Diltheys Erlebnisbegriff: Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturhistorischen Begriffs [Reprint 2018 ed.] 9783110839166, 9783110035995


173 115 15MB

German Pages 187 [188] Year 1972

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
I. ZUR GESCHICHTE DES ERLEBNISBEGRIFFS IN DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT VOR DILTHEY
II. DILTHEYS WEG ZUM „ERLEBNIS" ALS EINEM LITERATURWISSENSCHAFTLICHEN BEGRIFF
III. DIE ROLLE DES ERLEBNISBEGRIFFS IN DILTHEYS POETOLOGISCHEN ANSCHAUUNGEN
IV. DILTHEYS ANSÄTZE ZUR ÜBERWINDUNG DER SUBJEKTIVITÄT DES ERLEBNISBEGRIFFS
V. ZUM ERLEBNISBEGRIFF IN DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT AM ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS
VI. PROGNOSEN
NAMENREGISTER
SACHREGISTER
Recommend Papers

Diltheys Erlebnisbegriff: Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturhistorischen Begriffs [Reprint 2018 ed.]
 9783110839166, 9783110035995

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Karol Sauerland Diltheys Erlebnisbegriff

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von

Bernhard Ten Brink und "Wilhelm Scherer Neue Folge Herausgegeben von

Stefan Sonderegger und Thomas Finkenstaedt 45 (169)

W DE

G_

"Walter de Gruyter • Berlin • New York 1972

Diltheys Erlebnisbegriff Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturhistorischen Begriffs

von

Karol Sauerland

W DE G_ Walter de Gruyter • Berlin • New York 1972

I S B N 3 11 003599 5 © Copyright 1972 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomedianisdien Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, audi auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Oskar Zadi OHG, Berlin

INHALTSVERZEICHNIS I.

ZUR GESCHICHTE DES ERLEBNISBEGRIFFS I N DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT VOR DILTHEY 1. Zur Wortgeschichte des Begriffes Erlebnis

1

2. Die mutmaßlichen Ursachen für das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis" im 19. Jahrhundert

II.

12

a. Die Erlebnisdichtung

12

b. Die Biographik

22

c. Die neue Erlebnissituation

27

3. Zu den geistes- und erkenntnisgeschichtlichen Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik . . . .

30

a. Die Verankerung des Erlebnisbegriffes in der bürgerlichen Erkenntnishaltung des 18. Jahrhunderts . . .

30

b. Die Bestimmung des Wesens der Poesie mittels des Begriffs der Einbildungskraft

50

c. Auf der Suche nach den Gesetzen der Phantasie

50

. . .

DILTHEYS WEG ZUM „ERLEBNIS" ALS EINEM LITERATURWISSENSCHAFTLICHEN BEGRIFF 1. Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

. . .

62

a. „Satan in der christlidien Poesie" und der Novalis-Essay

62

b. Die Versuche der Ausnutzung der Ergebnisse der zeitgenössischen Psychologie zur Erhellung der Gesetze der Phantasie

67

c. Die Phantasie und die Technik der Dichter

77

. . . .

2. Die Bedeutung der inneren und äußeren Erfahrungen für den dichterischen Schaffensprozeß

81

3. Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens

90

. . .

VI

Inhaltsverzeichnis

III. DIE ROLLE DES ERLEBNISBEGRIFFS I N DILTHEYS POETOLOGISCHEN A N S C H A U U N G E N 1. Der Begriff der „Erlebnisses" in der „Poetik"

. . . .

96

2. Diltheys Begriff der „poetischen Technik" als einer Transformation des Erlebnisses

103

3. Ausdruck des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie

117

IV. DILTHEYS ANSÄTZE ZUR ÜBERWINDUNG DER SUBJEKTIVITÄT DES ERLEBNISBEGRIFFES 1. Die Einschränkung der psychologischen Voraussetzungen

.

133

.

134

a. Durch die Weite des Erlebnisbegriffs b. Durch die Einführung des Begriffs der Bedeutsamkeit c. Durch den Begriff des Geschehnisses V.

133 141

ZUM ERLEBNISBEGRIFF I N DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT AM A N F A N G DES 20. J A H R H U N D E R T S 1. Das Urerlebnis

146

2. Georg Simmel oder die Ausspielung des „Lebens" gegen das „Erlebnis"

151

3. Der Erlebnisbegriff bei Oskar Walzel

154

4. Die Enthüllung des Erlebnisses durch das Motiv (J. Körner)

158

5. Erlebnis und Erfahrung (W. Benjamin)

162

VI. P R O G N O S E N

169

Namenregister

175

Sachregister

179

I. ZUR GESCHICHTE DES ERLEBNISBEGRIFFS IN DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT VOR DILTHEY 1. Zur Wortgeschichte des Begriffes Erlebnis Die Geschichte des Wortes „Erlebnis" ist noch sehr jung, und eine umfassendere Untersuchung hierzu liegt noch nicht vor. Nur Hans-Georg Gadamer und René Wellek haben sich für das Aufkommen dieses Wortes etwas näher interessiert. Gadamers Quellen waren vor allem mündliche Auskünfte, die er bei der Akademie der Wissenschaften in Berlin über die Wortgeschichte einzog1. Der erste Beleg, der damals für das Wort „Erlebnis" vorlag, war eine Stelle aus einem Brief Hegels von 1827, wo dieser „meine ganze Erlebnis" schreibt2. Schon die Tatsache, daß Hegel dieses Wort feminin gebraucht, zeuge davon, meint Gadamer, daß es erst aufzukommen beginnt3. Die gleiche Ansicht spricht Wellek aus, der hierbei auf den Parallelfall des Wortes „Barock" hinweist4. Wie mir Dr. Bahr, der Leiter der Göttinger Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs, mitteilte, ist dort nodi ein früherer Beleg für das Wort „Erlebnis" eruiert worden, und zwar in K. W. Ferbers Buch Blicke auf Sachsen, in dem dieses Wort bereits im Neutrum vorkommt. Ferber schreibt dort: Wir mußten das fürchterliche „Schauspiel erleben, daß Sachse gegen Sachse focht, denn in der Ueberzeugung, daß auch unser Fürst noch das Schwerd für die gute Sache ergreifen werde, hatten sich viele unsrer hochherzigen Jünglinge, deren Zahl sich über 3000 belief, während der ersten russisch-preußischen Besitznahme von Sachsen unter die Fahnen der Freyheit und des Rechts gestellt und standen nun, nach Ablauf des Waffenstillstandes, ihren Brüdern, Freunden und Verwandten gegen über! Wer hatte denn nun dieß unnatürliche Verhältniß, wer dieses unselige Erlebniß eigentlich veranlaßt, wer hatte dem Sachsen gegen 1 2

3 4

l

Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 56. Hegel, Briefe, ed. Hoffmeister, Bd. III, S. 179. Brief an seine Frau vom 19. August 1827. Vgl. auch Gadamer, a.a.O., S. 56. Vgl. Gadamer, a.a.O., S. 57 René Wellek, „Genre Theory, The Lyric, and ,Erlebnis'" in Festschrift für Richard Alewyn, hsg. von Herbert Singer und Benno von Wiese, Köln 1967, S. 409. Sauerland

2

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

den Sachsen die tödtlichen Waffen in die Hand gegeben?! —" 5 . Hier steht „Erlebnis" in großer Nähe zu Ereignis. Es handelt sich sozusagen um ein Ereignis, das zu einem Erlebnis geworden ist". In den dreißiger und vierziger Jahren begegnen wir dem Wort „Erlebnis", wie es Gadamer mitteilt, u. a. bei Tieck, Alexis und Gutzkow'. So heißt es bei Tieck zu Beginn der dreißiger Jahre: „Wenn wir ein solches Erlebnis vor Augen haben" 8 . Auch in den fünfziger Jahren soll es noch — Gadamer zufolge — selten vorkommen. Seines Erachtens ist es „erst in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts üblich geworden" 9 . Wahrscheinlich muß man jedodi für das „Üblich-Werden" dieses Wortes einen früheren Zeitpunkt ansetzen. Nach dem vorliegenden Material 10 wird das Wort „Erlebnis" in den vierziger und fünfziger Jahren meist im Plural verwandt. Der früheste Beleg für die Mehrzahlform, der mir bekannt ist, stammt aus der Ästhetik Hegels, die D. H . G. Hortho 1838 herausgegeben hat (die Vorbereitung zur Drucklegung ist natürlich früher anzusetzen). Dort heißt es über die Göttliche Komödie, daß hier „der epische Dichter selbst das eine Individuum /ist/, an dessen Wanderung durch Hölle, Fegefeuer und Paradies sich alles und jedes anknüpft, so daß er die Gebilde seiner Phantasie als eigene Erlebnisse erzählen kann und deshalb auch das Recht erhält, seine eigenen Empfindungen und Reflexionen, mehr als es anderen Epikern zusteht, mit in das objektive Werk einzuflechten"11. Es ist zwar möglich, daß die „Erlebnisse" von Hortho stammen, doch wenig wahrscheinlich, denn welches andere Wort sollte hier Hegel benutzt haben. 1838 berichtet Dahlmann Jacob Grimm, daß er eine „Darstellung unserer Göttinger Erlebnisse unter dem Titel ,Zur Verständigung'" niedergeschrieben habe12. In Richard Wagners frühen Erzählung „Ein Ende in Paris" aus der Zeit 1840/41 finden wir die Stelle: „Im Übrigen, sieh', habe 5

K. W. Ferber, Blicke auf Sachsen, 1814, S. 88 Über die Nähe von Erlebnis zu Ereignis in etwas späterer Zeit, vgl. audi Gadamer, a.a.O., S. 60. 7 Ebenda S. 57 8 Ludwig Tieck, Novellenkranz, 1831 ff., Bd. 4, S. 342. * Gadamer, a.a.O., S. 56 10 Die folgenden Angaben (von Anm. 12 bis 19) verdanke ich Herrn Dr. Bahr, der so freundlich war, mir die Belegmaterialien zum Erlebnisbegriff in der Göttinger Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs zu übersenden, wofür ich ihm an dieser Stelle auf das herzlichste danken möchte. 11 Georg Friedrich Hegel, Ästhetik, hsg. von D. H . G. Hortho, III. Bd., Berlin 1838, S. 360. Einige Jahrzehnte später wird es umgekehrt heißen, daß der Dichter Erlebnisse als Phantasiegebilde in seinem Werk darstellt. 12 Briefwechsel zwischen ]. und W. Grimm, Dahlmann und Gervinus, hsg. von Ippel, Bd. 1, S. 76 (Brief Dahlmanns an Jacob Grimm vom 14.2.1838). a

