunderer des Großen Kurfürsten, gelobten Feldherren dargestellt sind: In der Mitte befindet sich Julius Cäsar, links von ihm Prinz Eugen von Savoyen und der französische Marschall Turenne, rechts von ihm Moritz von Oranien und Gustav Adolf.32 Diese Anordnung ist nicht zufällig gewählt. Moritz von Oranien gilt als der Schöpfer der niederländischen Ordinanz, der die großen spanischen Tercios zugunsten kleinerer, manövrierfähigerer und mit mehr Musketieren statt Pikenieren ausgestattet, veränderte. Diesen Gedanken griff nun der Heeresreformer und Feldherrn-König Gustav Adolf auf, setzte ihn um und vervollkommnete ihn durch zusätzliche leichte Feldartillerie. Nicht umsonst widmete sich Carl von Clausewitz seinen Feldzügen; und Hans Delbrück, der Ahnherr der Militärgeschichtsschreibung in Deutschland, nannte den schwedischen König den »Vollender der Moritzschen Kriegskunst«.33
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Leonhard Horowski, Das Europa der Könige. Macht und Spiel an den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 2017, S. 257-324; Martin Wrede, Ludwig XIV. Der Kriegsherr aus Versailles, Darmstadt 2015, S. 71-84. Die Werke Friedrich des Großen in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Gustav Berthold Volz, 10 Bde, Berlin 1912/13, hier Bd 1, S. 41-45. Ebd., Bd 3, S. 180. Ebd., Bd 6, S. 383-434. Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz. Vollständige Ausgabe im Urtext mit historisch-kritischer Würdigung von Werner Hahlweg, 16. Aufl., Bonn 1952, S. 262, 864, 866, 874, 969, 981; Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Bd 4, Berlin, New York 2000, S. 221-234, hier S. 221.
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Abb. 3: Flugblatt auf den Eintritt Schwedens in den Dreißigjährigen Krieg (Landung Gustav Adolfs auf Usedom, 4. Juli 1630). picture alliance/akg-images
Zeitgenössisch: 17. Jahrhundert Bei den Quellen des 17. Jahrhunderts hingegen handelt es sich um Flugblätter aus der Zeit des unmittelbaren Kampfgeschehens. Hierbei wurde die eigene Position veredelt und erhöht; der Gegner wurde erniedrigt. Das betrifft in »Schwedische Rettung der Christlichen Kirchen Anno 1630« die katholische Kirche, die als mehrköpfiges apokalyptisches Monster dargestellt wird. Die Köpfe sind mit päpstlicher Tiara, Kardinals- und Bischofsmützen bekrönt. Das Tier ruht auf Holzscheiten, auf denen die Namen von verheerten Städten geschrieben sind, und verwehrt dem schwertschwingenden Löwen den Weg zur Kirche, die auf mehreren Säulen ruht; der Boden verherrlicht das Wort Gottes, das in Ewigkeit gilt. Der Löwe wird sowohl in seiner Höhle als auch von einem Schiff an Land gehend gezeigt. Dessen Segel ist mit dem Kreuz sowie der Inschrift »In diesem Zeichen wirst Du siegen« geziert.34 Auf Segel und Mast richtet sich göttlich-himmlisches Licht, wobei es sich um einen Generalangriff auf die katholische Kirche handelt. Diese maß dem Traum des Kaisers Konstantin »in diesem Zeichen siege« besondere Bedeutung bei. Nach seinem Sieg stellte dieser angeblich die Konstantinische Schenkung aus, die dem vormaligen Bischof 34
Olaf Mörke, »Der Schwede lebet noch« – Die Bildformung Gustav Adolfs in Deutschland nach der Schlacht bei Lützen. In: Die Kraft der Erinnerung (wie Anm. 1), S. 83-92, hier S. 85-87.
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Harald Fritz Potempa
von Rom nun als Papst besondere Rechte vor den anderen drei Patriarchen einräumte und ihn zum Oberhaupt der Christenheit machte. Genau dieses Motto nahm nun die protestantische Partei unter dem König von Schweden für sich in Anspruch.35 Kriegerisches ähnlicher Art zeigt ein Flugblatt von 1632, in dem Katholiken und hier speziell die Jesuiten von einem Löwen gejagt werden. Der Triumph eines gefallenen Königs lässt sich aus dem Flugblatt »Der Schwede lebet noch« herauslesen. Hier wird Gustav Adolf von zwei Engeln begleitet. Er steht auf einer seiner drei Kronen, im Hintergrund ist wieder das mehrköpfige Tier zu sehen, außerdem tobt Schlachtgetümmel.36
Fazit Die heute noch bestehende mehr oder weniger populäre Erinnerungskultur an Gustav II. Adolf von Schweden ist keineswegs uralt. So wurden beispielsweise die nach ihm benannten Kirchen, aber auch die Denkmale im Wesentlichen im 19. und 20. Jahrhundert geschaffen. Die Begriffe »Löwe aus Mitternacht« und »Retter des Protestantismus« stammen zwar aus dem 17. Jahrhundert, wurden aber erst seit 1832, seinem 200. Todesjahr, popularisiert. Hierbei stand vor allen Dingen die Frage im Vordergrund, wofür er kämpfte und wen er retten wollte, weniger gegen wen er focht bzw. was er bekämpfte. Im 18. Jahrhundert stand neben dem Retter der Eroberer und Feldherren-König im Fokus und im 17. Jahrhundert ganz klar die Bekämpfung der Erzfeinde katholische Kirche und Kaiser. Gustav II. Adolf dürfte neben Tilly und Wallenstein einer der wenigen Feldherren des Dreißigjährigen Krieges sein, die heute noch bekannt sind.
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36
Horst Fuhrmann, Konstanische Schenkung. In: Lexikon der Kirchengeschichte. Red.: Bruno Steimer, Freiburg i.Br. 2013, Sp. 897-901. Mörke, »Der Schwede lebet noch« (wie Anm. 39), S. 85 und S. 91.
Dritter Teil Preußische Herzenstreue
Jobst Reller
Gustav Adolf von Schweden: Organisator evangelischer Militärseelsorge
König Gustav II. Adolf von Schweden, in Deutschland vor allem durch sein Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg und seinen Tod in der Schlacht von Lützen 1632 bekannt, war nicht nur Feldherr, sondern auch der Schöpfer von Kriegsartikeln für sein Heer, jedenfalls nach Meinung des schwedischen Forschers Arvid Gierow. Im Jahr 1619 hat demnach der König persönlich die Regelungen für den konzeptionellen Aufbau der lutherischen Militärseelsorge für sein Kriegsheer entworfen. Nach neueren Forschungen ist der Beitrag von Gustav Adolf möglicherweise differenzierter zu betrachten, aber den unter seiner Beteiligung entstandenen frühen Rechtssetzungen dürfte dennoch eine hohe Bedeutung für die Organisationsgeschichte evangelischer Militärseelsorge zukommen. Gierow suchte in Kärrnerarbeit Vorformen, Entwürfe und Bearbeitungen der ältesten schwedischen Kriegsartikel in schwedischen Archiven und veröffentlichte 1917/18 seine Forschungsergebnisse unter dem Titel »Bidrag till det svenska militärkyrkoväsendets historia«1 (Beiträge zur Geschichte des schwedischen Militärkirchenwesens) in zwei Teilen. Tatsächlich konnte Gierow für Schweden lutherisch organisierte Militärseelsorge in Marine und Heer ab 1535 nachweisen. König Gustav Adolf dürfte sich zur Einrichtung einer geordneten Militärseelsorge verpflichtet gefühlt haben, weil er durch den Gedanken der Landeswohlfahrt geleitet war, der besagte, dass nach der Aufdeckung oder Offenlegung des wahren, von Menschensatzungen gereinigten Wortes Gottes durch die Reformation buß- und glaubensbereite Untertanen und Gottesdiener heranwachsen würden, die Gottes Segen für König und Reich am ehesten herabrufen konnten. Solche Untertanen waren auch und gerade beim Militär nötig – in Zeiten, in denen der König sich als »Löwe von Mitternacht« zur Expansion rund um das »schwedische Meer«, die Ostsee, herausgefordert sah. Aus heutiger Sicht mag dieses Unterfangen eines frühneuzeitlichen Fürsten zur frommen Erziehung seiner Untertanen als Sozialdisziplinierung erscheinen. In jener Zeit war das Vorhaben gut nachvollziehbar, denn die Weltläufe wurden als Strafe Gottes für die Sünden von König und Volk bzw. als sein Segen für Wohlverhalten beurteilt.
1
Arvid Gierow, Bidrag till det svenska militärkykoväsentdets historia, T. 1-2. In: Kyrkohistoriskt Årsskrift, 18 (1917), S. 73-196, und 19 (1918), S. 1-98.
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Die Kriegsartikel Gustav Adolfs zur Militärseelsorge 1619 bestätigte Gustav Adolf die unter seiner persönlichen Mitarbeit entstandenen 150 Kriegsartikel, während die Flotte vor Karlskrona vor Anker lag, um nach Polen auszulaufen. Vom 13. Juli an wurden sie den Truppen vorgelesen, bevor diese dann darauf eidlich verpflichtet wurden, »und das ganze ›Feld‹ versprach unter eidlicher Verpflichtung, sich nach diesen Vorschriften zu richten«.2 In der Präambel der Kriegsartikel heißt es: »Wir Gustaff Adolff etc. machen bekannt, dass nachdem in vergangenen Zeiten die geringe Disziplin und Ordnung im Kriege hier im Schwange gewesen und danach verloren und niedergegangen und an ihrer Statt alle Unordnung und Selbstherrlichkeit unter dem Kriegsvolk aufgekommen und eingerissen ist, vermittels derer Schaden und große Niederlage mit Schaden und äußerstem Verderben für das Vaterland genommen wurden, und wir, indem wir die Verteidigung und den Wohlstand des Reiches betrachteten, neben Gott auf gutem wohl geordneten Kriegsregiment und Disziplin bestehen, gern danach trachten und uns auferlegen, dass Ehre, Tugend und Männlichkeit eingewurzelt werden in Mut und Sinn des Kriegsvolks, alle Feigheit, Selbstherrlichkeit und Untugend weggenommen werde, sowohl Wohltaten als auch harte Strafen und wo man zu Gehör, Gehorsam, rechtem Gebrauch und Übung seiner Waffen, sowie allem anderem, was der Krieg erfordert, gewöhnt werden muss und in Bedrängnis so viel mutiger erfunden wird, als auch zur Zeit vor seinem Unglück gewarnt wird. Und da, wo jemand wegen seines Versehens unter Strafe käme, dass der dann nicht sagen kann, er habe nichts wissen können, haben wir darum die früheren Kriegsartikel überprüfen lassen, aus ihnen, was nützlich erschien, entnommen und so die nachfolgenden Artikel verfasst, von denen wir wollen, dass das ganze Kriegsvolk, sei es inländisch oder fremd, Ritter oder Knecht, die in unserem und der Kronen Dienst gebraucht werden, beschworen, geachtet, beachtet und befolgt werden, und in allem Kriegsrecht und Gericht Gesetzeskraft haben und danach verfahren werden.«3 Gustav Adolf unterscheidet gute und schlechte Kriegführung – in seinen Worten: »Kriegsregiment« – und weist der Militärseelsorge eine klare Aufgabe zu: Sie soll selbstherrlicher Disziplinlosigkeit vorbeugen sowie Ehre, Tugend, Männlichkeit und Mut der Soldaten stärken. Mit dieser Intention, ein gutes Kriegsregiment zu führen, war es Gustav Adolf durchaus ernst. Das zeigt seine Strafpredigt, gerichtet an deutsche Kriegsknechte im Lager bei Nürnberg: »Ihr Fürsten und Edelleute, die dazu beitragen, ihr eigenes Land zu zerstören! Mein Herz wird bitter, ja meine Eingeweide geraten in Aufruhr, wenn ich nun die Klage höre, dass schwedische Soldaten für unverschämter als die des Feindes gehalten werden. Aber das sind keine Schweden, sondern die Deutschen selbst, die sich mit diesen Ausschweifungen beflecken. Hätte ich euch gekannt, ihr Deutschen, dass ihr so wenig Liebe und Treue zu eurem eigenen Land aufbringt, hätte ich kein Pferd um euretwillen gesattelt, geschweige denn meine Krone und mein Leben darum gewagt.«4 2 3 4
Ebd., S. 144. Vgl. das biblische Vorbild im Landtag von Sichem in Josua 24. Gierow, Bidrag till det svenska militärkyrkoväsendets historia (wie Anm. 1), S. 144. Ingun Montgomery, Sveriges Kyrkohistoria, 4: Enhetskyrkans tid, Trelleborg 2002, S. 89.
Gustav Adolf von Schweden
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Der hohe moralische Anspruch des Königs steht in eklatantem Kontrast zu traditionellen und auch speziell zu lutherischen Überlegungen zur Rechtfertigung militärischer Gewalt: Dass Gläubige durchaus Zweifel an seinem Eingreifen in den Dreißigjährigen Krieg haben konnten, muss Gustav Adolf selbst gespürt haben. Vor dem Landgang auf Rügen 1630 ließ er ausdrücklich durch seinen Chefdiplomaten und späteren Generalkriegskommissar für den niedersächsischen Kreis, Johan Adler Salvius, erklären, dass er nicht anlande, um »Krieg« zu führen, sondern nur »bewaffnete Repressalien« für eine gerechte Sache (iusta causa) – die Sicherung der Reformation – im Sinn habe!5 Im Folgenden werden die Kriegsartikel zunächst nach dem königlichen Entwurf vorgestellt, der, von Reichskanzler Axel Oxenstierna überarbeitet, in eine schwedische und eine deutsche Druckausgabe mündete. 1. »Weil alles Glück von Gott kommt, und das ganze Christenvolk ihn verehren muss, so wie er sich in seinem Wort offenbart hat, darum soll hiermit alle Abgötterei verboten sein und kein Götzendiener, Zauberer oder Waffentäufer im Lager und unter dem Kriegsvolk gelitten werden [...].«6 Bei Zuwiderhandlung drohte zumindest der Ausschluss aus dem »Kriegsvolk« und dem Lager, gegebenenfalls auch der Tod. Von Gott kommt das Glück, auch das Kriegsglück – deshalb muss der Soldat fromm gemacht werden, gegebenenfalls durch einen Befehl. Frömmigkeit von Soldaten erweist sich darin, dass sie keine abergläubischen, altgläubigen oder germanischen Bräuche durchführen. »Waffentaufen« waren ein solcher Brauch. Seit germanischer Zeit sind beispielsweise »Schwerttaufen« in Sagas belegt. Der Krieger, der eine solche Taufe durchführte, soll demnach geglaubt haben, dass diese sein Schwert gegen gegnerische Schwertschläge immun machte. Eine Taufformel für eine Schwerttaufe lautete etwa: »Unser Herr ritt auf Herrenfahrt, da taufte er alle Schwert, und allen Waffen, die er sah, denen nahm er Spitze und Schneide weg«.7 Die weiteren Kriegsartikel, die sich thematisch nicht streng gruppieren lassen, seien zusammenfassend knapp referiert: 2. Wer den Namen des Herren verschmäht, betrunken oder nüchtern, soll, sofern dies von zwei Zeugen bestätigt wird, des Todes sterben. 3. Treibt jemand im Gottesdienst mit Gottes Wort oder dem hochheiligen Sakrament Spott, so soll er dem Konsistorium des Lagers übergeben und bei Gotteslästerung oder Blasphemie zum Tod durch das Schwert ohne Gnade verurteilt werden. Leichtfertigkeit soll mit 14 Tagen Eisen und einem halben Monatssold für das Hospital gebüßt werden. Auch ein zweiter Vorfall wird noch in gleicher Weise geahndet. Beim dritten Vorfall aber wird der Delinquent erschossen. Oxenstierna verlangte angesichts einer möglichen Todesstrafe eine genauere juristische Klärung und definierte darum die Bedingungen der konsistorialen Untersuchung präziser.8 5 6 7 8
Ebd., S. 85. Gierow, Bidrag till det svenska militärkyrkoväsendets historia, (wie Anm. 1), S. 151-153. Ebd., S. 165; zitiert nach Emilia Fogelklou. Ebd., S. 166.
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4. Auf den Missbrauch des Gottesnamens durch Schwören oder Fluchen steht bei Vorsatz und Trunkenheit der Verlust eines halben Monatssolds zugunsten der Armen im Kriegsleutehospital. Darüber hinaus ist auf Knien inmitten des Kreises des zum Chorgebet angetretenen Regiments bei Gott Abbitte zu tun; der Delinquent soll beim Oberst durch den Pastor angeklagt werden. Hat der Delinquent leichtfertig gehandelt, wird nur die Buße gezahlt und der Delinquent nach dem Chorgebet vor dem Regiment auf sein Gesäß geprügelt (»pundas«).9 5. Um – mit den Worten des Artikels – eine »gute Gottesfurcht in die Kriegsleute einzuwurzeln«, wird Chorgebet, also Gottesdienst mit Gesang und Gebet,10 morgens und abends angeordnet, eingeleitet durch das Wechselspiel von Kommandeurstrompete, Rittertrompeten und Mannschaftstrommeln. 6. Wenn ein Pastor das Chorgebet ohne Grund ausfallen lässt, dann zahlt er einen halben Monatssold Buße ans Hospital.11 7. Versäumt ein Soldat das Chorgebet, büßt er mit Prügeln auf das Gesäß, beim dritten Mal muss der Delinquent Tag und Nacht im Halseisen am Pranger stehen. 8. Ein Priester, der während des Chorgebets betrunken ist, wird zweimal vom Feldkonsistorium verwarnt, beim dritten Mal des Lagers verwiesen.12 Ohne dass sich eine Erklärung zwingend nahelegt, unterbricht in Artikel 7 eine Bestimmung für die Soldaten die Regelungen für die Feldprediger in Artikel 6 und 8, wobei auch die Terminologie wechselt: »Priester« statt »Pastor«. In Schweden erhielt sich auch nachreformatorisch die Bezeichnung »Priester« oder »Feldpriester« für den Pfarrer oder Feldprediger. Die Bestimmung über die Trunkenheit von Feldpriestern, für die es nach Gierow einzelne Belege gibt, ist ein Hinweis darauf, dass sich unter den gerade bestallten Militärpfarrern auch solche befanden, die für militärische, etwa Kompanien vergleichbare Kleineinheiten – in der Sprache der Zeit: »Fähnlein« – angenommen oder gar ausgelost worden, aber doch ungeeignet waren. Gierow fügt hinzu: »Besondere Versuchungen im Blick auf die Nüchternheit der Priester scheinen die Pastorenkonferenzen gewesen zu sein.«13 In jedem Fall ist an der Regelung zu erkennen, dass dem Feldprediger nach Ansicht des Königs eine besondere Vorbildfunktion für seine Soldaten zukam. 9. Jeden Feiertag, jeden Sonntag und nach Möglichkeit einmal in der Woche musste der Feldprediger eine Predigt halten, ansonsten drohte ihm Bestrafung; die Predigt wurde angekündigt wie das Chorgebet. Diese Bestimmung Gustav Adolfs reduzierte die Zahl der Predigten, wobei die Gründe dafür: Überdruss bei zu häufigem erzwungenem Predigthören oder Überlastung der Feldprediger, offen bleiben. Im Jahre 1599 war noch tägliche Predigt für Heer und Marine vorgeschrieben.14 Eine weitere Bestimmung regelt die äußeren Bedingungen für Chorgebet und Gottesdienst. 9 10 11 12 13 14
Ebd., S. 154. Ebd., S. 131, 155, 169. Ebd., S. 155. Ebd. Ebd., S. 171. Ebd. Gustav Adolfs Hofprediger Johannes Rudbeckius begründete die in der Regel mit dem Erwählungsgedanken verbundene alttestamentliche Kriegspredigt am 30.7.1615 (auf dem Heerzug nach Riga bei Pleskau) mit dem universalen Anspruch der Bibel: »Die Bibel
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10. Marketender und Bierzapfer sollen ihre Buden während des Chorgebets und der Predigt schließen; niemand soll Wein, Bier oder dergleichen verkaufen. Bei Zuwiderhandeln wird das Gut zur Hälfte für den Generalprofoss, zur Hälfte für das Hospital eingezogen; der Delinquent selbst wird Tag und Nacht an den Pranger gestellt. 11. Festmähler und Einladungen sollen während des Gottesdienstes eingestellt werden. Zuwiderhandelnde werden zu einer Strafzahlung (gestaffelt nach Dienstgrad) ans Hospital verurteilt.15 Damit sind wohl die konfliktträchtigsten Felder im Verhältnis von frühneuzeitlichen Streitkräften und Feldpredigern beschrieben. Sie waren alle mit Gottesfurcht, Andacht und Gottesdienst verbunden. Wie für die Zeit typisch wurden auch die Soldaten zu (äußerlicher) Frömmigkeit verpflichtet. Dass hier Widerspruch, Nachlässigkeit und Protest vorkamen, verwundert nicht. Zugleich wird an den Strafen für die Delinquenten deutlich, welche Bedeutung der König dem christlich gebildeten Soldaten beimaß, der wenigstens äußerlich seine Pflichten gegenüber Gott erfüllte, indem er sein Wort hörte und nicht missachtete. 12. Alle anderen Beschwerden werden bei Rittmeister, Oberst oder Feldherr vom Priester anhängig gemacht. Diese sind verpflichtet, Recht zu schaffen. In weiteren Artikeln wurde das Verhältnis von ziviler Kirche und Militär geregelt, besonders im Blick auf die Einsetzung und Entlassung von Militärgeistlichen. Dabei fällt die eigenständige Autorität der zivilen Kirche, vertreten durch den Bischof, aber auch die Verpflichtung zum Zusammenwirken mit den militärischen Autoritäten ins Auge: 13. Der Bischof des für die Kriegsleute zuständigen Stifts soll den Feldpriester berufen und ernennen. Kein Rittmeister oder Oberst soll Regiments- oder Reiterpriester nach eigenem Gutdünken ernennen. 14. Damit auch im Felde alle zivil vor einem Domkapitel zu verhandelnden »Kapitelangelegenheiten« ordentlich untersucht und vollgültig nach Gottes Wort und der Kirchenordnung entschieden werden, wird im Lager ein »Consistorium Ecclesiasticum« gehalten. Den Vorsitz führt der älteste Hofprediger bei Anwesenheit des Königs im Lager, andernfalls der Prediger des Generals mit allen Regiments- und Kavalleriepriestern als »ordinarii assessores«, ordentlichen Beisitzern.16 15. Ohne Zustimmung von Oberst und Konsistorium kann kein Hauptmann einen Priester annehmen. Dieser kann aber auch nicht ohne die Feststellung seiner Untauglichkeit durch das Konsistorium entlassen werden.
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ist nicht nur für Priester und Studenten geschrieben, sodass nur sie daraus lesen oder sich nach ihr richten sollen, sondern sie ist geschrieben, um alle Menschen zu unterrichten und zu lehren, welches Berufs und Standes sie auch sein mögen, sei es, dass sie Obrigkeit oder Untertanen sind, Herren oder Diener, Kriegsleute oder Steuereinnehmer, Bürger oder Bauern – so ist ihnen allen die Heilige Schrift gegeben und vorgeschrieben, dass sie nach ihr in all ihrem Handel und Wandel sich einrichten und regulieren sollen«. Zitiert nach Montgromery, Enhetskyrkans tid (wie Anm. 2), S. 60 f.; vgl. auch David Gudmundsson, Konfessionell krigsmakt. Predikan och bön i den svenska armén 1611-1721, Malmö 2014 (= Bibliotheca Historico-Ecclesiastica Lundensis), S. 73-79. Gierow, Bidrag till det svenska militärkyrkoväsendets historia (wie Anm. 1), S. 156. Ebd., S. 157.
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16. Wenn bei einem »Kriegspriester« Fehler in Lehre und Leben gefunden werden, sollen Oberst oder Rittmeister diesen beim Konsistorium verklagen, das ihn bei berechtigter und begründeter Anschuldigung entlassen kann. Ggf. kann auch jemand anderer oder das Konsistorium bei notorischem Ärgernis klagen – »alles, weil alles Ärgernis geflohen werden muss«, und damit »das gemeine Kriegsvolk durch Beispiel und Leben des Predigers zur Gottesheiligkeit bewegt werde.«17 »17. So wie jetzt alle insgemein versprochen und geschworen haben, uns rechten Gehorsam zu halten und unsere Gebot zu Stand und Wesen zu bringen, sollen sie also diese Artikel auch halten und mit erhobenen Händen nach folgendem Eid schwören.«18 Aus praktischen Gründen wurden die Feldkonsistorien zu den entscheidenden Gremien für die Annahme von Feldpriestern, nach vorheriger Prüfung, Ordination und Zuordnung zu ihrer militärischen Einheit durch die Bischöfe. Die gemeinen Prediger wurden in Übereinstimmung mit dem zuständigen Oberst und dem Feldkonsistorium, die den Hauptleuten zugewiesenen Regiments- und Kavalleriepriester wurden durch den Bischof den Soldaten beigegeben. Die schwedischen Feldprediger hatten im Blick auf die militärische Hierarchie eine recht selbstständige Stellung. Allerdings bildete sich in Schweden (wie auch in Deutschland) eine eigenständige Militärkirche heraus, denn die Bestimmung über die Gleichberechtigung des Feldkonsistoriums mit dem zivilen, bischöflichen Konsistorium löste faktisch Kriegsklerus und Kriegsvolk aus der zivilen Kirche heraus.19
Zur Nachwirkung Die erste schwedische Militärkirchenordnung unter Gustav Adolf wirkte auf die dänische Militärgesetzgebung unter Christian IV., aber noch mehr »mit tiefen Spuren« in Deutschland.20 Im Reichsarchiv in Stockholm liegen drei deutsche Exemplare der Kriegsartikel vor, die Gierow drei nahe verwandten Textfassungen zuordnet: 1. »Königlich Schwedischer Articuls-Brieff« in 131 Paragrafen (nach Gierow Typ 1) 2. Abschrift mit Änderungen (nach Gierow Typ 2) 3. Übersetzung der vollständigen, endredigierten schwedischen Fassung. Typ 1 und 2 bearbeiten sachgemäß und frei die von Oxenstierna vorgenommene Endredaktion von Gustav Adolfs Entwurf. Eine frühere deutsche Textfassung als Typ 1 liegt in »Schwedisches KriegsRecht, Oder Articuls-Brieff Dess Durchleuchtigsten, Grossmechtigsten Fürstens 17 18 19
20
Ebd., S. 158. Ebd., S. 158 f. Ebd., S. 182. Papst Urban VIII. löste – möglicherweise beeinflusst vom schwedischen Vorbild – am 18.9.1643 auf Wunsch Kaiser Ferdinands III. die österreichischen Armeeangehörigen in Kriegszeiten aus der kirchlichen Jurisdiktion und machte den kaiserlichen Beichtvater zu ihrem Bischof. Ebd., S. 185 f.
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und Herrns Gustaff Adolff Auss Befelch dess Woledlen Gestrengen Herrn Bernhard Schaffelitzki von Muckendell« (Heilbronn 1632) vor.21 Leider hat Gierow diese frühe deutsche Druckfassung nicht intensiv untersucht und den von ihm identifizierten Typen zugeordnet. Das Vorhandensein einer solchen Fassung ist jedenfalls ein Hinweis darauf, dass der Text der Kriegsartikel offenbar keine endgültige autoritative deutsche Sprachform gefunden hat. Vergleicht man den »Articulls-Brieff oder Churfürstlich Brandenburgisch Kriegesrecht« (Druck von 1664) des Kurfürsten Friedrich Wilhelm mit dem von Gierow identifizierten Typ 1, dann ist die Abhängigkeit offensichtlich. Als Beispiel dafür mag hier Kriegsartikel I herangezogen werden: Typ 1 »Nach dem alles glück, gedeyen, Und wohlfahrth Von Gott dem Allmächtigen, als dem rechten brunnquell alles gutten herrühret,
Brandenburg Und nach dem dann zum Ersten, von dem grundgütigen und Allmächtigen Gotte, als dem Uhrsprung alles Guten, alles Glück, Seegen und Gedeyen herrühret, derselbe auch von allen und Und Iedem Christen Menschen jeden waaren Christen einig und allein, denselben alleine anzubeten auch wie er sich in seinem Heiligen Worte wie er in seinem heiligen wortte of- offenbahret hat, geehret und angebetet fenbahret, zu ehren gebüret, So soll seyn will: So muss vor allen Dingen solche szuförderst bey allem thuen solches in allem Thun un Vornehmen und fürnehmen zu iederzeit wohl zu jederzeit wol beobachtet werden: in acht genommen werden, und Derowegen verbieten wir hiemit alle dagegen alle Abgotterey hochlichen Abgötterey, dergestalt, das nun und Vorbotten sein, derogestalt Vnd hinführo kein andrer als der einige also, das nun Und hinfüro und ware Gott, der durch seine unergründliche Allmacht Himmel und Erde erschaffen, angebetet und dagegen kein kein falscher anbetter Abgötter falscher Anbeter, Abgötter, Zauberer, Zeuberer oder Waffenbeschwerer Waffenbeschwerer, Teuffelskünstler, in Unserm Lager Guarnisonen Und in unsern Lägern, Guarnisonen, und Quartieren unter unserem Krieges- Quartieren unter unserm Kriegsvolcke Volcke gelitten* gelitten« *
Gierow, Bidrag till det svenska militärkyrkoväsendets historia (wie Anm. 1), S. 188.
Gierow beurteilt die unübersehbaren Übereinstimmungen als Folge einfacher Übernahme der Bestimmungen: Der Große Kurfürst schrieb die schwedische Kirchenordnung ab, abgesehen von der wohl für preußische Verhältnisse oder absolutistische Machtansprüche für unpassend gehaltenen Organisation der Feldseelsorge unter einem eigenen Konsistorium. Zunächst hatten nach dem deutschen Herrscher der Oberst, Festungskommandant bzw. der Generalfeldmarschall das alleinige Anstellungsrecht für die Feldprediger verschiedener Dienst21
Ebd., S. 186 f.; vgl. auch eine finnische Übersetzung von Hartwijk Henrichsson Speitz, Sweriges rijkes Krigz lagh [...], Stockholm 1642, S. 70-73.
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grade. Kirchliche Mitwirkung war damit in der deutschen Militärseelsorge erst einmal ausgeschlossen.22 »Der Bedarf an einer einheitlichen Leitung des Militärkirchenwesens, den Gustav Adolf auf eine glückliche Weise durch die Einführung eines Feldkonsistoriums befriedigt hat, drängte sich jedoch bald mit solcher Macht auf, dass er auf Dauer nicht zurückgewiesen werden konnte.« Kurfürst Friedrich III. ließ die brandenburgisch-preußische Militärkirchenordnung 1692 überarbeiten und – abgesehen von der den zivilen Domkapiteln in Schweden nachgebildeten Konsistorialordnung – mit einer eigenen Militärkirchenstruktur versehen.23 Wenigstens eine eigene militärkirchliche Struktur – wenn auch ohne Mitwirkung einer zivilen eigenständigen Kirche – erschien also auch in Preußen sachdienlich. Schon Erich Schild bemerkte die Abhängigkeit des brandenburgisch-preußischen Kriegsrechts von der Konzeption der Militärseelsorge in Gustav Adolfs Artikeln. 1656 hatte der große Kurfürst den »Articuls-Brieff oder Churfürstlich Brandenburgisch Krieges Recht« herausgegeben, dem »männiglich insgemein und insonderheit unsere hohen und niederen Kriegs-Offiziere und gemeine Soldatesca stricte nachleben sollen«. Die Kriegsartikel gründeten nach Schilds Überzeugung auf den Verordnungen Karls V. für die Landsknechte und auf dem schwedischen Kriegsrecht.24 Nicolas Funke hat in seiner Dissertation im Jahre 2011 fälschlicherweise die Kriegsartikel König Christians IV. von Dänemark von 1625 denen von Gustav Adolf vorgeordnet und insofern die dänischen Kriegsartikel für die ursprünglicheren gehalten.25 Ihm war die Studie von Gierow und also auch dessen Forschung zur Entstehung der schwedischen Artikel im Jahr 1619 nicht bekannt. Dass die schwedischen (von Funke als dänische identifizierten) Kriegsartikel dann in England und Schottland rezipiert und übernommen wurden, bestätigt auch diese neue Studie.26 Die Beobachtung der Nachwirkungen von Gustav Adolfs Kriegsartikeln ist nicht neu, aber doch der Erinnerung wert, denn sie weist hin auf eine tiefe innere Verbindung evangelischer Militärseelsorge verschiedener Nationen im Europa des 17. Jahrhunderts – sie teilen ihre Entstehungsgeschichte in ihrer Abhängigkeit von Gustav Adolf, der sich nur mit »frommen« Soldaten auf den Weg über die Ostsee machen wollte.
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Ebd., S. 177; Julius Langhäuser, Das Militärkirchenwesen im kurbrandenburgischen und königlich preußischen Heere, Metz 1912, S. 10; Erich Schild, Ursprung und erste Gestalt des preußischen Feldpredigeramtes. In: Beiheft zum Militär-Wochenblatt, 8, Berlin 1880, S. 413. Gierow, Bidrag till det svenska militärkyrkoväsendets historia (wie Anm. 1), S. 195. Erich Schild, Der Preußische Feldprediger, Bd 2: Das brandenburgisch-preußische Feldpredigerwesen in seiner geschichtlichen Entwicklung, Halle (Saale) 1890, S. 2 f. Weitere Detailstudien zu den literarischen Abhängigkeiten anzustellen, wäre durchaus lohnend. Nikolas Funke, Religion and the Military in the Holy Roman Empire c. 1500-1650, Diss., University of Sussex 2011 (sro.sussex.ac.uk/39561, Download als pdf ), S. 45-48, hier S. 47. Ebd., S. 47, Anm. 207, unter Verweis auf Frank Tallett, War and Society in Early Modern Europe (1495-1715), London, New York 1992, S. 123; und Articles and Ordinance of Warre, Edinburgh 1640.
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Gustav Adolf von Schweden
Zur Vorgeschichte Gierow urteilte zur Vorgeschichte der mit dem Namen Gustav Adolfs verbundenen Kriegsartikel, sie stünden eigenständig in der Überlieferung – sowohl mit Blick auf frühere schwedische als auch auf dänische und kontinentale Kriegsartikel (z.B. die der holländischen Generalstaaten nach der Heeresreform des Moritz von Oranien).27 Möglicherweise ist hier eine Tendenz Gierows spürbar, den Einfluss und die kreative Kraft Gustav Adolfs über Gebühr zu betonen. Funke urteilte anders und wies darauf hin, dass bei allem Neuansatz doch sowohl der »Reichsartikelbrief« Kaiser Maximilians II. vom Reichstag in Speyer 1570 als auch der Artikelbrief des Moritz von Oranien aus den holländischen Generalstaaten von 1590 auf das protestantische Militärkirchenrecht einwirkten.28 Der Reichsartikelbrief verbot in Artikel 2 Gotteslästerung, verpflichtete zum Gebet für den Sieg und zur Teilnahme an der Predigt, wann immer möglich. Der Profoss hatte alle diejenigen, die sich während des Gottesdienstes in Schankwirtschaften oder in frivolen Etablissements aufhielten, festzunehmen und dem Oberst zur Bestrafung zu übergeben. Schließlich wurde schon hier der Verkauf von Alkohol während der Gottesdienstzeiten verboten. Die Bestimmungen zum Schutz des Gottesdienstes vor zeitgleich stattfindenden Gelagen bei Gustav Adolf (Art. 10 und 11) mag hier vorgeprägt sein, wenn es sich nicht einfach um Selbstverständlichkeiten in der damaligen Zeit handelte. Jedenfalls wird Moritz von Oranien von Funke als Autor des oben wörtlich zitierten Artikels I bei Gustav Adolf und im brandenburgisch-preußischen Kriegsrecht identifiziert: »The first paragraph began with the customary reminder that it was God who bestowed fortune on an army and ordered officers to always instruct the soldiery to pray for His favour, not to miss sermons and to hear them happily and soberly.«29 Der Einfluss Moritz’ auf Gustav Adolfs Kriegsartikel scheint in Sachen Militärseelsorge noch nicht vollständig geklärt zu sein. Mancher Gedanke dürfte unabhängig vom Wortlaut zu jener Zeit überkonfessionelles Gemeingut gewesen sein. Wie schon Gierow bemerkte, verpflichteten deutsche Kriegsartikel aus den Türkenkriegen zwischen 1526 und 1529 die Söldner dazu, Herzog Ferdinand durch einen wahrhaft christlichen Kriegszug zu seiner ungarischen Krone zu verhelfen: Gott oder die Heiligen sollten nicht gelästert, bei Gott sollte vielmehr um Sieg und Glück gebeten werden. Auch hier schimmern Gedanken der Landeswohlfahrt durch. Überdies stand Gotteslästerung schon im Mittelalter unter der Androhung von Strafe an Leib und Leben.30 Was das Strafmaß für Gotteslästerung betraf, so schei27 28 29 30
Gierow, Bidrag till det svenska militärkyrkoväsendets historia (wie Anm. 1), S. 145. Funke, Religion and the Military (wie Anm. 26), S. 45-48. Ebd., S. 47. Vgl. Emerich Bielik, Geschichte der k.u.k. Militärseelsorge und des Apostolischen FeldVikariates, Wien 1901, S. 6; Sven Lange, Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, Bremen 2002 (= Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit e.V, 19), S. 34 f., zu einem Artikelbrief im Rahmen einer Kriegsordnung aus dem Jahr 1520: »Zum zehnten schwören wir, Gotteslästerung zu vermeiden, allsoviel als müglich, keine Kirchen zu erbrechen noch zu berauben, keine Jungfrau, geistlich oder weltlich, über ihren Willen zu schwächen, kein Kind unter vierzehn Jahren zu ermorden, keinen mann, der über siebzig Jahr alt zu entleiben, keinen
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Jobst Reller
nen Gustav Adolf und seine Nachfolger eher humaner als ihre Vorgänger verfahren zu sein. Die Kriegsartikel 1 und 2 der Holländischen Generalstaaten vom 13. August 1590 setzten auf Schwören und Fluchen im Wiederholungsfall das Durchstoßen der Zunge mit glühendem Eisen und Verbannung.31 Die Textgeschichte des Kriegsrechts hinsichtlich der Militärseelsorge ist für das 16. Jahrhundert noch genauer zu klären. Gierow formulierte zumindest eine Hypothese zur Entwicklung organisierter Militärseelsorge im Protestantismus, die genauer zu prüfen wäre, was aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Der schwedische Forscher sah in den schwedischen Quellen den Ursprung geordneter lutherischer Militärseelsorge. Sie wurde seiner Darlegung nach aus dem am schwedischen Königshof geltenden Recht unter maßgeblicher Beteiligung des Königs entwickelt. Die Reformation gab adligen Herren das Recht, auch in den im Mittelalter der Kirche vorbehaltenen religiösen Bereichen (neues) Recht zu setzen. So bekam die mittelalterliche Form des Hofrechts im 16. Jahrhundert neue Inhalte. Gustaf I. Wasas »Hofordnung« vom 16. Oktober 1544 wurde zum Modell für Gustav Adolfs »Hofordnung«. Alle Diener am Königshof wurden verpflichtet, Gottes Wort gerne zu hören und zu lernen und Gott zu fürchten sowie den Sonntag zu heiligen, aber auch alle verbreiteten Ärgernisse vor Gott wie Fluchen, Prunk- und Trunksucht bei Strafe zu unterlassen.32 Die Anklänge an die Auslegung des vierten Gebots in Luthers Kleinem Katechismus (hier kursiv gesetzt) sind nicht zu überhören. In der See- und Kriegsgesetzgebung wurden, der Hofgesetzgebung ähnlich, im Jahre 1535 erstmals »Kriegspriester« als eigene Berufsgruppe reformatorischer Pfarrer erwähnt. Das erste Schiffsrecht wurde am 30. April 1535 erlassen. Die rechte Ordnung an Bord sollte dazu dienen, dass Gott den so wohl geordneten Truppen den Sieg verlieh. Beiläufig wird in dieser Ordnung erwähnt, dass der Marinekaplan Kleider und Waffen des früher auf dem Schiff tätigen Kaplans übernehmen solle.33 Offenbar gab es also einen Marineseelsorger mit geordnetem Dienst, der bewaffnet war – wie alle anderen an Bord. In der Einleitung zu den eigentlichen »Seeartikeln« heißt es zu den Marineseelsorgern: »Weil wir ein christliches Volk sind und den allmächtigen Gott als einen Herrn bekennen, der Tod und Qual für unser aller Seligkeit erlitten hat, müssen wir uns deshalb in aller Weise als christliche Menschen schicken, Gott fürchten und ihn vor Augen haben, sein heiliges Wort und Evangelium vor Augen haben und danach tun, dann geschieht uns Glück, weil wir ihn mit uns haben. Denn da, wo Gottes Wort gehandelt und geredet wird, da ist auch Gott dabei, und all die Stunden, in denen er bei uns steht, geschieht uns kein Schade. Darum hat auch ihre königliche Majestät, unser liebster und gnädigster Herr, Prädikanten und Kapläne auf den Schiffen, die dort Messe halten, predigen dem Volk Gottes Wort und seinen heiligen Willen und sein Bußwort verkündigen sollen.«34
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Pfaffen oder Münch, es wäre denn, daß man ihnen in einem Storme oder Schlacht mit ihrer Wehre an den Festen begriffen wurde; als dann soll er keine Buße tragen.« Gierow, Bidrag till det svenska militärkyrkoväsendets historia (wie Anm. 1), S. 105. Ebd., S. 93. Ebd., S. 99 f. Ebd., S. 101.
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Gustav Adolf von Schweden
Versäumen des Gottesdienstes, Fluchen und mangelnde Andacht wurden mit Kielholen bestraft. Was der König an seinem Hof um des Wohls seiner Herrschaft willen an christlicher Ordnung für nötig hielt, das übertrug er offenbar auf Kriegsmarine und Landstreitkräfte. So entstand nach Gierow die frühneuzeitliche protestantische Militärseelsorge.
Ergebnis Dass die bei Mühlberg 1546 versammelten Protestanten gerade beim sonntäglichen Gottesdienst waren, als Moritz von Sachsen und Kaiser Karl V. mit ihrem Heer über die Elbe setzten und sie überrumpelten, ist bekannt.35 Aus der Erwähnung des Gottesdienstes ist zu schließen, dass evangelische Prediger dieses Heer begleiteten. Die Vorgeschichte organisierter protestantischer Militärseelsorge in Deutschland im 16. Jahrhundert liegt im Wesentlichen im Dunkeln, wenn man von Luthers einflussreicher, seelsorgerlich und spirituell-beratend abgefasster Schrift »Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können« für den kursächsischen Reiterhauptmann Assa von Kram von 1526 absieht. Man kann auch Thomas Müntzer und Ulrich Zwingli aus der frühen Reformationsgeschichte als protestantische Militärseelsorger bzw. Feldprediger ansehen. Diese starben allerdings als Charismatiker auf dem Schlachtfeld und waren nicht eingebunden in ein frühneuzeitliches Ordnungssystem.
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Leopold von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd 4, Hamburg 1957, S. 390.
Benjamin Marschke
Militärseelsorge in Preußen – Sozialdisziplinierung im Pietismus
Auffällig viele Pietisten, die in Halle ihre theologische Ausbildung erhalten hatten, waren im 18. Jahrhundert als preußische Feldprediger tätig.1 Es heißt in der einschlägigen Literatur, dass sie im Militär sozialdisziplinierend gewirkt hätten.2 Dieses Urteil ist allerdings zu relativieren, wie im Folgenden dargelegt wird. Dafür wird erstens untersucht, was pietistische Feldprediger in der Truppe tatsächlich getan haben. Zweitens wird die Beziehung zwischen preußischem Staat und Halleschem Pietismus analysiert. So wird nachvollziehbar, was der frühneuzeitliche Staat einerseits und was die Pietisten anderseits unter Disziplinierung von Soldaten verstanden. Bis 1717 war das Feldpredigerwesen in Preußen weitgehend dezentralisiert. Die Kommandeure konnten für ihre Truppen jeweils selbst einen ihnen genehmen Feldprediger aussuchen und einstellen. 1717 richtete König Friedrich Wilhelm I., angeregt durch Pietisten wie Carl Hildebrand Freiherr von Canstein (1667-1719), das zentrale Militärkirchenwesen ein und besetzte dessen Leitungsamt mit dem in Halle zum Theologen ausgebildeten und zuvor als Praeceptor (= Lehrer) in den Franckeschen Stiftungen tätigen Pietisten Lampertus Gedicke (1683-1736) als erstem Feldpropst. Dieser Pietist hat die neue Militärkirche aufgebaut, indem er pietistische Geistesverwandte auf die freien Feldpredigerstellen berief. Pietistisch gesteuert und geprägt blieb die Militärseelsorge bis zum Tod von Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1740.3 Der Prozess der Sozialdisziplinierung gilt schon lange als zentrales Theorem zum Verständnis der Sozial- und Mentalitätsgeschichte Europas in der Frühen Neuzeit.4 Gerade die preußische Armee des 18. Jahrhunderts wird als unbestreitbares Paradebeispiel für die frühneuzeitliche militärische Disziplinierung an1
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Dieser Aufsatz bezieht sich auf Kapitel 3 meiner Promotion: Benjamin Marschke, Absolutely Pietist. Patronage, Factionalism, and State-Building in the Early Eighteenth-Century Prussian Army Chaplaincy, Tübingen 2005 (= Hallesche Forschungen, 16), S. 69-91. Vgl. Klaus Deppermann, Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.), Göttingen 1961; R. Po-Chia Hsia, Social Discipline in the Reformation. Central Europe 1550-1750, London 1989; Mary Fulbrook, Piety and Politics. Religion and the Rise of Absolutism in England, Württemberg and Prussia, Cambridge 1983; Richard L. Gawthrop, Pietism and the Making of Eighteenth-Century Prussia, Cambridge 1993. Vgl. Marschke, Absolutely Pietist (wie Anm. 1). Stefan Breuer, Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerung eines Konzepts bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault. In: Soziale Sicherheit und so-
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Benjamin Marschke
geführt; diese Disziplinierung der Soldaten sei in Preußen zum Modell für die Disziplinierung der gesamten Gesellschaft geworden. Entsprechend wurden auch die Aktivitäten und Lehren der Halleschen Pietisten als Ausdrucksform frühneuzeitlicher Sozialdisziplinierung gewürdigt.5 Die Bedeutung der pietistischen Feldprediger für die preußische Armee – am Schnittpunkt zweier grundlegender Räume der Disziplinierung: in der militärischen und in der zivilen Gemeinschaft – kann kaum genug hervorgehoben werden. Die wissenschaftlichen Kontroversen zum Themenfeld Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit können in diesem Zusammenhang nicht umfassend aufgearbeitet werden. Wichtig ist die Beobachtung, dass die Zeitgenossen »Disziplin« ausdrücklich kaum erwähnt haben, und selbst wenn sie das Lexem oder seine Derivate verwendeten, haben sie nicht zwischen verschiedenen Arten oder Dimensionen unterschieden. Grundsätzlich kann von äußerer und innerer Disziplin gesprochen werden, obwohl die Grenzen fließend sind und die beiden Dimensionen von Disziplin sich überschneiden. In aller gebotenen Kürze kann definiert werden: Äußere Disziplin ist der Versuch, Gehorsam zu erzwingen durch die Androhung von Strafe für unerwünschtes Benehmen und Handeln. Gewalt als Strafe für Fehlverhalten erfährt derjenige Soldat, der sich militärischer Disziplin und moralischer Kontrolle entzieht. Militärische Disziplinierung bezeichnet also nicht nur die formale Exaktheit beim Exerzieren, sondern erstreckte sich über den gesamten Alltag des Soldaten, weil nahezu jeder Aspekt des Soldatenlebens genauen Regelungen unterlag. Letztlich bestand das Ziel von äußerer Disziplin darin, innere Disziplin in der Truppe zu verankern. Die soldatischen Subjekte sollten Untertänigkeit, Gehorsam und Sittlichkeit internalisieren, sodass sie nicht nur von außen (durch ihre militärischen Vorgesetzten) diszipliniert werden mussten, sondern sich auch selbst disziplinierten und selbstdiszipliniert agierten. Wer sich selbst disziplinierte, der würde sich, so die Hoffnung, aus Gewohnheit pflichtbewusst, treu und gehorsam verhalten – sei es aufgrund seines geschärften Gewissens oder aus Furcht vor Gott, aber eben nicht aufgrund einer ihm drohenden Strafe durch seinen militärischen Vorgesetzten. Innere Disziplin erleichterte den Vorgesetzten die Aufsicht, weil sie nicht ständig ihre Autorität behaupten und durchsetzen mussten.
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ziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Hrsg. von Christoph Sachße und Florian Tennstedt, Frankfurt a.M. 1986, S. 45-72. Deppermann, Der hallesche Pietismus (wie Anm. 2). Sowohl Max Weber als auch Gerhard Oestreich und Michel Foucault stellen den Pietismus als typische (religiöse) Form von Disziplinierung dar. Vgl. Max Weber, The Theory of Social and Economic Organization, New York 1947 (Originalausg. u.d.T.: Wirtschaft und Gesellschaft, Bd 1, Tübingen 1921); Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969; Gerhard Oestreich, Neostoicism and the Early Modern State, Cambridge 1982 (Originalausg. u.d.T.: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius [1547-1606]. Der Neustoizismus als politische Bewegung, Habilitationsschrift, 1954); Michel Foucault, Discipline and Punish: The Birth of the Prison, New York 1977 (Originalausg. u.d.T.: Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975). Speziell zu Pietismus und Militär vgl. Carl Hinrichs, Pietismus und Militarismus im Alten Preußen. In: Archiv für Reformationsgeschichte, 49 (1958), S. 270-323 (Wiederabdr. in Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiössoziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 126-173).
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Militärseelsorge in Preußen
Die Umsetzung pietistischer Sozialdisziplinierung in der preußischen Armee durch die Militärseelsorge wird im Folgenden an zwei Aspekten des Disziplinierungsprozesses dargestellt. Zum einen wird der Disziplinierungsdiskurs unter Friedrich Wilhelm I. und denjenigen Pietisten, die die Militärseelsorge aufgebaut und organisiert haben, kurz nachgezeichnet. Dadurch wird deutlich, was der junge König6 und die ihn beeinflussenden Pietisten über die Militärseelsorge und deren disziplinierende Funktionen gedacht haben. Zum anderen wird die Bedeutung der Feldprediger für die Durchsetzung »äußerer« Disziplin untersucht. Es wird nach der moralischen Kontrolle gefragt, die sie ausübten, und analysiert, wie sie die Internalisierung von Gehorsam und Treue bei den Soldaten förderten. Zum Schluss wird untersucht, was die Feldprediger zur Verminderung der Zahl der Desertionen, das größte Problem jeder Armee im 18. Jahrhundert, beitrugen.
Forschungslage Die bisherigen Untersuchungen zu pietistischen Feldpredigern als Disziplinierungsagenten in der preußischen Armee sind in ihrer Beweisführung vage und lassen Quellenbelege vermissen.7 Die anglo-amerikanische Historiografie hat die älteren Forschungsergebnisse trotzdem übernommen und zugespitzt. So behauptet ein Autor, dass Pietisten als Feldprediger aus rohen und ungehobelten Bauernlümmeln gehorsame Soldaten gemacht hätten: »Pietists served as army chaplains, taught the raw recruits the rudiments of discipline, and helped to instill obedience to God and the state.«8 Eine andere Autorin sagt: »Many Pietists were chosen as Feldprediger [...] so the common soldiers were transformed from illiterate, ill-educated and unwilling forced recruits into Bible-reading, God-fearing, conscientious and obedient troops, easily disciplined and organized for motivated combat.«9 Selbst wenn diese Zitate so interpretiert werden, dass man den pietistischen Feldpredigern nicht direkt die Ausbildung der Soldaten für die Schlacht zurechnete, wird hier die Rolle der Feldprediger bei der Disziplinierung der preußischen Armee überbewertet. Das wird im Folgenden begründet.
Militärische Disziplin Unter Friedrich Wilhelms Vorgänger war eine Soldatenbibel gedruckt worden, die einen Einblick gibt, wie man sich damals den frommen Soldaten und 6
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Zu Friedrich Wilhelm I. und dem Pietismus, vgl. Benjamin Marschke, Pietism and Politics in Prussia and Beyond. In: A Companion to German Pietism (1600-1800). Ed. by Douglas H. Shantz, Leiden 2015, S. 472-526. »Der hallesche Pietismus erzog dem preußischen Staat gehorsame, berufstüchtige und sozial verantwortungsbewusste Untertanen. Unter Friedrich Wilhelm I. half er, die moralische Tüchtigkeit des preußischen Heeres durch die Tätigkeit seiner Feldprediger zu stärken.« Deppermann, Der hallesche Pietismus (wie Anm. 2), S. 173. Hsia, Social Discipline (wie Anm. 2), S. 62. Fulbrook, Piety and Politics (wie Anm. 2), S. 167.
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Benjamin Marschke
das Feldpredigerwesen vorstellte.10 Darin finden sich das Neue Testament und Luthers Katechismus sowie Lieder und Gebete im Anhang. Fast alle diese Texte waren auch bei zivilen Kirchengemeinden in Gebrauch. Für Soldatengemeinden bestimmt ist im Anhang der Soldatenbibel »Die Anweisung derer Kriegs Leute«, eine Agende für Feldprediger.11 In diesem an Feldprediger adressierten Abschnitt der Soldatenbibel finden sich Überlegungen zu den Schwierigkeiten, Gottesdienste im Feld zu halten, und Rechtfertigungen für den Vorrang militärischer Zweckmäßigkeit vor religiösen Gepflogenheiten in Soldatengemeinden. Ferner werden hier Unterrichtsbausteine für die Feldprediger geliefert. Sie erhalten Musterantworten auf häufig gestellte Fragen, etwa ob Soldaten gute Christen sein können, ob Gott den Krieg zulässt, warum Herrscher überhaupt Kriege führen usw. Natürlich waren die in diesen Fragen liegenden inneren Widersprüche von den Autoren der vorgefertigten Antworten beseitigt worden. Der bedeutsamste Punkt der vorgefertigten Fragen und Antworten besteht in der Auskunft, dass ein guter Christ nicht desertieren würde, selbst wenn er überzeugt wäre, dass der Krieg, in den er ziehen muss, ein ungerechter Krieg sei.12 Mit diesen Musterantworten waren die Feldprediger gut darauf vorbereitet, von ihren Gemeindegliedern möglicherweise vorgebrachte religiöse Bedenken beim Kriegsdienst (oder Ausreden, um keinen leisten zu müssen) zu zerstreuen. Trotzdem – die Annahme, dass pietistische Feldprediger die Soldaten militärische Disziplin gelehrt hätten (»taught the raw recruits the rudiments of discipline«), ist falsch. Deutlich wird aus den Quellen vielmehr, dass weder Friedrich Wilhelm I. noch die Pietisten erwarteten, dass Feldprediger sich mit der Durchsetzung militärischer Disziplin beschäftigten. Im Gegenteil: Die Pietisten hielten sich von militärischen Angelegenheiten fern, und der König scheint seine Feldprediger als Geistliche, nicht als Offiziere und Militärpersonen betrachtet zu haben. Feldprediger begleiteten Soldaten, um sich um deren Seelen zu kümmern, nicht um gute Soldaten aus ihnen zu formen. Weder in den Befehlen des Königs, noch in den Briefen des inneren Kreises der Pietisten, noch in Briefen der einzelnen pietistischen Feldprediger oder in anderen Quellen gibt es einen Hinweis auf die Teilnahme der Feldprediger beim Exerzieren oder bei sonstigen militärischen 10
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Christoph Naumann, Für Die Königliche Preußische Kriegsleute Neu-verfertigtes HandBuch [...] Berlin 1709. »Anweisung derer Kriegs–Leute, so da wollen selig werden«, abgedr. als Teil 2 in Naumann, Für Die Königliche Preußische Kriegsleute (wie Anm. 10), übernommen aus Anonymous [Johann Daniel Herrnschmidt], Der Fromme Soldat, Das ist: Gründliche Anweisung zur Wahren Gottseligkeit, Für Christliebende Kriegs-Männer Hohen und niedrigen Standes [...] Nürnberg 1704. Vgl. Malte Van Spankeren, Das preußische Militär als Gegenstand hallischer Urteilsbildungen. In: Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen. Hrsg. von Holger Zaunstöck [u.a.] Wiesbaden 2017. Es wurde gefragt: »12. Wie fern man im Offensiv-Kriege dienen dörffe. 13. Ob man sich von freyem Willen in solche Dienste begeben dürffe. 14. Ob man solche Dienste quittiren solle.« Auf die letzte Frage wurde geantwortet: »was Paulus seinen leibeigenen Knechten zu seiner Zeit gerathen: Sie sollen zwar in ihrem Dienste bleiben, wann sie kein Mittel wüßten, mit gutem Gewissen loß zukommen, doch wann sie frey werden könnten, solten sie sich dessen viel lieber gebrauchen. I. Cor.« Im 1. Brief des Paulus an die Korinther 7,21 f. heißt es: »Bist du als Sklave berufen, so lass es dich nicht bekümmern. Aber wenn du auch frei werden kannst, nutze es umso lieber. Denn der im Herrn berufene Sklave ist ein Freigelassener des Herrn; ebenso ist der berufene Freie ein Sklave Christi.«
Militärseelsorge in Preußen
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Übungen. Auffällig ist auch, dass königliche Befehle oder auch Diskussionen zur Frage der Einschärfung von Patriotismus durch die Feldprediger völlig fehlen. Ebensowenig lassen sich Hinweise auf »Vermahnungen« der Soldaten zum tapferen Kampf auf dem Schlachtfeld durch die ersten Feldprediger finden. Friedrich Wilhelm I. und die pietistische Leitungsebene der Feldseelsorge haben offenbar erwartet und gehofft, dass die Feldprediger aus den preußischen Soldaten bessere Christen machen. Bessere Christen können sich selbst disziplinieren und sind folgsame Untertanen. Sie haben aber nicht erwartet, dass die preußischen Feldprediger ihre Gemeindeglieder für das Gefecht motivieren (»disciplined and organized for motivated combat«, siehe oben). Der typische Feldprediger hatte damals keine militärische Sozialisation erfahren und ihm eignete auch kein entsprechender Habitus. Vom preußischen Offizierkorps unterschied er sich in vielerlei Hinsicht. Wie aus einzelnen Äußerungen erkennbar, sahen sich die Feldprediger selbst als professionelle Geistliche, nicht als Militärpersonen oder Offiziere.13 Die meisten von ihnen, auch Feldpropst Gedicke, dienten nicht gerne in der Armee. So bald wie möglich nahmen sie ihren Abschied vom Militär und traten zivile Stellen an, meist schon während der ersten vier Jahre ihres Dienstes bei den Soldaten.14 Für die Distanz der Feldprediger zu den Offizieren spricht auch, dass sie in ihren unzähligen Briefen nie über militärische Angelegenheiten schrieben. Dazu kommt, dass sich ihre Predigten wie alle anderen pietistischen Predigten lesen lassen – es gibt keine Erwähnung von Krieg oder Soldatenleben.15 Der Bruch zwischen diesen pietistisch geprägten Predigten aus dem frühen 18. Jahrhundert, die kaum erkennen lassen, dass ihre Adressaten Soldaten waren, und den quälend militaristischen bzw. nationalistischen Hetzreden der Feldprediger im 19. und 20. Jahrhundert ist klar erkennbar. Patriotische oder militaristische Töne und ein entsprechendes Auftreten der Feldprediger finden sich erst unter Friedrich II., der den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) zum Religionskrieg erklärte und Religion für propagandistische Zwecke nutzte. Vor diesem Hintergrund wirkt es wie eine Ironie der Geschichte, dass gerade Friedrich II. sich als Vorkämpfer für den Protestantismus in Deutschland dargestellt hat. Von jetzt an wurden Trophäen und gegnerische Fahnen in den Garnisonkirchen aufgehängt, und preußischen Feldpredigern wurde befohlen, zu vom König vorgegebenen Bibelversen Siegesoder Durchhaltepredigten zu halten – jeweils abhängig vom Verlauf des Krieges.16 13 14
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Vgl. Marschke, Absolutely Pietist (wie Anm. 1), S. 66-68. Von 212 neuen Feldpredigern, eingestellt zwischen 1718 und 1735, haben 124 vier Jahre oder weniger gedient. Ebd., S. 35. Vgl. Marschke, Absolutely Pietist (wie Anm. 1). Vgl. Silvia Mazura, Die preußische und österreichische Kriegspropaganda im Ersten und Zweiten Schlesischen Krieg, Berlin 1996; Antje Fuchs, »Man versuchte den Krieg zu einem Religions-Kriege zu machen.« Beispiele von konfessioneller Propaganda und ihre Wirkung im Kurfürstentum Hannover während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763). In: Militär und Religiosität in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Michael Kaiser und Stefan Kroll, Münster 2004 (= Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit, 4), S. 207-224; Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Wiesbaden 1961; und Angelika Dörfler-Dierken, »Friederikus ruft, unser König: allons, frisch ins Gewehr«: oder die Formierung einer opferbereiten Erregungsgemeinschaft. In: Glaube und Vernunft. Studien zur Kirchen- und Theo-
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Benjamin Marschke
War es moralische Kontrolle? Die von August Hermann Francke (1663-1727) ausgehende pietistische Bewegung wurde wegen ihrer Sittenstrenge weithin bekannt.17 Trotzdem haben Friedrich Wilhelm I. und der innere Kreis der Pietisten in ihren Briefwechseln18 nie besprochen, ob oder wie Feldprediger moralische Kontrolle von Soldaten durchzuführen hätten. Im Gegenteil, sie haben oftmals die Sorge geäußert, dass die Feldprediger den Verlockungen des Soldatenlebens verfallen und zu einem wenig löblichen Lebensstil verführt werden könnten, sodass sie ihren Gemeinden ein schlechtes Beispiel gäben. Der König und die ihn beratenden Pietisten haben aber – und das ist entscheidend – an keiner Stelle die Hoffnung geäußert, dass die Feldprediger irgendeine Art von moralischer Kontrolle der Soldaten ausüben sollten. Gegen diese Auslegung kann eingewendet werden, dass es in den Quellen durchaus Hinweise gibt, die es erlauben, einen Zusammenhang von Feldpredigern und moralischer Kontrolle zu konstatieren. Die oben genannte »Anweisung derer Kriegs Leute« endet beispielsweise mit einer Liste von Soldaten gewöhnlich zugeschriebenen Lastern, die ein guter Christ im Soldatenstand natürlich vermeiden sollte: Soldaten würden zu Hurerei, Sauferei, Völlerei, Glücksspielen und Faulheit neigen; die Feldprediger sollten die Soldaten davor warnen, diesen Lastern zu verfallen.19 Zudem sollten Feldprediger eingeschaltet werden, wenn die normale Disziplinierung der Soldaten durch die Offiziere scheiterte. Die preußischen Militärvorschriften von 1726 ordneten für diesen Fall an: »[D]ie Officiers, wenn sie von eines Soldaten gottlosem Leben in Erfahrung kommen, [sollen] selbigen vornehmen, und wenn er sich nicht bessert, den Kerl zum Priester schicken«.20 Es wurde also offenbar von den Feldpredigern nicht erwartet, dass sie disziplinlose und also gottlose Soldaten identifizierten. Diese Aufgabe oblag den Offizieren. Feldprediger wurden nur dann beteiligt, wenn die Mahnungen der Offiziere unbeachtet blieben, wenn der Delinquent sich nicht besserte. Das heißt: Moralische Kontrolle gehörte nicht zu den regelmäßigen Aufgaben der Feldprediger. Für diese Interpretation spricht auch, dass Feldprediger sich nur selten über entsprechende Fragen geäußert haben. Zwar beklagten sie in ihren Briefen den Mangel an Tugend unter den Soldaten, bedienten damit aber möglicherweise auch nur den Topos des lasterhaften Soldaten. Sie zeichneten die Soldaten als »wüst und
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logiegeschichte des späten 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Albrecht Beutel, Leipzig 2014, S. 302-322. Vgl. Martin Brecht, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: Geschichte des Pietismus, Bd 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hrsg. von Martin Brecht, Göttingen 1993, S. 440-539. Vgl. Marschke, Pietism and Politics in Prussia and Beyond (wie Anm. 6). Siehe auch Gedickes Briefwechsel mit Canstein (Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle, Hauptarchiv, AFSt, HA C 42) und Cansteins Briefwechel mit Francke: Carl Hildebrand von Canstein und August Hermann Francke, Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hrsg. von Peter Schicketanz, Berlin 1972. Naumann, Für die Königliche Preußische Kriegsleute (wie Anm. 10). Zitiert nach Preußischer Choral. Deutscher Soldatenglaube aus 3. Jahrhunderten. Hrsg. von Kurt Ihlenfeld, Berlin-Steglitz 1935, S. 29.
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wild«, sich selbst dagegen als fromm, wenn sie erwarteten, »daß Gott noch manche fromme Prediger unter die wüsten und wilden Soldaten sendet«.21 Die Entgegensetzung von Prediger und Gemeinde ist ein immer wiederkehrendes Thema in der pietistischen Literatur. So urteilte der zukünftige Feldpropst Gedicke als Feldprediger mehrfach über seine Gemeinde: »die so große Unwißenheit und das allgemeine Verderben in meiner Gemeinde mir immer mehr offenbahr wird«.22 Zumindest einige der Feldprediger, die über Laster der Soldaten berichteten, versuchten auch, etwas dagegen zu unternehmen. Ein frisch ins Amt gekommener Feldprediger veranschautlichte seine Anstrengungen mit einem bildhaften Vergleich aus der Landwirtschaft: »Was mein Umstände beym Regiment anlanget, so kann ich an kein Pflantzen noch gedencken, sondern nur an das Niederreißen, Umhecken, usw., sintemahlen das Verderben alhieß groß.«23 Leider hat dieser Feldprediger nicht beschrieben, wie er beim Ausreißen des Unkrauts vorgegangen ist, aber vermutlich hat er einfach Franckes Methoden, die er in Halle kennengelernt hatte, angewendet. Francke hat sogenannte Donnerpredigten gehalten und Gemeindeglieder, deren Lebensstil er christlich inakzeptabel fand, exkommuniziert. Auch in seinen Vorlesungen als Professor an der Universität hat Francke die moralischen Übertretungen einzelner Studenten aufgegriffen und öffentlich angeprangert.24
Innere Disziplin Die Pietisten fanden äußere Frömmigkeit unzureichend, sie bestanden auf einer inneren Bekehrung. Deshalb kritisierten sie äußerlich erzwungenen Gehorsam. Das galt desgleichen für den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit; auch der sollte internalisiert sein. Entsprechend dem pietistischen Programm: »Gottesfurcht, nicht Menschenfurcht«, sollten die Christen sich durch ihr eigenes Gewissen verurteilt fühlen. Äußere Gehorsamserzwingung mit physischen Mitteln wäre dann obsolet. Wenn die pietistischen Feldprediger »erbaulich« predigten, dann warben sie für innere Disziplin. Sie haben sich als »gute Christen« und als »sich selbst disziplinierende und gutmütige Subjekte« verstanden und ihre Idee der Selbstdisziplinierung gezielt weiter verbreitet. Entsprechend präsentierte Feldprobst Gedicke in einer ausführlichen Veröffentlichung zu den Grundsätzen des Christentums die Vorteile, die der Pietismus dem preußischen Staat bieten könne: »Endlich so hält die Christliche Religion so wohl durch kräftige Verheissungen, als auch Drohungen, die Menschen im Zaun, wozu keine blosse äusserliche Macht und Gewalt hinlänglich [...] Die Obrigkeit wird um deßwillen genennet, Gottes Dienerin, die ihr Amt und Gewalt von Gott empfangen [...] Und die Unterthanen werden gelehret, die Obrigkeit nicht als eine Tyrannische, 21
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Brief von Johann Caspar Stegmann, Minden, an August Hermann Francke, Halle, 9.9.1714, AFSt, HA C 595: 3. Brief von Gedicke, Hauptlager, St. Andres von Stir [?], an Carl Hildebrand Freiherr von Canstein, Berlin, Michaelistag 1710, AFSt, HA C 42: 7. Brief von Theodor Friedrich Thiesen, Wehlau (Ostpreußen), an Gotthilf August Francke, Halle, 12.1.1735, AFSt, HA C 416: 37. Brecht, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus (wie Anm. 17).
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und sich selbst aufgeworffene Macht, sondern als Gottes Ordnung anzusehen, und ihr unterthänig zu seyn, nicht nur aus Zwang, sondern um des Gewissens willen, nicht nur denen gütigen und gelinden, sondern auch denen wunderlichen Herrn, und das aus Furcht Gottes [...], so daß wenn auch die Menschen öfters dem weltlichen Gericht entgehen, sie doch nicht dem strengen und letzten Gericht Gottes entfliehen können [...] und können diejenige, so solchen Maximen Christlicher Religion folgen, nicht anders als gute und treue Bürger erfunden werden, weil sie nicht allein durch äusserliche Policey, Gesetze, und Gebote zu ihren Pflichten verbunden werden, sondern auch durch die Verheissungen und Drohungen Christlicher Religion, dazu sich verpflichtet, erkennen müssen.«25 Gedicke behauptet hier, dass »Verheissungen« und »Drohungen« erfolgreich sein können, weil »keine blosse äusserliche Macht und Gewalt« ausreiche, um »die Menschen im Zaun« zu halten. »Echte« Unterwerfung und »echte« Treue wollten die Feldprediger bei Friedrich Wilhelms Soldaten und Untertanen fördern. Das »Gewissen« und die »Furcht Gottes« sollten bei einem Christen erreichen, was kein militärischer Vorgesetzter oder Polizist mit seinen Druckmitteln erreichen könne. Wie Gedicke hat auch Friedrich Wilhelm I. den guten Christen und den gehorsamen Untertan, christliche Wiedergeburt und innere Disziplin im Sinne von Heiligung miteinander gleichgesetzt. Der König sagte zu einem pietistischen Pfarrer: »Ja, gute Christen sind treu, andere nicht, und wenn sie rechte Christen wären, sie würden den Teufel selbst wegjagen können.«26 Seiner Meinung nach bestand die Voraussetzung für echte Treue gegenüber dem König darin, ein »guter Christ« zu sein. Deshalb meinte er, dass »rechte Christen« hervorragende Soldaten seien. Die Deckungsgleichheit von »Christ« und »treu und gehorsam zur Obrigkeit« wird auch in der oben schon genannten Militärvorschrift von 1726 reflektiert: »Weilen ein Kerl, welcher nicht Gott fürchtet, auch schwerlich seinem Herrn treu dienen und seinen Vorgesetzten rechten Gehorsam leisten wird, also sollen die Officiers den Soldaten wohl einschärfen, eines christlichen und ehrbaren Wandels sich zu befleißigen; weshalb die Officiers, wenn sie von eines Soldaten gottlosem Leben in Erfahrung kommen, selbigen vornehmen.«27 Obwohl in dieser Passage das Wort »Disziplin« nicht gebraucht wird, ist offenbar, dass es hier um die moralische Kontrolle der Soldaten geht. Ein »christlicher und ehrbarer Wandel« galt als sichtbares Zeichen persönlicher Frömmigkeit, ohne welche echte Treue und Gehorsam angeblich unmöglich seien. Dass man moralische Kontrolle unter den Soldaten einführte, hatte also nicht das Ziel, Laster unter den Soldaten auszumerzen; ein »gottloses Leben« galt vielmehr als äußeres und sichtbares Zeichen des Mangels an Gehorsam und Treue, die für die Einhaltung militärischer Disziplin unverzichtbar waren. Die Identifikation des Christen mit einem »innerlich« sich selbst disziplinierenden Menschen seitens der Pietisten und Friedrich Wilhelms I. war nicht nur bloße Rhetorik elitärer Kreise, sondern gewann Gestalt in den Militärkirchengemeinden, 25
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Lampertus Gedicke, Primae Veritates Religionis Christianea oder Grund-Sätze Christlicher Religion, Berlin 1717, S. 387-379. Brief von Heinrich Schubert, Potsdam, an August Hermann Francke, Halle, 29.4.1727, AFSt, HA C 632: 28. Zitiert nach Preußischer Choral (wie Anm. 21), S. 29.
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wenn die staatliche Obrigkeit mit der göttlichen Obrigkeit implizit gleichgesetzt wurde. Beispielsweise predigte Gedicke in der Berliner Garnisonskirche: »ermuntert euch doch gleichfalls aufs neue zum wahren Christenthum, zur Liebe des Wortes Gottes, und Hochachtung der Sacramenten, zur Treue gegen Gott und euren König, zur Liebe und Gehorsam gegen alle eure Vorgesetzte. Bedencket doch stets den theuren Eyd, den ihr Gott und euer Hohen LandesObrigkeit geleistet, und suchet denselben nicht nur aus Furcht der Straffe und aus Zwang, sondern um des Gewissens willen heilig zu halten, und nicht durch Untreu und MeinEyd zu brechen. Suchet doch euren Soldaten-Stand Christlich zu führen, damit ihr einen gnädigen Gott und gutes Gewissen stets haben möget.«28 Gedickes Aufforderung, »stets den theuren Eyd, den ihr Gott und euer Hohen Landes-Obrigkeit geleistet« habt, im Gedächtnis präsent zu halten und entsprechend zu handeln, bezieht sich auf den Soldateneid. Diesen »heilig zu halten« meint, nicht zu desertieren. Seine Ermahnung, den Eid zu halten, »nicht nur aus Furcht der Straffe und aus Zwang, sondern um des Gewissens willen«, zielte auf die Idee, dass die preußischen Soldaten selbstdisziplinierend tätig werden sollten. In Gedickes Doppelformel von der »Treue gegen Gott und euren König« spiegelt sich seine Gleichsetzung von »wahrem Christenthum« und »Liebe und Gehorsam gegen alle eure Vorgesetzte«. Diese Gleichsetzung staatlicher mit göttlicher Obrigkeit gehört zur traditionell-lutherischen Legitimation monarchischer Macht. Das ist hier nur deshalb pikant, weil ein calvinistischer Herrscher durch lutherische Pietisten gerechtfertigt wird. Die pietistische Fokussierung auf authentische Frömmigkeit und echten Gehorsam will äußere Bestrafung überflüssig machen, indem sie die Internalisierung von Untertanengeist und Gehorsam fördert. Die beste Beschreibung der Tätigkeiten eines Feldpredigers hat Johann Christian Busolt (gest. 1747) geliefert, der das Amt bei der Infanterie des herzoglichen Hauses Schleswig-Holstein-Sonderburg-Beck in Königsberg von 1725 bis 1732 innehatte. Zusätzlich zum üblichen Beichtgespräch vor dem Abendmahl ließ Busolt sich über seine Gemeindeglieder informieren und bestand auch darauf, mit denjenigen Soldaten zu sprechen, die in Schwierigkeiten geraten waren. Möglich war das, weil die Offiziere seines Regiments gut mit ihm kooperierten. Er schrieb an Francke: »Hiernechst habe ich zuvorgebracht [im Vorfeld festgelegt], daß alles, was bey den compagnien vorgehet, mir durch einen Unter-officier muß gemeldet werden: so bald nun jemand einen liederlichen Streich macht und was verübt, muß er zu mir gebracht werden.«29 Dann, so Busolt über sein seelsorgliches Vorgehen, beschäme er den Übeltäter, indem er ihn mit seinen Vergehen konfrontiere. Der Feldprediger schildert sein Vorgehen minutiös und gibt sogar an, welche Passagen aus dem Katechismus und welche Gebete er den Übeltätern jeweils vorliest, um ihnen deutlich zu machen, dass ihre Verfehlungen eine »Geringschätzung Gottes« darstellten. Weiter erklärte Busolt dem Soldaten seine »[s]chuldige Pflicht« und die »Schände und schändliche Andanckbarkeit [Undankbarkeit]« gegen Gott, die das Verhalten des Soldaten erkennen ließen. Sobald der Feldprediger dann spüren konnte, dass der Delinquent 28
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Lampertus Gedicke, Das wahre und falsche Christenthum, Und die höchst-nöthige Sorge eines Christen für seine eigene Seele [...], Berlin 1722, S. 17. Brief von Busolt, Königsberg, an Francke, Halle, 8.7.1726, AFSt, HA A 180: 50.
