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German Pages 212 Year 1991
ISTVAN M. FEH:ER (Hg.)
Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk
Philosophische Schriften Band 4
Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk Ein deutsch-ungarisches Symposium
Herausgegeben von
Istvan M. Feber
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk:
ein deutsch-ungarisches Symposium I hrsg. von Istvan M. Feher.- Berlin : Duncker und Humblot, 1991 (Philosophische Schriften ; Bd. 4) ISBN 3-428-07328-2 NE: Feher, Istvan M. [Hrsg.]; GT
Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-07328-2
Inhalt Vorwort des Herausgebers Eröffnungsansprache des stellvertretenden ungarischen Kultusministers Karoly Manherz
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Hans-Georg Gadamer, Heidelberg: Grußwort an das Symposium Otto Pöggeler, Bochum: Philosophie und Politik bei Heidegger und Hannah Arendt
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Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Freiburg i. Br.: Technik, Politik und Kunst in den "Beiträgen zur Philosophie"
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Istvan M. Feber, Budapest: Heidegger und Lukacs. Eine Hundertjahresbilanz J. C. Nyfri, Budapest: Heidegger und Wittgenstein
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Walter Biemel, Aachen: Zu Heideggers Deutung der Kunst
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Christoph Jamme, Bochum: "Zwiefalt" und "Einfalt". Heideggers Deutung der Kunst Cezannes
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Hartmut Tietjen, Freiburg i. Br.: Martin Heideggers Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Hochschulpolitik und Wissenschaftsidee (1933 - 1938) . . . . . . . . . . . . . . . 109 Frithjof Rodi, Bochum: Wandlungen der hermeneutischen Situation im Blick auf Heideggers Frühwerk 129 Jean Grondin, Montreal: Das junghegelianische und ethische Motiv in Heideggers Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Läszl6 Tengelyi, Budapest: Verantwortlichkeitsethische und fundamentalontologische Schuldauslegung 151
6 Mih!ily Vajda, Debrecen: Heidegger und die Postmoderne
Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Bela Fila, Budapest: Geschichtlichkeit als theologisches Problem- in Auseinandersetzung mit Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 György Tatar, Budapest: "Gott ist tot" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Vorwort des Herausgebers Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge, die auf einem dem Gedenken Martin Heideggers gewidmeten deutsch-ungarischen Symposium vom 2. bis 4. November 1989 in Budapest vorgetragen wurden. Ein Band mit denselben Abhandlungen in ungarischer Sprache wird etwa zur gleichen Zeit in Ungarn erscheinen. Vermehrt wurden die Beiträge des Symposiums um einen Vortrag, den Walter Biemel auf einem mit dem Budapester Symposium eng verbundenen Kolloquium an der Universität Budapest am 20. April 1990 gehalten hat. Im Gegenzug wird das in Budapest vorgetragene Referat von Klaus Held "Die Endlichkeit der Welt. Phänomenologie im Übergang von Busserl zu Heidegger", das schon vor dem Symposium für eine Festschrift vergeben worden war, in dieser selbst erscheinen (die Übersetzung in ungarischer Sprache erscheint immerhin im ungarischen Tagungsband). Dem vorliegenden Band vorangestellt ist von ungarischer Seite die Eröffnungsansprache des stellvertretenden Kultusministers Karoly Manherz sowie von deutscher Seite das Grußwort Hans-Georg Gadamers, der seit längerem mit Ungarn Kontakte gehabt und die Einladung demnach mit Freude angenommen hatte- die Reise jedoch aus gesundheitlichen Gründen absagen mußte; ein während des Symposiums telefonisch dem ungarischen Rundfunk gegebenes Interview hat er als Gelegenheit dazu benutzt, ein Grußwort an das Symposium zu richten, wofür wir ihm herzlich danken. Wir danken gleichzeitig allen Teilnehmern der Tagung für ihre Bereitschaft, am Symposium teilzunehmen. Ein deutsch-ungarisches philosophisches Symposium fand seit längerem nicht statt -hätte auch nicht stattfinden können. Der 100. Geburtstag Martin Heideggers schien ein würdiger Anlaß zu sein, von ungarischer Seite die Initiative zu ergreifen, um abgebrochene Kontakte aufzunehmen und somit den Anschluß des ungarischen Geisteslebens an die klassische europäische Tradition nunmehr auch vor einer breiteren Öffentlichkeit zum Ausdruck zu bringen. (Dank dem Interesse, das das Projekt des Symposiums auch im internationalen Bereich hervorgerufen hat, hätte die Veranstaltung leicht in ein größeres internationales Treffen umgewandelt werden können- dazu war aber die Zeit zu knapp: wir freuten uns allerdings, als Vortragenden auch Herrn Jean Grondin aus Kanada bei uns zu haben.) Wesentlich für das Zustandekommen des Symposiums war, daß sich schon seit einiger Zeit ein zunehmendes Interesse am Werk Heideggers in Ungarn gezeigt hatte. Ein Teil des philosophischen Bewußtseins hatte sich in allmähli-
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eher Abwendung von den bloß ideologisch-politischen Vorurteilen des Marxismus immer mehr einer sachlich orientierten Rezeption der zeitgenössischen Philosophie, so auch der Heideggerrezeption und -forschung zugewandt. Daß 1984 eine von ideologischen Stempeln freie Heidegger-Monographie aus der Feder des Herausgebers dieses Bandes veröffentlicht werden konnte, dürfte wohl ein Indiz für die Wandlung der Grundstimmung gewesen sein. Dabei wurde immer mehr auch auf die neuere internationale, vor allem westdeutsche, Heideggerforschung und deren Ergebnisse rekurriert: Im kritischen Anschluß daran entfalteten sich verschiedene Richtungen der ungarischen Heidegerrezeption und -deutung. Es ist kaum übertrieben zu sagen, daß Heideggers Denken in den vergangenen Jahren zu einem der Kristallisationspunkte des geistigen Interesses in Ungarn geworden ist. Hinsichtlich dieser Sachlage schien aufgrund schon bestehender Kontakte der Moment gekommen zu sein, einen ersten Austausch im engeren Fachgebiet zwischen deutschen und ungarischen Philosophen zu veranstalten, die sich mit dem Werk Heideggers beschäftigen. Der 100. Geburtstag Heideggers sowie die gerade zur Zeit des Symposiums erschienene ungarische Ausgabe von Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit sollten dem Fachsymposium einen würdigen Rahmen bzw. besondere Aktualität verleihen. Das Symposium, dessen Plan konkrete Formen während eines mit dem Titel Zur philosophischen Aktualität Heideggers vom 24. bis 28. April 1989 in Bonn-Bad Godesberg veranstalteten Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung angenommen hatte, verstand sich jedoch weder als bloße Kontaktaufnahme noch als pure Gedenkfeier. Vielmehr sollte es ein Arbeitssymposium sein, womit auch dieses impliziert wurde: daß es zu einer Kontaktaufnahme unter Philosophen am besten kommen kann, wenn sie sogleich an die Sache kommen; und daß statt feierlicher Gedenkreden das "An-die-Sache-kommen" zugleich die Art und Weise ist, des 100. Geburtstages Martin Heideggers in seinem Geiste zu gedenken. Das Thema des Symposiums ist gemäß diesen Überlegungen gewählt worden. Es wurde immerhin umfassend formuliert. Es sollte den Referenten die Möglichkeit gegeben werden, angesichts der Interpretation des Heideggerschen Werks sowohl (eigene) Wege darzustellen als auch zu anderen Wegen (die im Titel als "Irrwege" angesprochen sind) kritisch Stellung zu nehmen. Es ging auf jeden Fall um den neueren Umgang mit Heideggers Werk- und von diesem Umgang kann man ebenfalls sagen: Er "hat sich schon zerstreut in eine Mannigfaltigkeit von Weisen des Besorgens" (Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 67). Die "Weisen des Besorgens" waren für uns die Wege oder Irrwege des Um-gangs, die so oder so den Zu-gang zu der Sache, d. h. Heideggers Werk, öffnen oder verlegen. In diesem Sinne Wege zu skizzieren oder Irrwege abzulehnen- das ist es, worauf es uns ankommen sollte.
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In den hier veröffentlichten Aufsätzen ist also ein breites Spektrum von Auffassungen vertreten. Die Themen sind komplex, vielschichtig und daher erläuterungsbedürftig. Wie man leicht sieht, beziehen sich außerdem die Beiträge in sehr unterschiedlicher Weise auf das Thema. Einen ersten Schwerpunkt stellt die Parallelisierung des Denkens Heideggers mit anderen bedeutenden Denkern unseres Jahrhunderts wie Hannah Arendt, Lukacs und Wittgenstein dar (0. Pöggeler, I. M. Feber, J. C. Nyiri). Das Thema "Politik" bzw. "Philosophie und Politik" ist in mehreren Beiträgen angesprochen worden. Otto Pöggeler entwickelt diese Beziehungen von den Denkwegen Martin Heideggers und Hannah Arendts her im Blick auf die Möglichkeiten der praktischen Philosophie; im Beitrag Friedrich-Wilhelm von Herrmanns geht es im wesentlichen um die Verortung des Politischen in Heideggers seinsgeschichtlichem Denken in Auseinandersetzung mit den im Zusammenhang des Nazi-Regimes gemachten Erfahrungen und Täuschungen; Hartmut Tietjen hat aufgrund bisher unbekannter Quellen und unveröffentlichter Dokumente einen breiteren und gerraueren geschichtlichen Rahmen als bisher üblich zur Rekonstruktion und Deutung von Heideggers Rektoratsperiode und der darauf folgenden Zeit entworfen, wobei viele frühere Versuche als "Irrweg" abgelehnt werden konnten; und es konnte nicht ausbleiben, das Thema der Politik auch im Beitrag über Heidegger und Lukacs zumindest andeutungsweise heranzuziehen, zumal da in die Totalitarismen unseres Jahrhunderts neben dem Nazismus ja auch der Stalinismus gehört. Dem Thema "Heidegger und die Kunst" gilt der Beitrag Walter Biemels im allgemeinen und, mit Blick auf Heideggers Deutung der Kunst Cezannes, der Christoph Jammes im besonderen. Gleichsam als Ergänzung zum ersten zeigt von Herrmann im Schlußteil seines Beitrages, wie sich die Thematik der Kunst in den seinsgeschichtlichen Fragehorizont einfügt, und erhellt dabei auch den systematischen Zusammenhang, aus dem Heideggers berühmte Kunstwerk-Abhandlung "Der Ursprung des Kunstwerkes" gedacht wurde. Dieses Referat unternimmt des weiteren den Versuch, die ganze Gedankenwelt des zweiten Hauptwerks Heideggers, der Beiträge zur Philosophie, und seinen Zusammenhang mit dem ersten Ausarbeitungsweg der Seinsfrage erläuternd kurz näherzubringen. Hermeneutische Zusammenhänge werden in einem dem "Umgang mit Heidegger" gewidmeten Band verständlicherweise vielfach diskutiert; eigens behandelt werden sie auf zwei verschiedenen Ebenen: im Beitrag von Jean Grondin sozusagen "von innen", in dem von Frithjof Rodi "von außen". Grondin versucht in Auseinandersetzung mit den neueren, vor allem französischen, aber auch deutschen Interpretationen, welche das Fehlen einer Ethik in Heideggers Denken als einen der gravierendsten Mängel seiner Philosophie ansehen und manchmal sogar mitverantwortlich für Heideggers politische Verstrickung machen, zu zeigen, daß das Fragen der Seinsfrage selbst, die
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Ontologie, die "ursprüngliche Ethik" sei und daß die die existenziale Analytik von Sein und Zeit antizipierende "Hermeneutik der Faktizität" von ethischen, ja sogar aufklärerisch-ideologiekritischen (weil nach Selbstdurchsichtigkeit strebenden) Motiven durchdrungen ist. Der vom jungen Heidegger geprägte Begriff der "hermeneutischen Situation" läßt sich wohl auf die HeideggerForschung selbst anwenden, deren Wandlungen im Blick auf Heideggers Frühwerk Rodis Referat galt; neben einem Überblick über die neue Forschungssituation hat er die Möglichkeiten - Chancen oder Gefahren - sowie die Alternativen der Heidegger-Forschung zum Gegenstand der Reflexion gemacht. Wurden Chancen oder Gefahren, Wege und Irrwege der Forschung im Schlußteil von Rodis Referat angesprochen, so sind Chancen und Gefahren, Wege und Irrwege des theologischen Umganges mit Heideggers Werk im Beitrag von Bela Fila am Leitfaden des sowohl Heidegger als auch der Theologie allerwichtigsten Begriffs der Geschichtlichkeit skizziert worden. Derselbe Begriff diente dem Beitrag von György Tatar dazu, Nietzsches Spruch vom Tode Gottes und dessen Interpretation bei Heidegger im Spannungsfeld von Metaphysik und Theologie zu erläutern. Das Thema der Geschichtlichkeit wird als Untersuchungsfeld auch im Vergleich von Heidegger und Lukacs hervorgehoben, und dem Entstehen dieses Begriffs im Frühwerk Heideggers galten einige zusammenfassende Hinweise im Beitrag Rodis. Geschichte kam schließlich im Referat von Mihaly Vajda in dem Sinne vor, daß Heideggers Verhältnis zu jener Epoche des europäischen Menschentums, die als Moderne bzw. Postmoderne bezeichnet zu werden pflegt, erläutert wurde. Ging Grandins Beitrag zu Heideggers früher Hermeneutik von der französischen Debatte und der gegen diese aufgestellten These aus, Ontologie bedürfe nicht erst der Ergänzung durch eine Ethik, so unterzog das Referat von Laszl6 Tengelyi - ebenso von dem französischen Philosophieren der Gegenwart ausgehend- ein "ethisches" Problem der Untersuchung; die an den einschlägigen Gedankengängen von Sein und Zeit vollzogene "fundamentalontologische Schuldauslegung" wird hier zugleich in die Perspektive einer umfassenderen problemgeschichtlichen Rekonstruktion eingebettet. Der Band zeigt insgesamt eine eigentümliche Koinzidenz in den für wesentlich gehaltenen Themen: Kunst, Politik, Hermeneutik, Ethik (bzw. praktische Philosophie) werden immer wieder von verschiedenen Blickrichtungen her zur Diskussion gestellt. Will man die Referate im Überblick etwas schematisch charakterisieren, so lassen sie sich inhaltlich etwa nach folgenden Hinsichten ordnen. Angesichts des Werks Heideggers wird in den Referaten insbesondere das Frühwerk, die Rektoratsperiode, die Beiträge, sowie das Thema der Kunst und Geschichtlichkeit behandelt. Es wird andererseits Bezug genommen auf zeitgenössische Denker (Hannah Arendt, Lukacs, Wittgenstein) , und es werden Paralellisierungen mit ihnen ausgearbeitet. Und die behandelten
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Fragebereiche betreffen dann einmal die traditionellen Fachdisziplinen der Ethik, der Ontologie, der Hermeneutik, der Theologie - eine Charakterisierung freilich, die Heidegger selbst ohne weiteres abgelehnt hätte-, sowie, auf einer anderen Ebene, die Themen der Politik, Technik, Kunst, Geschichte und Ideologie. Um Wege und Irrwege geht es hier, genauer betrachtet, aufmindestens drei Ebenen: zum einen in bezugauf die Denker selbst (Heidegger, Arendt, Wittgenstein, Lukacs usw.), zum anderen in bezug auf die Forschung bzw. verschiedene Forschungs- und Rezeptionsrichtungen und zum dritten in bezug auf die in den Referaten selbst entwickelten eigenen Wege (mit oder ohne die abgelehnten bzw. kritisierten Irrwege). Das Symposium verstand sich im wesentlichen als einen ersten Schritt auf dem Wege weiterer Austausche und Gespräche. Dafür, daß dieses erste Treffen in Zusammenarbeit mit der 1987 neugegründeten Ungarischen Gesellschaft für Philosophie möglich geworden ist, gilt unser Dank vielen. Die Veranstaltung hätte vor allem nicht ohne die dankenswerte Unterstützung des Budapester Goethe-Instituts zustande kommen können. Bei dessen Direktor, Herrn Dr. Egon Graf von Westerholt, der vom ersten Moment an die Idee des Symposiums begeistert aufgenommen und sich energisch dafür eingesetzt hat, bedanken wir uns recht herzlich. Zu Dank verpflichtet sind wir auch den anderen Förderem des Symposiums: dem ungarischen Kultusministerium und insbesondere dem stellvertretenden Kultusminister, Herrn Prof. Dr. Karoly Manherz, sowie der Thyssen-Stiftung und der Soros Foundation, deren großzügige Unterstützungen die Veranstaltung im wesentlichen ermöglicht haben. Und Dank gebührt auch der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, die für diese Veranstaltung ihren großen Kongreßsaal (das sog. "alte Parlament") zur Verfügung gestellt hat. Nicht zuletzt gilt unser Dank Herrn Prof. Norbert Simon, daß er eine Veröffentlichung der Tagungsergebnisse in der vorliegenden Form ermöglicht hat. Zusammen mit den Verfassern danken wir auch dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe "Philosophische Schriften" . Mein Dank gilt auch Herrn Dieter H. Kuchta für die freundliche Mitarbeit.