Zur Wortgeschichte des Begriffes Erlebnis

3

ich nur noch wenig zu erzählen. D u kannst D i r denken, daß v o n da ab, w o ich in meiner Geschichte stehen blieb, ich mit keinen äußeren Erlebnissen mehr zu thun hatte. V o n da an beginnt die Geschichte meines Inneren, denn v o n da an w u ß t e ich, d a ß ich bald sterben würde" 1 3 . Das W o r t Erlebnis finden w i r ferner in Briefen der Droste-Hülshoff 1 4 , Treitschkes 15 , Bismarcks 18 und in verschiedenen Buchpublikationen 1 7 aus den vierziger Jahren. 13 14

15 18

17

Richard Wagner, Gesammelte Schriften, 1871, Bd. 1, S. 164. 1844 schreibt sie in einem Brief: „Aber mein Lies habe ich wirklich, durch 1000 Fäden gegenseitiger Treue, gleicher Ansichten, gleicher Erlebnisse an mich geknüpft . . ." ( B r i e f e , hsg. von K. Schulte-Kemminghausen, 1945, Bd. 2, S. 307). Vgl. Heinrich von Treitschke, Briefe hsg. von Cornelius, Bd. 1, S. 96. A m 25. oder 26. 8. 1847 schrieb Bismarck in einem Brief an seine Eltern: „Da J o h a n n a w ä h r e n d meines noch von Schafberg herrührenden Schlummers ausführlichen Bericht über unsere Erlebnisse gegeben hat, so will ich lediglich ein Lebens- und Gedenkzeichen von mir geben, Ihr könnt sonst glauben, ich schliefe immer, und nicht bloß wenn J o h a n n a schreibt" ( B r i e f e an seine Braut, 1900, S. 108). Vgl. z . B . C a r l Rosenkranz in seinen Skizzen von 1842, der „Erlebnisse" in einer für uns heute schon klassischen Verbindung mit dem Wort „erschütternd" gebraucht: „Den Gegensatz zu den Aufgeklärtgläubigen wie zu den Altgläubigen machen die Moderngläubigen aus. Dies sind nämlich Aufgeklärte, die gern in alter Weise gläubig sein möchten. Sie gehen aus der Skepsis an der Wahrheit der A u f k l ä r u n g hervor. Durch Leetüre, durch Umgang, durch erschütternde Erlebnisse, durch gemüthliches Bedürfen sind sie gegen die Religiosität der bloßen Moralität eingenommen. Sie haben eine Sehnsucht nach einer gewissen theogonischen Speculation, nach einer Poesie der Anschauung und empfinden daher die Religiosität des Herzens als eine Auszeichnung des Gemüths" (Bd. I, S. 309). Andere Belege befinden sich bei K. Buchner, Advokat, 1844, S. 65, Johann Caspar Bluntschli, Psychologische Studien über Staat und Kirche, 1844, S. 190 ( X V I . Die Grundorgane des Staatskörpers, § 20) und R. Lewald, Erinnerung, 1850, Bd. 1, S. 92. Buchner gebraucht dieses W o r t da, wo er über die Verbindung zwischen Privatem und Geschäftlichem Überlegungen anstellt: „Das Geschäftliche w i r d im Beginn der Briefe schnell abgemacht, und dann geht es auf unsere Erlebnisse, unsere Ansichten von Dem und Jenem über. Mancher Zypressenstrauch vor neu entstandenen Gräbern w i r d da sanft zurückgebogen, um das neue Grab und die neue Wunde zu zeigen. Aber auch mancher lustige Kranz, gepflückt auf der Wanderschaft durch's Leben, fehlt nicht. Eben so wenig fehlen Beileid und Beifreud' von der andern Seite. Es ist ein herzliches Nehmen und Geben, allerdings in's Tempo gebracht, welches der Gang, das gerade vorliegende Material des Geschäfts, erfordert". W i r befinden uns hier noch ganz in den Zeiten der „gemütlichen Geschäftsverbindungen". Erlebnisse im Sinne von Gemütsbewegungen scheint Bluntschli zu meinen: „Paragraph 20. Das Ministerium des I n n e r n hat voraus eine b e w a h r e n d e Bedeutung. Es sorgt dafür, d a ß das innere Leben des Staates in der rechten Ordnung sei und verbleibe; es kennt und merkt sich die Zustände und Erlebnisse, und beachtet ihren Einfluß auf die Gesundheit des Staates".

4

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

Eine ganze Theorie über den geistigen Boden, auf dem der Begriff des Erlebnisses erwachsen ist, ließe sich aus dem Satz Bismarcks entwickeln, den er in einer Rede vor dem Preußischen Landtag 1849 ausgesprochen hat: „Wir werden uns daher wesentlich auf dem Gebiete der Empirik bewegen, indem wir von unseren und unserer Väter Erlebnissen die Erfahrung abstrahiren, denn die Theorie wird nicht im Stande sein, für irgend eine Art der Vertretung Beweise der Nothwendigkeit zu liefern" 18 . Die Erlebnisse sind hier mit anderen Worten das empirische oder, wenn man will, positivistische Material, das die Grundlage zu etwas Allgemeingültigerem, der Erfahrung, liefert. Diese Sicht der Erlebnisse als einer positivistischen Basis der Forschung werden wir später in ausgebauter Form in der Literaturwissenschaft wiederfinden. Bemerkenswert ist ferner, daß Bismarck das Wort „Erlebnisse" da gebraucht, wo er seinen historischpragmatischen Standpunkt zu erläutern sucht. Aus der eigenen und der Väter Erfahrung möchte er diejenigen staatlichen Einrichtungen begründen, die sich „bewährt" haben und die Preußen übernehmen sollte. Bei Alexander Jung, der das Wort „Erlebnis" in seiner Schrift Charaktere (1848) verwendet, ist zum ersten Mal von der tieferen Bedeutung des Erlebnisses die Rede, wobei das Wort bezeichnenderweise, wie es eine ins Philosophische gehende Erörterung verlangt, in der Einzahl steht: „Es ist für den Freund der Literatur im Elende glänzender Gewöhnlichkeit immer schon ein erhebender Gedanke, einen Schriftsteller unter den Lebenden zu wissen, der, im Fall er auch wenig schreiben sollte, doch, wenn er einmal die Feder ansetzt, sicher etwas liefert, was die Herzen trifft, die gleißnerisdi verdeckten Blößen aufdeckt, menschlichem Erlebniß einen höheren Gesichtspunkt, eine tiefere Bedeutung abgewinnt, als der gewöhnliche, politische, wie erbauliche Tagesklatsch, und den Ernst der Zeit mit heitern Lichtern des Humors beleuchtet, jenen Ernst, welcher für Viele ein Gespenst ist, das sie fliehen, weil es sie in ihrer Genußsucht s t ö r t . . ."19. Diese Worte erinnern an die Ansichten eines Otto Ludwig, Fontane und Dilthey, die immer wieder verlangten, daß das dargestellte Erlebnis unsere Herzen stählen und uns das „bescheidene Grün" im Leben vor Augen führen soll, damit wir dessen Alltag und „Ernst" besser zu ertragen vermögen. Wir haben hier die Belege aus den vierziger Jahren ausführlicher zitiert, um keinen Zweifel zu hinterlassen, in welchem Kontext das Wort „Erlebnis" jeweils gebraucht wurde. Wir verzichten darauf, Textstellen aus 18

Bismarck, Politische Reden, Bd. 1, S. 146, hsg. von Kohl (Rede gehalten vor dem Preußischen Landtag am 24. 10. 1849).

19

Alexander Jung, Charakteristiken

und vermischte

Schriften, 1848, Bd. 2, S. 69

Zur Wortgeschichte des Begriffes Erlebnis

5

den fünfziger, sechziger oder gar siebziger Jahren anzuführen, da wir der Meinung sind, daß die zitierten Stellen aus den vierziger Jahren ausreichen, um sich von der recht großen Verbreitung dieses Wortes um die Mitte des Jahrhunderts zu überzeugen. Wie immer populärer es dann geworden ist, beweist die Tatsache, daß es in den fünfziger und sechziger Jahren bereits in Titeln zu erscheinen beginnt. 1854 kommen Gotthelfs Erlebnisse eines Schuldnerbauers heraus. Den Titel hatte er wahrscheinlich ein Jahr zuvor geprägt20. 1857 gab Friedrich Steinmann das Buch Heinrich Heine, Denkwürdigkeiten und Erlebnisse aus meinem Zusammenleben mit ihm21 heraus. Der Inhalt dieses Buches entspricht denn auch ganz dem, was man sich heute unter einem solchen Titel vorstellt. Für das Jahr 1864 verzeichnet das Deutsche Titelbuch22 die Tragischen Erlebnisse von Theobald Körner. Zwei Jahre später erschien in Westermanns Monatsheften eine Novelle von O. August unter dem Titel Ein Erlebniß in Texas23. Hier erscheint wohl zum ersten Mal dieses Wort im Singular in einem Titel24. Der Inhalt der Novelle ist ungefähr folgender: Ein junger Wissenschaftler kommt im Auftrag einer Handelsgesellschaft in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts in die Staaten und lernt dort die Sitten des Landes kennen. Die Umstände wollen es, daß er einer jungen Dame nach Texas folgt. Entgegen seinen Erwartungen wird er dort sehr unfreundlich aufgenommen. Nicht einmal eine ordentliche Schlafstelle bietet man ihm an. Ein Kontakt mit der jungen Frau ist unmöglich. Sie steht ganz unter der Gewalt eines brutalen Kerls, der, wie es sich später herausstellt, ein Verbrecher ist. Unser Held erkrankt, und nur dem Zufall hat er es zu verdanken, daß er aus dieser Situation wieder heil hervorgeht. Die Novelle endet mit einem Lob der geborgenen Verhältnisse in Deutschland. „Erlebniß" hat hier also mehr die Bedeutung von Abenteuer. Der gewöhnliche Lebensgang wird unterbrochen, alle Bindungen mit der hei20

21 22

23 24

Vgl. hierzu Rudolf Hunzikers Nachwort im 14. Bd. der Sämtlichen Werke Gotthelfs (Zürich 1924) zu den Erlebnissen eines Schuldenbauers, S. 398 Erschienen in Prag und Leipzig Siehe M. Schneider, Deutsches Titelbucb, Berlin 1927, S. 158, unter Nr. 15. Friedrich Steinmanns Buch wird von Schneider nicht angegeben. In Westermanns Monatshefte 1866, S. 519—543 Schneider führt in seinem Deutschen Titelbuch, a.a.O., als ersten Beleg unter Nr. 11 (S. 158) an: „Ein Erlebnis (1822), Erz. von Franz Grillparzer". Die Sämtlichen Werke, Stuttgart 1872, enthalten im Bd. 8, S. 97 tatsächlich einen solchen Titel, aber nicht einer Erzählung, sondern einer Tagebuchaufzeichnung für das Jahr 1822, in der Grillparzer über die unglückliche Liebe der Marie Piquot zu ihm berichtet. Die 1965 bei Hanser erschienene Gesamtausgabe (Franz Grillparzer, Sämtliche Werke, hsg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher) hat auf diesen Titel, der eine Zugabe der ersten Herausgeber war, verzichtet (vgl. dort Bd. IV, S. 191—195 und S. 1008).