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emotional angerührt und beschämt war, betete er mit ihm: »Wenn denn hiedurch das Gemüth beweget worden, muß er mit mir niederfallen auf die Knie, und ich thun in seinem Namen ein Gebät zu Gott, in welchen er sich selbst bey Gott verklaget, um wahre Busse, und in dieser Ordnung um Gnade bittet, u.s.w.« Höhepunkt des Geschehens war die Erfahrung der göttlichen Gnade in der tränenreichen Reue des Delinquenten: »Und der liebe Gotte giebt Gnade, daß weil es ihren ungewöhnlich ist, es nicht allein einem ungemeinen Eindruck giebt, sondern auch die mehresten vor Thränen kaum das Gebät nach sprechen können: Joi, Gott sey ewig gelobet!« Abschließend folgert Busolt aufgrund seiner Erfahrungen: »Ich finde, durch Gottes Gnade, daß dieses das Gemüth mehr erreichet, als alle Drohungen des Gesetzes.«30 In dieser Darstellung wird deutlich, dass Busolts Methode perfekt zur pietistischen Idee von Disziplinierung passt. Vermutlich agierten andere pietistische Feldprediger überall in Preußen ganz ähnlich. Busolt war ein Alumnus der Universität Halle und nutzte als Feldprediger Franckes Methoden.31 Feldprediger verbrachten den Großteil ihrer Zeit damit, sich um ihre Soldatengemeinde zu kümmern.32 Wie Busolt beschreiben auch andere Feldprediger in ihren Briefen ihre Disziplinierungsmaßnahmen. Viel öfter aber thematisieren sie ihre Gottesdienste, Predigten und Katechesen, ihre Unterrichte und dass die Soldaten Lesen lernen, sowie ihre eigenen wissenschaftlichen Bemühungen. Die alltäglichen Amtshandlungen der Feldprediger hatten eine disziplinierende Wirkung auf die Soldaten: Deren Teilnahme am Gottesdienst und gutes Benehmen während des Gottesdienstes durchzusetzen, förderte die äußere und innere Disziplin. Zeitgenossen schildern auch die wöchentliche Kirchenparade:33 Soldaten wurden in Formation in die Kirche geführt, als ob sie in eine Schlacht ziehen würden. Während des geistlichen Geschehens wurden Wächter an der Tür postiert, damit niemand sich entfernen konnte. Vorgeschrieben war sogar, dass selbst beurlaubte Kantonisten34 beim Besuch des heimatlichen Gottesdienstes am Sonntag ihre Uniform trugen. Soldaten (und ihre Familien) hatten bei den Feldgottesdiensten strammzusitzen, und sie mussten im Gleichklang singen und beten – in die Kirche zu gehen bedeutete also eine Fortsetzung militärischer Disziplin, machte Gehorsam und Fügsamkeit zur Gewohnheit.
Soziale Integration Effektive Seelsorge hatte auch eine gemeinschaftsbildende Funktion. Bis in das 18. Jahrhundert hinein waren Soldaten Außenseiter und galten als Abschaum 30 31 32 33
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Brief von Busolt (wie Anm. 16). Brecht, August Hermann Francke und der Hallische Pietismus (wie Anm. 17). Vgl. Marschke, Absolutely Pietist (wie Anm. 1). Zur Kirchenparade vgl. Michael Sikora, Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 285, bes. Anm. 105; Gawthrop, Pietism (wie Anm. 2), S. 226; Julius Langhaeuser, Das Militärkirchenwesen im kurbrandenburgischen und Königlich Preußischen Heer. Seine Entwickelung und derzeitige Gestalt, Metz 1912, S. 13. Unter Friedrich Wilhelm I. wurde das »Kantonsystem« eingeführt, wobei Soldaten regelmäßig beurlaubt und ins Zivilleben wieder integriert wurden
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der Gesellschaft.35 Ihr bekanntermaßen sündhafter Lebensstil und ihr moralisch fragwürdiger Beruf setzten sie der Gefahr der ewigen Verdammnis aus. Diese soziale und mentale Entfremdung von der Zivilgesellschaft wirkte psychologisch verheerend für viele Soldaten, denn sie konnte zu »Hoffnungslosigkeit und Malaise«36 führen, woraus dann Gefahren für die Militärorganisation erwuchsen: Ungehorsam, Insubordination, Selbstverstümmelung und Selbstmord und vor allem Desertion – damals das größte Problem.37 Die Feldprediger lehrten die Soldaten, dass sie letztlich Gott dienten,38 und sie versicherten ihnen, dass sie nicht verdammt, sondern vielmehr Teil der christlichen Gemeinschaft seien. So haben sie zweifellos soldatische Hoffnungslosigkeit gemildert und die daraus erwachsenden disziplinären Probleme verringert. Tatsächlich ist die Zahl der Desertionen in den späten 1710er und frühen 1720er Jahren – zeitgleich mit der pietistischen Übernahme der Militärseelsorge – stark zurückgegangen: Sie fiel von 6,6 Prozent pro Jahr (gleich nach Friedrich Wilhelms I. Thronbesteigung 1713) auf 3,2 Prozent (nach 1719).39 Ab 1727 betrug die Zahl an Desertionen nur noch ein Prozent pro Jahr, ein extrem niedriger Wert.40 Ob diese Erhöhung der (scheinbaren) Treue der preußischen Soldaten ausschließlich auf das Wirken der pietistischen Feldprediger oder auch auf andere Maßnahmen zurückzuführen ist, kann freilich nicht sicher festgestellt werden.
Zum Schluss Moralische Kontrolle, militärische und internalisierte Disziplin sowie soziale Integration in die Gemeinschaft der wahren Christen waren miteinander verflochten. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass der König und die Pietisten von ihren Feldpredigern nicht die Durchsetzung äußerer Disziplin erwarteten, sondern sie als Geistliche ansahen, nicht als Offiziere. Feldprediger hatten während der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm I. nur wenig oder gar nichts mit äußerer militärischer Disziplin zu tun und predigten weder Patriotismus noch Tapferkeit. Obwohl aus den Briefen von Feldpredigern deutlich wird, dass sie um die Laster der Soldaten wussten und den Übeltätern ins Gewissen redeten, gab es in der preußischen Armee keine moralische Kontrolle wie etwa in Calvins Genf. Der König erwartete, dass Feldprediger den preußischen Soldaten innere Disziplin vermittelten, damit sie die Disziplin, welche ihre Vorgesetzten durchsetzen wollten, internalisierten. Die Feldprediger und König Friedrich Wilhelm I. aner35
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Fritz Redlich, The German Military Enterpriser and His Work Force: A Study in European Economic and Social History, vol. 2, Wiesbaden 1965, S. 186. Ebd., S. 212. Sikora, Disziplin und Desertion (wie Anm. 33). Vgl. Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können. Hrsg. im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs von Angelika Dörfler-Dierken und Matthias Rogg, Delitzsch 2014 (= Schriften der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr), zum soldatischen Selbstbild eindrücklich S. 18 f. Willerd R. Fann, Peacetime Attrition in the Army of Frederick Wilhelm I, 1713-1740. In: Central European History, 11 (1978), S. 323-334, hier S. 327. Ebd., S. 326.
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kannten nur denjenigen Soldaten als Christen, der im Sinne des Pietismus bekehrt bzw. wiedergeboren war, denn nur der würde aus innerer Disziplin treu sein. Übeltäter unter den Soldaten sollten sich durch ihr eigenes Gewissen und die Furcht vor Gott bestraft fühlen. So sollten sie sich selbst disziplinierende Soldaten werden, ganz wie Feldprobst Gedicke es dem König versprochen hatte. Die Gleichsetzung der weltlichen mit der göttlichen Obrigkeit diente dazu, den Soldaten die Internalisierung von Pflicht, Gehorsam und Treue nahezubringen. Auch die erzwungene Teilnahme der Soldaten an den Veranstaltungen der Militärgeistlichen wirkte sowohl äußerlich als auch innerlich disziplinierend. Zugleich aber boten die Feldprediger durch die Integration der Soldaten in die Gemeinschaft der »wahren« Christen die Chance zu einem neuen Selbstbild, das positive Folgen für die militärische Disziplin hatte. Die Wirkung der Feldprediger ist schwer abzuschätzen. Friedrich Wilhelm I. und der innere Kreis der Pietisten waren im Allgemeinen mit dem Großteil der Feldprediger zufrieden. Der Altmeister der Forschung zu »Pietismus und Militarismus im Alten Preußen«, Carl Hinrichs, hat die Leistung der Feldprediger hoch geschätzt: »Es war eine oft über Menschenkraft hinausgehende Aufgabe, die den Feldpredigern gestellt war: eine zum Teil aus Widerwilligen und Asozialen bestehende militärische Gemeinde, deren äußere Zucht schon nur mit barbarischer Disziplin aufrechterhalten werden konnte, zum Begreifen einer sittlichen Ordnung zu führen.«41 Das kann nicht bestritten werden. Die Feldprediger selbst haben immer wieder das Gefühl mangelnder Wirksamkeit und Nutzlosigkeit ihrer Arbeit beklagt. Wenn sie von Erfolgen berichten, dann ging es immer um die Rettung einzelner Soldatenseelen oder um die Einrichtung von Konventikeln42 für eine Handvoll Soldaten. Die weit überwiegende Mehrzahl der Soldaten, Tausende im Unterschied zu wenigen, blieben von der pietistischen Militärseelsorge unberührt und waren nicht beteiligt an solchen Aktivitäten. Objektiv betrachtet konnten die Feldprediger nur eingeschränkt Kontakt mit ihren Gemeindemitgliedern aufnehmen – schon allein aufgrund der Größe der Militärkirchengemeinden: Ein Regiment zu Fuß war typischerweise 2000 Mann stark; dazu kamen mindestens so viele Angehörige der Soldaten, die auch zur Militärkirchengemeinde gehörten. Ein Regiment zu Pferde bestand zwar aus weniger Soldaten, war aber meist über mehrere Garnisonen verstreut, sodass die Feldprediger manche Außenposten nur halbjährlich besuchen konnten. Zudem unterschied sich die disziplinierende Wirksamkeit der Feldprediger von Regiment zu Regiment aufgrund der stark variierenden Kooperationsbereitschaft der Offiziere. Und natürlich waren auch die Feldprediger selbst nicht alle gleich engagiert und pflichtbewusst. Friedrich Wilhelm I. und die Pietisten haben schrittweise die Auswahl, Aufsicht und Disziplinierung der Feldprediger geregelt und verbessert – aber das war ein Disziplinierungsprozess ganz anderer Art.43
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Hinrichs, Pietismus und Militarismus im Alten Preußen (wie Anm. 5), S. 162 f. Konventikel werden kleine Gruppen wiedergeborener Christen genannt, die sich regelmäßig zu geistlichen Aktivitäten versammeln, um sich gegenseitig im Glauben zu stärken. Vgl. Marschke, Absolutely Pietist (wie Anm. 1), S. 92-116.
Gabriele Bosch
Der »gute« Soldat. Entstehung und Charakteristika protestantischer Militärethik
Was wie ein gut eingeführter Topos klingt, ist es bei näherer Betrachtung keineswegs. Denn »Der gute Soldat« ist kein gängiger Buchtitel oder ethisch-moralischer Fachbegriff. Der Bestsellerautor John LeCarré veröffentlichte 1991 einen Spionagethriller mit dem Titel »Ein guter Soldat«.1 Und auch im Titel der tschechischen Originalausgabe des Schelmenromans von Jaroslav Hašek ist vom »guten« Soldaten Švejk die Rede (»Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války«), bevor der Held in der Übersetzung zum »braven« Soldaten wurde.2 Diese Beispiele lassen schon die Fragilität der Figur des »guten« Soldaten durchscheinen. Gleichwohl ist jedem einsichtig, dass Soldatinnen und Soldaten im ethischen oder moralischen Sinne »gut« handeln müssen, wenn sie nicht Schuld und Strafe – sowohl vor internationalem Recht und Gesetz als auch vor der Öffentlichkeit und vor sich selbst – auf sich ziehen wollen. Gibt es eine reformatorische Ethik und speziell eine evangelisch geprägte Militärethik? Unterscheiden sich militärethische Konzepte je nach konfessioneller Prägung des Autors – oder nach der religiösen Prägung der Soldaten, die angesprochen werden sollen? Was ist überhaupt Militärethik? Im Vorfeld meiner Recherchen meinte ich davon ausgehen zu können, dass ein Blick in die einschlägigen Lexika und Wörterbücher die Lösung bringen würde.3 Tatsächlich beginnen die Probleme schon damit, dass der Forschende immer wieder auf Max Weber verwiesen wird, wenn protestantische Ethik definiert werden soll. Eine Definition des Gegenstands »Militärethik« kann sich aber gewiss nicht in der populären Gleichsetzung mit calvinistischem Arbeitsethos erschöpfen. Webers Untersuchung »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« 1
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Der Titel der englischen Originalfassung lautet »The Unbearable Peace« (London 1991). Es handelt sich in John LeCarre, Der gute Soldat, Köln 1991, um eine Reportage über einen Schweizer Offizier, der erpresst wird, um für den sowjetischen Geheimdienst zu arbeiten. Vgl. den Titel der Neuübersetzung: Jaroslav Hašek, Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg (1921), Stuttgart 2014. In den einschlägigen theologischen Nachschlagewerken – Lexikon für Theologie und Kirche (LThK) und Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) – findet sich das Lexem »Militärethik« weder in den alten noch in den neuesten Ausgaben. Der erste Buchtitel, in dem das Stichwort Militärethik verwendet wird, stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts: Emil Dangelmaier, Militär-rechtliche und militär-ethische Abhandlungen. Mit Berücksichtigung der Gesetzgebung Österreich-Ungarns, Deutschlands, Frankreichs und Italiens, Wien 1893.
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(1904/05) postuliert ein spezifisch protestantisches Arbeitsethos, das sich der ständigen Introspektion der in ihrer Heilsgewissheit verunsicherten Subjekte verdanken soll.4 Lässt sich der Gedanke auf Soldaten und gegebenenfalls neuerdings auch auf Soldatinnen übertragen? Ein Oberstleutnant im Generalstab der Schweizer Armee und evangelischreformierter Theologe unserer Tage, Dieter Baumann, definiert Militärethik so: »Militärethik beschreibt, analysiert und beurteilt bzw. rechtfertigt militärische Institutionen, Handlungen und das damit verbundene soldatische Verhalten unter einem ethischen Gesichtspunkt [...], definiert Maßstäbe des Handelns, Verhaltens und der Haltung von Militärpersonen, bildet diese Maßstäbe soldatenorientiert aus.«5 In Baumanns Buch findet man leider keine historische Herleitung oder Geschichte des Begriffs »Militärethik«. Seine Definition wirkt sehr modern und überkonfessionell. Im Folgenden will ich in zwei Schritten, der eine kürzer, der andere länger, von einer protestantischen Ethik zu einer protestantischen Militärethik gelangen. Zuerst ist zu fragen, was heute (im Unterschied zu früher) unter protestantischer Militärethik verstanden wird, dann danach, wer Militärethik vermittelt. Abschließend formuliere ich meinen Vorschlag für ein modernes Verständnis einer spezifisch lutherischen Militärethik.
Was ist protestantische Militärethik? Max Weber verwendete den Begriff »protestantische Ethik« um zu erklären, wie der Calvinismus mit seiner Prädestinationslehre die Wirtschaftsform des modernen Kapitalismus befördert hat. Dabei geht er auch auf Luther ein, der ein wirkmächtiges Berufsethos geschaffen habe, indem er Beruf von Berufung ableitete. Dem Gedanken »Beruf als Berufung« ordne Luther auch den Soldatenberuf zu. Der Reformator erhob generell keine Einwände gegen die damals vorherrschende Unterscheidung eines gerechten oder gerechtfertigten Krieges von einem ungerechten. Manche Theologen und Laien des sogenannten linken Flügels der Reformation, darunter Täufer und Schwärmer, vertraten radikalpazifistische Auffassungen und lehnten den Soldatenberuf ab (vgl. den Beitrag von Astrid von Schlachta in diesem Band). Andere sogenannte Linksreformatoren unterstützten aufrührerische Tendenzen und rechtfertigten den Waffeneinsatz, so etwa Thomas Müntzer, der von 1524 an die Bauern zu Aufständen verleitete und den Bauernkrieg im Thüringischen anheizte und anführte. Luthers Ausführungen zu Krieg und Soldat lassen sich in folgenden Grundaussagen zusammenfassend skizzieren6: 4
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Es handelte sich zunächst um zwei Aufsätze, veröffentlicht im Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd 20 und 21 (I. Das Problem, 1904; II. Die Berufsethik des asketischen Protestantismus, 1905). Dieter Baumann, Militärethik. Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2007, S. 135 f. Vgl. dazu die kommentierte Ausgabe Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können [kurz: Kriegsleuteschrift]. Hrsg. im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs
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– Das weltliche Regiment wird mit menschlicher Vernunft ausgeübt, das entspricht Gottes Auftrag und Ordnung. – Die Obrigkeit hat die Pflicht, ihre Untertanen gegen Angriffe zu schützen. – Niemand soll Richter oder Rächer in eigener Sache sein. – Wer Krieg oder Aufstand anfängt, ist im Unrecht. – »Kriegsleute« (damals Soldknechte, Söldner, Condottieri, vgl. den Beitrag von Reinhard Baumann in diesem Band) sind in einem legitimen, gerechten Krieg Werkzeuge der von Gott gewollten und eingesetzten Obrigkeit. Sie sollen demütig, aber unverzagt kämpfen. – Soweit ein Unrecht den einzelnen Christen betrifft, muss es geduldig erlitten werden. Betrifft das Unrecht seinen Nächsten, muss der Christ diesem aktiv beistehen. Das kann den Einsatz von Gewalt notwendig machen. – Amt und Tun des Soldaten entsprechen dem Willen Gottes. – Es kommt bei der Amtsausübung auf die richtige Grundhaltung des Soldaten an. – Der Soldat darf Sold nehmen, denn das Soldatenhandwerk ist ein nötiger Stand und Beruf. Das Geld darf jedoch nicht der wichtigste Antrieb sein, den Beruf zu ergreifen. – Krieg soll nicht ständiges Erwerbsmittel sein. – Krieg darf nur um des Friedens willen geführt werden, nicht aus Rache oder Gier. – Der Soldat ist ein »Arzt« am »Weltleib«, indem er das Unrecht wie ein böses Geschwür herausschneidet. Luther betont in seinen Schriften die Bedeutung der Obrigkeit für Frieden und Sicherheit, was wir modern »staatliches Gewaltmonopol« nennen würden.7 Ein Passus in seiner Schrift »Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können« wird allerdings oft überlesen. Luther wirft nämlich mit herausfordernden Worten die Gewissensfrage auf: Was soll der Soldat tun, wenn er in einen ungerechten Krieg geschickt wird? In diesem Fall, so rät Luther, soll der Mensch Gott mehr gehorchen als den Menschen. Er soll weder mitkämpfen noch seinem Herrn dienen, auch wenn er seinen Sold oder gar sein Leben verlöre wegen seiner Verweigerung des Kriegsdienstes.8 Denn in ungerechten Kriegen gibt es keinen Befehlsnotstand, da ist Desertion die Gott wohlgefällige Option.9 Im Zweifelsfall, wenn er nicht beurteilen kann, ob sein Befehl zum Ausrücken recht oder unrecht ist, soll sich der Soldat für den Gehorsam gegenüber seiner Obrigkeit entscheiden.10
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von Angelika Dörfler-Dierken und Matthias Rogg, Delitzsch 2015 (ursprünglich 1526 während des Höhepunkts der Bauernkriege erschienen). Vgl. Volker Stümke, Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik, Stuttgart 2007 (= Theologie und Frieden, 34), S. 493. Stümke verweist darauf, dass die Trennung von Politik und Religion bei Luther sowohl Religionskriege als auch Ketzerverfolgung unmöglich macht. Sollten die Kriegsziele oder die Absichten der Machthaber illegitim sein, ist Fahnenflucht die einzig richtige Konsequenz für den Soldaten. Auf die Frage, wie sich das in der späteren Homiletik und Pastoraltheologie der protestantischen Theologen ausgewirkt hat, ist im Folgenden noch einmal zurückzukommen. Luther, Kriegsleuteschrift (wie Anm. 6), S. 69. Vgl. Baumann, Militärethik (wie Anm. 4), S. 262. Luther, Kriegsleuteschrift (wie Anm. 6), S. 75.
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Dieser Aufruf zum Ungehorsam hat eine Rezeptions- und Wirkungsgeschichte bis in den militärischen Widerstand des 20. Juli 1944 hinein, die allerdings noch nicht erschöpfend aufgearbeitet ist (vgl. den Beitrag von Roger Töpelmann in diesem Band). In der Linie von Luthers Argumentation stellen auch die Bekenntnisschriften der Evangelischen Kirche die evangelische Lehre dar. In der »Confessio Augustana« von 1530 besagt Artikel 16, dass Kriege auf rechtmäßige Weise geführt werden können. »Iure bellare«, wie es im lateinischen Original heißt, ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Begriff »bellum iustum«, gerechter Krieg. Angriffskriege und Religionskriege liegen außerhalb des »iure bellum«, so der frühere Ratsvorsitzende der EKD und langjährige Bischof von Berlin-Brandenburg Wolfgang Huber.11
Wer vermittelt protestantische Militärethik? Wie gelangen die Grundüberzeugungen evangelischer Militärethik zu den Menschen, den Staatsbürgern in Uniform und denen in Zivil, in Politik und Gesellschaft? Diese Frage schließt die gesamte abendländische philosophische und religiöse Tradition ein. Bei der Suche speziell nach Vermittlungs- und Lehrinstanzen für ethische Grundsätze in die Streitkräfte hinein kommt insbesondere eine Personengruppe in den Blick: die Feldprediger. Sie versorgten als konfessionell ausgebildete Theologen die Soldaten aller Dienstgrade nicht nur mit Gottesdiensten und Seelsorge, sondern sie unterrichteten und lehrten Soldaten in den Garnisonen ebenso wie im Feldlager, also während der Manöver und Kriegseinsätze. Vor allem in Brandenburg-Preußen entwickelte und etablierte sich nach dem Dreißigjährigen Krieg ein beeindruckendes System von Soldatenbetreuung und -erziehung durch Feldprediger.12 Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, auch »der Große Kurfürst« genannt, baute erstmals für seine Lande ein stehendes Heer auf – analog zu fast allen deutschen Territorien in der Frühen Neuzeit. Das Heer wuchs in Brandenburg so rasant, dass es bereits 1655 eine Stärke von 26 800 Mann hatte.13 1656 erließ Friedrich Wilhelm den »Articuls-Brieff 11
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Wolfgang Huber, Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik (1), EKD-Texte, Jahresarchiv 2004, Vortrag vom 28.4.2004 in Potsdam, (letzter Zugriff 3.12.2018). Vgl. Militär und Religiosität in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Michael Kaiser und Stefan Kroll, Münster 2004 (= Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit, 4); Militärische Erinnerungskulturen vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Träger, Medien, Deutungskonkurrenzen. Hrsg. von Horst Carl [u.a.], Göttingen 2012 (= Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 15); Hartmut Rudolph, Das evangelische Militärkirchenwesen in Preußen. Die Entwicklung seiner Verfassung und Organisation vom Absolutismus bis zum Vorabend des I. Weltkrieges, Göttingen 1973; Otto Strauß, Die evangelische Seelsorge bei dem Kriegsheer, Berlin 1870; Erich Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 1: Bilder aus dem kirchlichen Leben der preußischen Armee älterer Zeit; Teil 2: Das brandenburgisch-preußische Feldpredigerwesen in seiner geschichtlichen Entwickelung [sic] Halle 1888, 1890; Helmut Risch, Der kurbrandenburgisch-preußische Feldprediger und seine Bedeutung für das Heer 1655-1806, Teil 1-2, Jena 1942. Risch, Der kurbrandenburgisch-preußische Feldprediger, Teil 2, (wie Anm. 12), S. 4.
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Abb. 1: Titelblatt der Kriegsordnung des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, erlassen 1656, hier in einer Ausgabe von 1672. ZMSBw
oder Brandenburgische Kriege-Recht«. Hier heißt es (§ 4): Morgens und abends seien Gottesdienste im Lager abzuhalten. Kein Soldat dürfe fernbleiben. So gab es seit 1655 einen ständigen Garnisonprediger bei der kurfürstlichen Leibgarde. 1655 kann somit als Geburtsjahr des preußischen Feldpredigers gelten.14 In dieser Kriegsordnung werden auch Missstände bei den im Heer tätigen Theologen angesprochen: So sollen die Feldprediger nicht im trunkenen Zustand predigen. Und sie sollen so leben, wie sie predigen. Gerade im Heer könne es keine Toleranz für Gottlose, Zauberer und Teufelsanbeter geben15 (vgl. den Beitrag von Jobst Reller in diesem Band). Soldaten, die nicht am Gottesdienst teilnehmen, werden Haftstrafen angedroht, sogar die Hinrichtung durch Strang oder Schwert!16 Zu dieser Zeit gab es noch keine Regelungen, wie Feldprediger zu berufen, zu 14 15
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Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 2 (wie Anm. 12), S. 11. Benjamin Marschke, Institutionalisierung der Militärseelsorge Preußens. In: Militär und Religiosität in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 12), S. 249-275. Risch, Der kurbrandenburgisch-preußische Feldprediger (wie Anm. 12), Teil 2, S. 10 f.
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prüfen oder zu ordinieren seien. Aber jedes Regiment erhielt einen Feldprediger, größere Regimenter bis zu drei.17 Die Stellung des Predigers im Regiment entsprach der eines Feldschers, Regimentsbarbiers oder Feldschreibers.18 Sie wurden vom Regiments- oder Garnisonkommandanten berufen. Mit Stellung und Besoldung waren die Feldprediger durchweg unzufrieden. Das Amt galt aber als Durchgangsstation zu einer attraktiven Zivilstelle. Erfahrungen und Erlebnisse der Feldprediger älterer Zeit findet man in Tagebuchaufzeichnungen, Feldprediger-Magazinen und amtlichen Schriftstücken.19 Der Große Kurfürst wollte aus angeblich verwegenen, rauen Gesellen und oftmals »gottlosen« Kriegern »gute« Soldaten machen. Die geistlich-sittliche Erziehung sollte durch religiöse – sprich: christliche – Unterweisung verwirklicht werden.20 Deswegen behandeln die ersten sieben Artikel des »Articuls-Brieffs« Fragen der Frömmigkeit. Man muss bedenken, dass der Kurfürst selbst Calvinist war und einen calvinistischen Hofprädikanten hatte. Allerdings stellten er und die Calvinisten an seinem Hof sowie im Land die Minderheit dar. Die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung seiner Territorien war lutherisch geprägt. Als der Kaiser 1685 an der Donau gegen die Türken kämpfte, entsandte der Kurfürst Hilfstruppen nach Ungarn, begleitet von Feldpredigern, die evangelische Gottesdienste nach lutherischem Ritus zu halten hatten.21 Unter Kurfürst Friedrich III., der als König 1701 den Namen Friedrich I. annahm, gab es 1692 die erste schriftliche Instruktion für Feldprediger. Sie gilt als älteste preußische Militärkirchenordnung.22 1704 ließ Friedrich I. eine Schrift aus dem Englischen übersetzen, unter dem Titel »Treuhertziger Unterricht vor Christliche Kriegsleute« drucken und in 5000 Exemplaren an seine Soldaten verteilen.23 1711 erließ er das Militär-KonsistorialReglement und schuf die Institution des »Militär-Consistoriums«, das aus dem 1692 geschaffenen Feldkonsistorium hervorgegangen war. Zur großen Blüte des Feldpredigerwesens kam es unter König Friedrich Wilhelm I., der auch Soldatenkönig genannt wird. Er war ebenfalls Calvinist, besuchte aber regelmäßig lutherische Gottesdienste, meist solche von pietistisch geprägten Theologen, und nahm auch an pietistischen Gebetsstunden teil. 1694 war in Halle die Universität gegründet worden. Sie galt als wichtigste Neugründung einer deutschen Universität nach dem Dreißigjährigen Krieg. Dort sollte die Elite des Landes ausgebildet werden, die den absolutistischen Staat verwalten und geistig-geistlich prägen sollte. So verbanden sich in Halle Frühaufklärung und Pietismus zu einer faszinierenden Mischung. Der Pietismus konnte politisch ins preußische Denken und politische Handeln integriert werden, weil er einerseits gegen die lutherische Orthodoxie opponierte, andererseits aber kirchentreu blieb. 17 18 19
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Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 2 (wie Anm. 12), S. 7. Marschke, Institutionalisierung (wie Anm. 15), S. 252. Angela Strauss, Kollektive Kriegserfahrung Preußischer Feldprediger. Vaterlandsliebe und Nutzbarkeitsgedanken in Handbüchern. In: Geistliche im Krieg. Hrsg. von Franz Brendle und Anton Schindling, Münster 2009, S. 163-180. Dieses Argument vertritt am pointiertesten Rudolph, Das evangelische Militärkirchenwesen (wie Anm. 12), S. 41. Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 2 (wie Anm. 12), S. 23. Marschke, Institutionalisierung (wie Anm. 15), S. 254. Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 2 (wie Anm. 12), S. 43.
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Der Pietismus forderte eine strenge Arbeitsdisziplin, innere Hingabe und Askese, versuchte die Vermittlung von objektivem Wissen und subjektivem Glauben.24 Er war nicht militärkritisch ausgerichtet (vgl. dazu den Beitrag von Benjamin Marschke in diesem Band). Deshalb verband König Friedrich Wilhelm I. die Werte des Pietismus mit seinem preußischen Wertekanon, zentralisierte und bürokratisierte das Feldpredigerwesen und legte fest, dass alle Feldprediger mindestens zwei Jahre an der Universität Halle zu studieren hatten. Der Hallenser Theologieprofessor und Pfarrer August Hermann Francke nutzte seinen Mittelsmann Carl Hildebrand Freiherr von Canstein in Berlin, um Feldpredigerposten mit den »richtigen« Männern zu besetzen. Bis etwa 1730 funktionierte das pietistische Netzwerk in das preußische Feldpredigerwesen hinein nahezu perfekt.25 Lampertus Gedicke wurde 1716 erster Garnisonprediger und Feldinspektor, 1717 stieg er zum ersten preußischen Feldpropst in Berlin auf. Er war auch der Bearbeiter der ersten preußischen Militärgesangbücher. In Berlin mussten die angehenden Feldprediger vom Feldpropst geprüft werden. Feldprediger hatten vierteljährlich Predigten in schriftlicher Form einzureichen und einmal jährlich eine Predigt zu einem vorgegebenen Thema abzugeben. Die Regimentskommandeure wurden angehalten, einmal im Jahr einen Bericht über die Feldprediger abzufassen und an den Feldpropst zu schicken. Der Feldprediger erhielt eine vollständige Priesterbekleidung, gutes Reisehabit, Leinen und Bettzeug, Pferd und Wagen sowie einen Diener, der für ihn und das Pferd zu sorgen hatte. Folgende Schriften sollte er stets mit sich führen: mehrere Bibeln und Gesangbücher, ein homiletisches lutherisches Dogmatiklehrbuch, ein Kirchenhandbuch mit Katechismus, zudem Landkarten, Schreibkalender und Schreibtafeln. Der Feldprediger hielt täglich Gottesdienste, unterrichtete aber auch Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere, unter anderem im Katechismus und im Lesen und Schreiben.26 »Der Feldprediger ist [ein] Redner auf der Canzel, oder vor der Trommel, [...] Unterweiser, Erwecker, und Tröster bey Krankenbetten, [...] Katechet, Aufseher der Schulen, [...] Militärischer Historiograph, [...] Dichter und [...] Verfasser eines Tagebuchs.«27 Zu seinem eigenen Studium sollte er die Morgen- und Abendstunden nutzen. Am Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. hatte die preußische Armee bereits die beeindruckende Friedensstärke von 66 000 Soldaten. Unter Friedrich II. stieg die Zahl auf 166 000 Soldaten in Friedens- und auf 200 000 Mann in Kriegszeiten an. Somit waren etwa vier Prozent der Gesamtbevölkerung preußischer Lande Soldaten. In Berlin waren 1786 von 147 390 Einwohnern 60 677 Militärangehörige oder deren Familienmitglieder.28 Friedrich II., selbst religiös neutral, oder wie Jürgen Habermas sagen würde: religiös unmusikalisch, wusste um den Wert der Religion, vor allem um in seiner Armee das Soldatenethos geist24
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Rainer M. Lepsius, Die pietistische Ethik und der »Geist« des Wohlfahrtstaates oder: Der hallesche Pietismus und die Entstehung des »Preußentums«. In: Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle an der Saale 1995. Hrsg. von Lars Clausen, Frankfurt a.M. [u.a.], S. 110-124. Marschke, Institutionalisierung (wie Anm. 15), S. 266 f. Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 2 (wie Anm. 12), S. 15 und S. 42. Carl Daniel Küster, Feldprediger-Magazin für die, welche jetzt Feldprediger sind, ehemals waren, und künftig werden wollen [...], Stendal 1793, Teil 1, S. 2-4. Rudolph, Das evangelische Militärkirchenwesen (wie Anm. 12), S. 34.
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lich-geistig auszufüllen und zu legitimieren. Friedrich II. instrumentalisierte den christlichen Glauben, um Ruhe und Ordnung im Staat und im Militär aufrechtzuerhalten, was üblicherweise mit dem Begriff »Sozialdisziplinierung« bezeichnet wird. Er selbst besuchte kaum normale Sonntagsgottesdienste, schrieb aber seinem Kultusminister Karl Abraham von Zedlitz, dass die evangelische Religion die beste und jedenfalls weit besser als die katholische sei.29 Friedrich pflegte und unterstützte kirchliche Stiftungen und achtete darauf, dass die Feldpredigerposten mit tüchtigen Leuten besetzt wurden. Auf den Schultern der Feldprediger lag auch die Last der Schulausbildung in den Garnisonschulen. Friedrich II. war der Meinung, es könne gute, christliche Prediger nur geben, wenn diese besser in Sprachen und Philosophie unterrichtet würden. Im Gespräch mit Voltaire und anderen französischen Aufklärern schimpfte er auch schon einmal auf die protestantischen Prediger und nannte sie »dumme Pietisten und Heuchler«, die vor allem nicht helle genug denken könnten.30 Der König ärgerte sich über Feldprediger, die ihr Ansehen bei den Offizieren verloren hatten, weil sie mit ihnen Karten spielten, Brüderschaft tranken und sich als »Lustigmacher« gaben.31 Der absolutistische Staat brauchte das Christentum, denn es half, die innere Ordnung in der Truppe zu festigen und den Menschen, vor allem den Soldaten, den Gehorsam der Obrigkeit gegenüber als göttliches Gebot einzuprägen. In dieser Zeit zogen Philosophie, Rationalismus und damit die Aufklärung in die Theologie ein. Das wirkte sich auf die Ausbildung und Amtsausübung der Feldprediger aus. Unter Friedrich II. etablierte und entfaltete sich das zentralistische Militärkirchenwesen Preußens als ein imposantes System32, auch wenn Friedrich schon mal polterte: »Empfehle er seinem bisherigen Feldprediger nur, daß er die künftigen Priester besser unterrichtet, als es von so vielen butten [stumpfen] Professoren geschieht. Die Studenten müssen zuvörderst Locke’s und Wollf ’s Philosophie studieren und dann erst die Theologie verstehen und prüfen lernen, sonst werden sie Saalbader [sic].«33 In den Feldprediger-Magazinen vom Ende des 18. Jahrhunderts erhält man rückblickend einen Sittenspiegel des friderizianischen Militärs aus der Innenschau. So schreibt ein theologischer Schriftsteller jener Tage: »Eine Armee ist heutzutage, leider! fast nicht anders anzuschauen, als eine Pfütze, darin aller Laster zusammenfließen. Da ist Raub, Mord, Unzucht, Meineid, Fluchen, Gotteslästern, Saufen, Schwelgen, Verachtung des göttlichen Worts u.s.w. anzutreffen. Das kommt denn vornehmlich daher, weil insgeheim nur solche Leute Kriegsdienste annehmen, die entweder Eltern oder Herren ungehorsam sind und nicht folgen wollen, oder die ein Bubenstück begangen haben und der Strafe der ordentlichen Obrigkeit entgehen wollen 29 30 31 32 33
Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 2 (wie Anm. 12), S. 151. Ebd., S. 155. Ebd., S. 156. Marschke, Institutionalisierung (wie Anm. 15), S. 273 f. Diese Empfehlung richtete der König an Generalfeldmarschall Kurt Christoph Graf von Schwerin, als dessen Feldprediger Johann Gottlieb Töllner diente, der 1756 eine Professur für Theologie an der Universität in Frankfurt/Oder erhielt. Zit. nach Risch, Der kurbrandenburgisch-preußische Feldprediger (wie Anm. 12), Teil 2, S. 123. Ein Salbader ist ein frömmelnder Schwätzer.
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und alsdann in den Krieg als in eine Freistatt aller Schanden und Laster laufen, oder die aus Faulheit nichts gelernt haben, auch nichts lernen noch arbeiten wollen.«34 Das preußische Heer schien in der Mitte des 18. Jahrhunderts »einer Ablagerung sämmtlicher Vagabonden des Landes und einem Gefängnüß ähnlicher zu werden, als einer Gesellschaft von Kriegern, welche jeden Augenblick bereit wären, Leib und Leben für ideale Güter daran zu setzen.«35 In dieser Situation galt das Feldpredigeramt als ein äußerst schwieriger und auch gefährlicher Stand.36 In den Militärkirchenbüchern findet man Einträge von Soldaten, die nicht zum Abendmahl zugelassen wurden; als Grund wurde eingetragen: »Säufer« oder »Unzüchtiger« oder »Spötter«. Auch Eintragungen wie »kann nicht lesen«, »hat den Katechismus nicht inne«, »kann ihn so so« oder »Kann den Katechismus so so, aber vor vielem Lachen weiß er nichts«.37 Im 18. Jahrhundert entstanden auch diverse Soldatenkatechismen und Gebetbücher mit Titeln wie »Tapfere Soldatengabe«, »Christliche Kriegsgebete«, »Geistliche Schildwache«, »Geistliche Feldschlacht«, die einer theologischen, soziologischen und ethischen Untersuchung noch harren. Ihr Gehalt in Bezug auf die sich in ihnen spiegelnden moralischen, religiösen und ethischen Wertvorstellungen ihrer Zeit sollte ergründet werden, um die Entstehung einer protestantischen Militärethik differenziert nachzeichnen zu können. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung, dass seit dem 18. Jahrhundert die ethische Ausbildung der Soldaten sowohl in Deutschland wie auch in anderen Ländern in den Händen der Militärseelsorger lag. Der Typus des protestantischen Feldpredigers manifestierte sich in einer Art Uniform: In friderizianischer Zeit trugen die Pfarrer kurzes gekräuseltes Haar, einen seidenen schwarzen Mantel mit blau-weißem Kragen oder Beffchen, seidene Strümpfe – alles in Anlehnung an die Tracht der französischen Abbés.38 Das sind jedoch Äußerlichkeiten in diesem fast »störungsfreien technisch-rational funktionierende[n] System«.39 Die Loyalität zur Obrigkeit bzw. zum Staat drückt sich in der Feldpredigerliteratur deutlich aus. Ein Widerstandsrecht wird nicht gepredigt. Die Nähe zum Militärischen wird immer wieder thematisiert, wenn z.B. gefragt wird, ob der Feldprediger eine Waffe tragen darf, von der Kriegsbeute etwas bekommt oder seinem Regiment in die Gefangenschaft folgt.40 34 35 36
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Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 1 (wie Anm. 12), S. 1 f. Ebd., S. 2. In Küster, Feldprediger-Magazin (wie Anm. 27), findet man die Herausforderungen, gegen die Feldprediger anzupredigen hatten, so u.a. gegen die Desertion: »Der Knecht, welcher davonläuft, ist ein schlechter Kerl. Er muß, wie Kain unstät und flüchtig seyn, und immer fürchten, daß er wieder gekriegt, und billig hart gestraft wird« (S. 125). Ein ganzes Kapitel befasst sich mit der Selbstmordgefahr unter Soldaten (S. 123 f.). Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 1 (wie Anm. 12), S. 4. Angela Strauss, Erinnern an den vergangenen, Beten für den gegenwärtigen Krieg. Kriegserinnerungen preußischer Militärgeistlicher in der Aufklärungszeit. In: Militärische Erinnerungskulturen (wie Anm. 12), S. 211-226, hier S. 216 f.; Schild, Der Preußische Feldprediger, Teil 1 (wie Anm. 12), S. 38. Rudolph, Das evangelische Militärkirchenwesen (wie Anm. 12), S. 41. Vgl. Pastorale Castrense. Oder Nützlich- und treuer Unterricht Vor neu-angehende FeldPrediger, vorgelegt von Johann Ludwig Hocker, Ansbach 1770.
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Regierungskritische Töne in preußischen Predigten zur Zeit Friedrichs II. zu finden, ist kaum möglich. Allenfalls kann man etwa einer Dankpredigt des Berliner Hofpredigers August Friedrich Wilhelm Sack zur Eroberung von Neiße 1741 eine sehr vage formulierte Kritik an Friedrich II. entnehmen, wenn Sack sagt, dass Sieger in einer Schlacht erst dann zu Helden werden, wenn sie Gott angemessen für seinen Beistand danken und ihn loben. Den Zeitgenossen war Friedrichs Distanz zum christlichen Glauben durchaus bewusst.41
(Protestantische) Militärethik heute Der Protestantismus lutherischer Prägung wertete die tägliche Arbeit sittlich auf: Der Beruf und somit auch der Soldatenberuf wurden zur Lebensaufgabe und Lebenserfüllung . Berufsarbeit ist nach Luther ein Modus der Heiligung. Durch pietistische Einflüsse verstärkt, entwickelte sich eine preußische Militärethik, deren Kern ein soldatisches Entbehrungsethos war, das sich in der Wertschätzung karger Lebensbedingungen in den Streitkräften äußerte. Dazu kam die Verherrlichung von Tugenden wie Härte gegen sich selbst und andere. Die Disziplin des Heeres gilt als Nukleus der Disziplin überhaupt – das hatte schon Max Weber so behauptet.42 Das Ethos des Dienens (anschaulich im Begriff »Staatsdiener« oder »für den König, erster Diener des Staates«) und der Pflicht gelten als die wichtigsten protestantisch-preußischen Soldatentugenden. Dazu kommen Gehorsam, Treue, Disziplin, Anstand, Pflicht, Wahrhaftigkeit, Ehre und Opferbereitschaft. Dass die genannten Tugenden zu Sekundärtugenden verkommen können, haben die Deutschen und alle, die von 1933 bis 1945 unter ihnen leiden mussten, bitter erfahren. Das ist die eine Seite. Dass lutherisch geprägte Widerstandskraft auf der anderen Seite ein Movens für protestantische Widerstandskämpfer wie jene des 20. Juli 1944 war, ist wahrscheinlich.43 Seit den 1970er Jahren entwickelten sich in der angewandten Ethik sogenannte Bereichs- und Berufsethiken wie Medizinethik, Wirtschaftsethik, Ethik in Erziehung und Bildung usw.44 Als eine solche Berufsethik für Soldatinnen und 41
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Vgl. Johannes Birgfeld, Kirche und Krieg im 18. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis Kriegspredigt, Kriegsgebet, Staat und Literatur. In: Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien. Hrsg. von Stefanie Stockhorst, Hannover 2015, S. 525-544. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Hrsg. von Edith Hanke (= Max-Weber-Gesamtausgabe, Abt. 1: Schriften und Reden, 4), S. 556. Christlich motivierten Widerstand gab es auch in der DDR, wenn Bausoldaten den Militärdienst mit Waffen verweigerten. Vgl. Horst Scheffler, »Zum Friedensdienst der Kirche«. Anmerkungen zur Handreichung für die Seelsorge an Wehrpflichtigen und zum Verhältnis von Kirche und Militär in der DDR. In: Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Hans Ehlert und Matthias Rogg, Berlin 2004 (= Militärgeschichte der DDR), S. 607-623. Vgl. Hartwig von Schubert, Integrative Militärethik. Ethische Urteilsbildung in der militärischen Führung, Berlin 2015 (= Standpunkte und Orientierungen, 5), S. 84. Der Autor verweist darauf (S. 92 f.), dass eine militärische Ethik zuerst Sache von Offizieren und
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Abb. 2: Preußischer Feldprediger zur Zeit Friedrichs des Großen, gezeichnet von Adolph Menzel. ZMSBw
Soldaten ist die Konzeption der Inneren Führung anzusehen. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen, im bewussten Bruch mit der skizzierten preußisch-protestantischen Fehlentwicklung lutherischer Ethik (vgl. den Beitrag von Angelika Dörfler-Dierken in diesem Band). Unbestritten ist, dass ein ethischer Referenzrahmen zur Beurteilung militärischen Handelns von großer Bedeutung ist. Wichtige Träger und Vermittler der Ethik in den deutschen Streitkräften sind die beiden großen Kirchen mit ihrer jeweiligen Militärseelsorge. Militärgeistliche beider Konfessionen unterrichten an den Offizier- und Unteroffizierschulen, forschen und lehren an den beiden Universitäten der Bundeswehr in Hamburg und München, sind aber auch tätig in Ressortforschungseinrichtungen wie dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr oder am Zentrum für ethische Bildung Unteroffizieren ist und dass militärethische Fragen in komplexe militärfachliche Fragen eingebettet sind.
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in den Streitkräften (ZEBIS). Vor allem auf evangelischer Seite spricht man heute lieber von Friedens- als von Militärethik,45 um damit das Ziel allen militärischen Handelns zu bezeichnen. Denn Krieg um der Eroberung fremden Territoriums willen ist keine Option mehr. Evangelische und katholische Militärseelsorge und Theologie sind sich weitgehend einig; es gibt kaum noch konfessionelle Unterschiede in ethischen Fragen. Lassen sich militärethische Fragen auch ohne Rückgriff auf einen religiösen Referenzrahmen erörtern? Grundlagendokumente wie das Handbuch Innere Führung (1957) und Zentrale Dienstvorschriften der Bundeswehr, etwa die A 2600/1 Innere Führung, enthalten – so die von dem früheren Soldaten Sebastian Schmitz in seiner Dissertation aufgestellte These – ausreichend »Rüstzeug« für einen ethisch zu verantwortenden Einsatz auf der Basis der Werte und Normen des Grundgesetzes.46 Ob man einen Gegensatz zwischen religiös-kirchlicher und humanistischer oder atheistischer Ethik konstatieren muss, ist gegenwärtig umstritten. Sicher steht das Grundgesetz, das den Bezugspunkt und Auslegungsrahmen für die genannten Vorschriften bildet, in der christlich-abendländischen Tradition, deren Gehalte in einem komplizierten und verwickelten Prozess in die Moderne transformiert wurden. Und gewiss können religiöse Gesinnung oder Haltung und persönlicher Glaube helfen, das im Einsatz und an der Heimatfront Erlebte zu verarbeiten.
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Vgl. Benjamin Pommer, Militärethik in Krieg und Frieden. Über die Bedeutung ethischer Grundsätze im Militär, Hamburg 2008, S. 2. Sebastian Schmitz, Das soldatische Selbstverständnis im Wandel. Berufsethische Perspektiven für den deutschen Einsatzsoldaten, München 2017 (= Schriften des Instituts für Theologie und Ethik der Universität der Bundeswehr München, 3).
Vierter Teil Protestantische Volten – nationalreligiöse Verklärungen
Tim Lorentzen
Reformationsjubiläum und Völkerschlachtgedenken. Alternative Erinnerungskulturen um 1817
»Ich will denn Haß, festen und bleibenden Haß der Teutschen gegen die Wälschen und gegen ihr Wesen [...] Ich will denn Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer«, schrieb Ernst Moritz Arndt1 im Jahre 1813, auf dem Höhepunkt der Befreiungskriege gegen Napoleon, und wenn er fortfährt: »Dieser Haß glühe als die Religion des teutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen«, so wird aus solchen Zeilen deutlich: Die Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 war für die Zeitgenossen ein religiöses Ereignis.2 So war es nur folgerichtig, dass gleich vom ersten Jahrestag an die öffentliche Erinnerung an diesen Sieg, der so viele Opfer gekostet hatte, nahtlos in nationalreligiösen Kategorien vollzogen wurde. Umgekehrt war das Reformationsjubiläum 1817 zweifellos auch ein politisches Ereignis, das der nationalen Identitätsstiftung gerade willkommen war.3 Denn genau zwischen diesen beiden Daten hatte der Wiener Kongress 1815 den triumphierenden Deutschen ihren Nationalstaat versagt; statt einer liberalen Verfassung sah man sich der Restauration selbstständiger Monarchien und Reichsstädte in einem losen Staatenbund gegenüber. 1
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E[rnst] M. Arndt, Ueber Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache, Leipzig 1813, S. 18. – Über ihn vgl. insbesondere Ernst Moritz Arndt (1769-1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven. Hrsg. von Walter Erhart und Arne Koch, Tübingen 2007 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 112). Vgl. zuletzt Blutige Romantik. 200 Jahre Befreiungskriege [Ausstellungskatalog]. Hrsg. von Gerhard Bauer, Gorch Pieken und Matthias Rogg, 2 Bde, Dresden 2013; Helden nach Maß. 200 Jahre Völkerschlacht bei Leipzig [Ausstellungskatalog]. Hrsg. von Volker Rodekamp, Leipzig 2013; Hans-Ulrich Thamer, Die Völkerschlacht bei Leipzig. Europas Kampf gegen Napoleon, München 2013; 1813 im europäischen Kontext. Hrsg. von Birgit Aschmann, Stuttgart 2015 (= Historische Mitteilungen, Beiheft 89). Vgl. Dorothea Wendebourg, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 108 (2011), S. 270-335; Johannes Burkhardt, Reformationsund Lutherfeiern. Die Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur. In: Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Dieter Düding, Peter Friedemann und Paul Münch, Reinbek 1988, S. 212-236; Tim Lorentzen, 19. Jahrhundert. Nationale, konfessionelle und touristische Erinnerungskulturen. In: Ketzer, Held und Prediger. Martin Luther im Gedächtnis der Deutschen. Hrsg. von Marcel Nieden, Darmstadt 2017, S. 118-169 und S. 229-231, hier S. 120-126; Wichmann von Meding, Kirchenverbesserung. Die deutschen Reformationspredigten des Jahres 1817, Bielefeld 1986.
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In dieser Lage konnten sich religiöse und politische, konfessionelle und nationale Interessen fast unentwirrbar durchdringen, sich überlagern und verdichten. In öffentlichen Erinnerungsakten an unterschiedlichen Gedenkorten und Gedenktagen können wir diese interessengeleitete, sinn- und identitätsstiftende, das kollektive Selbstbewusstsein stärkende Verdichtung von Vergangenheit in geballter Weise beobachten. Das Zusammenspiel von zyklischer Wiederholung des Gedenkens in der Zeit und lokaler Archivierung von Vergangenheit in der Topographie mit den lebhaften Gestaltungsinteressen jeder neuen Memorantengeneration eröffnet der historischen Analyse ein ausgesprochen ergiebiges Forschungsfeld. Das primäre Erkenntnisinteresse der Gedächtnisforschung wird sich folglich auf die Funktionalität des Gedenkens in seiner je eigenen Gegenwart richten, während seine Referentialität, seine Bezugnahme auf Tatsachen der Vergangenheit, »wie sie eigentlich gewesen«4, in den Hintergrund treten muss.5 Wenn ich daher aus kirchen- und theologiegeschichtlicher Perspektive den Konnex von militärischem Gedenken und christlicher Erinnerungskultur im frühen 19. Jahrhundert in den Blick nehme, so verspreche ich mir davon nicht zuletzt Aufschluss über die Vorgeschichte jenes religiös aufgeladenen Nationalismus, der sich später im wilhelminischen Zeitalter so gefährlich entladen sollte: Hätte es in der Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts nicht auch Alternativen gegeben?
Wartburgfest und Wartenbergfeuer Die Zeitgenossen waren sich sicher: Gott selbst hatte die Wende gegen den Tyrannen Napoleon herbeigeführt und den ausgesprochen verlustreichen Koalitions- und Befreiungskriegen in all ihrer verheerenden Wirkung auf Land und Bevölkerung doch noch einen heiligen Sinn verliehen; er hatte die hohen Opfer angenommen und würde nun den Deutschen zu ihrem angestammten Vorrang unter den Völkern in Freiheit und Einheit zurückverhelfen.6 So und ähnlich lesen sich die ers-
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Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514. In: Leopold von Ranke, Sämmtliche Werke, Bd 33, 2. Aufl., Leipzig 1874, S. VII. Vgl. ausführlich Tim Lorentzen, Gedächtnis und Gott. Reflexionen zur kirchengeschichtlichen Erinnerungsforschung. In: Geschichte und Gott. XV. Europäischer Kongress für Theologie (14.-18. September 2014 in Berlin). Hrsg. von Michael Meyer-Blanck, Leipzig 2016 (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 44), S. 669-690; aus der dort reichlich angeführten Literatur vgl. v.a. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-19; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 4. Aufl., München 2009; Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, 2. Aufl., München 2014. Vgl. Des Teutschen Volkes feuriger Dank- und Ehrentempel oder Beschreibung wie das aus zwanzigjähriger französischer Sklaverei durch Fürsten-Eintracht und Volkskraft gerettete Teutsche Volk die Tage der entscheidenden Völker- und Rettungsschlacht bei Leipzig am 18. und 19. Oktober 1814 zum erstenmale gefeiert hat. Hrsg. von Karl Hoffmann, Offenbach 1815. Auf diese Dokumentation der Feiern zum ersten Jahrestag sei hier anstelle von Einzelbelegen verwiesen.
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ten Gedenkreden und gedruckten Würdigungen, in denen immerhin der religiöse Duktus auch die allfälligen Triumphgefühle gegenüber Frankreich einigermaßen zu kanalisieren half. Das erste deutsche Nationalfest, das mit enormer Beteiligung in nahezu allen Regionen Deutschlands am 18. Oktober 1814 begangen wurde, fand seinen emotionalen Höhepunkt in einem landschaftsüberspannenden Netz nächtlicher Freudenfeuer, die auf Anhöhen und Türmen entzündet und von den lokalen Festrednern oft in biblischen Dimensionen gedeutet wurden. Die Idee ging, nach früheren Anregungen des »Turnvaters« Friedrich Ludwig Jahn, maßgeblich auf Ernst Moritz Arndt zurück, den Greifswalder Historiker.7 In einer erinnerungspolitischen Programmschrift, die im September erschienen war, hatte er jährliche Volksfeste »zur Feier der Leipziger Schlacht« entworfen, die in zahllosen Höhenfeuern unter Glockengeläut kulminieren sollten: »Diese laufen als Boten in die Ferne und als Liebeszeichen und Freudenzeichen, und verkünden allen Nachbarn ringsum, daß jetzt bei allen teutschen Menschen nur Ein Gefühl und Ein Gedanke ist [...] Um diese Feuer versammeln sich die Menschenkinder in festlichen Kleidern, die Hüte und Locken mit grünem Eichenlaub und die Herzen mit grünen Gedanken umkränzt; sie erzählen einander, was an diesen Tagen geschehen ist, sie halten Reigen und Gastmähler, und danken in ihrer Freude dem Gott, der ihnen gnädig verliehen hat, wieder in teutschen Tönen die Wonne und den Stolz der Freiheit auszujauchzen.«8 Ohne zentrale Koordination fand die Anregung breite Resonanz im bürgerlichen Deutschland. Eine besonders atmosphärische Darstellung zeigt diese Feier 1814 vor der Wartburg über Eisenach (Abb. 1). Die Enttäuschung des Wiener Kongresses 1815 setzte jedoch eine deutliche Zäsur, die sich im Gedenken an die Völkerschlacht schlagartig bemerkbar machte. Denn ohne die Zukunftsperspektive eines geeinten Nationalstaats drohte die feierlich beschworene Sinnhaftigkeit des Opfers zu zerplatzen, wenn man sich in der Folge auf einen losen Staatenbund restaurativer Territorialmonarchien und Städte zurückgeworfen sah. Gegen den biedermeierlichen Frieden dieser meist autoritären Staatsordnungen formierte sich rasch eine nationalliberale Einheitsbewegung, die mit dem Selbstbewusstsein der Siegernation gegen die Kleinstaaterei protestierte: Hatte Deutschland auch seine politische Existenz verloren, so erblickten die Akademiker und Künstler, von denen der Protest getragen war, eine gemeinsame Identität aller Deutschen umso mehr in Sprache und Literatur, in Kultur und Geschichte, in Kunst und Musik, den Nachbarn in alledem bei Weitem überlegen. Die erste Gelegenheit zu einer nationalen Identitätsdemonstration rückte mit dem dritten Reformationsjubiläum heran. Dieses Burschenschaftsfest, zu dem sich nationalliberal gesinnte Studenten am 18. Oktober 1817 auf der Wartburg versammelten, war keineswegs die früheste, erst recht nicht die größte Reformationsfeier des Jahres.9 In ganz Deutschland wurde 7
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Vgl. den brillianten Aufsatz von Dieter Düding, Das deutsche Nationalfest von 1814: Matrix der deutschen Nationalfeste im 19. Jahrhundert. In: Öffentliche Festkultur (wie Anm. 3), S. 67-88. E[rnst] M. Arndt, Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht, Frankfurt a.M. 1814, S. 11. Vgl. Lutz Winckler, Martin Luther als Bürger und Patriot. Das Reformationsjubiläum 1817 und der politische Protestantismus des Wartburgfestes, Lübeck 1969; Peter Brandt,
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Abb. 1: Friedrich Heerwarth, Freudenfeuer auf der Schanze vor der Wartburg zum 1. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig 1814. Wartburg-Stiftung Eisenach, Kunstsammlung, Inv.Nr. G0409
das Jubiläumsjahr mit programmatischen Predigten und weltlichen Lutherfesten begangen, die im August mit ersten Vorfeiern anfingen.10 Mancherorts wurden die Teilnehmer nach Tausenden gezählt, dagegen waren die 366 Studenten, die sich aus den deutschen Universitäten auf der Wartburg versammelten, nur wenige.11 Eingeladen hatte zu dieser Vorfeier des Reformationsjubiläums die jüngst erst gegründete Burschenschaft der Universität Jena; das Datum hatte sie vorverlegt, um »nicht in Collision zu kommen mit jenen übrigen Feierlichkeiten, welche durch die unsrige leicht gestört werden könnten, und da auch das Siegesfest der Schlacht bei Leipzig in diese Zeit fällt.«12 Auch in der Wahl des Ortes fielen reformatorische und nationalliberale Motive zusammen. Die seit 1802 ausliegenden Besucherbücher zeigen, dass die halb zur
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Das studentische Wartburgfest vom 18./19. Oktober 1817. In: Öffentliche Festkultur (wie Anm. 3), S. 89-112; Wichmann von Meding, Das Wartburgfest im Rahmen des Reformationsjubiläums 1817. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 97 (1986), S. 205-236; Jutta Krauß, Das Wartburgfest der deutschen Burschenschaft, Regensburg 2011; Eike Wolgast, Das Wartburgfest 1817. Reformationsgedenken und Protest gegen das Wiener System. In: Reformation in Kirche und Staat. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Uwe Niedersen, Berlin 2018, S. 272-280. Vgl. Allgemeine Chronik der dritten Jubel-Feier der deutschen evangelischen Kirche. Im Jahre 1817. Nebst einigen Nachrichten von dieser Feier in auswärtigen Ländern. Hrsg. von Christian Schreiber, Valentin Carl Veillodter und Wilhelm Hennings, 2 Bde, Erfurt und Gotha 1819. So Meding, Wartburgfest (wie Anm. 9), S. 213-218. D[ietrich] G. Kieser, Das Wartburgfest am 18. October 1817 in seiner Entstehung, Ausführung und Folgen, Jena 1818, S. 91.
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Ruine verfallene Wartburg inzwischen bereits zum Sehnsuchtsort verlorener deutscher Größe geworden war.13 So hatte sich diese Lutherstätte schon zum Nationaldenkmal zu wandeln begonnen. In der Übersetzung des Neuen Testaments sahen nun ebenso die Studenten die einheitsstiftende Bedeutung des Reformators für die deutsche Sprache symbolisiert. Nachdem sie am 18. Oktober in einer langen Prozession zur Burg hinaufgezogen waren, versammelten sie sich zu einer als »Gottesdienst« ausgewiesenen Feier unter dem Lied »Ein feste Burg ist unser Gott«.14 Der Theologiestudent Heinrich Riemann würdigte Luthers Befreiung des Glaubens von äußerem Zwang, die Abschaffung kirchlicher Missbräuche, seine Bedeutung für die deutsche Sprache in Bibel und Gottesdienst; erst dann rief er als Beteiligter der Freiheitskriege dazu auf, weiter für die nationale Einheit zu kämpfen, und wandte sich mit einem feierlichen Gelübde der Studenten an Luther selbst, »der du auf dieser Burg den Teufel bezwangst«. Weitere Gottesdienste und Abendmahlsfeiern in der Stadt schlossen das Treffen später ab.15 Besonders stark wurde der identifikatorische Bezug auf Luther, als abends auf dem gegenüberliegenden Wartenberg die Höhenfeuer zum vierten Jahresgedenken der Völkerschlacht entzündet wurden. Vereinzelt hatten schon beim ersten Nationalfest 1814 manche Feiergemeinden die mehrdeutige Symbolik der Flammen genutzt und die nächtlichen Festliturgien durch antifranzösische Zerstörungsrituale ergänzt: Hier und da waren Napoleon-Puppen, das napoleonische Gesetzbuch oder die Rheinbundakte in die Flammen geworfen worden.16 Was nun auf dem Wartenberg geschah, kehrte die bürgerlich-festliche Symbolik der weithin sichtbaren Freudenfeuer vollständig in ihr Gegenteil um. Denn als das Programm schon seinem Ende zuging, näherten sich einige Studenten, um nach der energischen Ansprache eines Kommilitonen unter Beifall und Zurufen der Umstehenden eine Sammlung großer Makulaturbände ins Feuer zu werfen, die reaktionär-absolutistische, antinationale, antidemokratische Schriften der Zeit darstellen sollten, zusammen mit einigen Militaria und einem alten Perückenzopf. Nach dem Vorbild von »Luther’s Bullen-Verbrennung«, wie erklärt wurde, wollten sie »durch die Flamme verzehren lassen das Andenken Derer, so das Vaterland geschändet haben durch ihre Rede und That und die Freiheit geknechtet und die Wahrheit und Tugend verleugnet haben in Leben und Schriften.«17 Durch diesen Akt schlossen sie geschichtstypologisch an die historische Verbrennung der Bannandrohungsbulle und des kanonischen Rechts an, mit der sich Luther und seine Studenten im Dezember 1520 demonstrativ aus der Papstkirche gelöst hatten, und luden erst hierdurch das Wartburgfest zu einem ähnlich epochalen
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Vgl. Krauß, Wartburgfest (wie Anm. 9). Vgl. Michael Fischer, Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral »Ein feste Burg ist unser Gott« zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg, Münster i.W. 2014, S. 25-41. Im Allgemeinen jedoch hat eine Bedeutungsverschiebung vom evangelischen Vertrauenslied zum protestantischen Nationalhymnus bei den Jubiläumsfeierlichkeiten 1817 noch keineswegs dominiert; zu diesem Ergebnis gelangt mein Münchner Student Daniel Kuß in einer Auswertung zeitgenössischer Festberichte. Vgl. Kieser, Wartburgfest (wie Anm. 12), S. 104-110. Vgl. Düding, Das deutsche Nationalfest (wie Anm. 7), S. 77. Robert Keil, Das October-Jubiläum auf der Wartburg. In: Die Gartenlaube, 30 (1867), S. 473-478, und 31 (1867), S. 487-489, hier S. 475.
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Entscheidungsmoment auf.18 Die Wiederholung des Wittenberger Feuers im Wartenbergfeuer verwandelte den einzigen Programmpunkt, der ausschließlich dem Völkerschlachtgedenken gewidmet sein sollte, in eine radikale Aktualisierung Luthers vis-à-vis der halb verfallenen Lutherburg. Ort, Zeit und historische Symbolik öffentlichkeitswirksam ausgenutzt – das ist echte Geschichtspolitik.19 Niemand unter den Zeitgenossen hat den Geist des Wartburgfestes so messerscharf seziert wie der jüdische Aufklärungsphilosoph Saul Ascher. In seiner Schrift »Die Germanomanie« hatte er den Protagonisten der entstehenden nationalliberalen Bewegung vorgehalten, dass »Deutschland, deutsches Volk, deutsche Sitte und deutsche Gemüthlichkeit von ihnen als das Höchste und Würdigste aufgestellt und von ihnen mit einem Nimbus der Vortrefflichkeit umwölbt ward, worin man vielmehr einen fieberhaften Rausch, als eine vernünftige Besonnenheit ahnen könnte«20, und ihrer daraus abzuleitenden Fremdenfeindlichkeit hatte er als aufklärerische Alternative die »Idee der Menschheit«21 entgegengestellt. Der Versuch aber, die Einheit der Nation aus ihrer vermeintlich einheitlichen Kultur zu definieren, gehe auf Kosten ihrer Minderheiten: »Man muß die Menge, um auch sie für eine Ansicht oder Lehre einzunehmen, zu begeistern suchen; um das Feuer der Begeisterung zu erhalten, muß Brennstoff gesammelt werden, und in dem Häuflein Juden wollten unsere Germanomanen das erste Bündel Reiser zur Verbreitung der Flamme des Fanatismus hinlegen.«22 Und tatsächlich, wie zur Bestätigung war diese warnende Flugschrift beim Wartburgfest symbolisch in die Flammen des Völkerschlachtfeuers geworfen worden, unter dem Ausruf »Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Judenthum und wollen über unser Volksthum und Deutschthum schmähen!«23 In seiner Antwort auf die Verbrennungsaktion sprach Ascher dem Wartburgfest der Studenten jeden Charakter einer Reformationsfeier ab, die sich auf Luther berufen dürfe: »Nicht Luthers Geist, nicht die Folgen, die sein beharrlicher und standhafter Sinn für Vernunft und Freiheit im protestantischen Deutschland bewirkte, schwebt über diese seine Verehrer. Mit Nichten! Es sollte den Geist und die Ansichten derjenigen gelten, die zu dieser Feier Deutschlands Jünglinge ermunterten, und Luthers Name ward bloß bei der Einladungskarte zu die-
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Vgl. zur Wittenberger Verbrennungsaktion Anselm Schubert, Das Lachen der Ketzer. Zur Selbstinszenierung der frühen Reformation. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 108 (2011), S. 405-430. Ich verwende den Begriff im Sinne von Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999, hier S. 25 f.; vgl. insgesamt auch Edgar Wolfrum, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik als Forschungsfelder. Konzepte – Methoden – Themen. In: Reformation und Bauernkrieg. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im geteilten Deutschland. Hrsg. von Jan Scheunemann, Leipzig 2010 (= Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 11), S. 13-32; zur kirchengeschichtlichen Adaption vgl. Lorentzen, Gedächtnis und Gott (wie Anm. 5). S[aul] Ascher, Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde, Berlin 1815, S. 26. Hervorhebungen in der Vorlage, auch im Folgenden. Ebd., S. 44. Ebd., S. 15 f. Brandt, Das studentische Wartburgfest (wie Anm. 9), S. 99.
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sem Feste gebraucht, um dem protestantischen Deutschland Vertrauen dazu einzuflößen.«24 Aschers Verdikt ist bezeichnend für die ausgesprochen positive Rezeption Luthers bei deutschen Juden des frühen 19. Jahrhunderts. Obwohl dessen judenfeindliche Spätschriften im Umfeld des Reformationsjubiläums 1817 sattsam bekannt waren und öffentlich diskutiert wurden,25 war es für Ascher in seinem konkreten Fall keineswegs naheliegend, den Reformator mit der Verbrennung jüdischer Schriften in Verbindung zu bringen, sondern in ihm vielmehr den Übersetzer der Bibel, den Lehrer von Vernunft, Glaubens- und Gewissensfreiheit, ja den Wegbereiter der Aufklärung zu würdigen, wie es viele seiner Generation bevorzugten.26
Lutherdenkmal und Nationalmonument Gehen wir jetzt noch einmal zurück in die erinnerungspolitischen Debatten unmittelbar nach der Völkerschlacht. Ernst Moritz Arndt hatte 1814 in seinem erwähnten »Wort über die Feier der Leipziger Schlacht« das Programm eines mehrtägigen Jahresgedenkens mit Volksfestcharakter entwickelt, das großen Anklang fand – für ein Gedenken in der Zeit war also gesorgt. Zugleich mit ihrer Periodifizierung ist funktionierende Erinnerungskultur aber auch auf die ortsbezogene Aufspeicherung von Vergangenheit angewiesen,27 und für diese Lokalisierung des Geschehens hatte Arndt ebenfalls genaue Vorschläge, in einem Anhang nämlich desselben Heftes, »Ueber ein Denkmal bei Leipzig«. Ein solches Monument dürfe selbstverständlich nicht zu klein sein und keinesfalls irgendwo in den Straßen der Stadt verschwinden: »Das Denkmal muß draussen stehen, wo so viel Blut floß [...] Soll es gesehen werden, so muß es groß und herrlich seyn, wie ein Koloß, eine Pyramide, ein Dom in Köln.« Darum schlug Arndt einen gewaltigen Erdhügel vor, von Feldsteinen bekränzt und durch ein kolossales Kreuz aus Eisen überhöht.28 Derartige Pläne kamen bis zur Errichtung des Völkerschlachtdenkmals von 1913 nicht zur Ausführung.29 Wichtiger ist aber der Vergleich mit dem Kölner 24
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S[aul] Ascher, Die Wartburgs-Feier. Mit Hinsicht auf Deutschlands religiöse und politische Stimmung, Leipzig 1818, S. 33, Hervorhebungen in der Vorlage. Werner Treß, »Bekanntlich kein Freund der Juden«. Zur Rezeption der judenfeindlichen Schriften Martin Luthers im Umfeld des Reformationsjubiläums 1817. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 67 (2015), S. 222-243. Vgl. Christian Wiese, »Auch uns sei sein Andenken heilig!« Idealisierung, Symbolisierung und Kritik in der jüdischen Lutherdeutung von der Aufklärung bis zur Shoa. In: Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung. Hrsg. von Hans Medick und Peer Schmidt, Göttingen 2004, S. 215-259. Vgl. Lorentzen, Gedächtnis und Gott (wie Anm. 5), S. 675. Arndt, Ein Wort (wie Anm. 8), S. 20-22; ferner Ernst Moritz Arndt, Entwurf einer teutschen Gesellschaft (zuerst 1814). In: Ernst Moritz Arndt (wie Anm. 1), S. 279-293, hier S. 291-293. Vgl. etwa Peter Hutter, »Die feinste Barbarei«. Das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig, Mainz 1990; Vom Kult zur Kulisse. Das Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur. Hrsg. von Katrin Heller und Hans-Dieter Schmid, Leipzig 1995.
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Dom. Er lässt aufhorchen, denn seit dem Mittelalter war der Bau ein Torso geblieben, der zu dieser Zeit höchstens zum Symbol des unvollendeten Nationalstaates taugte. Und genau in diesem Sinne griff noch im selben Jahr der katholische Publizist Joseph Görres das Stichwort auf: Die Deutschen seien noch überhaupt nicht reif für ein eigenes Nationaldenkmal, wenn sie sich nicht zuvor den »unvollendeten Vermächtnissen der Vergangenheit« zuwenden würden. Der Kölner Dom, in »seiner trümmerhaften Unvollendung, in seiner Verlassenheit« noch gegenwärtig ein »Bild [...] von Teutschland, seit der Sprach- und Gedankenverwirrung«, müsse zum Symbol »des neuen Reiches, das wir bauen wollen«, vollendet werden.30 Der Aufruf fand enorme Resonanz, zunächst sogar über die Konfessionsgrenzen hinweg, denn gerade im preußisch gewordenen Rheinland vermochte ein solches Monument eine wirklich unübersehbare Stellungnahme der Deutschen gegen das besiegte Frankreich zu werden. Bis zur Grundsteinlegung im September 1842 formierte sich eine breite Dombaubewegung unter dem Protektorat des evangelischen Preußenkönigs.31 Dadurch gerieten konkurrierende Vorschläge für kolossale Völkerschlachtdenkmäler in den Hintergrund. Arndts Aufruf hatte eine ganze Reihe solcher Entwürfe hervorgerufen, darunter auffällig viele Tempel und Kirchen, und immer wieder wurde dabei betont, dass der Dank für Gottes gnädiges Eingreifen im Kampf gegen den Tyrannen nur in religiösen Dimensionen manifest werden dürfe, dass ein Nationaldenkmal mithin ein gottesdienstlicher Ort sein müsse.32 Der Architekt Friedrich Weinbrenner etwa, der dem klassizistischen Karlsruhe sein Gesicht gab, schlug in diesem überkonfessionell-religiösen Sinne einen festungsartigen Tempelbau, der Publizist Carl Bertuch eine Kapelle in Gestalt eines gotischen Turms und der Hamburger Senatssyndikus Karl Sieveking gar einen »Dom aller Deutschen« auf dem Leipziger Schlachtfeld vor.33 Am bekanntesten dürfte die neugotische Kathedrale geworden sein, die Karl Friedrich Schinkel als preußisches Nationaldenkmal für die Befreiungskriege in Berlin plante (Abb. 2); in genau dieser Bestimmung wurde davon schließlich nur die Spitze realisiert, im Eisengussverfahren und mit einem Eisernen Kreuz als Bekrönung, worauf Hügel und Stadtteil ihren Namen zurückführen: Kreuzberg.34 30
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Joseph Görres, Der Dom in Köln. In: Rheinischer Merkur, 20.11.1814, S. 1 f.; Nachdruck in: Joseph Görres, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Wilhelm Schellberg, Köln 1928 (unpaginiert, 6-8). Vgl. Thomas Nipperdey, Der Kölner Dom als Nationaldenkmal. In: Historische Zeitschrift, 233 (1981), S. 595-613; Leo Haupts, Die Kölner Dombaufeste 1842-1880 zwischen kirchlicher, bürgerlich-nationaler und dynastisch-höfischer Selbstdarstellung. In: Öffentliche Festkultur (wie Anm. 3), S. 191-211; Ludger Kerssen, Das Interesse am Mittelalter im deutschen Nationaldenkmal, Berlin, New York 1975 (= Arbeiten zur Frühmittelalterforschung, 8). Vgl. zum Ganzen Thomas Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal. Die Pläne von 1815. In: Festschrift für Otto von Simson zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Lucius Grisebach und Konrad Renger, Berlin 1977, S. 412-431. Vgl. Friedrich Weinbrenner, Ideen zu einem Teutschen National-Denkmal des entscheidenden Sieges bey Leipzig, Karlsruhe 1814; Carl Bertuch, Die Kapelle der Eintracht auf dem Schlachtfelde von Leipzig. Ein Versuch, Wien, Weimar 1814; Karl Sieveking, Der deutsche Dom auf dem Schlachtfelde bei Leipzig, Hamburg 1814. Vgl. Fokke Chr. Peters, Gedankenfluß und Formfindung. Studien zu einer intellektuellen Biographie Karl Friedrich Schinkels, Berlin 2001; Maja Galle, Der Erzengel Michael in der
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Abb. 2: Karl Friedrich Schinkel, Entwurf zu einem Dom als Denkmal für die Befreiungskriege, 1814/15. bpk/Kupferstichkabinett, SMB/Jörg P. Anders
Schinkel beteiligte sich auch an einer zweiten Denkmaldebatte, die bereits früher ausgelöst worden war und erst in diesen Jahren in den öffentlichen Diskurs um ein identitätsstiftendes Nationalmonument einmündete: Schon 1803 hatte die »Vaterländisch-literarische Gesellschaft« in der Grafschaft Mansfeld, eine typische Lesegesellschaft der Spätaufklärung, einen vielbeachteten Aufruf gestartet, bis zum Reformationsjubiläum ein kolossales Lutherdenkmal zu realisieren, das im Mansfelder Land zu errichten wäre, wo Luther geboren und gestorben war. Die Resonanz war wiederum enorm: In den ersten beiden Jahren wurden 22 Entwürfe von Architekten, Bildhauern und Dilettanten veröffentlicht.35 Und
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deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, München 2001, S. 63-75. Vgl. Dr. Martin Luthers Denkmal. Vier Schriften zum Wettbewerb der Vaterländisch-literarischen Gesellschaft der Grafschaft Mansfeld um ein Luther-Denkmal aus den Jahren 1804/05. Hrsg. von Martin Steffens, Esens 2002; dazu instruktiv Martin Steffens, »Dem wahrhaft großen Dr. Luther ein Ehrendenkmal zu errichten« – Zwei Denkmalprojekte im Mansfelder Land (1801-1821 und 1869-1883). In: Preußische Lutherverehrung im Mansfelder Land. Hrsg. von Rosemarie Knape und Martin Treu, Leipzig 2002 (= Kataloge der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 8), S. 113-184, 313-318; Albrecht Geck, 18. Jahrhundert. Luthererinnerung im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation. In: Ketzer, Held und Prediger (wie Anm. 3), S. 83-117, 226-229, hier S. 109-117; Ingrid Schulze, Gedanken zu einem deutschen Nationaldenkmal in der Zeit der napoleonischen Fremdherrschaft. Entwürfe zu einem Luther-Denkmal. In: Wissenschaftliche Zeitschrift, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Geisteswissenschaftliche Reihe, 41 (1992), 3, S. 23-40; Wilhelm Weber, Luther-Denkmäler. Frühe Projekte und Verwirklichungen. In: Denkmäler im 19. Jahrhundert. Deutung und Kritik. Hrsg. von Hans-Ernst Mittig, München 1972, S. 183-215.