I.M. F. Redaktionelle Anmerkung: In die Zitiergewohnheiten der Autoren ist nur wenig eingegriffen worden. Es wurde jedoch der Versuch unternommen, die Zitationsweisen nicht nur innerhalb der einzelnen Aufsätze, sondern, soweit wie möglich, auch innerhalb des Bandes zu homogenisieren. Zitate, die im laufenden Text in Klammern angegeben waren, wurden in dieser Form beibehalten und nicht in Anmerkungen verwandelt. Es wurde weiterhin darauf verzichtet, alle Heideggerzitate aus möglichst denselben Ausgaben nachzuweisen. Für Mitarbeit bei der Redaktion bin ich meiner Frau zu Dank verpflichtet. Den Herren cand. phil. Tibor Schwendtner und cand. phil. György Bah'izsi danke ich herzlich für die Hilfe beim Lesen der Korrekturen.
Eröffnungsansprache des stellvertretenden ungarischen Kultusministers Karoly Manherz Es freut mich außerordentlich, daß eine so große Zahl von prominenten deutschen Autoren, die wir bisher nur durch ihre Schriften kannten, einer Einladung nach Budapest gefolgt sind, um hier, in Referaten und öffentlichen Diskussionen, mit ihren ungarischen Kollegen und allen Interessierten des 100. Geburtstages Martin Heideggers zu gedenken. Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, und heiße Sie herzlich willkommen. Dies ist ein deutsch-ungarisches Symposium; und so freut es mich ganz besonders, den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Dr. Alexander Arnot, und den Direktor des Budapester Goethe-Instituts, Herrn Dr. Egon Graf von Westerholt, der sich um das Zustandekommen dieser Veranstaltung große Verdienste erworben hat, begrüßen zu dürfen. Und schließlich darf ich alle Vortragenden und Beteiligten dieses Symposiums herzlich willkommen heißen. Wie Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, wohl wissen, erleben wir hier eine Umbruchzeit. Manches braucht zum Gegenstand erneuter Reflexion und Besinnung zu werden - und hierzu gehört auch die Lage der Philosophie in Ungarn. Nun ist es so, daß die Philosophie in der Vergangenheit bei uns stiefmütterlich behandelt worden ist. Ideologische Überformungen haben ihr jegliche Freiheit beraubt, so ist die einstige Königin zur Dienstmagd der Politik verkommen. Bereits die Lehren von Hege] und Kant wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch diskriminiert, so daß die marxistische Unterdrückung dessen, was als große Philosophie in der europäischen Tradition überliefert war, nur eine alte (und wohl zweifelhafte) Tradition fortsetzte. Die Unterdrückung der Philosophie durch die Politik erwirkt auf der anderen Seite, daß sich die schlichte Ablehnung des politischen Regimes nun auch als philosophische Leistung verstehen und feiern läßt: Der Verwurzelung dessen, was sich in Europa als Philosophie verstand, dient dies jedoch ebensowenig wie die ideologische Unterstützung des Systems. Aus dieser falschen Alternative, entweder die Politik ideologisch zu unterstützen oder aber sie schlicht abzulehnen, soll die Philosophie herauskommen, den nötigen Abstand von der Politik gewinnen, um sich endlich ihrer wissenschaftlichen Aufgaben widmen zu können.
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Karoly Manherz
Jetzt, im Zuge der Erneuerung der ungarischen Gesellschaft, soll dementsprechend der Philosophie wieder der ihr gebührende Platz eingeräumt werden. Dies heißt im einzelnen: volle Autonomie in Forschung und Lehre sowie freie Wahl- und Entfaltungsmöglichkeiten, unabhängig von allen tagespolitischen oder konjunkturellen Moden. Daß mit dem Beginn der sachlichen Auseinandersetzung mit dem Denken des großen Philosophen unseres Jahrhunderts, Martin Heidegger, so eine Entwicklung in die Wege wird geleitet werden können; und daß dieses Symposium, weit davon entfernt, ein Ausnahmefall zu bleiben, vielmehr eine Reihe internationaler Tagungen eröffnen wird: dies ist die Hoffnung, die ich an diese Veranstaltung knüpfen möchte. Ich heiße Sie alle, die Sie zur Eröffnung des Symposiums gekommen sind, noch einmal herzlich willkommen und erkläre die Tagung für eröffnet. Ich wünsche Ihnen und allen, die sich hier als Hörer und Sprecher beteiligen werden, ein gutes Gelingen und eine fruchtbare Tagung.
Grußwort an das Symposium Von Hans-Georg Gadamer, Heidelberg Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir schmerzlich, daß ich Sie alle nur auf diesem Wege hier begrüßen kann.* Wie gerne hätte ich in Ihrer schönen Stadt und im Kontakt mit Ihren Landsleuten das philosophische Gespräch fortgeführt, das ich hier schon vor Jahren aufgenommen hatte. Nun werden meine deutschen Freunde mit unseren ungarischen Freunden dieses Gespräch wieder aufnehmen - ein offenes Gespräch für uns alle. Das Thema, das uns hier zusammenführt, ist ja die Philosophie. Man kann in der heutigen Welt, in der nach allen Richtungen die Schranken fallen, die Bedeutung philosophischer Gedankenbewegungen in ihrer Aktualität gar nicht hoch genug einschätzen. Gerade Sie, die hier in Ungarn so dramatische Stunden unserer jüngsten Geschichte durchlebt haben und einen so wichtigen Schauplatz neuer Initiativen und neuer Verständigungsaufgaben darstellen, wissen, was Gedanken und was gedankliche Freiheit als ein Wert und als eine Zukunftschance für die Menscheit bedeuten. Was uns hier alle vereinigt, sind Anliegen der ganzen Menschheit. Es geht darum, unser Zusammenleben auf diesem Planeten neu zu gestalten, und das so, daß wir die großen Werte des menschlichen Kulturwillens und die farbigen Schönheiten des Lebens erhalten und zu reicherer Entwicklung bringen. Es ist mir eine große Freude zu sehen, daß es ein philosophisches Bedürfnis ist, das wir alle empfinden und in welchem wir mehr und mehr Widerhall in der ganzen Menschheit finden. Wir Deutsche haben seit langem eine besondere Passion für die Philosophie, und während der großen Umgestaltung der Welt, die vor Jahrhunderten einsetzte, hat sich in unserem Lande eine philosophische Bewegung entwickelt, die in Wahrheit das Erbe unserer ganzen europäischen Entwicklung in sich trägt. Daß noch einmal unter uns ein Naturgenie des Denkens auftrat, wie es Martin Heidegger war, hat viele von uns gelehrt, an den Denkwegen der Menschheit neuen Anteil zu nehmen. Wie wir das tun, ob es andere überzeugen kann, ob andere uns von ihren eigenen
* Anmerkung des Herausgebers: Herr Professor Gadamer konnte an der Tagung, wie bereits im Vorwort gesagt, aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen. Sein Grußwort hat er an das Symposium durch den ungarischen Rundfunk gesandt; den Text hat er dann freundlicherweise selbst korrigiert.
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Grußwort
Denkerfahrungen aus vor neue Fragen stellen werden - es wäre nicht die Philosophie, die uns alle einigt, wenn wir das wüßten. Es ist ein bedeutender erster Schritt, den wir heute tun, daß ein neu auf sich besinnendes Europa sich in ein Gespräch miteinander vertieft. Wir wissen, daß das nur ein kleiner, aber ein kühner Schritt ist. Aber wir erfahren an solchen ersten Schritten auf beiden Seiten, wie viel Ausstrahlung des eigenen Denkens und wie viel Rückstrahlung des Denkens anderer Lebenswelten unser Gespräch beleben kann. Ich wünsche allen Erfolg bei unseren Verständigungsversuchen und uns allen, daß uns offene Horizonte in eine Zukunft blicken lassen, in der wir alle, auch unsere Kinder und Kindeskinder, wieder Zukunft haben.
Philosophie und Politik bei Heidegger und Hannah Arendt Von Otto Pöggeler, Bochum Das zwanzigste Jahrhundert hat wie kaum eine andere Zeit über die Menschen rasante Entwicklungen, aber auch ungeheure Katastrophen gebracht. Europa, zur Mitte der Welt geworden, hat sich selbst zerstört, als die imperialistisch gewordenen Nationen nur noch zum Kampf gegeneinander antreten konnten. Der Zweite Weltkrieg brachte zum Abschluß noch als Drohung in die Zukunft die Atombombe, die kriegerische Auseinandersetzungen herkömmlicher Art beendete und das Leben der Menschheit auf diesem Planeten im ganzen bedroht. Zu den Gefahren, die nicht auf diese Bombe beschränkt sind, kommen weitere Umwandlungen im Zusammenleben der Menschen, etwa der Gegensatz zwischen den Industriestaaten, die ihren Weg erst einmal gefunden haben, und jenen Ländern, die sich von diesem Weg ausgeschlossen sehen, oder die Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter und der Generationen, die bis in die biologischen Grundlagen reichen und neben dem erstrebenswerten Neuen auch viel Unsicherheit und Ratlosigkeit bringen. Müßte es nicht Aufgabe der Philosophie sein, hier eine Orientierung zu geben? Diese Erwartung scheint durch Resignation abgelöst zu werden, wenn man auf die Philosophen unseres Jahrhunderts blickt, die maßgeblich wurden. Georg Lukacs war eine der Hoffnungen des neuen Zusammenspiels zwischen Philosophie und Soziologie in Heidelberg; über Nacht und offenbar gegen die gerade noch geäußerten Überzeugungen schloß er sich 1918/19 der Revolution in Ungarn und dem Bolschewismus an. Wir sehen ihn dann bald auch ohne Skrupel ein Hinrichtungskommando zur Wiederherstellung der Ordnung im Dienste des Weltgeistes leiten, die bedeutendsten eigenen Arbeiten mitverurteilen, in Moskau nachts proskribierte Bücher im Fluß versenken, mit einer reaktionären Ästhetik gegen die Kunst der Zeit zu Felde ziehen. Erst sehr spät sah er die Irrwege und suchte anderes.l Zehn Jahre nach dem politischen Entschluß von Lukacs, im Krisenwinter 1929/30, wollte Heidegger sich den Nöten der Zeit stellen. Er sah im Ersten Weltkrieg die Offenlegung der europäischen Ratlosigkeit; um zu retten, was zu retten schien, schloß er sich ausgerechnet 1 Vgl. die engagierten Bemerkungen von Karo! Sauerland: "Vom späten zum jungen Lukacs und Bloch", in: Schweizer Monatshefte 68 (Juni 1988), S. 513- 522. Zum folgenden vgl. meinen Akademievortrag: Philosophie und Nationalsozialismus- am Beispiel Heideggers, Opladen 1990.
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dem nationalsozialistischen angeblichen "Aufbruch" an. Finden wir heute nicht ein kaum noch glaubhaftes Bild in den Berichten darüber, wie der Freiburger Rektor mit seinen Dozenten in stundenlangem Marsch in SA-, SSoder auch Stahlhelm-Uniformen ins Wissenschaftslager marschierte oder eine Dozentenakademie zur Schulung jedes Habilitierenden mitplante? Bald sah Heidegger ein, daß er auf falschem Wege war. Doch konnte er einen angemessenen Weg finden? Harrnah Arendt kam 1924 zum Studium zu Heidegger, als dieser gerade von seinen Aristoteles-Studien her den endgültigen Schritt zu Sein und Zeit tat. Noch in ihrem letzten Werk über das Leben des Geistes zitiert sie eine Nachschrift von Heideggers Sophistes-Vorlesung, deren erste Hälfte eine Interpretation des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik gab. Promovieren mußte sie zuerst einmal bei Jaspers über die Liebe bei Augustin, nach der wir Gott genießen, die anderen Menschen nur gebrauchen dürfen. Kein Wunder, daß sie mit Günther Stern sich Rilkes Duineser Elegien und deren Verflechtung von Liebe und Sterblichkeit zuwandte. Studien über die deutsche Romantik führten sie zur Gestalt der Rahel Varnhagen, die als Jüdin die soziale Entfremdung trotz aller Assimilation nie wirklich zu überwinden vermochte. Das Jahr 1933 brachte Entfremdung und Entzweiung im politischen Sinn, zuerst innenpolitisch die neue Proskription, dann bald außenpolitisch den Krieg. Als Emigrantirr konnte Harrnah Arendt von Paris aus für die jüdische Jugend Aliyah nach Palästina wirken, von Amerika aus für den Aufbau einer jüdischen Armee gegen Hitler und nach dem Kriege für die Jewish Cultural Reconstruction. Das Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft machte den Totalitarismus von Hitler und Stalin als neues Phänomen der Geschichte sichtbar und begründete den Widerstand, den sie praktisch geleistet hatte. 2 Die bange Frage um 1933 galt nicht nur den Feinden, sondern gerade auch dem, was die Freunde taten. Jaspers wurde bald selbst verfemt, an Heidegger blieb die verhängnisvolle Option von 1933 hängen. So gab es nach 1945 mit Jaspers bald wieder den engsten Kontakt. Lesen wir heute im Briefwechsel der beiden das Hin und Her der politischen Urteile über die wichtigsten Fragen, dann beruhigt uns dieses Engagement nicht. Es wird das alte "0, si tacuisses ... " geweckt und damit die Frage, ob Philosophen nicht überhaupt besser zu konkreten politischen Fragen schweigen sollten. Auch mit Heidegger kam Bannah Arendt wieder ins Gespräch, und zweifellos sind ihre bedeutendsten Bücher eine Fortführung der Gedanken dieses ihres Lehrers und einer Auseinandersetzung mit ihnen. Zum achtzigsten Geburtstag Heideggers stellte 2 Zum einzelnen vgl. Elisabeth Young-Bruehl: Hanna Arendt. Leben und Werk, Frankfurt a.M. 1986 (englisch 1982). Zum folgenden vgl. Hannah Arendt, Kar! Jaspers: Briefwechse/1926- 1969, hrsg. von L. Köhler und H . Saner, München und Zürich 1985.
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Hannah Arendt Heideggers Irrtum von 1933 als kurzfristig dar; ja, sie verglich ihn mit Platons Weg nach Syrakus. Der Philosoph, einsam in seinem Denken wohnend, kann sich nicht in die Tendenzen des Alltags der Vielen finden, vor allem mit seiner Radikalität nicht den Kompromiß akzeptieren, der offenbar zur politischen Sphäre gehört.J Doch diese Flucht ins Denken war nicht Hannah Arendts Weg, und so hat sie von sich gesagt, daß sie sich nicht als Philosophin sehe, auch nicht als Vertreterio einer politischen oder praktischen Philosophie, was für sie zu einem Widerspruch in sich selbst geworden war. Diese Auffassung muß jeden schockieren, der nach dem letzten Kriege als Student zur Philosophie fand, weil er nicht noch einmal orientierungslos in den Strudel der Geschehnisse geraten wollte. Hannah Arendts Auffassung widerspricht auch diametral dem Bemühen der meisten sonstigen Schüler Heideggers, die Heideggers Irrweg etwa im Hinblick auf die berühmten Ideen von 1914 nicht als Zufall sahen, aber gegen alle diese Irrwege eine Rehabilitierung der praktischen Philosophie erstrebten. 4 Gegen diese Rehabilitierung und überhaupt gegen eine hermeneutische Philosophie, die den Rückgang zum ursprünglichen Denken wieder mit den konkreten philosophischen Disziplinen verflocht, hat der späte Heidegger seine klare Absage gestellt und so auf eine andere Weise Hannah Arendts Zweifel an der Möglichkeit einer Praktischen Philosophie bestätigt. Können diese Absage und diese Zweifel hingenommen werden? Diese Frage soll in zwei Schritten entfaltet werden; zuerst mit Bezug auf Heideggers Aristoteles-Rezeption und Haunah Arendts Buch Vita Activa, dann mit Bezug auf Heideggers spätes Denken und Hannah Arendts Verortung dieses Denkens in ihrem Nachlaßwerk über das Leben des Geistes.