6

Z u r Geschichte des Erlebnisbegriffs

mischen Welt sind gelöst, es ist das Unbekannte, Ungewisse, das von nun an das Element bildet, in dem der Held sich bewegen muß. Sollte es einem solchen Helden nicht nur gelingen, das Außergewöhnliche, sein Abenteuer, zu bestehen, sondern aus ihm auch erfahrener und reicher in den Alltag zurückzukehren, so wird für ihn diese Unterbrechung seiner gewohnten Lebensweise bestimmt zu einem unvergeßlichen Erlebnis, das auf sein weiteres Leben nicht ohne Einfluß bleiben wird25. So ist es auch in unserem Fall. Sein Texasabenteuer führt ihn schließlich zu der Uberzeugung, daß geordnete Verhältnisse doch sehr hoch zu bewerten seien. Wie wir dem Schluß der Erzählung entnehmen können, wird er in Zukunft zu einem besseren Bürger des Alltags werden als bisher. Es ist die Erfahrung, die ein Durchschnittsmensch aus einem außergewöhnlichen Ereignis zu ziehen pflegt, daß nämlich ein Abenteuer trotz allen Reizes des Ungewissen nicht gegen das Bekannte, „Heimische" aufkommen kann. Den Literaturwissenschaftler interessiert natürlich vor allem, wann dieses Wort als literaturwissenschaftlicher Begriff zu funktionieren beginnt. Wie die von Wellek gefundenen Beispiele zeigen, wurde „Erlebnis" bereits in den fünfziger Jahren als ein solcher gebraucht, wobei es den Goetheschen Begriff des Erlebten zu verdrängen begann26. Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht die Reisenovellen von Heinrich Laube, der an einer Stelle gerade Goethe das Wort „Erlebnis" in den Mund legt. Laube läßt dort nämlich Goethe in Verbindung mit den Wahlverwandtschaften den Ausspruch tun: „Das Benutzen des Erlebnisses ist mir alles gewesen: das

25

A u f den Zusammenhang zwischen Abenteuer und Erlebnis geht auch G a d a m e r a.a.O., S. 6 5 ein, wobei er sich a u f Simmeis Hinweis beruft, d a ß jedes Erlebnis etwas v o m Abenteuer hat. F ü r G a d a m e r hat das Abenteuer allerdings einen ausgesprochen positiven Sinn, wobei er keinerlei U n t e r scheidung zwischen gewollten und ungewollten Abenteuern zieht: „Das Abenteuer ist keineswegs nur eine Episode. Episoden sind aneinanderreihende Einzelheiten, die keinen inneren Zusammenhang und eben deshalb keine bleibende Bedeutung haben, weil sie nur Episoden sind. Das Abenteuer dagegen unterbricht z w a r ebenfalls den gewohnten L a u f der Dinge, aber es ist positiv und bedeutsam auf den Zusammenhang, den es unterbricht, bezogen. So l ä ß t das Abenteuer das Leben im Ganzen, in seiner Weite und in seiner Stärke fühlbar werden. D a r a u f beruht der R e i z des Abenteuers. E s enthebt den Bedingtheiten und Verbindlichkeiten, unter denen das gewohnte Leben steht. Es w a g t sich ins Ungewisse heraus. Zugleich aber weiß es um den Ausnahmecharakter, der ihm als Abenteuer eigen ist, und bleibt somit auf die Rückkehr des G e w o h n t e n bezogen, in das das Abenteuer nicht mit hinübergenommen werden kann. Das Abenteuer w i r d daher ,bestanden', wie eine P r o b e und als eine P r ü f u n g , aus der m a n bereichert und gereift h e r v o r g e h t " .

26

Vgl. R e n é Wellek, a.a.O., S. 4 0 9

Zur Wortgeschichte des Begriffes Erlebnis

7

Erfinden aus der Luft w a r nie meine Sache" 27 . Dies ist, wie Wellek zu Recht bemerkt, eine etwas andersartige Formulierung einerseits des R a t schlages, den der späte Goethe einmal einem jungen Dichter gab: „Fragt euch nur bei jedem Gedicht, ob es ein Erlebtes enthalte, und ob euch dieses Erlebte auch gefördert habe" 2 8 , u n d anderseits dessen, was Goethe über seine Wahlverwandtschaften zu Eckermann gesagt haben soll: „Darin ist kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich, wie er erlebt worden" 2 9 . Storm gebraucht das W o r t „Erlebnis" in den fünfziger Jahren schon als einen literaturtheoretischen Begriff 30 . 1854 schreibt er: „. . . bei einem lyrischen Gedicht m u ß nicht allein, wie im übrigen in der Poesie, das Leben, nein, da m u ß geradezu das Erlebnis das F u n d a m e n t desselben bilden" 3 1 . (Erlebnis ist bei Storm kursiv gedruckt!) Anderswo zieht er die Wendung „inneres Erlebnis" vor. D a heißt es über Julian von Rodenbergs Lieder: „ . . . u n d es fehlt überall — nur auf S. 58 findet sich eine eben nicht glückliche Ausnahme — der H i n t e r g r u n d des inneren Erlebnisses" 32 , und über J. G. Jacobis Deutsche Lieder fällt er das Urteil, d a ß sie nicht geschrieben seien „aus dem Drang, ein inneres Erlebnis poetisch zu fixieren"33. H e r m a n n Lotze gebraucht 1868 das W o r t „Erlebnis" bereits in einem, wie Wellek meint, „Standard c o n t e x t " 3 \ wenn er in seiner Geschichte der Ästhetik in Deutschland erklärt: „So großen Werth G ö t h e und Schiller darauf legen, d a ß das lyrische Gedicht einem innern Erlebnisse entspringe, die bloße Darstellung der subjectiven Erschütterung galt ihnen doch nicht f ü r genügend" 3 5 . A u f f a l l e n d ist es, d a ß das Erlebnis in den angeführten Zitaten immer noch einer näheren Bestimmung durch das Adjektiv „innere" bedarf. Vielleicht hat das seine Ursache darin, d a ß das „Erlebnis" in dieser Zeit meist in der Bedeutung von Eindrücken (z. B. w ä h r e n d einer Reise, 27

Heinrich Laube, Reisenovellen, Mannheim 2 1847, S. 36 Weimarer Ausgabe, 2 42, S. 108 2 * Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, Berlin 1956, S. 528, 17. 2.1830. 30 Vgl. René Wellek, a.a.O., S. 409 31 Theodor Storm, Sämtliche Werke in vier Bänden, hsg. von Peter Goldammer, Berlin 1956, Bd. IV, S. 575. Aus der Besprechung der Lieder der Liebe von M. Aut. Niendorf, erschien am 2 3 . 2 . 1 8 5 4 im Literaturblatt des deutschen Kunstblattes. 32 Ebenda, S. 580. Aus der Rezension der Lieder von Julius von Rodenberg, erschienen am 6. April 1854 im Literaturblatt. .. 3S Ebenda, S. 608 34 René Wellek, a.a.O., S. 409 34 Hermann Lotze, Geschichte der Ästhetik in Deutschland, München 1868, S. 643. 28

8

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

bei Besichtigungen fremder Städte oder in den Tagen großer Ereignisse, wie Revolutionen) gebraucht wurde. Dabei war es nicht unbedingt notwendig, wie wir aus einigen Briefstellen aus den vierziger Jahren entnehmen können, daß man seine Erlebnisse „innerlich" verarbeitet hatte. Erst dort, wo eine solche Verarbeitung tatsächlich stattgefunden hatte, setzte man das Wort „innere" hinzu. Viel später jedoch, besonders bei Dilthey, bekommt das Wort Erlebnis selbst einen schwereren Gehalt, indem es in den meisten Fällen das Adjektiv „innere" mit in sich aufnimmt, soweit es einen philosophischen bzw. literaturwissenschaftlichen Begriff bezeichnen soll. Natürlich wäre es notwendig, einmal das ganze Wortfeld „Erlebnis", das „Erlebte", „erleben" usw. zu untersuchen. Erste Studien über den Gebrauch des Verbs „erleben" im 18. Jahrhundert haben mich zu dem überraschenden Resultat geführt, daß dieses gar nicht so häufig verwandt wurde, wie man erwartet. Im Register zur vollständigen Lessingausgabe in fünfundzwanzig Teilen, bearbeitet von Waldemar Olshausen36 finden wir das Wort „erleben" überhaupt nicht. Das bedeutet zwar nicht, daß es Lessing nie benutzt hat, denn schon ein Blick in Grimms Wörterbuch unter „erleben" genügt, um sich vom Gegenteil zu überzeugen37, aber sicher war es für Lessing kein wesentliches Wort. Sehr selten hat es Schiller gebraucht, wie man Goedekes Wortverzeichnis zu Schillers Sämtlichen Schriften38 entnehmen kann. Häufig tritt dann allerdings „erleben" bei Goethe auf (etwa 150 Mal in seinen Werken und den Entwürfen zu diesen). Interessant ist jedoch, daß auch bei Goethe dieses Wort noch relativ selten einen besonderen emotionalen Gehalt aufweist. Sein Gebrauch39 entspricht meist 30 37

38 30

Berlin-Leipzig 1935 Unter „erleben" finden w i r folgende Stelle v o n Lessing: „wills nidit erleben (sehen) / dasz er sichs verbittet" (Lessing, Sämtliche Schriften, hsg. v o n Ladimann, 1838—1840, Bd. II, S. 333). D i e Erklärung in Klammern stammt v o n den Gebr. Grimm. Stuttgart 1869 ff. Zur Illustration seien hier nur vier Stellen aus dem Faust angeführt (mehr gibt der genannte Zettelkatalog für Faust nicht an): Faust: „Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben: Sie w e l k t e n hin, ich m u ß erleben, daß m a n die frechen Mörder lobt." (1,1053—55), Mephistopheles: „ D u kannst die Freude bald erleben, D a s Kesseldien herauszuheben." (I, 3666/67), Herold: „ D o d i da erleb ich neue Pfiffe: Was einer noch so emsig griffe, D e s hat er wirklich schlechten Lohn, D i e Gabe flattert ihm davon." (II, 5 5 9 4 — 9 7 ) , Chor: „Vieles erlebt ich, obgleich die Locke Jugendlich wallet mir um die Schläfe!" (II, 8 6 9 7 — 9 8 ) .