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Abb. 3a und 3b (Ausschnitt): Johann August Heine, Entwurf zu einem Lutherdenkmal, 1804. Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt
Abb. 4: Karl Friedrich Schinkel, Entwurf zu einem Lutherdenkmal, 1804/05. bpk/Kupferstichkabinett, SMB
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auch hier dominierte eine Monumentalität, die innerhalb utopischer Landschaftsarchitekturen durch schiere Größe beeindrucken sollte, vor allem in Form von Tempeln, Pyramiden, Obelisken. So schlug der junge Leo von Klenze einen gewaltigen Rundbau vor, der bereits an die spätere Befreiungshalle über Kelheim erinnert, zum Gedächtnis der napoleonischen Kriege durch Friedrich von Gärtner geplant und von ihm selbst 1863 vollendet.36 Der Dresdner Architekt Johann August Heine plante einen »altdorischen Tempel«, der eine Lutherbibliothek aufnehmen und von einer weithin sichtbaren Allegorie bekrönt sein sollte: Der Genius der Aufklärung nimmt die Religion bei der Hand, der alte Despotismus liegt entblößt am Boden (Abb. 3). Geradezu bescheiden wirkte dagegen ein Entwurf Karl Friedrich Schinkels, der eine offene Kapelle mit einem lebhaft bewegten Standbild des Reformators vorschlug (Abb. 4). Alle Beiträge wurden veröffentlicht und zur Debatte gestellt. Als das Lutherdenkmal dann realisiert werden konnte, war es in der Tat Schinkel, der den Baldachin beisteuerte; für die Statue selbst hatte Johann Gottfried Schadow 1805 den Zuschlag bekommen, doch erst nach einer langen Unterbrechung durch napoleonische Zeit und Befreiungskriege konnte der Plan wieder aufgenommen werden. Den Grundstein schließlich legte der König zum Reformationsjubiläum 1817, zehn Tage nach dem Wartburgfest. Das Denkmal steht aber auf dem Wittenberger Marktplatz und damit nicht wie beabsichtigt im Mansfelder Land (Abb. 5). Denn in diesen Jahren begann sich der preußische Protestantismus für das Elbstädtchen mit seiner reformatorischen Erinnerungstopographie zu interessieren. Für den evangelischen Teil der neu zu definierenden Nation stand an diesem Ort ein beträchtliches Identifikationspozential bereit, das in den Debatten um ein deutsches Nationalmonument keine geringe Rolle spielen sollte. So konnte wenig später unter dem Eindruck der wachsenden konfessionellen Konkurrenz innerhalb Preußens die kostspielige Umgestaltung des Lutherhauses im Stile der Burgenromantik geradezu als evangelisches Gegenstück zum Kölner Dombauprojekt begründet werden.37 Von der ersten Lutherstatue auf dem Marktplatz ausgehend, wurde Wittenberg während des 19. Jahrhunderts darum schrittweise zu einem nationalen Flächendenkmal ausgebaut, zu einer Kathedralstadt protestantischer Erinnerungspolitik.38
»Lebendige Denkmäler« und diakonische Erinnerungskultur Die Mansfelder Literaturgesellschaft hatte also mit ihrer Ausschreibung eine lebhafte Debatte ausgelöst. Ihr umstrittenstes Thema jedoch war im Grunde nicht, ob dieser oder jener Entwurf zu bevorzugen sei, sondern ob Luther überhaupt 36
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Vgl. Die Befreiungshalle Kelheim. Geschichte – Mythos – Gegenwart. Hrsg. von Christoph Wagner, Regensburg 2012. Vgl. Anne-Maie Neser, Luthers Wohnhaus in Wittenberg. Denkmalpolitik im Spiegel der Quellen, Leipzig 2005 (= Kataloge der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 10), bes. S. 124 f. Vgl. Martin Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert. Memoria – Repräsentation – Denkmalpflege, Regensburg 2008; Lorentzen, 19. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 134-139 und S. 163-169.
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Abb. 5: Karl Friedrich Schinkel und Johann Gottfried Schadow, Lutherdenkmal in Wittenberg. Illustrirte Zeitung vom 20. Oktober 1883. Tim Lorentzen
durch ein gebautes Monument angemessen geehrt werden könne: Selbst unter seinen glühenden Verehrern erhoben sich Stimmen, die ein »totes Denkmal« grundsätzlich ablehnten und die beträchtlichen Spendengelder lieber einem »lebendigen Denkmal« zuführen wollten. Typisch waren die Einwände eines Frankfurter Historikers: »Todte Massen dem lebendigen Manne? Physische Triumphbogen dem moralischen Sieger? Ein zerbrechliches Kunstwerk, im Nutzen beschränkt auf das
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müßige Anstaunen einiger Reisenden, Ihm, der für die Welt ein der Ewigkeit trotzendes Werk unternahm? Einem Kern-Deutschen ein Monument in fremdem Stile? Kein Denkmahl von Marmor und Erz, – ein moralisches Institut, sei der Tempel dieses Genius [...]; ein Denkmahl im Deutschen Originalstile: eine Anstalt zur Bildung der untern Volkslehrer Mansfelds [...], nur solches Denkmahl entspricht dem ersten der Volkslehrer.« Andere Kritiker stießen ins gleiche Horn, lehnten die verschwenderische Monumentalität eines Lutherdenkmals ab und bevorzugten die Stiftung eines Predigerseminars, einer Armenanstalt, eines Pfarrwitwenhauses, einer Bibliothek oder anderer ideeller Erinnerungsstätten, mit denen man das Erbe des Reformators authentischer würdigen und die Geldmittel effizienter einsetzen könne.39 Die Argumentationsfigur vom »lebendigen« gegen das »tote Denkmal« sollte sich durch das ganze Jahrhundert hindurchziehen, bis hinein ins Vorwort zum ersten Band der Weimarer Ausgabe von Luthers Schriften, wo der Kirchenhistoriker Karl Hase mit der Einschätzung zitiert wird, Luthers Werk sei als Denkmal dem Kölner Dombau ebenbürtig.40 Das war pünktlich zum Lutherjahr 1883 und mitten im Kulturkampf eine klare antikatholische Ansage. Im Umfeld des Reformationsjubiläums lesen wir immer wieder von der Ablehnung »toter« Monumente und von der Alternative »lebendiger« Denkmäler.41 Ich möchte mich auf ein einziges Beispiel beschränken (und man muss wohl sagen: auf ein einzigartiges Beispiel), wo Reformations- und Völkerschlachtgedenken zu einem solchen »lebendigen« Denkmal kongenial verkoppelt wurden: In Weimar galt ein alter Adelshof als gelegentlicher Übernachtungsort Luthers, sodass man die Stelle zur Goethezeit allgemein als »Luthergäßchen« kannte. 1821 bezog hier der Satiriker Johannes Falk mit einem innovativen Hilfsverein für verwahrloste Jugendliche eine neue Heimat und ließ zunächst das völlig heruntergekommene Anwesen zusammen mit den auszubildenden Zöglingen unter fachkundiger Aufsicht renovieren. Die Idee gilt als Meilenstein in der Geschichte der evangelischen Diakonie; Johann Hinrich Wichern hat später hier sein großes Vorbild für das »Rauhe Haus« gesehen.42 Die »Gesellschaft der Freunde in der Not«, wie der Trägerverein sich nannte, hatte sich in Weimar 1813 als Reaktion auf das anwachsende Kriegselend gegründet und sich bald auf die Hilfe für Jugendliche konzentriert, die durch die Kriegsereignisse zu Waisen geworden waren, Obdach und soziale Bindungen verloren hatten und sich oft genug als vagabundierende Kleinkriminelle am Leben hielten. Um sie zu resozialisieren, um also »das Zuchthaus um so viele Kandidaten zu betrügen, als möglich ist«,43 wie Falk schrieb, boten ihnen die »Freunde in der 39
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Vgl. Steffens, »Dem wahrhaft großen Dr. Luther ein Ehrendenkmal zu errichten« (wie Anm. 35), S. 118-121, hier S. 119. Vgl. J. K[arl] F. Knaake, Vorwort. In: Martin Luther, Werke. Kritische Gesammtausgabe, Bd 1, Weimar 1993, S. XV-XXII, hier S. XV. Vgl. zum Folgenden und weiteren Beispielen knapp Lorentzen, 19. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 126-131. Vgl. Johann H. Wichern, Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder. In: Johann H. Wichern, Sämtliche Werke. Hrsg. von Peter Meinhold, Bd 4/1, Berlin 1958, S. 47-95, hier S. 54-86. Johannes D. Falk, Erziehungsschriften. Hrsg. von Ralf Koerrenz und Alexandra Schotte, Jena 2012, S. 138.
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Not« Hilfe zur Selbsthilfe an, indem sie heranwachsende Jungen zur Ausbildung bei kooperierenden Meistern vermittelten und das Lehrgeld bezahlten; für Mädchen sollte eine Strick-, Näh- und Spinnanstalt, für beide Geschlechter eine Sonntagsschule gegründet werden; außerdem nahm Falk diejenigen Jugendlichen bei sich selbst auf, die noch nicht vermittelt worden waren, als schwer erziehbar galten oder sonst eine direkte Betreuung brauchten. So wurde der Satiriker und Moralist zum Pädagogen, das Falksche Institut zum Prototypen des evangelischen Rettungshauses.44 Nach einer Kündigung musste das Institut ins Luthergäßchen umziehen, wo Falk aus der Not eine Tugend machte und die Renovierung der verfallenen Hofanlage zum Teil seines Ausbildungskonzepts erklärte. Bald kannte man die neue Adresse als den »Luthershof«.45 Die naheliegende Frage ist nun, ob Falk die Gelegenheit nutzte, an der legendarischen Lutherstätte einen Gedächtnisort alternativer Art zu etablieren, im Sinne einer »lebendigen« Denkmalsidee, wie es in der Debatte um ein Luthermonument gefordert worden war. Immerhin hatte Falk es 1817 abgelehnt, sich an den großen Weimarer Feiern zum Reformationsjubiläum zu beteiligen, die ihm zu prunkvoll, zu oberflächlich erschienen; er hatte mit den Zöglingen am Eingang zum Luthergäßchen ein frommes musikalisches Gegenprogramm inszeniert, um Geld für sein Institut einzuspielen.46 Seine eigenwillige Bewunderung für Luther wuchs nach dem Umzug an diese Adresse sprunghaft an; sie war ihm, dem Danziger Reformierten, möglicherweise auch durch seine Freundschaft mit Johann Gottfried Herder vermittelt worden, dem Weimarer Superintendenten.47 Der Gedanke an ein ideelles Luthermonument an dieser Stelle drängt sich geradezu auf. Tatsächlich verwendete auch Johannes Falk die aktuell diskutierte Argumentationsfigur vom »lebendigen« gegen das »tote« Denkmal, gab aber der Alternative eine überraschende Wendung: Als 1822 der Bau von Betsaal und Schule im Lutherhof bevorstand, brachte er zur Vorfinanzierung ein Büchlein mit Noten und Kupferstichen heraus, »Das Vaterunser [...], wie solches in der Weimarischen 44
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Zu Falk und den »Freunden in der Not« vgl. Gerhard Heufert, Johannes Daniel Falk. Poet und Pädagoge, Wiesbaden 2013; Christian Hain, Das Falksche Institut in Weimar. Fürsorge und Geschlecht im 19. Jahrhundert, Köln 2015 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 41); Johannes Daniel Falk – Impulse für Pädagogik, Diakonie und Sozialpolitik. Hrsg. von Ralf Koerrenz und Michael Haspel, Weimar 2016 (= scripturae, 5). Vgl. die Giebelrede des Zimmergesellen bei Falk, Erziehungsschriften (wie Anm. 43), S. 89. Vgl. Christian Hain, Fürsorgeideen des 19. Jahrhunderts in Feiern und Festen. Johannes Daniel Falk und Johann Hinrich Wichern im Vergleich. In: Festkulturen im Vergleich. Inszenierungen des Religiösen und Politischen. Hrsg. von Michael Maurer, Köln [u.a.] 2010, S. 217-241, hier S. 231-235; zum Reformationsjubiläum in der Region vgl. auch Kay Ehling, »Ein verworrener Quark« – Goethe und das Dritte Evangelische Jubelfest in Weimar 1817. In: Archiv für Kulturgeschichte, 97 (2015), S. 395-426; Stefan Gerber, Konfession und Nation im »Ereignis Weimar-Jena«. Die Feiern zum 300. Reformationsjubiläum 1817. In: Spannungsreich und freudevoll. Jenaer Festkultur um 1800. Hrsg. von Johanna Sänger und Lars Deile, Köln [u.a.] 2005, S. 74-110, dort zu Falk S. 106 f. Vgl. Andreas Lindner, Johannes Falk und Luther. In: Falk-Jahrbuch, [2] (2006-2008), S. 33-41; Johannes Demandt, »Lebendigkeit und Kraft zum Wirken«. Die Bedeutung Martin Luthers für das Wirken Johannes Daniel Falks. In: Johannes Daniel Falk – Impulse für Pädagogik (wie Anm. 44), S. 89-122 und S. 241-249, zu Falks Ortsbezug bes. S. 91 f.
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Abb. 6: Johann Gläser, Vorderseite des Lutherhofes zu Weimar nach dem Schlosse zu, 1822. Klassik Stiftung Weimar, HAAB, ZA 695 (7)
Sonntagsschule mit den Kindern gesungen, durchsprochen und gelebt wird«. Das werbende Vorwort beginnt: »Edle Freunde in der Not zu Weimar versorgten [...] nach den Schlachten von Jena, Lützen und Leipzig, eine Menge, durch den Krieg unglücklich gewordener, oder verwilderter Kinder. Fast 200 derselben haben Handwerke gelernt, und sind sehr geschickte Schlösser, Mäurer, Tischler, Tüncher, Zimmerleute, Steinmetzen u. s. w. geworden. Wie die gedruckten Namensverzeichnisse ausweisen, sind unter denselben nicht nur kleine Sachsen, sondern auch Russen, Preußen, Baiern, Rheinländer, Böhmen, Katholiken, Lutheraner, Reformirte und Juden gewesen, die der Sturm des Zufalls in die Nähe der drey großen Schlachtfelder [...] unter und durch einander warf [...] Nun haben wir den Plan, zum Andenken jener ernsten Zeit, durch die frommen Hände der besagten Kinder selbst, einen Betsaal nebst Schulhaus erbauen zu lassen [...] Eine schwarze Marmortafel soll ganz einfach die folgende Inschrift erhalten: Nach den Schlachten von Jena, Lützen und Leipzig, erbauten die Freunde in der Not, durch 200 gerettete Knaben, dieses Haus dem Herrn, zu einem ewigen Dankaltar.«48 Damit ist die entscheidende Stelle für Falks alternative Denkmalkonzeption gefunden: Nach den verlustreichen Niederlagen gegen Napoleon zu Jena-Auerstedt und Lützen, nach dem gleichermaßen verlustreichen Sieg in der Völkerschlacht bei Leipzig sollte der Lutherhof dem Andenken gewidmet sein und gleichzeitig dem Dank an Gott Ausdruck verleihen. Auf dem Entwurf zur Schauseite (Abb. 6) 48
Das Vater unser, in Begleitung von Evangelien und uralten christlichen Chorälen, wie solches in der Weimarischen Sonntagsschule mit den Kindern gesungen, durchsprochen und gelebt wird [...] Im Anhange eine kurze Geschichte der Anstalt der Freunde in der Noth zu Weimar. Hrsg. von Johannes Falk, Weimar [u.a.] 1822, hier S. III f. Hervorhebung dort gesperrt.
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sind unter der Säulenloggia statt einer einzigen fünf Plaketten zu sehen. In der Mitte liest man: »Anstalt der Freunde in der Noth«, flankiert von den Ortsnamen »Jena 1806«, »Lützen 1813«, »Leipzig 1813«, »Belle Alliance 1815«. Für diesen Hauptbau also bat Falk um Unterstützung, »damit, unter dem Prunk müßiger Denkmäler der Gegenwart, des Spieles, des Tanzes, der Lust, die so üppig vor unseren Augen emporwuchern, außer dem Klange von Trillern und weltlichen Saitenspielen, auch einmal wieder ein Psalterklang, zu Gottes und unsers frommes Volkes Ehren erklinge und laut werde, ein ernstes Denkmal, im Geist unserer Vorfahren, das, wie ein weinender Engel, in den Schutt der verfallenen Städte, mit freundlichen Kinderaugen, herunter schaut; und das, wenn es uns, mit leuchtenden Cherubsflügeln, über die verdunkelte Stunde Zeit, und die bald vergessene Spanne Grab, hinwegträgt, allen Ständen die höhere Besinnung prediget, welche die Gegenwart fordert, die Zukunft ahnet und die dem Geist einer echt veredelten, christlich fortschreitenden Menschenbildung gemäß ist.«49 So sollte der Lutherhof mit seinem geplanten Betsaal also wirklich ein ideelles Denkmal werden, das den Namen des legendarischen Bewohners mit einem alternativen Völkerschlachtgedenken verband; alternativ, weil es nicht der triumphalen Selbstvergewisserung einer enttäuschten Siegernation dienen sollte, sondern denjenigen, die unter den Kämpfen gelitten und hier, am Ort des Denkmals selbst, eine neue Perspektive bekommen hatten; alternativ, weil es diesen Dienst ohne jede Rücksicht auf Herkunft und Konfession der Jugendlichen leisten sollte; alternativ, weil seine soziale Bestimmung Trost spenden und zur Besinnung anleiten sollte. Der originelle Sonderweg im Denkmaldiskurs des 19. Jahrhunderts zeigt, dass zur Dominanz nationalmythischer, heroischer, triumphaler Erinnerungskultur durchaus Alternativen bestanden, Varianten historischen Gedenkens zugunsten Hilfsbedürftiger. Indem Johannes Falk am legendarischen Lutherort ein solches Völkerschlachtgedenken alternativer Art etablieren wollte zugunsten jugendlicher Opfer der Kriegsereignisse, hinterging er demonstrativ die allfälligen Erwartungen, Lutherstätten müssten identitätsstiftende Monumente der Nation sein. Historisches Gedenken, das nicht irgendwie der Liebestätigkeit zugute käme, lehnte er scharf ab.50 Wahres Christentum war für ihn nur als tätige Nachfolge vorstellbar: »Was ist ein Glaube ohne Liebe? Ein liebloser Glaube!«51 Alternativ zur triumphalen Erinnerungskultur der Monumente möchte ich darum von diakonischer Erinnerungskultur sprechen. Kirchengeschichtliche Gedächtnisforschung muss solche Alternativen seriöserweise mitregistrieren, will sie den Eindruck vermeiden, der Weg zum wilhelminischen Nationalhelden Luther sei von Arndt bis Treitschke schicksalhaft vorherbestimmt gewesen.
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Ebd., S. V. Hervorhebung dort gesperrt. Vgl. Falks Kritik an Weimarer Festivitäten bei Hain, Fürsorgeideen (wie Anm. 46), S. 224-226. Johannes Falk, Geheimes Tagebuch 1818-1826. Aus dem Nachlaß hrsg. von Ernst Schering, Stuttgart 1964, S. 113; vgl. Katharina Stoodt-Neuschäfer, »Die Predigt ist keine That; aber die That ist eine Predigt«. Johannes Falks Christentum der Tat. In: Johannes Daniel Falk – Impulse für Pädagogik (wie Anm. 44), S. 123-138 und S. 250-254.
Jens Boysen Soldatischer Protestantismus in Zeiten von Macht und Ohnmacht. Die Bedeutung der evangelischen Konfession für das preußische Offizierkorps 1740-1919 Zu jenen Eigenarten, die im Laufe seiner Geschichte dem (brandenburgisch-) preußischen Staat bzw. seinen Eliten – von Freund wie Feind – attestiert worden sind, gehört die angebliche Besonderheit der Stellung des Militärs sowie der zivilmilitärischen Beziehungen und vor allem das Verhältnis zwischen Monarch und Armee. Die damit verbundenen Bilder und Mythen – und zwar die negativen noch mehr als die positiven – haben unter der prüfenden Lupe der historischen Analyse wenig Bestand. Vielmehr erweist sich der (brandenburgisch-)preußische Staat als ein durchaus typisches, wenn auch außergewöhnlich erfolgreiches Beispiel (früh-)moderner Staatsbildung in deutschen Landen bzw. Europa. Und dazu zählte in diesem wie in anderen Fällen die außenpolitische Sicherung durch ein schlagkräftiges Heer, in dem zugleich die rational-aufklärerischen Tendenzen der Zeit praktisch umgesetzt wurden. Gleichwohl hat sich die preußische Armee, und das heißt aus Sicht einer Geschichte der zivil-militärischen Beziehungen auch der preußische Staat, einen ganz eigenen Ruf erworben, demzufolge beide in ihrer Blütezeit (die sich von 1648 je nach Präferenz bis 1870 oder 1918 datieren lässt) die Besten auf ihrem jeweiligen Gebiet waren: hier die Schaffung und unbestechliche Verwaltung eines modernen Flächenstaates, dort eine Kette strategischer Siege, die sich der technischen und organisatorischen Überlegenheit des Offizierkorps als auch dem stupenden Opfermut aller Soldaten verdankten und aus der mäßig interessanten Mark Brandenburg, der »Streusandbüchse« des Heiligen Römischen Reiches, zunächst die fünfte Großmacht Europas und schließlich den Kern des Zweiten Reiches machten. Was für viele Beobachter im In- und Ausland Grund zur Bewunderung war, wurde in einer negativen Wendung zum »preußischen Militarismus« – einem Schlagwort ohne echten analytischen Wert, das aber der Propaganda der Weltkriegsgegner als Argument dafür gedient hat, die sich im Kern auf die politisch-militärischen Leistungen Preußens gründende Nationalstaatlichkeit der Deutschen zu diskreditieren. Tatsächlich fiel in Preußen weder die (tatsächlich vergleichsweise maßvolle) Anwendung militärischer Gewalt nach außen noch die – meistens und bei den meisten – angesehene Stellung der Armee im Innern merklich aus dem Rahmen der europäischen Norm.
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Hier interessiert aber etwas Anderes: Unabhängig von der wie auch immer motivierten Bewertung scheint der empirische Fakt unstrittig zu sein, dass die preußische Armee eine besondere Leistungsfähigkeit und Ausdauer auszeichneten, die – besonders bezüglich des über lange Zeit fast ausschließlich adligen Offizierkorps – auf einem spezifischen Ethos der Hingabe, Unbeugsamkeit und Opferbereitschaft beruhten. Als Illustration hierfür mag das Urteil eines amerikanischen Beobachters aus der Kaiserzeit dienen: »[V]ergegenwärtigen wir uns, was der arme preußische Adel in der Vergangenheit, wo er die Offiziersstellen allein inne hatte, geleistet hat, um die Armee zu dem zu machen, was sie ist, so könnten wir sogar ein bisschen Begünstigung verstehen, denn er hat sich, Generationen hindurch, im Dienste seine gesunden Glieder brechen lassen, fast ohne je irgendwelche materielle Belohnung dafür zu erhalten. Wenn Adelsstolz verzeihlich ist, so ist er es hier, wo Generationen selbstlos einem schweren Dienst sich widmeten.«1 Nimmt man hierzu die Tatsache, dass dieses Offizierkorps bis zuletzt überwiegend protestantisch geprägt war und dies – jedenfalls in der Spätphase – auch ostentativ kultivierte, so führt das zu der Leitfrage, inwieweit der Protestantismus als identitätsstiftendes und handlungsmotivierendes Merkmal des preußischen Offizierkorps angesehen werden kann. Dabei ist zu beachten, dass derartige kollektive »Charaktermerkmale« in hohem Maße auf Selbst- und Fremdwahrnehmungen beruhen. Ebenso besteht zwischen genuin religiösen und weiter gefassten kulturellen Ansichten bzw. Inhalten eine fließende Grenze. Das betrifft im vorliegenden Fall den »Kulturprotestantismus« – weniger im beispielsweise von Ernst Troeltsch geprägten religionswissenschaftlichen Sinne als einer organischen Anpassung des evangelischen Dogmas an die Moderne,2 sondern eher im landläufigen Sinne als ein Bündel alltäglicher Anschauungen und Verhaltensweisen, die auf das ethischnormative Fundament der evangelischen Lehre zurückgeführt werden (können). In dieser Form wurde der Kulturprotestantismus spätestens im 19. Jahrhundert für die preußischen Eliten, darunter das Offizierkorps, stilprägend. In diesem Zusammenhang ist rückblickend zu fragen, ab wann eine solche Entwicklung zumindest ansatzweise zu beobachten war. Im Hintergrund kann in Anlehnung an das Modell des Historikers Brian Porter-Szűcs, der im Hinblick auf das moderne Polen vom Konzept der »ethno-Catholics« spricht – also einer Nation, für die die dominierende Konfession (wenigstens in der Selbstwahrnehmung) zu einem quasi-ethnischen Merkmal geworden sei –,3 für die Preußen bzw. die protestantischen Deutschen allgemein die Frage nach der Existenz deutscher »Ethno-Protestanten« und ihrem Verhältnis zu den katholischen Deutschen gestellt werden.4
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Sidney Whitman, Psychologie der deutschen Armee. Erweiterter Abdruck in: Das Kaiserliche Deutschland. Eine kritische Studie von Thatsachen und Charakteren, Teil VII, Berlin 1889, S. 18 f. Als begriffs- und sozialgeschichtlichen Einstieg siehe Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 14-23. Vgl. Brian Porter-Szűcs, Faith and Fatherland. Catholicism, Modernity, and Poland, Oxford 2011. Porter-Szűcs führt hierzu das Beispiel des Nordirlandkonflikts an, ebd., S. 13.
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Als Zeitrahmen wird jene Epoche gewählt, in welcher der Aufstieg Preußens über die Stellung eines gewöhnlichen deutschen Territorialstaats hinaus allseits sichtbar wurde, also von Friedrich dem Großen über die Krisenzeit der Reformen zwischen 1807 und 1815 bis zur Reichsgründung. Gleichwohl ist ein Rückgriff auf das 17. Jahrhundert ebenso notwendig wie ein Ausblick auf jene elementare Krise, die der Übergang von der Monarchie zur Republik 1918/19 und die radikale Änderung des zivil-militärischen Verhältnisses bedeuteten.
Frühneuzeitliche Modernisierung und Konfession(en) Durch die Annahme der Reformation 1539 sowie die 1618 erfolgte Belehnung mit dem Herzogtum Preußen durch die polnische Krone, das 1525 durch die Säkularisierung des Deutschordensstaates als erste protestantische Herrschaft entstanden war, verband sich die Markgrafschaft Brandenburg zum einen – wie ein Großteil der norddeutschen Fürstentümer – mit dem Luthertum, zum anderen wurde es zu einem Akteur im Ostseeraum bzw. im polnisch-litauischen Ostmitteleuropa. Gleichzeitig erfolgte eine Orientierung nach Westen, d.h. in die Niederlande. Von dort kamen in die Mark nicht nur Einwanderer mit wirtschaftlich wertvollen Fähigkeiten, sondern ebenso wegweisende Errungenschaften der dort Ende des 16. Jahrhunderts durchgeführten »Oranischen Heeresreform«.5 Auch war die hohenzollersche Dynastie 1613 zum Calvinismus konvertiert, um sich in dem seit 1609 herrschenden Jülich-Klevischen Erbfolgestreit niederländische Unterstützung zu sichern. Diese doppelte geografisch-politische Ausrichtung nach Westen und Osten und die damit einhergehende Zerstreuung der hohenzollernschen Territorien vom Niederrhein bis nach (Ost-)Preußen erforderte zum einen eine stets zielstrebige und auf Arrondierung gerichtete Außenpolitik. Angesichts einer Knappheit an natürlichen Ressourcen und kaum etablierter Herrschaftsmethoden bewirkte diese Ausrichtung andererseits maximale Effizienzanforderungen an Personen und Strukturen und eine Art permanenter Modernisierung, wofür die Niederlande seinerzeit als Vorbild galten. Zudem war die Epoche des Dreißigjährigen Krieges mit ihren so fatalen Todeszahlen und anderen Zerstörungen ursächlich für das ausgeprägte Sicherheitsbestreben nicht nur der Hohenzollern, sondern aller deutschen Fürsten. Der Katalog der »preußischen Tugenden« war mithin im zivilen wie im militärischen Bereich zunächst ein Produkt von Rationalismus und Frühaufklärung, welche aber eine klare religiöse Grundierung besaßen. In dieser Hinsicht wies die militärische Kultur des brandenburgisch-preußischen Offizierkorps schon lange vor der Kirchenunion von 1817 eine hybride Verbindung lutherischer mit reformierten Tugenden auf: hier Frömmigkeit, Gehorsam, Treue, Härte und Opferbereitschaft, dort Leistungsorientierung, Sparsamkeit, Effizienz, Klugheit und Innovationsfreude.
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Vgl. als Einführung und kritische Forschungsreflexion Therese Schwager, Militärtheorie im Späthumanismus. Kulturtransfer taktischer und strategischer Theorien in den Niederlanden und Frankreich (1590-1660), Berlin, Boston 2012, bes. S. 4-52.
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Vor allem die so motivierten Leistungen des Großen Kurfürsten erlaubten den Aufstieg nach 1648 und letztlich die Erlangung der Königswürde in Preußen. Maßgeblich verstärkt wurde der protestantische Charakter des Offizierkorps im 18. Jahrhundert durch die seit 1685 ins Land geholten Hugenotten, die häufig adliger oder bürgerlicher Abkunft und relativ gebildet waren. Die modernisierungsbedürftige brandenburgische Armee bot ehemaligen französischen Offizieren gute Aufstiegschancen, da sie sowohl militärtheoretisches Wissen als auch praktische Kampferfahrung mitbrachten. So traten zwischen 1685 und 1688 ca. 600 Offiziere und 1000 Mannschaften »französischer Nation« in die Armee des Großen Kurfürsten ein.6 Als militärische Fachleute, aber auch als Calvinisten stärkten sie – wie ihre zivilen Glaubensgenossen – die Stellung der Hohenzollern in ihrem überwiegend lutherischen Land, was anfangs nicht zuletzt wegen der umfangreichen Privilegien für Zuwanderer zu Spannungen mit den Einheimischen führte; zudem förderten sie in der Armee die besagten »reformierten« Tugenden wie Einsatzfreude und Innovation. Unter Friedrich Wilhelm I. kam es zu einer nochmaligen lutherisch – d.h. durch Strenge und Leistungsdruck einerseits, aber Friedfertigkeit und Genügsamkeit andererseits – geprägten Phase. Immerhin fielen in seine Regierungszeit die Anfänge einer katholischen Militärseelsorge. Darauf folgte unter Friedrich dem Großen eine Epoche, in der sich die Fähigkeiten des Heeres erstmals im großen Stil zeigten und der König reichs- und europaweit bestaunt wurde, in der aber eine religiöse Zuschreibung äußerst schwierig war. Persönlich religiös indifferent und voll aufklärerischen Spotts, machte sich Friedrich zwar die konfessionellen Spannungen in Schlesien für seine Eroberungspläne zunutze, konnte aber nicht wirklich als Fechter für die evangelische Sache angesehen werden; überhaupt verlor damals, hundert Jahre nach dem Westfälischen Frieden, die Konfessionsfrage ihre politische Bedeutung. Dass die preußische Armee in den drei Schlesischen Kriegen gerade das evangelische Sachsen unbarmherzig behandelte, zeugte ebenfalls kaum von besonderer Gemeinschaft. Mithin trug der sich entfaltende deutsche Dualismus trotz der betonten Katholizität der Habsburgermonarchie nur bedingt konfessionellen Charakter. Ebenso hatte die sich nach Goethes Wort ausbreitende »fritzische« Gesinnung zwar etwas Modernes, gegen die Verkrustungen des Reiches Gerichtetes an sich, und unter Protestanten war sie wohl verbreiteter als unter Katholiken.7 Aber der Mythos des Feldherrnkönigs und seines scheinbar unbesiegbaren Heeres war kaum religiös fundiert, sondern eher Ausdruck eines sozusagen neo-renaissancehaften Vitalismus, d.h. eines unbedingten, keine Verluste scheuenden Willens. Protestantisch war das Offizierkorps damals vor allem in einem deskriptivstatistischen Sinne, setzte es sich doch fast zur Gänze aus Adelssöhnen der evangelischen Provinzen der Mark, Pommerns, Ostpreußens und (Nieder-)Schlesiens zusammen. Diese überwiegend ländlichen Räume waren klar lutherisch geprägt: Mithin vermittelte erst die Erziehung im Heer über die eher passive lutherische Opferwilligkeit hinaus jenen calvinistischen Aktivismus. Die von Dichtern wie 6
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Vgl. Helmut Schnitter, Die Réfugiés in der brandenburgischen Armee. In: Gottfried Bregulla (Hrsg.), Hugenotten in Berlin, Berlin 1988, S. 311-326. Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 33 f.
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Johann Wilhelm Ludwig Gleim geschaffene sogenannte Militärlyrik übertrug ethisch-religiöse Züge auf das Heer,8 war aber nur am Rande konfessionell ausgerichtet und wurde in der Armee selbst offenbar äußerst wenig rezipiert.
Deutschlandpolitik und religiöse Motive im frühen 19. Jahrhundert Relevant war die Konfessionsfrage für die Rekrutierung neuer Offiziere in neu erworbenen Gebieten wie Schlesien oder später Westpreußen, denn Evangelische neigten dort weit stärker dazu, in die Armee einzutreten, als Katholiken. Dies hatte im monarchischen Staat in erster Linie mit der engen Bindung an die protestantische Dynastie zu tun und nur in zweiter Linie mit einer bewussten Hinwendung zur deutschen Kultur und Nationalität als Trägerin einer höheren, »westlichen« Zivilisationsstufe. Wo letzteres aber geschah, trug es zur Verschmelzung besonders slawischer und litauischer Bevölkerungsteile mit der deutschsprachigen preußischen Bevölkerung bei; in der Folge wurden die Masuren und Memelländer praktisch vollständig, die Sorben und Kaschuben zumindest in ihren protestantischen Teilen zu »integralen« Mitgliedern der evangelisch dominierten Trägerschicht der Monarchie, zu der das Offizierkorps an prominenter Stelle gehörte. Allerdings konnten diesem aufgrund des bis 1808 gültigen Adelsprivilegs nur Vertreter solcher Volksgruppen angehören, die einen eigenen Adel besaßen; das waren unter den genannten Gruppen allein die Kaschuben. Deren wohl prominenteste Vertreter im Offizierkorps – und wohlgemerkt konservative Lutheraner – waren die Generale Friedrich Bogislav von Tauentzien und Ludwig Graf Yorck von Wartenburg. Eher calvinistische, also aktive und vorwärtsgerichtete Haltungen waren hingegen prägend für die Tätigkeit der preußischen Heeresreformer nach der Niederlage von 1806/07, die es für einige Jahre erlaubte, die konservativen Strukturen der staatlichen und militärischen Organisation zu modernisieren. Die führenden Köpfe dieses Prozesses – Scharnhorst, Gneisenau, Boyen und Clausewitz – waren trotz ihrer christlichen Grundierung vor allem von weltlichen Faktoren wie der Philosophie der Aufklärung, insbesondere derjenigen Kants,9 sowie der modernen (und d.h. nicht zuletzt französischen) Militärwissenschaft beeinflusst. Die von ihnen geprägte Ära war der einzige Zeitraum, in dem die seit Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommene, allen voran von bürgerlichen Denkern beförderte liberale Nationalidee und -bewegung die staatliche preußische Politik maßgeblich beeinflusste (in der späteren Reichsgründungsära waren die Gewichte anders verteilt). Obwohl diese Bewegung im 19. Jahrhundert überwiegend von protestantischen Kräften getragen wurde, spielte die Konfessionsfrage im Preußen der Reformzeit eine untergeordnete Rolle; vorrangig war die Sammlung aller patriotischen Kräfte. So sah etwa der bei den Konservativen als »Jakobiner« verschriene Gneisenau im Rahmen seiner Planungen für einen neuen, diesmal durch einen 8
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Vgl. Christian Senkel, Patriotismus und Protestantismus. Konfessionelle Semantik im nationalen Diskurs zwischen 1749 und 1813, Tübingen 2015, S. 207 f. Vgl. Thomas Hippler, Citizens, Soldiers and National Armies. Military Service in France and Germany, 1789-1830, London, New York 2008, S. 144-149.
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Volksaufstand gestützten Krieg gegen Napoleon 1811 unter anderem vor, dass alle Pfarrer »gleich welcher Konfession« die Gläubigen durch biblische Erzählungen gegen die französische Besatzung mobilisierten.10 Hinzu kam, dass der französische Feind trotz der statistischen Gegebenheiten kaum als katholisch, sondern eher als säkular sowie als imperialistisch und traditionsfeindlich wahrgenommen wurde. Der Aufruf Friedrich Wilhelms III. »An mein Volk« vom 17. März 1813 war auch nur marginal religiös konnotiert; neben der gewohnheitsmäßigen (einmaligen) Anrufung Gottes nannte er als die im Kampf gegen Napoleon zu verteidigenden Güter »Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß und Wissenschaft«.11 Diese Formel wandte sich gleichermaßen an liberale wie an konservative Kräfte und implizierte zugleich die integrative und meritokratische Politikidee der Reformer. Besagte Politikidee sah sich in der auf den Sieg von 1815 folgenden Restaurationszeit schrittweise zurückgedrängt. Gerade im Offizierkorps kam es jenseits der rein militärischen und organisationswissenschaftlichen Errungenschaften zu einem Schwund der intellektuellen Kapazität, indem es wieder zu einem Garanten der monarchischen Macht im konservativen Sinne umgeprägt wurde. Hierbei wurde die christliche Religion gemäß den konservativen Staatstheorien der Zeit als zentraler Pfeiler der Ordnung angesehen; gleichwohl sind Rückschlüsse auf die tatsächliche Bedeutung des Glaubens für die Offiziere schwierig. In jedem Fall verfolgte der König eine restaurative Kirchenpolitik, die die von ihm 1817 angestoßene Kirchenunion unter anderem durch die zunächst 1821 im Heer (gleichsam als Test) und ein Jahr darauf in der zivilen Kirchenorganisation eingeführte gemeinsame evangelische Agende durchzusetzen suchte.12 In diesem Zusammenhang nahm der König eine antikatholische Haltung ein: So schuf die Militärkirchenordnung von 1832 keine katholische Feldpropstei analog zur evangelischen (jene entstand erst nach 1845 unter Friedrich Wilhelm IV.), und die Bestallung katholischer Militärgeistlicher war nur für Kriegszeiten vorgesehen. Dies stellte einen Rückschritt gegenüber der Ad-hoc-Praxis während der Befreiungskriege dar. Ebenso waren die vom König angeordneten und konzipierten gemeinsamen Gottesdienste, die sogenannten Kirchenparaden, für alle Soldaten einer Garnison verpflichtend, aber vom orthodoxen Protestantismus geprägt, was nicht nur viele rationalistisch gesinnte Geistliche, sondern auch manche Standortkommandanten, denen am inneren Frieden in ihren Garnisonen gelegen war, kritisch gesehen zu haben scheinen.13 Im 10
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Vgl. Georg Heinrich Pertz, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau, 5 Bde, Berlin 1864-1880, hier Bd 2, S. 137, zitiert nach Tim Blanning, Die Schlacht bei Jena 1806 – Hybris und Nemesis. In: Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen. Hrsg. von Andreas Klinger [u.a.], Köln [u.a.] 2008, S. 85-99, hier S. 97 f. Unklar ist, inwieweit Gneisenau hier auch die Juden im Blick hatte, die sich jedenfalls aktiv an der patriotischen Mobilisierung ab 1813 beteiligten; vgl. Horst Fischer, Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jahrhundert. Zur Geschichte der staatlichen Judenpolitik, Tübingen 1968, S. 32-41. (letzter Zugriff 19.12.2018). Vgl. Ilja Mieck, Preußen von 1807 bis 1850. Reformen, Restauration und Revolution. In: Handbuch der preußischen Geschichte, Bd 2: Das 19. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens. Hrsg. von Otto Büsch, Berlin, New York 1992, S. 3-292, hier S. 171. Eingehend zu den Inhalten der Militärgottesdienste und der Debatte siehe Werner Trolp, Die Militärseelsorge in der hannoverschen Armee. Betreuung innerhalb der allgemeinen
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Folgenden trat etwas ein, was in der Monarchie allgemein üblich war: Das militärische Kirchenleben gestaltete sich, unter vielfacher Modifikation der radikalen Haltung des Königs, pragmatisch.
Protestantische Monarchie und multikonfessionelle Gesellschaft Die Bedeutung der Konfessionsfrage – und besonders die Forderung nach der Bestallung katholischer Militärgeistlicher14 – war durch die territoriale Neuordnung von 1815 erheblich gewachsen. Bis 1850 wuchs der katholische Bevölkerungsanteil in Preußen auf 37,5 Prozent an. Während die oberschlesischen Katholiken außer ihrer weitgehenden Abstinenz vom Offizierkorps keine Probleme bereitet hatten, kamen mit den Polen in Posen und Westpreußen sowie den Rheinländern und teils den Westfalen überwiegend katholische Bevölkerungen hinzu, deren gespanntes Verhältnis zur preußischen Herrschaft und nicht zuletzt zur preußischen Armee zwar konfessionell gedeutet werden konnte, aber in erster Linie durch unterschiedliche politische Traditionen zu erklären war. Trotz anfangs weitreichender Angebote des Königs im Sinne eines konservativen, übernationalen Konsenses lehnte der polnische Adel fast ausnahmslos eine Karriere in der preußischen Armee ab, weil ihnen die soziale Privilegierung des preußischen Adels nicht genügte. Vielmehr strebte er nach Wiedergewinnung der 1795 bzw. 1815 verlorenen politischen Macht; in diesem Rahmen wurde der Katholizismus zunehmend zur Abgrenzung gegen die evangelischen Deutschen und zur Identitätsstiftung nach innen instrumentalisiert. Dennoch gelang es der preußischen Armeeführung eine Zeitlang, sich bzw. dem Staat die Loyalität der nichtadeligen Schichten zu sichern.15 Die Neupreußen des Rheinlands stellten die Berliner Regierung vor noch ernstere Probleme. In diesem als Bollwerk gegen Frankreich konzipierten Raum wirkten nicht nur die lokalen und regionalen Traditionen aus der Zeit des Reiches fort, sondern ebenso der hier nach 1815 in Kraft gebliebene Code Civil, der ein »unpreußisches« Anspruchsdenken förderte, und ein bürgerlicher Individualismus, der mit einer geringen Neigung zum zivilen oder militärischen Staatsdienst einherging. Diese Haltung, die etwa dem in Koblenz als Kommandierender General des VIII. Armeekorps eingesetzten liberalen Gneisenau seine Arbeit erschwerte, führte dazu, dass Katholiken im Rheinland noch in den 1830er Jahren – entgegen
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Strukturen der Kirche unter Berücksichtigung von Besonderheiten der Armee, Göttingen 2012, S. 30-37. Siehe hierzu Jens Boysen, Preußische Armee und polnische Minderheit. Royalistische Streitkräfte im Kontext der Nationalitätenfrage des 19. Jahrhunderts (1815-1914), Marburg/Lahn 2008, S. 115-118. Vgl. Jens Boysen, Faktoren von Integration bzw. Abstinenz polnischer Adliger gegenüber dem preußischen Heer nach 1815. In: Themenheft Militär und Gesellschaft in Herrschaftswechseln. Hrsg. von Andreas Gestrich und Bernhard Schmitt, Potsdam 2013 (= Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 17), S. 65-84.
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dem Wunsch der Regierung! – auf den höheren Ebenen der Verwaltung und in den Regimentern nur gering vertreten waren.16 Später scheint es hier zu einer Angleichung gekommen zu sein. Jedoch konnten entsprechende Bestrebungen katholischer Bewerber an der 1844 eingeführten Kooptation scheitern, der Wahl neuer Offiziere durch das Offizierkorps eines Regiments. Dieses Verfahren diente primär der sozialen Abschließung und Nachwuchsrekrutierung im konservativen Geiste. Hierdurch fand eine Verbürgerlichung der Armee nur sehr langsam statt. Gleichzeitig verstetigte sich durch die Herkunft der meisten Offiziere aus den Altprovinzen und deren enge Bindung an den König der evangelische Charakter des Korps, weniger im Sinne einer politischprogrammatischen Einstellung als vielmehr einer »habituellen« Positionierung gegen als fremd empfundene Kreise. Dazu zählten unter anderem die nunmehr als »peripher« wahrgenommenen Katholiken sowie – noch grundsätzlicher – die Juden. Im Zuge der Revolution von 1848/49 kam es dann zu einer allgemeinen politischen Mobilisierung des Offizierkorps, das fürderhin eine aktive antirevolutionäre Rolle nicht nur im Felde, sondern auch in der Militärpublizistik und schließlich der Politik selbst spielte.17
Armee und Konfession im neuen Reich Mehr im eigentlichen Sinne politische Motive standen hinter einer ähnlichen Entwicklung innerhalb der (klein-)deutschen Nationalbewegung, die auf dem nord- und mitteldeutschen, mehrheitlich protestantischen liberalen Bildungsund Besitzbürgertum basierte. Dieses identifizierte nach 1849 zunehmend den Katholizismus als inneren (Rückständigkeit und Ultramontanismus) und äußeren Gegner (Österreich, Frankreich und Polen), was es – seit 1867 in Gestalt der Nationalliberalen Partei – sowohl die Einigungskriege als auch den auf die Reichsgründung folgenden Kulturkampf unterstützen ließ. Die Armee selbst beteiligte sich nicht offen am Kulturkampf, ebenso wenig wie an anderen »zivilen« Debatten, trug aber durch die fortgesetzte Praxis der Offizierwahl zur Selbstdefinition des Reiches als evangelischer Staat bei; die ab 1890 vorgenommene Öffnung für (groß-)bürgerliche Kreise behielt den faktischen Ausschluss von Juden und Katholiken bei. Auf der parlamentarischen Bühne, wo allein eine Kritik an den höchsten staatlichen Einrichtungen möglich war, wurde zu Lebzeiten Wilhelms I., Moltkes und Bismarcks vor allem die Frage des Militäretats diskutiert. Nach 1890 wuchsen hingegen auch Formen politischer bzw. moralischer Kritik: Von links attackierte das sich formende Bündnis aus Linksliberalen, Sozialdemokraten, linken Katholiken, Elsass-Lothringern und Polen den »Militarismus« als Form gesellschaftlicher Rückständigkeit. Zugleich erhob die polnische Presse zwei einander tendenziell widersprechende Vorwürfe eher rechten Charakters: Erstens würden die heimatfern einberufenen polnischen 16
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Vgl. Dietmar Schössler, Clausewitz – Engels – Mahan. Grundriss einer Ideengeschichte militärischen Denkens, Berlin, Münster 2009, S. 97 f. Vgl. Eckhard Trox, Militärischer Konservativismus. Kriegervereine und Militärpartei in Preußen zwischen 1815 und 1848/49, Stuttgart 1990 (= Studien zur modernen Geschichte, 42), S. 138-148.
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Wehrpflichtigen in der Armee nicht nur »germanisiert«, sondern – schlimmer noch – protestantisiert bzw. »verluthert«; zum anderen sei aber das angeblich so christlich-konservative Offizierkorps in hohem Maße säkularisiert. Seine Angehörigen pflegten einen lässig-weltlichen Lebensstil, ihr Protestantismus sei oberflächlicher und deklarativer Natur, und demzufolge sei das Kirchenleben in der Armee vor allem ein Instrument der Disziplinierung und Kontrolle der Soldaten. Insbesondere würden die Anliegen der katholischen, allen voran der polnischen Soldaten vernachlässigt. Während der erste Vorwurf der Protestantisierung einer Überprüfung kaum standhält, trug der zweite durchaus einen wahren Kern in sich; die Verweltlichung der protestantischen Eliten war während des ganzen 19. Jahrhunderts beobachtbar gewesen. Trotz ihrer konfessionellen Voreingenommenheit bemühten sich die Militärbehörden im Kaiserreich um eine Verbesserung der katholischen Militärseelsorge; das Hauptproblem war dabei der Mangel an zweisprachigen katholischen Geistlichen, die bereit waren, in der Armee zu wirken.18 Der Erste Weltkrieg hatte zunächst den positiven Effekt, dass die Konfessionsfrage in den Hintergrund trat; auch die Katholiken und (zunächst) die Juden wurden als vollwertige Patrioten anerkannt. Die Niederlage brachte 1918 das Ende der Monarchie und damit des gerade im militärischen Bereich so wichtigen Summepiskopats (neben Preußen auch in Sachsen und Württemberg). Die Armee wurde aufgelöst und so ein völliger Traditionsbruch herbeigeführt, der die allgemeine Demoralisierung und politische Radikalisierung noch verstärkte. Schließlich führte das von den Siegermächten verfügte Verbot der Wehrpflicht zur Isolierung des seiner ideellen Grundlagen beraubten Offizierkorps in einer elitären Kaderarmee, in der die Heranbildung »unpolitischer« militärischer Experten ihren Höhepunkt erlebte.19 Das evangelische Bekenntnis behielt aber auch jetzt noch, da sich die Reichswehr ihr Personal selbst aussuchen konnte, weitgehend seine soziologische Markerfunktion bei; erst im Nationalsozialismus sollte ein neues – politisches – Bekenntnis den alten Glauben aus der Armee vertreiben. Beginnend mit der Aufhebung der verpflichtenden Teilnahme am Militärgottesdienst 1935 und der Förderung der Interkonfessionalität wurde der Weg zu einem »Gottgläubigentum« geebnet, das den Führer und Oberbefehlshaber der Wehrmacht als Sachwalter der Vorsehung anerkannte.20 Zugleich wurde die lutherische Gehorsamstradition auf fatale Weise missbraucht. Das letzte Aufbegehren des überkommenen (evangelischen) Christentums in der Armee erfolgte, im Verein mit anderen ethischen Motiven, am 20. Juli 1944.
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Vgl. Boysen, Preußische Armee und polnische Minderheit (wie Anm. 14), S. 119-135. Vgl. Eckart Kehr, Zur Soziologie der Reichswehr. In: Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, 2., durchges. Aufl., Berlin 1970, S. 235-244, hier S. 241 f. Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Die Erosion einer Säule. Wehrmacht und NSDAP. In: Die Wehrmacht. Mythos und Realität. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Rolf-Dieter Müller und Hans Erich Volkmann, München 2012, S. 420-435, hier S. 430-432; Georg May, Interkonfessionalismus in der deutschen Militärseelsorge von 1933 bis 1945, Amsterdam 1978, S. 93-100.
Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein
»Gott der Herr hat unsere braven Truppen gesegnet«. Kaiser Wilhelm II. als Verfechter des »gerechten« und »heiligen« Krieges 1914-1918 Der letzte Deutsche Kaiser kann als Beispiel eines sich als letzte Verkörperung des Staates verstehender Herrscher betrachtet werden, der im Rückgriff auf Traditionen wie das Gottesgnadentum nicht nur seine macht-, sondern auch seine religionspolitische Stellung verteidigte. Während des Ersten Weltkriegs beanspruchte er die alleinige Deutungshoheit über den Krieg, den er zu einem »gerechten« und »heiligen« Krieg verklärte. Im Folgenden sollen der Erwähltheitsgedanke Wilhelms II., die Devise »Gott mit uns« und die enge ideologische Verwobenheit von Gottesgnadentum, ZweiReiche-Lehre und christlich-lutherischer Kriegslehre in den Blick genommen werden, um abschließend die Frage zu beleuchten, inwiefern der Protestantismus in historischer Perspektive für die Kriegsdeutung Wilhelms II. verantwortlich gemacht werden kann.
Zum Erwähltheitsgedanken Kaiser Wilhelms II. Am 31. Juli 1914 richtete sich Wilhelm II. mit folgenden Worten an die Menschenmenge vor dem Berliner Schloss: »Eine schwere Stunde ist heute über Deutschland hereingebrochen. Neider überall zwingen uns zu gerechter Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand. Ich hoffe, dass, wenn es nicht in letzter Stunde in meinen Bemühungen gelingt, die Gegner zum Einsehen zu bringen und den Frieden zu erhalten, wir das Schwert mit Gottes Hilfe so führen werden, dass wir es mit Ehren wieder in die Scheide stecken können. Enorme Opfer an Gut und Blut würde ein Krieg vom deutschen Volke erfordern, dem Gegner aber würden wir zeigen, was es heißt, Deutschland anzugreifen. Und nun empfehle ich euch Gott. Jetzt geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer!«1 1
Friedrich Schwencke, Kriegsfrömmigkeit. Ihre Wirkungen, ihre Bezeugung, ihr Grund und ihre Kraft, Gütersloh 1915 (= Kriegsfrömmigkeit. Zeugnisse aus dem großen Kriege für Kirche, Schule und Haus, 1), S. 1.
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Und am 21. August 1914 schickte der Kaiser folgendes Siegestelegramm an seine Tochter Viktoria Luise: »Gott der Herr hat unsere braven Truppen gesegnet und den Sieg verliehen. Mögen alle bei uns daheim ihm auf den Knien ihre Dankgebete darbringen! Möge er auch ferner mit uns sein und mit unserem ganzen deutschen Volke! Dein treuer Vater Wilhelm.«2 An diesen beiden Zitaten sind zwei Dinge besonders auffällig: zum Ersten ein unübersehbarer Bezug auf das Religiöse; und zum Zweiten, dass gerade die Rede vor dem Berliner Schloss so formuliert ist, dass aus christlich-ethischer Perspektive eine Notwendigkeit zur Führung eines gerechtfertigten und damit grundsätzlich legitimierten Selbstverteidigungskrieges intendiert wird. Deutlich macht dies das Sprechen von »gerechter Verteidigung«, davon, dass man »uns« – dem Deutschen Reich – »das Schwert in die Hand« drücke und es darum gehen solle, den Gegner zur Einsicht zu bringen und den Frieden zu erhalten. Den Abschluss bildet darüber hinaus ein besonderer Aufruf zu Frömmigkeit und zur Unterstützung der Kriegsangelegenheiten, wenn der Kaiser zum Kirchgang, Niederknien vor Gott und Beten für das Heer mahnt. Und auch die eher private Nachricht an Prinzessin Viktoria Luise kündet in recht starkem Maße von der Glaubensgewissheit des Kaisers, dass Gott ihm, seinem Volk und Heer beistehe, wenn er von den gesegneten Truppen, einem von Gott verliehenen Sieg und einer entsprechend notwendigen, besonders dankbaren Demut gegenüber Gott spricht und schließlich ganz konkret seine Überzeugung eines »Gott mit uns« formuliert. Doch wie authentisch waren solche Worte Kaiser Wilhelms II. eigentlich? Antworten darauf liefern einerseits seine überlieferten Äußerungen3 und Schriftstücke und andererseits die aktuellen Ergebnisse der auf sein Leben, seine Politik und Religiosität bezogenen Forschung, wie etwa des Historikers John C.G. Röhl: »War nach der Überzeugung des Reichsgründers [Bismarck] das Verfassungsprinzip der ›Persönlichen Monarchie‹ als legale Fiktion gedacht, mit der sich der Obrigkeitsstaat gegen die Flutwelle des Parlamentarismus und der Demokratie würde schützen können, nahm Wilhelm die Theorie wörtlich und verstand sie als Legitimierung seiner Eigenherrschaft, ja mehr noch: als ihm vom Himmel auferlegte Verpflichtung zur Verteidigung der Monarchie von Gottes Gnaden. Nichts regte ihn so sehr auf wie der Verdacht, die Reichsoder Staatsregierung, der Reichstag, die politischen Parteien oder Presse könnten versucht sein, seine Prärogative als König von Preußen und Oberster Kriegsherr zu beeinträchtigen.«4 2 3
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Ebd., S. 5. Vgl. Die Reden Kaiser Wilhelms II. in den Jahren 1888-1912, 4 Bde. Hrsg. von Johannes Penzler, Leipzig 1897-1913; Ludwig Thoma, Die Reden Kaiser Wilhelms II. und andere zeitkritische Stücke, München 1965; Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II. Hrsg. von Ernst Johann, München 1966; Michael Obst, »Einer nur ist Herr im Reiche«. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner, Paderborn [u.a.] 2010 (= Wissenschaftliche Reihe der Otto-von-Bismarck-Stiftung, 14); Die politischen Reden Kaiser Wilhelms II. Eine Auswahl. Hrsg. von Michael Obst, Paderborn [u.a.] 2011 (= Wissenschaftliche Reihe der Otto-von-Bismarck-Stiftung, 15). John C.G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888-1900, Darmstadt 2001, S. 145.
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Dieses übersteigerte herrschaftliche Selbstverständnis, das Wilhelm II. pflegte und oft genug auf sehr deutliche Art und Weise zur Schau stellte, war das Ergebnis einer streng konservativ und religiös geprägten Erziehung, die die Ideale der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre und des Gottesgnadentums mit einem übermäßig starken Sendungsbewusstsein verband und in der Identität des Kaisers lebenslänglich verankerte.5 Selbst Otto von Bismarck bemerkte dazu: »Mit Friedrich Wilhelm IV. hat Wilhelm II. darin eine Ähnlichkeit, dass die Grundlage ihrer Politik in der Vorstellung wurzelt, dass der König und er allein den Willen Gottes näher kenne als andre, nach demselben regiere und deshalb vertrauensvollen Gehorsam verlange, ohne sein Ziel mit den Untertanen zu diskutieren oder denselben kundzugeben6 [...] Auf welche Weise der Kaiser sich über den Willen Gottes vergewissert, in dessen Dienst er seine Tätigkeit stellt, darüber wird kaum ein klassisches Zeugnis beizubringen sein.«7 Entsprechend sah Wilhelm II. die Monarchie als eine Institution von enormer Bedeutung und mit sinnstiftender Macht, wie es sonst nur eine Religion kann. Sich selbst verstand er dabei in ganz traditionellem Sinne als von Gott erwählter souveräner Landes- und Kirchenherr,8 der nicht nur die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Geschicke seines Staates in den Händen hielt, sondern als summus episcopus auch die theologische Ausrichtung seiner Landeskirche durch die Berufung oder Entlassung der Geistlichen in den oberen Führungsämtern bestimmte.9 So ließ es sich der Kaiser beispielsweise nicht nehmen, während des Ersten Weltkrieges auf seiner Yacht »Hohenzollern« selbst Sonntagsgottesdienste abzuhalten und zu predigen oder an Feldgottesdiensten teilzunehmen und anschließend erbaulich-fromme Ansprachen an die Soldaten zu richten. Dabei sprach er immer wieder von einem gerechten Verteidigungskrieg, den Deutschland reinen Gewissens gegen seine gottlosen Feinde führen müsse, von der Tapferkeit und Bedeutung des Dienstes, den das Militär gemäß göttlichem Willen verrichte, und von der Unterstützung Gottes, der stets auf der Seite Deutschlands, des Kaisers, seines Volkes und des deutschen Militärs stehe und es führe.10 Überhaupt verdeutlichte der Erste Weltkrieg in besonderer Weise, dass sich Wilhelm als ein Gottesstreiter mit einer bedeutenden Mission verstand und er den Krieg als »heiliges« Geschehen zur Neuordnung Europas und zur endgültigen Durchsetzung der Sonderrolle der deutschen Nation11 in der Weltpolitik 5
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Vgl. Martin Friedrich, Die Religion im Erziehungsprogramm Hinzpeters. In: Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds. Hrsg. von Stefan Samerski, Berlin 2001 (= Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, 5), S. 59-90; Klaus Erich Pollmann, Wilhelm II. und der Protestantismus. In: ebd., S. 91-104. Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. Reden und Briefe, Essen 1990, S. 511. Ebd., S. 510. Vgl. John C.G. Röhl, Wilhelm II., München 2013, S. 32. Vgl. Bernd Andresen, Ernst von Dryander. Eine biographische Studie, Berlin, New York 1995 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte, 63), S. 90, 214-231. Vgl. »Festes Vertrauen auf den großen Alliierten droben.« Der Kaiser beim Feldgottesdienst in Rivbowo (Polen) am 7. Februar 1915. In: Bilder und Texte aus der Soldatenseelsorge 1550-1945. Hrsg. vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr, Bonn 1983, S. 44. Wilhelm II. kam während seiner Regierungszeit die Popularität der Nationsidee zugute, denn ohne die Breitenwirksamkeit der ideologisch-religiös übersteigerten Utopie einer deutschen Nation, die schließlich zur Basis eines regelrechten Gemeinschaftskultes wurde, wäre eine solche Massenbegeisterung für den Krieg, die auch die Kirchen ergriff, wohl kaum mög-
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betrachtete.12 Besonders brisant an diesem Umstand war, dass nicht er allein es war, der solche Gedanken hegte und aussprach, sondern dass sie auf Basis eines Konglomerats unterschiedlichster Gründe gesellschaftlich weit verbreitet und auch in kirchlichen Reihen unterstützt wurden.13
Zu den Ursprüngen der Devise »Gott mit uns« Die Devise »Gott mit uns«, die 1817 dem preußischen Staatswappen zugefügt worden war, prangte ab 1871 auf dem sogenannten größeren Wappen des Deutschen Kaisers. Ab 1847 war der Wahlspruch der preußischen Könige auf den Koppelschlössern der Heeressoldaten zu finden, später auf den Koppelschlössern von Reichswehr und Wehrmacht sowie bis 1962 auch der Bundeswehr.14 Eine herausgehobene Bedeutung kam dem Spruch in der Kriegspropaganda zwischen 1914 und 1918 zu. Das Motto ist jedoch weitaus älter als oftmals vermutet. Bereits im Alten Testament (AT) sind Bekundungen Jahwes auszumachen, dass er seinem auserwählten Volk stets nahe, stets mit ihm sei (vgl. Ex 19,5-6). Von besonderer Bedeutung ist die Verheißung des Propheten Jesaja an den judäischen König Ahas (reg. 735-715 v.Chr.), dass Gott angesichts einer Zeit politischer Unruhen und kriegerischer Auseinandersetzungen mit den Assyrern (733-732 v.Chr.) ein Zeichen seines Beistandes schicken werde (vgl. Jes 7,10-14), und zwar die Geburt des Immanuel, was wörtlich ins Deutsche übersetzt Gott mit uns bedeutet. Diese Retterfigur wurde später im Neuen Testament (NT) als der verheißene Sohn Gottes identifiziert (vgl. Mt 1,23). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang nicht nur das unverbrüchliche Versprechen steten Beistandes Jahwes an sein Volk und im Kontext des NT an die gesamte Menschheit, sondern auch die Tatsache, dass dieses im AT noch ausschließlich gegenüber dem König des Volkes Israel formuliert wird. Das hängt eng mit den durch altorientalische Traditionen geprägten Vorstellungen von Königtum zusammen, die zunächst Jahwe als König seines auserwählten Volkes betrachteten, der Gesetze und Ordnungen (vgl. Ex 20,1–3) gibt, die er durch seine Propheten verkünden lässt. Erst in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts v.Chr. entstand das Königtum in Israel (vgl. 1 Sam 8,1-7): Der Herrscher erhielt sein
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lich gewesen. Wehler spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von der »›politischen Religion‹ des reichsdeutschen Nationalismus«. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, München 1995 (= Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3), S. 942 f.; vgl. auch Sven Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 158), S. 81-95. Vgl. Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 8), S. 121-130. Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die nationalgeschichtliche Umdeutung der christlichen Botschaft im Ersten Weltkrieg. In: »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hrsg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, Göttingen 2000, S. 249-261; Gerd Krumeich, »Gott mit uns«? Der Erste Weltkrieg als Religionskrieg. In: ebd., S. 273-284. Vgl. Hermann Wagner, Soldatenseelsorge im Wandel der Armeen. Der Militärpfarrer in Wehrmacht und Bundeswehr – aus evangelischer Sicht. In: Deutsches Soldatenjahrbuch 1998. 46. Deutscher Soldatenkalender, München 1998, S. 348-364, hier S. 356.
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Herrschaftsrecht von Jahwe und übte damit eine legitimierte bzw. – theologisch gesprochen – gerechte/gerechtfertigte Herrschaft aus, wobei er diesem auch weiterhin unterstand.15 Zu den Aufgaben des Herrschers zählten die Rechtsprechung, die Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung, die Pflege des Staatskults sowie die Sicherung des äußeren Friedens (vgl. 1 Sam 8-12.19-20). Aufgrund der Abhängigkeit des Königs vom göttlichen Beistand für das Gelingen seiner Herrschaft war er auch angehalten, weiterhin bezüglich der Unterlassung oder Unternehmung kriegerischer Handlungen Jahwe zu befragen und sich göttlicher Weisung zu fügen (vgl. 1 Sam 14,37; 23,2; 30,8; 1 Kön 22,5). Entsprechend war jeder Krieg, den der König führte, ein göttlich legitimierter und damit gerechtfertigter Krieg, bei dem er sich des Beistandes Jahwes gewiss sein konnte.16
Zur engen ideologischen Verbindung von Gottesgnadentum, Zwei-Reiche-Lehre und lutherischer Lehre vom »gerechten Krieg« Parallelen zum alttestamentlichen Königsverständnis zeigten sich in Europa vor allem im absolutistischen Herrschaftsverständnis europäischer Fürsten und Könige. Für sie spielte das Gottesgnadentum17 zum Teil bis weit in die Moderne hinein eine entscheidende Rolle für die Legitimation ihrer Stellung im Staat und gegenüber Gesellschaft, Kirche und Militär.18 Der Herrscher verstand sich als in besonderer Weise von Gott auserwählt, in einem Akt göttlicher Gnade in sein Amt eingesetzt und damit durch göttlichen Willen in seiner Funktion und seinem herrschaftlichen Handeln legitimiert. Die Grundlage dieser festen Verankerung des Gottesgnadentums als Bestandteil zunächst absolutistischer Herrschaftsideologie und seines Fortlebens als wichtiger Bestandteil konservativlegitimistischer Monarchieverständnisse in der Moderne – auch unter den Bedingungen konstitutioneller Monarchien – bildeten die in der Folge der durch Luther angestoßenen Reformation im 16. und 17. Jahrhundert eingetretenen religionspolitischen Ereignisse. Zum einen hatten der Augsburger Religionsfriede von 1555 und der Westfälische Friede von 1648 den rechtlichen Grundstein für die Entstehung von Landeskirchen gelegt, deren oberster Herr der Landesherr
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Vgl. Michael Pietsch, König/Königtum (AT). In: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2008, 3.2, (letzter Zugriff 20.12.2018). Ausführlicher zu Königtum und Krieg im AT: Hermann Michael Niemann, Herrschaft, Königtum und Staat. Skizzen zur soziokulturellen Entwicklung im monarchischen Israel, Tübingen 1993 (= Forschungen zum Alten Testament, 6); Reinhard Müller, Königtum und Gottesherrschaft. Untersuchungen zur alttestamentlichen Monarchiekritik, Tübingen 2004 (= Forschungen zum Alten Testament, II.3); Chaim Herzog und Mordechai Gichon, »Mit Gottes Hilfe«. Die biblischen Kriege, München 1998; Johann Maier, Kriegsrecht und Friedensordnung in jüdischer Tradition, Stuttgart [u.a.] 2000 (= Theologie und Frieden, 14). Vgl. Herbert von Borch, Das Gottesgnadentum. Historisch-soziologischer Versuch über die religiöse Herrschaftslegitimation, Berlin 1934. Vgl. Hermann Rehm, Modernes Fürstenrecht, München 1904.
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war.19 Zum anderen geht der Protestantismus lutherischer Prägung von der ZweiReiche-Lehre aus20, die grundsätzlich streng zwischen göttlicher und profaner Welt unterscheidet, diese aber zugleich in eine enge Beziehung zueinander setzt. Konkret heißt das, dass der Mensch sich in einem steten Spannungsverhältnis zwischen der ihm gemäß Rechtfertigungslehre bereits von Gott zugesprochenen Erlösung, die sich im Reich Gottes vollends realisieren wird, und dem damit verbundenen Aufruf zur Ausübung radikaler Nächstenliebe sowie dem Leben in einer zwar von Gott geschaffenen, aber unperfekten Welt befindet, in der das menschliche Handeln Vernunft und Gewissen unterworfen sein soll. Problematisch an der Zwei-Reiche- wie auch Rechtfertigungslehre Luthers ist die Tatsache, dass Luther selbst keine systematisch ausformulierten Lehrsysteme hinterlassen hat, sondern lediglich spätere Theologen auf Basis seiner theologischen Schriften21 diese Lehren identifiziert haben und so ein gewisser Interpretationsspielraum existiert. Die Folge sind in historischer Perspektive zwei Missverhältnisse: erstens eine entgegen der eigentlichen Intention der Rechtfertigungslehre oftmals eher passive Haltung gerade von Protestanten gegenüber staatlichen und sozialen Missverhältnissen mit einer zu geringen Wahrnehmung von Weltverantwortung, sowie zweitens eine auf Basis der Zwei-Reiche-Lehre begründete zu enge Verschmelzung von Religion und Politik, Staat und Kirche. Speziell der Herrscher nimmt in dem Weltverständnis der lutherischen ZweiReiche-Lehre eine Art Scharnierfunktion ein, indem er von Gott das weltliche Regiment als Vertreter Gottes erhalten hat. Er ist Herr über den Staat und über die Kirche, unterliegt jedoch genauso wie die Geistlichkeit Gottes Geboten. Er ist erster Christ im Staate, und seine Politik ist nicht nur Ausdruck seiner persönlichen Neigungen und Entscheidungen, sondern sie soll, ideal gedacht, stets Antwort auf Erfordernisse der Zeit zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Staat und Gesellschaft im Sinne göttlichen Gebots sein. Entsprechend waren Organe ausübender Herrschaftsgewalt wie etwa das Militär nach lutherischem Verständnis nicht nur notwendiger Bestandteil des weltlichen Regiments, sondern – solange 19
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Vgl. Jörn Sieglerschmidt, Territorialstaat und Kirchenregiment. Studien zur Rechtsdogmatik des Kirchenpatronatsrechts im 15. und 16. Jahrhundert, Köln [u.a.] 1987 (= Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, 15); Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein, Eine vergleichende Mikrostudie zur Entwicklung der Schulaufsichtsfrage in den Fürstentümern Reuß älterer Linie (1778-1918) und Reuß jüngerer Linie (1848-1918) unter den Bedingungen des langen 19. Jahrhunderts. Staat – Kirche – Volksschule im Reußenland, Teilbd 1, Leipzig 2016 (= Studien zur Religiösen Bildung, 9), S. 59–66. Die Zwei-Reiche- oder Zwei-Regimente-Lehre Luthers stellte eine Neuausrichtung der Zwei-Schwerter-Theorie dar, die durch die Interpretation von Bibelstellen zum Reich Gottes in seinem Verhältnis zur weltlichen Herrschaft durch Augustin (354-430) in dessen Hauptschrift »De civitate Dei« (413-426) für die Zeit des Mittelalters nachhaltig geprägt war. Sie versuchte der Kirche wieder mehr Freiraum gegenüber der Vereinnahmung durch staatliche Machtstrukturen zuzugestehen, was sich in der Realität der Neuzeit und Moderne jedoch nur bedingt realisiert hat. Vgl. Volker Mantey, Zwei Schwerter, zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund, Tübingen 2005. Die diesbezüglichen Hauptschriften sind: Über die Freiheit eines Christenmenschen (1520); Der Sermon von den guten Werken (1520); Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523); Wider die Mordischen und Reubischen Rotten der Bawren (1525); Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526); und die Predigten zur Bergpredigt (1530-1532).