I. Vita Activa Aristoteles ist in unterschiedlichen Weisen zum Lehrer des Abendlandes geworden - anders bei den spätantiken Kommentatoren als im arabischen, jüdischen und christlichen Mittelalter, anders wieder in der Renaissance als zur Zeit der Französischen Revolution bei Schlosser oder Hegel. Wenn Heidegger seit 1921 seine Auseinandersetzung mit der Tradition im Medium einer Aristoteles-Interpretation und -Destruktion führt, kann er das tun vom sech3 Hannah Arendts Artikel ist wieder abgedruckt in: A ntwort. Martin Heidegger im Gespräch, hrsg. von G. Neske und E. Kettering, Pfullingen 1988, S. 232- 246. Zum folgenden vgl. Ernst Vollrath: "Hannah Arendt und Martin Heidegger", in: Heidegger und die praktische Philosophie, hrsg. von A. Gethmann-Siefert und 0 . Pöggeler, Frankfurt a. M. 1988, S. 357 - 372. 4 Vgl. den Überblick in meiner Darstellung: Philosophie und Politik bei Heidegger, 2. erweiterte Aufl., Freiburg/München 1974. Zu Heideggers Widerspruch gegen die hermeneutische Philosophie vgl. die brieflichen Bemerkungen, die ich wiedergegeben habe in meinem Buch: Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg/München 1983, S. 395 f.
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sten Buch der Nikomachischen Ethik her, dessen Lehre von den dianoetischen Tugenden noch Schleiermacher zur Abwertung gerade dieser Ausgestaltung des aristotelischen Ansatzes veranlaßte. Zeichnet nicht die Unterscheidung von episteme, techne und phronesis den Aufbau von Sein und Zeit vor? Der erste Abschnitt dort kritisiert die Dominanz der Theorie in der philosophischen Tradition von der Umsicht der technai her, die im Umgang mit Zuhandenern sich ausbildet; der zweite Abschnitt faßt die phronesis als das Gewissen-haben-wollen, das Situationen auf den Augenblick der Entscheidung hin zuspitzt, so den aristotelischen Ansatz mit der christlichen Erfahrung eines Kairos verbindet. Damit wird der Weg zur vita contemplativa, zur sophia und zum nous abgeschnitten, die metaphysische Tradition also grundsätzlich in Frage gestellt. Die neue Problematik der Philosophie heißt Sein und Zeit, nämlich eine Unterscheidung des Seins in der Theorie, in der techne und im Gewissen-haben-wollen vom unterschiedlichen Zeitbezug her. Heidegger sagt von Aristoteles, er habe im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik den Kairos entdeckt, obwohl gerade dort das Wort nicht gebraucht wird.s Noch die Vorlesung vom Winter 1929/30 sagt von Kierkegaard, er habe mit der Verpflichtung der Existenz auf den Augenblick die Möglichkeit einer ganz neuen Philosophie aufgewiesen, die über die Antike hinausführe. Doch stellt Heidegger in dieser Vorlesung zu Kierkegaard Nietzsche, der die apollinische Form und das Sein aus dem dionysischen Erleiden des Werdens gewinnen wollte und in seinem "trunkenen Lied" gerade die Lust nach Ewigkeit verlangen läßt. So wird in den dreißiger Jahren Nietzsche für Heidegger der Autor, der die Verbindung der aristotelischen und der christlichen Tradition in Frage stellt und zur entscheidenden Diagnose der Zeit führt. Dabei lehnt Heidegger es ab, mit Klages Nietzsche psychologisch aufzufassen und auf psychologische Errungenschaften festzulegen: auf seine Zerstörung der Intellektualisierung des Lebens (schon in der griechischen Philosophie und dann in der Verbindung dieser lntellektualisierung mit der Erfahrung der Bedürftigkeit und Schwäche des Lebens im christlichen Bereich). Wenn Jaspers Nietzsche wie Kierkegaard nur zum Wachrütteln der Existenz gebraucht, so ist damit für Heidegger jede verbindliche Philosophie aufgegeben. Heidegger lehnt aber auch die politische Interpretation Nietzsches durch Baeumler ab, da in ihr eine so zentrale Lehre wie die von der ewigen Wiederkehr nicht ernst genommen wird. Doch ist Nietzsche es, der in den zehn Jahren nach 1929 auf die Nähe der Philosophie zur schöpferischen Politik und Kunst verweist und damit die Philosophie hineinstellt in die geschichtsbestimmenden Mächte. Die Philosophie muß jene Logik suchen, die wenigstens die Struktur des Geschehens der 5 Vgl. Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1975, S. 409. Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik, Frankfurt a.M. 1983, S. 255, 107 ff., 532.
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Geschichte und das Verhältnis der geschichtsbestimmenden Mächte zueinander vorzuzeichnen vermag. Hier zeigt Nietzsche, daß der christliche Glaube in die Netze hellenistischer Tendenzen geriet und als Platonimus für das Volk jenen Sklavenaufstand zugunsten der Gleichheit und bloßer Verallgemeinerung durchführte, die im liberalistischen Suchen nach Wohlfahrt wie im Sozialismus seine säkularisierten Nachfolger hat. Dieser Zerstörung des ursprünglichen, freien und herrschaftlichen Bezugs zum Leben muß wieder die Rangordnung entgegengestellt werden, die den Zugang zur dionysischen und tragischen Tiefe der Welt durch die großen Schaffenden sichert.6 Auch das Philosophieren steht für Heidegger in diesem geschichtlichen Kontext, und so konnte Heidegger 1933 diesen seinen Nietzscheanismus jenen andichten, die damals ihren angeblichen Aufbruch in der Tat mit Nietzsche und unter den Philosophen nur mit diesem Philosophen verbanden. Heidegger mußte bald einsehen, daß der Nationalsozialismus anderes im Sinn hatte, nämlich eine besonders obsolete Organisation der Mobilisierung aller Energien im Kampf um die Weltherrschaft. Doch sah Heidegger die Zeit überhaupt beherrscht durch diese Organisation und Mobilisierung, mochte diese sich nun auf gesellschaftliche Konkurrenzmechanismen, auf eine angeblich zukunftsträchtige Klasse oder eine zu züchtende Rasse zurückbeziehen. Dieser Organisation oder der universalen Technik gegenüber suchte Heidegger zu fragen, wie sich denn überhaupt so etwas bilde, wie die griechische Polis es einst gewesen war. Zweifellos sucht Hannah Arendt das, was die griechische Polis einst gewesen ist, in ihrem Buch Vita activa in impliziter und expliziter Weise von jenem Aristoteles her zu entwickeln, der ihr einst durch Heidegger nahegebracht worden war. Sie stellt der Erfüllung des tätigen Lebens im Handeln die Arbeit und das Herstellen voran. Die Arbeit entspringe aus den Bedürfnissen des Lebensprozesses; sie gehöre vor allem in das "Haus". Hannah Arendt erinnert daran, daß "Iabor pains" die Geburtswehen meinen. Das Werk des Herstellens wird dagegen von der Arbeit durch eine eigene Wortfamilie unterschieden. Mag es sich nun um die Feldformen der Landwirtschaft, die Bauformen oder die Werke der Kunst handeln: immer eröffnet uns das Werk eine überdauernde Welt und damit Öffentlichkeit. In dieser Öffentlichkeit kann dann gehandelt werden. Das Handeln ist immer Miteinanderhandeln, doch ist mit jeder Geburt die Möglichkeit gegeben, Neues anzufangen und in dieses Miteinanderhandeln einzubringen. Zu einem öffentlichen Vollzug kann das Mit6 Heidegger hat 1961 in der Edition seiner Arbeiten zu Nietzsche die relevanten Partien aus der ersten Nietzsche-Vorlesung gestrichen; diese Partien sind jetzt in der Edition innerhalb der Gesamtausgabe greifbar, vgl. Martin Heidegger: Nietzsche: der Wille zur Macht als Kunst, Frankfurt a. M. 1985, S. 190 ff., 31. Nach 1938 erscheint Nietzsche in anderem Licht, nämlich als reiner Macchiavellist und damit doch als Wegbereiter einer totalitären Politik.
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einanderhandeln kommen, wenn das Handeln mit dem Sprechen zusammengeht. Nur so können das Werk und die Tat ihren Ruhm finden und in der Öffentlichkeit erscheinen. In der Verpflichtung, alles Neue in das Miteinanderhandeln einzubringen, haben die Polis und das Politische ihr Maß. Dieses Handeln als Miteinanderhandeln und damit das Politische sind nach Bannah Arendt weitgehend aus dem Leben der Menschen geschwunden. Gerade die Philosophie, die eine politische Philosophie aufbauen und Philosophen zu Königen bestellen wollte, hat an dieser Zerstörung des Politischen ihren maßgeblichen Anteil. Harrnah Arendt übernimmt die technische Interpretation der platonischen Ideenlehre, wie Heidegger sie ausgebildet hat. (Zuerst sieht der Handwerker auf eine Idee, dann beginnt er sein Tun und realisiert das Gesehene in seinem Werk.) Das Handeln wird aufgespalten in das Wissen und in das Tun; so aber wird das Miteinanderhandeln in einem öffentlichen Bereich zerstört. Die Wissenschaft und die Technik, wie sie von der Neuzeit entfaltet werden, setzen diesen Ansatz endgültig durch. Da es dem christlichen Glauben um das ewige Leben jedes Einzelnen geht, kann er vorbereiten, daß das Leben mit seiner Bedürftigkeit überhaupt zum alles durchwirkenden Grund wird. So wird das Handeln nicht nur durch das Herstellen ersetzt; das Herstellen geht auch in die Bedürfnisbefriedigung der Arbeit über. Der Liberalismus, der eine unsichtbare Hand für seine Konkurrenzmechanismen postuliert, ist schon auf dem Weg zu den Idealen des Kommunismus. In Amerika erscheint auch der Präsident nur als einer der Jobholders. In der philosophischen Widerspiegelung dieser Prozesse sieht Bannah Arendt in einer merkwürdigen Zusammenstellung Nietzsche, Bergson und Marx als "Lebensphilosophen" verbunden.? Übereinstimmung zwischen Heidegger und Hannah Arendt besteht darin, daß eine politische Philosophie nicht möglich ist, die von der Einsicht in Ideen aus das Handeln anleitet. (Wenn die technische Interpretation der Ideenlehre richtig wäre, dann müßte man diese Kritik der platonischen Tradition anerkennen und könnte selbst die genannte Lebensphilosophie als einen christlichen umgewandelten Platonismus für das Volk entlarven.) Die gemeinsame Negation einer bestimmten Überlieferung schließt die entscheidenden Unterschiede nicht aus. Heidegger faßt in Sein und Zeit das Gewissen von einer Entschlossenheit her, die jenseits des Unterschiedes von Theorie und Praxis stehen soll. In den dreißiger Jahren geht er aus von der Einheit des schöpferischen Wissens und Wollens, die sich unter ein Geschick stellt. Die herrschaftliche Stellung der Philosophie wird akzeptiert, aber nicht von Platons Philosophenkönigen aus, sondern von Heraklit und von Nietzsches Verweis auf verdeckte Ursprünge her. Der Humanismusbrief faßt das Denken als ein Han7
Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen L eben, 2. Auf!., München 1981,
s. 106.
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deln, aber als ein Hervorbringen und in diesem Sinne als ein Dichten an der Geschichte des Seins. Der Prozeß dieser Geschichte unterscheidet in sich eine Tiefendimension und eine Oberflächendimension, bald Geviert und Gestell genannt. Das Hervorbringen bis zur ursprünglichen Tiefe der unverfügbaren Quelle zu treiben, wird dann die Aufgabe. Verzweifeln muß Heidegger an der Frage, welche politischen Formen dem Zeitalter der Technik noch gemäß seien, das heißt in ihr die ursprüngliche Dimension der Geschichte wieder zur Geltung bringen könnten. Demgegenüber hält Hannah Arendt fest, daß Sein und Zeit mit seinem ersten Abschnitt die Existenz zu Recht auf den Alltag der Menschen zurückbezieht. Doch zu Unrecht sei dieser Alltag auf die Anonymität des Man festgelegt worden, nicht aber auf die Pluralität der Vielen und damit auf die Dramatik der Öffentlichkeit. Was Hannah Arendt als politische Öffentlichkeit faßt und von der Herrschaft einer öffentlichen Meinung unterscheidet, hat Heidegger in Sein und Zeit mit dem obsoleten Begriff des Volkes angesprochen, zu dem der Begriff der Generation gestellt wurde: das Volk und die Generation binden die Schicksale der Einzelnen zusammen zu einem gemeinsamen Geschick, das sich durch Mitteilung und durch Kampf aufbaut.S Hannah Arendt hält die Mitteilung fest und macht das Mitteilen von Worten und Taten, von dem die Nikomachische Ethik spricht, zum Maß der Politik. Der Kampf erscheint bei ihr als der Streit der Meinungen, die von unterschiedlichen Ansätzen aus Entscheidungen im politischen Bereich suchen. So kann Hannah Arendt in die Diskussion des Politischen einbringen, was bei Heidegger fehlt: die Pluralität der Optionen, an der wir im politischen Bereich nicht vorbeikommen. Daß der Kampf der unterschiedlichen Optionen bedingt ist durch die unterschiedliche Situiertheit in der konkreten Geschichte der Menschen auf dieser Erde, kommt bei Hannah Arendt nicht genügend zur Geltung, da sie das Miteinanderhandeln ablöst vom Herstellen und von der Arbeit, damit von der Bedürftigkeit und dem Mangel, die zum Leben gehören, oder der Knappheit des Lebensraumes und der Lebensmittel. Die Beseitigung der Armut soll ein technisches Problem darstellen, nicht aber ein genuin politisches; die Technik aber gilt als. ein neutraler Bereich, demgegenüber die Politik relativ selbständig bleiben muß. Damit fallen freilich alle Bemühungen um soziale Gerechtigkeit, die zum zweideutigen Wohlfahrtsstaat führten, aus den eigentlichen politischen Aufgaben heraus. Die Rede von der Herrschaft, in der die eine Tendenz durch die andere verdrängt wird, wird von antiken Vorstellungen her aus dem politischen Bereich in die häusliche Sphäre verwiesen. Spitze Bemerkungen gelten gelegentlich dem neuzeitlichen Begriff der staatlichen Souveränität, als ob solche Souveränität das Auf-sich-gestelltsein eines Einzelnen in den Zusammenhang der Völker hineinbringe. 8 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, 7. Aufl. , Tübingen 1953, S. 384 f. Zum folgenden vgl. H . Arendt: Vita activa, S. 190.