Zur Wortgeschichte des Begriffes Erlebnis

9

dem Sinn, wie ihn Adelung in seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutscheti Mundart... angibt: „Erleben, verb. reg. act. bis zu einer bestimmten Zeit leben, 1) Eigentlich. Diese Sache werde ich wohl nicht erleben, ich werde wohl nicht so lange leben, bis diese Sache geschiehet. Wenn ich es nur erlebe. Er hat bereits das fünfzigste Jahr erlebt. Des Morgens wirst du sagen, ach daß ich den Abend erleben möchte! Des Abends wirst du sagen, ach daß ich den Morgen erleben möchte! 5 Mos. 28, 67. 2) Figürlich, in seinem Leben erfahren. Was für schlechte Zeiten erleben wir! Freude an seinen Kindern erleben. Ich erlebe nichts Gutes an dir" 40 . Gleichzeitig scheint man in dieser Zeit bereits unbewußt nach einem Wort zu suchen, welches die Situation, daß man etwas — und zwar unter Anteil all seiner Gefühle — erlebt hat, zum Ausdruck bringt (nebenbei bemerkt ist es möglich, daß der Weg gar nicht direkt vom Verb „erleben" zu einer substantivierten Form führen mußte. Hier werden wahrscheinlich die verschiedensten Überlagerungen stattgefunden haben). Davon zeugt erstens das wieder untergegangene Wort „Erlebung", das wir im 16. Gesang des Messias finden41 und das Campe in seinem Wörterbuch der deutschen Sprache unter „erleben" verzeichnet: „Erleben, v. ntr. mit der Fügung eines trs., mit dem Leben gleichsam erreichen, bis zu einer gewissen Zeit l e b e n . . . Ungen. Das Erleben. Die Erlebung, mit der Mehrzahl die Erlebungen, etwas was man erlebt. .Fließe mir jetzt ein rieselnder Bach in den Strom des Gesanges, Den vollendend, ich der Erlebung seligste fühle' (Klopstock)"42. Campe gibt hier also die gleiche Erläuterung zu „Erlebung" wie die Gebrüder Grimm und Daniel Sanders in ihren Wörterbüchern zu „Erlebnis" : etwas, was man erlebt43. Welche Bedeutung Campe dem Klopstockschen Wort „Erlebung" zuweist, ob die emotionale von „Erlebnis" oder 40

Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen von Johann Christoph Adelung,Theill, A—E, Leipzig 1793, S. 1915.

41

Messias 16, 212

42

J. H. Campe, Wörterbuch schweig 1807, S. 988.

43

Jacob Grimm und Wilhelm Grimm verzeichnen im III. Band des Deutschen Wörterbuchs, 1862 auf S. 895: „Erlebnis, n. was man erlebt, erfahrung: wenn wir ein solches erlebnis vor äugen haben. Tiedk, nov. kr. 4, 342 was aber das jähr 54 gebracht, des sind wir nodi allzusehr im erlebnis, als dasz davon zu reden nöthig. Leoprechting, Lechrain 37". In Daniel Sanders' Wörterbuch der deutschen Sprache von 1863 finden wir das Wort „Erlebnis" in einer der

der deutschen Sprache, Erster Theil A—E, Braun-

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

10

die Erreichung eines Ziels im Leben wie bei der Definition des Wortes „erleben", mag dahingestellt bleiben. Von der Suche nach einem Wort, welches die Situation, daß man etwas erlebt hat, ausdrückt, zeugt zweitens Goethes Wortprägung das „Erlebte". Zum ersten Mal hat er es, wie aus dem Zettelkatalog der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin in der Abteilung des Goethewörterbuchs hervorgeht, 1809 gebraucht, und zwar in dem „Ersten Schema einer Biographie" (d. h. zu Dichtung und Wahrheit). Dort heißt es unter dem Jahre 1767: „Alles nach innerer Erfahrung. Selbstbildung durch Verwandlung des Erlebten in ein Bild" 44 . Schon anhand dieser Notiz ließe sich die ganze Schaffensweise Goethes aus der „inneren Erfahrung", dem „Erlebten" heraus, darlegen. Bezeichnend ist es auch, daß Goethe in einem Entwurf zu seiner Autobiographie diesen Begriff prägt. Wir finden ihn dann noch einmal in den Entwürfen zu der Fortsetzung von Dichtung und Wahrheit. Dort notiert Goethe für das Jahr 1788 über seine Italienreise und Rückkehr nach Weimar: „Lust der Gereisten von ihrem Erfahrenen und Bemerkten zu sprechen. Tick der Zuhausegebliebenen minderen Anteil zu zeigen, wodurch das Gefühl dessen was man entbehrt, nur desto lebhafter wird. Die vier Bände meiner Schriften finde ich gedruckt. Aufnahme derselben in Deutschland. Gleichgültigkeit gegen alles nach dem Verlust des römischen Glückes. Isolement. Neues Verhältnis nach innen. Vorsätze nach außen. Fortsetzung des drinnen angefangenen Praktischen. Nur gar zu schnelles Gewahrwerden, daß man aus dem Elemente gefallen Erklärungen der Bedeutungen von „Leben": „f.) der Entwicklungsgang eines Individuums und der Erlebnisse desselben, d. h. die Summe aller der Beziehungen, in die Jemand thätig wirkend und ihre Einwirkung erfahrend (s. g.), zur Welt tritt — wie auch die Schilderung davon (Biographie, Lebensbeschreibung): Züge aus dem L . großer Männer, Goethes Leben". In seinem Handwörterbuch der deutschen Sprache, Lpz. 1869 bildet „Erlebnis" dann ein gesondertes Stichwort: „Erlebnis, n. (f.): Etwas, das man erlebt". Hier wird also im Gegensatz zu Grimms Wörterbuch neben dem Neutrum das Femininum als eine anzutreffende Verwendungsweise angeben. Erst in späteren von J. Ernst Wülfling bearbeiteten Auflagen des Handwörterbuchs von Sanders heißt es: „veraltet: die", als tatsächlich schon keiner mehr die weibliche Form verwandte. — Andere Wörterbücher verzeichnen zu dieser Zeit und sogar zur Jahrhundertwende dieses W o r t überhaupt nicht, so z. B. Fr. L. K. Weigand, Deutsches Wörterbuch, der weder „erleben" noch „Erlebnis" in den Auflagen Gießen USSZ, 3 1878, 5 1 9 0 9 angibt; desgleichen Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, Halle ^ O S . Dagegen figuriert Erlebnis" bei Moriz Heyne, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1890: „Erlebnis, n. das was man erlebt; seine Erlebnisse niederschreiben". Hier tritt das Biographische genauso wie im großen Sanders von 1863 deutlich zutage. Das Historische Schlagwörterbuch von Lodendorf von 1906 gibt „Erlebnis" noch nicht als ein Schlagwort an. 44

26, 356

Zur Wortgesdiichte des Begriffes Erlebnis

11

sey. Reflexionen über das Erlebte" 45 . Diese Notiz scheint direkt dazu geschaffen zu sein, um Goethes Vorliebe für Substantivierungen zu demonstrieren, durch die zwar Situationen auf einen Begriff gebracht werden, doch das Bewegte nicht verlorengeht. Insbesondere gilt dies für das Verbalsubstantiv „das Erlebte". Gleichzeitig drängt diese Stelle den Schluß auf, daß erst durch die bewußte Trennung von „Innen" und „Außen" das „Erlebte" als Begriff möglich wird. Durch diese Zweiteilung wird das Ich der Welt als etwas Besonderes, Autonomes entgegengesetzt, was die Voraussetzung für das bewußte Erleben des „Außen" durch ein „Innen" schafft. Und wenn sich Goethe in seinen Gedichten „Allerdings" und „Ultimatum" so entschieden gegen die Trennung von „Innen" und „Außen" wehrt, so eben darum, weil es ihm selber äußerst schwer ist, die beiden Momente ein- und desselben Dinges in eine Einheit zu bringen. Den Begriff das „Erlebte" gebrauchte Goethe dann noch einmal in dem schon zitierten Gespräch mit Eckermann sowie in den Zusätzen zu Maximen und Reflexionen, wo er bereits das später in der deutschen Literaturwissenschaft so populäre Wort „Bildungserlebnis" vorwegnimmt: „Auch Bücher haben ihr Erlebtes, das ihnen nicht entzogen werden kann". Hierauf folgt eine Geschichte, in der Goethe die kräftigende Wirkung des Gedichts „Wer nie sein Brot mit Tränen aß" auf eine Königin schildert, die in der Verbannung lebte46. Von Bedeutung scheint mir zu sein, daß Goethe nicht auf den schon vorhandenen Begriff „Erlebung" zurückgriff, sondern eine Partizipform prägte, in der etwas schon Gewesenes zum Ausdruck gebracht wird, was ja der Haltung des Autobiographen, auf sein Leben wie auf etwas Gewesenes zu schauen, entgegenkommt. In dieser Hinsicht steht auch das Wort „Erlebnis" in einem gewissen Gegensatz zum „Erlebten", da es im größeren Maße ein „Dabeisein", das aktuelle Geschehnis in sich enthält, wenn hier auch alle Urteile relativ sind. Zu fragen wäre ferner, was die Geschichte des Wortfeldes „Erlebnis" betrifft, inwieweit das Wort „Leben" zu der Bildung „Erlebnis" geführt hat. Auf den Zusammenhang zwischen Leben und Erlebnis in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, insbesondere aber bei Dilthey, wird ja immer wieder hingewiesen, aber meist wird hierbei der Gegensatz, in dem Leben und Erlebnis gleichzeitig zueinander stehen, übersehen. Soviel zur Geschichte des Wortes Erlebnis und seinen Vorformen. Wir wollen nun den Versuch machen, die wahrscheinlichen Ursachen für 45

53, 385

48

422, 136 f.