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sie ein herrschaftliches Mandat für ihren Einsatz hatten – auch in ihrem Handeln staatlich und damit göttlich legitimiert.22
Zusammenfassung Stellt man nun angesichts der obigen Ausführungen zur Überzeugung Kaiser Wilhelms II. vom Ersten Weltkrieg als einem »gerechten« oder gar »heiligem« Krieg, den Deutschland mit Gottes Hilfe geführt habe, die Frage, inwiefern der Protestantismus für solch eine Deutung der Geschehnisse Verantwortung trug, so ergibt sich ein recht komplexes Geflecht von Antworten, dem natürlich im Rahmen dieses Beitrages nicht in gebotenem Maße nachgegangen werden kann. Dennoch sei auf einige Punkte hingewiesen. Durch die Rechtfertigungs- und Zwei-Reiche-Lehre, die sich aus Luthers Schriften herausarbeiten lassen, erhielten die beiden vorreformatorischen Traditionen der Zwei-Schwerter-Theorie und des Gottesgnadentums auch eine Legitimation und eine fortbestehende Geltung im Rahmen evangelisch-lutherischer Theologie: 1. Der Augsburger und der Westfälische Friede aus den Jahren 1555 und 1648 legten mit ihren religionsrechtlichen Bestimmungen die Grundlagen für die Herausbildung von Landeskirchen, die es den jeweiligen Territorialherren gestatteten, unter Bezugnahme auf die Zwei-Reiche-Lehre die Ämter des Landes- und Kirchenherrn miteinander auf das Engste zu verbinden und ihre machtpolitische Stellung darüber hinaus durch das Gottesgnadentum zu begründen. 22
Dies ergibt sich in letzter Konsequenz aus Luthers Ausführungen in: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523); und Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526). Darüber hinaus finden sich bei Luther Elemente der Lehre vom gerechten Krieg, wie sie von Augustin und auch von Thomas von Aquin ausgeführt worden waren. So formuliert Augustin etwa in »De civitate Dei«, dass ein Krieg nur als gerecht bzw. gerechtfertigt bezeichnet werden könne, wenn er durch eine legitime Autorität, d.h. eine legitimierte weltliche Obrigkeit oder gar durch Gott, angeordnet werde (legitima auctoritas), wenn er sich gegen begangenes Unrecht richte, also gegen einen feindlichen Angriff, der den Frieden und die geltende Rechtsordnung stört (causa iusta), und schließlich allein der Wiederherstellung des Friedens diene (iustus finis), der für Augustin den einzigen Sinn des Krieges darstellt. Thomas von Aquin greift wiederum Augustins Standpunkte zwar auf, entwickelt jedoch eine eigene Lehre vom gerechten Krieg (bellum iustum) in seiner zwischen 1265 und 1273 entstandenen »Summa theologica« (II/II, quaestio 40). Darin stellt er nicht nur dar, dass für ihn – anders als bei Augustin – nicht allein Friede als Zustand der Abwesenheit von Krieg das Ziel sei, sondern Friede die Errichtung und Erhaltung einer Ordnung bedeute, in der gläubige und nicht-gläubige Menschen zusammenleben und alle die Aussicht auf Erlösung haben: »Aus dem Tatbestand des nicht vollendeten Reiches Gottes erscheint der Krieg als eine Folge der Sünde wie auch als unvollkommenes Mittel, die Sünde und das Böse zu bändigen und Unschuldige zu schützen. Krieg als Einsatz tödlicher Gewalt zur Verteidigung des Rechts, oder auch um einen Angriff auf Unschuldige zu verhindern, rechtfertigt sich damit in dieser Tradition als eine Art kollektiver Notwehr.« Vgl. Wilhelm Dreier, Krieg. In: Word Biblical Commentary, München 1995, S. 691 f., hier S. 691.
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2. Auf Basis der Zwei-Reiche-Lehre und unter Berufung auf Luthers Ansichten zum Militärstand erhielten das Militär, der Offizier- und Soldatenberuf nicht nur eine hervorgehobene und theologisch legitimierte Stellung innerhalb des Staates, sondern auch der Krieg als äußerstes Machtmittel eine theologisch begründete Legalität, solange er den Anforderungen christlich-lutherischer Kriegsethik gerecht wurde. 3. In den protestantischen Ländern Deutschlands führte das absolutistische Selbstverständnis der Territorialherren auf Basis der Zwei-Reiche-Lehre und des Gottesgnadentums oftmals zu einer Überzeugung der besonderen Erwähltheit durch Gott, die sich im 19. Jahrhundert zunehmend mit nationalen Gedanken verband und sich in der Aneignung der Devise »Gott mit uns« ausdrückte. Diese Vorentwicklungen ließen die enge Bindung von Staat und Kirche entstehen, wie sie im Deutschen Reich zu finden war und sich bis 1918 unter dem Stichwort »Thron und Altar« unlösbar mit den Herrschaftsvorstellungen Wilhelms II. verband. Dieser vertrat die Vorstellung einer göttlichen Unmittelbarkeit des Staatlichen und des Herrschers samt dessen Ansichten, Entscheidungen und Handlungen mit besonderer Vehemenz und leitete auch seine Ansichten zu Militär und Krieg von diesen Überzeugungen ab. Entsprechend konnte für ihn der Erste Weltkrieg nur ein Verteidigungskrieg sein, da sich ausschließlich ein solcher theologisch als »gerechter« Krieg und seine Kriegspolitik unanfechtbar für äußere Kritik legitimieren ließ. Folglich glorifizierte er in seinen Reden, Briefen und Predigten von 1914 bis 1918 den Krieg, das Militär und die einzelnen im Kriegsgeschehen befindlichen Soldaten, deren Pflichterfüllung im Kampf er als göttlich legitimierten, gerechten oder auch geheiligten Auftrag und teils als Dienst äußerster, heldenhafter Nächstenliebe darstellte. Von besonderer symbolischer Bedeutung wurde vor diesem Hintergrund die in Preußen bereits schon länger tradierte Gravur der Koppelschlösser, denn das »Gott mit uns« stand hier nicht nur für die Selbstvergewisserung der Soldaten und Offiziere, sondern es stellte angesichts der eigentlichen alttestamentarischen Bedeutung als Beistandszusage Gottes an einen König im Krieg ebenfalls eine Art Schablone für die Selbstwahrnehmung des Kaisers dar, der nicht müde wurde, das »Gott mit uns« immer wieder in seinen öffentlichen Reden, Predigten, Soldatenansprachen und Briefen zu betonen. Angesichts dieser Forschungsergebnisse zeigt sich recht deutlich, dass der Protestantismus für die Entwicklung des engen Verhältnisses zwischen Staat, Kirche und Militär sowie folglich zwischen Politik, Religion und Krieg in entscheidendem Maße Verantwortung trägt. Denn in seiner Konsolidierungsphase führten nicht nur die Friedensverträge von 1555 und 1648 zur Herausbildung landesherrlicher Kirchenregimente, sondern er bot mit der lutherischen ZweiReiche- und Rechtfertigungslehre zugleich auch die Möglichkeiten, Herrschaft wie bereits im Mittelalter eng mit einer theologischen Legitimation zu verknüpfen und so dem sich auf das Gottesgnadentum berufenden Herrscher die Freiheit absoluter Gewalt über Staat, Kirche und Militär in beinahe unanfechtbarer Art und Weise zu übertragen. Ohne diese Voraussetzungen hätte eine solche Instrumentalisierung von Kriegsgeschehnissen (wie sie nicht erst im Rahmen des Ersten Weltkriegs geschah, sondern auch schon 1866 oder 1871 vorgekommen war), welche die eigentlich machtpolitischen Auseinandersetzungen in die höhere Sphäre der Ausübung göttlicher Gerechtigkeit im Rahmen historischer Ereignisse rückte, nicht stattfinden können.
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Unter Luthers Führung zum Heldentod an die Front. Völkisches Christentum in Bildbandvorträgen 1921-1941 Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Kampfes gegen Napoleon hatte man in Deutschland begonnen, bestimmte Nuancen des Lutherbildes stärker zu betonen und vor allem den »Freiheitshelden« herauszuarbeiten.1 So sah beispielsweise Johann Gottfried Herder in Luther einen »Propheten für unser Vaterland« und »Führer des deutschen Volkes«.2 Der 400. Geburtstags des Reformators wurde nur zwölf Jahre nach der deutschen Reichsgründung von 1871 mit entsprechender nationaler Euphorie in Form zahlreicher Publikationen, neuer Denkmäler, Medaillen und öffentlicher Feiern für den Stifter der geistigen und kulturellen deutschen Einheit begangen.3 Die Luthereuphorie fiel mit einer technischen Entwicklung zusammen, die weltweit das Bildungswesen veränderte. Bereits in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts waren fotografische Diapositive4 unverzichtbarer Bestandteil der Volksund universitären Bildung geworden.5 Insbesondere die Möglichkeit, zahlreiche Zuhörer simultan mit Bild und Wort zu erreichen, sowie die immersiven Kapazitäten des projizierten Bildes durch die Darstellung in einem abgedunkelten Raum trugen zum Siegeszug des »Lichtbildes« bei. Eine Vielzahl von Verlagen und Organisationen widmeten sich seiner Herstellung inklusive der Bereitstellung von passenden Vortragstexten. Die Erfindung des Films Ende des 19. Jahrhunderts erlaubte es bald, fotografische Positivbilder auf ein speziell behandeltes 35-mmFilmband aufzubringen und damit die Kosten bis auf ein Zehntel des Preises für Glasdiapositive zu senken.6
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Monika Flacke, Deutschland. Die Begründung der Nation aus der Krise. In: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Hrsg. von Monika Flacke, Mainz 2001, S. 101-128, hier S. 111 f. Leonard S. Smith, Religion and the Rise of History. Martin Luther and the Cultural Revolution in Germany 1760-1810, Cambridge 2010, S. 174. Flacke, Deutschland (wie Anm. 1), S. 115. Zur Herstellung der Glasdiapositive Ende des 19. Jahrhunderts Dwight L. Elmendorf, Lantern Slides. How to Make and Color Them, New York 1895, S. 13-40. Paul Eduard Liesegang, Die Projectionskunst für Schulen, Familien und öffentliche Veranstaltungen, nebst einer Anleitung zum Malen auf Glas, 10. Aufl., Düsseldorf 1896, Werbeanzeige. Arbeitsbericht des Reichsbundes deutscher Seegeltung, Oktober 1935-April 1937, S. 121.
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Abb. 1: Bildbandvortrag im Freien mit dem »Filmosto«-Projektor des Deutschen Evangelischen Filmdienstes. Werbepostkarte des Filmdienstes an einen Pfarrer, 1927. Deutsches Bildband-Archiv
Besonders in der politischen, religiösen und wirtschaftlichen Propaganda,7 in Kirchengemeinden und Vereinen waren Bildbänder beliebt. Der in Dresden beheimatete »Evangelische Filmdienst« verschickte Postkarten an Pastoren, um für seine handlichen Projektoren und Bildbandserien zu werben, die sogar bei Veranstaltungen im Freien hervorragende Ergebnisse zeigen sollten (Abb. 1). Ein Konvolut von 250 Bildbändern verschiedener Verlage mit zugehörigen Vortragstexten aus der Zeit von 1915 bis 1945 befindet sich im Besitz des 2016 gegründeten Deutschen Bildbandarchivs.8 Auf den Vortragstexten angebrachte Stempel verorten diese Teilsammlung in der »Fürsorgeabteilung des Kommandos der Marinestation Nordsee« beziehungsweise beim »Ev. Marinepfarrer beim Flottenkommando«, das sich in Wilhelmshaven befand. Die Fürsorgeabteilung, eine in der Weimarer Republik zunächst direkt dem Minister, ab 1934 dem Wehrmachtamt unterstellte Behörde, war mit der Weiterbildung der Soldaten
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Die 1916 gegründete »Deutsche Lichtbild-Gesellschaft« beispielsweise warb mit ihren Diaserien und Bildbändern für Deutschland als Reise- und Investitionsland. Das ist zu verstehen als eine Reaktion auf die bereits etablierte britische und französische Film- und Bildbandpropaganda. Vgl. Der Film im Dienste der nationalen und wirtschaftlichen Werbearbeit mit Anhang Film und Bild im Dienste unserer Feinde. Hrsg.: Deutsche Lichtbild-Gesellschaft e.V., Berlin 1917, S. 4. Staatsbibliothek zu Berlin, Digitalisierte Sammlungen, (letzter Zugriff: 19.12.2018). Digitalisate der hier vorgestellten Bildbänder und der Texte im Deutsches Bildbandarchiv (letzter Zugriff: 24.4.2017).
Unter Luthers Führung zum Heldentod
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und der Öffentlichkeitsarbeit der Marine betraut.9 Bildbänder aus der Weimarer Republik mit militärgeschichtlicher und politischer Thematik beschäftigen sich daher hauptsächlich mit dem Versailler Vertrag, mit Deutschlands Stellung in Europa, insbesondere gegenüber Frankreich, und der Marine im Ersten Weltkrieg. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verschob sich der thematische Fokus der Sammlung in eine völkische und gesamtmilitärische Richtung. Über die Hälfte aller Bildbänder des Konvoluts »Marinepfarramt« widmen sich jedoch der Reformationsgeschichte, der evangelischen Mission; sie stellen Luther, Bismarck oder andere protestantische, auf irgendeine Weise dem Militär verbundene Personen wie Gorch Fock oder Walter Flex vor. Von 1914 bis 1926 amtierte der spätere Reichsbischof Ludwig Müller als Marinepfarrer in Wilhelmshaven. Er galt als sehr aktiver und beliebter Vortragender.10 Seit 1916 war außerdem Friedrich August Ronneberger als Marineseelsorger tätig. Nach einigen Jahren Dienst auf diversen Schiffen arbeitete er von 1926 bis Kriegsende im Pfarramt vor Ort und kümmerte sich unter anderem um den Aufbau eines Kolonial- und Marinemuseums. Ronneberger wurde 1938 zum »Dienstältesten Marinedekan« ernannt und stand damit an der Spitze der evangelischen Marineseelsorge.11 Die Bildbändersammlung spiegelt nicht nur Aufgaben der Fürsorgeabteilung, sondern deckt sich in so vielen Punkten mit den persönlichen Präferenzen von Müller und Ronneberger, dass von einer Mitwirkung bei der Auswahl des Materials durch die beiden Exponenten ausgegangen werden kann.12 1946 legte Ronneberger, inzwischen verantwortlich für die Betreuung des Minenräumkommandos, »Richtlinien für die pfarramtliche Tätigkeit« fest, worunter »Vorträge weltlichen und geistlichen Inhalts« gerechnet wurden. »Filmstreifen und Vortragstexte«, so Ronneberger, könnten »zur Verfügung gestellt werden«.13 Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich hier um das nun (teilweise) im Deutschen Bildbandarchiv befindliche Konvolut. Folgende Beispielbänder sollen die Indienstnahme des lutherischen Glaubens durch die deutschnational-militaristische Ideologie insbesondere in den Bereichen soldatische Pflichterfüllung, Heldentod und Heldengedenken zeigen: Nr. 26, »Dr. Martin Luther«, Bildband des Evangelischen Filmdienstes, entstan-
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Walter Schwengler, Marine und Öffentlichkeit 1919-1939. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen (MGM), 2 (1989), S. 35-59, hier S. 37, 43. Thomas Martin Schneider, Reichsbischof Ludwig Müller. Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit, Göttingen 1993, S. 57, 74-76. Bettina Kreß, Friedrich Ronneberger. Marineseelsorge – Museum – Heldengedenken. In: Souvenirs von fremden Küsten. Katalog zur Ausstellung im Küstenmuseum am Bontekai 2004-2005. Hrsg. von Karin Walter und Bettina Kreß, Wilhelmshaven 2004, S. 23-33, hier S. 23, 27. Ronneberger blieb bis zu seinem Ruhestand 1956 als Pastor der Garnisonkirche in Wilhelmshaven. Zu Ronnebergers Einsatz in puncto Heldengedenken, z.B. für das Ehrenmal in Laboe: Kreß, Friedrich Ronneberger (wie Anm. 11), S. 30 f. Im Bildbandarchiv befinden sich sechs Bänder zum Thema Heldengedächtnis: Nr. 133, 134, 268, 292, 333, 387. Aus dem privaten Nachlass Friedrich Ronnebergers, Dienstältester Marinedekan i.R., S. 78. Ein Nachweis der Verbindung von Ronnberger und Müller zu den Bildbändern in Form von Bestellungen und Rechnungen fehlt bisher. Archivalische Forschungen sind in Planung.
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den vor 1923, verfasst von Superintendent Georg Apollo Buchwald in Rochlitz;14 Nr. 265, »Martin Luther, ein Kämpfer Gottes für das deutsche Volk«, Bildband der Film-Vertriebsgemeinschaft Berlin, 1940/41; Nr. 371, »Martin Luther, seine Freunde, Mitarbeiter und Gegner«, Bildband der Deutschen Lichtbild-Gesellschaft, 1940er Jahre; und Nr. 333, »Opfer und Dank«, Bildband der Film-Vertriebsgemeinschaft, entstanden nach 1944. Das Bildband »Dr. Martin Luther« feiert den Reformator nicht nur als Helden des Glaubens, sondern auch des Deutschtums, vergegenwärtigt durch den abgedruckten Liedvers »Einen Deutschern sahst du nicht«. Er ist als ein exemplarischer Deutscher dargestellt,15 stammend »aus dem Herzen Deutschlands« und gesegnet nicht nur mit den bürgerlichen Tugenden der Romantik,16 die sich in einer sittsamen, fleißigen, gläubigen und streng geführten Familie akzentuieren,17 sondern auch mit Eigenschaften, die einen guten Soldaten ausmachen sollen: Trotz-Trutz, Unbeugsamkeit und Mut formen den »Mann von Erz«.18 Es ist bezeichnend, wenn die der Bibelübersetzung beigegebene Illustration Luther als Junker Jörg am Schreibpult zeigt, neben ihm das Schwert über dem mit dem Kreuz gezierten Buchdeckel. Zwar verweist die Waffe auf die Tarnung des Reformators als ritterlicher »Junker« und »streitbare[r] Held«,19 andererseits gehörte das Schwert keineswegs zum festgelegten ikonografischen Repertoire der Übersetzungsszene auf der Wartburg.20 Die »Befreiung des deutschen Vaterlandes von römischer Aussaugung und Unterdrückung«, die Luther besonders am Herzen gelegen habe21 – so die Textbeilage –, hat bereits einen militärischen Unterton. Etwa 20 Jahre später, im Bildband »Martin Luther, seine Freunde, Mitarbeiter und Gegner«, ist aus der Befreiung von religiöser und monetärer Bedrückung durch die römische Kirche die Rettung des deutschen Wesens vom Wesensfremden geworden.22 Luthers Werk erscheint hier als Anfang einer neuen Ära, die ihre Vollendung, so ist vermutlich intendiert, in den völkischen Anstrengungen der Nationalsozialisten und somit der Reinigung von allem Nicht-Deutschen findet. Bild und Text von »Martin Luther, ein Kämpfer Gottes für das deutsche Volk« ziehen eine gerade Linie von den Aposteln zur Reformation mit den Deutschen im Zentrum: Das erste Bild zeigt die Aussendung der fast gänzlich mit westeuropä14
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Es handelt sich um Georg Apollo Buchwald, profunder Lutherkenner, in Rochlitz tätig 1914-1923, gest. 1947. Bildbänder und Texte des Deutschen Bildbandarchivs, Bild 26, Text S. 14, 19, (letzter Zugriff: 19.12.2018). Flacke, Deutschland (wie Anm. 1), S. 112. Bildbänder und Texte (wie Anm. 15), Bild 8, 49, 50, Text S. 4: »In solchem Haus wird kein Kind verzogen. Die Eltern waren streng«, zu Luthers Elternhaus, S. 25 f. Ebd., Nr. 26, Text S. 2. Das Lied auf der Melodie »Ein feste Burg« leitet den Vortrag ein. »Der streitbare Held auf der Wartburg«, so der Autor des Bildbandtextes in einer anderen Veröffentlichung aus dem Jahr 1902. Vgl. Georg Apollo Buchwald, Dr. Martin Luther. Ein Lebensbild für das deutsche Haus, Leipzig, Berlin 1902, S. 233. Gustav König stellte 1847 Luther bei der Übersetzung ähnlich der Bildbandvorlage dar. Adrian Ludwig Richter und Josef von Trenkwald visualisieren die Szene ohne kriegerische Elemente mit Luther im Gelehrtengewand, ebenso eine der ältesten Darstellungen aus dem 16. Jahrhundert. Bildbänder und Texte (wie Anm. 15), Nr. 26, Text S. 14. So lautet die Überschrift: »Die Befreiung des deutschen Volkstums vom undeutschen Geist des Romanentums«. Vgl. ebd., Nr. 371, Text S. 1.
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Abb. 2: Kirchgang einer deutschen Auslandgemeinde und alte Lutherbibel, Bild 48 aus »Martin Luther, ein Kämpfer Gottes für das deutsche Volk« Deutsches Bildband-Archiv
isch/nordischer Physiognomie versehenen Apostel, daran anschließend den zum gemeinsamen Singen bestimmten Liedvers »O dass doch bald dein Feuer brennte, o möcht es doch in alle Lande gehen«. Es folgen die gotische Bibelübersetzung auf Bild drei, das Relief der Kreuzabnahme von den Externsteinen, ein in altniedersächsischer Sprache abgefasstes Taufgelöbnis, die Stabkirche in Wang und schließlich an siebenter Stelle ein Blick auf die Marienburg, Sitz des Deutschen Ordens, bevor über die deutsche Gotik die Reformation erreicht wird. In der Verengung des Blickwinkels auf das germanisch-deutsche Christentum nähert sich das Bildband der Lesart der Deutschen Christen von der auserwählten Rolle des deutschen Volkes anstelle des Volkes Israel in der Heilsgeschichte an.23 In Analogie zu den Verheißungen an Israel24 sollen auch die Deutschen in aller Welt durch Luthers Leistungen (deutsche Sprache, deutsche Bibel, deutsches Kirchenlied) unter einem Banner, nämlich dem lutherischen, geeint werden. Dies illustriert das Doppelbild 48 aus »Martin Luther, ein Kämpfer Gottes für das deutsche Volk«: Nebeneinander sind hier eine alte Lutherbibel zu sehen und eine deutschsprachige Auslandsgemeinde (Abb. 2). Die von Luther geschaffenen Voraussetzungen einer einheitlichen deutschnationalen Kultur dienen so auch als Rechtfertigungen der »Heim-ins-Reich«-Politik, heißt es doch im Beiheft, dass sich »in unseren Tagen das einzigartige Werk [vollzieht], dass deutsche Menschen, deren Voreltern einst aus der Heimat auszogen [...] heimkehren ins Vaterland.«25 Dem Bild eines einsamen, den heraufziehenden Naturgewalten trotzenden Gipfelkreuzes ist ein Aufruf zur Standhaftigkeit beigegeben, denn: Gewappnet mit Luthers Bibel und der evangelischen Lehre von Christi Kreuz, das den deut-
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Ulrich Bender, Kirchenmusiker im »Dritten Reich«. Wilhelm Bender (1911-1944), Musiker an der Berliner Parochialkirche. Person und Werk im kirchenpolitischen Wettbewerb, Berlin 2011, S. 75. Beispielsweise Micha 4,2 und Psalm 122,3-6. Bildbänder und Texte (wie Anm. 15), Nr. 265, zu Bild 48, Text S. 10.
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Abb. 3: Gipfelkreuz, Leuthen, Choralstrophe. Erste drei Bilder des Bildbandes »Opfer und Dank« Deutsches Bildband-Archiv
schen Menschen eine »Festung« sei, »wird der Sieg immer größer sein als der Kampf zuvor«.26 Worte, die der Bevölkerung klar machen sollten, dass für Deutschland und den lutherischen Glauben notfalls auch große persönliche Opfer verlangt werden könnten. Zwei Liedstrophen beschließen das Bildband. Hier wird nicht nur um Glaubensstärke und die Beschirmung der »armen Christenheit« gebetet, sondern auch um den Tod, ja sogar den Mord an den Feinden Gottes.27 Im Hinblick auf die Entstehungszeit des Bildbandes handelt es sich vermutlich um eine Anspielung auf den Russlandfeldzug und den Kampf gegen den als ultimative Bedrohung der deutschen Gesellschaft empfundenen »Kultur-Bolschewismus«.28 Auch der Schluss des Bildbandes »Martin Luther, Seine Freunde, Mitarbeiter und Gegner« gemahnt an ein standhaftes Ausharren allen Widrigkeiten zum Trotz, versinnbildlicht durch Albrecht Dürers »Ritter, Tod und Teufel«. Begleitet wird die Graphik von einem Aufruf, sich ein Beispiel zu nehmen an jenem Geharnischten, der »mannhaft dem Todesgrauen entgegen reitet«. Nicht nur Sinnbild Luthers, sondern eines jeden Protestanten sei er.29 Die Bilderauswahl der bisher betrachteten Bänder ist für sich genommen in den meisten Fällen neutral – es handelt sich um historische Stiche, Gemälde, Fotografien. Erst durch den beigegebenen Text erhalten die Bilder ihre deutschnationale Semantisierung. Im Bildband »Opfer und Dank«, zusammengestellt anlässlich des Heldengedenktages nach 1944, ist dies jedoch anders. Auch ohne die Textbeigabe vermittelt die Auswahl und Abfolge der Bilder die Einstimmung auf den verdienstvollen Opfertod für das Vaterland, den Großadmiral Karl Dönitz schon einige Jahre zuvor beschworen hatte.30 Bereits die ersten Bilder illustrieren den engen Zusammenhang von protestantischem 26 27 28
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Ebd., Nr. 265, Text S. 9 f. Ebd., Nr. 265, Bild 51, 52, Text S. 11. Vgl. hierzu ebd., Nr. 18 »Der Angriff. Bilder aus dem Kulturbolschewismus«, und Nr. 301 »Der Kampf der Sowjets gegen die Kirche Christi«. Ebd., Nr. 371, Text S. 21. Michael Salewski, Die Deutschen und die See. Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Teil 2, Stuttgart 2002 (= Historische Mitteilungen [der RankeGeschellschaft]. Beihefte, 45), S. 122.
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Glauben und soldatischem Heldentod in den »großen Gottesstunden deutscher Schicksalskämpfe«31 (Abb. 3). Das Schwert ist nunmehr nicht wie in der Illustration der lutherischen Bibelübersetzung dem auf der Bibel aufgebrachten Kreuz übergelegt, sondern beide Attribute sind zu einem mittelalterlichen KreuzSchwert verschmolzen. Eine Darstellung der Schlacht von Leuthen, gefolgt von einer zum gemeinsamen Singen bestimmten Strophe des dort zur »vaterländischen Hymne« gewordenen Chorals »Nun danket alle Gott« schließt sich an. Die Bildfolge Schwertkreuz – singende Soldaten in der Schlacht von Leuthen – Liedvers stellt dabei den Zuhörer und Zuschauer nicht nur in eine konkrete heroische Tradition (Deutschordensritter, preußische Armee), sondern schafft über die Liedstrophe eine transzendentale Kampf- und Opfergemeinschaft gläubiger Deutscher, für die der Heldengedenktag das sinnfälligste Zeichen sein soll. Nicht von ungefähr wurde selbst der Kriegsbeginn 1939 bereits so geplant, dass er auf ein Datum in unmittelbarer Nähe dieses Gedenktages fiel.32 Nun, unter dem Eindruck der Opfer sowohl an den Fronten als auch in der Heimat durch die fortgesetzten Luftangriffe, spricht der Autor des Textes vom »Kreuzweg« des deutschen Volkes: »Durch die Jahrhunderte hindurch leuchtet über Deutschlands Gauen das Kreuz als heiliges Wahrzeichen der Treue des Herrn der Heerscharen, der seine Deutschen in den großen Heimsuchungszeiten seiner Geschichte nie verlassen hat, sooft es sich im Kampf um seinen gerechten Frieden dem Feind in offener Feldschlacht stellte. So ist dem deutschen christlichen Menschen das Kreuz von Golgatha zum Symbol geworden für den tiefen Sinn des Opfers. Darum hat man es aufgerichtet [...] im deutschen Land [...] Düsteres zusammengeballtes Gewölk zieht darüber hin, das der starken Macht des Lichtes weichen muss, sooft dieses Volk auf seinem Kreuzweg sich immer wieder hindurchgerungen hat aus Sorge und Not zu neuer Freiheit und leidbesiegendem Glauben. Und um all die großen Gottesstunden deutscher Schicksalskämpfe weht Ewigkeitsstille, wenn deutsche Männer nach errungenem Sieg ›für des Landes Wehr und des Volkes Ehr‹ in der Tapferkeit aus Glauben mit dem Feind die Waffen gekreuzt haben.«33 Mit aus der Kreuzzugsethik entlehnter Terminologie setzt »Opfer und Dank« die deutsch-germanische Gefolgschaftstreue mit der Christusritterschaft gleich: Das »Glaubenserbe der Väter«, zum Ausdruck gebracht im Lied »Ein feste Burg ist unser Gott«, habe in einem »heiligen Kampf« seine »Würdigung im Opfergang« während des Ersten Weltkrieges erfahren. Treue im Glauben wie im Kampf und Wahrhaftigkeit, die »Ehrentugenden des deutschen Mannes«, die man nicht zuletzt im Bild Luthers verkörpert sah, konnten – so »Opfer und Dank« – jedoch allein aus der Pflege des Wortes Gottes erwachsen. Auf diesem Fundament wüsste sich der Soldat selbst im heftigsten Schlachtgetümmel überzeugt, dass »das Recht siegreich sei« und Gott »seinen Mannen« zur Seite stehen wird.34 Begleitet wird der Text von einer Fotografie, die deutsche Soldaten in Kampfmontur mit Stahlhelm 31 32
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Bildbänder und Texte (wie Anm. 15), Nr. 333, Text S. 2. Alexandra Kaiser, Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertags, Frankfurt a.M. 2010 (= Campus Historische Studien, 56), S. 184. Bildbänder und Texte (wie Anm. 15), Nr. 333, Text zu Bild 1. Ebd., Nr. 333, Text zu Bild 21, S. 6.
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Abb. 4: Soldatengräber mit Märtyrerpalmen, Bild 50 aus »Opfer und Dank« Deutsches Bildband-Archiv
beim Einzug in eine Kirche »in den besetzten Gebieten« zeigt. Dass es bei der verlangten Pflege des Glaubens allein um die protestantisch-lutherische Tradition ging, verdeutlicht die anschließende Text-Bild-Einheit. Dem Zuschauer wird eine Soldatengemeinde gezeigt, die auf den Beginn des Gottesdienstes wartet. Auch fern der Heimat höre der deutsche Soldat den »Herrn der Geschichte als seinen Vater und wagt um Christi willen den Griff nach seiner vollen Gemeinschaft, neu gestärkt in der lutherischen Gewissheit: ›Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen!‹«35 Der lutherische Glauben bewirkt in der Kausalität des Bildbandes eine größere Tapferkeit im Kampf.36 Der Tod für das Vaterland ist denn auch ein »seliger Tod«, erlangt im Glaubenskrieg in der Gefolgschaft Christi, in der jene, die den »guten Kampf gekämpft« haben, entsprechend jenseitigen Lohn erwarten dürfen.37 So wird nicht nur der Tod im Feld für Deutschland zu einem heilswirksamen Martyrium, sondern auch Soldatengräber werden zu »heiliger Erde«38 und zu Märtyrergedenkstätten: Bild 50 von »Opfer und Dank« zeigt einen Soldatenfriedhof in Arras, geschmückt mit Palmen, die speziell für dieses Foto in die Erde gesteckt scheinen (Abb. 4). Der zugehörige Text verkündet
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Ebd., Nr. 333, Text zu Bild 22, S. 6. Ebd., Nr. 333, Text zu Bild 50, S. 12. Ebd., Nr. 333, Text zu Bild 48, S. 3. »Wo Steine reden, da müssen die Menschen schweigen. Darum ›ziehe deine Schuhe aus, denn das Land auf dem du stehst, ist ein heiliges Land‹.« Ebd., Nr. 333, Text zu Bild 36, S. 10.
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die »den Frieden der Ewigkeit wedelnden Palmen«.39 Die Beschwörung nationaler Heldengedächtnisstätten wie Langemarck, von der sich drei Bilder in »Opfer und Dank« befinden (11, 42, 43) hält dem Adressaten vor Augen, dass es 1944/45 längst nicht nur um das heroische Kämpfen und Siegen ging, sondern vor allem um das heroische Sterben – wenn auch als Märtyrer für Deutschland. Die Ideen hinter den Texten und Bildern sind nicht neu. Dass Deutschland »von der Vorsehung bevorzugt« worden sei, da es Luther, Goethe und Bismarck hervorgebracht habe, behauptete bereits der deutsche Kunsthistoriker Herman Grimm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.40 Auch wurde der Tod für das Vaterland bereits um 1900 zur Teilhabe am Kreuzestod Christi stilisiert.41 Nach dem Ersten Weltkrieg intensivierte sich diese fragwürdige Sakralisierung soldatischen Sterbens noch und fand – keinesfalls nur auf deutscher Seite – in entsprechenden Gefallenengedenkstätten ihren Ausdruck, die Kreuzigungs- und Kreuzwegsymbolik verarbeiteten.42 Doch gelang durch die Kombination von Bild und Text, die Fokussierung auf prägnante Szenen und Worte und die Vorführungstechnik im Medium des Bildbandes eine außerordentliche Performativität. Abnutzungsspuren auf dem Filmmaterial und in den Textblättern zeigen, dass »Opfer und Dank« kaum gezeigt wurde, was wohl in der Herstellungszeit kurz vor dem oder im Jahr 1945 begründet liegt. »Dr. Martin Luther« und »Luther, ein Kämpfer für das deutsche Volk« sind hingegen häufig vorgeführt worden. »Martin Luther, seine Freunde, Mitarbeiter und Gegner« zeigt mäßige Gebrauchsspuren. Die in den Bildbändern und ihren Texten vermittelte protestantische Heldenideologie kollidierte allerdings mit dem öffentlich vertretenen Kurs der NSDAP. Nach dem durch die Forderungen der Deutschen Christen ausgelösten Sportpalastskandal waren innerhalb der Partei die Ambitionen, den Protestantismus in die eigene Ideologie einzubinden, in den Hintergrund getreten. Ludwig Müller, nunmehr Reichsbischof, wurde fallen gelassen.43 Hitler beabsichtigte offenbar, die Auseinandersetzung mit dem Christentum auf die Zeit nach dem Krieg zu
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Auf Grundlage der Johannesoffenbarung (Apokalypse) 7,9 entwickelte sich bereits in frühchristlicher Kunst die Palme zum Symbol des Märtyrertums. Alexander von Bormann, Luther im Nationalsozialismus: Die Versöhnung von Wotan und Christus. In: Luther-Bilder im 20. Jahrhundert. Symposion an der Freien Universität Amsterdam. Hrsg. von Ferdinand van Ingen und Gerd Labroisse, Amsterdam 1984, S. 59-78, hier S. 60. Thomas Rohkrämer, Der Militarismus der »kleinen Leute«. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Berlin 1990 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 29), S. 209. Loretana de Libero, Rache und Triumph. Krieg, Gefühle und Gedenken in der Moderne, München 2014 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 73), S. 179-183. Besonders erinnert sei an das Relief »Canada’s Golgotha«. Hans Mommsen, Der Nationalsozialismus als politische Religion. In: Zwischen »nationaler Revolution« und militärischer Aggression. Transformationen in Kirche und Gesellschaft während der konsolidierten NS-Gewaltherrschaft (1934-1939). Hrsg. von Gerhard Besier, München 2001 (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 48), S. 43-54, hier S. 46 f.
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verschieben44; eine Meinung, die übrigens auch Friedrich Ronneberger vertrat.45 Allerdings nahm die Popularität der Kirchen auch in Militärkreisen zu, je länger der Krieg dauerte, was zu entsprechenden Gegenreaktionen führte. Im September 1944 beschwerte sich der damalige Marinedekan Ronneberger bei Großadmiral Dönitz, dass durch einige Offiziere »gegen die Wehrmachtsseelsorge teils scharf, teils verblümt, Stellung genommen« werde, und dies, obwohl »seit einem Jahr [...] überall in der Marine [...] das religiöse Interesse im Wachsen begriffen ist«, mehr Gottesdienste angefordert würden, mehr Besucher freiwillig auf die Vorträge und zu religiösen Feiern kämen.46 Es existiere sogar eine Verfügung, keine Gottesdienste mehr abzuhalten, obwohl das der offiziellen Haltung der Partei und mehreren von Ronneberger hier zitierten Paragrafen des »Politischen Handbuches« widersprach.47 Unter diesem Blickwinkel stellt sich die Frage, ob Bildbänder wie »Opfer und Dank« nicht auch dem Zweck dienen sollten, die Verlässlichkeit gläubiger protestantischer Kreise für die »deutsche Sache« zu propagieren.
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Kurt Dietrich Schmidt, Einführung in die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit. Hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Jobst Reller, 2. Aufl., Hermannsburg 2009, S. 56. »Der Krieg, der sich nun über Jahre hinzieht und der immer größere Härten auferlegt, aber auch immer größere Härten verlangt, kann nicht auf die Kraft der christlichen Religion verzichten, solange wir noch ein christliches Volk sind [...] Nach dem Krieg ist die Zeit, in der der ganze religiöse Fragenkomplex bereinigt werden muss«, Friedrich August Ronneberger, Brief an Großadmiral Dönitz, 22.9.1944, München, Institut für Zeitgeschichte, ZS 1808, S. 13. Ebd., S. 1, 3. Vgl. Mommsen, Nationalsozialismus (wie Anm. 43), S. 52. Ronneberger, Brief (wie Anm. 45), S. 4, 9 f. Hingewiesen wird auch darauf, dass die Angehörigen der Soldaten Wert auf die Betreuung der Ihren legen.
Friedrich Lohmann
»Gott mit uns.« Die lutherische Geschichtstheologie und ihre militaristische Vereinnahmung
Seit Menschengedenken haben unsere Vorfahren miteinander gekämpft und Kriege geführt. Und ebenso lange haben die Menschen diese Kämpfe und Kriege in der Deutung der Geschichte mit ihrem religiösen Glauben zusammengebracht. Die alttestamentlichen Kriegserzählungen sind Glaubenserzählungen, die vom Beistand Jahwes in der Schlacht berichten – oder auch davon, dass Gott dem Volk Israel eben nicht beigestanden hat, weil es von ihm abgefallen war, und deshalb eine militärische Niederlage folgte. In der Ilias Homers bestimmen die Götter über das Kriegsglück der Hellenen und Trojaner oder genauer: Sie buhlen bei Zeus um Unterstützung für ihre Günstlinge, bis der Göttervater per Machtspruch darüber entscheidet, wem am jeweiligen Tag der Erfolg auf dem Schlachtfeld zufallen soll. Dass das alles nicht bloß fiktive Mythologien sind, sondern die Religion in der Antike tatsächlich die Entscheidungen der Heerführer bestimmte, zeigt Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs: Als die Athener 413 vor Christus das Scheitern der Sizilischen Expedition endlich eingesehen hatten und ihre Belagerung von Syrakus aufgeben wollten, setzte eine Mondfinsternis ein. Sie wurde von ihrem Anführer Nikias und seinen Sehern als Gotteszeichen gedeutet, weswegen man beschloss, erst nach 3 x 9 Tagen die Boote wieder zu betreten – Zeit genug für die Männer von Syrakus, um sich auf die vorgesehene Evakuierung vorzubereiten, sie zu verhindern und dadurch den Athenern letztlich ihre größte militärische Niederlage beizufügen. Wenn es in einem Krieg um Leben und Tod geht, wollten die Menschen schon immer mit göttlichem Beistand kämpfen. Wohl selten ist die Verbindung von Glaube und Krieg aber so intensiv zelebriert worden wie im Deutschland des Ersten Weltkriegs. Dabei ist das »Gott mit uns« auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten nur ein erster Anhaltspunkt, denn es hat eine lange Tradition, die über die preußischen Befreiungskriege und das Byzantinische Reich bis zum apokryphen Buch Judit1 zurückreicht. Das wirklich Neue in der religiösen Aufladung von Krieg und Militär im Deutschen Kaiserreich, mit dem Ersten Weltkrieg als Höhepunkt, ist die Deutung des Krieges als göttliche Offenbarung, als »Gotteserlebnis«. 1
Judit 13,11: »Und Judit rief den Wächtern bei den Toren schon von Weitem zu: Öffnet, öffnet doch das Tor! Gott ist mit uns! Gott zeigt noch immer Stärke in Israel und Kraft gegen unsere Feinde, so wie er auch heute getan hat!« (Übersetzung gemäß Lutherbibel 2017).
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Friedrich Lohmann
Martin Rade, bei Ausbruch des Kriegs in Marburg lehrender lutherischer Theologe und einflussreicher Publizist, ist als theologisch Liberaler und Freund der Völkerverständigung2 ein unverdächtiger Zeuge für die Übermacht dieser theologisch-militaristischen Deutungsoption im Deutschland des Ersten Weltkriegs. In einem offenen Brief an den Schweizer reformierten Theologen Karl Barth, der die Kriegsbegeisterung gerade auch unter den deutschen Theologen heftig kritisiert hatte, rechtfertigt sich Rade unter anderem mit den folgenden Worten: »Eines entgeht Ihnen: das Erlebnis. Wie schon ich das Erlebnis dieses Krieges nicht so habe wie der Soldat, der mit an die Front ging, oder auch mancher andere, der wichtigen Ereignissen näher war als ich. Eins habe ich doch voraus vor Ihnen: die Erfahrung, wie dieser Krieg über die Seele meines Volkes kam [...] Unvergesslich und heute wieder fast unbegreiflich, wie ein friedegewohntes und friedensfrohes Volk plötzlich hingerissen wird in diese unerhörte neue Wirklichkeit: Krieg [...] Und Sie verlangen, wir sollten bei dem Erleben dieses Krieges Gott außerm Spiele lassen. Das ist unmöglich. Für eine so überwältigende Sache gibt es nur einen möglichen Grund und Urheber: Gott [...] Unsere deutsche Gottesvorstellung ist nicht so kindisch, wie Sie meinen. Wir denken alle, vom Kaiser bis zum schlichtesten Bäuerlein, dass Gott seine Hand im Spiele hat bei diesem Kriegsgeschick: nicht nur dass er es zulässt, etliches Gute daraus erwachsen lässt, duldet – nein, so einen schwächlichen Gott können wir jetzt gar nicht vorstellen. Vielmehr: Er spricht, so geschiehts, Er gebeut und so stehts da [...] Wir sind durch die Religionsgeschichte nachgerade so weit gebracht, dass wir Religion, dass wir Gott auch da finden, wo Jesus Christus uns noch nicht begegnet [...] Deshalb bleibt mir Jesus die Offenbarung Gottes und der Deus revelatus meine Zuflucht vorm Deus absconditus. Ich könnte den Deus absconditus nicht vertragen, wenn ich den Deus revelatus, wenn ich Jesus nicht hätte. Aber wenn nun in der Erschütterung eines solchen Kriegserlebnisses, das ein ganzes Volk auf die Knie wirft, Gott noch andere Züge trägt als Jesus, wenn er über uns kommt als die reine Macht, von der wir zunächst nichts spüren als unsere absolute Abhängigkeit – weshalb wollen Sie diese Frömmigkeit schelten?«3
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Rade schreibt 1922: »Genug, vorläufig richtet sich auch bei uns in Deutschland unser Verhältnis zu den andern Völkern viel mehr nach blöden Sympathien und Antipathien, statt nach Einsicht und Kenntnis. Hier müsste christliche Gewissenhaftigkeit, mit Leben erfüllt durch Nächsten- und Feindesliebe, Augen öffnen und Pfade finden, unermüdlich, uns und den Anderen zum Heil. Wahrhaftig, wenn wir da ernstlicher nach dem Reiche Gottes trachteten, es würde uns in unmittelbarer Erfüllung des Verheißungswortes vieles zufallen!« Martin Rade, Christentum und Frieden. In: Martin Rade, Ausgewählte Schriften, Bd 2: Religion, Moral und Politik. Mit einer Einleitung hrsg. von Christoph Schwöbel, Gütersloh 1986, S. 181-202, hier S. 200. Martin Rade, Brief an Karl Barth vom 5.9.[10.]1914. In: Karl Barth – Martin Rade, Ein Briefwechsel. Mit einer Einleitung hrsg. von Christoph Schwöbel, Gütersloh 1981, S. 105-113, hier S. 109-111. Für Barth war diese spezifische Kriegsverherrlichung durch Rade und andere der Anlass, die Kategorie des Erlebnisses bis an sein Lebensende ganz aus seiner Auffassung von guter Theologie zu verbannen. Vgl. [Johann] Friedrich Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im »Römerbrief« und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths, Berlin, New York 1995 (= Theologische Bibliothek Töpelmann, 72), S. 371 f.
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Schon in den preußischen Befreiungskriegen (»Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte, drum gab er Säbel, Schwert und Spieß dem Mann in seine Rechte«) und im Krieg gegen die Franzosen 1870/71 hatte man Gott auf seiner Seite gewähnt – »Welch’ eine Wende durch Gottes Führung!«, so hatte Wilhelm I. den Sieg von Sedan gedeutet.4 Im Ersten Weltkrieg wurde dieser Glaube an Gottes Gegenwart allerdings nochmals gesteigert, indem jeder Moment des unerbittlichen Kampfes, sei es ein Erfolg, sei es ein Misserfolg oder auch das schlichte Durchhalten, zu einem Offenbarungserlebnis hochstilisiert wurde.5 Die Besonderheit dieser theologischen Deutung des Ersten Weltkriegs zeigt sich nicht nur im chronologischen Vergleich mit der Deutung, die deutsche Theologen vorausgegangenen Kriegen hatten zuteil werden lassen. Sie zeigt sich ebenso im internationalen Vergleich. Der Erste Weltkrieg war weltweit ein Krieg auch der Theologen, die sich bemühten, die Kriegführung der eigenen Nation als gerecht und gut darzustellen.6 Dabei gibt es viele gemeinsame Motive. Eine Auswertung von Kriegspredigten aus der Reformierten Kirche Frankreichs veranschaulicht, dass auch dort der Erste Weltkrieg als nicht nur gerechter, sondern ausdrücklich als »heiliger« Krieg gedeutet wurde, in dem Frankreich als Werkzeug Gottes eine besondere Berufung zukam.7 Auch das Motiv des Kriegs als opfervolle Läuterung auf dem Weg der Nachfolge des Kreuzes Christi ist in diesen Predigten präsent, ebenso wie die religiös aufgeladene Verunglimpfung der Feinde.8 In der Church of England – traditionell eng an die Politik der englischen Krone gebun-
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Vgl. Stig Förster, Der Sinn des Krieges. Die deutsche Offizierselite zwischen Religion und Sozialdarwinismus, 1870-1914. In: »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hrsg. von Gerd Krumeich und Hartmut Lehmann, Göttingen 2000 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 162), S. 193-211, hier S. 193. Anschauungsmaterial liefern Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie (1870-1918), München 1971, S. 94-113; Wolf-Friedrich Schäufele, Der »Deutsche Gott«. Kriegstheologie und deutscher Nationalismus im Ersten Weltkrieg. In: Urkatastrophe. Die Erfahrung des Krieges 1914-1918 im Spiegel zeitgenössischer Theologie. Hrsg. von Joachim Negel und Karl Pinggéra, Freiburg i.Br. [u.a.] 2016, S. 35-76. Vgl. Martin Greschat, Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2014. Bereits zuvor, eher knapp und vor allem auf Frankreich und Deutschland bezogen: Gerd Krumeich, »Gott mit uns«? Der Erste Weltkrieg als Religionskrieg. In: »Gott mit uns« (wie Anm. 4), S. 273-283. Vgl. Laurent Gambarotto, Foi et patrie. La prédication du protestantisme français pendant la Première Guerre mondiale, Genève 1996 (= Histoire et Société, 33). Ein Beispiel aus einer Predigt, das im Zusammenhang der vorliegenden Studie durch seine Rede von den beiden Reichen besonders interessant ist (zit. Gambarotto, Foi et patrie, S. 205): »Vous le voyez donc: les patries terrestres sont des éléments constitutifs de la patrie céleste en laquelle elles trouvent leur épanouissement. Les patries terrestres et la patrie céleste ne peuvent pas vivre séparées.« Innerhalb des reformierten Protestantismus, zu dem die französischen Protestanten der Jahre 1914-1918 so gut wie ausnahmslos gehörten, hat es allerdings im Anschluss an die Gründungsväter Zwingli und Calvin Tradition, die beiden Reiche und die mit beiden verknüpften Typen von Gerechtigkeit stärker aneinander zu knüpfen als im Luthertum. Hinzu kommt, dass die französischen Protestanten als nationale Minorität und potenzielle Abweichler sich besonders genötigt fanden, ihren Patriotismus für die Sache Frankreichs hervorzuheben. Vgl. Greschat, Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 6), S. 23 f. Vgl. Gambarotto, Foi et patrie (wie Anm. 7), S. 239-297, auch S. 218-226.
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den – spielt der Kreuzzugsgedanke eine tragende Rolle.9 Im Verlauf des Krieges trat die Verherrlichung des Opfers hinzu, um an beiden Fronten – in der Heimat wie unter den Soldaten – zum Durchhalten zu motivieren.10 Analoge Ergebnisse liefert die Auswertung von Wortmeldungen aus dem Raum des schottischen Protestantismus.11 Gleichwohl heben die Autorinnen und Autoren der entsprechenden Studien hervor, dass die religiöse Unterstützung des Kriegs in den genannten Ländern, auch wo sie in nationalistischer und patriotischer Zielrichtung erfolgte, nie vorbehaltlos war. Das Friedens- und das Sündenmotiv – bezogen auch auf die eigenen Taten im Krieg – wirkten als Filter und verhinderten die Gleichsetzung der Kriegserlebnisse mit göttlichen Offenbarungen.12 Nirgends war der Patriotismus so religiös aufgeladen wie in Deutschland.13 Allen propagandistischen Obertönen zum Trotz ist die Besonderheit der spezifisch deutschen theologischen Kriegsdeutung sehr gut erfasst in den Zeilen des britischen Predigers Geoffrey Studdert-Kennedy, die um Abgrenzung der eigenen Argumentation von der deutschen bemüht sind: »The most precious virtues ›Germany has damned as vices – love is nonsense, loyalty is fear, honour is weakness, honesty is hypocrisy. It is this demand for perpetual war that is reactionary; it bids us look back to savagery instead of forward to civilization. It is mad‹ [...] ›The god the German leaders worship is an idol of the earth – a crude and cruel monster who lives on human blood … He is the god of discord and all that separates and severs men.‹«14 Man braucht diese Fremdbeschreibung nur zu vergleichen mit der Selbstbeschreibung des deutschen Wesens in einem einflussreichen Propagandawerk wie Werner Sombarts »Händler und Helden« von 1915, um einen Eindruck von ihrer 9
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Vgl. Albert Marrin, The Last Crusade. The Church of England in the First World War, Durham, NC 1974. Vgl. exemplarisch die Auswertung bei Marrin, ebd., S. 213: »Those dying in this manner were more than heroes; they were martyrs crucified to atone for the sins of the world; they were ›potential saints‹ who, released from the burden of the flesh, were awaiting reunion with their loved ones in Paradise.« Vgl. Stewart J. Brown, »A Solemn Purification by Fire«. Responses to the Great War in the Scottish Presbyterian Churches, 1914-19. In: Journal of Ecclesiastical History, 45 (1994), S. 82-104; Charlotte Methuen, »The very nerve of faith is touched«. British Preaching During the Great War. In: Predigt im Ersten Weltkrieg – La prédication durant la »Grande Guerre«. Hrsg. von Matthieu Arnold und Irene Dingel, Göttingen 2017 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 109), S. 63-73. Vgl. exemplarisch Gambarotto, Foi et patrie (wie Anm. 7), S. 271-297. Vgl. z.B. Arlie J. Hoover, God, Germany, and Britain in the Great War. A Study in Clerical Nationalism, New York [u.a.] 1989, S. 99: »British Christian nationalism was shaped by the unique background of ideas like empiricism, realism, and individualism, while German Christian nationalism was shaped by Lutheranism, romanticism, idealism, and immanentism. The result is that British nationalism is broader and more tolerant than German nationalism. British preachers showed more critical distance from their patriotism; they showed a greater awareness of the dangers of nationalism. German clerics annexed God to the fatherland with more alacrity than the British.« Wenn Hoover an der zitierten Stelle ausdrücklich auch das Luthertum als eine der Quellen der spezifisch deutschen Kriegstheologie nennt, so führt uns das direkt zur Fragestellung der vorliegenden Abhandlung. Zit. ebd., S. 24.
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Angemessenheit zu bekommen, nun auch mit einer ausdrücklich militaristischen Zuspitzung: »Es ist aber die lichteste Eigenart unseres deutschen Denkens, dass wir die Vereinigung mit der Gottheit schon auf Erden vollziehen, und sie vollziehen [wir] nicht durch Abtötung unseres Fleisches und unseres Willens, sondern durch kraftvolles Handeln und Schaffen [...] Die Idee des Vaterlandes wird erst zu einer Leben weckenden Kraft durch die Mittlerrolle des Militarismus. Was Heldentum im tiefsten Sinne bedeutet, wird dem Ärmsten im Geiste lebendig vor Augen gestellt, wenn er in Reih und Glied mit seinen Kameraden in den Kampf zieht, um das Vaterland zu verteidigen. Der Geist des Militarismus wandelt sich hier in den Geist des Krieges [...] Sie sagen: der Krieg sei unmenschlich, er sei sinnlos. Das Hinschlachten der Besten eines Volkes sei viehisch. So muss es dem Händler erscheinen, der nichts Höheres auf Erden kennt als das einzelne, natürliche Menschenleben. Wir aber wissen, dass es ein höheres Leben gibt: das Leben eines Volkes, das Leben des Staates [...] Mit diesem Glauben, freilich nur mit ihm, gewinnt das schmerzensvolle Sterben der Tausende Sinn und Bedeutung. Im Heldentod findet die heldische Lebensauffassung ihre höchste Weihe.«15 Im Folgenden vertrete ich die These, dass diese emphatisch-religiöse und militaristische16 Deutung des Ersten Weltkriegs, auch wenn sie noch andere Hintergründe hat, maßgeblich bestimmt ist durch eine Deutung der geschichtlichen Wirklichkeit, wie sie sich unter lutherischen Theologen dieser Zeit herausgebildet hatte. Manchmal wurde sie direkt mit Luther in Verbindung gebracht. »Deutschlands Schwert durch Luther geweiht« aus der Feder des Rostocker Theologieprofessors Wilhelm Walther ist eine solch explizite Schrift, auf die ich bei meinen Recherchen gestoßen bin; außerdem gehörte Luther über den Choral »Ein feste Burg ist unser Gott« zum Grundbestand der deutschen Kriegspropaganda.17 Mir geht es hier jedoch um eine indirekte Affinität, die ohne die Nennung des Namens Luther auskommt – eine Deutungsperspektive, die sich gerade bei lutherischen Theologen gut belegen lässt. Die Frage, die sich damit automatisch stellt und die auch zum Generalthema dieses Sammelbandes hinführt, lautet: War diese geballte Affinität bloßer Zufall oder gibt es in Luthers Theologie etwas, das eine derartige emphatisch-religiöse Deutung des Kriegs als »Gotteserlebnis« zumindest begünstigt? Meine Antwort tendiert in die letztere Richtung, und ich sehe das Einfallstor für solche militaristischen Deutungen Luthers in erster Linie in
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Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München [u.a.] 1915; zit. nach Werner Sombart, »In dem sicheren Gefühl, das Gottesvolk zu sein«. In: »Dieser Krieg ist uns zum Heil«. 1914 – Wortgefechte in Texten der Zeit. Hrsg. von Christine Odermatt, Zürich 2014, S. 47-59, hier S. 50-52. Unter Militarismus verstehe ich hier und im Folgenden eine Ethik, die Krieg und Militär verherrlicht. Ihr Pendant ist der Bellizismus. Sicherheitshalber weise ich darauf hin, dass eine Ethik im Sinne der Lehre vom Gerechten Krieg, die in Ausnahmefällen und unter der Prämisse der langfristigen Friedensdurchsetzung und -erhaltung den Einsatz militärischer Mittel für ethisch gerechtfertigt hält, alles andere als militaristisch ist. Vgl. Michael Fischer, Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral Ein feste Burg ist unser Gott zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg, Münster [u.a.] 2014 (= Populäre Kultur und Musik, 11), S. 85-177.
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seiner Geschichtstheologie.18 Das möchte ich im Folgenden näher ausführen. Ich werde dazu mit in Thesen zusammengefassten Grundlinien von Luthers Geschichtstheologie beginnen und dann anhand von Deutungen des Krieges der drei namhaften lutherischen Theologen Reinhold Seeberg, Paul Althaus und Paul Tillich aus den Jahren 1914-1918 zeigen, wie diese Geschichtstheologie Luthers durch selektive Wahrnehmung militaristisch vereinnahmt werden konnte. Reinhold Seeberg war Ordinarius für Systematische Theologie in Berlin und einer der angesehensten und wirkungsmächtigsten evangelischen Theologen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Er gehört zu den Annexionisten, d.h. den Hardlinern in Deutschland, die auch noch 1917 einen »Verständigungsfrieden« auf der Basis des status quo ante bellum ablehnten. »Der Balte Seeberg hatte in seiner Jugend in Livland die Russifizierungspolitik des Zarismus erlebt und war wie viele seiner baltendeutschen Landsleute sehr bewusst ›Deutscher und Lutheraner‹.«19 Die späteren Theologieprofessoren Paul Althaus und Paul Tillich waren beide bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs frisch promoviert. Sie verbrachten die Kriegsjahre als Seelsorger: Althaus als Lazarettpfarrer, Tillich als Feldprediger. Althaus schreibt noch 1927: »Diese Jahre empfinde ich bis heute als Höhe meines Lebens.«20 Auch Tillich, der sich später in eine ganz andere theologische Richtung entwickelte als Althaus, hat seinen Kriegserlebnissen – so noch am Ende seines Lebens in einem Fernsehinterview – lebenslange, ja schicksalhafte Bedeutung beigemessen: 18
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Ich grenze mich damit ab von einer Sicht auf die politisch und militärisch desaströsen Wirkungen des Luthertums, die diese ausschließlich mit der Zwei-Regimente-Lehre Luthers in Verbindung bringt. Die vermeintliche »Eigengesetzlichkeit« des weltlichen Regiments spielte und spielt zweifellos eine politisch verheerende Rolle, und sie begünstigte auch eine theologische Option für den Krieg, so wenn Friedrich Naumann sein trotz des Pazifismus der Bergpredigt gegebenes Ja zur deutschen Aufrüstung entsprechend rechtfertigte: »Diese lutherische Scheidung der Gebiete, die uns zeitweilig als Verkürzung des Einflussgebietes des Christentums dem Christentum etwas von seinen Rechten zu nehmen schien, hat sich bei tieferer Durchdringung des Stoffes auch für uns als richtig ergeben. Wir kehren zum alten großen Doktor deutschen Glaubens zurück, indem wir politische Dinge als außerhalb des Wirkungskreises der Heilsverkündigung betrachten. Ich stimme und werbe für die deutsche Flotte, nicht weil ich Christ bin, sondern weil ich Staatsbürger bin und weil ich darauf verzichten gelernt habe, grundlegende Staatsfragen in der Bergpredigt entschieden zu sehen«. Friedrich Naumann, Briefe über Religion [1903]. In: Friedrich Naumann, Werke I, Köln [u.a.] 1964, S. 626. Von einer solchen »Eigengesetzlichkeit« der weltlichen Sphäre her lässt sich aber die religiöse Verklärung des Kriegs gerade nicht erklären, in der die beiden Regimente göttlicher Herrschaft nicht getrennt, sondern hemmungslos vermischt wurden. Siehe im Folgenden das Unterkapitel »Zwei-Regimente-Lehre und Lob des Kriegs«. Günter Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg. Reinhold Seeberg als Theologe des deutschen Imperialismus, Bielefeld 1974, S. 10. Brakelmanns Seeberg-Interpretation ist nicht unumstritten – Benjamin Hasselhorn, Politische Theologie Wilhelms II., Berlin 2012 (= Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, 44), S. 244, Anm. 51, nennt sie »tendenziös« –, aber die zitierten Quellen lassen sie als durchaus plausibel erscheinen. Von Brakelmann stammt auch die bisher ausführlichste Dokumentation zur Sache: Günter Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie 1914-1918. Ein Handbuch mit Daten, Fakten und Literatur zum Ersten Weltkrieg, Kamen 2015 (= Schriften der Hans Ehrenberg-Gesellschaft, 23). Zitiert bei Roland Liebenberg, Der Gott der feldgrauen Männer. Die theozentrische Erfahrungstheologie von Paul Althaus d.J. im Ersten Weltkrieg, Leipzig 2008 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 22), S. 584.
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»Es war in einer Nacht, in der viele meiner Freunde tödlich verletzt wurden,
in der schrecklichen Schlacht. Und ich musste mit ihnen reden und sie starben überall um mich herum [...] Ich habe die tiefste negative Seite des Lebens gesehen in dieser Nacht. Und meine Augen wurden für immer geöffnet.«21 Von Tillich sind 105 ausgeführte (Feld-)Predigten erhalten, hinzu kommen 45 Skizzen. Laut Erdmann Sturm »haben wir von keinem anderen Theologen so viele Feld- bzw. Kriegspredigten des Ersten Weltkriegs«.22 Anders als Althaus stürzten die Kriegserlebnisse Tillich in tiefe Glaubenszweifel. In der Wandlung vom »patriotischen Rausch«23 der ersten Kriegsmonate hin zur Endzeitstimmung, die nur kurz, während der erfolgreichen Westoffensive Anfang 1918, durch optimistischere Töne aufgehellt wird24, zeigen seine Predigten besonders deutlich, wie Tillich um permanente theologische Deutung des Erlebten ringt. Später hat Tillich die Religion als Quelle des Friedens bezeichnet: »Es sind die heilenden Kräfte aus dem Unbegrenzten, Grenze-Setzenden, Gründenden und Führenden alles Seins, die Frieden möglich machen«, heißt es in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1962.25 Dass Tillich zu dieser Auffassung einer positiven Rolle der Religion für den Frieden erst finden musste, veranschaulichen seine Predigten aus dem Ersten Weltkrieg. Tillich, Althaus und Seeberg sind auf je unterschiedliche Weise Theologen des Luthertums. Und ich werde darzustellen versuchen, dass sich auf der Basis dieses Luthertums tiefe Gemeinsamkeiten ihrer Kriegsdeutung begründen lassen.
Luthers Geschichtstheologie in Thesen Martin Luthers Deutung der Geschichte steht nicht im Zentrum der Forschung über ihn. Die folgenden Ausführungen beruhen, außer meiner eigenen kursorischen Luther-Lektüre, auf einigen Arbeiten, die zum großen Teil 50 Jahre oder älter sind und die sich die Mühe gemacht haben, aus verstreuten Aussagen Luthers so etwas wie seine Geschichtstheologie herauszudestillieren. Was für Luther insgesamt gilt, gilt auch hier: Er hat keine schulmäßige Dogmatik oder Systematische Theologie hinterlassen, in der er fein säuberlich gegliedert und deduzierend seine Sicht der Dinge vorgetragen hätte. Ich weise darauf ausdrücklich hin, weil meine Thesenreihe sonst einen falschen Eindruck vermitteln könnte. Luther hat das nie so vorgetragen, wie ich das hier rekonstruiere.
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(letzter Zugriff 8.1.2019). Erdmann Sturm, Zwischen Apologetik und Seelsorge. Paul Tillichs frühe Predigten (1908-1918). In: Spurensuche. Lebens- und Denkwege Paul Tillichs. Hrsg. von Ilona Nord und Yorick Spiegel, Münster 2001 (= Tillich-Studien, 5), S. 85-104, hier S. 95. So Tillich in einem Brief vom September 1919, zitiert bei: Paul Tillich, Frühe Predigten (1909-1918). Hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Erdmann Sturm, Berlin [u.a.] 1994 (= Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, VII), S. 14. Vgl. ebd., S. 13. (letzter Zugriff 8.1.2019).
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1. Zentrale Voraussetzung von Luthers Theologie und somit auch seiner Theologie der Geschichte ist die Vorstellung von der Allwirksamkeit Gottes.26 Nichts, was geschieht, geschieht ohne den Willen Gottes. Gott ist der Herr der Geschichte. Auch das, was scheinbar dem Willen Gottes – oder dem Bild, das die Menschen von diesem Willen haben – widerspricht, muss letztlich im Zusammenhang mit Gottes verborgenem Wirken stehen. Luther spricht in solchen Fällen, wo sich die Deutung auf den Glauben hin nicht sofort erschließt, von der Geschichte als »Mummerei«, als (Schau-)Spiel, und von den Akteuren der Geschichte als »Masken« oder »Larven« Gottes.27 Genau diese Redeweise zeigt jedoch, wie ernst er es mit der Allwirksamkeit Gottes nimmt. Hinter der Maske verborgen steckt ja kein anderer als Gott selbst. 2. Das Wirken Gottes in der Weltgeschichte gehört in den Bereich seines weltlichen Regiments, nicht des geistlichen Regiments. Es gibt für Luther nicht so etwas wie eine Heilsgeschichte, in der sich beispielsweise in politischen Ereignissen eine Entwicklung zur Verwirklichung des Reiches Gottes hin vollzöge. Es geht in der Geschichte der Menschen um ihr geordnetes, schiedlich-friedliches Zusammenleben, um Wohlordnung, nicht um Seelenheil. 3. Damit hängt die Zweckbestimmung zusammen, die Luther geschichtlichem Handeln gibt: Es geht um Erhaltung der Ordnung, eventuell auch ihre Wiederherstellung durch strafende Maßnahmen, aber nicht um Verbesserung der Verhältnisse. Und entsprechend wirkt sich die Kenntnis der Geschichte, die
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Reinhold Bernhardt, Was heißt »Handeln Gottes«? Eine Rekonstruktion der Lehre von der Vorsehung, Gütersloh 1999, S. 64-70. Wieland Kastning, Morgenröte künftigen Lebens. Das reformatorische Evangelium als Neubestimmung der Geschichte. Untersuchungen zu Martin Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis, Göttingen 2008 (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 117), S. 67: »Luthers Geschichtsverständnis kann kaum hinreichend erfasst und plausibel gemacht werden, wenn man sich der Radikalität seines Denkens von der Allmacht Gottes entzieht.« Hanns Lilje, Luthers Geschichtsanschauung, Berlin 1932, S. 40: »Gottes Alleinwirksamkeit« sei für Luther »das oberste Gesetz der Geschichte.« Heinrich Bornkamm, Luthers geistige Welt, 4. Aufl., Gütersloh 1960, S. 208: »Gott ist nicht nur das Leben, sondern auch der Herr der Geschichte« (Hervorhebung im Original). Heinz Zahrnt, Luther deutet Geschichte. Erfolg und Misserfolg im Licht des Evangeliums, München 1952, S. 200: »Durch jedes einzelne Menschenleben wie durch den ganzen Verlauf der Geschichte hört Luther das machtvolle ›Ich bin der Herr dein Gott‹.« Gerade die politische Obrigkeit und ihr Kriegführen stehen für Luther unter diesem Vorbehalt des verborgenen und undurchsichtigen Handelns Gottes. Vgl. WA (= Martin Luther, Weimarer Ausgabe) 15, S. 373, Z. 5-17: »Aber da soll er [der Vertreter der Obrigkeit] sich fur hueten, das seyn hertz yhe nicht sich verlasse auff solch seyn thun, auch sich vermessen wo es wol angehet, noch sorgen wo es feylen will, Sondern soll all solch bereytschafft und rüstunge lassen unsers Herr Gottes mummerey seyn, darunter her selbs alleyne wircke und ausrichte was wyr gerne hetten. Denn er solche rüstunge auch darumb befilhet, auff das er seyn werck darunter verberge und lasse die anlauffen, die sich vermessen, und stercke die, so sich besorgen, auff das man yhn nicht versuche. Also hat er alle kriege Davids des königs gefurt ym alten Testament und des gantzen volcks Israel, und furet sie auch noch, wo solch gleubige oberkeyt ist. Also hat er Abraham, Isaac und Jacob durch yhre erbeyt reich gemacht etc. Das man wol mag sagen, der wellt laufft und sonderlich seyner heyligen wesen sey Gottes mummerey, darunter er sich verbirgt und ynn der wellt so wunderlich regirt und rhumort.«
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Luther für sehr wichtig hält, auf die Menschen aus: Analog zum theologischen Gebrauch des Gesetzes als »Spiegel« zur Erkenntnis der Sünden kann auch die Geschichte dazu beitragen, dass Menschen Demut lernen, vor falschen Wegen gewarnt und zur Buße angeleitet werden. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.28 Oder in den Worten Luthers: »Alsso sehenn wir in allen historien unnd erfarung, wie er ein reich auffwirfft, das ander nyder, einn Furstenthumb erhebt, das ander vordruckt, einn volck mehret, das ander vortilget, wie ehr Assyrien, Babylon, Persen, Kriechen, Rom thann hat, die doch meyneten, sie wurden weig sitzen in yhrem stuel.«29 Eine evolutionäre Geschichtssicht wie in der späteren Aufklärung oder gar eine triumphalistische wie in der Papstkirche seiner Zeit lehnt Luther strikt ab. 4. In diesen Zusammenhang gehört auch Luthers Einordnung und Deutung der Kriege in der menschlichen Geschichte: Gerade weil sie als Vollzug von Strafe, Schutzmaßnahme und Anleitung zur Buße zu verstehen sind, sind sie notwendig und Teil des göttlichen Wirkens in der Geschichte: »Wenn ich das Amt ansehe, das Krieg führt, wie es die Bösen bestraft, die, die Unrecht haben, tötet und solchen Jammer ausrichtet, da scheint es ein durchaus unchristliches Werk zu sein und in jeder Hinsicht gegen die christliche Liebe. Sehe ich aber darauf, wie es die Gerechten beschützt, Frau und Kind, Haus und Hof, Gut, Ehre und Frieden damit erhält und bewahrt, so ergibt es sich, wie wichtig und göttlich das Werk ist. Und ich merke, dass es auch [gleichsam] ein Bein oder eine Hand abhaut, damit nicht der ganze Leib stirbt. Denn wenn nicht das Schwert [dem Unrecht] entgegentritt und den Frieden bewahrt, müsste alles, was es in der Welt gibt, im Unfrieden verderben. Deshalb ist ein solcher Krieg nichts anderes als ein kleiner, kurzer Unfriede, der einem ewigen, unermesslichen Unfrieden wehrt, ein kleines Unglück, das einem großen wehrt.«30 Gott selbst handelt durch die fürstliche Obrigkeit, wenn sie Übeltäter richtet oder einen Verteidigungskrieg führt: »Denn die Hand, die das Schwert führt und tötet, ist dann auch nicht mehr eines Menschen Hand, sondern Gottes Hand, und nicht der Mensch, sondern Gott henkt, rädert, enthauptet, tötet und führt den Krieg. Das alles sind seine Werke und sein Gericht.«31 Kriege sind für Luther Beispiele für Gottes Handeln unter dem Gegenteil, sub contrario – eine Denkweise, die
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»Omnia opera et verba Dei sunt iudicia« (WA 3, S. 266, Z. 33 f.). Am letztlich skeptischen Duktus von Luthers Sicht der Geschichte kommt auch eine Luther-Deutung nicht vorbei, die sich bewusst bemüht, neben dem Zorn auch die Gnade Gottes als bestimmendes Element der irdischen Geschehnisse zur Geltung zu bringen: »Luther sieht die Morgenröte künftigen Lebens aufscheinen über der Zeit, die die Nachwelt als Reformation bezeichnet. Von einer Hoffnung besserer oder einem Anbruch neuer Zeiten kündet seine Zeitansage freilich nicht«. Kastning, Morgenröte (wie Anm. 26), S. 17. WA 7, S. 590. WA 19, S. 626, Z. 4-14. Das Zitat entstammt Luthers Kriegsleuteschrift, die ich nach der neuen, vorbildlich kommentierten Edition zitiere: Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können. Hrsg. im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs von Angelika Dörfler-Dierken und Matthias Rogg, Delitzsch 2014. Das Zitat findet sich dort S. 18. WA 19, S. 626, Z. 24–27; und Luther, Kriegsleute (wie Anm. 30), S. 19.