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Die Frage bleibt, ob nicht Heidegger wie Hannah Arendt mit ihren Geschichten vom Verfall des Denkens oder des Handeins spezifische Möglichkeiten unserer Zeit und deren Begründung in der Neuzeit nur negativ sehen können und damit die Offenheit der Geschichte verfehlen. So kann zum Beispiel Hege! nur in der pauschalen Kritik und Distanzierung in den Blick kommen. Es bleibt verdeckt, wie Hege! durchaus gesehen hat, daß die Moderne sich von der Antike absetzt, indem sie die Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung der Menschen von einem neuen und anderen Bezug zur Natur in den Menschen und außerhalb der Menschen entfaltet. Wenn Hege! auch die Philosophie als Arbeit fassen will, dann sieht Heidegger darin nur das Einmünden der metaphysischen Tradition in die technische Weltbemächtigung. Diese Distanzierung läßt alle Spezifizierungen, wie Hege! sie zum Beispiel in der Rechtsphilosophie mit der Einführung der "bürgerlichen Gesellschaft" vortrug, außer acht. Sie ebnet dem einen Geschichtsprozeß gegenüber die unterschiedlichen Optionen (etwa von Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus) ein. Es bleibt nur das eine große Drama übrig: einerseits die totale Politik, die zur totalen Technik wurde, andererseits der Gott, der allein noch retten kann und uns gegebenenfalls in den Werken und Winken einer kultischen Kunst anspricht. Hannah Arendt beschäftigt sich dagegen durchaus mit den konkreten Problemen, aber in einer wohl unzulänglichen Weise. So sieht sie die Frauen und die Sklaven sowohl im antiken Oikos wie in den modernen Emanzipationsbewegungen zusammen sich von der Mühe, die die Natur uns auferlegt, lösen. Daß Geburtswehen und Bergwerksarbeit den Menschen in durchaus unterschiedliche Bezüge stellen, wird verdeckt. Wenn zuerst von Himmler, dann von Eichmann gesagt wird, der Familienvater, in dem Peguy den Helden unseres Jahrhunderts sehen wolle, habe sich als Spießer, der die Banalität des Bösen auf sich nahm, so als der große Verbrecher unseres Jahrhunderts enthüllt, dann ist Peguy sicherlich mißverstanden.9 Aber auch Eichmanns Persönlichkeitsstruktur, die eben niemals die Einbettung in geglückte menschliche Beziehungen kannte, ist völlig verzeichnet. Hannah Arendts Vorstellung von Praxis schneidet zu Unrecht den Bezug zur Natur, in die wir uns fügen müssen, ab. Auch die Unterscheidung zwischen Arbeit und Herstellung verletzt in mannigfacher Form die Phänomene. Das Essen, das sofort verzehrt wird, wird verglichen mit dem Tisch, der als hergestelltes Werk bleibt. Verglichen werden aber müßten die Essensformen, die durch die Jahrhunderte hindurch entfaltet wurden und zu denen man gebildet werden muß, mit den Formen des Zusammensitzens. Auch verschlingt der Mensch ein gefangenes Wild oder eine gefundene Pflanze ja nicht, wie ein Tier es tut. Bei den hergestellten Wer9 Über Himmler vgl. Hannah Arendt: Sechs Essays. Schriften der Wandlung 1948, wieder aufgenommen in: Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976; über Eichmann vgl. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, 4. Auf!., München 1976.
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ken wird nicht genügend unterschieden zwischen den handwerklichen und technischen Produkten und den Werken der Kunst. Wenn Hannah Arendt schließlich der neuzeitlichen Naturbemächtigung ein Handeln in die Natur hinein entgegenstellt, dann ist dieses Handeln auch nur ein Provozieren, nicht das Sicheinfügen in vorgegebene Strukturen.1o Ob uns schließlich Tanja Blixens Erzählungen und Romane die Verbindung zwischen den großen Leidenschaften und den großen Werken am besten klarmachen, mag hier dahingestellt bleiben. Teilt nicht Hannah Arendt eine Nostalgie für die Griechen? Die griechische Polis ist bei ihr ein philosophisches Ideal; unklar bleibt schon die genaue Verwurzelung in der historischen Wirklichkeit. Wichtiger jedoch ist, daß Hannah Arendt sich nicht nur auf die Griechen bezieht, sondern viel intensiver auf die Begründung einer Republik in der amerikanischen Revolution. Ihr Buch über die Revolution ist ja ein leidenschaftliches Zeugnis für die Bemühungen, die Französische Revolution und deren Travestie in der russischen Revolution als eine Modernisierungskrise zu begreifen, die fehlschlagen mußte, weil sie von korrupten oder zu wenig entfalteten Verhältnissen ausging. Doch nicht nur der Republikanismus der Amerikaner, auch das spontane Zusammenreden und Zusammenhandeln in den Räten der Arbeiterbewegung sollten auf mögliches politisches Handeln verweisen. Hannah Arendt sieht, daß dieses Rätesystem bei Kronstadt durch die monolitische Partei zerstört wurde , doch habe es sich spontan in der ungarischen Revolution von 1956 wieder gemeldet. Auch Heidegger läßt sich nicht einfach durch eine nostalgische Sehnsucht nach Griechenland leiten; dessen Dichtung ist in der Brechung durch Hölderlin, dessen Kunst in der Brechung durch Cezanne gegenwärtig. Doch Amerika zeigt ihm nur den "Amerikanismus", der nach Ernst Jünger eine totale Mobilmachung aller Energien ohne traditionelle Hemmungen ist. Lenins Wort vom Kommunismus als der Verbindung der Elektrifizierung mit den Sowjets wird von Heidegger nicht auf die Arbeiterräte bezogen, sondern nur noch auf die Partei und deren Ideologie.ll Doch bleiben Hannah Arendt und Heidegger auch bei aller Unterschiedenheit verbunden. Hannah Arendt bezieht sich in ihrem Buch über die Revolution zu Anfang auf Melvilles Billy Budd: der von Natur Gute erschlägt aus Zorn spontan den Bösen. Würde nicht auch der Sieg Abels über Kain Regeln für die Gemeinschaft und damit eine staatliche Verfassung nötig machen? Am Schluß ihres Buches bezieht sich Hannah Arendt auf Rene Chars Tagebuch aus dem Maquis, das im Widerstand gegen den fremden Eroberer das Glück des politischen Handeins wieder entdeckt. Als Heidegger und Char sich 1955 10 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa, S. 225 ff. Zum folgenden vgl. das Motto von Tanja Blixen (das ist Isak Dinesen), S. 164. 11 Vgl. Martin Heidegger: Parmenides, Frankfurt a. M. 1982. S. 127. Anders Hannah Arendt: Über die Revolution, 2. Auf!., München 1974.
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kennenlernten, stimmten sie spontan überein in der Liebe zu Melvilles Erzählung von der Tragik des Guten . Von Char ließ Heidegger sich dann sagen, daß die Provence - diese Brücke nach Griechenland - durch die Aufstellung der Raketen nur noch verwüstet werde, "wenn nicht noch einmal Denken und Dichten zur gewaltlosen Macht gelangen" .12 Macht bildet sich nach Hannah Arendt durch die Zustimmung vieler. Sie ist unterschieden von der Stärke und vor allem dem Einbruch bloßer Stärke in die menschlichen Verhältnisse in der Gewalt. Übersehen ist hier, daß die Zustimmung vieler und damit die Bildung von Macht nur denen zufällt, die auch Stärke, das gelingende Zueinander der Natur und der Menschen sowie der Menschen untereinander, zur Geltung bringen.l3 Für Heidegger verweist Macht auf das Sein, das alles Seiende erst in sein Eigenes bringt, aber sich so auch immer entzieht. Energeia ist nach den Beiträgen zur Philosophie das Vermächtnis des Seins, unterschieden von Gewalt als bloßer Beziehung der Seienden untereinander, das Gegenteil zu den Machenschaften der Technik. Übersehen ist hier, daß Macht das Zueinander vieler Menschen und auch vieler Gruppierungen von Menschen braucht und so unterschiedliche Formen hat. Rene Chars Tagebuch aus dem Maquis schildert eine Ausnahmesituation auch in dem Sinn, daß in dieser Situation zwar nicht alles erlaubt ist (wie die Revolutionäre sagen), aber doch sonst Verbotenes. So wünscht der Tagebuchschreiber auch dem potentiellen Verräter vorweg schon die Kugel- ein Satz, den Paul Celan bei seiner Übersetzung eigentlich nicht hatte übersetzen wollen (denn man dürfe auch in Worten nicht morden).14 Char spielte für Hannah Arendt und für Heidegger sicherlich eine unterschiedliche Rolle; Hannah Arendt sah sich erinnert an ihren eigenen politischen Widerstand, Heidegger an den Widerstand gegen die bloße totale Mobilmachung. Doch bezeugt diese Auszeichnung Chars auch, daß es Hannah Arendt und Heidegger in allzu romantischen Tendenzen nicht gelungen ist, das Politische über den Bezug auf eine Ausnahmesituation hinaus konkret von den unterschiedlichen Aufgaben des heutigen Weges zur einen Weltzivilisation her zu bestimmen. II. Vom Leben des Geistes
Martin Heidegger hat zu Hannah Arendts Auseinandersetzung mit seinem Denken nicht Stellung genommen. Er, der sich entschieden gegen Sartres Existenzialismus gewandt hatte, hätte durchaus im Aktionismus der Vita activa Vgl. Antwort (s. Anm. 3), S. 247, 98. Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, 3. Auf!., München 1975. Zum folgenden vgl. Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie, Frankfurt a. M. 1989, S. 281 f., 130 ff. 14 So Celan 1957 mündlich; vgl. Paul Celan: Gesammelte Werke, Band 4, S. 549 (Feuillets d'Hypnos. Nr. 215). Über Celans Begegnung mit Heidegger vgl. 0. Pöggeler: Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Ce/ans, Freiburg/München 1986, S. 259 ff: "Todtnauberg" . 12
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eine Störung seines Suchens finden können. Doch gibt es keine Äußerungen von ihm zu diesen Fragen. Hannah Arendt hat ihre Auseinandersetzung mit Heidegger in ihr Nachlaßwerk verflochten, das allerdings nicht "Vita contemplativa" heißt, sondern mit einem eher von Jaspers her zu verstehenden Titel Vom Leben des Geistes. Das Denken, das sich in der Einsamkeit mit sich selbst bespricht und so Sinn sucht, wird nicht nur vom wissenschaftlichen Erkennen unterschieden, sondern dem Handeln, das unter Vielen sich vollzieht, antagonistisch entgegengesetzt. Dieses Denken unterwirft sich über das Wollen auch noch das Handeln. Denn das Wollen sucht im Bereich christlichen Glaubens und neuzeitlichen Philosophierens die Selbstbestimmung und schneidet so den Bezug zum Können, das unter Vielen möglich ist, ab. In zwei Kehren habe Heidegger sich gegen die Tradition gewandt: zuerst 1940 das Wollen mit seiner Verstrickung in den Willen zur Macht kritisiert, dann 1946 das Nichtwollen unter Aufnahme mystischer Motive als Seinlassen gefaßt. Können Philosophen, die im Denken wohnen, sich in die Politik finden, wo auch Kompromisse nötig sind? Kaum, und so sagte Hannah Arendt denn in ihrem Geburtstagsgruß an den achtzigjährigen Heidegger, dieser habe wie Platon gemäß einer berufsmäßigen Deformation sich für zehn Monate in die Arena der Politik verirrt, um dann in die Einsamkeit seiner Hütte und zu seiner eigentlichen Aufgabe zurückzukehren.15 Doch diese Charakterisierung verkennt Heideggers Weg. Sie sieht nicht, daß Sein und Zeit keine Existenzphilosophie ist, sondern die Bemühung um eine Logik der Philosophie, die den Bezug auf unterschiedliche Seinsweisen ermöglicht. (Diese Bemühung hält sich auch noch in der späten Entgegensetzung von Gestell und Geviert durch.) Hannah Arendt unterschlägt den eigentlichen Beginn der Kehre, die nur den Zirkel von Sein und Zeit ausschreitet, nämlich die Ontologiebildung in die Geschichte zurückstellt. Sie verkennt, daß Heideggers neuer Nietzscheanismus 1933 sich aus sich selbst heraus den Weg in die Politik suchte. Sie fragt gar nicht, ob das einsame Denken als Suchen des einen Ursprungs nicht dem kritisierten Totalitarismus durch die Verkennung der unaufhebbaren Differenzierungen im Leben nahe bleibt. Als Hannah Arendt plötzlich starb, lag auf ihrem Schreibtisch ein Blatt, das nur den Titel "Die Urteilskraft" und zwei Mottos zum dritten Band ihres Werkes Vom Leben des Geistes zeigte. Wenigstens ihre Vorlesungen über Kants politische Philosophie zeigen, wie sie den Abschluß des Lebens des Geistes in der Urteilskraft finden wollte. Die Urteilskraft wird aufgenommen als reflektierende, so aber bezogen auf die Einbildungskraft, die sich in andere Positionen zu versetzen vermag. Sie wird damit als Gemeinsinn oder sensus communis gefaßt. Zwar wird diese Urteilskraft auf die phronesis des Aristoteles zurückbezogen, doch so, daß die Tradition in ihrem vollen Sinn nicht sichtbar ts Vgl. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes, München 1979, Band 2, S. 164 ff. Vgl. ferner Antwort (s. Anm. 3), S. 241 ff.
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wird. Damit aber müssen auch Heideggers Bemühungen in einer verzerrenden Weise nur auf ein einsames Denken bezogen werden. Daß Heidegger mit der formal anzeigenden Hermeneutik von der Sache her einen Einstieg in den Kontext der phronesis suchte, bleibt verdeckt. Heideggers Verkürzung der Aristotelischen Philosophie um deren politische Dimension wird nicht auch von der Logik der Philosophie her aufgehoben. Sonst hätte gezeigt werden müssen, daß Aristoteles wenigstens für die Welt hier unter dem wechselnden Mond die Eigenständigkeit der Praxis und der Orientierung in Situationen rechtfertigt und dafür einen eigenen Wahrheitsbezug und Logos herausstellt. So gewinnt Aristoteles eine Weise des Wissens, die eben nicht in einer apodeixis aus einem Wahren auf Wahres schließt, sondern sich mit dem Wahrscheinlichen begnügt. Dieses Wahrscheinliche ist immer wahrscheinlich für eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen. Deshalb gehört die topische Dialektik, die dieses Wahrscheinliche von seinen anzeigenden Ansätzen her artikuliert, mit der Rhetorik zusammen in die Praktische Philosophie.16 Harrnah Arendt und Heidegger haben Unrecht, wenn sie diese Rehabilitierung einer praktischen Philosophie verwerfen, indem sie gegen sie die platonische Konzeption einer philosophischen Politik und die neuzeitliche Umwandlung der Politik in Technik ins Feld führen. (Ob die zugrunde liegende Platondeutung richtig ist, soll hier nicht diskutiert werden. Die platonische Ideenlehre kann wenigstens für begrenzte Bereiche durchaus für die praktische Philosophie zurückgewonnen werden und Erwägungen in ein Wissen verwandeln, führt aber über das "mathematische" Wissen hinaus.) Selbst Macchiavelli darf kaum im ganzen als ein Techniker der Politik verstanden werden; er muß vielmehr mit seinen Vorschlägen auf die Geschichte Italiens bezogen werden. Selbstverständlich muß die Rehabilitierung der Praktischen Philosophie Geschichte in einer noch anderen Weise einbeziehen, als Aristoteles das vermochte - nicht nur in bezug auf die hellenistischen Weltreiche und deren Nachfolger, sondern auch zum Beispiel in bezugauf die Ersetzung des Unterschiedes von Freien und Knechten durch die Arbeitsteilung. So bleibt die Aufgabe, mit und gegen Heidegger und Harrnah Arendt die praktische Philosophie zu rehabilitieren und nach einer Logik für sie zu suchen.
16 Vgl. meine Artikel "Topik und Philosophie", in: Topik, hrsg. von D . Breuer, H. Schanze, München 1981, S. 95- 123 ; "Gadamers philosophische Hermeneutik und die Rhetorik" , in: Rhetorik und Philosophie, hrsg. von H . Schanze, J. Kopperschmidt, München 1989, S. 201 - 216.