12

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

das so rasche Populärwerden des Erlebnisbegriffs — vor allem in der deutschen Literaturwissenschaft — in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufzudecken. Mutmaßlich haben literarische Erscheinungen, wissenschaftliche Erkenntnisse sowie Phänomene des modernen Lebens selber dazu beigetragen. Im folgenden werden wir besonders diese drei allfälligen Ursachen ins Auge fassen.

2. Die mutmaßlichen Ursachen für das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis" im 19. Jh. a. Die

Erlebnisdichtung

Hätte es in Deutsdiland keine Erlebnisdichtung gegeben, wäre wohl auch der Begriff des Erlebnisses nicht zu einem literaturwissenschaftlichen Terminus geworden. Man kann diesen Satz noch verschärfen: Hätte der Diltheyzeit nicht die deutsche Erlebnisdichtung, vor allem die Goethes, als Ideal vorangeleuchtet, wäre das „Erlebnis" als Begriff vielleicht nie in den Mittelpunkt der deutschen Literaturwissenschaft gerückt. Diltheys Erlebnisbegriff stellt im Grunde nichts anderes als eine Verallgemeinerung der Goetheschen Schaffensweise dar, welche er als die für die modernen Zeiten vorbildliche und nur mit geringen Einschränkungen allgemeingültige Art zu dichten ansah. Der so gewonnene Erlebnisbegriff wurde dann von Dilthey und seinen Nachfolgern bewußt auf die gesamte Dichtung seit dem Mittelalter 1 als ein literaturwissenschaftlicher Haupt- und

1

In Von deutscher Dichtung und Musik (Leipzig und Berlin 1933) schreibt Dilthey über die ritterliche Lyrik: „Aber das Neue in den drei großen poetischen Genies in der hohenstaufischen Zeit liegt ebenda, wo auch das Originale der großen politischen Persönlichkeiten gelegen hatte. Sie erleben von innen, in der Macht einer poetischen Intuition, welche das Leben der Zeit umfaßt, das neue weltliche Ideal, und hierauf beruht es, daß die Gestaltung der Individualität in ihnen einen außerordentlichen Fortschritt zeigt. Und gerade der große Lyriker der Epoche war bestimmt, dies am reinsten auszusprechen. Denn das lyrische Genie liegt in einer erhöhten Macht des Erlebens und in der Erhebung des Erlebten zum Bewußtsein eben durch die Kraft, es auszudrücken. In unwillkürlichem, durch keine Reflexion auf den Inhalt des Erlebten gebrochenem Ausdruck kommt seine Seelenverfassung ihm selbst und anderen zum B e w u ß t s e i n . . . /Walthers/ lyrische Genie, von den Idealen der ritterlichen Gesellschaft getragen, von den neuen Erfahrungen über die Bedeutung des Lebens erfüllt, spricht unmittelbar, stärker als jeder andere Dichter dieser Zeit, deren Grundstimmung aus" (S. 80). Uber die frühen deutschen Minnelyriker heißt es dagegen: Was vor Walther „als Aus-

Ursachen für das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis" im 19. Jh.

13

Grundbegriff angewandt. Alle Dichtung, die Anzeichen des Neuen, U r sprünglichen aufwies, galt als Erlebnisdichtung und damit als große Literatur, von Walther bis zu den deutschen Realisten, von Shakespeare und Calderon bis zu Dickens und Balzac. „Erlebnis" im Sinne einer literaturwissenschaftlichen Kategorie war also von vornherein ein Wertbegriff. N u r wer aus dem „Erlebnis" heraus dichtete, konnte die Zeiten überdauernde Literatur schaffen. Alle Literatur dagegen, die der Tradition und einer N o r m verhaftet war, wie z. B. die deutsche Barockdichtung, wurde apriori für zweit- oder drittrangig erklärt 2 . Ganze Epochen fielen damit aus der Literaturgeschichte heraus. Ihren begrifflichen Niederschlag fand diese Zweiteilung dann in Gundolfs „Ur- und Bildungserlebnis". Mit Gundolf beginnt auch, was wir bei Dilthey und seinen Zeitgenossen, z. B. H a y m , noch nicht finden — der direkte Mißbrauch des Erlebnisbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung, um einerseits den intellektuell und politisch engagierten Dichter zu diffamieren (bei Gundolf z. B. als „Banausen") und anderseits die aus dem Irrationalen heraus entstandene Literatur zu glorifizieren, wie wir das u. a. bei Ermatinger in seinem Buch Das dichterische Kunstwerk

erleben®. In ganz primitiver Form übernimmt

schließlich der Faschismus dieses Schema, um Blut- und Bodenliteratur als das Urwüchsige, aus dem tiefsten Inneren des Volkes Erwachsene zu preisen und alle der faschistischen Ideologie zuwiderlaufenden Werke als ausgeklügelte Produkte dekadent-intellektueller Elemente zu verwerfen. druck des Erlebnisses da war, hatte etwas Unvollkommenes, Unvollendetes. Die künstlichste, gebildetste Lyrik eines Hausen oder Reimar ruft uns die Sehnsucht zurück nach dem Volkslied, nach Kürenbergers diesem naher ritterlicher Lyrik: es ist wie ein Seelenleben, das seinen Körper, seine Form noch nicht gefunden hat" (S. 73). 1

Diese Zweiteilung hat ihren eigentlichen Ursprung im literarischen Geschmack des 18. Jahrhunderts, als man die Dichtwerke in authentische und gekünstelte zu scheiden begann.

3

Nach diesem Schema diffamiert Ermatinger in seinem Buch Das dichterische Kunstwerk (Berlin und Leipzig 1923) den Naturalismus im allgemeinen und Hauptmanns Weber im besonderen. Wörtlich heißt es bei Ermatinger: „Aber die Gedanken des naturalistischen Schriftstellers sind nun nicht eigenerlebte Ideen, sondern die konventionellen Begriffe der Wissenschaft, im besonderen der Naturwissenschaft, mithin nicht irrational-dynamisch, sondern rationalistisch, und sie sind, wie alles Rationale, dem Wechsel der Zeitmeinungen unterworfen, von Hypothesen und Theorien abhängig, die heute in der wissenschaftlichen Diskussion auftauchen und morgen verschwinden. Sie sind nicht allgemeingültige, ewige Werte wie die Ideen, mit denen das Genie ins Göttliche und Ewige hinaufreicht" (S. 59). Und einige Zeilen weiter unten heißt es von dem Versuch der Naturalisten, sich mit praktischen Aufgaben zu beschäftigen: „Wo aber gar der Naturalist praktische Aufgaben und Forderungen seiner Zeit in seinem Werke als Pseudoprobleme behandelt, wie Haupt-

14

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

Die Gegenbewegung gegen die Vorherrschaft des Erlebnisbegriffs in der Literatur- und Gesellschaftswissenschaft überhaupt setzt m. E. schon recht früh ein, und zwar bereits am Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts. Doch ist es nicht unsere Absicht, an dieser Stelle auf die Tendenz zur Überwindung der Vorherrschaft und des Kults dieses Begriffes in der deutschen Literaturwissenschaft einzugehen. Uns interessiert hier vor allem, daß die heutige Forschung die Überzeugung, alle großen Dichter seien deswegen und nur darum groß, weil sie aus dem Erlebnis heraus geschaffen haben, nicht teilt, schon deswegen nicht, weil man auf diese Weise vielen Epochen und Dichtern nicht gerecht wird. Zur Zeit ringt die Forschung um die Klärung des Anteils, den das persönlich-individuelle Erlebnis an der Entstehung von Literaturwerken in den einzelnen Jahrhunderten hat, wovon u. a. die vielen Erörterungen über das Verhältnis von Ursprünglichkeit und Tradition, Autonomie und Authentizität des Individuums und seiner gesellschaftlich-weltanschaulichen Abhängigkeit von der eigenen Zeit zeugen. Ebenso problematisch wie der Begriff des Erlebnisses ist der der Erlebnisdichtung. Wir glauben zu wissen, was damit gemeint ist, werden jedoch unsicher, wenn wir das durch ihn Bezeichnete festlegen sollen. Das tritt schon bei der Frage nach dem Beginn der „Erlebnisdichtung" in Deutschland zutage. Sagt man „Sturm und Drang", wirft man sofort ein: und wie war es vorher, wie steht es mit Günther und wie mit Klopstock? Waren sie keine Erlebnisdichter? Aber auch bei dem klassischen Beispiel der deutschen Erlebnisdichtung, bei Goethe, kommen einem Zweifel auf: Kann man denn alle seine dichterischen Werke als Erlebnisdichtungen bezeichnen, z. B. auch Hermann und Dorothea? Ist es nicht besser, nur in bezug auf eine bestimmte Art Lyrik von „Erlebnisdichtung" zu sprechen? Das Endergebnis dieser und anderer Fragen wird sein, daß man nach einer klareren Umschreibung des Begriffs „Erlebnisdichtung" sudht. Im allgemeinen neigt man dazu, jegliche Dichtung mit Erlebnisdichtung zu bezeichnen, in der die Individualität und die Erlebnisse des mann in den Webern die Magenfrage der sozialdemokratischen Agitation, da verschreibt er sich vollends dem Tage, bleibt allem Ideenhaften fern. Es gibt große Dichter, die, wie Gottfried Keller oder Hebbel, bitter gehungert haben; es ist ihnen aber nie eingefallen, ihr rein privates Hungern als Problem in ihre Dichtung zu bringen; sie haben sich damit begnügt, den Hunger als Motiv (was er tatsächlich ist) zu verwenden. Gerade Hauptmanns Weber zeigen die Unfruchtbarkeit, weil Ideenlosigkeit dieses Motivs. Es ist keine ernsthafte geistige Auseinandersetzung in ihnen, sondern ein bloßer äußerer Kampf zwischen den Besitzenden (denen Kirdie und Staat helfen!) und den Besitzlosen, und da es sich in diesem Kampfe nur um materielle Dinge handelt, so endet er auch nur mit dem Siege des Stärkeren, aber nicht mit der Lösung des Konfliktes, es wird stets aufs neue wieder hungrige Magen geben" (S. 60).