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Luther sonst eher in der Rechtfertigungstheologie, in der Theologie des Kreuzes, theologia crucis, verwendet.32 5. Solche Deutungen von gegenwärtigem oder vergangenem Geschehen, etwa von Kriegen, bleiben aber kontingent und bedürfen ständiger Überprüfung. Nur Gott kennt den Sinn der Geschichte, während menschliche Erkenntnisversuche in Richtung vergangener und zukünftiger Geschichte von Luther als selbstgerecht und vermessen zurückgewiesen werden. Besonders deutlich hat Luther das an einer Stelle in seiner Auslegung von Psalm 101 ausgedrückt: »Ich habe offt, da ich noch im Kloster war, weise und vernunfftige leute gesehen und hören ratschlahen, die es also gewaltig, gewis und schön furlegten, das ich dachte, es were ummüglich, das es feilen kündte [...] Wie kans feilen (sagen sie), Es ist so gewis, als das sieben und drey zehen machen. Und war ists, Mathematice, nach der zal und rechnung machen sieben und drey gerade zehen und feilet nicht, der rat ist troffen. Aber Physice, nach der that oder im werck, da gehets also, das Gott kan die sieben stück inn ein stück schmeltzen und aus sieben eins machen, widerumb die drey teilen inn dreissig, so sinds denn nicht mehr die gewisse zehen inn der that, die es vor waren im rat.«33 6. Wenn Gott direkt in die Geschichte eingreift, dann tut er das, indem er Menschen erwählt und inspiriert, seinen Willen umzusetzen. Luther nennt solche Menschen »gesunde Helden« oder »Wunderleute«.34 Aber auch ihr Auftreten bleibt kontingent und in keiner Weise von der menschlichen Seite her vorhersehbar oder produzierbar. 7. Die gesamte Weltgeschichte relativiert sich vor der Ewigkeit des Reiches Gottes, das Luther wie alle Menschen seiner Zeit erwartet. Seine Geschichtstheologie ist eschatologisch ausgerichtet und hält gerade deshalb das Reich Gottes strikt im Jenseits zu dem, was sich in der menschlichen Geschichte verwirklicht. Soweit eine Zusammenfassung von Luthers Geschichtstheologie in sieben Thesen. Ein verbindender Gedanke besteht in dem, was einer ihrer Interpreten, Heinz Zahrnt, in einer seiner frühen Arbeiten die »in Gottes regula begründete Irregularität der Geschichte«35 genannt hat. Regularität und Sinnhaftigkeit sind 32
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Vgl. Lilje, Luthers Geschichtsanschauung (wie Anm. 26), S. 87: »Das Verständnis für das Geheimnis der Selbstverhüllung Gottes im Gekreuzigten ist für ihn [Luther] zugleich der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte überhaupt« (Hervorhebung im Original). Bornkamm, Luthers geistige Welt (wie Anm. 26), S. 218: »Das Kreuz Christi ist für den Glauben die Bürgschaft dafür, daß dort, wo menschlich gesehen alles verloren ist, Gottes Wirken erst anfängt.« Zahrnt, Luther deutet Geschichte (wie Anm. 26), S. 66 f.: »Luthers Geschichtsbeurteilung ist nichts anderes als die Anwendung seiner Rechtfertigungslehre auf die Geschichte.« WA 51, S. 202, Z. 24–26, und S. 202, Z. 38 bis S. 203, Z. 2. Vgl. z.B. ebd., S. 214, Z. 15-19: »Nu ist die Welt ein kranck ding und eben ein solcher Peltz, da haut und har nicht gut an ist. Die gesunden Helden sind seltzam und Gott gibt sie theur und muß doch regirt sein, wo menschen nicht sollen wilde thier werden.« Zahrnt, Luther deutet Geschichte (wie Anm. 26), S. 191. Dieser Gedanke ist unmittelbar mit dem der Allwirksamkeit Gottes verbunden. Bei Zahrnt, ebd., S. 193, heißt es: »Weil Gott der Herr der Geschichte ist, darum ist sie von dem Geheimnis der Ewigkeit umschlossen.« Zahrnt hat auch herausgearbeitet, dass im Widerspruch gegen eine Rationalität der Geschichte der entscheidende Unterschied zwischen Luther und dem humanistischen Geschichtsverständnis, etwa bei Erasmus, besteht. Vgl. ebd., S. 197-200. Ähnlich Hermann Dörries, Luthers Verständnis der Geschichte. In: Hermann Dörries, Wort und
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von Gott her gegeben. Aber weil diese Sinngebung der Geschichte durch Gott sich dem Menschen in seiner mangelnden Erkenntnisfähigkeit entzieht, ist diese Sinnhaftigkeit verborgen in einer Ereigniskette, die dem Menschen nur als sinnlos erscheinen kann bzw. nach tätiger Sinngebung durch ihn verlangt. Betrachtet man diese Geschichtstheologie, dann ist sie schon in sich selbst nicht unbedingt kohärent. Der Verweis auf charismatische Führerpersönlichkeiten widerspricht der Relevanz und der Würde, die Luther unabhängig von persönlichen Fähigkeiten der Berufung zum obrigkeitlichen Amt zuspricht. Der eschatologische Vorbehalt und die Kritik an scheinbar sicheren Ratschlägen vertragen sich nicht ohne Weiteres mit der Rede von »Gottes Hand«, die sich sicher sein kann, beim Vollzug von Krieg und Strafe Gottes Werk auf Erden zu vollziehen. Weiter: Warum wird Thomas Müntzer von Luther dafür kritisiert, dass er behauptet, im Auftrag Gottes das Gericht (an den Fürsten) zu vollziehen, während die Obrigkeit sich genau auf einen solchen Auftrag berufen kann, wenn sie die aufständischen Bauern niedermacht? Luther würde sagen: weil die Obrigkeit für Ordnung steht und die Bauern für Chaos. Aber kann man die Rollen in der Geschichte wirklich so eindeutig verteilen, wenn man wie Luther davon ausgeht, dass alle geschichtlichen Akteure selbstsüchtig handeln und die Welt von daher ohnehin dazu bestimmt ist, in ein endzeitliches Chaos zu versinken?36 Weitere Inkohärenzen ergeben sich von anderen prägenden Bestandteilen in Luthers Denken her. So widerspricht der hohe Wert, den er in seiner Geschichtstheologie den Kriegen als Formen der Läuterung zuschreibt, der Ermahnung zum Frieden und dem Friedensprimat, den Luther in seiner Ethik des Politischen klar zum Ausdruck bringt. Und der Abgesang auf menschliche Weisheit und menschliches Ratschlagen passt nicht damit zusammen, dass Luther ebenfalls in seiner Ethik des Politischen die erfahrungsgesättigte Rationalität des Menschen preist und immer wieder selbst aus der menschlichen Geschichte heraus geronnene Erfahrungssätze vorträgt, die einen Geltungsanspruch erheben, der angesichts des Faktums der Verborgenheit des wahren Sinns der Geschichte sub contrario dem eigenen Vorwurf der Vermessenheit verfallen müsste.37 Lob des Kriegs als Mittel zu des Menschen Besserung, Irrationalität der Entscheidungsfindung, Verborgenheit des weltlichen Handelns Gottes sub contrario – genau diese drei Bestandteile von Luthers Geschichtstheologie, die quer zu seinem übrigen, insbesondere ethischen
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Stunde, Bd 3: Beiträge zum Verständnis Luthers, Göttingen 1970, S. 1-83, hier S. 19: »Das offene Buch der Geschichte zeugt auch von ihrem Geheimnis.« Die Rollengrenzen verschwimmen für Luther auch in der anderen Richtung: Nicht nur nimmt die Obrigkeit ihr Amt unzureichend wahr, sondern ihre Aufgabe, Zorn und Gericht Gottes zu vollziehen, kann von Gott auch anders als mittels der politischen Obrigkeit zur Geltung gebracht werden: »Diße rache aber und zorn Gottis wird mancherley weyse ausgericht, ettwa durch uberkeyt, etwa durch teuffel, ettwa durch kranckheyt, hunger, pestilentz, fewr, wasser, krieg, feyndschafft, schande und alles ungluck das auff erden ist und seyn mag« (WA 17/2, S. 59, Z. 2-5). So z.B. Luther, Kriegsleute (wie Anm. 30), S. 54 f. = WA 19, S. 647: »Von daher haben auch meine Landsleute, die vom Harz, ein Sprichwort. Ich habe es doch wahrhaft gehört: ›Wer schlägt, wird wieder geschlagen.‹ Und warum das? Doch deshalb, weil Gott die Welt mit Strenge regiert und das Unrecht nicht unbestraft lässt. Wer Unrecht begeht, es aber nicht büßt und seinem Nächsten dafür keine Genugtuung verschafft, der erhält seine Strafe von Gott, so gewiss er lebt. Ich meine, der Müntzer musste das mit seinen Bauern auch bekennen.«
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Denken stehen, sind es nun aber, die von der Kriegstheologie vieler Lutheraner im Ersten Weltkrieg in den Vordergrund gerückt und militaristisch vereinnahmt worden sind. Das möchte ich nun in einem nächsten Abschnitt anhand einiger ausgewählter Zitate zeigen.
Militarismus in der lutherischen Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg a) Zwei-Regimente-Lehre und Lob des Krieges Es wird oft gesagt, der Fehler des deutschen Luthertums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts läge in einer zu starken Trennung der beiden Regierweisen Gottes – geistliches und weltliches Regiment. Durch die Rede von einer »Eigengesetzlichkeit« des Weltlichen sei die Politik zu stark von der bei Luther auch im Politischen immer noch mitgedachten christlichen Verantwortung abgekoppelt worden, was das Ja zum Militarismus und später zum totalitären Führerstaat erst ermöglicht hätte.38 Diese Interpretation der Verfallsgeschichte der lutherischen Ethik ist nicht falsch. Bei Friedrich Naumann z.B., der ausdrücklich den Dualismus hervorhob, in dem er als Reichstagsabgeordneter, nicht aber als Christ die Flottenkredite befürwortete, liegt eine solche »Eigengesetzlichkeit« vor.39 Der Hauptstrom der lutherischen Kriegstheologie ist aber nicht für ein Zuwenig, sondern für ein Zuviel an religiöser Aufladung des weltlichen Bereichs zu kritisieren, und zwar in der Nachfolge einer falsch verstandenen Theozentrik, in der die These vom Herrsein Gottes über die gesamte Geschichte aus Luthers Geschichtstheologie zur Geltung kommt. Bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 1906 mit dem bezeichnenden Titel »Luthers Stellung zu den sittlichen und sozialen Nöten seiner Zeit und ihre vorbildliche Bedeutung für die evangelische Kirche«40 hatte Reinhold Seeberg sich 38
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Die Kritik, die im westdeutschen Protestantismus nach 1945 bis zur Forderung reichte, die Luthersche Zwei-Reiche-Lehre »vorläufig zu suspendieren«, ist zusammengefasst in einem vorzüglichen Forschungsbericht: Andreas Stegmann, Die Geschichte der Erforschung von Martin Luthers Ethik. In: Lutherjahrbuch, 79 (2012), S. 211-303, hier S. 279. Wolfgang Huber weist darauf hin, dass sich bereits die Zweite These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 »vor allem anderen gegen die Lehre von der ›Eigengesetzlichkeit‹ der weltlichen Lebensbereiche richtet.« Vgl. Wolfgang Huber, Barmer Theologische Erklärung und Zweireichelehre. Historisch-systematische Überlegungen. In: Zwei Reiche und Regimente. Ideologie oder evangelische Orientierung? Internationale Fall- und Hintergrundstudien zur Theologie und Praxis lutherischer Kirchen im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Ulrich Duchrow, Gütersloh 1977 (= Studien zur evangelischen Ethik, 13), S. 33-52, hier S. 39. Vgl. auch Wolfgang Huber, »Eigengesetzlichkeit« und »Lehre von den zwei Reichen«. In: Wolfgang Huber, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen-Vluyn 1983 (= Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie, 4), S. 53-70. Siehe oben Anm. 18. Zu diesem Aufsatz vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Konservativer Kulturlutheraner. Ein Lebensbild Reinhold Seebergs. In: ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte
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für eine Unterscheidung, aber nicht Trennung der beiden Regimente ausgesprochen. Die Unterscheidung besteht für Seeberg darin, dass nicht das Liebesgebot, sondern Gesetz, Zwang und Strafe im weltlichen Regiment »gelten«. Aber sie gelten auf Gottes Veranlassung und bringen den Willen Gottes zum Ausdruck. Die charakteristische Indirektheit des Wirkens Gottes, die den Bereich des Weltlichen in Luthers Zwei-Regimente-Lehre auszeichnet,41 wird so ausgeblendet zugunsten einer direkten theologischen Rechtfertigung des Gebrauchs von Gewaltmitteln. Dies gilt erst recht für Seebergs Kriegstheologie. Günter Brakelmann, der ihr eine eigene Abhandlung gewidmet hat, spricht von Seebergs »Bestimmung der Politik als eines Servanten des Urwillens [...]. Politiker zu sein, ist nach Seeberg ein zutiefst ›prophetisches‹ Amt.«42 Ähnlich ist in einer der Kriegspredigten Althaus’ vom »Herrn aller Geschichte« die Rede.43 Und vom Feldprediger Tillich sei eine Passage zitiert, in der in Bezug auf den Krieg jede Unterscheidung zwischen opus proprium und opus alienum Gottes wegfällt. Das Evangelium der selbstlosen Liebe und das Schwert des Gesetzes verschmelzen angesichts des bedrohlichen Feindes: »Und derselbe Gott, der der Obrigkeit das Schwert gegeben, den Frieden nach innen zu schützen, der hat ihr auch das Schwert gegeben, den Frieden nach außen zu verteidigen. Und dieses Schwert seid ihr! [...] Es gibt keinen Gegensatz zwischen Christentum und Krieg. Schlachtschwert und Richtschwert, beide sind Gottes, beide hat er in der Menschen Hand gegeben, damit Friede geschaffen werde und Recht. Gott hat dem Menschen Kraft gegeben, damit er ihm Friede gebe. Und darum rufen wir euch zu: Werdet stark, bleibt stark, seid ein scharfes, hartes Schwert, das auch durch des Krieges Dauer nicht schartig und stumpf werden darf! [...] Und nun ein Wort, das euch vielleicht zeigen kann, wo die Quellen unerschöpflicher Kraft liegen [...] Um was wir euch bitten, das ist eine Tat der Liebe. Es ist die höchste, die letzte Tat der Liebe. Sein Leben zu lassen für die Brüder! [...] Heilige Liebe fordert neue Opfer von euch, heilige Liebe fordert Leib und Leben! Die höchste Liebe, sie wird zur höchsten Kraft.«44 b) Irrationalität der Entscheidungsfindung Wenn die menschliche Vernunft den Willen Gottes ohnehin nicht erkennen kann, dann wird es sehr plausibel, dass ein dezisionistischer Voluntarismus an ihre Stelle tritt. Nicht das Denken oder gar das Verhandeln, sondern das Kämpfen wird
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der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, S. 211-263, bes. S. 262. Vgl. z.B. Friedrich Lohmann, Ein Gott – zwei Regimente. Überlegungen zur »Zwei-Reiche-Lehre« Martin Luthers im Anschluß an die Debatte zwischen Paul Althaus und Johannes Heckel. In: Luther, 74 (2003), S. 112-138. Dort habe ich auch ausgeführt, warum in Bezug auf Luther nicht von einer Zwei-Reiche-, sondern von einer Zwei-Regimente-Lehre gesprochen werden sollte. Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 19), S. 43. Zit. Liebenberg, Der Gott der feldgrauen Männer (wie Anm. 20), S. 213. Tillich, Frühe Predigten (wie Anm. 23), S. 536 f. (Predigt am 27. Januar 1917, dem Geburtstag des Kaisers).
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dann zum primären Modus der menschlichen Weltbewältigung. Gewiss: Hier sind in der Weltkriegstheologie auch starke Anleihen bei der Lebensphilosophie45 und beim Sozialdarwinismus erkennbar. Dennoch können solche Strömungen von den damaligen Theologen mit scheinbar gutem Gewissen rezipiert werden, weil die Vernunft als Korrektiv des Pochens auf das Recht des Stärkeren und des schlichten Ergötzens an Heldenmut im Anschluss an Luthers Geschichtstheologie aus dem Denken herausexpediert wurde. So heißt es bei Seeberg: »Die Kriege dienen schließlich nur dem Zweck, die geschichtliche Geltung der Völker in der Welt nach dem Maß ihrer Kräfte zu prüfen und eventuell zu korrigieren. Sie nötigen – könnte man vielleicht sagen – die Völker dazu, den Offenbarungseid auf ihre Kräfte zu leisten.«46 Tillich interpretiert das »Dennoch« des Glaubens aus Psalm 73 prominent als »Dennoch des Mutes«: »Tod und Wunden drohten, und Hunderttausende eilten freiwillig zu den Waffen, und Tausende sehnten sich zurück in Kampf und Todesgefahr während ihrer Wunden, obgleich sie die Nähe des Todes wussten und den Schmerz der Wunden kannten. Ein Dennoch lebte in ihnen, das Dennoch des Mutes.«47 Und noch im Januar 1917 ruft er den Zuhörern seiner Predigt zu: »Um des Friedens willen bitte ich euch: Hinweg mit den Friedensgedanken, die aus Schwachheit geboren sind! Aus eurer Kraft soll euer Friede kommen und nicht aus eurer Schwachheit. Wir wissen, wie schwer es für euch ist, stark zu bleiben, wir wissen, welch unerhörte Last euch auferlegt ist, Tag für Tag von Neuem.«48 Bei Althaus ist das Sinnvakuum, aus dem heraus dann die Kampfestheologie ihre Legitimität bezieht, noch deutlicher spürbar: »Gott bleibt der Gott, der im Dunkel wohnt [...] Freunde, wir beten [...] den Gott an, der allezeit der Verborgene bleibt, wir beugen uns erschüttert unter die Last der Kümmernisse, hinter denen wir noch kein Licht sehen.«49 c) Verborgenheit des göttlichen Handelns sub contrario »Wenn ich schwach bin, bin ich stark« – dieser schon in Paulus angelegte Satz einer Theologie des Opfers findet bei den Kriegstheologen gerade dann großen Anklang, wenn es darum geht, die deutschen Niederlagen und die persönlichen Entbehrungen des Kampfes zu rechtfertigen. »Wir leben vom Opfer«, ruft Tillich in einer Predigt den Soldaten zu, »und unser Leben soll Opfer sein ... freut euch der Zeit des Opfers, freut euch, dass ihr opfern sollt, das ihr opfern dürft« (über 45
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Vgl. Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 19), S. 39, Hervorhebung in der Vorlage: »Der Rückgriff auf das Leben, auf das Erlebnis reicht aus. Die Kategorie des Erlebnisses ersetzt eine philosophisch-anthropolo[g]ische oder theologisch-ethische Grundreflexion. Aus der Tiefe des Kriegserlebnisses steigen die in satten Friedenszeiten verschütteten Wahrheiten an den Tag. Das Erleben selbst hat Offenbarungsqualität, es kreiert Wahrheit. Es ist nicht die Wahrheit eines Systems, es ist die Wahrheit des Lebens selbst. Das unmittelbare, unvermittelte, durch keine Logik und Vorurteile verstellte Urerleben wird zur Quelle der Erkenntnis. Die Wirklichkeit wird existentiell-intuitiv erfasst. Erlebte Wirklichkeit und Wahrheit werden identisch, Leben ist Wahrheit.« Zit. Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 19), S. 150, Anm. 21. Tillich, Frühe Predigten (wie Anm. 23), S. 474. Ebd., S. 537. Zit. Liebenberg, Der Gott der feldgrauen Männer (wie Anm. 20), S. 213.
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Röm 12,1).50 Dahinter steht eine Einsicht in die Weise des Handelns Gottes, wie sie auch Luthers Geschichtstheologie prägt: »Der lebendige Gott aber lässt eine Welt vergehen in Blut und Trümmern, um sich der Welt zu offenbaren in seiner Majestät und Gnade.«51 Althaus interpretiert die »Stunde des Hungers« als Lehrund Läuterungsstunde, »dass wir frei werden von uns selbst, dass doch endlich in unser Leben mehr Inhalt, in unsere Gedanken mehr Reinheit, in unser Herz mehr Größe komme [...]Und wenn wir dann Gott gefunden haben, dann beugen sich uns die Kniee vor seiner Majestät und Heiligkeit, wie die Bettler stehen wir beschämt vor ihm: Ach, mein Gott, wie vieles musst du zudecken bei mir, verwirf mich nicht und hilf mir, dein Kind zu bleiben.«52 Seeberg beruft sich ausdrücklich auf Luther, wenn der den Krieg als »ein Werk der Liebe« bezeichnet. Es sei »höchste Liebe, die das eigene Leben daransetzt, um den anderen ihr Leben mit seinen wertvollsten Inhalten zu erhalten«.53 Hinter diesem Aufruf zu individueller Opferbereitschaft, die verborgen dem Leben dient, steht bei Seeberg eine generelle Sicht auf die Geschichte, in der, allen Bezügen auf die Lebensphilosophie zum Trotz, Luthers Gedanken der Allwirksamkeit Gottes, des rationaler Beschreibung nicht zugänglichen Deus absconditus und der göttlichen Offenbarung sub contrario deutlich genug zur Geltung kommen: »Gott selbst schreitet hin in Krieg und Sieg durch die Geschichte der Menschheit. Um die Wahrheit geht es wider den Schein. Es ist der Wille Gottes, dass der echten Kraft die Bahn freigemacht werde, dass sie zu der Höhe und Geltung erhoben wird, die ihrem Wesen gemäß ist.«54 Auf diese Weise kann jede militärische Niederlage, jede Verwundung, jeder Verlust eines Kameraden als Offenbarung Gottes gedeutet werden – nur eben unter dem Gegenteil des Augenscheins und mit dem Zweck, das deutsche Volk näher zu Gott zu führen. Eine solche Theologie des sub contrario wurde von oberster Stelle geteilt. So heißt es in einem Brief Wilhelms II. vom 15. Januar 1917: »Gott will diesen Kampf und wir sind seine Werkzeuge [...] Dann kommt der Friede, der Deutsche, der Gottes-Friede, in dem die ganze befreite Welt aufatmen wird [...] Darum vorwärts mit Gott! Und wenn die Welt voll Teufel wär!«55
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Zit, Sturm, Zwischen Apologetik und Seelsorge (wie Anm. 22), S. 99. Ebd., S. 499. Zit. Liebenberg, Der Gott der feldgrauen Männer (wie Anm. 20), S. 309. Zit. Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 19), S. 48. Zit. ebd., S. 34. Für Brakelmann liegt in Seebergs Kriegsverherrlichung, die den Krieg nicht mehr bloß als reine Abwehr- und Schutzmaßnahme versteht, »ein klarer Bruch zur protestantischen Tradition vor [...] Ein Vergleich Seebergs mit Luther würde zeigen, dass Seeberg die lutherische Traditionslinie entscheidend verlassen hat.« Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 19), S. 156 Anm. 41. Das ist einerseits richtig, zumal Seeberg völkische Motive in seine Kriegstheologie mit hinein nimmt. Aber die Vorstellung von einer reinigenden Wirkung des Krieges, hinter der die verborgene Hand Gottes steht, lässt sich durchaus auf Luther zurückführen. Zu zeigen, dass, wie und warum Luthers Kriegstheologie in sich uneinheitlich ist, ist eines der Ziele der vorliegenden Abhandlung. Zit. Hasselhorn, Politische Theologie (wie Anm. 19), S. 246.
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Weiterentwicklung: Vom Deus absconditus zur völkischen Theologie Mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg war die hier beschriebene Variante lutherischer Theologie nicht unpopulär geworden. Im Gegenteil, gerade die Niederlage bot weiten Teilen des deutschen Protestantismus Anlass, das »Dennoch« des Glaubens (und des Mutes) erst recht zu betonen, die Verborgenheit des Handelns Gottes in der Geschichte herauszustellen, die erbrachten und neu zu erbringenden Opfer als Annäherungen an Gott zu deuten und mit alldem der Vernunft als leitender Kategorie politischen Handelns den Abschied zu geben. Die Weimarer Demokratie wurde in diesen Kreisen als Ausgeburt eines undeutschen Individualismus und Rationalismus angesehen und mehr ertragen als geliebt, wie an ihrem Ende mehr als deutlich wurde.56 Knapp 20 Jahre nach dem Kriegsausbruch 1914 war es wieder soweit: Die Erlebnistheologie im Geiste Rades, die an der Größe und Unerhörtheit eines Erlebnisses seine religiöse Relevanz bemisst, kam analog bei der »Deutschen Revolution« von 1933 erneut zum Einsatz. Hitler wurde als Offenbarer und Vollstrecker des göttlichen Willens angesehen, als einer jener »gesunden Helden«, mit denen Gott der Geschichte eine neue, unvorhergesehene und heilsame Wendung gibt. Kirchenamtlich verewigt ist dieser die Zeichen der Zeit neu deutende Erlebnisund Offenbarungsglaube in einer Denkschrift der Reichskirchenregierung vom Juli 1934, die den Titel trägt: »Über das grundsätzliche Verhältnis von evangelischem Christentum und politischer Bewegung«. Dort heißt es u.a.: »Die Gesetzesoffenbarung geht mit der volklich-politischen Ordnung eine Verbindung ein. Sie ist gewissermaßen Gesetz im Gesetze, Gesetz Gottes im Gesetz des irdischen Daseins [...] So bekommt die politische Ordnung als die konkrete Gestalt des uns treffenden Gesetzes eine Bedeutung für das Kommen des Reiches Gottes zu uns.«57 Die Theologie dieser und einer zweiten Denkschrift »Über Kirche und Bekenntnis« hat seinerzeit nicht nur aus Kreisen der Bekennenden Kirche Widerspruch erfahren. Paul Althaus, inzwischen Theologieprofessor in Erlangen, formulierte eine Antwort aus lutherischer Perspektive.58 Inzwischen liegt eine Studie vor, die im Einzelnen deutlich macht, wie in dieser Variante von völkischer Theologie trotz des terminologischen Anschlusses an Luther (»Gesetzesoffenbarung«) die Zwei-
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Eine exemplarische Fallstudie liefert André Fischer, Zwischen Zeugnis und Zeitgeist. Die politische Theologie von Paul Althaus in der Weimarer Republik, Göttingen 2012 (= Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B, 55). Besonders aufschlussreich im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags ist das Kapitel III: »Geschichtstheologie als Krisenverarbeitung«. Der gesamte Text der Denkschrift ist dokumentiert in der Sammlung: Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Bd 2: Das Jahr 1934. Hrsg. von Kurt Dietrich Schmidt, Göttingen 1935, S. 114-127. Paul Althaus, Um die lutherische Kirche Deutschlands! Lutherische Antwort auf die Denkschrift der Reichskirchenregierung über Kirche und Bekenntnis. In: Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, 67 (1934), S. 868-877.
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Regimente-Lehre in ihrem Anliegen, die Unterschiedlichkeit von Weltlichem und Geistlichem einzuschärfen, faktisch aufgegeben ist.59 Aber Luthers politische Theologie erschöpft sich eben nicht in der ZweiRegimente-Lehre; mit der Lehre von der verborgenen Allwirksamkeit Gottes, wie sie oben in ihren geschichtstheologischen Konsequenzen dargestellt wurde, liefert Luther eine Blaupause, mit der gegenläufig zur lutherischen Unterscheidung der beiden Regimente Gottes das politische Geschehen sakralisiert und existentialisiert werden kann. Und in der Tat lassen sich in der theologischen NS-Propaganda genau die gleichen Versatzstücke finden, auf die oben als zentrale Elemente der militaristischen Kriegstheologie von 1914 bis 1918 hingewiesen worden ist. Noch deutlicher als in der zitierten Denkschrift ist das in einer Schrift des NS-Historikers Arno Deutelmoser über »Luther, Staat und Glaube« aus dem Jahr 1937. »Für Luther impliziere die ›göttliche Allmacht‹ die ›Alleinwirksamkeit‹ und die in der ›Wesenseinheit Gottes mit seinen Masken‹ gegebene ›Alleinwirklichkeit Gottes in der Welt‹.« Daher sei »der Staat ›von sich aus und aus eigener Kraft göttlich‹.« Auch ein Hinweis auf den »verborgenen Gott der Allmacht« fehlt bei Deutelmoser nicht.60 Zentrale Elemente dieses Denkens finden sich auch bei Hitler.61 Die beiden Denkschriften stammen sehr wahrscheinlich von Emanuel Hirsch, der sich wie kein Zweiter nach dem verlorenen Krieg um eine geschichtstheologische, an Luther orientierte Deutung des Geschehenen bemüht hatte. Außer der anti-individualistischen, aber auch anti-universalistischen – Hirsch war ein Gegner des Völkerbundgedankens – Betonung der völkischen Gemeinschaft sticht dabei vor allem sein Anti-Rationalismus ins Auge, der ihn zu einer Ethik des Gewissens führte, bei der alle inhaltlichen und universalen Kriterien des Guten gegenüber der Intensität und Personalität des Gewissenserlebnisses zurücktreten. »Es gilt stets das Dasein kühn an eine Überzeugung zu setzen, die nicht beweisbar ist.«62 Die Geschichte wird von Hirsch als »Entscheidungskampf des Guten und des Bösen«63 gedeutet, der sich im persönlichen Gewissen vollzieht. Nur der christliche Glaube vermag den Gegensatz, unter dem die gesamte Menschheitsgeschichte steht, in seiner ganzen Tiefe wahrzunehmen; nur er ist
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Gunter Zimmermann, Der Kampf gegen die Zwei-Reiche-Lehre in der Denkschrift der Reichskirchenregierung über das grundsätzliche Verhältnis von evangelischem Christentum und politischer Bewegung vom Juli 1934. In: Kirchliche Zeitgeschichte, 8 (1995), S. 345-368. Alle Zitate entstammen Stegmann, Geschichte (wie Anm. 38), S. 271 f. »Für die breite Masse sei der Begriff Gott eine wunderbare Substantiierung und ein Sammelbegriff für das Unbegreifliche, diesen Begriff dürfe man nicht zerstören [...] Jetzt müsse das alte Christentum des Wortes in das wahre Christentum der nationalsozialistischen Tat umgewandelt werden. Diese beziehe ihre Kraft nur aus dem eigenen Volk und aus der völkischen Realpolitik«. Aus Hitlers Monologen im Führerhauptquartier 1941-1944, zitiert nach Anton Grabner-Haider, Hitlers Theologie des Todes, Kevelaer 2009, S. 13. GrabnerHaider (ebd., S. 103-125) weist die Wurzeln dieser Hitlerschen »Theologie des Todes« in der intellektuellen, nicht zuletzt theologischen Propaganda des Ersten Weltkriegs nach. Emanuel Hirsch, Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht, 2. Aufl., Göttingen 1922, S. 33. Emanuel Hirsch, Grundlegung einer christlichen Geschichtsphilosophie. Ein Versuch. In: Zeitschrift für Systematische Theologie, 1 (1926), S. 213-247, 244.
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aber auch durch den Glauben an »Gottes Alleinwirksamkeit«64 in der Lage, der Geschichte einen Sinn abzugewinnen, der zu tätigem Gehorsam treibt und aus den scheinbaren Sinnlosigkeiten des »Entscheidungslebens«65 in die »aufrichtige Anbetung des wunderbaren Herrn der Geschichte«66 führt: »Dürfen wir dann nicht ahnen, dass Gott uns auf dem seltsamen Wege, den er mit uns geht, eine Tiefe des Daseins und damit eine Tiefe der Möglichkeit, seine Liebe zu erfassen, schenkt, wie er sie uns auf einem andern Wege nimmermehr gewähren könnte?« Hirschs ganz auf das Gewissen abhebende und dabei Luther mit Kierkegaard und Fichte verbindende Ethik ist nachträglich mit Recht dafür kritisiert worden, dass sie durch die Verbindung einer religiös aufgeladenen Gewissensvorstellung mit einem dezisionistischen Entscheidungsmodell inhaltlich Beliebiges, sofern es nur durch den Appell des Gewissens legitimiert wird, für ethisch gefordert erklären kann.67 »Der Gedanke einer bewussten Anteilhabe an der Ausführung göttlichen Willens mit der einhergehenden Verabsolutierung dieser Aufgabe als geheiligtem sittlichen Sollen eröffnet doch deutlich die Perspektive auf religiösen Fanatismus.«68 Aber gerade dieser dunkel und zugleich faszinierend-fordernd daherkommende Mix war es, der während und nach dem Ersten Weltkrieg bei vielen Deutschen auf fruchtbaren Boden fiel und nach 1933 Hirsch zum Vordenker der Massenbewegung der Deutschen Christen werden ließ. Darüber hinaus steht Hirsch exemplarisch für ein Denken über die Geschichte, das sich als Antithese zum Historismus des 19. Jahrhunderts entwarf: Hatte dieser vorgeblich zu einer »Überproduktion von Relativitätserfahrungen«69 ge64 65
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Ebd., S. 245. »Entscheidungsleben« ist das Leitwort des hier zugrunde gelegten Aufsatzes von Hirsch. Ebd., S. 223, 228, 231, 236, 239, 242, 244 f. Ebd., S. 246. Vgl. auch S. 235: »Beugung unter die unbegreifliche Allmacht des Herrn der Geschichte«. Vgl. Matthias Lobe, Die Prinzipien der Ethik Emanuel Hirschs, Berlin [u.a.] 1996 (= Theologische Bibliothek Töpelmann, 68), S. 156: »Der formal-instanzliche Formalismus des dezisionistischen Modells entfernt [...] die Normenbegründung von den inhaltlichen Fragen und spitzt alles auf die Hoheit der für sankrosankt [sic] erklärten Entscheidungsinstanz zu.« Justus Bernhard, »Krieg, du bist von Gott.« Emanuel Hirschs frühe Schriften zum Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des Gewissens und der Ableitung des sittlich Gesollten. In: Urkatastrophe (wie Anm. 5), S. 375-397, hier S. 391 f. Dort findet sich weitere Literatur zu Hirschs Ethik und politischer Theologie. Ich nenne nur noch zwei neuere Arbeiten, die deshalb wichtig sind, weil sie Hirsch und seine politische Theologie in die von Karl Holl ausgehende Luther-Renaissance im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einordnen: Heinrich Assel, »Man stellt es überall mit Freude fest, dass der Krieg das Beste aus uns hervorgeholt hat« (Karl Holl, 1914). Lutherrenaissance im Krieg und Nachkrieg. In: Kirche und Krieg. Ambivalenzen in der Theologie. Hrsg. von Friedemann Stengel und Jörg Ulrich, Leipzig 2015, S. 119-138; Heinrich Assel, Emanuel Hirsch. Völkisch-politischer Theologe der Luther-Renaissance. In: Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«. Hrsg. von Manfred Gailus und Clemens Vollnhals, Göttingen 2016, S. 43-68. Friedrich Wilhelm Graf, Die »antihistoristische Revolution« in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre. In: Graf, Der heilige Zeitgeist (wie Anm. 40), S. 111-137, hier S. 119. Graf polemisiert in diesem Zusammenhang in erster Linie gegen die Dialektische Theologie. Es ist aber zu betonen, dass der Anti-Historismus und der Anti-Rationalismus in der oft als Gegenpol zu den Dialektikern dargestellten zeitgleichen Luther-Renaissance ebenso, ja noch stärker propagiert wurden.
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führt, so wurde dem eine »Aufladung der Gegenwart mit endgeschichtlicher Bedeutung«70 entgegengestellt. Wenn bei Hirsch, wie schon bei seinem Lehrer Karl Holl, die Kategorien von Gewissen und Entscheidung in diesem Sinn einer Offenbarung des Absoluten zentrale Bedeutung erhielten, so kündigt sich das in der militaristischen Offenbarungslehre deutscher protestantischer Theologen während des Ersten Weltkriegs mit ihrem Rekurs auf den Krieg als Gotteserlebnis bereits an. Und nach der Entdeckung des jungen Luther in den ersten Jahren des Jahrhunderts bot sich dieser als Gewährsmann einer solchen anti-historistischen Geschichtstheologie besonders an, angereichert um die Skepsis und den AntiHumanismus, wie sie uns in der Geschichtstheologie des reifen Luther begegnen.
Systematische Auswertung Die im deutschen Luthertum und weit darüber hinaus in der deutschen Politik und Öffentlichkeit während des Ersten Weltkriegs sichtbare Tendenz, den Krieg in allen seinen Variationen als Gottesoffenbarung zu deuten und dadurch den deutschen Militarismus religiös zu legitimieren, hat eine ihrer entscheidenden Wurzeln in Luthers Geschichtstheologie. Seine These, dass die Obrigkeit in ihrem richtenden und kriegführenden Handeln unmittelbar als Werkzeug Gottes dessen Willen verwirklicht, wenn auch oft verborgen unter dem Gegenteil und menschlichen Vernunfterwägungen entzogen, ermöglichte es, sowohl militärische Erfolge wie auch den schrecklichen Alltag des Stellungskriegs und schließlich die deutsche Niederlage Gott zuzuschreiben, sie auf diese Weise religiös aufzuladen und dadurch den Kriegswillen zu stützen. Diese Rezeption von Luthers Geschichtstheologie – die keine missbräuchliche ist, denn Luther hat die politische Geschichte in dieser Weise gedeutet – ist bisher in der Forschung nicht ausreichend thematisiert worden.71 Statt in Luthers Geschichtstheologie wird die Legitimationsgrundlage für die spezifisch deutsche Kriegstheologie meist in seiner Unterscheidung der beiden Regimente bzw. Regierweisen Gottes gesehen. Dabei wird übersehen, dass die Kriegstheologie nicht durch eine Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Tun, sondern durch die Tendenz zur Verschmelzung beider geprägt wird. Wegen der Dominanz des Gedankens der Allwirksamkeit Gottes könnte man hier eher sogar von einer Ein-Regimente-Lehre sprechen. Ebenfalls widerspricht es gerade der Zwei-Regimente-Lehre Luthers, wenn in der Deutung des Kriegs auf den Gedanken der göttlichen Offenbarung sub contrario rekurriert wird, der deutlich genug in den Bereich des Evangeliums fällt – der Gekreuzigte als Herr der Welt in Verborgenheit –, während Luther in seinen ethischen, von der Zwei-RegimenteTheorie geprägten Schriften gerade davor warnt, mit dem Evangelium Politik zu machen. Nicht der Glaube, sondern die Vernunft ist laut der Zwei-Regimente-Lehre der Modus, in dem sich politisches und allgemein moralisches Handeln vollziehen sollte. Dies ist – mit Luther gegen Luther – gerade denjenigen einzuschärfen, 70 71
Ebd., S. 135. Vgl. aber Hammer, Deutsche Kriegstheologie (wie Anm. 5), S. 95 f.
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die sich unter Verweis auf Luther auf ein über allen vernünftigen Erwägungen stehendes »Gewissen« als oberste Instanz moralischer Entscheidungsfindung und Beurteilung berufen. Es ist kein Zufall, dass mit Karl Holl und Emanuel Hirsch zwei Gewissenstheologen zu den bestimmenden Wortführern des theologischen Militarismus im 20. Jahrhundert gehören. Luther hingegen hat, jedenfalls in seinen besseren Stunden, den Spruch des Gewissens gegenüber vernünftigen Erwägungen relativiert. Paradigmatisch steht dafür seine Aussage vor dem Reichstag zu Worms 1521, sich von seiner Gewissensbindung nur durch das Wort Gottes oder durch rationale Evidenzen abbringen zu lassen.72 Luther hat zwar die menschliche Vernunft auch heftig kritisiert, doch handelt es sich dabei um eine Kritik an einer vernünftigen Hybris, die sich selbst missversteht, indem sie entweder meint, das Heilsgeschehen zu durchschauen oder gar Heil im Sinne einer Ethik der guten Werke produzieren zu können (das soteriologische Missverständnis),73 oder im Bereich des Irdischen alles an der Elle des egoistischen Selbstinteresses misst (das ethische Missverständnis). Von solchen Selbstmissverständnissen befreit und auf die Wohlordnung des Lebens, abgesehen von Heilsfragen, beschränkt, sieht Luther in der Vernunft eine wunderbare Gabe Gottes.74 Er hat sich daher ganz folgerichtig in Fragen des weltlichen Rechts der Tradition eines vernünftigen Naturrechts angeschlossen.75 Und ebenso folgerichtig hat Emanuel Hirsch ein solches Naturrecht abgelehnt. Für eine autonome Sphäre der Vernunft, noch dazu mit globalem, völkerverbindendem Fokus, war in seiner Luther-Deutung, ganz im Einklang mit der großen Mehrzahl deutscher protestantischer Kriegstheologen des Ersten Weltkriegs, kein Platz. Gott ist »Herr« der ganzen Geschichte, deshalb gibt es keine relativen Autonomien. Hinter der Kriegstheologie steht nicht zuletzt eine Vorstellung von Gott unter den Gesichtspunkten von Macht, Herrlichkeit und Kraft. Selbst vermeintliche 72
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Vgl. z.B. Eckehart Stöve, Natürliches Recht und Heilige Schrift. Zu einem vergessenen Aspekt in Martin Luthers Hermeneutik. In: Reformation und Recht. Festgabe für Gottfried Seebaß zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Irene Dingel [u.a.], Gütersloh 2002, S. 11-25. Karl-Heinz Zur Mühlen, Reformatorische Vernunftkritik und neuzeitliches Denken. Dargestellt am Werk M. Luthers und Fr. Gogartens, Tübingen 1980 (= Beiträge zur Historischen Theologie, 59), spricht treffend von einer »soteriologischen« Vernunftkritik Luthers. Auch hier handelt es sich im Sinne der Zwei-Regimente-Lehre um eine Grenzüberschreitung, nur gegenläufig zu der oben im Text beschriebenen Tendenz, mit dem Evangelium Politik machen zu wollen. Vgl. etwa die These 5 in Luthers Disputatio De Homine von 1536, in der die Vernunft als »Erfinderin und Lenkerin aller [freien] Künste, der medizinischen Wissenschaft, der Jurisprudenz und all dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Herrlichkeit von Menschen besessen wird«, gerühmt wird. Zitiert nach Gerhard Ebeling, Lutherstudien, Bd 2: Disputatio de homine, 1. Teil: Text und Traditionshintergrund, Tübingen 1977, S. 16. Zusammenfassend Bernhard Lohse, Ratio und fides. Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, Göttingen 1957 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 8), S. 108: »So begrenzt der Bereich ist, in dem die Vernunft Entscheidungen fällen kann, so hat sie hier doch volle Autorität, allerdings nur, insofern sie sich der Grenzen der für sie möglichen Aussagen in Glaubensdingen stets bewusst bleibt.« Vgl. hierzu Friedrich Lohmann, Das weltliche Recht und seine Bedeutung für den Frieden in den reformatorischen Theologien. In: Recht in der Bibel und in kirchlichen Traditionen. Hrsg. von Sarah Jäger und Arnulf von Scheliha, Wiesbaden 2018 (= Frieden und Recht, 1), S. 45-74.
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Schwachheit Gottes gilt – sub contrario – als Stärke. Nicht zufällig weist Martin Rade im einleitenden Zitat dieses Beitrags die Vorstellung eines »schwächlichen Gottes« brüsk zurück. Auch hierin folgt er der Geschichtstheologie Luthers, in der der Voluntarismus im Gottesbild, wie ihn Luther von den nominalistischen Professoren seiner Erfurter Studienzeit übernommen hatte, noch besonders nachwirkt, verbunden mit dem Gedanken eines Deus absconditus als Willkürgott, der bei Lichte besehen nichts anderes ist als eine black box, die Luther benötigt, um am Herrsein Gottes über die Geschichte trotz aller Widrigkeiten und Widersprüche zum offenbaren Gott der Liebe festzuhalten. Auch hier, in der Gotteslehre, kann man Luther gegen Luther lesen und die von ihm ebenfalls, ja sogar an entscheidender Stelle vertretenen Gedanken der Selbstgabe und Selbstbindung in seiner Offenbarung als das Eigentliche seiner Theologie der Rätselrede vom Deus absconditus entgegenstellen.76 Für die deutsche Kriegstheologie des Ersten Weltkriegs kam dieser dunkle und zugleich erhabene Deus absconditus aber gerade recht. Es brauchte einen zweiten, noch verheerenderen Weltkrieg, der wiederum unter dem Signum Gottes als Herrn der Geschichte geführt wurde, und es brauchte das Grauen von millionenfach eliminiertem Leben, um das Gottesbild des theologischen Militarismus zu den Akten der Geschichte zu legen, jedenfalls was den deutschen Protestantismus betrifft. Interessanterweise ist es genau Rades »schwächlicher Gott«, der Leiden, wenn auch widerwillig, zulässt und es nicht selbst hervorruft, der bei so gut wie allen theologischen Neuaufbrüchen seit 1945 die alte Gottesvorstellung ersetzt hat, seien es die Theologie Dietrich Bonhoeffers in den Gefängnisbriefen, die Theologie der Befreiung, die Theologie nach dem Tode Gottes oder die Feministische Theologie. Diese Neuaufbrüche zeigen zugleich, dass auch eine Theologie der Liebe und Solidarität geschichtlich wirkmächtig werden kann – nur eben in eine ganz andere Richtung als Luthers Geschichtstheologie mit ihren für eine militaristische Vereinnahmung offenen Flanken.
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Vgl. Friedrich Lohmann, God’s Freedom. Free to be bound. In: Modern Theology, 34 (2018), S. 368-385.
Fünfter Teil Gottesgehorsam und Widerstand
Winfried Heinemann
Widerstand und irrendes Gewissen. Von Marwitz bis Stauffenberg Fragestellung Das Thema bedarf eines genauen Hinsehens: Beinhaltet »Widerstand« ein irrendes Gewissen? Oder bedeutet nicht in manchen Situationen gerade der Befehlsgehorsam, der Nicht-Widerstand, dass das Gewissen irrt? Mehr noch: Den Oberst Graf Stauffenberg und den Major von der Marwitz in einem Atemzug zu nennen, impliziert, dass sich deren Verhaltensweisen vergleichen, also zumindest teilweise gleichsetzen lassen. Das Wort vom »irrenden Gewissen« unterstellt zudem, dass die handlungsleitenden Überlegungen der beiden – und all derer, die zeitlich dazwischen liegen – ethisch und vielleicht sogar religiös begründet waren. Diese Annahmen gilt es zu hinterfragen. Die Beispiele aus der deutschen Militärgeschichte, die im Folgenden knapp skizziert werden, sind dahingehend zu prüfen, wie sich eine religiöse oder allgemein ethische Motivation zu anderen, pragmatischen Faktoren verhält. Zugleich wird es um die Frage gehen, wozu eine solche Motivation drängt: zu einem gesinnungsethischen Bemühen, selbst schuldfrei zu bleiben, oder zu einem verantwortungsethischen Streben, das erkannte Übel an seiner Wurzel zu fassen. Marwitz Der Major Johann Friedrich Adolf von der Marwitz ist dadurch berühmt geworden, dass er im Siebenjährigen Krieg dem Befehl Friedrichs des Großen nicht nachgekommen sei, das bei Leipzig gelegene Schloss Hubertusburg zu plündern. Vor dem König habe er geäußert, das »würde sich allenfalls für den Offizier eines Freibataillons schicken, nicht aber für einen Kommandeur Seiner Majestät Gensdarmes«, und er habe seinen Abschied genommen. Der historische Hergang ist nicht genau überliefert; auch die von Theodor Fontane weit verbreitete Version stützt sich auf die mehr als fünfzig Jahre nach dem Geschehen veröffentlichten Erinnerungen des Neffen des Ehrenmannes;1 1
Werner Meyer, Befehl verweigert und Ungnade erlitten? Zur Geschichte des »HubertusburgMarwitz« in der Literatur, Berlin 2014, S. 7-26.
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dieser war es auch, der den berühmten Grabstein setzen ließ mit der Inschrift: »Sah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in all seinen Kriegen. Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.« Wikipedia sagt: »Insbesondere im Kreise der Verschwörer des 20. Juli wurde das Beispiel Marwitz oft genannt, um zu begründen, dass der Einzelne zuerst seinem Gewissen und dann erst seinem politischen Führer verantwortlich sei.«2 Wikipedia ist in guter Gesellschaft, auch Bundespräsident Theodor Heuss hat bei seiner bedeutenden Rede zum 10. Jahrestag des 20. Juli im Jahre 1954 die Parallele gezogen.3 Leider hält das einer näheren Nachprüfung nicht stand, und so findet sich das Beispiel von der Marwitz so gut wie nie in den sparsamen Quellen zum Widerstand.4 Bei näherer Betrachtung war der Ungehorsam des Majors – so er denn ungehorsam war – begründet mit der persönlichen und der Standesehre; Friedrich gegenüber eine religiöse Motivation anzuführen, wäre wohl ohnehin wenig erfolgversprechend gewesen. Zugleich aber beschränkt sich von der Marwitz auf persönliche Konsequenzen; in keiner Weise ist sein Handeln geeignet, die Rolle jenes Königs, der ihm einen unmoralischen Befehl erteilt hat, in grundsätzlicher Weise in Frage zu stellen.
Yorck In ihrem Memorandum »Das drohende Unheil« schreiben im Oktober 1939 die Hitler-Gegner Erich Kordt, Hasso von Etzdorf und Oberstleutnant i.G. Helmuth Groscurth: »Endlich sei auch der Einwand, der Soldat habe einen Fahneneid zu halten, durchaus unangebracht. Des Fahneneides sei der Soldat längst ledig, da Hitler seine eigenen Verpflichtungen nicht einhalte, sondern vielmehr im Begriff stehe, Deutschland seinen wahnsinnigen Zielen zu opfern. Die Treue des Soldaten könne daher nur noch dem Vaterland gelten. General Yorck, der 1812 bei Tauroggen mit einem russischen General einen Neutralitätsvertrag schloss, obwohl sich sein König mit Russland noch im Kriegszustand befand, sei ein Beispiel dafür, wie ein deutscher Patriot sein Gewissen und die Pflicht gegenüber dem Vaterlande über die formale Gültigkeit eines Eides zu stellen habe.«5 2
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, letzter Zugriff 7.3.2017. Rede am 19. Juli 1954 im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin, , letzter Zugriff 15.1.2019. Siehe allerdings Klemens von Klemperer, Sie gingen ihren Weg ... Ein Beitrag zur Frage des Entschlusses und der Motivation zum Widerstand. In: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler. Hrsg. von Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach, München 1985, S. 1097-1106, hier S. 1100. Peter Hoffmann, Widerstand – Staatsstreich – Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, München 1969, S. 171, unter Bezug auf Erich Kordt, Nicht aus den Akten ... Die Wilhelmstraße in Frieden und Krieg. Erlebnisse, Begegnungen und Eindrücke 1928-1945,
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Damit sind wir bei dem General Ludwig von Yorck (später Generalfeldmarschall Graf Yorck von Wartenburg), der Ende Dezember 1812 in der Poscheruner Mühle bei Tauroggen die Reste seines aus Russland zurückmarschierten Korps eigenmächtig aus dem Bündnis mit Frankreich herauslöste und so den Wechsel Preußens auf die Seite der Napoleon-Gegner auslöste. Quasi in Parenthese sei hier erwähnt, dass der Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg ein Nachfahr Yorcks war, ebenso wie des Feldmarschalls August Graf Neidhart von Gneisenau.6 Nach dem Abschluss der Konvention von Tauroggen schrieb Yorck: »An Se. Majestät den König. Tauroggen, den 30. Dezember 1812 [...] habe ich mich genötigt gesehen, mit dem kaiserlich russischen Generalmajor v. Diebitsch die Konvention abzuschließen, welche ich Ew. Majestät hiermit alleruntertänigst zu Füßen lege. Fest überzeugt, daß bei einem weiteren Marsch die Auflösung des ganzen Korps und der Verlust seiner ganzen Artillerie und Bagage ebenso unausbleiblich gewesen sein würde, wie bei der großen Armee, glaubte ich als Untertan Ew. Majestät nur noch auf Allerhöchst Dero Interesse und nicht mehr auf das Ihres Verbündeten sehen zu müssen.«7 Handelt es sich hier um eine Gewissensentscheidung? Eher ist es doch eine Entscheidung in unklarer Lage ohne Verbindung zur übergeordneten Führung. Yorck ist sich der politischen Bedeutung seines Entschlusses bewusst, glaubt aber, im Sinne seines Königs und Preußens zu handeln. Keineswegs handelt er aus Gewissensgründen einem Befehl zuwider8. Gleichwohl ist sein Beispiel – wie die angeführte Stelle belegt – den Verschwörern gegen Hitler später sehr wohl präsent gewesen.
Moltke Prinz Friedrich Karl von Preußen soll 1860 als General zu einem Untergebenen gesagt haben: »Herr, dazu hat Sie der König zum Stabsoffizier gemacht, dass Sie wissen müssen, wann Sie nicht zu gehorchen haben«.9 Auch hier geht es um die Grenzen
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Stuttgart 1950, S. 358-366; daselbst auch Abdruck des erhalten gebliebenen Fragments; ebenso im BArch, EAP 21 X 15/2; vgl. auch Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933-1940, Stuttgart 1969 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, 10), S. 503-505. Hoffmann, Widerstand (wie Anm. 5), S. 374; vgl. auch Winfried Heinemann, Stein, Gneisenau und Yorck im Widerstand gegen Hitler. In: Wie Napoleon nach Waterloo kam. Eine kleine Geschichte der Befreiungskriege 1813 bis 1815. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hrsg. von Eberhard Birk, Thorsten Loch und Peter Andreas Popp, Freiburg i.Br. 2015, S. 279-284, hier S. 279, 283. Johann Gustav Droysen, Das Leben des Feldmarschalls Grafen Yorck von Wartenburg, 2 Bde, Leipzig 1913, hier Bd 1, S. 367. Adam Zamoyski, 1812. Napoleon’s Fatal March on Moscow, London 2004, S. 534 f. Helmuth Rönnefarth, Friedrich Karl, Prinz von Preußen. In: Neue Deutsche Biographie, Bd 5, Berlin 1961, S. 566; vgl. auch Johann Adolf Graf von Kielmansegg, Gedanken eines Soldaten zum Widerstand. In: Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933-1945. Begleitband zur Ausstellung des Militärgeschicht-
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des Gehorsams, aber erneut um eine funktionale Betrachtung, nicht um eine ethische. Das liegt auf einer Linie mit einer Bemerkung, die Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke in einem Gespräch mit dem Historiker Heinrich Friedjung gemacht haben soll: »Überhaupt – Gehorsam ist Prinzip, aber der Mann steht über dem Prinzip.«10 Auch dieses ist keine religiöse Rückbindung, sondern eine Aussage über die Begrenzung der Gehorsamsverpflichtung ohne einen transzendenten Bezug. Dabei hat in der Frühen Neuzeit und auch im 19. Jahrhundert der Soldatenberuf und der des Offiziers sehr wohl noch einen religiösen Bezug. Kein Fahneneid kommt ohne die Anrufung Gottes aus, wie sehr die Texte sonst auch divergieren mögen. Damit steht die darin übernommene Gehorsamsverpflichtung unter dem Vorbehalt, dass sie zu nichts missbraucht worden darf, was wider Gottes Wort ist11. Es hat in allen Kriegen Missbrauch und Unrecht gegeben. Nur hatte bis zum Zweiten Weltkrieg das deutsche Militär nie die Erfahrung machen müssen, dass es für einen grundsätzlich verbrecherischen Zweck eingesetzt wurde. Diese Erfahrung trennt den militärischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg von allen historischen Vorbildern.
Tresckow und Stauffenberg Es ist in der Bundesrepublik von Anfang an üblich gewesen, den Widerstand, der in dem Staatsstreichversuch vom 20. Juli 1944 mündete, als »Aufstand des Gewissens« zu bezeichnen.12 1954, zehn Jahre nach dem gescheiterten Attentat, veröffentlichte Annedore Leber einen ersten Sammelband mit Biografien dazu unter dem Titel »Das Gewissen steht auf«. Auch die rund dreißig Jahre lang verwendete, sehr erfolgreiche Wanderausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes bezog sich auf diesen Aspekt.13 Der aber beinhaltet die Reduktion der militärischen und zivilen Opposition gegen das Dritte Reich auf eine moralische Dimension, die sich mit der Forschung nicht in Einklang bringen lässt. Schon seit den 1960er Jahren ist in der Wissenschaft nachdrücklich danach gefragt worden, welche politischen Ziele der nationalkonservative Widerstand verfolgt habe, und das Ergebnis ist nicht immer angenehm gewesen. Carl Goerdeler und Ulrich von Hassell, Stauffenberg und
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lichen Forschungsamtes. Hrsg. von Thomas Vogel, 5. Aufl., Hamburg 2000, S. 249-261, hier S. 257. Peter Steinbach behauptet fälschlich, diese Aussage sei 1812 in der Poscheruner Mühle gegenüber Generalleutnant Yorck getätigt worden. Peter Steinbach, Vortrag zur Eröffnung der neugestalten Ausstellung »Aufstand des Gewissens« am 24. Februar 1999 in München. In: ebd., S. 13-31, hier S. 16. Olaf Jessen, Die Moltkes. Biographie einer Familie, München 2010, S. 198. Sven Lange, Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär, Bremen 2002 (= Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit e.V., 19), S. 86-106. Für eine Einordnung der folgenden Überlegungen in einen größeren Zusammenhang siehe Winfried Heinemann, Unternehmen »Walküre«. Eine Militärgeschichte des 20. Juli 1944, München 2019 (= Zeitalter der Weltkriege, 21). Siehe auch die insgesamt fünf Auflagen des dazugehörigen Katalogs, die letzte aus dem Jahr 2000: Aufstand des Gewissens (wie Anm. 9).
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General Ludwig Beck können keineswegs als die linearen Vorläufer der parlamentarischen Demokratie im Sinne des Grundgesetzes vereinnahmt werden.14 Die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des Widerstands zu den Juden und ihrer massenhaften Ermordung ließ eine Distanz zu heutigen Wertvorstellungen erkennen,15 und jüngste Versuche, die Unterstellung auch nur eines »milden« Antisemitismus bei Carl Goerdeler abzustreiten, haben sich als untauglich erwiesen.16 Die Verschwörung gegen den Nationalsozialismus stellt sich als die »zeitbedingte Alternative zum Faschismus« dar.17 Bei diesen Fragestellungen ist implizit zumeist davon ausgegangen worden, dass der militärische Widerstand sich als ausführendes Organ der zivilen Politikgestalter verstanden habe – eine Annahme, die sich aber bei näherer Betrachtung ebenfalls nicht halten lässt. Die Konflikte zwischen dem Kopf der zivilen Verschwörung, Goerdeler, und dem Zentrum der militärischen Umsturzplanung, Stauffenberg, sind vielfach belegt. Als »Querkopf [...], der auch Politik machen wollte«, bezeichnete Goerdeler Stauffenberg bei der Gestapo.18 Das heißt für unser Thema, dass es nicht nur auf die politischen Motive des nationalkonservativen Widerstands ankommt, sondern desgleichen auf seine militärischen Planungen und Zielsetzungen. Diese sind mit Blick auf das Verhältnis von professionellen, auch von Standesdenken geprägten Motiven zu einer ethischen und religiösen Ebene zu betrachten. Ein wesentliches, immer wiederkehrendes Motiv von Soldaten für den Entschluss zum Widerstand war die Änderung der militärischen Spitzengliederung. Hinter dieser Forderung verbarg sich während der Kriegszeit allerdings nichts weniger als das Nachdenken über den Rücktritt Hitlers vom Oberkommando der Wehrmacht (OKW), seit 1942 zumindest vom Oberkommando des Heeres (OKH). In dem Maße, wie Hitler im Verlauf des Krieges immer mehr Kompetenzen an sich zog, gewann diese Forderung auch für die Opposition an Bedeutung. Das galt insbesondere seit Hitlers Übernahme des Oberbefehls über das Heer am 19. Dezember 1941. Ein Major i.G. von der Organisationsabteilung des OKH pflegte in dieser Zeit Vorträge über dieses Thema mit der Bemerkung einzuleiten, »die Kriegsspitzengliederung der deutschen Wehrmacht sei noch blöder, als die befähigsten Generalstabsoffiziere sie erfinden könnten, wenn sie den Auftrag bekämen, die 14
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Hermann Graml, Die außenpolitischen Vorstellungen des deutschen Widerstandes. In: Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Vier historisch-kritische Studien. Hrsg. von Walter Schmitthenner und Hans Buchheim, Köln 1966 (= Information, 17), S. 15-72; vgl. auch Hans Mommsen, Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes. In: ebd., S. 73-168. Die Debatte wurde losgetreten durch Christoph Dipper, Der deutsche Widerstand und die Juden. In: Geschichte und Gesellschaft, 9 (1983), S. 349-380. Peter Hoffmann, Carl Goerdeler gegen die Verfolgung der Juden, Köln [u.a.] 2013; siehe auch meine Besprechung dazu in Sehepunkte, 2014, S. 4, , letzter Zugriff 15.1.2019. Hans Mommsen, Die moralische Wiederherstellung der Nation. Der Widerstand gegen Hitler war von einer antisemitischen Grundhaltung getragen. In: Süddeutsche Zeitung, 21.7.1999, S. 15. Denkschrift »Unsere Idee« (nach dem 9.11.1944), zitiert nach Politische Schriften und Briefe Carl Friedrich Goerdelers. Hrsg. von Hans Mommsen und Sabine Gillmann, 2 Bde, München 2003, hier Bd 1, S. LIII.
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unsinnigste Kriegsspitzengliederung zu erfinden«.19 Der Major hieß Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Die Folgen, die sich aus Hitlers fehlender Fachkompetenz für die militärische Führung des Reiches ergaben, standen nur zu deutlich vor Augen. Sogar in der akademischen Jugend war man sich bewusst, dass Hitlers Dilettantismus spätestens mit Stalingrad in die Katastrophe geführt hatte. Sarkastisch beginnt das letzte Flugblatt der Münchener Studenten, die sich unter dem Namen »Weiße Rose« zusammengefunden haben: »Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir!«20 Fachleute sahen es noch präziser: Der Major i.G. Ulrich de Maizière, den man an die Ostfront geschickt hatte, um sich den Stab der SS-Division »Leibstandarte SS Adolf Hitler« näher anzusehen, berichtete später: »Dass durch hochmütige Vernachlässigung solider Ausbildung und Tollkühnheit tapfere und ideologisch verführte junge Männer sinnlos geopfert wurden, das schien den Führern dieser Waffen-SS-Division kaum bewusst zu werden. Der Glaube an den Führer war ihnen wichtiger als professionelles Können.«21 Und dass Hunderttausende ihr Leben gelassen hatten, das wusste man nirgendwo besser als beim Oberkommando des Heeres, spätestens seit die deutschen Verluste mit Beginn des Angriffs gegen die Sowjetunion im Sommer 1941 deutlich in die Höhe schnellten. Bereits im Winter 1941/42 zeichnete sich ab, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Die Zahlen sprachen eine nüchterne Sprache, und darüber konnte man unter Offizieren durchaus unverdächtig reden. In der Organisationsabteilung des OKH wurde offen darüber diskutiert, auch unter solchen Offizieren, die mit dem Widerstand nichts zu tun hatten. Generaloberst Friedrich Fromm, der Befehlshaber des Ersatzheeres, trug Hitler die Zahlen vor, wurde dafür von seinem Führer als Defätist beschimpft und schlicht hinausgeworfen. Hitlers ablehnende Reaktion auf alle Alternativvorschläge ließ erkennen, dass der Diktator auch unter dem Eindruck der militärischen Krise nicht gewillt sein würde, sachgerechten Lösungen im Sinne einer zweckrationalen Kriegführung zuzustimmen. Die Erkenntnis, dass die Fortführung der Kriegspolitik ein »großes Verbrechen gegen das eigene Volk«22 war, ließ aus der fachlichen Motivation allmählich einen moralischen Antrieb werden. Neben die Erkenntnis des »Verbrechens am eigenen Volk« trat dann aber in unterschiedlicher Intensität das Wissen darum, dass die Kriegführung des
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Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Das Geheime Deutschland, Stuttgart 1992, S. 239. Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Ausstellung Widerstand gegen den Nationalsozialismus, , letzter Zugriff 15.1.2019. Ulrich de Maizière, In der Pflicht. Lebensbericht eines deutschen Soldaten im 20. Jahrhundert, Herford 1989, S. 78. Wolfram Wette, Zwischen Untergangspathos und Überlebenswillen. Die Deutschen im letzten halben Kriegsjahr 1944/45. In: Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmachtspropaganda 1944/45. Hrsg. von Wolfram Wette, Ricarda Bremer und Detlef Vogel, Essen 2001 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, N.F. 13), S. 9-37, hier S. 13.
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Reiches dazu diente, Verbrechen im Weltmaßstab an den Menschen in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten, vor allem in der Sowjetunion, zu begehen. Allerdings erhob sich bei einigen der Protest mehr gegen das Disziplin- und Zügellose bei den Mordaktionen als gegen die »völkische Flurbereinigung« an sich, was auch erklärt, warum manche später wegen Beteiligung an der Verschwörung hingerichtete Offiziere kein Problem bei der Ausarbeitung oder zumindest Weitergabe der »verbrecherischen Befehle« sahen. Als Major d.R. Carl Hans Graf von Hardenberg im August 1941 nahe der weißrussischen Stadt Borisov an der Berezina Augenzeuge eines Massakers lettischer SS-Einheiten an den Bewohnern des jüdischen Ghettos wurde, war er, »zusammen mit Leutnant d.R. Heinrich Graf von Lehndorff, dem persönlichen Ordonnanzoffizier [Fedor von] Bocks, entschlossen, die eigene und die Standesehre zu verteidigen«23 – die Standesehre, wohlgemerkt, nicht das Leben der Opfer. Die Parallele zu von der Marwitz, dessen Gut Fredersdorf nur unweit von Neuhardenberg liegt und dessen Geschichte den Hardenbergs naturgemäß bestens bekannt war, ist offenbar. Aus Hitlers Sicht kam es letztlich nicht darauf an, ob der Krieg professionell oder dilettantisch geführt wurde, sondern darauf, dass er die Voraussetzung für die Umwälzung Europas im nationalsozialistischen Sinne schuf. Keiner, der an diesem Krieg beteiligt war, konnte für sich in Anspruch nehmen, ohne jede Schuld daraus hervorgegangen zu sein. Im Gegenteil: Generalmajor Hellmuth Stieff, später Beteiligter am 20. Juli, hatte seiner Frau schon Anfang 1942 geschrieben: »Wir alle haben so viel Schuld auf uns geladen – denn wir sind ja mitverantwortlich –, daß ich in diesem angehenden Strafgericht nur eine gerechte Sühne für alle die Schandtaten sehe, die wir Deutschen in den letzten Jahren begangen bzw. geduldet haben.24« Mancher Offizier war durchaus gewillt, das Verbrecherische des Regimes zuzugestehen, aber angesichts der Lage an der Front könne man im Moment nichts dagegen unternehmen. Nach dem Krieg dagegen werde man die braune Brut davonjagen. Umgekehrt verschob aber auch das Regime die Lösung so mancher Frage auf die Zeit nach Kriegsende: die Kirchenfrage etwa, aber ebenso die Machtfrage zwischen den konservativen Eliten im Heer und der sich sozialrevolutionär gebenden Partei. Stauffenberg und seine Freunde sahen jedoch, wie eine immer deutlicher werdende Bevorzugung der Waffen-SS die Gewichte für einen solchen Endkampf nach innen immer mehr zu verschieben drohte. Ebenso bedrohlich schienen die innere Aushöhlung des Heeres, die Zunahme junger, nationalsozialistisch erzogener fanatischer Offiziere und eine Politisierung der Armee im nationalsozialistischen Sinne. Der nationalkonservative Widerstand wollte gegen diese schleichende Entmachtung des Heeres und gegen die immer stärker werdenden militärischen Potenziale des Parteiapparates vorgehen, so lange die eigenen Kräfte noch hinreichten. Wenn Stauffenberg von der »Erhaltung der Armee« sprach, ging es ihm 23
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Horst Mühleisen, Patrioten im Widerstand. Carl-Hans Graf Hardenbergs Erlebnisbericht. Dokumentation. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 41 (1993), S. 419-477, hier S. 427. Brief an seine Frau vom 10.1.1942, abgedr. in Helmuth Stieff, Ausgewählte Briefe von Helmuth Stieff (hingerichtet am 8. August 1944). Hrsg. von Hans Rothfels. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2 (1954), S. 291-305.
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nicht nur darum, wie bereits dargelegt, unnötige Verluste zu vermeiden, sondern auch um den inneren Zusammenhalt eben dieser Armee, die er als moralischen Wert verstand. Daher galt es, das Heer in seinem Kern zu erhalten – oder, wenn dies nicht mehr lange möglich sein würde, rechtzeitig loszuschlagen. Die »Rettung der Armee« sollte so auch dazu dienen, »dass insbesondere die Wehrmacht in der Hand ihrer Führer ein verwendbares Instrument bleibe«.25 Bestand das Anliegen des nationalkonservativen Widerstands lediglich darin, militärfachlichen Überlegungen zu folgen oder überkommene Standesprivilegien zu retten? Bleibt vom »Aufstand des Gewissens« nur mehr ein Putsch von Militärs, die retten wollten, was zu retten war? Den Verschwörern ist im Verlauf der ersten Jahreshälfte 1944 immer schonungsloser klar geworden, dass die Chancen, den Umsturz zu bewirken, gering waren, und dass, im Falle des Gelingens, ein praktischer Nutzen kaum noch zu erwarten war. Es hätte nahegelegen, auf weitere Widerstandsaktivitäten zu verzichten und wie alle anderen das Kriegsende abzuwarten. Nun trat immer deutlicher hervor, dass hinter allen politischen und militärischen Erwägungen auch ein ethisch-religiöses Motivgerüst stand. Dass Stauffenberg stark von Stefan George beeinflusst war, kann man überall nachlesen. Dass er am Abend des 19. Juli 1944 auf der Fahrt von der Dienststelle zu seiner Wohnung in Berlin-Wannsee an der Rosenkranzbasilika in Steglitz anhalten ließ, um dort zu beten,26 wissen nur wenige. Bekannter sind da schon die Sätze, mit denen sich Generalmajor Henning von Tresckow, Kopf der Verschwörergruppe an der Ostfront, vor seinem Suizid von Fabian von Schlabrendorff verabschiedete: »Wenn Gott einst Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird.27« An dieser Stelle ist ein religiöses Element herauszuhören, das vielen inzwischen fremd geworden ist. Wer weiß heute noch, dass Tresckow hier das Buch Genesis zitiert28? Es hatte in der Verschwörung erhebliche Diskussionen darüber gegeben, ob es erlaubt sei, den von allen Beteiligten gewollten Umsturz mit einem Attentat zu beginnen, noch dazu mit einem Bombenattentat, bei dem mutmaßlich auch Unbeteiligte zu Tode kommen würden. Major Ludwig Freiherr von Leonrod etwa, Stauffenbergs Regimentskamerad aus dem Reiterregiment 17, ein glaubensfester 25
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Spiegelbild einer Verschwörung. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt. Hrsg. von Hans-Adolf Jacobsen, 2 Bde, Stuttgart 1984, S. 34; Interpretation bei Hans Mommsen, Die Stellung der Militäropposition im Rahmen der deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler. In: NS-Verbrechen und der militärische Widerstand gegen Hitler. Hrsg. von Gerd R. Ueberschär, Darmstadt 2000, S. 119-134, hier S. 125. Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 19), S. 450 f.; Christian Müller, Oberst i.G. Stauffenberg. Eine Biographie, Düsseldorf 1970 (= Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte, 3), S. 458, Anm. 7, nimmt einen Besuch in einer Kirche in Dahlem an. Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler Nach einem Erlebnisbericht bearb. und hrsg. von Gero von Schulze-Gaevernitz, Zürich 1946, S. 153. Gen, 18,20-32.
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Katholik, holte sich den Ratschlag seines Beichtvaters, des Kaplans Dr. Hermann Wehrle, ein – was dann auch diesen den Kopf kostete29. Goerdeler hatte als Ziel der deutschen Opposition die Wiederherstellung der »vollkommene[n] Majestät des Rechts« genannt – da passte es schlecht, mit einem Mord anzufangen.30 Das aber war keine konfessionelle Frage; dass der Attentäter Katholik war, hat nichts damit zu tun, dass Protestanten hier zögerlicher gewesen wären. Henning von Tresckow hatte mehrere Attentatspläne entworfen und selbst dafür gesorgt, dass Hitler eine Bombe ins Flugzeug geschmuggelt wurde, die aber nicht zündete. Fabian von Schlabrendorff war daran entscheidend beteiligt. Axel von dem Bussche und Ewald von Kleist hatten sich bereitgefunden, das Attentat durchzuführen;31 Rudolf-Christoph von Gersdorff berichtet für sich das gleiche.32 Die Militäropposition gegen Hitler beginnt in der Tradition des Freiherrn von der Marwitz und des Grafen Yorck – als ein Verhalten gegen den Befehl im Sinne einer Wahrung der Ehre oder im Sinne einer besseren Alternativpolitik. Anders als bei den vorgenannten Beispielen – und das macht den 20. Juli 1944 in der deutschen Militärgeschichte einmalig – bleibt es aber nicht dabei. Der Erkenntnis, dass das ganze Regime und das Staatsoberhaupt selbst abgrundtief böse sind, entspringt bei einigen wenigen – zu wenigen! – der Entschluss zum radikalen Handeln, zum Attentat auf den obersten Kriegsherrn und zum Staatsstreich mit militärischen Mitteln.
Die Grenzen des Rechtsgehorsams Der Widerstand gegen Hitler hat die Nachkriegsgesellschaft und das politische System der Bundesrepublik wesentlich beeinflusst, sodass seine Untersuchung nicht mit dem Jahr 1945 enden kann. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes gingen davon aus, dass der Nationalsozialismus eine auf die staatsrechtlichen Schwächen der Weimarer Reichsverfassung zurückgehende Fehlentwicklung gewesen war.33 Das Grundgesetz ist von der Absicht geprägt, so etwas nicht wieder 29
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Spiegelbild einer Verschwörung, Bd 1, S. 289 f. (23.8.1944); Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Helmut Moll, 2 Bde, Paderborn [u.a.] 1999-2000, hier Bd 1, S. 390 f. Winfried Heinemann, Der militärische Widerstand und der Krieg. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 9: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, Halbbd 1: Politisierung, Vernichtung, Überleben, München 2004, S. 743-892, hier S. 824; dort auch weitere Belege. Jürgen Engert, Er wollte Hitler töten. Ein Porträt des Axel von dem Bussche. In: Axel von dem Bussche. Mit einer Einl. von Richard von Weizsäcker. Hrsg. von Gevinon von Medem, Mainz 1994, S. 145-157; Antje Vollmer und Lars-Broder Keil, Stauffenbergs Gefährten. Das Schicksal der unbekannten Verschwörer, München 2013, S. 221-236. Rafaela Hiemann, Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff als Zeuge des Widerstands. In: »Weder überflüssig noch unterlegen«. Neue Forschungen zum Widerstand im »Dritten Reich«. Hrsg. von Rafaela Hiemann und Christoph Studt, Augsburg 2016, S. 71-88. Edgar Wolfrum, Die Bundesrepublik Deutschland 1949-1990, Stuttgart 2005 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 23), S. 78; Sebastian Ullrich, Der WeimarKomplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945-1959, Göttingen 2009 (= Hamburger Beiträge zur Sozial-
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zuzulassen. Dazu gehört auch die Anerkennung der Würde der menschlichen Person in Artikel 1, die Gewissenfreiheit allgemein (Artikel 4 Absatz 1) sowie speziell die Berufung auf das individuelle Gewissen bei Ablehnung des Kriegsdienstes mit der Waffe (Artikel 4 Absatz 3).34 Ein aktives Widerstandsrecht hingegen war ursprünglich nicht vorgesehen. Damit war auch die rechtliche Würdigung der Widerstandstätigkeit im Dritten Reich problematisch; nach einer höchst umstrittenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19. Juni 1956 galten beispielsweise die Strafurteile des Standgerichts in Flossenbürg gegen Admiral Wilhelm Canaris, Generalmajor Hans Oster, Heeresrichter Karl Sack, Hauptmann Ludwig Gehre und Dietrich Bonhoeffer bis zu ihrer Aufhebung durch den Deutschen Bundestag in den 1990er Jahren.35 Erst die Debatte um die Notstandsgesetze schuf den heutigen Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Damit deckt die heutige Rechtslage beides ab: die individuelle Ablehnung eines bestimmten Verhaltens aus Gewissensgründen und den Versuch des Umsturzes eines verbrecherischen Regimes. In die erste Kategorie fällt etwa das auch heute noch heftig diskutierte Urteil des 2. Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichts in Sachen des Majors Florian Pfaff, der Gewissensgründe gegen einen Befehl geltend gemacht hatte, von dem der Offizier befürchtete, er könne ihn in Verbindung mit dem aus seiner Sicht völkerrechtswidrigen Krieg der USA im Irak bringen. Das Gericht hebt ausdrücklich auf die Gewissensfreiheit nach Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz ab, definiert das Verhalten Pfaffs damit aber gerade nicht als »Widerstand«.36 Allen Bemühungen in den 1970er Jahren zum Trotz, den westdeutschen Terrorismus als »Widerstand« zu definieren, besteht heute die einhellige Meinung, dass eine Situation, in der Artikel 20 Absatz 4 Grundgesetz gegriffen hätte, in der Bundesrepublik Deutschland bisher nie bestanden hat. Es steht zu hoffen, dass es dabei bleibt.
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und Zeitgeschichte, 45); Karl Dietrich Bracher, Das deutsche Grundgesetz als Dokument historisch-politischer Erfahrung. In: Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. Phänomene politischer Transformation. Festschrift für Josef Mantl zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Hedwig Kopetz [u.a.], Bd 1: Allgemeine Staats- und Verfassungslehre. Rechtswissenschaftliche Analysen. Politisches System in Theorie und Praxis, Wien 2004, S. 759-779. Zur Genese Hans-Jürgen Rautenberg, Zur Standortbestimmung für künftige deutsche Streitkräfte. In: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 1: Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, München 1982, S. 737-879, hier S. 762. Bundesgerichtshof, Urteil vom 19.6.1956, Az.: 1 StR 50/56: , letzter Zugriff 15.1.2019. Siehe auch David Johst, Begrenzung des Rechtsgehorsams. Die Debatte um Widerstand und Widerstandsrecht in Westdeutschland 1945-1968, Tübingen 2016 (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 91), S. 38-40. Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 21.6.2005, BVerwG 2 WD 12.04, , letzter Zugriff 24.9.2018.