Technik, Politik und Kunst in den "Beiträgen zur Philosophie" Von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Freiburg i. Br. I. Der seynsgeschichtliche Ansatz der Seinsfrage und die Wesensfragen nach Technik, Politik und Kunst Mit der Wendung vom ersten, dem fundamentalontologischen Ausarbeitungsweg zum zweiten, dem seynsgeschichtlichen Ausarbeitungsweg der Seinsfrage treten erstmals "Technik", "Politik" und "Kunst" in das Blickfeld des Denkens Heideggers. Der fundamentalontologische Ansatz der Seinsfrage hat seine systematische Ausarbeitung in Sein und Zeitl und in den Grundproblemen der Phänomenologie2 gefunden. Während Sein und Zeit die beiden ersten Abschnitte des Ersten Teiles und somit "Die Interpretation des Daseins auf die Zeitlichkeit" enthält, geben uns Die Grundprobleme der Phänomenologie die "neue Ausarbeitung" des dritten Abschnittes "Zeit und Sein" , und das heißt "die Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes der Frage nach dem Sein". Diesem Titel des Ersten Teiles von Sein und Zeit entnehmen wir, daß hier die Frage nach dem Sein als solchem in der transzendental-horizontalen Blickbahn angesetzt ist. Transzendental-horizonal besagt, daß die seinverstehende Existenz des Daseins als geworfener Seinsentwurf in seiner ekstatischen Zeitlichkeit und dieser als ein Transzendieren, als ein Übersteigen des Seienden auf den gezeitigten Zeit-Horizont und das aus diesem sich temporal bestimmende Sein angesetzt ist. Der seynsgeschichtliche Ansatz derselben Frage hat seine erste umfassende Durchgestaltung in jenem Werk erhalten, das einen Doppeltitel trägt, den "öffentlichen Titel" Beiträge zur Philosophie3 und die "gemäße Überschrift" Vom Ereignis. Die "Überwindung des ersten Ansatzes der Seinsfrage" (a.a.O., S. 250) durch ihre seynsgeschichtliche Ansetzung erfolgt durch ein gewandeltes Sichzeigen des in der transzendental-horizontalen Blickbahn erstmals erblickten Bereiches für die Seinsfrage. Ist es in Sein und Zeit die Erschlossenheit der ursprünglichen Zeit als Ganzheit von ekstatischer ZeitHeidegger: Sein und Zeit (Einzelausgabe), Tübingen 151979. Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Gesamtausgabe, Band 24, hrsg. von F .-W. v. Herrmann, Frankfurt a.M. 1975. 3 Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe, Band 65, hrsg. von F.-W. v. Herrmann, Frankfurt a.M. 1989. I
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lichkeit und horizontaler Zeit, die sich als der "Sinn", als der Entwurfsbereich vom Sein als solchem zeigt, so ist es in den Beiträgen das Ereignis, das sich nunmehr als das ursprünglichere Wesen des Seyns, als die geschichtliche Wesung des Seyns in seiner ihm eigenen Wahrheit (Lichtung) erweist. Die Beiträge sind, wie Otto Pöggeler wiederholt betont hat, das Hauptwerk des seynsgeschichtlichen Denkens, weil sie die "erste Durchgestaltung" des ganzen Wesungsbereiches des Ereignisses sind. Die der Veröffentlichung noch harrenden großen Manuskripte aus der zweiten Hälfte der dreißiger und dem Beginn der vierziger Jahre, in denen Heidegger die umfassende Durchgestaltung des Ereignis-Denkens in immer neuen Anläufen fortsetzt, haben die Beiträge zu ihrer Voraussetzung. Aber auch die Beiträge bleiben rückbezogen auf das Hauptwerk des transzendental-horizontalen Ausarbeitungsweges, auf Sein und Zeit, ohne das sie selbst so, wie sie uns vorliegen, unverständlich blieben. Sein und Zeit nimmt daher als das erste Hauptwerk Heideggers zugleich den Rang des Grundwerkes ein, etwa vergleichbar mit Kants Kritik der reinen Vernunft als Grundwerk in bezug auf die beiden folgenden "Kritiken" oder Hegels Phänomenologie des Geistes als dem Grundwerk im Verhältnis zur Wissenschaft der Logik. Der systematische Aufriß von Sein und Zeit ist vorgezeichnet aus der transzendental-horizontalen Ansetzung der Seinsfrage. In bezug auf die Beiträge und d. h. auf das seynsgeschichtliche Denken spricht Heidegger nicht mehr vom systematischen Aufriß, wohl aber von der Fuge als dem Gefüge. Als erste Durchgestaltung des seynsgeschichtlichen Denkens bilden die Beiträge eine sechstach gefügte Fuge, die Fuge der Wahrheit des Seyns in seiner geschichtlichen Wesung als Ereignis. Die sechs Gliederungseinheiten, Fügungen genannt, sind: Der Anklang, Das Zuspiel, Der Sprung, Die Gründung, Die Zukünftigen, Der letzte Gott. Jede dieser Fügungen ist ein eigentümlicher Wesungsbereich des Ereignisses. Die Thematisierung von "Technik", "Politik" und "Kunst" verteilt sich unterschiedlich auf diese Fügungen. Der Fugenort für die "Technik" ist der "Anklang", während die "Kunst" ihren Fugenort in der "Gründung" hat. Was wir hier aber mit dem Wort "Politik" benennen, ist zweierlei. Zum einen meint es das "Politische" in jener zeitlichgeschichtlichen Gestalt, die es in den Jahren der Ausarbeitung der Beiträge in Deutschland angenommen hatte. Die seynsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem "Politischen" des Nationalsozialismus hat ihren Fugenort im "Anklang" . Zum anderen aber tritt das "Politische" unter dem Namen der "staatsbildenden Tat" auf und hat, in der Absetzung gegen das "Politische" des Nationalsozialismus, seinen Fugenort wie die "Kunst" in der "Gründung". Daraus erhellt nun, daß wir die seynsgeschichtliche Bestimmung von "Technik", "Politik" und "Kunst" in den Beiträgen zur Philosophie nur dann zureichend interpretieren können, wenn wir sie aus ihrem jeweiligen Fugenort und die verschiedenen Fügungen in ihrem inneren Zusammenhang begreifen.
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Somit ist als erstes ein Durchblick durch den Fugenbereich der sechs Fügungen geboten. II. Durchblick durch den Fugenbereich der sechs Fügungen
Um diesen Durchblick geben zu können, müssen wir uns als erstes vor Augen führen, wie sich der in der transzendental-horizontalen Blickbahn erstmals erblickte Bereich für die Seinsfrage auf dem Wege der seynsgeschichtlichen Erfahrung in einer ursprünglicheren Weise zeigt als der Wesungsbereich des Ereignisses. Im 132. Abschnitt aus der Fügung "Der Sprung" heißt es, es gelte nicht, "das Seiende zu übersteigen (Transzendenz)", sondern den transzendental angesetzten Unterschied von Sein und Seiendem und mit ihm "die Transzendenz zu überspringen und anfänglich vom Seyn her und der Wahrheit zu fragen" (a.a.O, S. 250 f.). Wie aber solches zu geschehen hat, das erfahren wir aus dem 122. Abschnitt, der den bezeichnenden Titel trägt "Der Sprung (der geworfene Entwurf)". "Sprung" ist die seynsgeschichtliche Kennzeichnung des Denkens des Seyns in der Weise des geworfenen Entwurfs, der nun aber nicht mehr, wie in SuZ, den Grundcharakter des ausdrücklichen Transzendierens hat. Das Denken als Sprung "ist der Vollzug des Entwurfs der Wahrheit des Seyns [ ... ],dergestalt, daß der Werfer des Entwurfs als geworfener sich erfährt, d. h. er-eignet durch das Seyn" (a.a.O., S. 239). Die wegeröffnende Erfahrung für das seynsgeschichtliche Denken des Wesens des Seyns kommt aus der primär transzendental-horizontal angesetzten Geworfenheit, die sich, phänomenologisch ursprünglicher erfahren, zeigt als das Er-eignetsein aus dem Er-eignen durch das Seyn. Dieses Er-eignen nennt Heidegger auch den Zuruf (a.a.O., S. 262), den wir auch fassen können als Zuwurf. Der Entwurf ist als geworfener, sofern die Geworfenheit als Er-eignetsein erfahren ist, der jeweils er-eignete Entwurf. Das ganzheitliche Geschehen zwischen ereignendem Zuruf (Zuwurf) und er-eignetem Entwurf ist das, was Heidegger das Ereignis nennt. Im er-eignenden Zuruf des Seyns, worin es das Da-sein als ein solches, d. h. als er-eignetes entwerfendes Verhältnis zur sich zuwerfenden Wahrheit des Seyns eröffnet, wird das Dasein "zum Eigentum des Seyns" (a.a.O., S. 263). Ereignis und Ereignen sind in ihrem Geschehenscharakter mit Blick auf das "Eigentum" zu verstehen. Eigentum heißt "Zugehörigkeit" (ebd. ), so daß das Da-sein als er-eigneter Entwurf zugehörig ist "in die Er-eignung", d. h. Wesung des Seyns in seiner Wahrheit. Den er-eignenden Zuruf nennt Heidegger auch das "Brauchen": "Das Seyn braucht den Menschen, damit es wese" (a.a.O., S. 251). Es braucht den Menschen als Da-sein in seinem er-eigneten Entwerfendsein, das als solches dem Seyn nicht gegenüber ist, sondern diesem in seiner Wesung zugehört. Das Brauchen als der er-eignende Zuruf und das Zugehören als der er-eignete Entwurf schwingen in einem Gegenschwung, den Heidegger "die Kehre im Ereignis" nennt (a.a.O., S. 262). Die Kehre, der Gegenschwung von Brauchen und Zugehör, von er-
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eignendem Zuwurf und er-eignetem Entwurf, ist nicht etwas, was zum Ereignis auch noch hinzukommt, sondern ist das Ereignis selbst, die Weise, wie das Seyn in seiner Wahrheit geschichtlich je und je west. Der phänomenologische Einblick in die Kehre im Ereignis, in den kehrigen Bezug in der Wesung der Wahrheit des Seyns, führte zur Kehre, zur Wendung von der transzendentalhorizontalen zur seynsgeschichtlichen Ansetzung der Seinsfrage. Inwiefern ist die seynsgeschichtliche Erfahrung der Wahrheit des Seyns als Ereignis ursprünglicher denn die transzendental-horizontale Erfahrung des Sinnes von Sein überhaupt als die ursprüngliche Zeit? Die Antwort auf diese Frage muß lauten: Erst der phänomenologische Einblick in den Ereignis-Charakter des Seins als solchen ermöglicht es, die Geschichtlichkeif des Seyns und mit dieser den geschichtlichen Wandel der Offenbarkeif des Seienden zu denken. Innerhalb der fundamentalontologischen Ausarbeitung der Seinsfrage war zwar die Geschichtlichkeit des Daseins, seiner Möglichkeiten des In-derWelt-seins und somit die Geschichtlichkeit von Welt gedacht, die Erschlossenheit des Seins überhaupt, des Seins im Ganzen aber und die durch sie ermöglichte Entdecktheit des Seienden wurde noch nicht in ihren geschichtlichen Wandlungen erfahren. Der Einblick aber in die Geschichtlichkeit des Seyns selbst eröffnete erst die Möglichkeit, Technik, Politik und Kunst in ihrem geschichtlichen Wesen in das Blickfeld der Seinsfrage zu rücken. Der den sechs Fügungen der Fuge vorangehende "Vorblick" erfüllt seine vorausblickende-vorbereitende Aufgabe auch darin , daß er wesentliche Aufschlüsse über die innere Ordnung und Gliederung der Beiträge gibt. In dem hierfür bedeutsamen 39. Abschnitt heißt es: "Die sechs Fügungen der Fuge stehen je für sich, aber nur, um die wesentliche Einheit eindringlicher zu machen. In jeder der sechs Fügungen wird über dasSelbe je dasSelbe zu sagen versucht, aber jeweils aus einem anderen Wesensbereich dessen, was das Ereignis nennt" (a.a.O., S. 81 f.). Die sechs Fügungen müssen somit nachvollzogen werden als sechs unterschiedliche Wesungsbereiche des Ereignisses. Wenn nun aber das Denken als ereigneter Entwurf in die Wesung des Seyns als Ereignis gehört, dann vermag es in einer jeden Fügung nur das entwerfend zu denken, was sich ihm als das zu Denkende ereignend zuwirft. Jede Fügung hat dadurch ihr Eigenes, daß sie eine eigene Weise ist, wie sich das Seyn für das entwerfende Denken zuwirft. Das ist der Sinn des Satzes auf der ersten Seite der Beiträge: "Das künftige Denken ist Gedanken-gang, durch den der bisher überhaupt verborgene Bereich der Wesung des Seyns durchgangen und so erst gelichtet und in seinem eigensten Ereignischarakter erreicht wird" (a.a.O., S. 3). Die Erfahrung der Not der Seinsverlassenheit des Seienden ist es, die das seynsgeschichtliche Denken in Gang setzt. Dadurch, daß die Seinsverlassenheit des Seienden als solche das Denken trifft, zieht sie das Denken auf sich. Seinsverlassenheit heißt aber: verlassen von der Wahrheit des Seyns. Als ver-
Technik, Politik und Kunst in den "Beiträgen zur Philosophie"
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lassen von der Wahrheit des Seyns, genauer von deren Bergung in seiner Offenbarkeit, ist zwar das Seiende, aber es ist in einer Weise, die durch jene Verlassenheit gekennzeichnet ist. Wird nun aber die Verlassenheit des Seienden von der Bergung der Wahrheit des Seyns erfahren, dann klingt in dieser Erfahrung der Not der Seinsverlassenheit die Wahrheit des Seyns erstmals an, sie klingt an als Verweigerung, als Entzug. Der Anklang des Seyns als der Verweigerung in der erfahrenen Not der Seinsverlassenheit des Seienden ist der erste Wesungsbereich des Ereignisses. Die im fragenden Denken der Seinsverlassenheit für das Denken anklingende Wahrheit des Seyns als Verweigerung weist das Denken in seine Geschichte zurück, um diese zu erfragen als Geschichte des Denkens des Seins als der Seiendheil des Seienden, in der die Wahrheit des Seyns nie erfahren und gefragt wurde. Die in sich wandlungsreiche Geschichte des Denkens unterschiedlicher Weisen der Seiendheit wird dabei erfahren als eine Geschichte zunehmenden Entzugs der Wahrheit des Seyns bis hin zur Seinsverlassenheit. In diesem Fragen spielt sich die Geschichte des metaphysischen Fragens nach der Seiendheit zu als die Geschichte des ersten Anfangs der Wesung des Seyns. Im Bedenken der Geschichte des ersten Anfangs, deren Ende in der äußersten Seinsverlassenheit des Seienden und in der korrelativen Seinsvergessenheit des Menschen erfahren wird, spielt sich der andere Anfang zu als die mögliche Wesung der Wahrheit des Seyns als Ereignis. Der Rückgang in die Geschichte der Metaphysik als Geschichte des ersten Anfangs geschieht umwillen der Entbindung des anderen Anfangs. Aus dem im Fragen nach dem ersten Anfang und seiner Geschichte sich zuspielenden anderen Anfang erfährt das Denken nunmehr die Weisung, in die als den anderen Anfang sich zuspielende Wahrheit des Seyns zu springen. Das Springen ist einErspringen und als solches das denkende Entwerfen , das entwerfende Eröffnen der Wahrheit des Seyns in seiner Wesung als Ereignis. Im 115. Abschnitt, dem ersten der Fügung des "Sprunges", heißt es von diesem: er "erspringt allem zuvor die Zugehörigkeit zum Seyn in dessen voller Wesung als Ereignis" (a.a.O., S. 227). Das will sagen, das Denken als Sprung eröffnet die Wesung des Seyns als Ereignis, indem es sich selbst als Entwerfen und dieses als er-eignet aus dem er-eignenden Zuruf erfährt. Als Sprung erfragt das Denken als erstes die Wesung des Seyns als die Kehre von Brauchen und Zugehörigkeit. In dieser Kehre hat das Ereignis "sein ionerstes Geschehen und seinen weitesten Ausgriff" (a.a.O. , S. 407). Aller Strukturreichtum des seynsgeschichtlichen Denkens kann nur innerhalb der Kehre im Ereignis als der seynsgeschichtlichen Blickbahn erfragt und gedacht werden. Was das Denken als Sprung vorbereitend eröffnet hat, die Wesung des Seyns in seiner Wahrheit als in sich kehriges Ereignis, weist das Denken in die Gründung dieser Wahrheit als das Da-sein. Das Denken als Gründen schließt zwei Weisen in sich: erstens die Wahrheit des Seyns als gründenden Grund 3 Heidegger-Syrnposiurn
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wesen lassen, zweitens auf diesen gründenden Grund bauen, das bauende Gründen (vgl. a.a.O., S. 307). Zu beiden in sich einigen Weisen des Gründens gehört die Bergung der Wahrheit des Seyns in die Offenbarkeit des Seienden. Aus der Gründung der Wahrheit des Seyns widerfährt dem Denken die Weisung, das Sein der Zu-künftigen als die Inständigkeit des künftigen Daseins denkend zu entwerfen. Inständig in der Wahrheit des Seyns sind die Zukünftigen dergestalt, daß sie als ereignetes-entwerfendes Bergen ihre Zugehörigkeit zur Wesung des Seyns als Ereignis wissentlich übernehmen (vgl. a.a.O., S. 82). Das so entworfene künftige Da-sein bringt mit seiner wissentlich übernommenen Zugehörigkeit in das Ereignis die Voraussetzung mit, "vor die Winke des letzten Gottes" (ebd.) oder, um mit dem "Brief über den Humanismus" 4 zu sprechen, vor das Wiedererscheinen des Heiligen, der Gottheit und des Gottes zu stehen zu kommen. 111. Technik, Politik und Kunst in ihren Fügungen
1. Die Technik in der Fügung des Anklangs Das Wesen der modernen Technik wird erfahren, erfragt und gedacht aus der "Machenschaft". Was sonst der Name für ein bestimmtes menschliches Verhalten ist, nennt hier im Zusammenhang der Seinsfrage "eine Art der Wesung des Seins" (Beiträge, S. 126), als solche aber eine "Wesung der Seiendheit" (a.a.O., S. 127). Diese Wesungsart ist das Unwesen des Seyns. Die Seinsverlassenheit wird von Heidegger gedacht als "entsprungen dem Unwesen des Seyns aus der Machenschaft" (a.a.O., S. 107). Aus der machenschaftliehen Wesung des Seyns bestimmt sich die Seiendheit des Seienden als eine solche, wonach alles Seiende "gemacht wird" und "sich machen läßt" (vgl. a.a.O., S. 108). Die Machenschaft ist die "Auslegung des Seienden als des Vor-stellbaren und Vor-gestellten" (a.a.O., S. 108 f.). Somit steht hier im Blick die Machenschaft als die mit dem Beginn des neuzeitlichen Denkens und der neuzeitlichen Naturwissenschaft gesetzte Seiendheit als die Vor-gestelltheit und Gegenständlichkeit, die das Seiende aus dem Vor-stellen des Subjekts empfängt. Die machenschaftliehe Auslegung des Seienden als vor-stellbar besagt, daß das Seiende "zugänglich [ist] im Meinen und Rechnen" und daß es "vorbringbar [ist] in der Her-stellung und Durchführung" (a.a.O., S. 109). Die Machenschaft bestimmt die Seiendheit sowohl als Vor-gestelltheit wie auch als Her-gestelltheit, letztere in ihrer Rückbezogenheit auf das technische Herstellen, das Heidegger in seinem Vortrag "Die Frage nach der 4
Heidegger: Brief über den Humanismus, Frankfurt a. M. 81981.