Ursachen für das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis* im 19. Jh.

15

Dichters unmittelbar zum Ausdrude kommen. Doch verfiele man ja damit in all die Fehler der Zeit Diltheys und der späteren deutschen Literaturwissenschaft zurück. Von diesem Gesichtspunkt aus wären beispielsweise die Gedichte Morungens und Walthers Erlebnisdichtungen, weil wir aus ihnen einen persönlichen Ton und sogar bestimmte eigene Erlebnisse heraushören, und sie würden in großem Gegensatz zur provenzalischen Troubadourdichtung stehen, die den Normen der höfischen Kultur und Tradition der Provence ganz und gar verpflichtet ist. Wer sagt uns jedoch, daß auch ihre Dichtung nicht ebenso tief aus einem Inneren entsprungen ist wie die deutsche Walthers und Morungens? Es gibt sicher keine Dichtwerke — wenigstens bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, vielleicht bis zum Dadaismus —, in die nicht in irgendeiner Weise die Individualität des Dichters eingedrungen ist4, ganz gleich ob nun diese an bestimmte mythische, religiöse, märchenhaft-ritterliche oder andere Vorstellungen gebunden ist. All diese Vorstellungen sind ja jeweils ein integraler Bestandteil der dichterischen Individualität. Insofern hat es also keinen Sinn, darüber zu reflektieren, ob das gegebene Kunstwerk einen unmittelbaren oder mittelbaren Ausdruck des Inneren des Dichters darstellt und sein Werk dementsprechend als Erlebnisdichtung oder als irgendeine andere Art von Dichtung zu klassifizieren ist. Auch die U n mittelbarkeit kommt bekanntlich ohne Vermittlung nicht aus. Zugespitzt könnte man formulieren: das uns in der Dichtung erscheinende Unmittelbare, das scheinbar ganz von dem Dichter Stammende ist nur vorgetäuschte Unmittelbarkeit, die ihre Vermittlungen nicht wahrhaben, sie wie Diener vondannen schicken möchte, nachdem diese ihre Pflicht und Schuldigkeit getan haben. Es bedarf dann oft erst der unbequemen und „langweiligen" Literaturhistoriker, die es auf sich nehmen, zu zeigen, daß nicht alles so unmittelbar ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Selbstverständlich ist unsere obige Formulierung zugespitzt, da sie erstens nicht berücksichtigt, daß ein Künstler angesichts der unendlichen Anzahl von Vermittlungen, deren er sich noch dazu nur zum geringen Teil bewußt ist, gar nicht imstande wäre, sich zu ihnen zu bekennen, und sie zweitens der Tatsache nicht gerecht wird, daß Dichtung, die stets aus Opposition gegen etwas (gesellschaftliche Zustände, gesellschaftliche Gruppen, ältere Sichtweisen, frühere Arten zu dichten usw.) entsteht, notwendigerweise das ihr Eigentümliche hervorheben muß. 4

Man könnte dies audi auf die Trivialliteratur beziehen, indem man die Individualität des Trivialautors als eine seinem Werk entsprechende interpretiert, was mir allerdings zu einfach erscheint, da diese Anschauung nicht dem masdiinenartigen Verfahren bei der Herstellung von Trivialliteratur gerecht wird.

16

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

Wenn es auch in Deutschland vom Mittelalter bis zum Aufkommen des Dadaismus und der kybernetischen Lyrik keine Dichtung gibt, die nicht in irgendeiner Weise im Zusammenspiel aller individuellen Erfahrungen und Erlebnisse des Dichters entstanden ist, so kann man trotzdem nicht umhin festzustellen, daß der dichterische Schaffensprozeß im 18. Jahrhundert eine grundlegende Umwandlung erfahren hat: die private Erfahrungs- und Erlebniswelt wird zur Hauptquelle, aus der der Dichter seinen Stoff, seine Motive und Charaktere schöpft. Dies entspricht der neuen Situation des bürgerlichen Dichters: seine relative Unabhängigkeit von den Mäzenen, dem Hof, versetzt ihn auch in eine größere gesellschaftliche Isolierung. Wie so oft in der Geschichte gehen Wollen und Müssen Hand in Hand. Als Verkünder des bürgerlichen Ideals einer selbstbewußten, in sich ruhenden Persönlichkeit ist es der Wille des Künstlers, seine Individualität und seine Erlebniswelt in den Mittelpunkt zu rücken. Als „Freiberuflicher" kann er jedoch gar nicht anders schaffen, muß er aus dieser Quelle schöpfen, wofern er seine Helden als lebendige Individuen darstellen will. Aber nicht nur vom dichterischen Schaffensprozeß, sondern auch vom Leser aus gesehen, haben sich im 18. Jahrhundert tiefgehende Veränderungen vollzogen. Früher, als die Leserschaft vorwiegend aus Angehörigen der feudalen Welt und des Patriziertums bestand, erwartete man eine Dichtung, die bei aller Unterhaltung beispielhaft wirken konnte; das in der Dichtung gebotene Leben wurde nicht als ein gelebtes oder erlebtes empfunden, sondern als ein nachahmenswertes Ideal, die Welt so zu sehen und ihm gemäß zu leben. Jetzt, wo sich die Leserschaft vor allem aus Bürgern zusammensetzte und pragmatische Überlegungen die Sitten und gesellschaftlichen Verhaltensweisen der bürgerlichen Gesellschaft zu bestimmen begannen, suchen die Leser immer mehr „gelebtes Leben" in der Darstellung, d. h. verlangen sie nach Situationen und Helden, mit denen sie sich identifizieren können, die von ihrem „Schrot und Korn" sind, um mit Lessing zu sprechen. Während das Kennzeichen der für den Adligen und auch Patrizier verfaßten Dichtung die Schaffung von Distanz — durch Allegorie und Symbol, Verlegung der Geschehnisse in ferne Länder und weit zurückliegende Geschichte oder in eine märchenhaft-mystische Welt — zwischen dem wirklichen Leben in dem heutigen üblichen Sprachgebrauch5 5

Der Begriff Leben, wie er im heutigen Sprachgebrauch üblich ist, ist selber wiederum ein Produkt bürgerlichen Denkens, bürgerlicher Haltung. Der Bürger erkennt nicht mehr die resolute Unterteilung des menschlichen Daseins in verschiedene hierarchisch geordnete Wertsphären an, bei der noch dazu das bürgerliche Alltagsleben den untersten Platz einnimmt. Er löst die alte Hierarchie der Werte auf und erklärt den nützlichen Teil seines Wirkens zu dem Wertvollsten, das die Menschen hervorbringen. Alle anderen Werte erfahren von hier aus ihre Begründung, auch die moralischen

Ursachen f ü r das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis" im 19. Jh.

17

und dem Dargestellten ist, wird in der für den Bürger geschriebenen Literatur diese Distanz weitgehend aufgehoben. In einem immer stärkeren Maße wird das Lesen zu einer Privatbeschäftigung. Man liest immer mehr, um sich persönlich mit der Welt und dem eigenen Innenleben auseinanderzusetzen. In Deutschland erfolgt der Umschlag von der kollektiven zu der individuellen Lektüre, wie M. Martens gezeigt hat 6 , nach Geliert, d. h. nach der Blütezeit der deutschen Aufklärung a la Wolff, als man in der Lektüre ein Mittel zur geistigen und sittlichen Vervollkommnung sah. Aber auch die Dichtung selber erreicht im Deutschland des 18. Jahrhunderts eine grundlegende neue Qualität. Während in den Werken der älteren Literatur nicht gelebtes Leben, sondern eine beispielhafte Situation oder eine im Voraus bestimmte Wertwelt gestaltet wird 7 , zu der der Held erst durch beharrliches Streben gelangt, wenn er sich nur den gesellschaftlich anerkannten oder für ideal erklärten Werten unterordnet, und die Schicksale der Helden ihre Bedeutung erst in einem ganz bestimmten Gefüge von Werten, die sich der Held irgendwie aneignen muß, erhalten, wird hingegen in der neueren Literatur — spätestens vom Sturm und Drang an — das Beschriebene als etwas tatsächlich „Sich-Ereignetes", erlebtes Leben geschildert, gewinnt in ihr das Schicksal des Helden aus seiner individuellen Beschaffenheit, den äußeren Ereignissen und der zufälligen Konstellation der Figuren heraus und vor allem aus der Welt, die er sich selber schafft, seine volle Bedeutung. Damit hängt es zusammen, daß in der neueren Literatur Individuum und Gesellschaft Gegenpole bilden, was einerseits in der unerhörten Ich-Betontheit der modernen Helden und anderseits in ihrem Konflikt mit der Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Die logische Folge dieser neuen Situation ist, daß der Held seine eigene Wertwelt nicht realisieren kann und dann meist infolge der Widerstände der Gesellschaft zugrunde geht. Die große Literatur lebt also nicht mehr vom Beispielhaften, vom Sollen, sondern vom Antibeispiel, von dem, wie es in der Gesellschaft nicht sein sollte. Es wäre nun zu fragen, ob es nicht möglich ist, die „Erlebnisdichtung" von der Dichtung selber her zu bestimmen 8 . Vielleicht ließen sich dann die • Vgl. Wolfgang Martens, „Lektüre bei Geliert" in Festschrift Alewyn, a.a.O., S. 138.

für

Richard

7

Man denke etwa an Parzival

8

Praktisch hat dieses Verfahren Arnold Hirsch in seiner Arbeit Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes, Köln 1957, bei der Analyse der „Entstehung der modernen Seelenlage im Schäferroman" angewandt, und zwar bewußt, was uns seine Anmerkung auf S. 92 beweist: „So bedeutsam und fruchtbar Meyers Anwendung

oder auch an den

Simplizissimus

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

18

Schwierigkeiten umgehen, die uns bei der Fassung dieses Phänomens vom Schaffensprozeß des Dichters aus begegnen, die vor allem darauf beruhen, daß es sehr schwer ist, die Grenzen zwischen unmittelbar Erlebtem und Vermitteltem,