Roger Töpelmann
Gehorsam und Konspiration. Dietrich Bonhoeffer, Theologe bei der Militärischen Abwehr Dietrich Bonhoeffer hatte eine Zwillingsschwester. Man sagt, dass dieser Menschentyp zeitlebens ein Gegenüber sucht und auch in existenzieller Weise braucht. War es Eberhard Bethge, den Bonhoeffer stets an seiner Seite sah, war es seine Zwillingsschwester Sabine, die aufgrund der jüdischen Wurzeln ihres Mannes 1938 mit ihrer Familie nach Oxford emigrierte? Welche Einflüsse bestimmten Bonhoeffers Entscheidungen? In diesem Beitrag wird die Frage der Zwillingskonstellation nicht beantwortet. Durch diese Eingangsfrage wird allerdings deutlich, dass das Leben des von den Geisteswissenschaften vielleicht am umfassendsten untersuchten Theologen der Nachkriegszeit noch immer Geheimnisse birgt, die im Schatten der biografischen Forschung liegen und bisher unbeachtet geblieben sind. Ähnlich verhält es sich mit Bonhoeffers Mitarbeit in der militärischen Abwehr. Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 geboren und am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg im nordöstlichen Bayern ermordet. »Ein Märtyrer für die Sache Jesu Christi«1 wurde er genannt. Er war evangelischer Theologe und Seelsorger, nicht zuletzt auch Mitverschwörer gegen Adolf Hitler – einer der wenigen aus der Bekennenden Kirche, der sich entschloss, aktiv politischen Widerstand zu leisten.2 Seine Kirche muss sich bis heute damit auseinandersetzen, dass sie beim Massenmord an den Juden versagte, von einzelnen Unternehmungen abgesehen wie denen des Berliner Pfarrers Heinrich Grüber. Bonhoeffer hatte sich ebenfalls schon früh der todbringenden Entwicklung entgegengestellt. Im April 1933, zwei Monate nach Hitlers Machtergreifung, hielt er den Vortrag: »Die Kirche vor der Judenfrage«. Es war der Monat, in dem der Boykott jüdischer Geschäfte begann und das antijüdische Gesetz zur Wiederherstellung der öffentlichen Geltung des Berufsbeamtentums erlassen wurde. In seinem Vortrag, den er sogar noch in Druck brachte, steht der vielleicht berühmteste Satz Bonhoeffers: »Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen 1
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Heinrich Ott, Dietrich Bonhoeffer. In: Gestalten der Kirchengeschichte, Bd 10/2: Die neueste Zeit 4. Hrsg. von Martin Greschat, Stuttgart 1994, S. 270. Johannes Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, Tübingen 1993, S. 278.
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zu fallen.«3 Ähnlich bekannt ist auch Bonhoeffers Warnung: »Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen«.4 Auch hier klingt seine Forderung für ein Eintreten seiner Kirche für das Recht von Minderheiten durch. »Dem Rad in die Speichen fallen« – das Bild wurde und wird allzu schnell mit der Tat eines Einzelnen identifiziert. Es wurde sicher oft auch missdeutet, bezogen auf das Widerstandshandeln Bonhoeffers selbst. Das meint das Bild aber eigentlich nicht. Aus Bonhoeffers Formulierung ergibt sich vielmehr der Anspruch, dass hier die Kirche als Ganzes zu handeln habe. Sie soll erstens den Staat für sein Handeln verantwortlich machen. Und zweitens soll sie sich den Opfern des Staatshandelns in unbedingter Weise zuwenden. Drittens soll sie unmittelbar politisch handeln – und damit dem Rad in die Speichen fallen. In der Tradition der Kirche sei hier erinnert an die Vorstellung einer »Ecclesia militans«, einer kämpfenden Kirche, einer Kirche also, die zum Streit bereit ist. Zu dieser Zeit hatte Bonhoeffer schon lange sein Theologiestudium (in Tübingen, Rom und ab 1924 in Berlin) hinter sich. Er hatte seine theologischen Examina bestanden und die Promotion mit der Untersuchung »Sanctorum Communio« (1930) abgeschlossen sowie ein Vikariat in Barcelona in der deutschen evangelischen Gemeinde abgeleistet. Ebenso hatte er ein erstes Studienjahr in New York am Union Theological Seminary verbracht und seine Habilitationsschrift »Akt und Sein« abgefasst. Sein Weg zielte auf eine akademische Karriere. Aber 1934 überschlugen sich die politischen Ereignisse in der Heimat: Der Röhm-Putsch und der Tod von Reichskanzler Hindenburg führten dazu, dass Hitler sich selbst zum Präsidenten und Kanzler machte. Als »Der Führer« verschaffte er seinem Anspruch öffentlich Geltung. 1935 ließ er die Allgemeine Wehrpflicht wieder einführen. Bonhoeffer ließ sich als Leiter des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Zingst an der Ostsee gewinnen, das bald nach Finkenwalde nahe Stettin verlagert wurde. 1936 wurde das Rheinland remilitarisiert. 1937 belegte der preußische Kultusminister Bonhoeffer mit einem Lehrverbot. Bonhoeffers Spielräume wurden enger. Trotzdem erschien in diesem Jahr »Nachfolge«, eines seiner bis heute meist aufgelegten Bücher. 1938 folgte der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. 1939 kehrte Bonhoeffer nochmals in die USA zurück, entschied sich dort aber gegen das Leben im Exil, wodurch er mit Sicherheit sein Leben hätte retten können. Die Invasion in Polen am 1. September 1939 verfolgte er schon wieder in Berlin, ebenso die Kriegserklärung an England, wo seine Schwester lebte. Nun begann Bonhoeffers Wirken im militärischen Widerstand. 3
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Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Eberhard Bethge, Bd 2, München 1959, S. 48. Auch in: Dietrich Bonhoeffer, Werke. Hrsg. von Eberhard Bethge [u.a.], München 1987-1999, im Folgenden zitiert als DBW mit Nr. des Bandes. Zum Diktum »Dem Rad in die Speichen fallen« vgl. DBW 12, S. 353 f.: »Solches Handeln wäre unmittelbar politisches Handeln der Kirche und ist nur dann möglich und gefordert, wenn sie den Staat hemmungslos ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht verwirklichen sieht.« Bonhoeffers bekannter Ausspruch ist für das Jahr 1935 allein durch Eberhard Bethge bezeugt, in Bonhoeffers Schriften kommt er nicht vor. Vgl. dazu näher Heinrich BedfordStrohm, »Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen« – Dietrich Bonhoeffer und die Juden. In: Musik und Kultur im jüdischen Leben der Gegenwart. Hrsg. von Max Peter Baumann [u.a.], Berlin 2006, S. 89-106.
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Bonhoeffers frühe militärische Erfahrungen Die militärischen Erfahrungen Dietrich Bonhoeffers sind größer, als sich bei einem Blick auf seine tabellarische Biografie annehmen lässt. Einen ersten Einblick in die soldatische Ausbildung hat er bereits 1923 erhalten, als er als »Stud[iosus] theol[ologiae]« von seinem Studienort Tübingen aus mit erst 17 Jahren an einer studentischen »Reserveübung« der Reichswehr in Ulm teilnahm. Akademische Studentenverbindungen wie der »Igel«,5 dem Bonhoeffer angehörte, hatten schon 1919 einzelne Züge in den »Reserve-Sicherheitskompanien« gebildet und waren bei einem Generalstreik in Stuttgart eingesetzt worden. Trotz anfänglicher Zweifel schloss sich Bonhoeffer der 14-tägigen paramilitärischen Ausbildung an, um, wie er schrieb, »für kritische Lagen ein gesichertes Gefühl zu haben, mithelfen zu können.«6 In einem Brief an seinen Vater Karl Bonhoeffer hatte Dietrich gemeint: »Stattdessen rücken fast ausnahmslos sämtliche Verbindungen Tübingens sowie viele Freistudenten, morgen früh nach Ulm zu 14-tägiger Ausbildung. Zuerst sagte ich, ich könne das unmöglich mitmachen«.7 Kurz darauf schreibt er an die Eltern: »Ihr werdet ja inzwischen meinen Brief bekommen haben und heute bin ich nun schon Soldat. Wir wurden gestern gleich, als wir ankamen, eingekleidet und kriegten unsere Sachen. Heute bekamen wir Granaten und Gewehre.«8 Aufgestanden werden musste um 5.30 Uhr; der Dienst ging mit einer Pause bis 17 Uhr oder später. Auf der Stube wohnte Bonhoeffer mit 14 Kommilitonen. Er berichtet an seine Eltern, dass er beim Schießen wohl eine Brille tragen müsse. Der Ausbilder, ein Gefreiter, sei gutmütig und nett. Die Mannschaften der Reichswehr würden offensichtlich ganz anderes behandelt als früher. In einem späteren Brief 9 schilderte der junge Rekrut einen Unfall am Maschinengewehr, bei dem ein Verbindungsbruder schwer verunglückt sei. »Sein Knie soll ganz zerschlagen sein. Ich will nachmittag mal zu ihm gehen.«10 Empathie und Fürsorglichkeit zeichneten den jungen Bonhoeffer aus. Seine Teilnahme an der militärischen Ausbildung zeigt, dass er sich der staatsbürgerlichen Gepflogenheiten bewusst war. Er hat sich nicht in den Kokon wissenschaftlichen Studiums und akademischen Ehrgeizes zurückgezogen. Die militärische Erfahrung dürfte Bonhoeffer auch dahingehend geprägt haben, dass es ihm später leicht fiel, über militärisches Handeln ethisch zu urteilen. Diese Darlegungen zur soldatischen Ausbildung Bonhoeffers sollen dem Eindruck widersprechen, der Theologe sei aufgrund seines Wesens überzeugter Pazifist gewesen. Dass er sich gleich zu Studienbeginn einer studentischen Verbindung anschloss, zeigt seine Neugier auf Welterfahrungen. Solche spielten bei ihm auch in späteren Jahren eine große Rolle. 5
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Der Igel ist eine Studentenverbindung an der Universität Tübingen. Sie wurde 1871 gegründet und hat schon damals keine Farben getragen und auch keine Bestimmungsmensuren geschlagen. Dies und der aus dem Rahmen fallende Name unterscheidet sie bis heute von den anderen Tübinger Verbindungen. Eigenbeschreibung: (letzter Zugriff: 9.1.2019). DBW 9, S. 67 f. Ebd., S. 66. Ebd., S. 68 f. Ebd., S. 72 (Brief vom 25.11.1923). Ebd.
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Bonhoeffers Konzept der »Weltverantwortung« Bevor mit einem biografisch großen Sprung auf Bonhoeffers weitere militärisch-konspirative Erfahrung zuzugehen ist, sollen einige Überlegungen zum Verhältnis Bonhoeffers zu Luther angestellt werden: Mit seiner Auftragsschrift »Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können«11 hat Luther zu seiner Zeit der Berufsgruppe der Soldaten einen ethischen Leitfaden gegeben: Beteiligung nur an einem gerechten Krieg, Rechtfertigung, das Gewissen und das Erreichen der Seligkeit spielten dabei eine bestimmende Rolle. Vor allem ist daran zu erinnern, dass bei Luthers Bestimmung der Herrschaftsmittel im weltlichen Regiment die Waffengewalt absolut nicht im Vordergrund stand.12 Trotzdem wird unter Bezug auf eine einseitige Interpretation von Luthers Bauernkriegsschriften immer wieder das Gegenteil behauptet. »Weisheit wiegt mehr als Kriegswaffen«,13 argumentierte der Reformator. Es ist kaum möglich, von dieser reformatorischen Auftragsschrift eine direkte Verbindung zu Bonhoeffer zu schlagen. Denn der hat sich mit Luthers Kriegsleuteschrift – soweit wir wissen – überhaupt nicht beschäftigt. Bonhoeffer beurteilte die Reformation wie alle historischen Epochen oder Ereignisse aus seiner tiefen Überzeugung von der Diesseitigkeit des Christentums heraus: »Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt. Nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus Mensch war.«14 Aber Bonhoeffer misst der Diesseitigkeit eine tiefere Dimension zu, wenn er weiter schreibt, es sei ja nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Betriebsamen und Bequemen, sondern die tiefe »Diesseitigkeit, die voller Zucht ist, und in der Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich.«15 Tatsächlich spielte bei Bonhoeffers Beurteilung vergangener Epochen seine eigene Gegenwart die bestimmende Rolle. Das darf bei den hier folgenden Urteilen über Bonhoeffers Mitarbeit in der Abwehr nicht vergessen werden. Der Theologe prüfte sozusagen seine wissenschaftlichen Überlegungen und Urteile an Gegenwärtigem. Das charakterisiert seine Theologie und macht sie überzeugend. Bonhoeffer sah das reformatorische, speziell das lutherische Erbe durchaus kritisch. Anders als Luther, der in einer ständisch gegliederten Welt mit einer persönlich Gott verantwortlichen Oberperson an der Spitze dachte, betonte Bonhoeffer, dass die Christenheit eine große Verantwortung für die Welt habe. Unter dieser Voraussetzung und von diesem Punkt aus rezipierte und rekonstruierte er die traditionelle lutherische Zwei-Reiche-Lehre.16 In aller gebotenen Kürze kann 11
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Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können. Hrsg. im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs von Angelika Dörfler-Dierken und Matthias Rogg, Delitzsch 2014. Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 1970 (= Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft, 25), S. 495. Ebd., S. 497. Vgl. dazu auch den Beitrag von Volker Stümke in diesem Band sowie Volker Stümke, Das Friedensverständnis Martin Luthers. Grundlagen und Anwendungsbereiche seiner politischen Ethik, Stuttgart 2007. DBW 8, S. 541 (Widerstand und Ergebung). Ebd. Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung (wie Anm. 12), S. 536.
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man Bonhoeffers Lehre folgendermaßen zusammenfassen: Die Verantwortung für die Welt ist den Christen als Einzelnen und der Kirche als Gemeinschaft aufgegeben. Ihre Diesseitigkeit bedingt diese Verantwortungsnahme. Solche Verantwortlichkeit erklärt, weshalb Bonhoeffer sich dem Widerstand anschloss und die Kontakte zum Widerstand als seinen Beitrag zum Ganzen gesehen haben dürfte.
Bonhoeffer im militärischen Widerstand Die Quellenlage für das Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) ist in Bezug auf Bonhoeffer nicht sehr umfangreich. Eine prägnante Darstellung des Amtes wurde 2007 im Auftrag des Bundesarchivs veröffentlicht. Auf jeden Fall war die Abwehr im Bewusstsein der Zeitgenossen der deutsche militärische Geheimdienst schlechthin.17 Der Jurist Hans von Dohnanyi, der Vater des ehemaligen Hamburger Ersten Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi, und der Theologe Dietrich Bonhoeffer waren entschlossen, Hitler gewaltsam auszuschalten. Bonhoeffer sah in dem Diktator buchstäblich den »Antichristen«, wie es sein Bruder Karl Friedrich Bonhoeffer später bezeugte.18 Widerstand gegen den Führer war seitens Dohnanyis und Bonhoeffers deshalb möglich, weil sie im Amt Ausland/Abwehr beim OKW tätig waren.19 An einer Schaltstelle der Macht konnten sie konspirativ wirken. Das Amt Ausland/Abwehr war schon in seiner Struktur ungewöhnlich. Seine Anfänge reichen bis in die Weimarer Republik zurück. 1935 trat Konteradmiral Wilhelm Canaris seinen Dienst als Chef der Abwehrabteilung an. Seine Voraussetzungen hierfür waren hervorragend, hatte doch die Marine über Jahre ein weltweit einmaliges Horch- und Kommunikationsnetz zum Abhören entwickelt. Ähnlich beachtlich waren Canaris’ Kontakte zu Geheimdiensten im Ausland, etwa nach Italien und Spanien. An Informationen aus dem Ausland hatte er stets ein großes Interesse. Die Mitarbeit Bonhoeffers als V-Mann in diesem Amt war demnach ein Baustein im Mosaik der geheimen Informationen, die von der »Abwehr« und ihrem Chef Canaris gesammelt wurden. Das Amt war in fünf Abteilungen gegliedert. Zu den engsten Mitarbeitern des Admirals zählten jene aus der Abteilung Z (Zentralabteilung). Ihnen oblag die Informationsbeschaffung über die großen Vorgänge der internationalen Politik. Hans von Dohnanyi zählte zu Canaris’ engen Mitarbeitern.20 Bonhoeffer hat nur solange an Aufträgen aus Canaris’ Amt mitgearbeitet, wie die Abwehr im Kriegseinsatz war, also von 1939 bis 1943. Die Abteilung Z unterstand zu dieser Zeit Oberstleutnant Hans Oster,
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Das Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht. Eine Dokumentation. Bearb.: Norbert Müller [u.a.], Koblenz 2007 (= Materialien aus dem Bundesarchiv, Heft 16). Bundesarchiv (BArch), N 2875, 86775, 15. Vgl. Gert Buchheit, Der deutsche Geheimdienst. Spionageabwehr im Dritten Reich, Beltheim-Schnellbach 2010, S. 111. Als Canaris 1935 die Amtsgruppe übernahm, gab es im Reichswehrministerium nur eine Abwehrabteilung, später wurde sie erweitert. Auch das Kommando Strategische Aufklärung (KdoStratAufkl) mit seinem Hauptquartier in Gelsdorf bei Bonn sowie die Heeresaufklärungstruppe lassen sich in ihrer Aufgabenstellung nicht direkt mit dem Amt Ausland/Abwehr vergleichen.
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dem späteren Generalmajor. »Sonderführer« der Abteilung Z war ab 1938 der Reichsgerichtsrat von Dohnanyi, der Schwager des Widerstandstheologen. Die »ökumenische Frage« gab Veranlassung, Erhebungen im Ausland anzustellen, und zwar sowohl im Hinblick auf die evangelische Seite wie auf die Bestrebungen des Vatikans, »gewisse Friedensgrundsätze« zu analysieren. Das war ein Thema für Dohnanyi, der Bonhoeffer zu seiner Unterstützung gewinnen konnte. Festgestellt werden sollte, welche Bestrebungen tatsächlich vorlagen, von wo sie gesteuert wurden, und wie weit sich der Vatikan mit den kirchlichen Kreisen beider Richtungen in Übereinstimmung befand.21 Generalmajor Oster gab später bei den Verhören nach der Verhaftung der Widerständler des 20. Juli 1944 zu Protokoll, die durch Dohnanyi verfolgten Kontakte zum Vatikan seien richtig und »erwünscht« gewesen. 22 Tatsächlich waren die Positionen des Vatikans ebenso wie die anderer Staaten im Hinblick auf einen in der Zukunft liegenden Friedensschluss für die Politik nicht unbedeutend. Denn Politik und Kriegführung des Deutschen Reiches mussten auch auf eine Zeit nach dem Krieg ausgerichtet werden. Der Abwehr ging es bei der sich ausweitenden Weltkriegführung um Begrenzung und nicht um Expansion. Deshalb suchten die Männer um Canaris Kontakte zum Ausland. Bonhoeffer wurde nicht zu allererst deshalb in die Abwehr eingebaut, um ihn so vor dem Wehrdienst zu schützen. Er habe ihn als geeigneten V-Mann im Auge behalten und für eine Verwendung im Amt vorgesehen, so Canaris. »Der Nachrichtenchef muss beanspruchen, über die allgemeine Lage, wozu auch die innenpolitische gehört, lauffend [!] unterrichtet zu werden. Z.B. hat der Kirchenkampf in der Öffentlichkeit 1939/40 eine wesentliche Rolle gespielt und auch in der Wehrmacht zur teilweisen Beunruhigung geführt.«23 Neben der Aufklärungsarbeit mussten von der Abwehr auch militärische Einsätze durchgeführt werden, die in den ersten Kriegsjahren nachweislich Erfolge brachten und den Ruf der Abwehr festigten: Dazu zählten die Besetzung von Brücken beim Einmarsch der deutschen Truppen in Dänemark, die Einnahme von Befestigungsanlagen in Belgien und Holland und auch dort wieder die Besetzung von Brücken. Nach der Dokumentation im Bundesarchiv gehörte zu den militärischen Aufträgen der Abwehr auch die Sicherung der Schifffahrt auf der Donau, was für die Rohöllieferungen ins Deutsche Reich wichtig war.24 Zahlreiche andere Einsätze fanden in der Sowjetunion statt sowie in den südosteuropäischen Anrainerländern. Daran beteiligt war die Division »Brandenburg«25. In dieser Sonderformation war ab 1941/42 bekannt, dass es Staatsstreichpläne gab.26 21
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BArch, N 2358/ 26, Maschinenschriftliches Schreiben über Aussagen General Osters, Bl. 9: Vernehmung Oster vom 29.4.1944. Vgl. dazu den Beitrag von Winfried Heinemann in diesem Band. BArch, N 2358/26, Vernehmung General Osters. Leo Cavaleri, Das 2. Regiment der »Division Brandenburg«, Aachen 2017. So sei es z.B. vereitelt worden, die Versenkung von Lastkähnen zu verhindern und damit die Schiffbarkeit der Donau zu sichern. Vgl. Berliner Illustrierte Zeitung, 19/1941, S. 528. Buchheit, Der deutsche Geheimdienst (wie Anm. 19), S. 111 Handschriftliche Aufzeichnung meines Vaters Hans Alfred Töpelmann, selbst Leutnant in der Division Brandenburg, aus dem Jahr 1946 zur Vorbereitung eines Spruchkammerverfahrens; vgl. auch Eidesstattliche Erklärung vom 24.10.1946 von Dr. H. Jürgen von
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Im Laufe der Kriegsjahre wurde es für die Abwehr immer schwieriger, bei der Heeresführung Gehör zu finden. Obwohl die Abwehr vor einem mobilisierten Russland und dessen Rüstungspotenzial warnte, hielten die Militärs die vorgelegten Zahlen zu Rohstoffquellen und die Daten zu möglichen Produktionsverlagerungen für völlig übertrieben.27 Auch fanden Hinweise auf die wachsende Interventionsbereitschaft der USA bei der Wehrmacht keinen Glauben. Dass man Russland aber nicht unterschätzen dürfe, diese britische Einschätzung brachte Bonhoeffer 1942 aus Schweden mit.
Die Schwedenreise Bonhoeffers – Prognose: Russland marschiert bis zum Brandenburger Tor Zu den wichtigsten Aufträgen Bonhoeffers während seiner Tätigkeit für die »Abwehr« gehörte seine Reise nach Schweden am 30. Mai 1942. Ausgestattet mit einem Kurierausweis, flog er nach Stockholm, um dort Lordbischof George Kennedy Allen Bell zu treffen, den angesehensten unter den Lordbischöfen der Church of England.28 Bell war maßgebend in der ökumenischen Bewegung. Er galt damals als Mann des Ausgleichs und der Verständigung sowie als besonderer Freund Deutschlands, weshalb er nicht Nachfolger von Cosmo Gordon Lang, des Erzbischofs von Canterbury, geworden sein soll – in Anbetracht der Kriegsverhältnisse durchaus verständlich. Anfangs hatte Bell sich bemüht, mit der Deutschen Evangelischen Kirche unter dem von Hitler protegierten Reichsbischof Ludwig Müller ins Einvernehmen zu kommen; dann aber hat der anglikanische Kirchenmann sich den Bekennenden Christen zugewendet. Mit deren Vertretern Martin Niemöller, Otto Dibelius und Werner Koch stand er in Verbindung. Zweck der seinerzeitigen Schwedenreise des Lordbischofs soll die Erkundung des Verhältnisses zwischen Schweden und der Sowjetunion sowie der kirchlichen Vorgänge im skandinavischen Raum gewesen sein. Bonhoeffer berichtete über sein Gespräch mit Bell, dieser habe erklärt, dass er vor Reisebeginn mit Anthony Eden, dem Kriegs- und Außenminister im Kabinett Churchills, ausführlich gesprochen und ihn gefragt habe, was er tun solle, wenn
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Bülow (im Besitz des Verfassers): »41/42 Winter Regenwurmlager erstes Bekanntwerden mit Staatsstreichabsichten (Heinz-Canaris)«. Das Regenwurmlager, benannt nach dem Flüsschen Regenwurm, war ein großer militärischer Kasernen- und geheimer Tunnelkomplex im heutigen westlichen Polen in der Nähe der Stadt Międzyrzecz. Es sollen dort Leute für die Abwehrabteilung des OKW ausgebildet worden sein. Buchheit, Der deutsche Geheimdienst (wie Anm. 19), S. 230. Vgl. Brethren in Adversity. Bishop George Bell, the Church of England and the Crisis of German Protestantism. Ed. by Andrew Chandler, Woodbridge 2005. Gleich in seiner ersten großen Rede als Lordbishop am 27. Juli 1938 forderte Bell die britische Regierung zu verstärkter Hilfe für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland auf. Er nutzte seinen Einfluss auch, um gezielt Verfolgte des NS-Regimes zu schützen. So konnte er z.B. dem bekanntesten Vertreter der Bekennenden Kirche, dem persönlichen Gefangenen Hitlers Martin Niemöller, das Leben retten, indem er dessen Inhaftierung im KZ Sachsenhausen ab Februar 1938 und später im KZ Dachau in der englischen Öffentlichkeit bekannt machte und als Beispiel für die kirchenfeindliche Haltung des Hitlerstaates brandmarkte. Daraufhin nahm Hitler 1938 Abstand von Niemöllers geplanter Ermordung.
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Kurierausweis des Auswärtigen Amtes für Dietrich Bonhoeffer, 1942. bpk/Staatsbibliothek zu Berlin
in Schweden von irgendeiner Seite Friedensfühler ausgestreckt würden. Eden habe ganz schroff geantwortet, vor einem englischen Sieg würde über Frieden nicht gesprochen. Eden gehe in dieser Frage mit Churchill völlig konform.
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Gänzlich verschieden von der Haltung Edens zu den Problemen des Krieges sei die des damaligen britischen Botschafters in Moskau, Sir Stafford Cripps, der nicht Bolschewist, sondern vielmehr christlicher Sozialist sei und mit großer Besorgnis von der Macht Russlands gesprochen habe, die in England fast überall unterschätzt werde. Cripps kenne die Verhältnisse in Moskau genau und befürchte, dass die Sowjets bis zum Brandenburger Tor marschieren würden und keine Macht, auch nicht England, in der Lage sei, dies zu verhindern. Die Folgen eines sowjetischen Sieges aber seien für England unabsehbar. Bell habe zum Ausdruck gebracht, dass diese Auffassung derjenigen der englischen Kirche mehr entspreche als die Edens. Zu der etwaigen Absicht der USA befragt, England zu zerstören und aufzusaugen, habe Lordbischof Bell diese Möglichkeit mit völliger Überzeugung bestritten. Amerika brauche ein starkes England und England ohne Weltreich sei nicht stark. Auf den Gedanken einer Union zwischen USA und Großbritannien habe Bell nicht weiter eingehen wollen. Bell habe im Verlauf der Unterredung auch eine Bemerkung über einen anscheinend kurz vorher erfolgten Besuch des Lords William Beaverbroock in der Schweiz gemacht. Baron Beaverbrook, britischer Rüstungsminister und Politiker, sei dort mit deutschen Industriellen zusammengekommen und habe mit ihnen über Friedensmöglichkeiten mit dem Ziel verhandelt, eine gemeinsame Front der Westmächte und Deutschlands gegen die Sowjetunion zu bilden.29 Die vom V-Mann Bonhoeffer überbrachten Informationen über die Einschätzung des Auslandes müssen von hohem Wert gewesen sein. Denn eine kriegsentscheidende Frage betraf doch die Allianzen. Eine Wendung der westlichen Alliierten mit Deutschland gegen die Sowjetunion hätte die Lage völlig verändert. Überraschend exakt war auch die Einschätzung der Sowjetunion ausgefallen: Der Durchmarsch bis zum Brandenburger Tor hat 1945 tatsächlich stattgefunden und Europa einschließlich Deutschland 44 Jahre lang geteilt. Bonhoeffer hatte Bischof Bell kennengelernt, als er zwischen 1933 und 1935 eine Auslandspfarrstelle in London innehatte. Dass er ein freundschaftlich enges – in christlicher Terminologie: ein »brüderliches« – Verhältnis zu dem englischen Bischof hatte, war nicht allein Bonhoeffers Englandaufenthalt zu verdanken, sondern vor allem seiner Fähigkeit, weltoffen zu kommunizieren.30 Mit ihr hatte er im In- und Ausland zahlreiche Freunde gefunden, in Barcelona, London, New York. Seine Kommunikationsfreudigkeit stellte er besonders bei seiner Mitarbeit in der Internationalen Vereinigung des Weltbundes der Freundschaftsarbeit der Kirchen in Genf unter Beweis,31 wie auch 1934 bei der Jugendkonferenz auf der
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Staatsbibliothek Berlin, Nachlass 299 Bonhoeffer A61,5 (2). Vgl. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 1967, S. 192, während seines Amerikaaufenthalts 1930/31: »Aber Dietrich Bonhoeffer war ein überzeugender Künstler im Anbieten unvoreingenommener Partnerschaft [...] Bei der Delikatheit persönlicher Beziehungen zwischen Weißen und Farbigen in den Staaten ist es erstaunlich, wie weit Bonhoeffer in den familiären Bereich der outcasts von Harlem Eingang gefunden hat. Er hatte etwas von der Fähigkeit, dem Verletzlichen und Empfindsamen seinen Stolz glaubwürdig zurückzugeben.« DBW 11, S. 104 ff.
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dänischen Insel Fanö.32 Diese Fähigkeiten machten ihn höchst interessant für seinen »Einbau« in die »Abwehr«. Offenbar konnten Bell und Bonhoeffer sehr vertrauensvoll miteinander sprechen. Die politischen Einschätzungen, die Bell in dem Gespräch abgab, müssen als besonders wertvoll klassifiziert worden sein. Bell besaß durch seinen Sitz als Lord und »Spiritual« im britischen Oberhaus politischen Einfluss und machte auch dort mit seiner eigenständigen Meinung Eindruck. So kritisierte er die flächendeckenden britischen Bombardierungen (»saturation bombing«) deutscher Städte und forderte schon früh mehr Einsatz für die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland. Es ging dem deutschen Widerstand um die Erkundung möglicher Friedensinitiativen ausländischer Brüder im Geiste. Militärische Entwicklungen und Einschätzungen von angeblichen Feinden Deutschlands unter dem Gesichtspunkt auszuloten, was das für die Beendigung des Krieges bedeuten könnte, war Bonhoeffers Aufgabe während seiner Tätigkeit im Amt Ausland/Abwehr.
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Bethge, Dietrich Bonhoeffer (wie Anm. 32), S. 448 ff.
Sechster Teil Soldat für den Frieden
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Frieden, Militär und Kirche in der DDR
Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf das Problemfeld Frieden und Militär in der Kirchengeschichte der DDR, das ein eigenständiges und bis heute prägendes, punktuell sogar singuläres Profil in der Geschichte des deutschen Protestantismus darzustellen scheint. Ich werde mich auf Etappen und auf signifikante Schnittpunkte in dieser Entwicklung konzentrieren. Die Geschichte des Themas Frieden/Militär/Kirche seit den 1950er Jahren verläuft im Rahmen einer ungeteilten und gemeinsam agierenden Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer gesamtdeutschen Akzentuierung. Alle Themen sind grenzübergreifend in den Kirchen debattiert worden: atomare Bewaffnung, Wehrpflicht und Verweigerung, dann vor allem Militärseelsorge, auch wenn sich im Falle des Militärseelsorgevertrags 1957 unübersehbare Differenzen zwischen den Kirchen in Ost und West feststellen lassen, weil die NVA keine Militärseelsorge zuließ.1 Der Mauerbau am 13. August 1961 erwies sich dann als Einschnitt auch in der Friedens- und Militärfrage zwischen beiden deutschen Staaten. Neben der Wehrpflicht bestand seit 1. April 1961 mit dem Zivildienst eine gesetzlich abgesicherte Möglichkeit der Verweigerung außerhalb der Bundeswehr – ohne jegliche Nachteile für die Verweigerer. Eine solche Möglichkeit hat in der DDR erst Anfang 1990, kurz vor ihrem Ende, bestanden. Die per Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates vom 7. September 1964 eingerichteten Baueinheiten der NVA waren ein Unikum in den sozialistischen Ländern. Der Dienst als Bausoldat wurde als Alternative zum Dienst mit der Waffe insbesondere von Christen in Anspruch genommen. Da die Bausoldaten ein militärisches Gelöbnis ablegten, das die Selbstverpflichtung auf die Verteidigung des Sozialismus und der DDR enthielt, und etliche Bausoldaten Befehle zur Beteiligung an militärischen Aufgaben verweigerten und dafür Zuchthausstrafen verhängt wurden, sind die Baueinheiten von Anfang an nur als inkonsequente Alternative betrachtet worden.2 Zugleich wurden gemusterte und gediente Bausoldaten massiv in ih1
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Die bislang treffendste Übersicht findet sich bei Rudolf Mau, Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945-1990), Leipzig 2005. Vgl. zu dieser Debatte bereits Kirchliches Jahrbuch [im Folgenden: KJ], 91 (1964), S. 145-150; KJ, 92 (1965), S. 141-146; sowie Bernd Eisenfeld und Peter Schicketanz, Bausoldaten in der DDR. Die »Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte« in der NVA, Berlin 2011; Pazifisten in Uniform. Die Bausoldaten im Spannungsfeld der SED-Politik 1964-1989. Hrsg. von Thomas Widera, Göttingen 2004.
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ren Grundrechten beschränkt. Schon 1965 wurden gemusterte Bausoldaten an den Universitäten exmatrikuliert, ab der 3. Hochschulreform um 1970 durften sie grundsätzlich kein Hochschulstudium aufnehmen – bis zur Hochschulreform und dann erst wieder ab 1978 mit Ausnahme eines Theologiestudiums.3 Unter Abiturienten und Studenten fanden sich in der DDR daher kaum Bausoldaten. Totalverweigerer in der DDR wurden nicht grundsätzlich und flächendeckend eingezogen; wenn ja, wurden sie zu drei, ab 1982 zu fünf Jahren Haft verurteilt. In der Gesamtzeit der DDR wurden von ca. 8300 Totalverweigerern immerhin ca. 3200 eingezogen und verurteilt, mit großem Abstand in erster Linie Mitglieder der Zeugen Jehovas (2596).4 »Frieden« war insbesondere vom Mauerbau bis zum Ende der DDR einer der zentralen Machtsignifikanten der SED. Frieden, Antifaschismus, Humanismus, Sozialismus und Wissenschaftlichkeit waren auswechselbar und interpretierten sich gegenseitig.5 Oberstes Ziel war Kommunismus, der mit dem Frieden identisch war, weil die Grundlagen des Kommunismus, die Aufhebung aller Klassenunterschiede, zugleich auch die Ursache des Kriegs beseitigten. Wer in Frage stellte, dass die Nationale Volksarmee oder der seit 1978 in den Schulen ab der 9. Klasse obligatorische Wehrunterricht nicht ausschließlich der Friedenssicherung diente, war Staatsfeind. Der Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi attackierte die seit 1980 erneut erhobene Forderung nach einem Sozialen Friedensdienst öffentlich mit der Begründung, damit werde unterstellt, der Waffendienst in der NVA sei »antisozialer Kriegsdienst«.6 Das sei, so Kirchenvertreter schon 1950 zu ebendieser Frage, eine schmachvolle Erniedrigung der Kirchen in der DDR.7 Wer nicht für den Staat war, dem wurde unterstellt, nicht etwa nur gegen ihn, sondern für Krieg und Faschismus zu sein. Die kirchliche Friedensbewegung in der DDR, die schon seit 1962 ein ganz eigenes Profil gegenüber dem Westen Deutschlands gewann, war selbst dann, wenn sie sich ausdrücklich nicht als Opposition verstand, eine diktaturkritische Emanzipationsbewegung. Der SED-Staat machte sie dazu, weil sie eigenständig war; und sie selbst – nicht die Kirchen als solche – verband mit ihrer Forderung nach einem eigenständigen Beitrag zum Frieden die emanzipatorische Forderung nach Partizipation. Insbesondere in der sich gegenüber den Kirchenleitungen als unabhängig verstehenden Basisbewegung seit den 1970er Jahren avancierte der Leitbegriff »Frieden«, den die SED für sich beanspruchte, zu einem Terminus, in dem sich, mit Homi K. Bhabha gesprochen, Mimikry und Widerstand8 auf eindrucksvolle 3
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Vgl. dazu Friedemann Stengel, Die Theologischen Fakultäten in der DDR als Problem der Kirchen- und Hochschulpolitik des SED-Staates bis zu ihrer Umwandlung in Sektionen 1970/71, Leipzig 1998, S. 522-534, 661-669. Zu diesen geschätzten Zahlen vgl. Eisenfeld/Schicketanz, Bausoldaten (wie Anm. 2), S. 420, 427 f. Vgl. dazu Friedemann Stengel, Die SED und das christliche nationale Erbe. In: HändelJahrbuch, 59 (2013), S. 351-359. Zitiert bei Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997, S. 392. Vgl. Stengel, Die Theologischen Fakultäten (wie Anm. 3), S. 38. Vgl. Homi K. Bhabha, Zeichen als Wunder. In: Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 151-180, bes. S. 163, 178 f.
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Weise miteinander verbanden, allerdings unter Beanspruchung einer ethisch über den Kontexten stehenden Evangeliumsauslegung. Die verbale Aneignung von »Frieden« war organisch mit dem Protest gegen die Legitimität der Beanspruchung von »Frieden« durch den Herrschaftsapparat verbunden. Die Forderung von Frieden außerhalb der Parteisemantik geriet für die Kritiker zum Risikofaktor der persönlichen Existenz. Gegenüber der SED erschien sie jedoch als permanente, prekäre Demaskierung des eigenen Machtanspruchs. Mit den persönlichen Risiken, die vor allem mit verhinderten Bildungswegen zusammenhingen und daher über etliche Generationen wirken und noch wirken werden,9 sind die entscheidenden Differenzen zwischen Ost und West angesprochen.
Phasen und Schwerpunkte des Konfliktfelds ab 1961 Monokausal lässt sich nicht ohne Weiteres aufzeigen, warum die SED die Bausoldatenregelung einführte. Ein Grund ist sicher die hohe Zahl der Verweigerer – vor der Bausoldatenregelung sind nur zehn Männer eingezogen und verurteilt worden. Ein weiterer Grund dürfte darin zu sehen sein, dass der SED-Staat wohl die Theologischen Fakultäten hätten schließen müssen, denn unter den Theologiestudenten waren die Verweigerer besonders zahlreich; wurden diese exmatrikuliert, setzten sie ihr Studium an einer der drei Kirchlichen Hochschulen fort und waren damit dem von der SED erhofften Einfluss entzogen. Ein weiterer Grund lag darin, dass die Verweigerer des Waffendienstes in Gesprächen und zahlreichen schriftlichen Erklärungen ganz offiziell mit dem religiösen Sozialisten Emil Fuchs argumentierten, einem der propagandistischen Hauptaushängeschilder der SED, der als lebendiger Beweis für ein Christentum ausgegeben wurde, dessen Ziele in der DDR erfüllt gewesen seien. Fuchs war als Quäker Pazifist und stand seit den frühen 1950er Jahren als treuer Blockgehilfe zur SED. Seine Rolle und Bedeutung bei der Einrichtung der Baueinheiten der NVA sollte nicht unterschätzt werden.10 Angesichts der erwähnten Kritik am Gelöbnis und der militärischen Einbindung der Bausoldaten, die trotz Waffenfreiheit die Bereitschaft zur Verteidigung des sozialistischen Staates enthielt, forderten schließlich auch kritische Kirchenvertreter und Synoden seit 1964 einen Sozialen Friedensdienst, schon etliche Jahre vor der Dresdner Initiative um Christoph Wonneberger.11 Im Zusammenhang mit der allgemeinen Wehrpflicht entstanden zwei der einflussreichsten und kritischsten Texte in den Kirchen der DDR. Im März 1963 wurden die »Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche«12 herausgegeben, ohne 9
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Vgl. dazu Friedemann Stengel, Kirchen-DDR-Geschichte zwischen Gedächtnispolitik und Erinnern. In: Abgeschlossen? Stand und Folgen der Aufarbeitung der Geschichte der Kirche in der DDR. EPD-Dokumentation 2015, Heft 40, S. 4-15; Friedemann Stengel, Bedrängt. Bedrückt. Bearbeitet. Christen unter der SED-Diktatur. In: Ökumenische Vorträge 2016. Hrsg. von Christhard Wagner und Winfried Weinrich, Erfurt 2016, S. 14-19. Vgl. Eisenfeld/Schicketanz, Bausoldaten (wie Anm. 2); und Stengel, Die Theologischen Fakultäten (wie Anm. 3), S. 522-534. Vgl. KJ, 91 (1964), S. 149; Neubert, Opposition (wie Anm. 6), S. 389-395. Vgl. KJ, 90 (1963), S. 180-186; Gerhard Besier, Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung, München 1993, S. 540-553; Mau, Protestantismus (wie Anm. 1), S. 83.
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Druckerlaubnis in der DDR und ohne die Stimme der Thüringer Vertreter; ein Dokument, das in den Rang eines Bekenntnistextes zu rücken schien. Dass in diesen Artikeln den Wehrdienstverweigerern aus Glaubens- und Gewissensgründen kirchlicher Schutz angeboten wurde, war nicht neu. Prekär aber war der Kontext, in den dieser Schutz gestellt war: die gegen die sozialistische Gesellschaft, Ideologie, Wissenschaft und den Gewissenszwang gerichtete Auslegung der Barmer Theologischen Erklärung, verbunden mit der Forderung nach einem Wächteramt der Kirche in allen Bereichen und der gleichzeitigen Suspendierung der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre. Friedensethik und Verweigerungsrecht gerieten damit zum Marker für eine fundamentale Totalitarismuskritik. Das geschah nunmehr ganz ohne den nationalstaatlichen Akzent des Dritten Weges und der Blockneutralität sowie ohne die Forderung nach nationaler Einheit. Dass der traditionelle kirchliche Antibolschewismus sich hier mit der antitotalitären Frontstellung des Barmer Bekenntnisses verband, zeigt eine Äußerung des amtierenden Vorsitzenden der Berlin-Brandenburgischen Kirchenleitung Ost, Fritz Figur: Zusätzliche »Gewissensnot« sei es, in der Armee eines »atheistischen und klassenkämpferischen« Staates zu dienen.13 Antibolschewistische und zugleich antitotalitaristische, »ekklesio-bellizistische«14 und pazifistische Argumente verbanden sich miteinander; die Zehn Artikel brachten – fast letztmalig – alle Akzente noch einmal offen zusammen. Einen weiteren, vielleicht den Höhepunkt erreichte die Positionierung der DDR-Kirchen nach Aufstellung der Baueinheiten. Im Auftrag der Konferenz der Kirchenleitungen (KKL) stellte der Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Johannes Jänicke, eine Arbeitsgruppe zusammen, die eine »Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen« erarbeiteten. Die Erfahrung zweier Weltkriege, in denen die Kirche deshalb mitschuldig geworden sei, weil sie das Friedenszeugnis der Schrift »nicht verkündigt, nicht gelebt, sondern verdunkelt« habe, war für die Autoren ebenso vorausgesetzter Konsens wie die »Einhelligkeit der negativen Beurteilung des Krieges«.15 Die Autoren, zu denen mit Heino Falcke, Hans-Jochen Tschiche und dem früheren halleschen Studentenpfarrer Christoph Hinz die wichtigsten kritischen Theologen der DDR gehörten, wandten sich aber auch gegen eine allgemein verpflichtende Verweigerung oder eine Übersetzung der Bergpredigt in »Prinzipien der Weltgestaltung«; Gewaltlosgkeit könne lediglich in bestimmten Situationen die dem Christen einzig gebotene Handlungsweise sein, allerdings nicht »allgemein verbindliche Norm«.16 Vor diesem Hintergrund kamen die Verfasser zu der berühmten Formulierung, dass das »Friedenszeugnis der Kirche« nicht in allen drei Möglichkeiten des Umgangs mit der Wehrpflicht in der DDR
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Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 188. In Anknüpfung an: Ellen Ueberschär, Ein neuer ‚Kirchenkampf‘? Kirchliche Deutungen im Vorfeld des 17. Juni. In: Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953. Hrsg. von Martin Greschat und Jochen-Christoph Kaiser, Stuttgart 2003, S. 109-128. KJ, 93 (1966), S. 249-261, hier S. 250; Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 188-190. Vgl. dazu insgesamt: Justus Vesting, »Ein deutlicheres Zeugnis«? Bausoldaten und Kirchen in der DDR. In: Kirche und Krieg. Ambivalenzen in der Theologie. Hrsg. von Friedemann Stengel und Jörg Ulrich, Leipzig 2015, S. 139-159. KJ, 93 (1966), S. 252.
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(Waffendienst, waffenloser Wehrdienst, Verweigerung) in gleicher »Deutlichkeit« Gestalt angenommen habe, sondern: »Vielmehr geben die Verweigerer, die im Straflager für ihren Gehorsam mit persönlichem Freiheitsverlust leidend bezahlen und auch die Bausoldaten, welche die Last nicht abreißender Gewissensfragen und Situationsentscheidungen übernehmen, ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebots unseres Herrn. Aus ihrem Tun redet die Freiheit der Christen von den politischen Zwängen. Es bezeugt den wirklichen und wirksamen Friedensbund Gottes mitten unter uns.«17 Seelsorge an Wehrpflichtigen bedeute vor allem, die Gemeinden aus ihrer »Gleichgültigkeit« und ihrem traditionsgebundenen Denken über Krieg und Soldatsein herauszuführen, insbesondere in der älteren Generation. Ausdrücklich lehnte es die Handreichung ab, die Verweigerung künftig weiter als eine »private Unternehmung einiger Leute« zu betrachten, sie sei Sache der ganzen Kirche. Verweigerer und Bausoldaten seien »vielleicht [...] Vorhut einer noch fernen Epoche«.18 Der Text wurde mit Stimmenthaltung des Thüringer Vertreters von der KKL angenommen und die Thüringer verboten seine Verbreitung, konnten sie aber nicht verhindern. Schon der Kommentator im Kirchlichen Jahrbuch versuchte, sein Gewicht mit dem Hinweis zu relativieren, es handele sich lediglich um einen seelsorgerlichen Text,19 wie der Vorsitzende der KKL, Friedrich-Wilhelm Krummacher, es selbst interpretierte. Was nicht im Kirchlichen Jahrbuch stand, waren die massiven Vorhaltungen, denen Krummacher danach ausgesetzt war. Nach einem Beschluss des Politbüros des ZK der SED vom März 1966 forderten der Staatssekretär für Kirchenfragen, ein Admiral und der Militäroberstaatsanwalt der NVA von Krummacher, die Handreichung müsse weg, es gebe keine Diskussion darüber. Sie wurden darin vom Thüringer Bischof Moritz Mitzenheim im Gespräch unterstützt. Der entsprechende Politbürobeschluss behauptete unter Hinweis auf Mitzenheim sogar, eine grundsätzliche Verweigerung – die die Handreichung gar nicht forderte – sei aus der Heiligen Schrift nicht abzuleiten: exegetische Perspektive in Parteibeschlüssen. Das Papier wurde in der DDR nie zurückgenommen. Offenbar hatten die maßgeblichen Kirchenrepräsentanten nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet. Krummacher wiegelte bei der nächsten Synode in Babelsberg klar ab und trug die Position der EKD-West vor, dass Waffendienst und Verweigerung gleichberechtigt seien; Bischof Jänickes Referat wurde gestrichen, die Synode verabschiedete sogar ein Papier, in dem ausdrücklich betont wurde, dass die Handreichung rein seelsorgerlich gedacht sei. Als der Thüringer Oberkirchenrat Gerhard Lotz auf Wunsch des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), des Staatssekretärs für Kirchenfragen und der CDU ein paar Monate später bei der KKL eine Distanzierung seiner Kirche vorstellte, kam es zu so heftigen Diskussionen, dass Krummacher das Langprotokoll nach der Sitzung gegen eine Kurzniederschrift austauschen und ersteres in den Akten verschwinden ließ.20 Das damit zusam17 18 19 20
Ebd., S. 256. Ebd., S. 256 f. Ebd., S. 249, 261 f. Vgl. zu diesen Vorgängen Besier, Der SED-Staat und die Kirche (wie Anm. 12), S. 596-601.
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menhängende endgültige Zerwürfnis mit Thüringen geschah kurz vor Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, kurz vor dem Schlüsseljahr 1968: dem Jahr der Diskussion um eine neue Verfassung in der DDR, des Prager Frühlings, der Sprengung der Leipziger Universitätskirche. Die Handreichung markierte trotz der Tatsache, dass sie in der DDR nie gedruckt wurde, einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der Kirchen in der DDR und im Verhältnis protestantischen Kirchentums zur Kriegs- und Friedensfrage überhaupt.
Die kirchliche Friedensbewegung in der DDR Offensichtlich schockiert von den brüsken Reaktionen des SED-Staates 1965/66 thematisierten die Kirchenleitungen fast 15 Jahre die Friedensfrage nicht mehr so deutlich. Und es brauchte einige Jahre, bis sich eine vor allem innerhalb der Kirchen agierende Friedensbewegung bildete, zunächst und vor allem aus den Kreisen der Totalverweigerer, Bausoldaten und aus der Bausoldatenseelsorge heraus, die bei den Jungmännerwerken der Kirchen angesiedelt war. Eine der bekanntesten, staatlicherseits immer wieder malträtierten und vom MfS bearbeiteten Institutionen war das Königswalder Friedensseminar. Immerhin gab es 1977 bereits etwa 10 000 Bausoldaten und etwa 2000 Totalverweigerer, die auf Fürbittenlisten gesetzt und in Gottesdiensten bekannt gegeben worden sind.21 Die SED verzichtete genau aus diesem Grund auf Einberufungen, um die Zahlen niedrig zu halten. Signifikant ist für diese Phase, dass sich in der Frage der Verweigerungen verschiedene Motive miteinander verbanden: biblischer Pazifismus, versehen mit Anstößen aus der Hippie-Bewegung und Ablehnung des DDRSozialismus. Auf der anderen Seite konnte der SED-Staat die Zahlen niedrig halten, weil er die Militärfrage zur biografisch-existenziellen Kernfrage für jeden machte. Bausoldaten wurden nicht zu Universitäten zugelassen, nur zu Berufsschulen oder auch zur Ingenieursausbildung. Die Striktheit der Handreichung stand seither in der kirchlichen Bevölkerung in Frage. Noch 1987, als die Görlitzer Bundessynode die Privilegierung der Verweigerung erneuerte,22 erhob sich Einspruch, und zwar nicht nur aus lutherischen Kreisen, sondern durchaus auch von DDR-kritischen Jugendsynodalen, die diese Gewissensentscheidung für schwierig hielten, weil sie die Jugendlichen vor eine lebenslang zu verantwortende Entscheidung stellte.23 Man muss sagen, dass es der SED auf diese Weise – auch hier – gelungen ist, die Opposition in der DDR nachhaltig zu spalten in konsequente Verweigerer und Bausoldaten, die meist Arbeiter und Angestellte waren, und in die immer weniger werdenden Resistenten an Hochschulen und Universitäten, die bis auf die Theologen fast durchgängig normal gedient hatten. Andererseits war
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Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 299-308 und S. 197. Vgl. »Bekennen in der Friedensfrage«. In: KJ, 114 (1987), S. 234 f. Vgl. Anke Silomon, Synode und SED-Staat. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in Görlitz vom 18. bis 22.≈September 1987, Göttingen 1997, S. 112-115, 134-140.
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es für Pfarrer nicht ungewöhnlich, aber auch nicht selbstverständlich, dass sie Bausoldaten waren. Zugleich mussten die Theologen-Bausoldaten nicht auch zur Oppositionsszene gehören. Darüber hinaus gab es auch unter Theologen Verteidiger des Waffendienstes und sogar einige, die drei Jahre gedient hatten. Das waren aber Ausnahmen. Startschuss für die Ausweitung und Neukonstituierung der Friedensbewegung war die kirchlicherseits ganz unerwartete Einführung des Wehrunterrichts am 1. September 1978 ab der 9. Klasse – unerwartet, weil die Kirchen sich eine grundlegende Klimaverbesserung erhofft hatten, nachdem sich die Leitung der KKL am 6. März 1978 mit Erich Honecker und der Staatsführung getroffen hatte. Die Einführung dieses Unterrichtsfaches nur ein halbes Jahr später war für viele (erneut) das Ende jeglicher Hoffnung auf einen verbesserlichen Sozialismus. Deutlich war der Protest aus den Kirchen gegen Wehrkunde, allerdings war der Widerstand in den Gemeinden fast gebrochen. Nur »einige hundert« Verweigerungen gab es.24 Dafür waren die längst praktizierten drastischen Bildungssanktionen verantwortlich. Eine Verweigerung des Wehrunterichts konnte an den Erweiterten Oberschulen zur Relegation führen. Obwohl das kaum vorkam, waren nur wenige bereit, dies zu riskieren. Zudem waren viele Kinder aus christlichen Häusern ehedem von den erweiterten Bildungswegen ausgeschlossen. Bei kritischen Theologen und vor allem bei den in kirchlichen Räumen agierenden Gruppen wurde der Komplex Frieden/Militär/Kirche nun bis Mitte der 1980er Jahre zum Kernthema einer parallel zur westdeutschen Entwicklung agierenden Friedensbewegung mit ganz eigenen Nuancen. »Frieden« wurde zur »politische[n] Chiffre im Machtkampf«25 und zu einem Signifikanten, der politisch auf Partizipation, Reform und Emanzipation abzielte. Hans-Jochen Tschiches Papier »Das Trauma der Bedrohung« von 1981 erklärte, Frieden zwischen den Völkern sei nur möglich, wenn sich die Repräsentanten der Macht durchweg »der demokratischen Kontrollen aussetzen und die Durchsichtigkeit nicht als leeres Ritual zelebrieren«.26 Vor diesem Hintergrund wurde der SED-Staat auch von denen fundamental in Frage gestellt, die gar keine Fundamentalopposition im Sinn hatten, denn das Fehlen von Friedensbemühung, Emanzipation, Partizipation konnte es nach dem Selbstverständnis eines sozialistischen Staates gar nicht geben, in dem die Bedürfnisse aller laut Staatsdoktrin ja befriedigt wurden. Die »systemimmanente Stringenz des sozialistischen Friedensverständnisses«, so Theo Mechtenberg scharfsichtig bereits 1982, ließ »keine dritte Position« zu, »Tertium non datur!«27 Der Staat reagierte gleich am Anfang der 1980er Jahre darum mit Exklusionen: zahlreiche Verurteilungen, schnell genehmigte Ausreisen, Zerschlagung ganzer Friedensgruppen wie in Jena und Weimar, Abschiebungen gegen den Willen der Beschuldigten oder die Erpressung zur Ausreise im Gefäng-
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Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 304-308, hier S. 308; und Mau, Der Protestantismus (wie Anm. 1), S. 141 f. Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), Kap. 66: »›Frieden‹ als politische Chiffre im Machtkampf«, S. 366-381. Zitiert nach Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 375. Theo Mechtenberg, Die Friedensverantwortung der evangelischen Kirchen in der DDR. In: Die evangelischen Kirchen in der DDR. Beiträge zu einer Bestandsaufnahme. Hrsg. von Reinhard Henkys, München 1982, S. 355-399, hier S. 357.
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nis durch Anwälte wie Wolfgang Schnur bei anschließendem Freikauf zum Durchschnittspreis von 40 000 DM.28 Frieden geriet zum Emanzipations- und Teilhabesignifikant, der sich nicht nur auf den Doppelbeschluss der NATO und die Wiederaufrüstung auf beiden Seiten, sondern jenseits der Blöcke auf eine nichtnationale Friedensalternative bezog. Schließlich wurde Frieden zu einem eindrucksvollen ganzheitlichen Programm, das nicht nur Außen- und Innenpolitik, sondern auch die persönliche Lebensführung umfasste. Es entzog sich jeder staatlichen Vereinnahmung, als »Alternative zur disziplinierten Gesellschaft«.29 Als der Erfurter Propst Heino Falcke beim Erfurter Kirchentag 1978 nach Einführung des Wehrunterrichts eine Liedzeile der Liedermacherein Bettina Wegner zitierte, die inzwischen nur noch in Kirchen auftreten durfte, den Vers: »Menschen ohne Rückgrat haben wir schon genug«,30 da traf er genau auf dieses Gemenge aus lebensbiografischem Risiko, biblischer Botschaft und dem Mangel an Emanzipation und Partizipation. Auch Theologen aus dem konservativ-lutherischen Lager wie der Thüringer Bischof Werner Leich (1983) erkannten einen originär biblischen Anspruch, der über bloße Zeichenhaftigkeit hinaus auf ein effektives Handeln abzielte: »Der Friede der Welt hängt mit der Friedfertigkeit des einzelnen zusammen.«31 Unter anderem das von Joachim Garstecki ausgearbeitete »Rahmenkonzept Erziehung zum Frieden« von 1980 forderte, wie noch weitere Papiere, die Komplementaritätsthese, dass Wehrdienst und Verweigerung vom christlichen Standpunkt aus gleichrangig seien, aufzugeben.32 Höhepunkte der sich schnell ausbreitenden größten nichtstaatlichen oppositionellen Massenbewegung zwischen 1953 und 1989 waren von 1981 bis 1983 die von der Dresdener Weinbergsgemeinde um Christoph Wonneberger ausgehende Initiative für einen Sozialen Friedensdienst (SoFd); der ebenfalls in Dresden erfundene berühmte Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«, der Ende 1983 verboten wurde, obwohl er das Bild des Geschenks der UdSSR an die UNO enthielt; weiter der Berliner Appell von Rainer Eppelmann und Robert Havemann, der die schlimmsten Befürchtungen der SED erfüllte, dass es nämlich eine Verbindung zwischen kritischen Kirchenleuten und kritischen Marxisten geben könnte; und schließlich das Dresdner Friedensforum 1982, das weder vom Staat noch von der Kirche, sondern durch die Flugblattaktion der eher anarchistischen Gruppe »Wolfspelz« um die damals 16-jährige Schülerin Johanna Kalex initiiert war. 28
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Vgl. dazu Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 488-490, passim; Alexander Kobylinski, Der verratene Verräter. Wolfgang Schnur: Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel, Halle 2015. Der Freikauf politischer Häftlinge im Rahmen des sogenannten »Kirchengeschäfts B« seit 1963 harrt auch im Blick auf die Rolle von Diakonie und Bundesregierung(en) nach wie vor der Aufarbeitung. Vgl. vorläufig Christoph Kösters, Staatssicherheit und Caritas 1950-1989. In: Caritas in der SBZ/DDR 1945-1989. Erinnerungen, Berichte, Forschungen. Hrsg. von Christoph Kösters, Paderborn [u.a.] 2001, S. 87-135; Christoph Kösters, Staatssicherheit und Caritas 1950-1989. Zur politischen Geschichte der katholischen Kirche in der DDR, Paderborn [u.a.], 2001, S. 97-111. Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 421. Ebd., S. 305 f. Zitiert nach Eberhard Kuhrt, Wider die Militarisierung der Gesellschaft: Friedensbewegung und Kirche in der DDR, 3. Aufl., Melle 1985, S. 72. Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 369 f.
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Hier kamen 5000 vorwiegend Jugendliche schlagartig zu einer Demonstration am Tag der Zerstörung Dresdens zusammen, um das Friedensthema gegen die jahrzehntelange Vereinnahmung durch die SED zu besetzen – und dann sogar gegen die Kirche, die in Gestalt des Landesbischofs Johannes Hempel und des Kirchenpräsidenten in einem Forum die scharf kritischen Töne der Jugendlichen zu besänftigen versuchten. In den harschen Debatten bis 1983 wandte sich der sonst eher als unangepasst und kritisch geltende Hempel ausdrücklich dagegen, den Pazifismus zum Prinzip zu erheben. Und sogar Werner Krusche, Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, rückte unter dem Druck des Staates von der Forderung nach einem Sozialen Friedensdienst in der DDR ab.33 Nach 1985 war der Berliner Bischof Gottfried Forck der einzige Kirchenführer, der sogar bei staatlichen Empfängen den Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« wie einen Bekenntnisakt trug. An der »Basis« blieb das Friedensthema Hauptkonfliktpunkt auch nach dem Verbot von »Schwerter zu Pflugscharen«. Der Aufnäher wurde dann durch den gleichgroßen gelben Aufkleber »Vertrauen wagen« des Dresdner Kirchentags 1983 ersetzt, des größten Kirchentags in der DDR. Ich kann zum Ende hin die weitere Entwicklung nur skizzieren. Mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten, aber auch durch die starken Repressionen hatte die Friedensbewegung in der DDR um 1985 ihren Zenit überschritten. Das Gewicht verlagerte sich seit ca. 1983 auf die Umweltgruppen und das Menschenrechtsthema.34 Allerdings hielten einige Gruppen, kritische Pfarrer und Kirchenleitungen das Thema Frieden auch weiterhin virulent. Seit 1982 war auf den Bundessynoden die »Absage an Geist und Logik der Abschreckung« erneuert worden. 1987 setzte Werner Krusche diese Absage mit dem lutherischen Taufexorzismus, der abrenuntatio diaboli,35 gleich, und der bekannte Artikel 16 der Confessio Augustana, in dem das iure bellare – das »nach dem Recht Krieg führen«, nicht der sogenannte »gerechte Krieg« – bejaht wurde, wurde auf Antrag einer Dresdner Bezirkssynode von 1983 von lutherischen Theologen um Helmut Zeddies neu interpretiert: Da die Erhaltung der Schöpfung Zentralthema des Artikels sei, könne nunmehr die Verweigerung des Wehrdienstes aus ihm abgeleitet werden.36 Doch diese Tradition der Handreichung blieb nicht erhalten. Schon der Kommentar einer Verlautbarung des Kirchenbundes der DDR vom Februar 1989 enthielt keine Privilegierung der Verweigerung mehr, sondern nur noch die Zusage besonderen Schutzes der Verweigerer.37 Nach dem Ende der DDR
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Dazu insgesamt Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 370-414; Anke Silomon, »Schwerter zu Pflugscharen« und die DDR. Die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980 bis 1982, Göttingen 1999. Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition (wie Anm. 6), S. 499-502. Vgl. KJ, 114 (1987), S. 225. Vgl. Helmut Zeddies, »Rechtmässig Krieg führen?« Fragen und Überlegungen zu einer aktualisierenden Auslegung von CA 16. In: Frieden und Bekenntnis. Die Lehre vom gerechten Krieg im lutherischen Bekenntnis. Hrsg. von Götz Planer-Friedrich, Genf 1991, S. 124-132. Vgl. dazu insgesamt: Friedemann Stengel, Reformation und Krieg. In: Kirche und Krieg (wie Anm. 15), S. 49-105, hier S. 93-95. Vgl. Kommentarentwurf des BEK in der DDR vom 1.2.1989, ebd., S. 133-135, hier S. 135.
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fiel die Tradition der Handreichung stillschweigend dahin. Das dürfte auch einer der Gründe für das viele Jahre und bis heute andauernde Fremdeln in bestimmten Kirchenkulturen zwischen Ost und West gewesen sein. Sie rühren aus einem Kontext, als der Akt der Verweigerung und die Akzeptanz der Waffenlosigkeit als »deutlicheres Zeugnis« mit einem äußerst hohen biografischen Risiko und Verzicht verbunden war. Das Thema selbst, nämlich die Frage nach dem »deutlicheren Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebots unseres Herrn«, übersteigt jedoch den konkreten Kontext der DDR.
Angelika Dörfler-Dierken
»Reformation« im Militär. Baudissin, die Innere Führung und die westdeutsche Sicherheitspolitik In der Westzone des besetzten Deutschlands setzte sich nach »Umerziehung«, Kriegsverbrecherprozessen und Schulddiskussionen die Einsicht durch, dass die nationalistische und militäraffine Tradition des deutschen Protestantismus überwunden werden müsse. Nicht nur Politiker, sondern auch viele Christen forderten jetzt, ein friedliebendes Deutschland sollte sich als Teil Europas verstehen lernen. So steht es schon im Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee (Art. 25): »Handlungen, die mit der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Krieges vorzubereiten, werden unter Strafe gestellt.« Eine »friedliche und dauerhafte Ordnung der europäischen Verhältnisse« (Art. 24) wurde angestrebt. Von deutschen Streitkräften war weder damals noch wenig später dann im Grundgesetz die Rede – nur davon, dass das (westdeutsche) Staatsgebiet in ein kollektives Sicherheitssystem eingeordnet werden könne (Art. 24 GG). Schon in der Präambel des Grundgesetzes wird Frieden zum obersten Staatsziel erklärt: Das deutsche Volk gibt sich ein Grundgesetz »[i]m Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«. Allerdings war manchem Politiker bei Inkrafttreten des Grundgesetzes im Mai 1949 klar, dass es auf Dauer nicht bei einem entmilitarisierten Westdeutschland bleiben konnte, weil die Besatzungsmächte mehr Soldaten brauchen würden, als sie selbst aufbringen konnten, um die sich verfestigende Grenze zur Sowjetischen Besatzungszone zu sichern. Adenauer beauftragte deshalb schon 1950 ehemalige Soldaten, Pläne für deutsche Kontingente im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsarmee auszuarbeiten. Das geschah geheim, denn in der Öffentlichkeit konnte man mit dem Thema keine positive Resonanz finden. »Ohne mich«1 – sagten viele ehemalige 1
Zur Friedensbewegung der 1950er Jahre vgl. Michael Werner, Die »Ohne mich«-Bewegung. Die bundesdeutsche Friedensbewegung im deutsch-deutschen Kalten Krieg (1949-1955), Münster 2006; Alternativen zur Wiederbewaffnung. Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945-1955. Hrsg. von Detlef Bald und Wolfram Wette, Essen 2008 (= Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, 11); Detlef Bald, Die Atombewaffnung der Bundeswehr. Öffentlichkeit und Politik in der Ära Adenauer, Bremen 1994 (= Schriftenreihe des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit e.V.),
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Kriegsteilnehmer, auch die Frauen und die Alten, die von den Bombardierungen der großen deutschen Städte traumatisiert waren, sowie alle diejenigen, die aus den früheren deutschen Ostgebieten in den Westen geflohen waren. Auch in der Politik waren die Pläne für eine Wiederbewaffnung umstritten: Der überzeugte Protestant Gustav Heinemann trat deswegen von seinem Amt als Innenminister zurück.2
Die »Gnade des Nullpunkts« nutzen für eine »Reformation« des Militärs Genauere Planungen für die deutschen Kontingente einer zukünftigen Verteidigungsarmee sollten bei einem Treffen im Benediktinerkloster Himmerod in der Eifel erfolgen. Geladen waren vor allem an der Ostfront erfahrene Generale der Wehrmacht, zudem der noch recht junge Wehrmachtmajor Wolf Graf von Baudissin3 (1907-1993), der Verbindungen zum militärischen Widerstand4 gegen Hitler unterhalten und in britischer Kriegsgefangenschaft5 überlebt hatte. Seiner Überzeugung nach sollten sich Soldaten nie wieder missbrauchen lassen, nie wieder in den Zwiespalt zwischen Befehlsgehorsam und Gewissensüberzeugung kommen müssen.6 Das sei Auftrag und Erbe der Widerständler des 20. Juli 1944, ihm als Überlebendem aufgetragen.
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bes. S. 78-91; zu den öffentlichen Diskussionen der Wiederbewaffnung vgl. Hans Ehlert, Innenpolitische Auseinandersetzungen um die Pariser Verträge und die Wehrverfassung 1954 bis 1956. In: Hans Ehlert [u.a.], Die NATO-Option, München 1993 (= Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, 3), S. 235-560. Umfassend Jörg Treffke, Gustav Heinemann. Wanderer zwischen den Parteien. Eine politische Biographie, Paderborn [u.a.] 2009, bes. S. 86-153. Zur Biografie vgl. die Aufsätze in dem Sammelband Wolf Graf von Baudissin 1907-1993. Modernisierer zwischen totalitärer Herrschaft und freiheitlicher Ordnung. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Rudolf J. Schlaffer und Wolfgang Schmidt, München 2007. In diesen Beiträgen fehlt jeder Hinweis auf Baudissins politisches und wissenschaftliches Wirken bei der NATO und in Hamburg, wie überhaupt seine zweite Karriere (vgl. unten) nicht in den Blick kommt. Claus von Rosen hat der neuesten Edition von Schriften Baudissins einen tabellarischen Abriss seiner Biografie (S. 548-550) und eine systematische Vorstellung des Werkes beigegeben: Claus von Rosen, Zur Einführung. Baudissins dreifache politisch-militärische Konzeption für den Frieden. In: Wolf Graf von Baudissin, Grundwert: Frieden in Politik – Strategie – Führung von Streitkräften. Hrsg. von Claus von Rosen, Berlin 2014, S. 9-33. Wolf Graf Baudissin, Der Widerstand. »... um nie wieder in die ausweglose Lage zu geraten ...« Ansprachen – Reden – An- und Bemerkungen aus Anlass des 20. Juli 1944. Hrsg. und eingel. von Claus von Rosen, Berlin 2014, bes. S. 8. Vgl. die eindrücklichen Briefe aus der Gefangenschaft: Wolf Graf von Baudissin und Dagmar Gräfin zu Dohna, ... als wären wir nie getrennt gewesen. Briefe 1941-1947. Hrsg. und mit einer Einführung von Elfriede Knoke, Bonn 2001. Vgl. Angelika Dörfler-Dierken, Ethische Fundamente der Inneren Führung. Baudissins Leitgedanken: Gewissensgeleitetes Individuum – Verantwortlicher Gehorsam – Konfliktund friedensfähige Mitmenschlichkeit, Strausberg 2005 (= Berichte des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, 77)
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Schon in Himmerod forderte der Major, »grundlegend Neues«7 müsse in den noch aufzustellenden Streitkräften geschehen. Bald nach Aufnahme seiner Tätigkeit als Leiter des Referats Inneres Gefüge im Amt Blank,8 der »Dienststelle des Beauftragten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der Alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen«, der Vorläuferinstitution des Ministeriums für Verteidigung, beschrieb er die seiner Meinung nach im Vergleich zu Vorkriegszeiten gänzlich veränderte Situation folgendermaßen: »Alle früher als gültig erachteten Werte vom Staat bis zum Individuum sind erschüttert; insbesondere sind fragwürdig geworden die Stellung und Bedeutung, ja die Notwendigkeit des Soldaten überhaupt.«9 Man solle sich in dieser Situation nun aber nicht nach hinten orientieren, »sondern dankbar sein für die Gnade des Nullpunkts und sich bewusst zu den Chancen bekennen, die jeder echte Neubeginn bietet.«10 Bei dieser Soldatentagung in der Evangelischen Akademie Hermannsburg (die später nach Loccum verlegt wurde) führte Baudissin weiter aus: »Wir haben eine reformatorische Aufgabe vor uns, die in Anerkennung des historischen Gefälles dem neuen Staats- und Menschenbild gerecht wird«.11 Wie Luthers Reformation nichts anderes intendiert hatte als den christlichen Glauben zu reinigen von den falschen Traditionen seiner Zeit, so wollte auch Baudissin die Streitkräfte wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zuführen: den Menschen ein freies Leben in einem friedlichen Europa zu garantieren. Deshalb war er der Überzeugung, dass Soldaten dem Frieden zu dienen hätten, dass Militär Teil der staatlichen Exekutive sein müsse und einem strategischen Zweck diene. So forderte Baudissin in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz schon 1951: »Wir haben ernsthaft und redlich umzudenken und uns bewusst zu machen, dass der Soldat in allererster Linie für die Erhaltung des Friedens eintreten soll.«12 Und der Soldat müsse das tun in einer durch gegensätzliche Ideologien gespaltenen Welt13. Ganz ähnlich formulierte er es später in dem maßgeblich von ihm verfassten Teil des »Handbuchs Innere Führung«, das von 1957 bis in die 1970er Jahre 7
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Hans-Jürgen Rautenberg und Norbert Wiggershaus, Die »Himmeroder Denkschrift« vom Oktober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung, Karlsruhe 1977, S. 53. Baudissin hatte im Amt Blank natürlich auch einige Gegenspieler wie etwa Heinz Karst, was es gelegentlich fast unmöglich erscheinen ließ, den militärischen Neuanfang in Westdeutschland in Gang zu bringen. Davon kündet u.a. ein – freilich nicht abgesendetes – Kündigungsschreiben an Verteidigungsminister Blank (wohl 1955). In: Wolf Graf von Baudissin, Als Mensch hinter den Waffen. Hrsg. und komm. von Angelika Dörfler-Dierken, Göttingen 2006, S. 67-70. Zur Geschichte des Amtes Blank vgl. Dieter Krüger, Das Amt Blank. Die schwierige Gründung des Bundesministeriums für Verteidigung, Freiburg i.Br. 1993. Vgl. auch Dieter Krüger und Kerstin Wiese, Zwischen Militärreform und Wehrpropaganda. Wolf Graf von Baudissin im Amt Blank. In: Wolf Graf von Baudissin 1907-1993 (wie Anm. 3), S. 99-109. Baudissin, Diskussionsbeitrag bei der ›Soldatentagung‹ in der Evangelischen Akademie Hermannsburg (51,5). In: Baudissin, Grundwert: Frieden (wie Anm. 3), S. 43. Ebd. Ebd., S. 44. Ebd. Ost oder West (1947), unveröffentlichtes Manuskript. Auszugsweise ediert in Baudissin, Grundwert: Frieden (wie Anm. 3), S. 37-41.
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hinein allen Offizieren der Bundeswehr zum Selbststudium »über Grundlagen, Aufgaben, Ziele und Wege der ›Inneren Führung‹ in der deutschen Bundeswehr« ausgehändigt wurde: »Im Denken des europäischen und damit auch des deutschen Soldaten gilt von jeher der Frieden als der Normalzustand, um dessentwillen ein Krieg allein verantwortet werden kann. Vom Frieden her bekommt die Kriegführung ihren Auftrag und ihre Grenzen.«14 Um die Streitkräfte auf diese Aufgabe vorzubereiten, bedurfte es nicht nur ihrer politisch-parlamentarischen Kontrolle, sondern auch einer neuen inneren Ausrichtung – und dabei mussten die Veränderungen der Kriegführung durch technische Entwicklungen bedacht werden. Dafür entwickelte Baudissin die Konzepte »Innere Führung« und »kooperative Rüstungssteuerung«.
Streitkräfte in der Demokratie – »Innere Führung« Nicht nachgedacht hatten die in Himmerod versammelten Generale und Obersten über die Frage, ob die Wehrmotivation junger Demokraten ausreichend hoch wäre, wenn sie in Wehrmachtmanier gedrillt würden. Baudissin war überzeugt davon: Wer sich im Zivilleben als freier Staatsbürger erlebe, dürfe auch in den Streitkräften kein unfreier Befehlsempfänger sein. Deshalb wollte er die innere Ordnung der Streitkräfte so ausrichten, dass die grundlegenden Werte und Normen der Demokratie in der Bundeswehr erfahrbar und ausschließlich aus Gründen der Funktionalität des militärischen Dienstes eingeschränkt würden. Dafür entwickelte er die Leitidee, alle im Grundgesetz genannten Grundrechte sollten auch für den Soldaten gelten. Der »Staatsbürger in Uniform« – das Gegenteil des »politischen Soldaten« der Reichswehr und der Wehrmacht – war geboren.15 Der bedurfte allerdings der Erziehung und Bildung hinsichtlich seines staatsbürgerlichen Bewusstseins durch Unterricht gleichsam in Politischer und Historischer Bildung. Zudem sollte eine Gruppe von Menschen sich zivil und frei in den Kasernen bewegen dürfen: die von ihren Landeskirchen für den Dienst an jungen Männern für ein paar Jahre freigestellten Militärpfarrer. Sie sollten einerseits sicherstellen, dass Soldaten ihr Grundrecht auf freie religiöse Betätigung wahrnehmen konnten, und andererseits im Lebenskundlichen Unterricht zur ethischen Menschen- und Persönlichkeitsbildung der Soldaten beitragen.16 14
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Handbuch Innere Führung. Hilfen zur Klärung der Begriffe, Bundesministerium für Verteidigung, Führungsstab der Streitkräfte, Bonn 1957, S. 59. Die Unterscheidung zwischen dem nationalsozialistischen politischen und dem demokratischen Soldaten ist unbedingt notwendig, um nicht zu behaupten, der Wehrmachtsoldat und der Bundeswehrsoldat seien beide Typen derselben Grundfigur des »politischen Soldaten«. Denn diese Argumentation übersieht die grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Typen des Soldaten: einerseits des Politoffiziers, wie er in der Wehrmacht und in der NVA üblich war, und andererseits des Staatsbürgers in Uniform. Jeder Soldat – auch der sich ausschließlich als Werkzeug in den Händen seiner militärisch-politischen Führung verstehende – handelt durch Tun ebenso wie durch sein Unterlassen politisch. Zum humanistischen Erbe bei Baudissin vgl. Eckart Hoffmann, Frieden in Freiheit. Philosophische Grundmotive im politischen Denken von Wolf Graf von Baudissin. In: Wolf Graf von Baudissin 1907-1993 (wie Anm. 3), S. 81-98.