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Technik"S als das herausfordernde Entbergen faßt. Zur neuzeitlich bestimmten Machenschaft gehört nun aber auch auf seiten des vor- und her-stellenden Subjekts das "Erlebnis", gefaßt als "die Grundart des Vorstelleus des Machenschaftliehen und des Sichhaltens" in diesem (Beiträge, S. 109). Drei Bahnen werden benannt, in denen die Seinsverlassenheit und die neuzeitliche Machenschaft als Bestimmung der Seiendheit des Seienden geschehen, aber so, daß sie sich dabei als solche verhüllen. Die erste Bahn ist die Berechnung, die als solche "erst in die Macht gesetzt [ist] durch die im Mathematischen wissensmäßig gründende Machenschaft der Technik" (a.a.O., S. 120). Die zweite Bahn ist die Schnelligkeit, gemeint als "die mechanische Steigerung der technischen ,Geschwindigkeiten'" (a.a.O., S. 121). Als dritte Bahn zeigt sich der Aufbruch des Massenhaften aus dem Vorrang der Zahl und des Berechenbaren. Die in diesen Bahnen verlaufende Seinsverlassenheit und Machenschaft führt zur "Weltverdüsterung und Erdzerstörung" (a.a.O., S. 119), Welt als das Offene der welthaften Sinnbezüge, Erde als das Sichverschließende verstanden, das im Offenen der Welt diese birgt. Die Fortschritte der neuzeitlichen Wissenschaft und modernen Technik bringen "die Ausbeutung und Nutzung der Erde, die Züchtung und Abrichtung des Menschen in heute noch unvorstellbare Zustände" (a.a.O., S. 156 f.). Die durch die Naturwissenschaft aus dem Seienden herausgesonderte Natur erfährt durch die Technik die "zu ihrem Ende abrollende Zerstörung" (a.a.O., S. 277). Von der "gesteigerten Indienstnahme der Technik" heißt es, sie entwickele nicht nur diese selbst, sondern "steigert ihre Macht ins Maßlose und Unaufhaltsame" (a.a.O., S. 391). Zur Machenschaft als dem neuzeitlichen Wesen der Seiendheit gehört nun auch das Riesenhafte. Auch dieses meint im Zusammenhang der Seinsfrage nicht das aus der technischen Herstellung hervorgehende riesenhafte gegenständlich Vorhandene, nicht "das vor-stellbare Gegenständliche eines grenzenlosen ,Quantitativen', sondern die Quantität als Qualität" und diese verstanden als "Grundcharakter [... ]des Seyns selbst" (a.a.O., S. 135). Im Zeitalter der äußersten Seinsverlassenheit hat den Menschen "die entfesselte Gewalt der Raserei im Riesigen überwältigt [... ] unter dem Anschein der ,Größe"' (a.a.O., S. 8). Das Riesenhafte als eigene Qualität "gründet in der Entschiedenheit und Ausnahmslosigkeit der ,Rechnung' und wurzelt in einem Ausgriff des subjekthaften Vor-stellensauf das Ganze des Seienden" (a.a.O., S. 441). Die "Größe des seiner selbst gewissen" Subjekts, das "Alles auf das eigene Vor- und Herstellen" baut, zeigt sich im Riesenhaften (ebd .). Vier Formen des Riesenhaften werden benannt: 1. das Riesenhafte der Verlangsamung der Geschichte; 2. das Riesenhafte der Öffentlichkeit; 3. das Riesenhafte des Anspruchs der Natürlichkeit im Schein des Selbstverständlichen und "Logis Heidegger: "Die Frage nach der Technik", in: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, S. 5 - 36. 3*
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sehen"; 4. das Riesenhafte der Verkleinerung des Seienden im Ganzen unter dem Schein der grenzenlosen Ausweitung desselben (a.a.O., S. 441 f.). Alles, was von der Machenschaft, vom Riesenhaften und vom Erlebnis gesagt wurde, ist nur dann in zureichender Weise verstanden, wenn es im Zusammenhang der Seinsfrage und in diesem Sinne "ontologisch" begriffen wird als ein Geschehen in der Seiendheit des Seienden sowie im Bezug des Menschen zum Seienden und zu sich selbst, als jenes Geschehen, das die Seiendheit des Seienden sowie den Welt- und Selbstbezug des Menschen entstellt in der Weise äußerster Seinsverlassenheit (vgl. a.a.O., S. 133). 2. Politik in den Fügungen des Anklangs und der Gründung
a) Das Politische in der Fügung des Anklangs Zu dem, worin sich die Seinsverlassenheit meldet, zählt Heidegger als erstes "die völlige Unempfindlichkeit gegen das Vieldeutige in dem, was für wesenhaft gehalten wird" (a.a.O, S. 117). Ein solches Vieldeutige ist das, was alles "Volk" genannt wird, so z. B. "das Rassische" . Zweitens meldet sich die Seinsverlassenheit im "Nichtmehrwissen, was Bedingung ist und was Bedingtes und Unbedingbares" (ebd.). Hier nennt Heidegger die "Vergötzung" des Völkischen, das selbst nur eine Bedingung geschichtlichen Seyns sein kann, zum Unbedingten. In den Machtbereich der Seinsverlassenheit gehört auch die Berufung auf die "Vorsehung", die nur scheinbar die machenschaftliehe Herrschaft des Berechenbaren durchbricht (a.a.O., S. 121). "Die Schulung" als "die berechnete, schnelle und massenhafte Verteilung von unverstandenen Kenntnissen an möglichst Viele in möglichst kurzer Zeit" ist eine weitere politische Gestalt, in der sich die Seinsverlassenheit bekundet (a.a.O ., S. 122). Vom "Umsturz", gemeint ist die nationalsozialistische Revolution , heißt es, er halte die zunehmende Entwurzelung nicht auf, "weil er nicht an die Wurzeln des Seienden kommt und dahin nicht kommen will, weil er dort seiner eigenen Bodenlosigkeit begegnen müßte" (ebd.). Was Heidegger für eine kurze Zeit von diesem Umsturz erhoffte, hat sich damit für ihn als eine tiefgreifende Täuschung erwiesen. Die Parole "alles muß dem Volke dienen" ordnet er ein in jenen Grundzug der Seinsverlassenheit, den er kennzeichnet als "die unmittelbare Greifbarkeit und Nutzbarkeit und Dienlichkeit jeglicher Art" (a.a.O., S. 30). Der von Nietzsche erfahrene und durchdachte Nihilismus wird von Heidegger "gründlicher als Wesensfolge der Seinsverlassenheit begriffen" (a.a.O., S. 138). Zu dem so begriffenen Nihilismus gehört für Heidegger das weltanschauliche Vorgehen des Nationalsozialismus, solches, wie das "Volk", "was allenfalls ein Mittel für die Zielaufrichtung und Verfolgung sein kann", selbst zum Ziel hinaufzusteigern (a.a.O. , S. 139). Die nationalsozialistische Bildungspolitik, wonach die "Kulturgüter" allem "Volke gleichmäßig zugäng-
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lieh" gemacht werden sollen, wird apostrophiert als "lärmende ,Erlebnis'Trunkenboldigkeit", in der sich "der größte Nihilismus" ausbreite. Denn diese Bildungspolitik sei in Wahrheit "das organisierte Augenschließen vor der Ziel-losigkeit des Menschen[ ... ), die Angst vor jedem Entscheidungsbereich und seiner Eröffnung" (ebd.). Diese Angst ist die "Angst vor dem Seyn", die "noch nie so groß [war) wie heute". Ein Beweis für diese seynsgeschichtliche Deutung des damaligen "Heute" ist für ihn "die riesenhafte Veranstaltung zur Überschreiung dieser Angst". Jeder, der dieses liest, weiß sofort, daß Heidegger hierbei alle parteipolitischen Großveranstaltungen und Aufmärsche im Auge hat. Zu dem Versuch, auf die Seinsverlassenheit hinzuweisen, gehört innerhalb der Fügung des "Anklangs" auch die Besinnung auf das machenschaftlieh verwurzelte Wesen der neuzeitlichen Wissenschaft. Im Umkreis dieses Fragenbereiches wird die Sinngebung der Wissenschaft in der Weise einer "völkischpolitischen" Zwecksetzung als unmöglich zurückgewiesen, da diese die Seinsverlassenheit verfestige (a.a.O., S. 142). In dieselbe Bahn der sich verfestigenden Seinsverlassenheit gehören die verschiedentliehen Kennzeichnungen der Wissenschaft als "politische Wissenschaft" und "völkische Wissenschaft", gehört die Rede von der politisch-völkischen "Ausrichtung" der Wissenschaft, von der "völkischen Organisation" der Wissenschaft oder von der Nutzung der Wissenschaft "für die politische Erziehung" (a.a .O., S. 148 f.). Desgleichen wird die politisch-völkische Anthropologie des Nationalsozialismus als eine Gestalt der Seinsverlassenheit entlarvt (a.a.O., S. 134). Mit der politisch-völkischen Anthropologie wird die nationalsozialistische Weltanschauung der seinsgeschichtlichen Kritik unterzogen, so, wenn in dieser das "Volk" selbst "als Ziel und Zweck aller Geschichte angesetzt" wird (a.a.O., S. 24). In der für Heideggers Wesensbegriff der Philosophie seit 1919 konstitutiven Abgrenzung der Philosophie von der Weltanschauung wird der Nationalsozialismus "als totale, jede Eigenmeinung auslöschende" Weltanschauung gekennzeichnet, zu der "der totale politische Glaube" und die "Propaganda" gehören (a.a.O., S. 40 f.). "Kultur" und "Weltanschauung" werden zu Mitteln der Kampftechnik "für einen Willen, der kein Ziel mehr will; denn Erhaltung des Volkes ist nie ein mögliches Ziel" (a.a.O. , S. 98 f.) . Die nationalsozialistische Anthropologie und Weltanschauung gründen in einer Auslegung des vernünftigen Lebewesens, der gemäß "die ,Werte' und ,Ziele' [ . .. ) aus dem ,Instinkt' des ,natürlichen' und ,gesunden' Lebens an sich entspringen" (a.a.O., S. 442). In dieser Ansetzung des Werte und Ziele entspringenlassenden Lebens entfaltet sich das ",Subjektum' (Mensch) zur Mitte des Seienden, so zwar, daß alle kulturmäßigen und politischen Gestaltungsformen in gleicher Weise und gleichnotwendig das Riesenhafte zur Macht bringen" (a.a.O., S. 443). Das "vernünftige Lebewesen" bildet den Boden, auf den die Wissenschaften der "Biologie" und "Rassenkunde" aufgebaut werden, die ihrerseits
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die Weltanschauung unterbauen sollen (a.a.O., S. 479). Das Heidegger zutiefst fremde, mit Hohn und Spott bedachte biologistisch-rassistische Denken hat sich sogar dazu verstiegen, das experimentelle Forschen als "nordischgermanisch" und das rationale Forschen als "fremdartig", also als jüdisch zu erklären. Für diese Aufteilung der wissenschaftlichen Forschungsarten bleibt Heidegger nur noch das Urteil "der reine Blödsinn" . Denn träfe jene Aufteilung zu, dann müßten, so bemerkt Heidegger sarkastisch, die großen rationalen Denker Newton und Leibniz zu Juden erklärt werden. Mit Blick auf die "Heutigen", d. h. auf die Vertreter der nationalsozialistischen Philosophie, heißt es schließlich, sie bleiben "vom Wissen des denkerischen Weges ausgeschlossen". Denn "sie flüchten sich in ,neue' Inhalte und geben und verschaffen sich mit der Anbringung des ,Politischen' und ,Rassischen' einen bisher nicht bekannten Aufputz der alten Ausstattungsstücke der Schulphilosophie" (a.a.O., S. 18 f.). In allen von Heidegger in den Beiträgen aufgegriffenen Leitworten der nationalsozialistischen Ideologie spricht sich ihre Weltanschauung aus, deren Grundlagen besonders markante Züge der Seinsverlassenheit und des zu ihr gehörenden Nihilismus tragen. In der Herausstellung dieser Züge beruht Heideggers philosophische und d. h. seynsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. b) Die staatsbildende Tat in der Fügung der Gründung Wenn das nationalsozialistische Politische im ganzen die deutlichen Züge der Seinsverlassenheit und des zu ihr gehörenden Machenschaftlichen und Riesenhaften trägt, dann kann die "staatsbildende Tat" in der Fügung der "Gründung" nichts mit dem Politischen im Raume des Nationalsozialismus gemein haben. Die Gründung gehört als Gründung der Wahrheit des Seyns in die Überwindung der Seinsverlassenheit des Seienden. In ihr geht es um die "Wiederbringung" des Seienden "im Offenen des Streites zwischen Erde und Welt" (a. a. 0., S. 7), um die "Wiederbringung des Seienden aus der Wahrheit des Seyns" (a.a.O., S. 11), um die Verwandlung der Not der Seinsverlassenheit "in die Notwendigkeit des Schaffens als der Wiederbringung des Seienden" (a.a.O., S. 18), um die "Notwendigkeit der Bergung der Wahrheit des Seyns im Seienden als eine Wiederbringung des Seienden" (a.a.O. , S. 27). Das Gründen vollzieht sich, wie früher gesagt, als das Wesenlassen der Wahrheit des Seyns als des gründenden Grundes und als das Bauen auf diesen Grund. Für das bauende Gründen unterscheidet Heidegger "wesentliche Bahnen" (a.a.O., S. 96). Zu diesen gehört: das Denken, das Dichten, das Schaffen von Kunstwerken und auch die "staatsbildende Tat" (a.a.O., S. 71). In der Holzwege-Abhandlung "Der Ursprung des Kunstwerkes" 6 spricht Heideg6
Heidegger: "Der Ursprung des Kunstwerkes" , in: Holzwege, Frankfurt a. M. 51972.