Ursprünglichkeit und Tradition, Eigenem und

Formel-

haftem festzulegen. Wäre dann Erlebnisdichtung nicht diejenige Dichtung, in der das geschilderte Leben den Schein des wirklich „gelebten Lebens" hat 9 und für die das Erlebnis des Helden einen bedeutsamen Eigenwert besitzt, oder anders ausgedrückt die Dichtung, in der uns durch die ungebrochene, „objektive Wiedergabe des Erlebnisses" eines Helden das Leben oder eine wesentliche Seite davon eröffnet werden soll. Kurz gesagt, wäre Erlebnisdichtung nicht diejenige Dichtung, in der das Leben über und durch das Erleben des Helden oder der Einzelpersönlichkeit (in der Lyrik über das lyrische Ich, das die Literaturwissenschaftler immer gern mit dem Erlebnis des Dichters identifiziert haben) erschlossen werden soll.

des Begriffes .Erlebnisdiditung' auf die bukolischen Individualromane ist, so kann man seinen Analysen gegenüber Einwände nicht immer unterdrücken, da sie allzu sehr das Ergebnis der Frage nach dem biographischen Gehalt sind. Man sollte, statt nachträglich biographische Wirklichkeit hinter Dichtung zu suchen, den Gehalt an Wirklichkeit in ihr selbst bestimmen, so wie er in die Struktur des Romans eingegangen ist" • Interessant ist in diesem Zusammenhang Leonard Forsters Interpretation des von ihm entdeckten Briefgedichts „Tagwerk eines Hofmannes" von Weckherlin (in Festschrift für Richard Alewyn, a.a.O., S. 103—122), weil wir hier an einem konkreten Beispiel den Unterschied zwischen Erlebnisdichtung und einer der Normen verhafteten Literatur sehr deutlich erkennen. Forster vergleicht Weckherlins Gedicht mit zwei anderen ähnlicher Thematik von dem spätantiken Dichter Auson und dem holländischen Zeitgenossen Weckherlins, Constantijn Huygens. Nach kurzer Wiedergabe des Inhalts des unvollendeten holländischen Gedichts kommt Forster zu dem Schluß: „Es ist klar, hier wird nicht gelebtes Leben geboten, sondern ein verpflichtendes Ideal vorbildlichen Lebens, das der Dichter und seine Frau zu erreichen suchen wollen. Nichts steht in seinem Eigenwert da; alles wird betrachtend, moralisierend, fast emblemhaft auseinandergesetzt... Weckherlin dahingegen bietet gelebtes Leben — einen schlichten Bericht über die Beschäftigungen eines typischen Tages. Die gelegentlichen Reflexionen ändern an dieser Grundeinstellung nichts: der Dichter belehrt nicht, er teilt mit und schreckt vor Banalitäten nicht zurück. Das Mitgeteilte steht in seinem Eigenwerte da und wird nicht durch ständige ausdrückliche Beziehung auf ewige Werte gerechtfertigt" (S. 111 f). Dem Argument, daß trotz „der Frische und Unbefangenheit des Gedichtes... konventionelle Züge genug darin vorhanden" sind, begegnet Forster in der Weise: Diese Züge „entstammen jedoch den Konventionen des gelebten Lebens, nicht der Poesie" (S. 113), was er durch eine genaue Analyse des Briefgedichts zu beweisen versucht.

Ursachen f ü r das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis" im 19. Jh.

19

Alles wird also auf das Erleben des H e l d e n als einer sich mit der Welt, dem Leben auseinanderzusetzenden Einzelpersönlichkeit ausgerichtet, das den Leser ganz gefangen nehmen soll. Das Erlebnis des Individuums ist nicht nur zu einem spezifischen K r a f t z e n t r u m dichterischer Gestaltung, sondern auch zu dem Anziehungspunkt der Leserneugierde oder -erwartung geworden. Auf den Zusammenhang zwischen Erleben, Leben und H e l d e n haben übrigens die Vertreter der Erlebnisdichtung (etwa Dilthey, Spielhagen und Fontane) selber direkt oder indirekt hingewiesen. So lesen wir bei Spielhagen, d a ß der H e l d „ganz sicher der Gesichtswinkel /ist/, unter welchen uns der Autor das Stück Menschentreiben, das er aus dem Ganzen ausschneidet, gerückt hat, unter dem er wünscht, d a ß wir es betrachten möchten" 1 0 . Episoden, in denen der H e l d aus dem Leben, dem Menschentreiben vom Dichter herausgeführt wird, wie z. B. Simplex in dem Mummelseeabenteuer 1 1 , werden als Verzerrungen oder als Verstöße gegen die Eigentümlichkeiten der künstlerischen Gestaltung verurteilt. Dichtungen der älteren Zeiten können von diesem Gesichtspunkt aus nicht als Erlebnisdichtung gewertet werden, weil sie nicht konsequent in das „gelebte Leben" eingebettet sind, sie nicht Erlebnisse z u m Vorwurf haben, die sich auch im Leben hätten ereignen können. M a n könnte auch versuchen, v o m Leser, Zuhörer oder Zuschauer aus die Erlebnisdichtung zu umreißen, beispielsweise als die Dichtung, die ohne besondere Mühe (vor allem von dem Publikum, f ü r das sie bestimmt w a r ) nacherlebbar ist, deren Aussage über das Leben durch ein Sichhineinversetzen in die Erlebnis- und Erfahrungswelt der Helden oder des lyrischen Ich verständlich ist, ohne d a ß der Leser dabei die besonderen Kunstgriffe des Dichters erkennen oder er sich neue Begriffe aneignen m u ß . Mit den Worten Adornos gesagt, w ä r e Erlebnisdichtung diejenige Dichtkunst, in der der A u t o r den Leser oder Zuschauer in die Illusion versetzt, d a ß er Geschehenes mitvollzieht, als w ä r e es leibhaftig zugegen 12 .

14

11 11

Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, Leipzig 1883, S. 72 Ebenda, S. 76 Wörtlich heißt es bei Theodor W. Adorno, „Form und Gehalt des zeitgenössischen Romans" in Akzente 1 (1954): „Der traditionelle Roman... ist der Guckkastenbühne des bürgerlichen Theaters zu vergleichen. Diese Technik war eine der Illusion. Der Erzähler lüftet einen Vorhang: der Leser soll Geschehenes mitvollziehen, als wäre er leibhaftig zugegen" (S. 143). Wie recht Adorno hat, beweisen die unzähligen Aussprüche Otto Ludwigs, Spielhagens, Kellers, Fontanes und auch Diltheys, daß uns die „Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit" (Fontane) erscheinen soll.

20

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs Die Literaturkritiker, deren Ideal Erlebnisdichtung ist, fragen sich

daher auch immer wieder, ob der Leser das Geschilderte nachempfinden kann, ob es nicht den Eindruck des Künstlichen, Gewollten macht, inwieweit der Leser in ihm das Leben wiedererkennt, und zugleich tiefer sehen lernt, in welchem Grade seine eigenen Erfahrungen bereichert werden usw. Interessant wäre es — was jedoch den Rahmen unserer Untersuchungen sprengen würde — , einmal die moderne Dichtung daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie Erlebnisdichtung ist und inwieweit nicht. Sie ist es auf jeden Fall immer weniger, u. a. dadurch, daß sie sich immer stärker in einem Raum bewegt, in dem sich das Einzelschicksal, das „Erlebnis" so sehr umsetzt, daß es aufhört, für den Leser als Erlebnis faßbar zu sein. E r kann sich mit ihm nicht mehr identifizieren, es nicht mehr aus seiner Sicht „emotional" verstehen, oft kommt er sogar ohne kommentierende Literatur nicht mehr aus. Es ist daher kein Zufall, daß im 20. Jahrhundert K r i t i k und Interpretation einen derartigen Aufstieg erfahren haben. Während die Erlebnisdichtung vom Einzelschicksal, der Geschichte eines Helden und dem Kult des Künstlers (am vordergründigsten kommt dieser in der Erlebnislyrik zum Ausdruck) lebt, verwirft die moderne Dichtung diese Denkweise ganz und gar. So zählt Alain Robbe-Grillet den „Helden" und die „Geschichte" zu den „veralteten Begriffen". „Was hat man uns nicht schon alles vom ,Helden' erzählt!", ruft Robbe-Grillet aus, „Und leider scheint das noch nicht so schnell ein Ende zu nehmen. Fünfzig J a h r e Krankheit, die wiederholte Konstatierung seines Ablebens durch die ernsthafteren Essayisten, nichts hat bisher vermocht, ihn von dem Piedestal zu stürzen, auf das ihn das 19. Jahrhundert gestellt hat. E r ist heute eine Mumie, thront aber immer noch mit der gleichen — wenn auch künstlichen Majestät inmitten der Werte, die von der traditionellen K r i t i k verehrt werden" 1 3 . U n d einige Absätze weiter kommt er zu dem Schluß: „Der R o m a n mit Helden gehört der Vergangenheit an, er kennzeichnet eine Epoche: jene, die das Individuum auf dem Höhepunkt seiner Macht sah" 1 4 . H i e r kommen wir auf die für unseren Zusammenhang wichtige Frage nach dem Zeitpunkt des „Zur-Neige-Gehens" der Erlebnisdichtung: Wann und warum beginnt dieser Prozeß? In der neuen industrialisierten Massengesellschaft mit ihren großen Städten als Zentren und angesichts der unerhörten Arbeitsteilung ist der Schriftsteller nur noch mit großer Mühe imstande, aus dem Erlebnis — wie weit man diesen Begriff auch f a ß t — heraus etwas Bedeutendes dar-

13 14

Alain Robbe-Grillet, Argumente für einen neuen Roman, München 1965, S. 27. Ebenda, S. 29

Ursachen für das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis" im 19. Jh.