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Die Innere Führung wurde in der Wehrgesetzgebung verankert17 und konnte trotz gelegentlichen Spottes über »Inneres Gewürge« und »Weiche Welle« den demokratischen Staatsbürger in Uniform als kritisches Ferment in der Bundeswehr verankern.18 Der Soziologe Wilfried von Bredow würdigte die maßgeblich von Baudissin entwickelte Konzeption der Inneren Führung als vergleichbar innovativ und wirksam wie die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard.19 Um jede Assoziation zur Wehrmacht zu unterbinden, wurde »Inneres Gefüge« unter dem zweiten Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, Franz-Josef Strauß, in »Innere Führung« umbenannt 20 und Baudissin in Brüssel bei der NATO – wie manche meinten – »entsorgt«. Einen Generalsposten in Deutschland durfte er nie übernehmen, bis er 1967 als NATO-General im Rang eines Generalleutnants – ohne Großen Zapfenstreich, weil er militärische Zeremonielle verabscheute21 – in den Ruhestand verabschiedet wurde.22
»Kooperative Rüstungssteuerung« als Ausweg aus dem Dilemma der Atomwaffen Nach der Verabschiedung durch Verteidigungsminister Gerhard Schröder (CDU) begann für Baudissin eine zweite Karriere als Friedens- und Konfliktforscher. Er wurde zum Gründungsdirektor des auf Empfehlung des Wissenschaftsrates errichteten Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)23 und lehrte dort ab 1968 als Lehrbeauftragter für 17
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Zur Geschichte der Wehrgesetzgebung vgl. knapp Martin Rink, Die Bundeswehr. 1950/55-1989/90 München 2015 (= Beiträge zur Militärgeschichte. Militärgeschichte kompakt, 6), S. 106-109. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Rudolf Schlaffer, Der Aufbau der Bundeswehr. Reform oder Reformierung. In: Reform – Reorganisation – Transformation. Zum Wandel der deutschen Streitkräfte von den preußischen Heeresreformen bis zur Transformation der Bundeswehr. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Karl-Heinz Lutz [u.a.], München 2010, S. 331-344. Gegenwärtig gilt die A-2600/1 Innere Führung; sie ist mehrfach im Internet greifbar. Vgl. zur Entstehung und Geschichte der Vorschriften Angelika Dörfler-Dierken, Innere Führung am Anfang der 1990er Jahre. Der sicherheitspolitische Umbruch im Spiegel der ZDv 10/1 Innere Führung von 1993. In: Entscheiden – Führen – Verantworten. Hrsg. von Hans Christian Beck und Christian Singer, Berlin 2011, S. 37-56. Wilfried von Bredow, Demokratie und Streitkräfte. Militär, Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2000, S. 112. Krüger/Wiese, Zwischen Militärreform und Wehrpropaganda (wie Anm. 8). Rudolf Schlaffer und Wolfgang Schmidt, Einführung. In: Wolf Graf von Baudissin 1907-1993 (wie Anm. 3), S. 1-15, hier S. 2. Der erste evangelische Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung und zugleich erste evangelische Militärbischof, Hermann Kunst, setzte sich 1963 für die Rückholung Baudissins von der NATO und seine Berufung zum Generalinspekteur der Bundeswehr ein. Vgl. Baudissin, Als Mensch hinter den Waffen (wie Anm. 8), S. 71 f. Zur Geschichte des IFSH vgl. Detlev Bald, Geschichte des IFSH. In: Sicherheit und Frieden, 30 (2012), 2, S. 108-114. Das IFSH war ein SPD-nahes Forschungsinstitut. Baudissin selbst war Mitglied der Partei, sein Stellvertreter und Nachfolger wurde Egon Bahr, der Architekt der Ostpolitik der Regierung Brandt, der zu seiner Zeit als Pressesprecher des Berliner Senats den sozialliberalen Slogan »Wandel durch Annäherung« und die entspre-
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moderne Strategie sowie ab 1980 an der Hochschule der Bundeswehr (heute Helmut Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg). Im Januar 1979 wurde Baudissin vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg der Titel Professor verliehen. Der General a.D. wurde also zum Friedensforscher. Dafür qualifizierten ihn seine Kenntnisse aus seinen NATO-Verwendungen. Die Verteidigungsstrategie der massive retaliation (massive atomare Vergeltung)24 war 1967 durch die flexible response abgelöst worden. Das ermöglichte der sozialliberalen Koalition in Deutschland die Entspannungspolitik und die sicherheitspolitische Vision einer friedlichen Koexistenz der antagonistischen politischen und gesellschaftlichen Systeme in Europa. Das im Jahr 1970 unter Verteidigungsminister Helmut Schmidt veröffentlichte Weißbuch zur Verteidigungspolitik der Bundesregierung führte den Begriff Frieden in die sicherheitspolitische Sprache ein. Das Ziel der Erstellung des am 20. Mai 1970 veröffentlichten Weißbuchs bestand darin, »die Öffentlichkeit im In- und Ausland mit dem Stand und den Aufgaben unserer militärischen Verteidigungsanstrengungen sowie mit den auf die Wahrung des Friedens gerichteten Zielen unserer Verteidigungspolitik bekannt [zu] machen.« Weiterhin hieß es dort: »Der Frieden wird niemandem geschenkt. In der Welt, in der wir leben, reicht auch der Wille zum Frieden allein nicht aus. Nur wenn wir bereit und in der Lage sind, für seine Bewahrung einzutreten, können unsere Kinder in eine bessere Welt hineinwachsen. So verstanden ist Sicherheitspolitik ein wesentlicher Teil unserer Friedenspolitik – eine Grundlage unserer auswärtigen wie unserer Inneren Politik.«25 In diesem Weißbuch ist zudem erstmals die Rede von der sich neu entwickelnden Friedensforschung: »Die Universitäten und wissenschaftlichen Institute in der
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chende Politik entwickelt hatte. 1980 wurde Bahr Mitglied der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit unter dem Vorsitz des norwegischen Präsidenten Olof Palme. Diese sogenannte Palme-Kommission schlug einen atomwaffenfreien Korridor durch Mitteleuropa vor. Baudissin unterhielt enge Verbindungen zu sozialdemokratischen Verteidigungspolitikern: Über Hans Koschnik, der als Mitglied des SPD-Bundesvorstands (1970 bis 1991) die neue Ostpolitik beförderte, hatte er sogar direkt in den Helsinki-Prozess eingreifen können. Gut kannte Baudissin auch Alfons Pawelcyk, der als Abrüstungs- und Verteidigungsexperte seiner Partei galt und Vorsitzender des Hamburger Arbeitskrieses Sicherheit, Mitglied des Sicherheitsausschusses beim SPD- Parteivorstand, Mitglied des Verteidigungsausschusses, speziell des Unterausschusses Abrüstung und Rüstungskontrolle, sowie des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag (1969-1980) war. Baudissins direkter Kontakt zu Helmut Schmidt war nur flüchtig – beide kannten sich allerdings schon aus den 1950er Jahren, als sie dieselben Veranstaltungen an der Evangelischen Akademie Loccum besucht hatten –, aber Baudissin konnte als Autor eines Beitrags für die Festschrift zu Schmidts 70. Geburtstag gewonnen werden: Baudissin, Abschreckung mit Kernwaffen? In: Leidenschaft zur praktischen Vernunft. Helmut Schmidt zum Siebzigsten. Hrsg. von Manfred Lahnstein und Hans Matthöfer, Berlin 1989, S. 35-50. Bruno Thoß, NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960, München 2006 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, 1). Weißbuch 1970. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr. Im Auftrage der Bundesregierung hrsg. vom Bundesminister der Verteidigung, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Vorwort, S. 9.
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Bundesrepublik haben begonnen, sich mit Sicherheitspolitik, Militärsoziologie und den inneren Problemen der Streitkräfte zu befassen. Die Bundesregierung sieht hierin einen wichtigen Beitrag zur Friedensforschung, an deren Förderung ihr besonders gelegen ist.«26 Das SPD-nahe Hamburger Forschungsinstitut sollte den Friedensbegriff in der politischen Sprache verankern und profilieren, ohne dabei den Sicherheitsbegriff aufzugeben. Die Verwendung beider Begriffe im Institutsnamen verweist auf die zentrale Arbeitshypothese, dass Friedenswahrung und Sicherheitsvorsorge sich wechselseitig bedingen. Beide Ziele können nicht unabhängig voneinander verfolgt werden. Das unterscheidet das Profil dieses Instituts von anderen, zeitgleich oder wenig später begründeten Friedens- und Konfliktforschungsinstituten.27 Ziel des militärischen Dienstes müsse es sein, den »heißen« Krieg auf dem Gefechtsfeld zu verhindern. Dem Soldaten im Friedensdienst das Gefecht als Ort der Bewährung vorzustellen, sah Baudissin angesichts der Atomwaffen »als geradezu verbrecherisch« an: »Die Streitkräfte sind allein dazu da, durch ein Höchstmaß an Kampftüchtigkeit die Verlagerung der geistigen Auseinandersetzung in die Sphäre des heißen Krieges unratsam erscheinen zu lassen.«28 Kritisch gegenüber dem Einsatz von Atomwaffen war Baudissin schon, seit er 1957/58 in einer Kommission an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg mitgearbeitet hatte29, die von Hermann Kunst, dem ersten evan26
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Ebd., S. 117 f. In der dazugehörigen Fußnote heißt es: »Eine Untersuchung der Studienprogramme der Jahre 1968 und 1969 an 28 Hochschulen der Bundesrepublik hat ergeben: (1) 8 Hochschulen mit 30 000 Studierenden je Semester wiesen keinerlei wehrwissenschaftliche Aktivitäten auf; (2) 20 Hochschulen mit ca. 250 000 Studierenden je Semester boten 80 Veranstaltungen wehrwissenschaftlichen Inhalts an. Diese 80 Veranstaltungen sind ein verschwindend geringer Anteil an dem gesamten Veranstaltungs- und Vorlesungsprogramm der untersuchten Hochschulen. Sie wurden von 55 der 7000 Hochschullehrer gelesen.« Es heißt weiter: »Auch das Bundesministerium der Verteidigung selbst trägt in erheblichem Maße zu dieser Forschung bei; vor allem auf dem Gebiet der internationalen Rüstungsbegrenzung.« Corinna Hauswedell, Friedenswissenschaften im Kalten Krieg – Friedensforschung und friedenswissenschaftliche Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland in den achtziger Jahren, Baden-Baden 1997. BArch, N 626/156, zitiert nach Helmut R. Hammerich, »Kerniger Kommiss« oder »Weiche Welle«? Baudissin und die kriegsnahe Ausbildung in der Bundeswehr. In: Wolf Graf von Baudissin 1907-1993 (wie Anm. 3), S. 127-138, hier S. 130. Die Heidelberger Thesen aus dem Jahr 1959 bestimmten die Friedensethik der EKD bis 2007. Schon recht früh hat man in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR die Frage der Folgen einer atomaren Eskalation öffentlich diskutiert. Die frühesten Zeugnisse, abgedruckt in Atomwaffen und Ethik. Der deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung 1954-1961. Dokumente und Kommentare. Hrsg. von Christian Walther, München 1981 (= Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte, 3), stammen aus dem Jahr 1954. Auf S. 23 f. ist folgendes festgehalten: Am 29.4.1954 forderte der südhessische Pfarrer Hermann Sauer ein Wort der EKD »zur Frage der Atomgeschütze am Rhein«. Am 21.5.1954 gab die EKD eine Erklärung zur Entwicklung von Atomwaffen ab, die in der Forderung gipfelte, die Christen sollten sich bei ihren Regierungen für die Abschaffung von Atomwaffen einsetzen (S. 24). Vollends populär geworden war das Thema, als Albert Schweitzer in seiner im Rundfunk übertragenen Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises Atomwaffen geißelte (S. 57). Im Frühjahrsmanöver von 1957 wurde der Einsatz von Atomwaffen durchgespielt. Zugleich tagte an der FEST eine Kommission,
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gelischen Militärbischof und Beauftragten der EKD bei der Bundesregierung, eingesetzt worden war. Dort ging es angesichts tiefer Verwerfungen in der evangelischen Kirche um Fragen zur Kriegführung im »technischen Zeitalter«, also im Zeitalter der Atombombe. Beantwortet werden musste die Frage, ob ein Christ in einem Militärsystem, das mit Atomwaffen droht, Wehrdienst leisten dürfe. Die These der Notwendigkeit einer »Komplementarität« (Heidelberger Thesen 1959) sollte befriedend wirken. »Noch« müsse der Frieden auch mit Atomwaffen gesichert werden. Christen könnten also sowohl als Soldat wie auch als Kriegsdienstverweigerer dem Ziel des Friedens dienen – und dürften dafür auch »noch« mit Atomwaffen drohen.30 Dieser Konsens wurde erst von 1980 an durch die sich angesichts der bevorstehenden Stationierung von Pershing II-Raketen formierende staatsunabhängige Friedensbewegung aufgekündigt. 1967, kurz vor seinem Ausscheiden aus der NATO, äußerte Baudissin sich dahingehend, dass die »thermonuklearen Massenvernichtungswaffen« mit ihrer »noch-nicht-dagewesene[n] Wirkung [...] zu anderen Formen [d]es Austrages« der Spannungen zwischen Ost und West führen müssten. Ein Krieg wie zu früheren Zeiten sei nicht mehr denkbar. Schon damals forderte er: »Man sollte sich nicht mit dem Gleichgewicht des
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welche die Frage der Atomwaffen diskutierte. Baudissin gehörte zu deren Mitgliedern. Seine früheste deutliche Äußerung über »die atomaren Dinge« datiert vom 8.3.1957. An diesem Tag notierte er »in seinem Tagebuch, auf den Vorhalt, dass in den Lehrgängen an der neu gegründeten und ihm unterstellten Schule für Innere Führung ›die atomaren Dinge‹ nicht genügend berücksichtigt würden, ›dass ich es gewesen sei, der als Erster im Hause diesen Faktor in Rechnung gestellt habe‹«. Zitiert in Rosen, Zur Einführung (wie Anm. 3), S. 19; vgl. auch Axel F. Gablik, Strategische Planungen in der Bundesrepublik Deutschland 1955-1967. Politische Kontrolle oder militärische Notwendigkeit?, BadenBaden 1996 (= Nuclear History Program, 5; Internationale Politik und Sicherheit, 30) S. 302; Detlef Bald, Die Atombewaffnung der Bundeswehr (wie Anm. 1). Auf Baudissins konzeptionellen Vorarbeiten und sein Engagement geht auch die spezifisch deutsche Konzeption einer der militärischen Hierarchie gegenüber freien, kirchlich gebundenen Militärseelsorge zurück. Vgl. Horst Scheffler, »Gott ist Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.« Baudissin und die evangelische Militärseelsorge. In: Wolf Graf von Baudissin (wie Anm. 3), S. 69-80; vgl. auch Angelika Dörfler-Dierken, Zur Entstehung der Militärseelsorge und zur Aufgabe der Militärgeistlichen in der Bundeswehr, Strausberg 2008 (= SOWI-Forschungsbericht, 83). Frank Nägler, Zur Ambivalenz der Atomwaffe im Blick auf Baudissins frühe Konzeption der Inneren Führung, in: Wolf Graf von Baudissin 1907-1993 (wie Anm. 3), S. 151-164, hier S. 155, behauptet: »Atomare Gefechtsfeldwaffen spielten dabei [bei Baudissins Überlegungen zur Technik im Jahr 1954, ADD] allerdings noch keine erkennbare Rolle.« Nachdem Baudissin dann ab 1957 die Wirkmächtigkeit der Atomwaffe vertraut gewesen sei, hätte er sie als Ende allen möglichen soldatischen Handelns betrachtet – sofern sie tatsächlich zum Einsatz gekommen wäre. Das bedeutete für den verteidigungsbereiten Soldaten dann die Ambivalenz, zu allerletzt unter Opferung seiner selbst und seiner Lieben Recht und Freiheit verteidigen zu müssen, also das Unmögliche und Unerträgliche zu tun. Vgl. auch Frank Nägler, Der gewollte Soldat und sein Wandel. Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65, München 2010 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, 9), S. 269-290. Spätestens seit 1954 gab es in Westdeutschland öffentliche Diskussionen zu dem Thema (vgl. Anm. 28). Baudissin hat die kirchlichen Diskussionen gewiss verfolgt und ernst genommen, deshalb dürfte er sich von seinem Amtsantritt an mit dem Thema beschäftigt haben.
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Schreckens begnügen; man muss sich zur Rüstungskontrolle durchringen und dabei manches Risiko in Kauf nehmen.«31
»Kooperative Rüstungssteuerung« Der Friedensforscher dachte sich die globale Strategie kooperativer Rüstungssteuerung folgendermaßen: Staaten und Bündnisse von Staaten lernen sich »trotz aller bestehenden Konflikte und Antagonismen als ›Partner‹« verstehen. Sie stimmen ihre »Militärpotenziale, [...] Strategien, Umfang, Strukturen, Dislozierung und sogar deren Einsatz im Interesse ihrer beiderseitigen Sicherheit aufeinander ab.«32 Für diese Konzeption warb Baudissin in wissenschaftlichen, fachlichen und populären Diskursen – in Kreisen der Politik (vor allem bei der SPD), in Kreisen der Wissenschaft (u.a. als Hochschullehrer und Autor) sowie in der bundesdeutschen Öffentlichkeit und der evangelischen Kirche. Beispielhaft für Baudissins Wirken in evangelisch-kirchlichen Zusammenhängen sollen zwei Aktivitäten der 1980er Jahre angeführt werden, die in den bisherigen Forschungen zu seinem Werk noch keine Berücksichtigung gefunden haben: seine Mitarbeit am »Evangelischen Soziallexikon« und im Arbeitskreis »Sicherung des Friedens« (AKSF). In der siebten, vollständig neu bearbeiteten und erweiterten Auflage des von dem schon erwähnten Hermann Kunst begründeten »Evangelischen Soziallexikons« aus dem Jahr 1980 findet sich ein Beitrag von Baudissin zum Lexem »Rüstungskontrolle«. Die Begriffe Atom- bzw. Nuklearwaffen oder Entspannung finden sich hier nicht. Deshalb verwundert einerseits die Aufnahme des Lexems. Sie zeigt aber andererseits, welche Bedeutung diesem Konzept der Kontrolle von Rüstungsentwicklungen für die evangelische Sozialethik zugemessen wurde. Baudissin definiert Rüstungskontrolle gleich einleitend als »kooperative Rüstungssteuerung«. Sie ziele nicht in erster Linie auf Abrüstung, denn Abrüstung »bleibt eine gefährliche Illusion, weil mit weltweiter Abschaffung der Waffen die internationalen und gesellschaftlichen Konflikte nicht verschwinden. Bisher fehlen die moralischen, ideologischen und politischen Voraussetzungen, um in einer waffenlosen Welt Konflikte gewaltfrei zu regeln. Rüstungskontrolle ist dagegen eine pragmatische und operationale Strategie. Sie ist politisch machbar definiert als eine sorgfältig abgestimmte Modifizierung der (militärischen) Potentiale der Verhandlungspartner – Staaten, Bündnisse oder Regionen – mit dem erklärten Ziel, zur Erhöhung der beiderseitigen Sicherheit die Rüstungsdynamik gemeinsam zu steuern. Trotz bestehender Interessenkonflikte und Antagonismen sollen die Militärpotenziale, ihre Strategien,
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Baudissin an Oberst Dr. G. Will am 18.4.1967 aus SHAPE/Belgien, S. 2, Zentrum für Zeithistorische Forschung Hamburg (ZZH), Sammlung Will, Briefwechsel mit Baudissin 1953-1974. Wolf Graf von Baudissin und Dieter Lutz, Kooperative Rüstungssteuerung in Europa. In: Kooperative Rüstungssteuerung. Sicherheitspolitik und strategische Stabilität. Hrsg. von Wolf Graf von Baudissin und Dieter Lutz, Baden-Baden 1981, S. 9-48, hier S. 13.
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Struktur, Umfang, Dislozierung, sogar ihr taktischer Einsatz im Sicherheitsinteresse der Beteiligten aufeinander abgestimmt werden.«33 Weil kooperative Rüstungssteuerung der strategischen Stabilität diene, dürfe sogar das Rüstungsniveau »partiell und temporär« angehoben werden. Das Ziel sei jedoch, mittelfristig die »beiderseitige Abschreckung mit weniger bedrohenden, weniger bedrohten, weniger kostspieligen Mitteln glaubwürdig zu gewährleisten und die qualitativ/quantitative Motorik des Rüstungsprozesses in verifizierbaren Teilverträgen einzufangen.«34 Rüstungssteuerung sei nicht gleichzusetzen mit Abschreckung, weil dieser immer das Streben nach Überlegenheit inhärent sei. Stattdessen müssten Konflikte mit nichtmilitärischen Mitteln geregelt werden, und nur so viele Mittel der Gegengewalt müssten beibehalten werden, wie notwendig seien, um eine Aggression als untragbares Risiko erscheinen zu lassen. »Die bewusste Erhaltung gegenseitiger Abschreckung ist die militärstrategische Konsequenz des Gewaltverzichts.«35 Wichtig für das Konzept der kooperativen Rüstungssteuerung sind die internationale Verifizierbarkeit und Transparenz der Abrüstungsschritte sowie die vertrauensvolle Kooperation der antagonistischen Staaten bei Anerkennung von deren jeweiligen Sicherheitsbedürfnissen. Bemerkenswerterweise gesteht Baudissin in seinem Lexikonartikel ein, dass die Erfolge der kooperativen Rüstungssteuerung angesichts der technischen Dynamik im Rüstungssektor bisher nur gering seien. Deshalb sollte sogar schon bei den Rüstungsplanungen der Gedanke kooperativer Steuerung berücksichtigt werden. Allerdings habe sich, und das sei von Vorteil, die Einsicht verbreitet, »dass die Staaten auf sicherheitspolitischem Gebiet zugleich Antagonisten und Partner sind«.36 Dieser luzide Artikel fasst Baudissins Forschungen zum Thema arms control gut zusammen. Charakteristisch für Baudissins realpolitische Orientierung ist die Tatsache, dass er die sicherheitspolitischen Vorstellungen der Neuen Friedensbewegung kritisierte und zeitweilig im AKSF mitarbeitete: Dieser Kreis erfahrener Journalisten, Politiker, Kirchenleute und Militärs war 1981, als sich abzeichnete, dass die Neue Friedensbewegung zu einer Massenbewegung anwachsen könnte, auf Anregung des Evangelischen Militärgeneraldekans Reinhard Gramm gegründet worden. Mit Aufrufen und Flugblättern, bei Diskussions- und Vortragsveranstaltungen wirkten die Mitglieder dieser Gruppe in Öffentlichkeit und Kirche hinein.37 In der Liste der Unterstützer dieses Kreises findet sich der Name Baudissin an erster Stelle (was natürlich auch damit zusammenhängt, dass es keine Gründungsmitglieder mit A 33
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Wolf Graf von Baudissin, Rüstungskontrolle. In: Evangelisches Soziallexikon, 7., vollst. neu bearb. Aufl., Berlin 1980, Sp. 1094-1096, hier Sp. 1094. In der Neuausgabe des Evangelischen Soziallexikons aus dem Jahr 2001 ist der Artikel Rüstungskontrolle viel kürzer. Auch hier finden sich die Lexeme Atom, Nuklear nicht, dafür aber breit Frieden, Friedensethik, Friedensbewegung. Baudissin, Rüstungskontrolle (wie Anm. 33), Sp. 1094 f. Ebd., Sp. 1095. Ebd., Sp. 1096. Vgl. die erstmalige Analyse der Aktivitäten dieses zu seiner Zeit sehr bekannten Kreises, der sogar in der ersten Friedensdenkschrift der EKD »Frieden wahren, fördern, erneuern« (1981) genannt wurde, in Angelika Dörfler-Dierkens Beitrag in: Militär und Gesellschaft. Hrsg. im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften von Jörg Echternkamp, in Vorbereitung.
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als Namensbeginn gab; nach Verlust seines Ministeramtes wurde dann der SPDVerteidigungspolitiker Hans Apel Mitglied des AKSF). Im Jahr 1981, nach dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg, der zur ersten großen Demonstration der Friedensbewegung geführt hatte, wurden »Briefdienste« des Arbeitskreises an alle evangelischen Pfarrhäuser in Westdeutschland verschickt. Auch mit Buchpublikationen wirkte der AKSF meinungsbildend in die weitere Öffentlichkeit hinein: Eine Sammlung von Aufsätzen aus dem »Briefdienst« findet sich beispielsweise in dem Sammelband »Abschaffung des Krieges«, der »Beiträge zu einer realistischen Friedenspolitik« leisten will. Der Band ist bewusst überparteilich angelegt, da die Autoren der Ansicht sind, sicherheitspolitische Fragen dürften nicht in die Mühlen kurzfristiger Parteipolitik geraten. Bei allen Unterschieden im Einzelnen sind die Autoren doch einig in der Zielperspektive, dass jeder Krieg, der konventionelle ebenso wie der atomare, verhindert werden müsse. Einig sind sie zudem in der Einschätzung, dass man Frieden nur sichern könne, wenn man über eine ununterbrochene Kette von Zwischenlösungen politischer, ökonomischer und sozialer Probleme eine Friedensordnung anstrebt, die auf den Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit beruht. Gerade Christen ständen vor der Aufgabe, kurz-, mittel- und langfristige Strategien zur Überwindung von Kriegsursachen zu entwickeln – ganz im Sinne der Heidelberger Thesen: Nur wer sich für Frieden einsetze, dürfe noch mit Waffen drohen.38 Mit dem zentralen Stichwort des Haupttitels »Abschaffung« wurden die Anliegen der Freunde der Friedensbewegung aufgenommen; das Stichwort »realistisch« im Untertitel verwies dagegen auf eine Diskussion, die vor allem durch Bundeskanzler Helmut Schmidt angestoßen worden war: »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.«39 Die Beiträge zeugen von dem Versuch, argumentativ und dialogisch die innerprotestantischen Diskussionen um den rechten Weg zum Frieden zwischen West- und Ostdeutschland, zwischen NATO und Warschauer Pakt zu prägen. Der Band ist bewusst überparteilich gehalten – unter den Autoren sind CDU- ebenso wie SPD-Politiker –, da Fragen der Sicherheitspolitik nicht in die Mühlen kurzfristiger Parteipolitik geraten sollten. Deshalb gibt es unter den Autoren durchaus Unterschiede in Analyse und Bewertung der sicherheitspolitischen Situation. Ihre Gemeinsamkeit liegt in ihrer christlichen Prägung sowie in der daraus abgeleiteten Verpflichtung, jeden Krieg zu verhindern, einen Atomkrieg ebenso wie einen konventionellen. Gemeinsam ist ihnen auch die Einschätzung, dass man Frieden nur sichern kann, wenn man über eine ununterbrochene Kette von Zwischenlösungen für politische, ökonomische und soziale Probleme eine Friedensordnung anstrebt, die auf den Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit beruht. Einen atomaren Krieg halten sie übereinstimmend für ethisch und politisch nicht legitimierbar. Gerade die Aufgabe von Christen sei es, kurz-, mittel- und langfristige Strategien zur realen Überwindung von möglichen Kriegsursachen zu entwickeln. Nähme man diese Aufgabe nicht leidenschaftlich 38
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Abschaffung des Krieges. Beiträge zu einer realistischen Friedenspolitik. Mit Beiträgen von Wolf Graf von Baudissin [u.a.]. Hrsg. von Günter Brakelmann, Gütersloh 1983. Vgl. die Selbstdarstellung des Bundeskanzlers und die Rechtfertigung der sozialliberalen Politik in seiner Autobiografie unter der Überschrift »Sorgfältige Gewissensentscheidungen«: Helmut Schmidt, Außer Dienst. Eine Bilanz, München 2008, bes. S. 163-167. Demnach war Schmidts Bedrohungsperzeption bestimmt von der Unsicherheit über die Verteidigung Westeuropas gegen einen atomar gestützten russischen Angriff durch die Regierung Carter.
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und konsequent wahr, so verlöre das bestehende Sicherheitssystem seine politische und moralische Legitimation. Rüstungskontrolle und Abrüstung könne, so die Autoren, die Folge verstärkter politischer, ökonomischer und kultureller Kooperation zwischen den bestehenden politisch-militärischen Blöcken sein. Sie halten es aber für illusionär zu glauben, dass ein einseitiger Verzicht auf die Stationierung neuer Pershing II-Raketen den Frieden sicherer mache. Vielmehr seien konsequente Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung die einzig reale Chance, zum allmählichen Abbau der tatsächlich nicht mehr zu verantwortenden Rüstungsausgaben in aller Welt zu gelangen. Die Mitglieder des AKSF und die Teilnehmer bei den großen Demonstrationen der Friedensbewegung unterschieden sich in sozialpsychologischer Hinsicht voneinander – im Lebensalter ebenso wie in ihrer gesellschaftlichen Funktion: Im AKSF sammelten sich gesetzte Herren, welche die öffentliche Rede beherrschten, guten Zugang zu Zeitungen und Zeitschriften hatten und häufig auch politische Verantwortung trugen. Ihnen standen junge Menschen gegenüber, die geprägt waren von einer friedensbewegten Erregungskultur.40 Im Unterschied zu Friedensforschern aus anderen Friedensforschungsinstituten kritisierte Baudissin die Friedensbewegung: Sie habe keinen strategischen Blick auf den Frieden. Man müsse unterscheiden zwischen Friedensforschung und Friedensstrategie. Friedensstrategie müsse darauf zielen, die Sicherheit beider Seiten voreinander zu erhöhen41. Deshalb war Baudissin ein Verfechter der Notwendigkeit der Nachrüstung und verteidigte den NATO-Doppelbeschluss.
Frieden im Herzen Baudissin forderte angesichts der aufgeheizten Diskussionen um die Nachrüstung nicht nur politischen Realismus, sondern auch bildungspolitische Maßnahmen, um Feindbilder in der westdeutschen Gesellschaft abzubauen: Die Älteren, mehrheitlich aufseiten der Nachrüstung stehend, verstünden nicht die Jüngeren, die der Neuen Friedensbewegung anhingen. Sich bekämpfende und gegenseitig verteufelnde Glieder derselben Gesellschaft müssten lernen, ihre Probleme miteinander zu bearbeiten: »Da wir mit Konflikten weiterhin leben müssen, kommt es darauf an, die Mechanismen zur gewaltlosen Regelung derselben einzuüben und zu nutzen, die Werte der eigenen Ordnung – trotz all ihrer Mängel – zu begreifen und sich für deren Schutz einzusetzen.«42 Friedensprozesse bedürfen – davon war Baudissin überzeugt – solcher christlicher Eigenschaften wie Empathie und Liebe, denn die Grenzen verlaufen nicht nur quer durch Europa, sondern ebenso durch die Herzen der Menschen, auch in Ost und West.43 In diesem Sinne hat 40
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Vgl. Hans-Adolf Jacobsen, Entspannungspolitik. In: Briefdienst des AKSF, LKAH B1A Nr. 10905, S. 1 f. Vgl. Baudissin im Jahr 1981 zu wissenschaftlicher Friedensforschung im Unterschied zu politischer Friedensstrategie, beispielweise in: Baudissin, Grundwert: Frieden (wie Anm. 3), S. 521. Wolf Graf von Baudissin, Entspannungspolitik. In: AKSF, LKAH B1A Nr. 10905, S. 29. Baudissin, Grundwert: Frieden (wie Anm. 3), S. 43 (Diskussionsbeitrag Hermannsburg, 51,5): »Die eigentliche Grenze in der großen Auseinandersetzung verläuft im Herzen des
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Baudissin in Militär und Politik »Nachfolge heute, auch und gerade im Beruf« gelebt.44 Nachfolge heißt in dieser Logik weder, sich in die Herzensinnerlichkeit zu flüchten, noch die Bergpredigt zur Richtschnur politischen Handelns zu machen. »Nachfolge« heißt im Sinne von Baudissin mit Macht und Machtmitteln umzugehen, weil Macht die Voraussetzung jeder Ordnung ist. Das soll allerdings nur in den Grenzen des Rechts geschehen. »Ohne Macht, die sich allerdings dem Recht beugen und der Ordnung dienen muss, scheint mir menschliches Zusammenleben seit dem Sündenfall nicht mehr denkbar.«45 Soldatentum, Politik und evangelisches Christentum sind bei Baudissin eine die Bundesrepublik Deutschland tief prägende Verbindung eingegangen. Ausgezeichnet war seine Haltung zum Militär durch große Ambiguitätstoleranz: an Waffen – gerade auch an Atomwaffen – festzuhalten, und zugleich mit aller Kraft an deren Abrüstung und Kontrolle zu arbeiten. Das gelingt nur bei, wie wir heute sagen würden, Konfliktfähigkeit einerseits und der Fähigkeit zur Konflikttransformation andererseits. Das Anliegen der anderen Seite zu verstehen und deren Recht zu würdigen, das war eine der herausragenden Fähigkeiten Baudissins, der dafür auch die Formel verwendete: »Sicherheit für beide Seiten« – Sicherheit nicht vor der, sondern gemeinsam mit der anderen Seite.
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einzelnen, was gerade wir Deutsche schmerzlich spüren.« Baudissin an Oberst Dr. G. Will am 18.4.1967 aus SHAPE/Belgien, S. 1, ZZH, Sammlung Will, Briefwechsel mit Baudissin 1953-1974. Ebd., S. 2.
Nico Ditscher-Haußecker
Soldatenglaube bei den Verbündeten. Evangelikale Einflüsse auf das US-Militär
Im Jahr 2005 äußerte sich der Vorsitzende des Washingtoner Center for Strategic and International Studies (CSIS), John J. Hamre, zum Einfluss evangelikaler1 Religiosität in den amerikanischen Streitkräften. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Tätigkeiten an den politisch-militärischen Schnittstellen des National Security State2 verfügt Hamre über detaillierte Kenntnisse der maßgeblichen sicherheitsund militärpolitischen Entwicklungen der letzten Dekaden. Dazu zählen auch die Auswirkungen der Reorganisation des US-Militärs zur Freiwilligenarmee. Hamre zufolge veränderte sich infolge dieses Prozesses die personelle Zusammensetzung 1
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Als »evangelikal« wird für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und im US-amerikanischen Kontext eine theologisch konservative, sich selbst als ›bibeltreu‹ verstehende Strömung im Protestantismus bezeichnet, die in einer Vielzahl protestantischer Denominationen, Freikirchen und anderen religiösen Organisationen (Parachurches) anzutreffen ist und u.a. durch die National Association of Evangelicals (NAE) vertreten wird. Auch Fundamentalisten und Pfingstbewegung gelten als Segmente des evangelikalen Protestantismus. Es ist ferner eine ausgeprägte Tendenz zu politisch konservativen Einstellungen unter einer Mehrheit vor allem der weißen evangelikalen Protestanten festzuhalten. Siehe z.B. Michael Hochgeschwender, Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt a.M. 2007, S. 23-29; George Marsden, Understanding Fundamentalism and Evangelicalism, Grand Rapids 1991, S. 1-6; Mark A. Noll, Between Faith and Criticism. Evangelicals, Scholarship, and the Bible in America, Vancouver 2004, S. 1-5. Siehe auch die archivierte Website des 2014 aufgelösten Institute for the Study of American Evangelicalism (ISAE) am Wheaton College, Wheaton, IL: (letzter Zugriff 26.2.2019). Für einen detaillierteren Überblick über protestantische Denominationen in der evangelikalen Tradition siehe etwa die entsprechenden Angaben in der aktuellen Religious Landscape Study des Pew Forum on Religion and Public Life unter (letzter Zugriff 10.1.2019). Bei der Verwendung des Begriffes des National Security State orientiere ich mich an Douglas T. Stuart, Creating the National Security State. A History of the Law That Transformed America, Princeton, NJ 2008, insb. S. 1-11, 43-72. Somit subsumiere ich die Streitkräfte, die Nachrichtendienste sowie die mit Sicherheits- und Außenpolitik befassten exekutiven und legislativen Gremien darunter, die im Rahmen des National Security Act von 1947/49 etabliert bzw. reformiert wurden (bspw. den National Security Council). Ferner benutze ich den Begriff auch für die im Zweiten Weltkrieg existierenden oder etablierten militärischen, nachrichtendienstlichen und sicherheits- sowie außenpolitischen Vorläufer des National Security State.
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der Streitkräfte, die sich seither südstaatlicher, ländlicher, konservativer und eben auch evangelikaler gestalte, als dies zu Zeiten der Wehrpflichtarmee der Fall war.3 Diese Einschätzung konnte ich im Rahmen der auf den folgenden Seiten ausgeführten Forschungen bestätigen. Im Vergleich mit der zivilen religiösen Landschaft in den USA besteht eine Überrepräsentation evangelikaler Gläubiger in den Streitkräften. Es lassen sich etwa 40 Prozent des aktiven Personalbestandes der US-Streitkräfte dem evangelikalen Protestantismus zurechnen, während sich ihr Anteil im Kaplanskorps auf mehr als 60 Prozent beläuft. In der amerikanischen Zivilgesellschaft beträgt der Anteil evangelikaler Protestanten etwa ein Viertel bis ein Drittel der Gesamtbevölkerung.4 Mit dieser Entwicklung geht auch eine Veränderung der distinkten amerikanischen Militärkultur einher. Diesbezüglich konstatiert Michael Lindsay ein »evangelical ethos«5 in den Streitkräften. Diese Bestandsaufnahme ist Ausgangspunkt meines Dissertationsprojektes,6 in dem ich die historische Genese der Verflechtungen zwischen evangelikalem Protestantismus und Institutionen des amerikanischen National Security State einschließlich des Militärs untersuche. Es basiert unter anderem auf Quellenmaterial aus evangelikalen Privatarchiven, die über ein weites Spektrum von Archivalien zur Geschichte der evangelikalen Bewegung in Nordamerika verfügen.7 Die methodische Grundlage meiner Arbeit bildet der auch von Philipp Sarasin formulierte Ansatz der Wissensgeschichte.8 Mit diesem innovativen Zugriff betrachte ich die Rolle von evangelikalen Wissensakteuren im Zusammenhang mit der Zirkulation verschiedener Wissensbestände im amerikanischen nationalen Sicherheitsstaat. Im Rahmen dieser Prozesse findet eine zunehmende Verflechtung beider Sphären statt, aus der ein Zuwachs an Status und Einfluss evangelikaler Protestanten im Bereich des National Security State resultiert.
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John J. Hamre in einem Interview vom 4.2.2005, zitiert nach: D. Michael Lindsay, Evangelical Elites in the U.S. Military. In: Journal of Political and Military Sociology, 35 (2007), 2, S. 6. Die mir vorliegenden statistischen Daten wurden vom Defense Manpower Data Center des Office of the Secretary of Defense erhoben. Das Dokument »Religion of Active Service Personnel by Service (no Coast Guard)« ist datiert auf den 31.8.2009. Siehe auch Nico Ditscher, Missionare in Uniform. Die Evangelikalisierung der amerikanischen Streitkräfte im Kalten Krieg und ihre Folgen, Saarbrücken 2013, S. 109-112, 152 f. Lindsay, Evangelical Elites (wie Anm. 3), S. 6. Nico Ditscher, World-Wide Spiritual Offensive. Evangelikale Protestanten und der amerikanische National Security State 1941-1975 (im Erscheinen). Es handelt sich um die Billy Graham Center und Wheaton College Archives, die sich in Wheaton, IL befinden. Durch das 1860 gegründete evangelikale Wheaton College und das Billy Graham Center, benannt nach dem bekanntesten Absolventen Wheatons, ist Wheaton von zentraler Bedeutung für die Erforschung des US-Evangelikalismus. Ein Überblick über die umfangreichen Archivbestände findet sich unter und (letzter Zugriff 26.2.2019). Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur, 36 (2011), 1, S. 159-172.
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Historische Genese Wiewohl die »Evangelikalisierung« im amerikanischen Militär durch die Reorganisation zur Freiwilligenarmee entscheidend befördert wird, lässt sich die Genese dieser Entwicklung bereits im Zweiten Weltkrieg verorten. In dessen Kontext zeichnete sich im evangelikalen Segment des amerikanischen Protestantismus eine verstärkte Organisation auf nationaler Ebene ab, die beispielsweise zur Gründung der National Association of Evangelicals (NAE) und des fundamentalistischen American Council of Christian Churches (ACCC) in den Jahren 1941 und 1942 führte.9 Diese Organisationen dienten nicht zuletzt als Verbindung zum Militär, um die bis dahin bestehende Dominanz theologisch liberaler protestantischer »Mainline«-Kirchen sowie der katholischen Kirche im Kaplanskorps der amerikanischen Streitkräfte durch die Entsendung eigener Militärkaplane zu brechen. Evangelikale Geistliche und Laien entdeckten dabei die global dislozierten Streitkräfte selbst als weites Missionsfeld, das zudem vielfältige Gelegenheiten zur Missionierung in fremden Kulturkreisen bot. Während des Krieges gründeten aktive und ehemalige Militärangehörige evangelikale Missionswerke, die in den USStreitkräften oder in besetzten Ländern aktiv wurden.10 Der entstehende National Security State wiederum nutzte als strategisch relevant erachtete Wissensbestände evangelikaler Auslandsmissionare. Die religiöse Dimension des beginnenden Kalten Krieges wurde durch die Instrumentalisierung von Religion im Rahmen außen- und sicherheitspolitischer Strategien der Vereinigten Staaten forciert.11 Diese Entwicklung traf mit dem Aufkommen der neoevangelikalen Erweckungsbewegung zusammen, die eine Sakralisierung12 der Vereinigten Staaten anstrebte und im Kontext der religiö9
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Das Verhältnis der Mitgliedskirchen von NAE und ACCC betrug in den Gründungsjahren etwa 8:1. Vgl. Gary K. Clabaugh, Thunder on the Right: The Protestant Fundamentalists, Chicago 1974, S. 82. Exemplarisch verweise ich hier etwa auf die Officer’s Christian Fellowship (OCF) sowie den Far East Gospel Crusade (FEGC), der aus der Vereinigung der G.I. Gospel Hour und des Far Eastern Bible Institute hervorgegangen ist und seit 1981 unter der Bezeichnung SEND International firmiert. Vgl. Robert W. Spoede, More Than Conquerers: A History of the Officer’s Christian Fellowship, 1943-1983, Englewood 1993; Herbert J. Kane, A Global View of Christian Missions From Pentecost to the Present, Grand Rapids 1971, S. 201; Michael Snape, God and Uncle Sam. Religion and America’s Armed Forces in World War II, Woodbridge 2015, S. 241, 289, 494-505, 507; vgl. auch About OCF, (letzter Zugriff 10.1.2019); und History of SEND International, (letzter Zugriff 10.1.2019). Siehe bspw. William Inboden, Religion and American Foreign Policy, 1945-1960: The Soul of Containment, Cambridge 2008; Jonathan P. Herzog, The Spiritual-Industrial Complex: America’s Holy War Against Communism in the Early Cold War, New York 2011; T. Jeremy Gunn, Spiritual Weapons. The Cold War and the Forging of an American National Religion, Westport 2009; David S. Foglesong, The American Mission and the »Evil Empire«: The Crusade for a »Free Russia«, New York 2007. Ich orientiere mich hierbei an Herzog, The Spiritual-Industrial Complex (wie Anm. 11), S. 154 f., der mit dem Begriff der Sakralisierung eine Umkehr der Säkularisierung als »reendowment of religion with social, cultural, and political meaning on the societal level« beschreibt.
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sen Mobilisierung nunmehr gleichsam dem Zeitgeist entsprach.13 Die Eindringlichkeit und der Erfolg der neoevangelikalen Botschaft beruhten dabei nicht zuletzt auf Szenarien einer nuklearen Apokalypse und entsprechenden eschatologischen Deutungen bestimmter Bibelpassagen, die sich auch in den folgenden Jahrzehnten, vor allem unter evangelikalen Laien, einer großen Beliebtheit erfreuten.14 Währenddessen wurde religiöser Glaube in den Streitkräften zu einem zentralen Bestandteil der militärischen Indoktrinierung aufgewertet.15 Hier erwiesen sich wieder evangelikale Akteure wie das Moody Institute for Science (MIS) als nützlich, da sie aufwendig produzierte »Lehrmaterialien« für Character GuidanceLektionen des Militärs zur Verfügung stellten, die freilich eine oftmals explizit evangelikale Perspektive vermittelten. Auch im Koreakrieg waren evangelikale Akteure für das US-Militär wertvolle Partner. So verfügten Missionare über militärisch wertvolles Wissen, während die Arbeit von Hilfswerken wie World Vision im Kriegsgebiet den Status der Vereinigten Staaten in der einheimischen Bevölkerung verbesserte.16 Ab 1956 wurde das Office (ab 1962 Directorate) of Armed Forces Information and Education des Pentagon von John C. Broger geleitet, einem ehemaligen evangelikalen Missionar und Begründer der Far East Broadcasting Company (FEBC), die bei der Niederschlagung des philippinischen HukAufstandes unschätzbare Dienste geleistet hatte. So jedenfalls hielt es die »graue Eminenz« der amerikanischen Counterinsurgency-Strategen, General Edward G. Lansdale, später in seinen Memoiren fest.17 Broger, ein bestens vernetzter evangelikaler Kalter Krieger, entwickelte in dieser Funktion eine aus politischen und religiösen Elementen bestehende Ideologie des Kalten Krieges unter der Bezeichnung »Militant Liberty«.18 Er hatte seine Position im Pentagon bis in die 1980er Jahre inne. Ein jähes Ende fand jedoch beispielsweise die Karriere des Generals Edwin Walker, dessen Verbindungen zum fundamentalistischen Prediger Billy J. Hargis sowie zur rechtsextremen John Birch Society (JBS) ein Beispiel für den Einfluss des äußersten »rechten Randes« der evangelikalen Bewegung im Militär darstellen.19 Aus einer anfänglichen »strategischen Partnerschaft« zwischen der noch randständigen, subkulturellen evangelikalen Bewegung und dem Militär entwickelte sich eine zunehmende, wechselseitige Akzeptanz und Wertschätzung, die in der 13
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Angela Lahr, Millennial Dreams and Apocalyptic Nightmares: The Cold War Origins of Political Evangelicalism, New York 2007. Paul Boyer, When Time Shall Be No More: Prophecy Belief in Modern American Culture, Cambridge, MA 1999; vgl. auch Richard G. Kyle, Apocalyptic Fever: End-Time Prophecies in Modern America, Eugene, OR 2012. Siehe bspw. Anne C. Loveland, Character Education in the U.S. Army, 1947-1977. In: The Journal of Military History, 64 (2000), 3, S. 795-818; Lori Lyn Bogle, The Pentagon’s Battle for the American Mind: The Early Cold War, College Station 2004, S. 71-75. Kai Yin Allison Haga, Rising to the Occasion: The Role of American Missionaries and Korean Pastors in Resisting Communism throughout the Korean War. In: Religion and the Cold War: A Global Perspective. Ed. by Philip Muehlenbeck, Nashville 2012, S. 88-112. Edward G. Lansdale, In the Midst of Wars. An American’s Mission to Southeast Asia, New York 1972, S. 81. Bogle, The Pentagon’s Battle for the American Mind (wie Anm. 15), S. 127-131; vgl. auch Randall Balmer, The Encyclopedia of Evangelicalism, Louisville 2001, S. 87. Siehe bspw. Lee R. Chapman, The Strange Love of Dr. Billy James Hargis. In: This Land, 21 (2012), 3 (letzter Zugriff 10.1.2019).
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wachsenden Erkenntnis einer ideologischen und auch kulturellen Nähe begründet war. Die Annäherung zwischen diesen beiden Sphären äußerte sich etwa im wachsenden Status evangelikaler Religiosität im Offizierkorps, in dem Organisationen wie die Officer’s Christian Fellowship (OCF) steigende Mitgliederzahlen verzeichneten. Missionswerke wie die bereits 1934 gegründeten Navigators praktizierten ein Missionierungsprinzip von sich multiplizierenden »Gebetszellen« im Militär, deren Angehörige sich mit ihrem spartanischen, disziplinierten, auf Alkohol und »lästerliche Sprache« verzichtenden Lebensstil bewusst von der Militärkultur in der Wehrpflichtarmee abhoben. Sie wurden dafür verspottet, aber durchaus auch bewundert.20 Wie für so viele Tendenzen der kontemporären amerikanischen Gesellschaft stellte dann der Krieg in Vietnam den entscheidenden »Katalysator« im Hinblick auf den Einfluss evangelikaler Religiosität im Militär dar. Beginnend mit den 1960er Jahren verlor ein Teil der nichtevangelikalen protestantischen Kirchen Mitglieder, die zum Teil in evangelikale Denominationen wechselten.21 Dieser Prozess verstärkte sich, sobald ab Mitte der 1960er Jahre eine Antikriegsbewegung entstand, in der insbesondere theologisch liberale Protestanten und Katholiken eine wesentliche Rolle spielten.22 Die weitere Entwicklung im Militär lässt sich beispeislweise an der Zusammensetzung des Kaplanskorps nachvollziehen. Da Geistliche aus nichtevangelikalen Kirchen zunehmend den Dienst als Militärkaplan aufgrund ihrer Opposition zum Vietnamkrieg ablehnten, geriet das Quotensystem, nach dem die Streitkräfte die Kaplansposten besetzten und das die zivile religiöse Demografie widerspiegeln sollte, ins Ungleichgewicht. Eine steigende Zahl von Kaplansposten konnte nicht besetzt werden; die Streitkräfte waren indes qua Verfassung dazu verpflichtet, die Freiheit der Religionsausübung zu garantieren, wofür der Militärkaplan unentbehrlich war. Hier sprangen nun die evangelikalen Kirchen in die Bresche, die ihre Quoten um ein Vielfaches übertrafen. Evangelikale Kirchenführer, Prediger und Theologen positionierten sich weitgehend zugunsten des Krieges, oder zumindest nicht in Opposition zur Regierung.23 Den gottgegebenen Autoritäten sei Folge zu leisten, die vietnamesischen Christen müssten verteidigt werden, das US-Militär würde die weitere Missionierung in Südostasien schützen, wenn nicht sogar selbst vorantreiben – diese und weitere Argumentationen finden sich in der zeitgenössischen evangeli20 21
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Siehe Ditscher, Missionare in Uniform (wie Anm. 4), S. 45-48. Diesen Prozess bezeichnete der Historiker Mark Noll als »dramatic displacement from mainline to margins and from margins to mainline«. Siehe: Mark Noll, How the Religious Past Frames America’s Future. In: Faith, Freedom, and the Future. Religion in American Political Culture. Ed. by Charles W. Dunn, Lanham 2003, S. 19. Siehe bspw. George Bogaski, American Protestants and the Debate over the Vietnam War. Evil was Loose in the World, Lanham 2014; Michael B. Friedland, Lift Up Your Voice Like A Trumpet. White Clergy And The Civil Rights And Antiwar Movement, Chapel Hill 1998; Jill K. Gill, Embattled Ecumenism. The National Council of Churches, the Vietnam War, and the Trials of the Protestant Left, DeKalb 2001; Mitchell K. Hall, Because of Their Faith: CALCAV and Religious Opposition to the Vietnam War, Columbia 1990. Ditscher, Missionare in Uniform (wie Anm. 4), S. 55-84; David E. Settje, Faith and War. How Christians Debated the Cold and Vietnam Wars, New York 2011; Gregory D. Tomlin, Hawks and Doves. Southern Baptist Responses to Military Intervention in Southeast Asia, 1965-73, Diss., Southwestern Baptist Theological Seminary 2003; The Wars of America: Christian Views. Ed. by Ronald Wells, Macon 1991.
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kalen Literatur, in der Militärangehörige und Missionare Zeugnis ablegten vom Wirken Gottes an der »Jungle Frontier«.24 Als die Nation im Verlauf des Konfliktes in eine tiefe Krise stürzte und Moral und Disziplin in den Streitkräften einen traumatischen Tiefpunkt erreichten25, predigten Evangelikale die Hinwendung zu Gott umso nachdrücklicher – und umso erfolgreicher. Hochrangige Offiziere erklärten religiösen Glauben zu einem elementaren Bestandteil des Soldatenlebens. Symbolträchtig wurde der Prediger Billy Graham vom Verband der Alumni der Offizierakademie West Point 1972 für seinen »Dienst an der Nation« ausgezeichnet. Zwar existierte eine Minorität evangelikaler Kriegsgegner; zwar kursierte insgeheim unter so manchen Gläubigen das Unbehagen über die US-Kriegführung in Südostasien, doch mehrheitlich präsentierte sich der Evangelikalismus in jenen Jahren ultrapatriotisch, zum Teil gar militant. Die Militärführung nahm davon Kenntnis. Eine regelrechte Erweckungsbewegung erfasste Teile der Streitkräfte, die Militärakademien und das Pentagon. Angehörige des »Jesus Movement« strömten in die Streitkräfte, während andere Wehrpflichtige versuchten, ihren Wehrdienst zu vermeiden. Prayer Breakfasts, Bibelstudiengruppen und Gebetszirkel wurden zu einem verbreiteten Bestandteil des »military lifestyle«. Die Reorganisation der Streitkräfte zur Berufsarmee zementierte diese Entwicklung schließlich. Das Militär ist zur Rekrutierung auf dem »freien Markt« angewiesen, während sein Status bei einem Teil der amerikanischen Bevölkerung denkbar schlecht ist.26
Konsequenzen In den folgenden Jahrzehnten wurde die Verbindung von evangelikalem Eifer mit militärischer Macht weiter verfestigt. Dadurch wurde das Prinzip eines »kooperativen Pluralismus«27, das hinsichtlich der zahlreichen, in den Streitkräften vertretenen Religionsgemeinschaften praktiziert werden sollte, zusehends in Frage gestellt. Fanatisch aufgeladene Elemente unter den evangelikalen Militärangehörigen ordneten und ordnen die sozialen und rechtlichen Normen des US-Militärs ihrem Selbstverständnis als »Missionare in Uniform« unter. Dabei werden bestimmte militärische Restriktionen – etwa ein Verbot »aggressiver« Missionierung innerhalb 24
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»Jungle Frontier« lautete der Titel eines Magazins, das von 1955 bis 1966 von der evangelikalen Christian and Missionary Alliance (CMA) publiziert wurde und sich deren Missionierungsbemühungen in Vietnam und angrenzenden Ländern widmete. Ab 1966 wurde es unter dem Titel »Vietnam Today« publiziert. Die CMA war das erste evangelikale Missionswerk, das im frühen 20. Jh. auf dem Territorium des heutigen Vietnam aktiv wurde. So konstatierte etwa Colonel Robert D. Heinl (USMC) 1971 im Armed Forces Journal, dass die damaligen Zustände in den US-Streitkräften lediglich durch die Meuterei im französischen Heer 1917 und den Zusammenbruch der zaristischen Armee 1917 übertroffen worden wären. Vgl. Robert D. Heinl, The Collapse of the Armed Forces. In: Armed Forces Journal, 7.6.1971, S. 30-37, (letzter Zugriff am 10.1.2019). Ditscher, Missionare in Uniform (wie Anm. 4), S. 77-84. Anne Loveland, Change and Conflict in the U.S. Army Chaplain Corps since 1945, Knoxville 2014, S. 218, 220.
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des Militärs28 – innerhalb der Kommandokette offenbar nicht immer konsequent durchgesetzt. Die dadurch hervorgerufenen Konflikte treten im Militärs und im Rahmen amerikanischer Auslandseinsätze zutage.29 Evaluierungsprogramme wie »spiritual fitness« werden nicht zuletzt von militärinternen Kritikern als Vehikel für die Verbreitung evangelikaler Religiosität im Militär angesehen.30 Sie verdeutlichen den zunehmenden, gar dominanten Einfluss evangelikaler Protestanten in der militärischen Hierarchie, auf die distinkte Militärkultur und die Personalpolitik. Neben den unmittelbaren Problemen, die mit dieser Entwicklung einhergehen, sind zudem deren längerfristige Konsequenzen relevant. Diesbezüglich konstatieren auch einige militärwissenschaftliche Arbeiten von Bildungseinrichtungen wie dem U.S. Army War College und dem Command and General Staff College, dass diese Entwicklung sowohl das zivil-militärische Verhältnis als auch strategische Entscheidungsfindungsprozesse beeinträchtigen kann.31 Nicht zuletzt die aktuelle strategische Lage im Nahen Osten, einer Region, der im evangelikalen Glaubensverständnis eine enorme religiöse Bedeutung zukommt, verweist auf die Brisanz dieser Schlussfolgerung. 28
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Siehe ebd., S. 169-214; vgl. auch Chris Carroll, Pentagon: OK to Talk About Faith, But Not to Push Beliefs on Others. In: Stars and Stripes, 2.5.2013, (letzter Zugriff 10.1.2019). Beispielsweise haben die gemeinnützige Military Religious Freedom Foundation (MRFF) sowie einzelne Militärangehörige in den letzten Jahren eine Reihe von Prozessen gegen das US-Verteidigungsministerium bzw. den Verteidigungsminister geführt, weil ihnen die Duldung oder gar Förderung religiöser Diskriminierung durch evangelikale Militärangehörige gegenüber nichtevangelikalen Militärangehörigen vorgeworfen wird. Die MRFF berichtet ferner über eine Verdoppelung der Beschwerden seitens Militärangehöriger seit dem November 2016: Nina Burleigh, Trump Effect Inspires Radical Christians in Military. In: Newsweek, 22.5.2017, (letzter Zugriff 10.1.2019). Weitere Informationen finden sich auf der Website der MRFF: (letzter Zugriff 10.1.2019). Einen Überblick über interne Konflikte sowie Zwischenfälle bei Auslandseinsätzen geben Ditscher, Missionare in Uniform (wie Anm. 4), S. 112-125; sowie Kim P. Hansen, Military Chaplains and Religious Diversity, New York 2012, S. 165-202. Siehe zum Beispiel Joseph L. Conn, Misguided Military Maneuver. Army’s ›Spiritual Fitness‹ Program Improperly Proselytizes, (letzter Zugriff 23.5.2017); Barbara B. Hagerty, Army’s ›Spiritual Fitness‹ Test Angers Some Soldiers, (letzter Zugriff 26.2.2019). Siehe bspw. Christopher R. Philbrick, Lt.Col. (USA), Civil-Military Relations. Has the Balance Been Lost?, U.S. Army War College 2003, (letzter Zugriff 10.1.2019); William Millonig, Lt.Col. (USAF), The Impact of Religious and Political Affiliation on Strategic Military Decisions and Policy Recommendations, U.S. Army War College 2006, (letzter Zugriff 10.1.2019); Brian L. Stuckert, Maj. (USA), Strategic Implications of American Millennialism, U.S. Army Command and General Staff College, 2008, (letzter Zugriff 10.1.2019); Barbara K. Sherer, Col. (USA), Chaplaincy at a Crossroads: Fundamentalist Chaplains in a Pluralistic Army, U.S. Army War College 2011, (letzter Zugriff 10.1.2019).
Siebenter Teil Politik und Religion
Hans-Peter Großhans
Religion und Politik. Der Beitrag der Reformation zur Entspannung eines spannungsvollen Verhältnisses Welche Spuren der Reformation der westlichen Christenheit können wir 500 Jahre später in unserem Land, in unserer Gesellschaft und Kultur feststellen – über die Existenz zweier großer christlicher Kirchen, der römisch-katholischen Kirche und der evangelischen Kirche, hinaus? Wie hat die Reformation unser heutiges Denken und unsere Vorstellungen gerade im Blick auf den öffentlichen und politischen Raum geprägt? Zu Beginn des Jahres 2017 war in der überregionalen Presse wiederholt zu lesen, dass in der diesjährigen Auseinandersetzung mit der Reformation die Kirchenhistoriker dominierten und die Stimme der Systematischen Theologie vermisst werde, also derjenigen, die sich mit den Ideen auseinandersetzen, die nachhaltig wirken und unser Denken prägen, weil sie eben richtig sind oder zumindest richtig sein könnten und deshalb auch noch heutzutage zu beachten wären. Ich selbst bin in den vergangenen fünf Jahren immer wieder zu theologischen Tagungen oder kirchlichen Fortbildungen im »globalen Süden«, nach Afrika und Asien, eingeladen worden, um Luthers Theologie zu erläutern. Der Kontext waren überwiegend evangelisch-lutherische Kirchen mit ihren theologischen Einrichtungen, die aus europäischen oder nordamerikanischen Missionen hervorgegangen sind. Die Geschichte dieser Kirchen und Christen mit der Reformation ist keine 500 Jahre alt, sondern vielleicht 150 Jahre oder weniger. Im Grunde haben diese evangelisch-lutherischen Kirchen die Reformation in Form der Theologie der Missionsgesellschaften des 19. Jahrhunderts kennengelernt. Dabei spielten Luther und die anderen Reformatoren eigentlich kaum eine Rolle. Luther und seine Schriften sind in diesen Kirchen und ihren theologischen Ausbildungsstätten zum Teil erst in der Vorbereitung des Reformationsjubiläums in den Blickpunkt des Interesses gerückt. Bei den diversen Seminaren und Vorträgen interessierten nicht so sehr die historischen Zusammenhänge von Luthers Denken, sondern die Frage, was von ihm für das Leben im Hier und Heute von Relevanz ist. So las und diskutierte ich beispielsweise im September 2016 fünf Tage in Simbabwe in einer alten Missionsstation mit einer größeren Gruppe von Pfarrerinnen und Pfarrern Texte des Reformators zum Kirchenbild und zu seiner Zwei-Reiche-Lehre. Letzteres interessierte ganz besonders unter dem Gesichtspunkt, was von Luther in sozialethischer und politischer Hinsicht im Blick auf eine Erneuerung Simbabwes nach Robert Mugabe zu lernen ist. Wie soll sich die evangelisch-lutherische Kirche hier positionieren und einbringen?
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Bietet die reformatorische Theologie dafür interessante Konzeptionen und Ideen an? Für evangelische Christen und ihre Kirchen in der südlichen Hemisphäre geht es beim Reformationsgedenken weniger um eine Aufarbeitung der Vergangenheit als vielmehr darum, den Geist der Reformation in der Gegenwart aufzunehmen und im jeweiligen Kontext produktiv werden zu lassen. Vielfach lechzen ganze Gesellschaften insgesamt nach so etwas wie einer Reformation, nach einer grundsätzlichen Erneuerung. Für die evangelisch-lutherischen Kirchen in der südlichen Hemisphäre betrifft dies natürlich in erster Linie ihr eigenes religiöses, geistliches Leben: ihr Leben aus der Heiligen Schrift, inspirierende Gottesdienste, ein diakonisches Gemeindeleben, die Mission ihrer Mitmenschen und ihrer Lebenswelt usw. Wichtig sind dabei der Lebensbezug und die Lebensdienlichkeit des Glaubens. Notwendigerweise kommen häufig die gesellschaftliche und vor allem die oft höchst unbefriedigende politische und ökonomische Situation in den Blick. Und so stellt sich die Frage, wie sich Christen und insgesamt Kirchen zu Politik und Ökonomie verhalten sollen und was sie – durchaus auch als kleine Kirchen – zur Verbesserung von Politik und Ökonomie in ihren Ländern beitragen können. Die Situation ist natürlich von Land zu Land eine andere und auch die Möglichkeiten von Christen und Kirchen, sich in politische Diskurse einzubringen, sind sehr verschieden: Das ist für evangelische Christen in Simbabwe ungleich leichter als zum Beispiel in Malaysia, wo der Islam Staatsreligion ist, es aber auch evangelisch-theologische Ausbildungsstätten gibt, wie ganz im Osten in Kota Kinabalu das Sabah Theological Seminary, an dem 2012 sogar ein LutherStudienzentrum eingerichtet wurde. Meines Erachtens hat Luthers Theologie gerade für das weite Feld von Politik und Religion bzw. für die religiöse und theologische Auffassung des Politischen eine auch heute ungebrochen attraktive und relevante Konzeption anzubieten, die nicht nur für das Kernland der Reformation von Interesse, sondern im Grunde von globaler Bedeutung ist; dies umso mehr, weil sich das Gegenstück zu Luthers Auffassung vom Verhältnis von Religion und Politik weltweit auf dem Vormarsch befindet: eine religiöse Politik.
Religiöse Politik In großen Teilen Europas ist die Bedeutung von Religion für die Politik in den letzten 100 Jahren überwiegend ignoriert worden, obwohl es weithin einen nachhaltigen Einfluss der verschiedenen konfessionellen Formen des Christentums auf die Politik in den Ländern Europas gab. In der explizit öffentlichen politischen Diskussion spielte das Thema Religion jedenfalls kaum eine Rolle. Die Gründe dafür waren vielfältig und je nach Region und Land unterschiedlich. Spätestens seit 2001 ist das anders. Seitdem kann man im Blick auf viele europäischen Gesellschaften zwar nicht von einer »Renaissance der Religion«, aber doch von einer »Renaissance der öffentlichen Diskurse über Religion« sprechen. Eine Renaissance der Religion gibt es für die Beobachter der globalen Situation der Religion schon deutlich länger. Sie wurde jedoch in Deutschland und vielen Teilen Europas aus ideologischen Gründen ignoriert und war auch nicht öffentlich sichtbar, obwohl mit den Migrationsbewegungen nach Europa (des-
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gleichen innerhalb Europas) gerade die Gesellschaften Westeuropas mit vielfältigen Religionen konfrontiert wurden.1 Im Verhältnis zu der weltweit sehr lebendigen religiösen Situation erscheint manchen Beobachtern der europäische Weg der Säkularisierung als die große Ausnahme, der durch eine Reihe spezifischer Gründe zu erklären sei.2 Die Globalisierung mit ihrem Waren-, Dienstleistungs- und Informationsaustausch sowie den Reise- und Migrationsbewegungen bringt für Europäer vielfältige neue Begegnungen mit den außerhalb Europas praktizierten Religionen mit sich, was zu einer Intensivierung der Diskussionen über Religion in Europa selbst geführt hat. Durch Migranten, die es nach aufgeklärtem europäischem Selbstverständnis um der Authentizität der individuellen Biografien und der Dignität anderer Kulturen willen zu respektieren gilt, begegnet uns eine Intensität religiöser Bindung, die von den meisten Menschen im modernen Europa nicht mehr für möglich gehalten worden ist. Zudem wird hierzulande mit Erstaunen registriert, dass – teilweise auch in Europa – große christliche Aufbruchsbewegungen stattfinden – die im Übrigen zum größten Teil der evangelischen Christenheit zuzurechnen sind.3 Diese neue Aufmerksamkeit für das Thema »Religion« in der westlichen Welt ist durch den religiösen Terrorismus im Jahr 2001 massiv gesteigert worden bzw. überhaupt erst entstanden. So wurde auch das Phänomen einer schon deutlich länger existierenden »religiösen Politik« sichtbar und zu Recht als politische 1
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In der Neuzeit waren andere, nicht-christliche Religionen zunächst verdeckt präsent. Es begann dann eine intensive Beschäftigung mit nichtchristlichen Religionen unter Gelehrten und Schriftstellern. Bei Gotthold Ephraim Lessing oder Johann Wolfgang von Goethe kann man eine intensive Beschäftigung mit dem Islam und der persischen sowie der arabischen Dichtung beobachten. Doch kommen ebenso indische, chinesische und japanische Texte in den Blick. Hinduistisch-buddhistisches Gedankengut, teilweise auch konfuzianisches hält in Europa Einzug und schlägt sich unter anderem in der Gründung von Gesellschaften nieder – man denke z.B. an die Anthroposophie (Rudolf Steiner). Im 20. Jahrhundert werden Elemente und Praktiken nichtchristlicher Religionen (z.B. Meditationen) sogar im europäischen Christentum positiv rezipiert. Durch den Kolonialismus und später durch die globalen Migrationsbewegungen bedingt gibt es ab dem 19. Jahrhundert verstärkt Einwanderungen von Hindus, Buddhisten, Sikhs und Muslimen nach Westeuropa. Bis zum Ende des 20. Jahrhundert kommt es zu einer beträchtlichen Zunahme von Menschen nichtchristlicher Religionszugehörigkeit in Westeuropa, sodass in Teilen West-, Nord – und Mitteleuropas eine multikulturelle Gesellschaft entstanden ist. In manchen Großstädten sind nahezu alle religiösen Traditionen präsent: Moschee-Vereine, hinduistische Tempelgemeinden, buddhistische Pagodengemeinden, Sikh-Gurdwara-Gemeinden, afrikanische und indianische Traditionen, die sogenannten Jugendreligionen, esoterische Gruppen usw. Sie tragen neben den christlichen und jüdischen Gemeinden zum religiösen Leben in den Großstädten Europas bei. So erscheine er zum einen »als Folge einer langen historischen Tradition eines autoritär-hierarchischen Staatskirchentums mit der damit einhergehenden Unterdrückung spiritistischer Formen«, und zum andern erkläre er sich »durch den Ausbau des Wohlfahrtstaats, der weder das Bedürfnis nach religiöser Sinngebung noch das nach kirchlich-religiöser Hilfestellung fördere.« Martin Rieger, Säkularisierung, Privatisierung oder Resakralisierung? In: Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, S. 11-16, hier S. 14. Der britische Religionssoziologie David Martin, Tongues of Fire. The Explosion of Protestantism in Latin America, Oxford 1992, sprach von einer explosionsartigen Ausbreitung des Protestantismus in Lateinamerika.
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Bedrohung in der westlichen Welt analysiert. Eine kluge, gewissermaßen interne Analyse von »religiöser Politik« und der damit verbundenen Problematik hat der bosnische Philosoph Samir Arnautovic 2010 mit Bezug auf sein Heimatland Bosnien-Herzegowina und die westbalkanischen Staaten insgesamt publiziert.4 Nach Arnautovics Beobachtung wird »die Politik [...] ideologisch in der Religion begründet, während das religiöse Verhältnis keine Verpflichtung gegenüber dem politischen Handeln hat, da dessen Position, im Hinblick auf die Begründung im Transzendentalen, vorherrschend gegenüber der gesellschaftlichen Realität ist«.5 Arnautovic beschreibt die sozialen und religiösen Mechanismen, die diese Dominanz der Religion über die Politik ermöglichen: etwa die Gewinnung von politisch Aktiven in den religiösen Institutionen oder die besondere religiöse Stellung, die sich Geistliche und Politiker gegenseitig zuschreiben. Aus philosophischer Sicht ist dabei das zentrale Problem solcher Politik bzw. dieses religiös-politischen Konzeptes, dass »die Moderne ausschließlich im technologischen Sinn« verstanden wird, »während der begrifflich-gedankliche Diskurs dabei kaum berührt wird.«6 Formal gibt es demokratische, gewaltenteilige und rechtsstaatliche Strukturen, faktisch wird von den relevanten Akteuren jedoch vormoderne – personal orientierte, netzwerkhafte und religiöse – Politik gemacht. Fast ein wenig sarkastisch fügt Arnautovic die Beobachtung hinzu: »Daher vollzieht sich in den Ländern des Westbalkans eine Auflösung im Politischen sowohl in Bezug auf den Staat als auch in Bezug auf die Religionsgemeinschaften, die diese Politik unterstützen, während es gleichzeitig Menschen gibt, die im vollkommenen Elend leben und denen niemand hilft.«7 Nach Arnautovic gehört es zur religiösen Politik in seinem Land, die in Variationen von allen drei dortigen Religionsgemeinschaften betrieben wird, dass das Elend in seiner Permanenz erhalten und gefördert wird. Politik wird nicht als Mittel zur Behebung des Elends verstanden, sondern sie bekommt die »Rolle der Wahrheitssucherin« zugewiesen, auf deren Weg Bedingungen geschaffen werden sollen »für eine bessere, nicht-reale und grenzenlose Welt«8 – also eine religiös konzipierte Welt. Dies alles hat fatale Folgen für die Gesellschaft und ihre Bürgerinnen und Bürger, die Arnautovic deutlich benennt. Wenn wir genau hinschauen, finden wir eine solche religiöse Politik – natürlich in vielfältigen Variationen – in viel zu vielen Gesellschaften der Gegenwart. Nur ein Beispiel will ich noch nennen. Eines der Forschungsprojekte an meinem Institut beschäftigt sich mit dem Zusammenleben von Buddhisten und Christen in Myanmar und damit in einem der fünf asiatischen Länder, die vom TheravadaBuddhismus geprägt sind: Sri Lanka, Thailand, Laos, Kambodscha und eben Myanmar. Hierbei handelt es sich um eine Form des Buddhismus mit einem klaren politischen Konzept. Der langjährige Bürgerkrieg der buddhistischen 4
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Samir Arnautovic, Religiöse Politik. Der anti-integrative Diskurs als Diskurs einer zu spät kommenden Vormoderne – Südeuropäische Bemerkungen zur europäischen Kulturpolitik. In: Integration religiöser Pluralität. Philosophische und theologische Beiträge zum Religionsverständnis in der Moderne. Hrsg. von Hans-Peter Großhans und Malte Dominik Krüger, Leipzig 2010, S. 31-38. Ebd., S. 33. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33 f. Ebd., S. 34.
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Singhalesen gegen die hinduistischen und christlichen Tamilen in Sri Lanka ist letztlich nur vor dem Hintergrund der politischen Dimensionen des TheravadaBuddhismus zu verstehen – genauso wie die seit dem Ende des Bürgerkriegs 2009 stattfindende imperiale Besiedlung der tamilischen Siedlungsgebiete mit buddhistischen Klöstern. Die Geduld, mit der die Bevölkerungen in diesen Ländern ihre schwer erträglichen Regierungen tapfer aushalten, ist nicht nur in der buddhistischen Spiritualität begründet, sondern auch in der sozialen, gesellschaftlichen Konstruktion des Theravada-Buddhismus, die den faktisch Machthabenden eine hohe religiöse Rolle zuweist und ihre Machtausübung im religiösen Gesamtsystem legitimiert. Es ließen sich noch viele weitere Beispiele »religiöser Politik« ganz unterschiedlicher Art in unserer heutigen Welt präsentieren. »Religiöse Politik« mit ihrer hochproblematischen Verbindung von Religion und Politik findet sich also nicht nur in der islamisch geprägten Welt, die wir in den letzten Jahren besonders intensiv in den Blick genommen haben. In diesen Ländern nehmen wir das gewissermaßen als gottgegeben hin, obwohl unter dieser religiösen Politik vor allem die dort lebenden christlichen Minderheiten aufgrund der damit häufig verbundenen repressiven Toleranz besonders zu leiden haben.