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gervon fünf wesentlichen Weisen, in denen sich das Wahrheitsgeschehen in ein Seiendes einrichtet. Dort ist von der "staatsgründenden Tat" die Rede (a.a.O., S. 50). Diese ist eine der ausgezeichneten Bahnen, in der die Wahrheit des Seyns gründend geborgen wird, geborgen in das zu schaffende staatliche Gebilde. Weil dieses hervorgeht aus der Bestreitung von Welt und Erde und der Bergung der Wahrheit des Seyns in ihm, ist es ein Staat, dessen Verhältnisse nicht mehr die Züge der Seinsverlassenheit, der Machenschaft und des Riesigen tragen. Ein solcher Staat und das ihn bestimmende Politische ist ein Seiendes "in der Einfachheit seines zurückgewonnenen Wesens" (Beiträge, S. 413). Der aus der Bergung der Wahrheit des Seyns gegründete Staat, der seinen Fugenort in der "Gründung" hat, ist der Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Staat, dessen Fugenort der "Anklang" ist. 3. Die Kunst in der Fügung der Gründung
Der 247. Abschnitt aus der "Gründung" mit dem Titel "Gründung des Daseins und die Bahnen der Bergung der Wahrheit" läßt uns wissen, daß "aus diesem Bereich entnommen und deshalb hierher gehörig" sei "die gesonderte Frage nach dem ,Ursprung des Kunstwerkes'". Eine der Bahnen der Bergung der Wahrheit des Seyns ist die Kunst. In welchem Verhältnis diese gesonderte Ausarbeitung zu den Beiträgen steht, erfahren wir aus dem "Vorblick". Hier wird die Frage gestellt, welches "die Wege und Weisen der Darstellung und Mitteilung der Fuge des anfänglichen Denkens" seien (a.a.O ., S. 59). Die Antwort nennt zwei Wege und Weisen. Der eine Weg und die eine Weise ist die "erste Durchgestaltung der Fuge (Der Anklang- Der letzte Gott)" (ebd.). Der zweite Weg und die zweite Weise ist "die Heraushebung einzelner Fragen", wie z. B. die nach dem Ursprung des Kunstwerkes. Von diesem zweiten Weg heißt es, er müsse "auf die gleichmäßige Eröffnung und Durchgestaltung des ganzen Fugenbereiches verzichten" (a.a.O. , S. 60). Damit springt erneut die nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung der Beiträge in die Augen. Mit ihnen ist uns erstmals eine, und zwar die erste Durchgestaltung des ganzen Fugenbereiches des seynsgeschichtlichen Denkens zugänglich gemacht worden, während Heidegger zu seinen Lebzeiten nur aus diesem Fugenbereich herausgehobene einzelne Fragen und Gedankenzüge veröffentlicht hat. Durch die Beiträge erfahren wir, daß die Frage nach dem "Ursprung des Kunstwerkes" ihren Fugenort in der "Gründung" hat. Desgleichen ließe sich z. B. für die übrigen Holzwege-Abhandlungen der jeweilige Fugenort angeben. Der 247. Abschnitt gehört in die fünfte Untergliederung der "Gründung", die den Tiel trägt "Die Wesung der Wahrheit als Bergung". Von der Lichtung für das Sichverbergen (als dem Wesen der Wahrheit) wird gesagt, sie müsse sich in ihr Offenes gründen, sie bedürfe dessen, was sie in der Offenheit erhält, ein je verschiedenes Seiendes. Genannt werden hier das Ding (Naturding), das Zeug und das Kunstwerk (a.a.O., S. 389). Ferner heißt es, die
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Bergung der Wahrheit des Seyns habe ihre Not und Notwendigkeit aus dem Sichverbergen des Seyns. Um das Sichverbergen zu bewahren, bedürfe es der Bergung der Lichtung des Sichverbergens. Dieses Geschehen werde verwandelt und erhalten "in den Streit von Erde und Welt" . In der Bestreitung dieses Streites werde die Wahrheit des Seyns, die Lichtung des Sichverbergens, ins Werk der Kunst gesetzt (a.a.O., S. 390 f.). Im "Vorblick" lesen wir, die Bergung selbst vollziehe sich "im und als Da-sein". Dieses aber geschehe "in der inständlichen, im voraus dem Ereignis zugehörigen, aber es kaum wissenden Be-sorgung", und diese "hält sich in mannigfachen, unter sich fordernden Weisen", zu denen das Schaffen der Kunstwerke gehört (a.a.O., S. 71). In der Fügung des "Sprunges", der die "Gründung" vorbereitet, sagt Heidegger, das seinsverlassene Seiende werde wieder seiend, wenn es "zur Verwahrung des Seyns" werden könne. Es bedürfe deshalb der Kunst, "die in ihr Werk die Wahrheit setzt", das als solches eine ausgezeichnete Verwahrung des Seyns ist (a.a.O., S. 243). In dem Rückblick "Das Seyn", von dem Heidegger selber sagt, daß dieser das ganze der ersten Durchgestaltung der Fuge noch einmal zu fassen versuche, ist der 277. Abschnitt unter dem Titel "Die ,Metaphysik' und der Ursprung des Kunstwerks" besonders aufschlußreich für die seynsgeschichtliche Frage nach der Kunst. Drei Fragerichlungen sind es, die hier von Heidegger eröffnet werden. Erstens: Die Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes im seynsgeschichtlichen Fragehorizont stehe "im innersten Zusammenhang mit der Aufgabe der Überwindung der Ästhetik und d. h. zugleich einer bestimmten Auffassung des Seienden als des gegenständlich Vorstellbaren" (a.a.O., S. 503). Die Notwendigkeit einer Überwindung der Ästhetik ergebe sich "aus der geschichtlichen Auseinandersetzung mit der Metaphysik" , zu der die ästhetische Wesensbestimmung der Kunst gehört (a.a.O., S. 503 f.) . Die Auseinandersetzung mit der metaphysischen Ästhetik, die in die Geschichte des ersten Anfangs gehört, hätte ihren Fugenort im "Zuspiel" . Zweitens: Die Besinnung auf den Ursprung des Kunstwerks möchte "eine geschichtlich übergängliche Entscheidung" vorbereiten, die Entscheidung für den geschichtegründenden Übergang vom Ende des ersten Anfangs zum anderen Anfang. Die Kunst ist eine der ausgezeichneten Bahnen, in denen der geschichtegründende Übergang in den anderen Anfang geschehen könnte (a.a.O., S. 504). Drittens: Eine Zeit, in der es dem Kunst-Schaffen versagt ist, "die Wahrheit des Seyns zur Entscheidung zu bringen", ist eine Zeit der "Kunst-losigkeit". Wenn diese nicht durch den "ausgedehnten Kunstbetrieb" überdeckt wird , dann kann sie "in ihrer Geschichte-vorbereitenden und dem Seyn zugewiesenen Macht" erfahren werden. In diesem Sinne ist die Kunstlosigkeit bereits geschichtlich (a.a.O., S. 505 f.).
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Im seynsgeschichtlichen Fragehorizont "hat die Kunst den Bezug zur Kultur verloren" und zeigt sich "als ein Ereignis des Seyns" (a.a.O., S. 505). Als "ein" Ereignis des Seyns heißt: als eine ausgezeichnete Weise des ereignenden Zurufs (Zuwurfs) und des ereigneten schaffenden Entwurfs. Zwar ist im "Ursprung des Kunstwerkes" die Kunst als das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit des Seyns aus dem Ereignis und der sie bestimmenden Kehre gedacht, aber das Ereignis selbst und die Kehre im Ereignis werden nicht als solche genannt. Weil die Beiträge zur Philosophie die "den Wesensbau des Ereignisses ausmachenden Bezüge und Zusammenhänge"? wegweisend für das Denken bis in die Spätphilosophie Heideggers ausgearbeitet haben, ist es geboten, Heideggers spätere Besinnungen auf das Wesen der Technik, des Politischen und der Kunst im Horizont der Beiträge neu zu durchdenken und unsere bisherigen Interpretationen zu überprüfen.S
7 Heidegger: "Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag ,Zeit und Sein"', in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 46. s Zum Thema dieses Beitrags vgl. vom Verfasser: "Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont", in: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, hrsg. von W. Biemel u. F.-W. v. Herrmann, Frankfurt a. M. 1989, S. 25 - 46.
Heidegger und Lukacs Eine Hundertjahresbilanz Von Istvan M. Feber, Budapest Wenn es im Jahre des 100. Geburtstages Martin Heideggers angemessen ist, sich aus diesem Anlaß auf die Bedeutung seines Denkens vom Stand der erfreulich fortschreitenden Edition seiner Werke erneut zu besinnen, unseren Umgang mit ihm in diesem gewandelten Lichte neu zu bedenken und seine Aktualität für uns zum Gegenstand immer wieder erneuter Reflexion zu machen: so dürfte es ebenso angebracht sein, vom heutigen Wissensstand seines Werkes diejenigen Kontakte und Parallelen aufzunehmen und womöglich zu vertiefen, die früher von verschiedenen Seiten und Blickrichtungen her bereits zu unterschiedlichem Grad der Ausarbeitung kamen. Daß das Denken Heideggers mit demjenigen zeitgenössischer Denker in Zusammenhang gebracht wird - zumal da diese in ihren Schriften Bezug auf Heidegger nahmen, der dann in der Sekundärliteratur unterschiedlich weiterentwickelt und thematisiert worden ist - , kann freilich Wesentliches nur dann erbringen, wenn, erstens und negativ, der Gesichtspunkt, aus welchem die Parallele entworfen ist, das beiden Denkern je Eigene nicht unkenntlich macht bzw. das ihnen je Eigene nicht zugunsten banaler Übereinstimmungen oder Gegensätze weitgehend in den Hintergrund drängt; und zweitens, positiv, wenn sich aus der skizzierten Parallele eine möglichst neue Beleuchtung beider Denker ergibt, solche, die dann gelegentlich auch für die weitere Interpretation der fraglichen Denker fruchtbare Ansätze abgibt. Den Anlaß zu einer Untersuchung des Verhältnisses zwischen Heidegger und Lukacs gibt nun zunächst der Befund, daß Lukacs sich in seinen Schriften vom Ende des zweiten Weltkrieges bis hin in die sechziger Jahre wiederholt mit Heideggers Denken auseinandergesetzt hat; 1 und zweitens, daß die Untersuchung dieses Themas in der Literatur keineswegs unbekannt ist.2 So naheI Vgl., um nur die wichtigsten Stellen zu erwähnen, vom Aufsatz "Heidegger redivivus" ausgehend über das betreffende Kapitel der Zerstörung der Vernunft bis hin zur späten Ontologie. Bezugnahmen Heideggers auf Lukacs hingegen sind mir nicht bekannt. Der Name Lukacs' taucht jedoch in einem an Kar! Jaspers gerichteten Brief Heideggers vom 12. August 1949 auf, und zwar in bezugauf die erste oben erwähnte Schrift (s. M. Heidegger - K. Jaspers: Briefwechsel1920- 1963, hrsg. von W. Biemel und H. Saner, Frankfurt a.M./München/Zürich 1990, S. 180). 2 Siehe hierzu die Arbeiten von Lucien Goldmann, vor allem: Mensch, Gemeinschaft und Welt in der Philosophie 1mmanuel Kants. Studien zur Geschichte der Dialektik,
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liegend und selbstverständlich es nun immerhin ist, die betreffende Untersuchung an dem anzusetzen, was Lukacs über Heidegger im Laufe mehrerer Jahrzehnte gesagt hat, so schicksalhaft würde es sich andererseits erweisen, zu meinen, durch die Erörterung und Prüfung von Lukacs' Äußerungen über Heidegger ließe sich ihr Verhältnis schon hinreichend ermessen. Ein solches Vorgehen verspricht nur dann fruchtbar zu sein, wenn man das Verhältnis von Heidegger und Lukacs nicht nur einseitig von Lukacs' Verständnis her ins Auge faßt , d. h. wenn man über Heideggerkenntnisse verfügt, die man nicht ausschließlich von Lukacs- bzw. einer der sich vorwiegend an ihm orientierenden Interpretationsrichtungen- gewonnen hat, und die u. a. ermöglichen, auf Lukacs' Gedanken mögliche Antworten im Geiste Heideggers zu rekonstruieren. Wenn man nun im Besitz ursprünglicher Heideggerkenntnisse Lukacs' diesbezügliche Erörterungen genauer einzuschätzen vermag, dann kann man zwar mit mehr Sicherheit Lukacs' Argumente- damit auch sein Verhältnis zu Heidegger - beurteilen, kaum aber dadurch auch schon ungezwungen zu Ansätzen für die genannte Parallelisierung gelangen. Hierzu mag es noch eines weiteren Schrittes bedürfen, der sich nun auch über die kritische Prüfung von Lukacs' Charakterisierungen erhebt. Diesen methodischen Überlegungen entsprechend, möchte ich nun im folgenden den Versuch unternehmen, erstens, auf Lukacs' Heideggerkritik etwas einzugehen, wobei die Stichhaltigkeit der genannten Kritik an Maßstäben eines bereits über Lukacs hinausgehenden Heideggerverständnisses ermessen wird; und dann, zweitens, den Boden des Für und Wider von Lukacs' Heideggerdeutung zugunsten einer Dimension zu verlassen, aus der ich sowohl die Untersuchung ihres Verhältnisses wie auch die Parallelisierung ihres Denkwegs ursprünglicher ansetzen zu können hoffe. I. Will man den ganzen Denkweg Martin Heideggers in seinem Hauptanliegen, wie es nun in seinen beeindruckenden Dimensionen immer mehr ans Licht kommt , zusammenfassend charakterisieren, so geht man wohl mit folgender Formulierung nicht fehl: Heidegger war ein revolutionärer Denker, dem es darum ging, die ganze Tradition der abendländischen Philosophie angesichts ihrer tiefgreifenden Krise und Entwurzelung in unserem Jahrhundert im Rückgang auf die Griechen und die von ihnen gestellte Frage nach Zürich/New York 1945, S. 241ff.; ders.: Luktics et Heidegger. Fragments posthumes etablis et presentes par Youssef lshaghpour, Paris 1973, deutsch: Luktics und Heidegger. Nachgelassene Fragmente, Texteinrichtung und Einleitung von Youssef Ishaghpour, Darmstadt und Neuwied 1975. In einem früheren Aufsatz versuchte ich, mich mit Goldmanns Thesen auseinanderzusetzen: "Attack Against the Absolute: Lukacs and Heidegger", in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös nominatae, Secrio Philosophica et Sociologica 16 (1982), S. 185 - 190.