Das Verhältnis von Politik und Religion bei Martin Luther Das Zentrum von Luthers Vorstellung vom Verhältnis von Politik und Religion bildet seine Zwei-Reiche-Lehre. Manchem mag dies heute als ein Beitrag zur Selbstsäkularisierung des Christentums erscheinen. Im Kontext von Luthers Theologie handelt es sich jedoch um eine religiöse, theologische Konzeption. Besonders im Vergleich mit anderen religiösen Auffassungen vom Verhältnis von Politik und Religion wird deutlich, dass Luthers Auflösung der diesem Verhältnis immanenten Spannung bzw. seine Differenzierung von Politik und Religion in seiner Theologie und seinem evangelischen Verständnis von Religion begründet war. Ich möchte dies an mehreren Aspekten von Luthers Theologie erläutern. Die erst in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts so genannte lutherische Zwei-Reiche-Lehre schloss zwar an die Unterscheidung eines Reiches Gottes und eines weltlichen Reiches des Kirchenvaters Augustinus aus dem 5. Jahrhundert und an diverse Theorien des Mittelalters an, in denen Politik und Religion einander zugeordnet wurden. Doch Luthers Lehre von den zwei Reichen oder zwei Regimenten war ganz anders ausgerichtet. So wird im Augsburger Bekenntnis von 1530 klargestellt, dass »die zwei Regiment, das geistlich und weltlich, nicht in einander [zu] mengen« sind9, was dadurch unterstrichen wird, dass das geistliche Regiment der Kirche ganz ohne jede Gewalt ausgeübt werden soll. Die alte ZweiSchwerter-Theorie war damit obsolet, weil zu der geistlichen Gewalt das Schwert auch in bildlichem Sinne nicht mehr passte. Das Schwert als Ausdruck möglicher Gewaltausübung gehört nach Luther ganz in die Hand des weltlichen, staatlichen Regiments. Das ganze Konzept wird von ihm kurz und klar in der Schrift »Ob 9
Confessio Augustana (CA) 28, Bekenntnisschriften der Lutherischen Kirche (BSLK), S. 122.
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Kriegsleute auch in seligem Stande sein können« aus dem Jahr 1526 formuliert. Nach Luther hat Gott »zweyerley regiment unter den menschen auff gericht. Eins geistlich, durchs wort und on schwerd, da durch die menschen sollen frum und gerecht werden, also das sie mit der selbigen gerechtickeit das ewige leben erlangen. Und solche gerechtikkeit handhabet er durchs wort, wilchs er den predigern befolhen hat. Das ander ist ein weltlich regiment durchs schwerd, auff das die ienigen, so durchs wort nicht wollen frum und gerecht werden zum ewigen leben, dennoch durch solch weltlich regiment gedrungen werden, frum und gerecht zu sein für der welt. Und solche gerechtickeit handhabet er durchs schwerd« bzw. durch das »ampt des schwerds.«10 Beide, das geistliche und das weltliche Regiment, sind für Luther die höchsten Gaben Gottes auf Erden; gerade deshalb sind sie auch klar voneinander zu unterscheiden und nicht miteinander zu vermischen – weder zu einer religiösen, ideologischen Politik noch zu einer politisch gesteuerten Religion. So ist es dem religiösen Regiment, der kirchlichen Macht, untersagt, »in ein frembd Amt [zu] fallen; soll nicht Konige setzen und entsetzen, soll weltlich Gesetz und Gehorsam der Oberkeit nicht aufheben oder zurruten [zerrütten], soll weltlicher Gewalt nicht Gesetze machen.«11 Freilich, Luther und die reformatorische Theologie wären missverstanden, wenn man aus dieser Abgrenzung von Politik und Religion, von Staat und Kirche folgern würde, dass die Religion ganz unverbunden mit Staat und Gesellschaft sein sollte und der religiöse, kirchliche Bereich des Lebens am besten beziehungslos zu dem staatlich-politischen Bereich des Lebens verstanden würde. Mit einem solchen Missverständnis der reformatorischen Zwei-Reiche-Lehre haben Teile des Luthertums auch die nationalsozialistische Diktatur unterstützt. Und »im real existierenden Sozialismus haben etliche Hoftheologen der DDR sich in einer analogen, den diktatorischen Machtmissbrauch vor kirchlicher Einrede bewahrenden Weise auf die Zwei-Reiche-Lehre berufen.«12 Die Intention von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die besser als Zwei-RegimenteLehre zu bezeichnen ist, war nicht die Aufteilung der Welt bzw. des Lebens von Menschen in zwei voneinander abgetrennte Bereiche der Politik und der Religion. Vielmehr wollte der Reformator damit die bisher verborgene Einheit der Welt zur Geltung bringen, und zwar in der Weise, dass Gott über die gesamte Welt herrscht, doch diese Herrschaft auf unterschiedliche Weise ausübt: einerseits durch das Gesetz (in der Gestalt des Staates) und andererseits durch das Evangelium (in der Gestalt der Kirche). Es ist geradezu eine Pointe des Christentums, die durch die Reformation neu betont wurde, dass die Trennung der Welt in profane und sakrale Bereiche grundsätzlich aufgehoben ist. Menschen können Gott nicht nur im Tempel, in Kirchen oder anderen Kultstätten dienen, sondern überall in der Welt. Und sie können Gott nicht nur durch heilige Opfer und religiöse Rituale dienen, sondern durch alles, was sie tun, wenn sie es in der richtigen, gottgemäßen Weise tun.
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Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526), WA 19, S. 629. CA 28, BSLK, S. 122. Eberhard Jüngel, Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Die Trennung der Mächte in der Reformation. In: Ganz werden. Theologische Erörterungen V. Hrsg. von Eberhard Jüngel, Tübingen 2003, S. 137-157, hier S. 144.
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Durch die zwei Regimente übt Gott seine Herrschaft in der Welt auf zweierlei Weise aus: im weltlichen Regiment politisch durch das Gesetz mit seinen Forderungen, das zum Erhalt des Lebens und der Sicherung von Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit allgemein durchgesetzt werden will; im geistlichen Regiment in der Gemeinschaft der Glaubenden religiös durch das Evangelium, das eine Einladung ins Himmelreich und das Versprechen ist, dass Gott treu sein wird. Das Gesetz ist durch die Vernunft nachvollziehbar; das Evangelium dagegen ist zu glauben und bedarf des Vertrauens, das höher ist alle Vernunft (das ist im Falle Gottes nicht anders als zwischen Menschen). Für Luther war es wichtig, zwischen Gesetz und Evangelium bzw. Verheißung (oder auch Versprechen) klar zu unterscheiden, desgleichen zwischen Vernunft und Glauben. Deren Verwechslung war und ist die Hauptursache für das Zwielicht im Leben: wenn vertraut werden soll, wo es eigentlich um vernünftige Argumente und um Wissen geht, oder umgekehrt, wenn Wissen und vernünftige Argumente verlangt werden, wo es um Vertrauen geht. Zu ähnlicher Konfusion kommt es, wenn da, wo das Leben durch Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit rechtsstaatlich durch Gesetze gesichert werden sollte, Verheißungen, Versprechungen und schöne Hoffnungen an deren Stelle treten, oder wenn umgekehrt da, wo es um Verheißungen, Versprechungen und Hoffnungen im Leben geht, gesetzliche Regelungen verlangt werden, um das Leben eindeutig abzusichern. Ein schönes Beispiel für solche Konfusionen sind die Verfassungen zahlreicher Staaten, in denen die Menschenrechte zur prosaischen Einleitung zählen, die eine Verheißung und ein Versprechen fürs zukünftige Leben zum Ausdruck bringen, die jedoch vor Gericht keinen Cent wert sind und in keiner Weise das konkrete Recht in diesen Staaten regulieren und normieren. Und so ist aus der Sicht der lutherischen Zwei-Regimente-Lehre eine »religiöse Politik« ein Unsinn und Teil der Verwirrung, die in Luthers dramatischer Bildersprache ausgedrückt vom Teufel oder zumindest von Dämonen verursacht ist, um das Zwielicht in der Welt zu mehren. Zum besseren Verständnis der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre können wir auch den moderneren Begriff der Öffentlichkeit verwenden. Wir alle müssen uns in der Regel für das, was wir tun, auch vor der Öffentlichkeit verantworten. Dabei lasse ich unberührt, dass es »die« Öffentlichkeit nicht gibt, sondern diese immer nur in einer Pluralität von Öffentlichkeiten vorhanden ist, in denen es ganz verschiedene »Logiken« der Meinungsbildung gibt. Jedenfalls werden Menschen vor der wie auch immer zustande kommenden gesellschaftlichen Öffentlichkeit zur Verantwortung gezogen. Wer wüsste dies nicht besser als die Bundeswehr. Aus der Sicht der Theologie gibt es neben der gesellschaftlichen Öffentlichkeit – der Öffentlichkeit der Welt – ebenso eine Öffentlichkeit vor Gott. Auch dort werden Menschen zur Verantwortung gezogen, und auch dort wird geurteilt über das, was wir tun und sind. Für das Verständnis der lutherischen ZweiReiche-Lehre ist entscheidend, wie in der Öffentlichkeit vor Gott unser hiesiges Leben beurteilt wird, das wir unter den beiden von Gott gegebenen Regimenten Politik bzw. Staat und Religion bzw. Kirche führen. Im Blick auf die religiöse Existenz kommt es aus der Sicht Gottes darauf an, seinen Verheißungen und Versprechungen zu glauben: dass meine Sünden vergeben sind; dass ich als Kind Gottes an seinen Tisch und in sein himmlisches Reich eingeladen bin; dass Gott
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mir Leben und Zukunft gewährt, wenn ich hier auf Erden keine Hoffnung mehr habe; dass ich der Macht der Liebe vertrauen darf. Wenn wir auf die politische, weltliche Existenz schauen, wie sie in der Öffentlichkeit vor Gott in den Blick kommen mag und dort zu verantworten ist, dann entscheidet sich hier die Differenz zu den Verwirrungen einer »religiösen Politik«. Denn diese lebt davon, dass die Politik vor Gott nach Gesichtspunkten zu verantworten ist, die für die religiöse Existenz gelten. Die lutherische Konzeption ist genau an diesem Punkt grundsätzlich anders. Sie behauptet aus theologischen Gründen, dass Gott den Menschen in seinen weltlichen Lebenszusammenhängen gerade nicht nach überzeitlichen Gesichtspunkten beurteilt, sondern danach, ob er in Politik und Gesellschaft vernünftig agiert und das Notwendige tut oder veranlasst. Denn die Vernunft ist die Gottesgabe an den Menschen, um die Welt zu erkennen und um die Welt zu gestalten. Vernünftig ist, was dem gegenwärtigen Stand intellektueller Einsicht entspricht und was sich nachvollziehbar in der Gemeinschaft von Menschen vermitteln lässt, die eine Gesellschaft bilden, ja, was selbst außerhalb der eigenen Gesellschaft vernünftig nachvollziehbar erscheint. An diesem Punkt tritt häufig das Missverständnis auf, dass das evangelische Verständnis des Zusammenhangs von Politik und Religion als eine Vorwegnahme der Säkularisierung verstanden wird bzw. als ein Rückzug vor der Säkularisierung auf einen kirchlichen bzw. religiösen Binnenraum. Dieses Verständnis wäre zutreffend, wenn es im lutherischen Modell nur um die Unterscheidung einer Verantwortung vor der Öffentlichkeit der Welt bzw. Gesellschaft und einer Verantwortung vor der Öffentlichkeit Gottes ginge. Dann würde das ganze weltliche Leben aus der Öffentlichkeit Gottes entfernt und wäre dort nicht mehr zu verantworten. Doch das lutherische Modell hält an der Verantwortung des ganzen Lebens in der Öffentlichkeit vor Gott fest. Gerade vor Gott gilt im Blick auf das weltliche Leben, dass es nach grundsätzlich anderen Gesichtspunkten von Gott beurteilt wird als die religiöse Existenz von Menschen. Deshalb ist klar zwischen Vernunft und Glaube, zwischen Gesetz und Evangelium zu unterscheiden. So hat Luther die Vernunft in Fragen des Glaubens für unbrauchbar, ja geradezu für kontraproduktiv gehalten, während er die Vernunft in allen weltlichen Angelegenheiten nicht hoch genug preisen und würdigen konnte. In einer Disputation über den Menschen im Jahr 1536 lobte er, »dass die Vernunft die Hauptsache von allem ist und vor allen übrigen Dingen des Lebens das Beste und etwas Göttliches. Sie ist die Erfinderin und Lenkerin aller [freien] Künste, der Medizin, der Rechtswissenschaft und alles dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Ruhm von Menschen besessen wird [...] Auch die Heilige Schrift setzt sie als eine solche Herrin über die Erde, die Vögel, die Fische, das Vieh ein, indem sie sagt: ›Herrscht!‹ usw. Das heißt, sie soll eine Sonne und eine göttliche Macht sein, gegeben um diese Dinge in diesem Leben zu verwalten.«13 Das evangelische, speziell lutherische Insistieren auf der Vernünftigkeit von Politik und insgesamt aller Bereiche des weltlichen Lebens ist durch und durch theologisch und insofern religiös begründet. Es gehört zur evangelischen Fröm13
Martin Luther, Disputation über den Menschen (1536, Thesen 4–8). In: Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd 1. Hrsg. von Wilfried Härle, Leipzig 2006, S. 663-669, hier S. 665.
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migkeit, das weltliche Leben nicht speziell religiös gestalten zu wollen, sondern vernünftig – und dafür dann auch hart zu arbeiten und zu studieren. Doch wie steht es mit einer konkreten und konstruktiven Verbundenheit des religiösen Lebens mit dem politischen und gesellschaftlichen Leben? Welche Auswirkungen hat eine religiöse Existenz eines Christen auf sein Leben in Politik und Gesellschaft? Aus der Sicht eines glaubenden Menschen sind dies abstrakte Fragen, weil beides, das Religiöse und das Politische, in der eigenen Existenz verbunden ist. Im eigenen Leben bildet beides eine Einheit, auch in der geglaubten Herrschaft Gottes über alles, was ist. Diese Herrschaft entfaltet sich eben in den zwei Regimenten: im geistlichen Regiment Gottes, das Menschen zu ihrem ewigen Heil führen will, und im weltlichen Regiment Gottes, das darauf abzielt, das Leben von Menschen in Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zu bewahren. Gleichwohl sind die Fragen an die evangelische Position nach der Wechselwirkung des Religiösen und des Politischen sinnvoll. Dazu muss in den Blick genommen werden, was nach evangelischer Auffassung die besondere religiöse Existenz eines Menschen ausmacht. Nach evangelischer Auffassung ist die angemessene religiöse Existenz eines Menschen nicht am Gesetz orientiert, sondern am Evangelium, das gewissermaßen das große Versprechen Gottes ist, einem Menschen unbedingt treu zu bleiben, dem ein Mensch nur in Glauben und Vertrauen entsprechen kann. Im Evangelium wird der Mensch nicht mit Forderungen konfrontiert, sondern mit der Zusage einer verlässlichen Grundbeziehung Gottes zu ihm, die eine Analogie in der Beziehung eines Menschen zu Vater oder Mutter hat. Das Evangelium ist sozusagen eine Einladung Gottes an den Menschen zu einer stabilen Grundbeziehung inmitten wechselnder Zeiten, zu einer Heimat inmitten permanenter Herausforderungen. »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken« – so lautet die Einladung Jesu Christi an alle, die täglich im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen und mit ihrer Arbeit und ihrem Dienst das Leben nicht nur zu bewahren helfen, sondern auch zu einem Leben in Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit beitragen. Insofern geht es nach evangelischem Verständnis im Glauben, im religiösen Leben, um eine wohltuende Unterbrechung des vom Gesetz bestimmten alltäglichen, von Arbeit erfüllten weltlichen Lebens. Im geistlichen Regiment und religiösen Leben soll der Mensch an der Ruhe Gottes nach den sechs Tagen der Schöpfung der Welt teilhaben: Am siebten Tage ruhte Gott. Das geistliche Regiment dient der Aufgabe, Menschen in die Gemeinschaft mit Jesus Christus zu versetzen und ihnen so an der ewigen Seligkeit eines Lebens mit Gott Anteil zu geben. Wer glaubend dieser Einladung Jesu Christi folgt, der kann ablegen, was ihn im alltäglichen Leben beschwert und was er mitbringt an Schuld, die er vor Gott nicht rechtfertigen kann. Die Vergebung der Schuld war für Luther ein zentrales Element christlichen Lebens im Zusammenhang mit dem weltlichen. Insofern wird im religiösen, geistlichen Leben nicht nur die wohltuende Erfahrung von Ruhe inmitten eines unruhigen Lebens in Aussicht gestellt, sondern auch die Befreiung von all der Schuld, die bewusst wird, wenn es gilt, das weltliche Leben vor der Öffentlichkeit vor Gott zu verantworten. Die Kirchen können und sollen also sehr wohl auch von der Schuld sprechen, die Menschen im weltlichen Leben auf sich laden. Doch die Perspektive, in der sie das tun, kann nicht diejenige einer moralischen Anstalt sein, die selbst moralisch
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überlegen ist. Vielmehr können die Kirchen von der Schuld im weltlichen Leben eigentlich nur aus der Perspektive ihrer Vergebung durch Gott sprechen und insofern nur, indem sie die Last und Mühsal derjenigen teilen, die das weltliche Leben gestalten. In solcher Perspektive können und sollen die Kirchen dann auch von den Sünden dieser Welt und der Schuld der einzelnen Person streng reden, um die in Lebenslügen verstrickte Menschheit und Individuen in ihrer Verwirrung zu unterbrechen – und um die Vergebung Gottes und also die Befreiung von Schuld und Sünde anzubieten. Dies ist die eine Seite der Bezogenheit der Religion auf das weltliche Leben und insofern auch auf Politik. Doch wie steht es auf der anderen Seite um positive Beiträge des Glaubens und der Religion zur Gestaltung von Politik und Gesellschaft? Gibt es aus evangelischer Sicht auch eine konkrete und konstruktive Verbindung des Glaubens zu Politik und Gesellschaft, wenn doch die vernünftige – und also nicht eigens religiöse – Gestaltung von Politik und Gesellschaft vom evangelischen Christentum ausdrücklich bejaht wird? Vor rund zwei Jahren wurde ich schon einmal mit dieser Frage konfrontiert, als ich zu einem großen Werte-Kongress nach Peking eingeladen worden war, der sich auch deshalb als besonders herausfordernd herausstellte, weil die chinesische Regierung kurz zuvor zwölf sozialistische Werte für die Gegenwart definiert hatte.14 Hier war für mich die Frage, ob denn neben den europäischen Grundwerten der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auch noch die alten Werte des christlichen Abendlandes irgendeine Relevanz für die gegenwärtige Politik haben könnten – also Werte wie Nächstenliebe, Mitleid und Barmherzigkeit. Diese Werte haben zwar eine spezifisch religiöse Grundlegung. Doch sie sind gleichwohl auch allgemein politisch plausibel als Werte, an denen sich die Politik zu orientieren hat. Es war vernünftig und diesen alteuropäischen Werten des christlichen Abendlandes angemessen, 2015 dem unsäglichen Sterben und Elend im Mittelmeer und auf der Balkan-Route nicht länger zuzuschauen, sondern nach neuen politischen Lösungen zu suchen. Auch für Luther gehörte die Nächstenliebe zu den inneren Beweggründen, mit denen sich Christen aktiv in die Rechtsgemeinschaft einbringen. Das weite Feld der weltlichen Rechtsgemeinschaft wie der ganzen Gesellschaft bietet reichlich Möglichkeiten, den Dienst der Nächstenliebe auszuüben. Dazu gehört aus Luthers Sicht nicht nur der besonders altruistische Dienst des barmherzigen Samariters, sondern auch die Sorge dafür, dass mit den Mitteln des Rechtsstaats – mit guter Gesetzgebung, gerechter Rechtsprechung, angemessener Strafverfolgung – verhindert wird, dass Menschen sich gegenseitig Schaden zufügen und dadurch Unfrieden verursachen. Ein durch das Recht erreichter Friede wird aus lutherischer Sicht von Christen immer bejaht – auch wenn sie sich bewusst sind, dass es immer nur ein brüchiger Friede sein kann, so lange nicht die im Menschen sitzende Wurzel von Unrecht und Unfrieden beseitigt ist. Was Luthers Zwei-Reiche-Lehre für den einzelnen Menschen bedeutet, wird in Luthers Predigten über die Bergpredigt deutlich, die er zwischen 1530 und 1532 in Wittenberg gehalten hat. In seiner Interpretation des Vergeltungsverbots: »wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch 14
Vgl. Hans-Peter Grosshans, Core Values. An European Perspective. In: International Journal of Sino-Western Studies, 2015, Vol. 9, S. 9-20.
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den Mantel« (Mt 5,39 f.), ist Luther der Meinung, dass ein Christ sich genau so verhalten soll, wie es diese Worte sagen. Er interpretiert diese Worte Jesu nicht allegorisch und er denkt auch nicht, dass uns damit nur unsere Grenzen aufgezeigt werden sollen und unsere Unfähigkeit, vollkommene Menschen zu sein. Luther war sich sehr wohl bewusst, wie schwer der Verzicht auf Vergeltung sogar einem ernsthaften Christenmenschen angesichts der Bosheit der Mitmenschen und der Komplexität des konkreten Lebens fallen kann. Deshalb erörterte er in seiner Bergpredigtauslegung im Detail, wie ein Christ reagieren soll, wenn er ein Unrecht erleidet. Eine unmittelbare Revanche, ein unmittelbares Zurückschlagen scheidet für einen Christen aus. »Wenn man nu fraget, ob ein Christ auch rechten odder sich wehren sol, so antwort schlecht und sage Nein, Denn ein Christ ist ein solche person odder mensch, so mit solchem welt wesen und recht nichts zuschaffen hat, Und ist in solchem reich odder regiment, da nichts anders gehen sol denn wie wir bitten ›Vergib uns unser schuld, wie wir auch vergeben unsern schuldigern‹, Da sol eitel lieb und dienst unternander sein auch gegen die, die uns nicht lieben sondern feind sein, gewalt und unrecht thun. Darumb sagt er den selbigen, das sie dem ubel nicht widderstehen sollen und so gar nicht rache suchen, das sie auch den andern backen halten sollen dem der sie schlegt.«15 Wenn ein Christenmensch jedoch unfähig und nicht willens ist, das ihm zugefügte Unrecht zu akzeptieren, dann soll er nach Luthers Auffassung vor Gericht gehen, freilich nur, um mit reinem Herzen Gerechtigkeit zu erlangen und nicht um sich zu rächen. Nach Luthers Einschätzung des Rechtssystems seiner Zeit (das sich an viel zu vielen Orten auf Erden immer noch so willkürlich wie zu Luthers Zeiten darstellt) sollte sich ein Christ jedoch darüber im Klaren sein, dass vor Gericht alles noch viel schlimmer für ihn werden könnte: »Nicht das das recht dir leid odder gewalt thue [...], sondern das schelcke und buben am gericht sitzen un im ampt sind, das sie sollen recht sprechen, und doch wo man dir mit gewalt nicht zu kan, dasselb beugen und krümen und misbrauchen zu irem mutwillen.«16 Dabei kann es nach Luthers Meinung auch dazu kommen, dass der gegen erlittenes Unrecht vor Gericht Klagende am Ende selbst als Schuldiger erkannt wird. Gleichwohl bleibt der Weg zum Gericht nach Luthers Auffassung die einzige Möglichkeit für einen Christenmenschen, gegen selbst erlittenes Unrecht vorzugehen. Dass dieser Weg auch für einen auf die Bergpredigt hörenden und ein vollkommenes christliches Leben anstrebenden Menschen möglich ist, ergibt sich für Luther unter anderem daraus, dass jeder Christenmensch zugleich in zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen existiert. Darin nimmt er verschiedene Rollen und Aufgaben wahr, die mit jeweils besonderer Verantwortung gegenüber Mitmenschen verbunden sind. Als solche »welt person« soll er »allem ubel widderstehen, so fern sein ampt gehet«.17 Dies betrifft dann auch seinen eigenen Schutz in der Gesellschaft. So soll nach Luther
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Martin Luther, Wochenpredigten über Matth. 5-7 (1530/32), WA 32, S. 299-555, hier S. 389 f. Ebd., S. 394. Ebd., S. 393.
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»ein Christ mit niemand rechten, sondern beide den rock und den mantel lassen faren, wenn mans im nimpt. Aber eine welt person sol sich mit dem rechten schutzen und verteidingen, wo er kan widder gewalt und frevel. Summa inn Christus reich heisst es allerley leiden, vergeben und guts für böses vergelten, Widerumb inns keisers regiment sol man kein unrecht leiden sondern dem bösen weren und straffen und das recht helfen schutzen und erhalten, darnach eines iglichen ampt odder stand foddert«.18 Luthers Auffassung ist demnach nicht nur, dass ein Christ das ihm zugefügte Unrecht tapfer ertragen möge, während er das seinem Mitmenschen zugefügte Unrecht mit ganzem Einsatz verhindern soll, indem er zum Beispiel einem schlagenden Menschen in den Arm fällt. Christen sollten zudem das Rechtssystem und überhaupt die Institutionen und Ordnungen einer Gesellschaft aktiv pflegen und schützen. Luthers zum Teil vehemente Kritik am Rechtssystem und der Politik seiner Zeit zeigen, dass diese positive Einstellung zum Rechtssystem und zu den politischen und gesellschaftlichen Institutionen in grundsätzlichem Sinn gilt und keinesfalls jede beliebige konkrete Verwirklichung eines Rechtssystems und einer gesellschaftlichen Ordnung einschließt. Dies war ein Fehlschluss des späteren Luthertums. Gerade an Luthers Auslegung der Bergpredigt kann man sehen, wie kritisch er gegenüber dem konkreten Rechtssystem und dem Versagen der politisch Verantwortlichen seiner Zeit war. Gleichwohl gab es aus Luthers Sicht keine Alternative zum Umgang mit dem Unrecht, als dieses durch das Rechtssystem und die gesellschaftlichen Institutionen zu bekämpfen. Luthers Modell für den Umgang mit erlittenem Unrecht und also der Schuld, die Mitmenschen auf sich geladen haben, indem sie Unrecht taten, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. Ein Christ verhält sich einerseits zu sich selbst. Als ein solches »Ich« ist er vor Jesus Christus für sein ganzes Leben verantwortlich. In seiner Bezogenheit auf sich selbst versucht er, die Vollkommenheitsforderungen der Bergpredigt zu realisieren – wie Jesus sagt: »Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist« (Mt 5,48). Doch ein Christ existiert nicht nur in Bezug auf sich selbst (was im Personalpronomen »ich« artikuliert wird), sondern er steht auch in Beziehung zu Mitmenschen, auf die er sich mit den Personalpronomen der 2. und 3. Person Singular und Plural bezieht. Diese Beziehungen sind anders zu gestalten als die Beziehung zu sich selbst: Ein Christenmensch ist mitverantwortlich für das Wohlergehen seiner Mitmenschen, für Recht und Frieden und Freiheit – und wird sich folglich auch politisch für einen entsprechenden gerechten und funktionierenden Rechtsstaat einsetzen. Im Verhältnis zu sich selbst hat ein Christenmensch eine andere Verantwortung. Hier lebt eine Person als Christ, wenn sie darauf vertraut, dass Jesus Christus alle Verantwortung für ihr Wohl und Wehe trägt und sie insofern auf die Durchsetzung eigenen Rechts und auf eine berechtigte Vergeltung verzichtet. Gesteigert wird dieser Verzicht durch die aktive Bereitschaft, denen, die einem Unrecht angetan haben und insofern an einem schuldig geworden sind, diese Schuld zu vergeben. Hier kommt etwas zum Ausdruck, was generell für Luthers Ethik und Auffassung eines christlichen Lebens gilt. Schon früh hat er die Zweiteilung christlicher Ethik in eine mönchische Vollkommenheitsethik und eine für den gemeinen 18
Ebd., S. 394.
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Christen taugliche Alltagsethik kritisiert – und insofern auch die Orientierung christlichen Lebens an der mönchischen Lebensform, wie es heutzutage im orthodoxen Christentum, aber ebenso im Theravada-Buddhismus gut zu beobachten ist. Verschiedene Ratschläge, insbesondere im Matthäus-Evangelium, waren als »evangelische Ratschläge« so verstanden worden, dass sie sich nicht an den normalen Christen richteten, sondern nur an diejenigen, die vollkommen sein wollten. Diese Auffassung wird von Luther als Zweistufenethik kritisiert und dann auch in der Augsburger Konfession in Art. 16 abgelehnt: »Auch werden diejenigen verdammt, so lehren, dass christliche Vollkommenheit sei, Haus und Hof, Weib und Kind leiblich verlassen und sich der berührten Stücke äußern [der vorgenannten Dinge zu entäußern], so doch dies allein rechte Vollkommenheit ist, rechte Furcht Gottes und rechter Glaube an Gott.«19 Die speziellen evangelischen Ratschläge für ein monastisches Leben waren Enthaltsamkeit, Armut und Gehorsam nach Mt 19,1-12, Mt 19,16-26 und Mt 20,26. Diese klassischen, monastisch zu realisierenden evangelischen Ratschläge wurden durch die reformatorische Theologie neu definiert. Die Idee einer Perfektion christlichen Lebens wurde nicht aufgegeben, jedoch inhaltlich neu bestimmt. Enthaltsamkeit wurde ersetzt durch Ehe und Familie; Armut durch Berufsarbeit, Fleiß und Eigentum; Gehorsam durch die Bejahung der öffentlichen, auf Freiheit und Gerechtigkeit basierenden Gesetze. Ein perfektes christliches Leben wird aus der Sicht reformatorischer Theologie nicht in religiösen Sonderformen realisiert, die sich von der gesellschaftlichen Welt abschließen, sondern mitten in der gesellschaftlichen Wirklichkeit: in Ehe und Familie, in einem von Arbeit und Fleiß geprägten Berufsleben und in der aktiven Bejahung einer rechtlich gut geregelten öffentlichen Freiheitsordnung. Nach Luthers Auffassung führt der Anspruch auf Perfektion christlichen Lebens keinesfalls in eine besondere, religiös geprägte Subkultur, sondern direkt hinein ins profane gesellschaftliche Leben, in dem ein vollkommenes christliches Leben zu realisieren ist. Dieses theologische Konzept hat verschiedene Konsequenzen, von denen ich zumindest zwei noch ansprechen möchte, weil darin bis heute in unserer Gesellschaft die Spuren der Reformation sichtbar sind. Zum einen geht es um das lutherische Interesse an einer allgemeinen rechtlichen Ordnung in einer Gesellschaft, zum andern um die Hochschätzung des Dienstes am Nächsten und das entsprechende Arbeitsethos. Erstens: In einer 2005 veröffentlichten Untersuchung der religiösen Wurzeln moderner Armuts- und Sozialpolitik in verschiedenen OECD-Staaten hat Sigrun Kahl die dafür relevanten katholischen, lutherischen und reformierten Traditionen miteinander verglichen. Sie stellt u.a. fest: »The Scandinavian and German social assistance systems are unitary, uniform and generous, because in Lutheran social doctrine, the secular authorities should deliver relief to all of the poor in a uniform way.«20 Entsprechend hat das lutherische Christentum ein sehr positives Verständnis des Staates und allgemein von Politik entwickelt – gerade
19 20
CA 28, BSLK, S. 71. Sigrun Kahl, The Religious Roots of Modern Poverty Policy. Catholic, Lutheran, and Reformed Protestant Traditions Compared. In: Archieves Européenes de Sociologie, 46 (2005), 1, S. 91-126, hier S. 121.
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auch mit Blick auf die Sozial- und Armutspolitik sowie die Arbeitspolitik. Sigrun Kahl fasst vergleichend zusammen: »Catholic subsidiarity and Reformed Protestant individualism and voluntarism both attribute a negative role to the state. In countries under Catholic or Reformed Protestant dominance, poor relief was not secularized as early and as comprehensively as in the Lutheran countries, and private charity, families and mutual help remained important sources of support ... Countries under Lutheran dominance, in contrast, secularized church property in the course of the Reformation and assigned a positive role to the state very early on. In accordance with Lutheran poor law, these countries established tax-based and centralized systems of poor relief.«21 Ein Vergleich der religiösen Wurzeln der modernen Armutspolitik über die katholischen, reformierten und lutherischen Traditionen hinaus mit dem orthodoxen Christentum, aber auch mit dem Islam, dem Hinduismus oder Buddhismus und ebenso mit regionalen Traditionen würde dieses Ergebnis hinsichtlich der lutherischen Reformation noch unterstreichen. Im lutherischen Christentum findet sich ein starkes Interesse an allgemeinen gesetzlichen Regelungen, die durch einen funktionierenden Staat garantiert und umgesetzt werden. Dies gilt insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass sich das lutherische Christentum diakonisch sehr stark engagiert – sowohl in unserer Gesellschaft als auch international. Ich kenne kaum eine kirchliche Hilfsorganisation oder NGO, die derart effizient internationale Diakonie betreibt wir die humanitäre Abteilung des Lutherischen Weltbundes, die überall in der Welt Menschen in Not hilft. Zu der humanitären Arbeit gehört die Unterstützung von Menschen bei der Durchsetzung rechtsstaatlicher Strukturen in den jeweiligen Gesellschaften und die Anwaltschaft für diejenigen in viel zu vielen Gesellschaften, deren fundamentale Rechte in ihren Staaten missachtet werden. Zweitens: Schon in seiner reformatorischen Programmschrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« hatte Luther 1520 über den Sinn und die Notwendigkeit der Werke geschrieben, die ein Christenmensch »gegen andere Menschen thut«22. Es ist ein Missverständnis der Reformation, wenn man aus Luthers Kritik an den guten Werken schließen würde, gute Werke seien aus evangelischer Sicht nicht mehr gefragt. Ganz im Gegenteil: Gute Werke sind in hohem Maße sinnvoll und nötig. Allerdings sind sie nicht nötig für die Frömmigkeit und die Seligkeit, denn diese gibt es sozusagen »umsonst«, »für frei«. Gute Werke sind nach Luthers Meinung nur wirklich gut, wenn sie zweckfrei getan werden, also ohne auf eigene religiöse Interessen abzuzielen. Wenn ein Christenmensch Werke für andere Menschen tut, dann soll sein Sinn »nur dahynn gericht seyn, das er andernn leutten damit diene und nuetz sey, Nichts anders yhm furbilde, denn was denn andernn nott ist, das heyssit denn ein warhafftig Christen leben«.23 Man kann dies geradezu als den ethischen Grundsatz evangelischen Christentums bezeichnen. Im Glauben soll sich ein Christ nach Luthers Meinung alles schenken lassen und dankbar nehmen. Dies gibt ihm nach Luthers Auffassung die Freiheit, »sich widderumb williglich eynen diener machen seynem nehsten zu helffenn [...] und 21 22
23
Ebd., S. 120 f. Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), Abschnitt 26, WA, Bd 7, S. 19-38, hier S. 34. Ebd.
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das allis umbsonst«.24 Weiter heißt es bei Luther: »Also fleusset auß dem glauben die lieb und lust zu gott, und auß der lieb ein frey, willig, frolich lebenn dem nehsten zu dienen umbsonst.«25 Diese Haltung, dem Nächsten zu dienen und so Nächstenliebe zu leben, betrifft nach Luthers Auffassung das ganze Leben eines Menschen, ist also nicht nur für gelegentliche gute Dienste gemeint. Die Liebe ist nach Luther genauso ein Grundzug christlicher Existenz wie der Glaube und die Hoffnung, die sich in allen Momenten des Lebens zeigen sollen. Nächstenliebe heißt: dem Nächsten zu dienen und dies so, dass es dabei vorrangig um die Hilfe für den Nächsten geht. Im Dienst für den Nächsten wird realisiert, was im Lied poetisch besungen wird: »Ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken.«26 Solcher Dienst für den Nächsten als Dienst der Liebe kann und soll gerade auch im Berufsleben gepflegt werden. Dies gilt für alle Berufe, die als Dienst für den Nächsten oder vorrangig für den Eigennutz ausgeübt werden können. In Zusammenhang mit der Bedeutung des Militärs für die Reformation bietet es sich an, dies am Militärdienst zu verdeutlichen. In seiner Schrift von 1526 »Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können« geht Luther darauf ein, dass das mit dem Krieg verbundene Töten und »Würgen« nicht als ein Werk der Liebe erscheint und deshalb auch einem Christen nicht ziemt. Luther verweist zuerst auf einen Arzt, der ganze Körperteile abschneiden muss, was als solches unbarmherzig und grausam erscheint. Die Wahrnehmung ändert sich jedoch, wenn auf den Leib insgesamt geschaut wird, der durch eine solche Maßnahme gerettet werden soll. Wenn auch beim »Amt« des Soldaten allein darauf geschaut wird, »wie es die Bösen straft, die Unrechten würget und solchen Jammer anrichtet, scheinet es gar ein unchristliche Werk zu sein und allerdings wider die christliche Liebe.« Wird das Augenmerk darauf gerichtet, »wie es die Frommen schützt, Weib und Kind, Haus und Hof, Gut und Ehre und Friede damit erhält und bewahret, so findt sich, wie köstlich und göttlich das Werk ist.« Denn es könnte sein, »wo das Schwert nicht wehrete und Friede hielte, so müßte alles durch Unfriede verderben, was in der Welt ist.«27 Natürlich, so Luther, »wenn die Leute fromm wären und gerne Frieden hielten, so wäre Kriegen die größte Plage auf Erden«. Anders als so manche Evangelischen heute war Luther ein Pessimist (oder: Realist) im Blick auf das menschliche Wollen: »Wo rechnest du aber hin, daß die Welt böse ist, die Leute nicht wollen Frieden halten, rauben, stehlen, töten, Weib und Kind schänden, Ehre und Gut nehmen? Solchem gemeinen AllerweltUnfrieden, davor kein Mensch bleiben könnte, muß der kleine Unfriede, der da Krieg und Schwert heißt, steuern.«28 Deswegen war ihm klar, dass auch das von Gott zum Schutz gegen das Böse angeordnete Amt des Schwertes und Krieges von Menschen missbraucht wird. Indem er das Amt von der Person unterschied, konnte er diese Schuld der Person 24 25 26
27
28
Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Landeskirchen Rheinland, Westfalen und Lippe, 1996, Nr. 661, Strophe 2. Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können. Hrsg. von Angelika Dörfler-Dierken und Matthias Rogg im Auftrag des Evangelischen Militärbischofs, 2. Aufl., Delitzsch 2015, S. 18. Ebd., S. 174.
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zurechnen. »Denn wo ist je ein Amt, Werk oder irgendein Ding so gut, des die mutwilligen, bösen Leute nicht mißbrauchen?«29 Gegen Missbrauch ist auch im Militärdienst vorzugehen. Das Amt des Schwertes bzw. des Militärdienstes ist nach Luthers Auffassung jedoch von Gott angeordnet, um dem vielfältig vorkommenden Bösen und Ungerechten effektiv entgegenzutreten und die Schutzlosen zu schützen – um also Gerechtigkeit und Frieden und Freiheit zu bewahren. Dieses Amt und diese staatliche Aufgabe wird dann richtig erledigt, wenn es als Dienst für den Nächsten verstanden wird. Im Dienstbegriff steckt bereits das im lutherischen Sinne richtige Verständnis des Soldaten und des Militärs. Im Beruf des Soldaten ist der Dienstgedanke sogar zugespitzt präsent, insofern dazu die Bereitschaft gehört, den Mitmenschen (dem Nächsten) mit dem Einsatz des eigenen Lebens zu dienen; sich also selbst ganz hinzugeben für die Nächsten, um deren Leben in Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit zu sichern. Auch bei anderen Berufen ist aus evangelischer Sicht der Dienstgedanke angemessen, denn jeder Beruf soll so ausgeübt werden, dass Menschen sich ihren Mitmenschen hingeben, um ihnen zu helfen und um deren Leben zu unterstützen und zu befördern. Der Dienst des Militärs für die Sicherung des Lebens der Menschen in unserem Land, eines Lebens in Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit, kommt auch der Religion und der freien Religionsausübung in der Gesellschaft zugute, gerade auch dem evangelischen Christentum, in dem die Freiheit des einzelnen Menschen im Mittelpunkt steht und das deshalb politisch zurückhaltend ist. Die freie Entfaltung der Religionen innerhalb der Grenzen der Rechtsordnung ist durch eine freiheitliche Rechtsordnung zu schützen und durch entsprechende handlungsfähige Institutionen des Staates, die dem Grundgesetz und der freiheitlichen Rechtsordnung verpflichtet sind und die zudem die Freiheit der Religionsausübung verteidigen und erhalten. An viel zu vielen Orten der Welt ist dagegen eine religiöse Politik auf dem Vormarsch, welche die Freiheit der Religionsausübung nicht respektiert.
29
Ebd., S. 175.
Reiner Anselm
Die Bedeutung der Reformation für das Militär. Zusammenfassende Bemerkungen und Anschlussfragen aus der Perspektive der theologischen Ethik Angesichts der Vielzahl der unterschiedlichen Zugänge zum Wechselverhältnis zwischen Reformation und Militär in diesem Band wäre es vermessen, in den hier vorgestellten Überlegungen eine zusammenfassende Synthese bieten zu wollen: Allein der Respekt vor der Eigenständigkeit und der jeweiligen Bedeutung der historischen Zugänge verbietet es, diese nur als die Vorstudien für eine integrale, systematisch-normative Perspektive aufzufassen. Darum sollen die nachstehenden drei Bemerkungen eher Anregungen für weitere Arbeiten und Diskussionen zum Thema darstellen, indem sie zentrale Fragestellungen identifizieren. Die hier präsentierten historischen Detailstudien sind aus einem gegenwartsorientierten, friedensethischen Blickwinkel heraus äußerst produktiv – und zwar nicht, weil sie erlauben würden, die Geschichte als Blaupause für die Gegenwart zu verwenden. Ihre Bedeutung liegt vielmehr darin, dass sie trotz aller Abständigkeit eine erstaunliche Kontinuität im Blick auf die leitenden Theoriefiguren sichtbar werden lassen. Erst in der Zusammenschau beider Aspekte, der Differenz und der Kontinuität, werden die Aufgaben und Herausforderungen deutlich, die sich in der friedensethischen Debatte heute stellen. Diese Herausforderungen gruppieren sich um die Frage der Verantwortungsinstanzen für den Einsatz politischer Gewalt. Denn während die christliche Tradition – bei allen Modifikationen im Detail – davon ausgeht, dass es letztlich eine im Willen Gottes begründete Ordnungsstruktur gibt, deren Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung die politische Gewalt legitimiert, rechnen gegenwärtige Konzeptionen des Politischen nicht mehr mit einer statischen Ordnung, sondern sehen das Politische als einen stets umstrittenen, dynamischen Aushandlungsprozess, in dem es höchstens Selbstbindungen durch Verträge, nicht aber fest stehende Linien im Sinne einer überzeitlichen Struktur geben könne, seien sie metaphysisch, geschichtstheologisch oder auch naturwissenschaftlich begründet. Vielmehr stellt sich die Situation heute so dar, dass gerade die Proklamation entsprechender feststehender Ordnungsmuster die Quelle internationaler Konflikte darstellt.
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I. Die Frage nach der Verantwortbarkeit des Einsatzes politischer Gewalt – von einer präzisen Unterscheidung zwischen polizeilicher und militärischer Gewalt kann man meines Erachtens vor dem Entstehen moderner Staatlichkeit noch nicht sprechen – ist im Christentum von Anbeginn an umstritten gewesen, insbesondere natürlich seit seinem Aufstieg zur Staatsreligion. Die neutestamentliche Aufforderung zur Friedfertigkeit steht hier in einer in den verschiedenen Bewegungen unterschiedlich ausgeprägten Spannung zur Anerkennung der Notwendigkeit obrigkeitlicher Machtausübung. Die Theoriebildungen der Reformationszeit machen hier keine Ausnahme. Insofern wird man sagen können und auch sagen müssen, dass weder eine radikalpazifistische Position noch eine unkritische Sicht auf obrigkeitliche Gewalt zum Erbgut der Reformation gehören, sondern beide Optionen bilden ein Neben- und Gegeneinander, das schon in dieser Gegenüberstellung die Extrempositionen begrenzt und zu einem verantwortlichen Gebrauch politischer Macht anleitet: Ihre Ausübung ist legitimationsfähig, aber sie ist zugleich auch legitimationspflichtig. Verantwortlich mit der politischen Macht umzugehen bedeutet dabei, sie vor der Situation ebenso zu legitimieren wie vor den eigenen normativen Grundlagen. Die Situationswahrnehmung gebietet es, realistisch mit dem Einsatz von Gewalt im Bereich des Politischen zu rechnen. Aber gleichzeitig müssen sich diejenigen, die selbst Gewalt einsetzen oder den Einsatz von Gewalt anordnen, auch selbst dafür verantworten. Das Nebeneinander von Aufgaben- und Zuschreibungsverantwortung, das insbesondere im Kontext der aktuellen friedensethischen Debatte um eine »Verantwortungsübernahme« in der Außenpolitik sowie der »responsibility to protect« als Herausforderung identifiziert werden kann, hat insofern durchaus einen Resonanzraum in der reformatorischen Tradition: Der Einsatz politischer Gewalt ist im Horizont der christlichreformatorischen Tradition daran gebunden, dass er vor der Situation im Sinne einer Aufgabenverantwortung legitimiert werden kann und zugleich im Sinne einer Zuschreibungsverantwortung mit einer konkreten Instanz oder Person assoziierbar ist. Allerdings zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass beide, Aufgaben- und Zuschreibungsverantwortung, in einer Weise vorgestellt werden, die von der modernen Problemwahrnehmung signifikant unterschieden ist – und die gleichzeitig auf die eminenten gegenwärtigen Herausforderungen für die Ausarbeitung einer Ethik des Friedens und der Gewaltanwendung im Protestantismus hinweist: Beide, Aufgaben- und Zuschreibungsverantwortung, sind nämlich im Denken der Reformatoren und ihrer Nachfolger umfasst von dem Gedanken, dass diese Verantwortung auf der Seite der handelnden Subjekte nur die Gehorsams- bzw. die Ausführungsseite gegenüber der Instanz darstellt, auf dessen Befehl und eigentlicher Verantwortung gehandelt wird, nämlich Gott selbst. Gerade das Luthertum mit seiner Fassung der Christologie, die von einer direkten Wirkmöglichkeit auch des erhöhten Christus in der Welt ausgeht, hat diesen Gedanken ins Zentrum seiner Ethik, besonders auch seiner politischen Ethik gestellt. Führt man sich diese Struktur vor Augen, so zeigt sich deutlich die Distanz zwischen aktuellen Fragestellungen und den Koordinaten, in denen sich die Debatte zur Zeit der Reformation bewegt. Denn die klassische Legitimation von Gewalt- und Machtausübung der Soldaten erfolgt über den Berufsgedanken: Der Beruf des
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Soldaten hat Anteil am weltlichen Regiment Gottes; soldatisches Handeln erfolgt daher nicht im eigenen Interesse, sondern richtet sich am Willen Gottes und, konkreter, an der Schutzverantwortung für die Schwächeren aus. Insofern kann der Dienst des Soldaten tätige Nächstenliebe sein. Diejenige Instanz, die politische Gewalt in letzter Konsequenz legitimiert, ist der Wille Gottes zur Welterhaltung – und diese Erhaltung ist in ihrem Kern an die von ihm aufgerichtete Ordnung gebunden. Sie schließt es ein, notfalls denen, die diese Ordnung gefährden, mit Gewalt entgegenzutreten. Darum kann es in der Perspektive der Mainstream-Reformatoren keine vollständige Gewaltablehnung geben, weil das eine Verweigerung des Gebotes Gottes wäre. Allerdings darf man sich auch nicht selbst zur Gewalt ermächtigen.
II. Die Fragilität und Korrumpierbarkeit dieser Figur wurde von allen Gruppierungen und Schulbildungen der Reformationszeit wahrgenommen. Die Gefahr sah man auf der einen Seite in einer grundsätzlichen Negierung von Gottes Willen, wenn man auf eine radikalpazifistische Position setzte, auf der anderen Seite in einer durch den Willen Gottes und die Unterscheidung der Regierweisen nicht gedeckten Selbstermächtigung, bei der man entweder die gewaltsame Durchsetzung der Reformation propagierte oder aber die Frage der Gewaltanwendung ausschließlich in den Verantwortungsbereich des Politischen legte. In beiden Fällen ist aber ein Welt- und Geschichtsbild vorausgesetzt, in dem Gott als Garant der innerweltlichen Ordnung gedacht werden kann. Und beide beruhen auf der Überzeugung, dass es eine Instanz gebe, die für die Bestimmung dieser Ordnung zuständig ist. Hatten sich schon in den mittelalterlichen Konflikten zwischen imperium und sacerdotium die Schwächen dieser Konzeption gezeigt, so sah sich die Reformation an dieser Stelle vor ein Problem gestellt, das ihr grundsätzliches Interesse, weltliche und geistliche Macht zu unterscheiden, zu unterlaufen geeignet war: Den Reformatoren blieb keine andere Wahl, als die Definition der Ordnung als eine theologische Aufgabe zu begreifen und sie daher – entgegen den ursprünglichen Intentionen für den Umgang mit dem Politischen – zu sakralisieren: Mit den Bestimmungen der Ordnung des Politischen steht immer auch die Frage der Wahrheit im Raum. Da diese in politischen Auseinandersetzungen jedoch in ihrer positiven Bedeutung nicht so leicht zu identifizieren ist, bedarf es klarer Frontstellungen im Negativen: Die Polemiken gegen Kaiser und Papst als denjenigen, die die Ordnung bedrohen, müssen die nötige Eindeutigkeit liefern; diesem Ziel dient die geschichtstheologische Propaganda der reformatorischen Kirchen. Dabei ist auch der Gedanke des Heiligen Krieges immer wieder präsent. Zugleich aber verschwimmt die Grenzlinie zwischen dem Gerechten Krieg als Verteidigungskrieg und dem Heiligen Krieg: Denn der Einsatz politischer Gewalt durch die protestantischen Obrigkeiten gilt natürlich nur der Verteidigung einer Ordnung, die die Altgläubigen infrage stellen – eine nicht ganz einfache Argumentationsstrategie, da ja offenkundig die gegebene Ordnung durch die Reformation selbst durchbrochen worden war. Das bedeutet aber zugleich: Die Probleme einer individuellen Verantwortung für den Einsatz von Gewalt, wie sie in den Debatten um die grundsätzliche, vor
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allem aber auch um die seit den späten 1980er Jahren gerichtlich ermöglichte situative Kriegsdienstverweigerung im Vordergrund stehen, stellen sich anders dar als Luthers Überlegungen zur persönlichen Wahrnehmung von Verantwortung durch Kriegsleute. Die Frage nach dem individuellen Verhalten auf der einen, der strukturellen Funktion militärischer Gewalt auf der anderen Seite hat sich in der Gegenwart viel stärker auf das individuelle Verhalten und die individuelle Verantwortung konzentriert, als das in der Reformationszeit der Fall war. Denn dort ist diese scheinbar individuelle Verantwortung eingebunden in die Vorstellung einer auf jeden Fall für den Christen wahrnehmbaren göttlichen Weltordnung. Von einer eigenständigen Verantwortung kann daher nur sehr eingeschränkt die Rede sein – und gerade Luthers Auslegung der politischen Ethik ist dadurch geprägt, dass die Ermessensspielräume für den Einzelnen bei konkreten Entscheidungen möglichst gering gehalten werden. Denn Luther begreift die Welt und ihre Strukturen und damit eben auch den Berufsgedanken als Formen des Wirkens der Autorität Gottes, nicht als einen Bereich, in denen der Christ selbstständig agiert. Die Wahrnehmung dieser Autorität verläuft für die Reformation über soziale Strukturen, nicht über die individuelle Aneignung. Die Strukturen zu wahren, ist der Inbegriff der Nächstenliebe, bei der diese Strukturen im Interesse des Nächsten in Anschlag gebracht werden können – selbst wenn das daraus folgende Handeln den Eigeninteressen des Nächsten oder gar des Handelnden entgegenläuft. Und die theologische Propaganda dient genau dazu, die Selbstverständlichkeit der als richtig empfundenen Wahrheit sicherzustellen. Es ist auffallend, welche Konstanz dieses Interpretationsschema aufweist. Es findet sich auch noch in den Debatten um die Wiederbewaffnung in Ost und West; die Skepsis, ob die Vorbereitung des Einsatzes militärischer Gewalt wirklich dem Schutz oder der Wiederherstellung der gottgewollten – oder zumindest doch der als richtig empfundenen – Ordnung entspricht, bildet das Hauptmotiv für die Verweigerung des Wehrdienstes, und zwar in der Bundesrepublik ebenso wie in der DDR. Umgekehrt basiert die Ablehnung der individuellen Kriegsdienstverweigerung durch das SED-Regime auf der säkularisierten Form des reformatorischen Arguments: Da der Sozialismus Friedensmacht ist, kann es keine individuelle Suspendierung von dieser umfassenden Friedensaufgabe geben. Es ist daher kein Zufall, dass sich in diesem Feld so intensive Deutungskämpfe um die legitime Deutungsautorität für die Weltordnung entspannen, sodass die Debatte um die Möglichkeit einer Verweigerung des Wehrdienstes immer auch eine Debatte um die Vorherrschaft einer bestimmten Weltanschauung darstellt. Bemerkenswert ist diese Kontinuität vor allem deswegen, weil schon die Reformatoren vor dem Problem standen, die Kriterien, nach denen zwischen einer (illegitimen) Selbstermächtigung zur Gewalt und einer (legitimen) Ausübung politischer Gewalt als Ausübung des weltlichen Regiments unterschieden werden kann, nicht hinreichend präzise begründen zu können. Der Ordnungsgedanke, dem die Reformatoren und auch die nachfolgenden Theologen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein anhingen, erweist sich hierin als viel zu undeutlich: Er erlaubt es, viel zu viele gewalttätige Vorgehensweisen zu legitimieren. Als besonders anfällig zeigt sich in diesem Zusammenhang das Kriterium der Nation, das die Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts in furchtbarer Weise bestimmte, das aber auch in der Gegenwart in Separations- und Emanzipationskriegen unter dem Stichwort »Selbstbestimmungsrecht der Völker« noch präsent ist.
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III. Sollte in der Fluchtlinie reformatorischer Theologie durch den Rekurs auf eine übergreifende Ordnungsstruktur der Spielraum für politisch induzierte Konflikte reduziert werden, die man zuvorderst in der Selbstsucht und der Weigerung, Gottes Willen zu akzeptieren, begründet sah, so zeigte sich in der Folgezeit, dass gerade dieses Ziel nicht erreicht wurde. Erst die Bemühungen um eine Säkularisierung und damit auch um eine Politisierung von Konflikten ließen die religionsinduzierten Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts abflauen. Deutlicher als je zuvor steht uns heute vor Augen, dass wir nicht von einer vorgegebenen weltlichen Ordnung ausgehen können und zudem gerade eine Verbindung zwischen Ordnungsvorstellungen und einer religiösen Grundierung sich konfliktverschärfend auswirkt. Die Weiterbildung reformatorischer Impulse zu einer säkularen Weltordnung, für die die Offenheit der Wahrheitsfrage charakteristisch ist, und damit die Möglichkeit, strittige Ziele im Horizont des Politischen zu lösen, ist notwendig, ergibt sich aber in meinen Augen keineswegs bruchlos aus der reformatorischen Tradition. Vielmehr ist die Forderung nach Säkularisierung, nach dem Respekt vor der Weltlichkeit der Welt, ein Aspekt, der immer wieder erstrebt und gewonnen werden muss. Wie notwendig das ist, zeigen die Stimmen mancher evangelikaler Vertreter in der Friedensdiskussion und ebenso die vielfältigen Bestrebungen, internationale und nationale Konflikte in einer manichäischen Denkweise zum Austragungsort zwischen gut und böse zu stilisieren und sie dabei religiös aufzuladen. Die Hochschätzung des Rechts als Konfliktbefriedungsinstrument ist ebenso in diesem Horizont zu sehen, und auch hier wird offenbar, dass es keine einfache Kontinuität zwischen dem Denken der Reformationszeit und heutigen Fragestellungen gibt. Denn zwar führt durchaus aus der reformatorischen, insbesondere der lutherischen Hochschätzung des usus politicus legis ein Pfad zu moderner Rechtsstaatlichkeit und einer rechtebasierten Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen. Allerdings wird das Recht bzw. der Rechtsgehorsam ebenfalls direkt auf den Willen Gottes zurückgeführt. Damit ist jedoch – und diese Traditionslinie reicht bis in die Gegenwart hinein, wenn in zahlreichen rechtsethischen Entwürfen auf die Notwendigkeit transzendenter Legitimation des Rechts hingewiesen wird – keine Antwort auf die beschriebenen Probleme gegeben. Vielmehr werden das Ordnungsproblem und dessen Missbrauchsmöglichkeiten durch eine geschichtstheologische Interpretation auf die Ebene des Rechts überführt. Es spricht vieles dafür, dass die befriedende Funktion des Rechts nur dann eintreten kann, wenn dieses konsequent und von allen Seiten als Vertragsrecht gestaltet wird. Die Menschenrechte machen hier keine Ausnahme; eine – verbreitete – Auffassung, dass diese einer transzendentalen Begründung bedürften, hat unweigerlich mit dem Problem zu kämpfen, dass eine solche Struktur die Spannung zwischen Menschenrechten und Staatlichkeit zum Thema macht – ganz abgesehen von der Frage, wie eine solche Begründungsleistung die Universalität erlangen soll, die mit dem Rekurs auf einen transzendentalen Grund insinuiert wird. Dass in einem solchen Vorgehen gleichzeitig die Interpretationsmöglichkeiten für das Recht verengt werden, kommt erschwerend hinzu. Gegenüber einem Rückgriff auf reformatorische Figuren scheint daher der Rekurs auf die Lehrbildung im 20. Jahrhundert aussichtsreicher. Insbesondere die
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stärker in reformierter Tradition entworfene Staatsauffassung der Barmer Theologischen Erklärung bietet hier gute Anknüpfungspunkte. Denn die fünfte These der Barmer Erklärung betont gerade nicht die Einsetzung des Staates, sondern die Einsetzung seiner Funktion. Die konsequente Säkularisierung rechtlicher Strukturen ließe sich in dieser Hinsicht mit der protestantischen Tradition verbinden. Dann müsste man aber den Rechtsbegriff konsequent als politisch, als interessengeleitet interpretieren, und auch der Menschenrechtsgedanke müsste dann politisch gedacht werden. Trotz vieler Anknüpfungspunkte an das der Barmer Theologischen Erklärung zugrundeliegende Denken gehen aktuelle protestantische Entwürfe diesen Weg nur sehr eingeschränkt; gerade die friedensethischen Veröffentlichungen der EKD der letzten Jahre machen nur sehr zaghafte Schritte in diese Richtung. Der Grund dafür scheint auf der Hand zu liegen: In einer Zeit verschärfter internationaler Auseinandersetzungen ist die Sensibilität für die Einsicht gewachsen, dass die starken Partizipationsideale der Moderne und, damit verbunden, die Abhängigkeit der politischen Meinungsbildung von individueller Einschätzung die Möglichkeiten einer gemeinsamen Rechtsetzung einschränken. Damit aber stehen das Dilemma und auch zukünftige Aufgaben klar vor Augen: Zur christlichen Tradition gehört es, die Gewaltanwendung nur mit dem Ziel der Etablierung einer übergeordneten Ordnung zu legitimieren. Dass dieser Gedanke auch dem Konzept der »Inneren Führung« bei Graf Baudissin zugrundeliegt, zeigt die Reichweite dieses Denkens. Eine solche Herangehensweise ist jedoch mit den Strukturen internationaler Rechtsverhältnisse und den Bestrebungen, durch Verrechtlichung Konflikte einzuhegen, nicht kompatibel. Ebenso steht sie in unübersehbarer Spannung zu der sich aus der Säkularisierung ergebenden Selbstlegitimierung des Rechts. Allerdings, und diese Seite darf nicht übersehen werden, birgt die Politisierung des Rechts eben auch immer die Gefahr, Konflikte selbst zu verschärfen. Politisierung des Rechts kann in dieser Perspektive die Vorstufe zu einer Politisierung der militärischen Gewalt bedeuten. Wenn man das nicht möchte, muss man stets eine übergeordnete Ordnung, ein vor- oder außerpolitisches Ziel voraussetzen. Insofern bin ich unsicher, ob nicht jede Argumentation, und sei sie noch so pragmatisch, nicht immer einen religiösen Überschuss mit sich bringt. Wenn dies so ist, dann müsste man in dem Bestreben, die – durchaus religiös aufgeladene – Figur des Gerechten Friedens als Fluchtpunkt der friedensethischen Diskussion zu etablieren, als den Versuch interpretieren, diesen religiösen Überschuss zu binden und an die Stelle einer sakralisierten Gewaltvorstellung ein ebenso sakralisiertes Friedenskonzept zu setzen. Ob dieses Unterfangen erfolgreich sein kann, bleibt abzuwarten. Sinnvoll wäre es allerdings mit Sicherheit, vor dem Hintergrund detaillierter historischer Sondierungen auszuloten, ob der Friedensbegriff eine ähnlich problematische Neigung zur Ideologisierbarkeit aufweist wie der Begriff der Weltordnung oder des Rechts.
Personenregister Der Name Martin Luther wurde nicht ins Register aufgenommen. Adenauer, Konrad 267 Adler, Kaspar (Caspar Aquila) 110 Albrecht II. Alkibiades, Markgraf von Brandenburg-Kulmbach 111 Althaus, Paul 216 f., 223-226 Anna, Prinzessin von Jülich-KleveBerg 71 Apel, Hans 277 Aristoteles 24, 28 Arlat, Wolfram 86, 89 Arnautovic, Samir 294 Arndt, Ernst Moritz 167, 169, 173, f. Ascher, Saul 172 f. Augustinus von Hippo 295 Bahr, Egon 271 f. Barth, Karl 40, 42 f., 212 Baudissin, Wolf Graf von 15, 267-279, 312 Bauer, Fritz 38, 41, 45 Baumann, Dieter 154 Beaverbroock, William 253 Beck, Ludwig 239 Behaim, Hans 89, 93 Bell, George Kennedy Allen 251, 253 f. Bemelberg (Boyneburg), Conrad von 106 Berig, König der Goten 121 Bernadotte, Jean Baptiste siehe Karl XIV. Johann Bernhard, Herzog von SachsenWeimar 122 Bertuch, Carl 174 Besserer, Bernhard 81, 98 Bethge, Eberhard 245, 254
Bismarck, Otto von 190, 194 f., 203, 209 Blarer, Ambrosius 84, 98 Blarer, Thomas 98 Blücher, Gebhard Leberecht von 118 Bock, Fedor von 241 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 27, 32 f., 35 Bonhoeffer, Dietrich 15, 231, 244-254 Bonhoeffer, Karl 247 Bonhoeffer, Karl Friedrich 249 Bonhoeffer, Sabine 245 Boyen, Hermann von 187 Bredow, Wilfried von 271 Broger, John C. 284 Bucer, Martin 98, 102, 110 Buchwald, Georg Apollo 204 Busolt, Johann Christian 149, 150 Bussche, Axel von dem 243 Cäsar, Gaius Julius 124 Calvin, Johannes 151 Canaris, Wilhelm 244, 249 f. Canstein, Carl Hildebrand Freiherr von 141, 159 Christian IV., König von Dänemark 134, 136 Christina von Sachsen, Landgräfin von Hessen 72 Christina, Königin von Schweden 122 Christoph, Herzog von Württemberg 84 f., 100, 160 Churchill, Winston S. 251 Clausewitz, Carl von 124, 187
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Cripps, Stafford 253 Delbrück, Hans 124 Denck, Hans 52-55, 57 Deutelmoser, Arno 227 Dibelius, Otto 251 Dönitz, Karl 206, 210 Dohnanyi, Hans von 249 f. Dohnanyi, Klaus von 249 Dürer, Albrecht 206 Eck, Johannes 82 Eden, Anthony 251 f. Edlibach, Gerold 96 Ehinger, Hans 81-83 Elisabeth von Brandenburg, Herzogin von Braunschweig-CalenbergGöttingen 107 Eppelmann, Rainer 264 Erhard, Ludwig 271 Erich I., Herzog zu BraunschweigLüneburg 107 Erich II., Herzog zu BraunschweigLüneburg 107 Etzdorf, Hasso von 236 Eugen, Prinz von Savoyen 124 Fabri, Johannes 104 Fabricius, Jacob 119 Falcke, Heino 260, 264 Falk, Johannes 179, 180, 182 Ferdinand I., röm.-dt. Kaiser 58, 68-70, 83, 98, 104 f., 112, 137 Fichte, Johann Gottlieb 228 Figur, Fritz 260 Fiore, Joachim von 117 Flex, Walter 203 Fontane, Theodor 119 f., 235 Forck, Gottfried 265 Francke, August Hermann 146 f., 149, 159 Franz I., König von Frankreich 69, 75, 104 Fretscher, Michael 86, 89 Friedjung, Heinrich 238 Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, Markgraf von Brandenburg 121, 135, 156 f. Friedrich III., Markgraf von Brandenburg siehe Friedrich I. Friedrich I., König in Preußen 136, 158
Personenregister
Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 12, 141, 143-146, 148, 150-152, 158 f., 186 Friedrich II., König in/von Preußen 11 f., 123, 145, 159 f., 162 f. Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 188 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 188, 195 Friedrich Karl, Prinz von Preußen 237 Fromm, Friedrich 240 Frundsberg, Balthasar von 105 Frundsberg, Caspar von 82, 105 Frundsberg, Georg von 103-106, 108, 112 f. Frundsberg, Georg II. von 106, 113 Frundsberg, Margareta von (geb. von Firmian) 105 f. Fuchs, Emil 259 Fürstenberg, Wilhelm von 79, 109 Gärtner, Friedrich von 177 Gaismair, Michael 104, 111 f., 114 Garstecki, Joachim 264 Gedicke, Lampertus 141, 145, 147-149, 152 Gehre, Ludwig 244 Georg, Herzog von Sachsen 98 George, Stefan 242 Gerlach, Heinrich 44 Gersdorff, Rudolf-Christoph Freiherr von 243 Gierow, Arvid 129, 132, 134-139 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 187 Gneisenau, August Neidhardt von 187, 189, 237 Goerdeler, Carl Friedrich 238 f., 243 Görres, Joseph 174 Goethe, Johann Wolfgang von 186, 209, 293 Gorch Fock (Johann Wilhelm Kinau) 203 Graham, Billy 282, 286 Gramm, Reinhard 276 Gresbeck, Heinrich 88 Grimm, Herman 209 Groscurth, Helmuth 236 Grüber, Heinrich 245
Personenregister
Gustaf I. Wasa, König von Schweden 138 Gustav II. Adolf, König von Schweden 11, 14, 115-126, 129-132, 134, 136-138 Gysi, Klaus 258 Hamre, John J. 281 Hardenberg, Carl-Hans Graf von 2, 41 Hargis, Billy J. 284 Hase, Karl 179 Hašek, Jaroslav 153 Hassell, Ulrich von 238 Havemann, Robert 264 Heine, Johann August 176, 177 Heinemann, Gustav 268 Heinrich II., Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 70 f., 76 f. Heinrich VIII., König von England 71 Held, Matthias 69, 204 Hellquist, Karl 122 Hempel, Johannes 264 f. Herder, Johann Gottfried 180, 201 Hermann von Wied, Erzbischof von Köln 74 Heuss, Theodor 236 Hindenburg, Paul von 246 Hinrichs, Carl 142, 152 Hinz, Christoph 260 Hirsch, Emanuel 42, 227-230 Hitler, Adolf 15, 42, 209, 226 f., 236 f., 239-241, 243, 245 f., 249, 251, 268 Hofmann, Melchior 52 Hohenems, Jakob Hannibal von 108, 113 Holl, Karl 228-230 Honecker, Erich 263 Huber, Wolfgang 156 Hubmaier, Balthasar 52, 57 f,, 60 Huter, Jakob 52, 54, 59 Hutten, Ulrich von 110 Jänicke, Johannes 260 f. Jahn, Friedrich Ludwig 169 Johann Friedrich I., Herzog von Sachsen 66, 69-71, 73-75, 77 f., 235 Jordanes 121 Jürgens, Curd 121
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Kalex, Johanna 264 Kant, Immanuel 187 Karl V., röm.-dt. Kaiser 23, 63 f., 66-71, 73-79, 80, 102, 104 f., 109 f., 136, 139 Karl XII., König von Schweden 122 Karl XIV. Johann, König von Schweden 119 Keller, Hans 83 Kierkegaard, Søren 228 Kleist, Ewald von 243 Klenze, Leo von 177 Koch, Werner 251 Konstantin der Große, röm. Kaiser 125 Kordt, Erich 236 Kram, Assa von 139 Krummacher, Friedrich-Wilhelm 261 Krusche, Werner 265 Kunst, Hermann 271, 273, 275 Lang, Cosmo Gordon, 1. Baron Lang of Lambeth 251 Lansdale, Edward G. 284 LeCarré, John 153 Lehndorff, Heinrich Graf von 241 Leich, Werner 264 Leonrod, Ludwig Freiherr von 242 Leopold, Prinz von Hessen-Homburg 118 Lessing, Gotthold Ephraim 293 Lieber, Ulrich 83 Lotz, Gerhard 261 Mahrenholz, Ernst Gottfried 32 f., 35 Maizière, Ulrich de 240 Margarethe von der Saale 72 Maria Eleonora von Brandenburg, Königin von Schweden 121 Marpeck, Pilgram 52 Marwitz, Johann Friedrich Adolf von der 15, 235 f., 241, 243 Maximilian I., röm.-dt. Kaiser 107 Maximilian II., röm.-dt. Kaiser 108, 137 Melanchthon, Philipp 72, 103, 122 Menzel, Adolph 124, 163 Merian, Matthäus 90 Meyer, Conrad Ferdinand 119 f. Micron, Martin 60
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Mitzenheim, Moritz 261 Moltke, Helmut Karl Bernhard von 190, 237 f. Moritz, Prinz von Oranien 124, 137 Moritz, Herzog von Sachsen 79, 102, 139 Müller, Ludwig 203, 209, 251 Müntzer, Thomas 139, 154, 221 Mugabe, Robert 291 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 118, 124, 167 df., 171, 181, 188, 201, 237 Naumann, Friedrich 216, 222 Niemöller, Martin 251 Nikias 211 Oekolampad, Johannes 110 Oster, Hans 244 Oster, Johannes 84, 249 f. Oxenstierna, Axel 131, 134 Pack, Otto von 98, 100 Paracelsus (Theophrastus Bombast von Hohenheim) 117 Pfaff, Florian 244 Pflummern, Heinrich von 95 f. Philipp I., Landgraf von Hessen 63, 66, 70-78, 89, 98 f. Philipp II., König von Spanien 106 Pulver, Lieselotte 121 Rade, Martin 212, 226, 231 Regensberg, Ulrich I., Freiherr von 87 Richelieu, Kardinal 124 Riedemann, Peter 51, 61 Riedlingen, Hans von 93 Riemann, Heinrich 171 Rochlitz, Elisabeth von 72 Rogge, Bernhard 11 f. Ronneberger, Friedrich August 203, 210 Sack, August Friedrich Wilhelm 162 Sack, Karl 244 Salvius, Johan Adler 131 Sandholzer, Gallus 84 Sattler, Michael 55, 57 Schacht, Rudolf 122 Schadow, Johann Gottfried 177 f. Schaffelitzki von Muckendell, Bernhard 135 Scharnhorst, Gerhard von 118, 187 Schertlin, Sebastian 109 f.
Personenregister
Schild, Erich 136, 160 Schiller, Friedrich 117, 123 Schinkel, Karl Friedrich 118, 174-178 Schlabrendorff, Fabian von 242 f, Schmidt, Helmut 268, 271 f., 277 Schnur, Wolfgang 264 Schötten, Heinrich 102 Schröder, Gerhard (CDU) 271 Schwendi, Lazarus von 108 f. Schwendi, Ruland von 108 Seeberg, Reinhold 216 f., 222-225 Sickingen, Franz von 110 f. Sieveking, Karl 174 Simons, Menno 52, 60 Sinz, Burkhard 96 Solms, Reinhard von, Graf zu Münzenberg 93, 101 f. Sombart, Werner 214 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 15, 235, 237-242 Stern, Georg 102 Stieff, Hellmuth 241 Strauß, Franz-Josef 271 Studdert-Kennedy, Geoffrey 214 Tacitus 121 Tauentzien, Friedrich Bogislav von 187 Thoman, Nicolaus 94 Thomas von Aquin 14, 27-30, 33, 199 Thukydides 211 Tillich, Paul 216 f., 223 f. Tilly, Johann T’Serclaes von 126 Tirol, Hans 89 Treitschke, Heinrich von 182 Tresckow, Henning von 238, 242 f. Tretsch, Aberlin 102 Troeltsch, Ernst 184 Tschiche, Hans-Jochen 260, 263 Turenne, Henri de La Tour d’Auvergne, vicomte de 124 Ulrich, Herzog von Württemberg 66, 68 f., 77, 100 Viktoria Luise, Prinzessin von Preußen 194 Voltaire (eigentl. François-Marie Arouet) 160 Wahlbohm, Carl 122 Walker, Edwin 284
Personenregister
Wallenstein (Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein) 114, 121, 126 Walpot, Peter 56 Walther, Wilhelm 215 Weber, Max 153 f., 162 Wegner, Bettina 264 Wehrle, Hermann Josef 243 Weinbrenner, Friedrich 174 Weischenfelder, Martin 53 Werdenstein, Georg von 95 Wichern, Johann Hinrich 179 Wiedemann, Jakob 59 Wilhelm I., Dt. Kaiser 11 f., 141, 190, 213
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Wilhelm II., Dt. Kaiser 42, 121, 193-195, 199 f., 225 Wilhelm V., Herzog von Jülich-KleveBerg 70 f., 73 f. Wonneberger, Christoph 259, 264 Yorck von Wartenburg, Ludwig Graf 187, 236 f., 243 Zápolya, Johann, König von Ungarn 73 Zeddies, Helmut 265 Zedlitz, Karl Abraham von 160 Zwingli, Huldrych 82, 99, 112, 139
Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Reiner Anselm, Evangelisch-Theologische Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München, Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD Dr. Reinhard Baumann, München, stellvertretender Vorsitzender des Memminger Forums für Schwäbische Regionalgeschichte Militärdekan Dr. Klaus Beckmann, Persönlicher Referent des Evangelischen Militärbischofs, Berlin Bibliotheksoberrätin Dr. Gabriele Bosch, Leiterin der Bibliothek des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam Dr. Jens Boysen, assoziierter Wissenschaftler am Institut für Politische Studien, Polnische Akademie der Wissenschaften, Warschau Nico Ditscher-Haußecker, M.A., Humboldt Universität zu Berlin Wiss. Direktorin Prof. Dr. Angelika Dörfler-Dierken, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam Dr. Matthias Gillner, Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg Prof. Dr. Hans-Peter Großhans, Evangelisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Oberst a.D. Prof. Dr. Winfried Heinemann, Berlin Dr. Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein, Zentrum für Religionspädagogische Bildungsforschung, Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Kai Lehmann, Direktor des Museums Schloss Wilhelmsburg, Schmalkalden Prof. Dr. Friedrich Lohmann, Institut für Theologie und Ethik, Universität der Bundeswehr München Prof. Dr. Tim Lorentzen, Theologische Fakultät der Christian-AlbrechtsUniversität Kiel
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Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Benjamin Marschke, Department of History an der Humboldt State University, California Dr. Anke Napp, Leiterin der Mediathek des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg Oberstleutnant Dr. Harald Potempa, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam Dr. Jobst Reller, ev. Militärpfarrer, Munster PD Dr. Astrid von Schlachta, Neuere Geschichte, Universität Regensburg Dr. Gerd Dominik Sieber, Tübingen Prof. Dr. Friedemann Stengel, Theologische Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg Prof. Dr. Volker Stümke, Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg, und Theologische Fakultät der Universität Rostock Dr. Roger Töpelmann, Sprecher des Evangelischen Militärbischofs, Berlin