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dem Sein radikal in Frage zu stellen. Das bereits zur Zeit von Sein und Zeit mit dem Titel "Destruktion" bezeichnete Streben,3 das beim späten Heidegger zu einer großangelegten Auseinandersetzung mit der ganzen Geschichte der europäischen Philosophie (genannt "Metaphysik") wird, führt dementsprechend dazu - oder besser: zu solchem Streben gehört von vornherein unabdingbar -, daß die der traditionellen Metaphysik eigenen Grundbegriffe wie Subjekt, Objekt, Ich, Ego, Substanz, Geist usw., weit davon entfernt, mit einigen Verbesserungen oder gar als selbstverständlich übernommen zu werden, vielmehr auf ihren Ursprung hin radikal befragt und überprüft werden. 4 Die Bedeutung Heideggers besteht von hier aus gesehen nicht zuletzt darin, das Geschehen des abendländischen Denkens mit einer Radikalität, die nach Hegel kaum ein anderer zu wagen wußte, wieder zu denken versucht zu haben. Von diesem Vorverständnis des Heideggerschen Werks her- welches nun im Lichte der fortschreitenden Gesamtausgabe seiner Werke als immer besser belegbar erscheint, das das sorgfältige Lesen jedoch auch anband der früher veröffentlichten Texte seit längerem bereits gewinnen konnte - läßt sich sagen, daß die von Lukacs gegen Heidegger wiederholt geltend gemachten Vorwürfe des Idealismus, oder gar subjektiven Idealismus, bzw. des Irrationalismuss einen Fragehorizont voraussetzen, den Heideggers Denkperspektive von Anfang an bereits überwunden, zumindest aber von Grund aus fraglich gemacht hat. Was den Einwand des Idealismus angeht, so darf man in diesem Zusammenhang an die bereits zur Zeit von Sein und Zeit vollzogene Kritik an der erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise erinnern: Idealismus und 3 Vgl. Sein und Zeit, Tübingen 151979, S. 19ff. Das besagte Streben taucht bereits im Ausgangspunkt des zu Sein und Zeit führenden Weges, im Jahre 1923 auf; s. Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Gesamtausgabe (= GA) , Bd. 63 , hrsg. von K. BröckerOitmanns, Frankfurt a. M. 1988, S. 75f., 108. Siehe ferner das im Oktober 1922 entstandene, erst kürzlich edierte Manuskript Heideggers: "Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)", hrsg. von H.-U. Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 6 (1989), S. 235- 269, hier: S. 249. Laut der Nachschrift Franz Joseph Brechts hat Heidegger am 20. Mai 1920 gesagt, daß "die phänomenologische Destruktion nicht pure Zerstörung ist, sondern ein bestimmt gerichteter Abbau" , "ein Teil der philosophischen Methode selbst" . Ferner wird von "Destruktion" auch schon in der Jaspers-Rezension 1919/21 gehandelt (vgl. in: Wegmarken, GA, Bd. 9, hrsg. von F .-W. von Herrmann , Frankfurt a. M. 1976, S. 34). 4 Vgl. z.B. Sein und Z eit, S. 22, 45ff., 229. Der erwähnte Zusammenhang wird bereits in den zum Hauptwerk führenden Vorlesungen klar, so z. B. in der berühmten Vorlesung des Sommersemesters 1923; s. Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), s. 21ff. 5 Vgl. z.B. G. Lukacs: "Heidegger redivivus", in: Sinn und Form 1, 1949, Heft 3, S. 37- 62, wiederabgedruckt in: ders.: Existentialismus oder Marxismus? Aufbau-Verlag, Berlin 1951, S. 161 - 183, hier bes. S. 161, 169, 171, 179; Die Zerstörung der Vernunft, Werke, Bd. 9, Neuwied 1962, S. 43lff. , 442ff. , 446; Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, I. Halbband, Werke, Bd. 13, hrsg. von F . Benseler, Darmstadt und Neuwied 1984, S. 380, 388, 394.
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Realismus, so ließe sich wohl Heideggers Argument zusammenfassen,6 stimmen insofern überein, als sie sich in ihrem Streit bezüglich der Frage, ob neben dem Subjekt auch noch eine Welt vorhanden und wie deren Existenz zu beweisen sei, oder wie das erkennende Subjekt "aus seiner inneren ,Sphäre' hinaus[kommt] in eine ,andere und äußere'" ,7 vom erkennenden Subjekt ausgehen, für das erst solche Probleme entstehen. Sei es nun, daß man für die Priorität der "Welt", sei es, daß man für die des "Subjekts" optiert, dabei dieses auf jene oder jene auf dieses zurückführt: dies ändert zunächst nichts am Ansatz beim erkennenden Subjekt. Erkennen sei hingegen - so Heideggers These- keineswegs die ursprüngliche Seinsart des menschlichen Daseins, welches als In-der-Welt-sein vielmehr immer schon bei seiner Welt ist und von seiner inneren Sphäre daher nicht erst in eine äußere hinauszukommeil braucht- eines Beweises der Vorhandenheit der Außenwelt folglich ja gerade nicht bedarf. Erkennen selbst sei vielmehr eine Seinsart des Menschen, und zwar eine abgeleitete, in der man "einen neuen Seinsstand zu der [ .. .] je schon entdeckten Welt"Bgewinnt. Zur Aufgabe stehe demgemäß eine ursprüngliche Charakterisierung des menschlichen Daseins, die der von Heidegger sogenannten existenzialen Analytik zugewiesen wird, und zwar in Absicht auf die Gewinnung der ontologiebildenden Kategorien; solche Charakterisierung behandelt den Fragehorizont der Erkenntnistheorie von Anfang an als etwas, womit sie sich gerade nicht naiv identifiziert, sondern was sie vielmehr abzuleiten bzw. zu erklären bestrebt ist. In Anbetracht des Irrationalismusverdachts ist auf zweierlei aufmerksam zu machen. Erstens auf dieses, daß der Begriff "Irrationalismus", der die Kritik Lukacs' leitet, ebenso vag wie verschwommen bleibt - ohne allerlei Konsistenz und Kohärenz. Ähnliches gilt für seinen Gegenbegriff "Rationalismus". Kolakowskis äußerst kritischer Stellung zu Lukacs sind in diesem Zusammenhang kaum Vorbehalte entegenzusetzen: Der Lukacs'sche Begriff von Irrationalismus, so schreibt er, ist "nicht nur überaus verschwommen, unbestimmt und phantastisch weitgefaßt, sondern er ist auch in vielen Punkten nahezu das genaue Gegenteil dessen, was man normalerweise als Irrationalismus zu betrachten pflegt". "Für Lukacs sind [... ] alle, die keine orthodoxen Marxisten sind, Irrationalisten. [ .. .] Irrationalisten sind [ . . .] alle, die nicht an die ,Dialektische Vernunft' glauben, die Lukacs von Regel übernahm".9 Zu der 6 Vgl. Sein und Zeit, S. 200ff., bes. S. 207f., ferner ebd., S. 59ff.; Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA, Bd. 20, hrsg. von P. Jaeger, Frankfurt a.M. 1979, S. 294ff.; Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA, Bd. 24, hrsg. von F .-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1975, S. 237f. Vgl. noch Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte " Probleme" der "Logik", GA, Bd. 45 , hrsg. von F .-W. von Herrmann, Frankfurta.M.l984, S. 17f. , 24; Vier Seminare, Frankfurta.M.l977, S. 31f. 7 Sein und Zeit, S. 60. Vgl. ebd., S. 206. In seinsgeschichtlichem Zusammenhang vgl. Grundfragen der Philosophie, S. 18. B Sein und Z eit, S. 62.
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letzten Bemerkung läßt sich folgendes hinzufügen: Wenn Lukacs in Geschichte und Klassenbewußtsein die Behauptung wagt, der zufolge "Regel [ ... ] die absolute Spitze der rationalistischen Methode bedeutet", 1o so müßte er, um die Dialektik Hegels gerade im Hinblick auf diejenigen Schwierigkeiten, die er selbst eben in diesem Werk im Zusammenhang von Hegels System entdeckt, retten zu können, eine Neuformulierung der Dialektik durchführen oder zumindest in die Wege leiten. Dies bleibt jedoch nicht nur aus, sondern Lukacs knüpft an die Dialektik - den gerade von ihm selbst bei Regel ans Tageslicht gebrachten Schwierigkeiten gleichsam spottend - eben in dem von Regel herausgearbeiteten Sinne von Dialektik an.u Dieser Sachverhalt ändert sich in seinen späteren Denkphasen nicht wesentlich, ja die Regelkritik wird in seinen späteren Werken immer formaler, immer weniger sachlich. Lukacs' Anlehnung an Regel, die an wesentlichen Punkten mit seinem Vorverständnis des Marxismus im Sinne einer Fortsetzung und Konkretisierung der Identitätsphilosophie Hegels verknüpft wird, bleibt somitangesichtsder ausgebliebenen Auseinandersetzung mit den begrifflichen Grundlagen der Dialektik Hegels undurchsichtig und dogmatisch. Heideggers Bemerkung, das blinde Nachmachen der Dialektik sei nicht nur nicht unmöglich, sondern sogar so sehr möglich, "daß einem solchen abgelösten Denkgebaren schließlich nichts mehr widerstehen kann und ihm alle Türen öffnen- Türen allerdings, durch die wir von einer Leere in die andere fallen und gar in der Meinung, es sei die Fülle der Wirklichkeit, die wir da beherrschen":12 diese Bemerkung trifft überraschenderweise auch auf Lukacs zu. Denn es genüge nur darauf hinzuweisen, daß Lukacs, nachdem er im Jungen Hege/ "die besondere Stellung" Hegels darin erblickt hatte, "eine dialektische Logik zu schaffen", sogleich einer näheren Auseinandersetzung auswich, indem er hinzufügte: "Die Verwirklichung dieser Tendenz durch Regel liegt freilich außerhalb des Rahmens unserer Betrachtung" .13 Wenn der Maßstab der Kritik, die Dialektik, unbegründet 9 L. Kolakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Z erfall, München 1981, Bd. 3, S. 311f. IO Vgl. G. Lukacs: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Malik Verlag, Berlin 1923, S. 154. (Die Erstausgabe wird zitiert, deren Paginierung auch in der Werkausgabe [Lukacs: Werke, Bd. 2, Neuwied und Berlin 1968] und
in der Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand [SL 11 , Neuwied und Berlin 1970] beibehalten ist.) 11 Siehe meinen Vortrag in Ferrara, "L'interpretazione della filosofia classica tedesca in ,Storia e coscienza di classe'", in: Discorsi. Ricerche di storia della filosofia 9 (1989), Heft 1, S. 41 - 60. 12 Hegels Phänomenologie des Geistes, GA, Bd. 32, hrsg. von I. Görland, Frankfurt a. M. 1980, S. 104f. Siehe ähnlicherweise Heraklit, GA, Bd. 55, hrsg. von M. S. Frings, Frankfurt a. M. 1979, S. 116f. 13 G. Lukacs: Der junge Hege{ und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, Berlin und Weimar 1986, S. 504. Vgl. später etwa den in der Ontologie auftauchenden, aus Heideggers Sicht ins Leere stoßenden, weil recht äußerlich-dialektischen Einwand, gemäß dem bezüglich der "Widersprüchlichkeit von Seiendem und Sein, von uneigentlichem und eigentlichem Dasein [.. .] die dialektische Bewegung, das wechselseitige
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und unthematisiert bleibt, dann wird jedweder Rekurs auf sie ganz willkürlich; Dialektik wird zu dem, als was der späte Heidegger sie einmal bezeichnet hat: zur "Diktatur des Fraglosen" .14 In Geschichte und Klassenbewußtsein, diesem fortgeschrittensten, fruchtbar widersprüchlichen Werk Lukacs', findet sich zwar noch ein scharfsinniger Hinweis auf "die notwendige Korrelation von Rationalität und Irrationalität", und es taucht da eine ebenso wichtige Beschränkung auf, gemäß der "der Begriff des ,Rationalismus' nicht abstrakt und unhistarisch überspannt werden [darf]" bzw. "es nicht angeht, den ,Rationalismus' [. . .] zu einem überhistorischen Prinzip im Wesen des menschlichen Denkens zu machen"15 - Bemerkungen, die dem Autor des Jungen Hege/, der Zerstörung der Vernunft und der Ontologie in Erinnerung zu rufen man nur allzu oft Gelegenheit finden könnte. Lukacs' Bemerkung über "die notwendige Korrelation von Rationalität und Irrationalität" veranlaßt uns aber zweitens um so mehr, einen kurzen Blick auf Heideggers diesbezügliche Position zu werfen, weil die besagte "Korrelation" auch Heidegger gerade nicht unbekannt blieb. Vielmehr ist sie häufig in seinem Werk aufzufinden - ja, man kann sogar sagen, daß sie ihm einen wesentlichen Anstoß und eine immer forttreibende Anregung zu neuen Denkansätzen gab. Es werden gegen das Gegensatzpaar Rationalismus-Irrationalismus bereits in Heideggers Habilitationsschrift Bedenken angemeldet: "Philosophie als vom Leben abgelöstes, rationalistisches Gebilde ist machtlos, Mystik als irrationalistisches Erleben ist ziellos", 16 heißt es unter den Schlußfolgerungen der Habilitationsschrift, und in Heideggers Versuch, die Seinsfrage zu stellen, spielt dann in den zwanziger Jahren die Einsicht eine wesentliche Rolle, die die Metaphysik ablehnende und die menschlichen Lebensfragen in den Vordergrund stellende sog. antimetaphysische Tradition sei im Grunde nichts anderes als die notwendige Ergänzung und Begleiterin jener metaphysischen Tradition, die angesichts der "faktischen Lebenserfahrung" von Aristoteles bis hin zu Husserl in zunehmendem Maße blind wurde17 - eine Einsicht, die Umschlagen der gegensätzlichen Kategorien ineinander[ . .. ] seiner [Heideggers] Einstellung völlig fremd" sei (Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, I. Halbband, Werke, Bd. 13, S. 387f.). 14 Aus der Erfahrung des Denkens, GA, Bd. 13, hrsg. von H. Heidegger, Frankfurt a. M. 1983, S. 212. Zu Lukacs' Verhältnis zu Hege! und zu seiner Konzeption von Rationalismus und Dialektik überhaupt s. meine Aufsätze "Lukacs e Ia filosofia contemporanea: Il problema della ragione" (in: Giornale di Metafisica, Nuova Serie 10 [1988], S. 269- 298, bes. S. 281ff.) und "Lukacs e Sartre: Due itinerari filosofici a confronto", in: ll marxismo della maturita di Luktics, hrsg. von G. Oldrini, Prismi, Neapel 1983, S. 159- 190, bes. S. 186ff. 15 Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 126, 125 (Anm.), 126. 16 Frühe Schriften, GA, Bd. 1, hrsg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1978, s. 410.
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ihm den Anstoß dazu gegeben hat, die Seinsfrage weniger in Abwendung von der antimetaphysischen Tradition als vielmehr gerade in Zuwendung zu ihr d.h. nicht so sehr im Ausgang vom theoretischen Verhalten des Menschen als vielmehr von seiner rechtverstandenen "natürlichen Einstellung" her - zu erneuern und hierdurch zugleich den uralten Gegensatz zwischen Metaphysik und Lebensphilosophie (man könnte aber auch sagen: zwischen Rationalismus und Irrationalismus) zu überwinden. "Der Irrationalismus - als Gegenspiel des Rationalismus-", so heißt eine explizite Besinnung auf diesen Sachverhalt in Sein und Zeit, "redet nur schielend von dem, wogegen dieser blind ist" ,18 Von der seinsgeschichtlichen Besinnungsebene her spricht dann Heidegger von dem geschichtlichen "Wechselspiel zwischen ,Rationalismus und Irrationalismus'"l9 - das "Irrationale" bezeichnet er dabei als "Milchbruder des ,Rationalen"' ,2o als dessen "Mißgeburt"21 -, oder vom "unwürdige[n] Versteckspiel [ ... ] zwischen dem Irrationalen und Rationalen" ,22 vom "Wechselgeschäft", in das sich beide "verstricken"23- und bis zum Ende der sechziger Jahre bleibt seine Stellung unverändert: "Solange die Ratio und das Rationale in ihrem eigenen noch fragwürdig bleiben", heißt es im Aufsatz über "Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens" , "ist auch die Rede von Irrationalismus bodenlos" .24 - Damit dürfte sich der Irrationalismusverdacht 17 "[ ••. ) die Auslegung des faktischen Lebens könnte der traditionellen Seinslehre gerade dadurch verfallen, daß sie diese Lehre als einen unüberwundenen Gegensatz stehen und sich dabei auf eine verborgene Weise doch noch von ihr bestimmen läßt" (0. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 21983, S. 29). 1s Sein und Zeit, S. 136. In bezugauf das Verhältnis von Rationalem und Irrationalem taucht der Ausdruck "Schielen" auch in der Kunstwerk-Abhandlung auf; vgl. in: Holzwege, GA, Bd. 5, hrsg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a.M. 1977, S. 9f. 19 Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1976, S. 136. Wobei der Irrationalismus, so führt Heidegger fort, "nur die offenkundig gewordene Schwäche und das vollendete Versagen des Rationalismus [ist) und damit selbst ein solcher. Irrationalismus ist ein Ausweg aus dem Rationalismus, welcher Ausweg nicht ins Freie führt , sondern nur noch mehr in den Rationalismus verstrickt, weil dabei die Meinung erweckt wird, dieser sei durch bloßes Neinsagen überwunden[ ... )" (ebd.). Vgl. hierzu: "der Irrationalismus als Absage an die ratio herrscht unerkannt und unbestritten in der Verteidigung der ,Logik', die glaubt, einer Besinnung auf den 1.6yo