21

zustellen, was u. a. in der hartnäckigen Suche nach dem typischen Geschehnis, einer repräsentativen Gestalt, charakteristischen Konstellation usw. zum Ausdruck kommt. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer häufiger verwandten Begriffe, wie charakteritisch und typisch, sind von der Sicht des Schaffensprozesses des Schriftstellers aus der Versuch, eine Art Rezept für die Auswahl der für die dichterische Darstellung geeigneten Erlebnisse aus dem Gesamt der persönlichen Erfahrungen des Dichters zu geben. Die Theorie des Typischen kündigt in gewissem Sinne bereits den Widerspruch zwischen dem Erlebnis und dem Verlohnen seiner Darstellung an, einen Widerspruch, den die moderne Literatur fast nicht mehr zu lösen weiß. Das Dichten aus dem Erlebnis heraus birgt in sich die Gefahr der Enge, gerade in der Zivilisationsgesellschaft, in der sich die Individuen immer weniger voneinander abheben. Diese Gefahr erkannte z. B. bereits Spielhagen. Aber er war noch völlig der optimistischen Meinung, daß es möglich sei, durch sogenannte objektive oder typische Darstellung, diese Enge zu umgehen, ohne auf die erlebnisbedingte Schaffensweise zu verzichten. So schreibt er beispielsweise in seinem Essay „Der Ich-Roman" (1882), daß im Gegensatz zum älteren Dichter, dem noch Mythos und Sage zur Verfügung standen, der moderne „nidits, gar nichts von dem allen mehr" hat; er ist „inmitten und gegenüber einer unendlichen Welt einzig auf seine individuelle (d. h. beschränkte) Beobachtung und Erfahrung angewiesen; das heißt, er ist bei der Ausübung seiner Kunst (von der er nun einmal nicht lassen kann) völlig den eben dieser Kunst inhärierenden Schwierigkeiten, ja in derselben gesetzten Widersprüchen preisgegeben. Der Weg, auf den er sich nun gewiesen sieht, diese Schwierigkeiten zu überwinden, diese Widersprüche auszugleichen, ergiebt sich von selbst. Er muß versuchen, erstens: den unendlichen Gehalt seiner Welt und Zeit zusammenzufassen in dem möglichst reichen, aber durchaus übersichtlichen Bilde einer aus seinen eigenen Erlebnissen zusammengediditeten Fabel, durch welche er den Mangel der überlieferten Sage thunlich ersetzt. Er muß zweitens versuchen: den Helden dieser Fabel (d. h. sich) von der individuellen Beschränktheit thunlich zu befreien, zu einem für die Zeit typischen, für die aktuelle Welt repräsentativen Menschen umzubilden, und ihn so zum Träger der Idee in dem von uns verstandenen Sinne geeignet zu machen"15. Trotz der Schwierigkeit des modernen Dichters, die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse zu transzendieren und sie ins Typische umzu15

Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, zig 1883, S. 180.

Leip-

22

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

setzen wird der Erlebnisbegrifi von der deutschen Literaturwissenschaft dieser Zeit zu einer ihrer zentralen Kategorien gemacht. Wie so oft in der Geschichte wird in der Theorie versucht, etwas zu retten, was in der Praxis sich zu überleben beginnt. Als ein Moment literaturwissenschaftlicher Betrachtungsweise liegt der Erlebnisbegriff jedoch nicht nur einer spezifischen Form der dichterischen Gestaltung, sondern auch einer neuen Art des Umgangs mit Dichtung zugrunde, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur herrschenden geworden war: der Biographik. Dieser wollen wir uns nun als einer der weiteren vermutlichen Ursachen für das Aufkommen des Erlebnisbegriffs zuwenden18.

b. Die

Biographik

Man könnte die Ansicht Spielhagens, daß es der Held sei, unter dessen Gesichtswinkel der Leser die Welt betrachten sollte, als ein Pendant zu der Auffassung der Autoren der Biographien des 19. Jahrhunderts ansehen, daß wir die menschliche Welt erst dann begreifen, wenn wir uns das Leben großer Persönlichkeiten vergegenwärtigen und es in seiner Einmaligkeit, Mannigfaltigkeit und Weite zu verstehen versuchen. Das ist gewiß richtig, wir dürfen jedoch nicht den Unterschied zwischen beiden unbeachtet lassen, nämlich daß die Schriftsteller und Literaturtheoretiker mit dem Begriff des „Helden" keine große Persönlichkeit meinten, sondern vor allem eine typische Gestalt, wenn auch zumeist eine idealisierte. Die Literatur des 19. Jahrhunderts lebt zwar von dem Kult des Individuums, aber nicht von dem der großen Männer, so wie die Biographik. Die Auffassung, daß nur hervorragende Persönlichkeiten Geschichte schaffen, von David Friedrich Strauß in seinen Kleinen Schriften „Personalismus" genannt, setzte sich in Deutschland nach der 48er Revolution immer stärker durch und wurde in den sechziger und siebziger Jahren zu der vorherrschenden. Ganz besonders wurde sie von den Vertretern der „Biographik" geteilt (wenn auch in verschiedenem Maße). So erklärt Hermann Grimm: „Männer wollen wir in ihrer Zeit sehen, um die Zeit zu begreifen" 17 . Ohne Homer und Dante wären seiner Meinung nach 16

17

Gadamer ist der Meinung: Die „allgemeine Einführung des Wortes Erlebnis in den allgemeinen Sprachgebraudi hängt, wie es scheint, mit seiner Verwendung in der biographischen Literatur zusammen" (a.a.O., S. 57). Daß dem nicht so ist, haben wir weiter oben zu zeigen versucht, was nicht heißen soll, daß die „Biographik nicht zu seiner Popularisierung beitrug".

Hermann Grimm, Zehn ausgewählte Essays zur Einführung in das Studium der modernen Kunst, Berlin 1871, S. 158.

Ursachen für das A u f k o m m e n des Begriffes „Erlebnis" im 19. Jh.

23

Griechenland und Italien nur leere Begriffe geblieben. „Ohne Luther und Goethe", schreibt er über Deutschland, „wären wir nicht, was wir sind; in diesen beiden Namen liegt eine Macht, wie wenn man von der Geschichte der Erdkugel redend sagt: die Steinkohlenperiode, die Tertiärperiode" 18 . Aufgabe der Biographie ist es daher, die historisch gewordenen Persönlichkeiten wie Leuchttürme aus dem Dunkel der Geschichte hervorstrahlen zu lassen. Zur Illustration sei hier noch einmal Grimm zitiert: „Von dem, was die Geschichte der Zeiten schuf, sind die selfmade großen Männer als das dauernd Wichtige übriggeblieben... Aller Zukunft wird immer wieder die Aufgabe sich bieten, die Zustände zu beschreiben, aus denen die Umgestalter des großen Daseins hervorgingen, die Hindernisse zu ergründen, die sie überwältigten oder denen sie erlagen; das Dunkel, das nach ihnen eintrat, das Licht, das sie angezündet, zu durchdringen und was an Vorurteilen oder an Vernichtung ihrem Geist entfloß, aufzusuchen und zu erklären"1®. Es braucht hier nicht ausgeführt zu werden, daß sich hinter der individualistischen Geschichtsauffassung eine mehr oder weniger bewußte Abwehrhaltung gegen die zunehmende Bedeutung der Rolle der Massen verbirgt. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen manifestiert sich in der Biographik die begründete Suche nach neuen Methoden zur Erfassung der Literaturgeschichte. Die bisher vorherrschende synthetische Literaturgeschichtsschreibung befriedigte nicht mehr, da diese letztenendes immer zu pauschalen Urteilen verurteilt ist. Im welchen Grade sich die Biographik als eine neue, der synthetischen Literaturgeschichtsschreibung entgegengesetzte empfand, können wir Danzels Vorwort zu seiner Lessingbiographie (1850) entnehmen: „Ich habe zur Bevorwortung dieses Buches nur wenig zu sagen. Wenn jetzt die Zeit der Monographien im Gebiete der neueren deutschen Literaturgeschichte gekommen ist — und ich glaube, sie ist gekommen, denn an Büchern, welche eine mehr oder weniger vollständige Übersicht des Stoffes geben, ist Ueberfluß, und zu einer gewiegten Darstellung des mannichfach verschlungenen Entwicklungsganges fehlt es noch an der vollständigen Durchforschung des Einzelnen — so wird eine literarische Lebensbeschreibung L e s s i n g s keines der überflüssigsten und auch keines der unwürdigsten Unternehmen sein"20. Von den monographischen Darstellungen, unter denen wir hier im Wesen

18

Ebenda, S. 266

18

Nach Wilhelm Wätzold, Deutsche

80

Th. W. Danzel, Gotthold Ephraim Leipzig 1850, Bd. I (Vorwort).

Kunsthistoriker, Lessing.

Leipzig 1924, II, 230.

Sein Leben

und

seine

Werke,

24

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

biographische zu verstehen haben, erhofft sich Danzel eine größere Wissenschaftlichkeit der Literaturgeschichte21. Es gilt, wie er in seiner Rede »Über die Behandlung der Geschichte der neueren deutschen Literatur" (1849) ausführte, sich dem Stoff selber zuzuwenden. Das Ausgehen sowohl von einem vordergründig politischen wie auch von einem philosophischen Standpunkt aus kann seiner Meinung nach einer wissenschaftlichen Behandlung der Literaturgeschichte nicht förderlich sein. Über die tendenziöse Literaturgeschichtsschreibung — wobei er vor allem an Vilmar und Gervinus denkt — sagt er wörtlich: „Aber gerade die letztere Auffassung, die politische, hat einer ganzen Reihe von literaturhistorischen Werken einen Charakter aufgeprägt, der in manchen Fällen nahe daran ist, ihnen allen wissenschaftlichen Wert zu rauben: sie hat ihnen ein tendenziöses Wesen mitgeteilt, welches mit den historischen Tatsachen nicht viel weniger willkürlich umgeht als der Prediger auf der Kanzel mit den Textesworten; die literaturhistorischen Werke waren eine Zeitlang, wie Goethe von Byrons Gedichten sagt, verhaltene Parlamentsreden: was haben aber die Bedürfnisse der Gegenwart mit der geschichtlichen Darstellung der Verhältnisse der Vergangenheit zu tun?" 22 . Während die deutschen Literaturhistoriker die „tendenziöse Literaturgeschiditsschreibung" nach der 48er Niederlage recht schnell überwanden, d. h. sich immer weniger mit ihr auseinandersetzten und immer unpolitischer wurden, empfanden sie die ideengeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft als ein Problem, das sich nicht so einfach von der Hand weisen ließ, denn nach wie vor verstanden sie unter Literaturwissenschaft die Wissenschaft von dem gesamten geistigen Leben der Nation. Gleichzeitig erkannten sie jedoch immer deutlicher, daß sich die Literaturgeschichte nicht allein aus der Entwicklung der Ideen verstehen läßt, da damit etwas für die Literaturgeschichte Spezifisches verlorengeht. Diesem Spezifischen meinten sie näher zu kommen, indem sie ihren Blick vor allem auf den Dichter selber, seine besonderen Charaktereigentümlichkeiten, künstlerischen Anlagen und Erlebnisse lenkten; denn einerseits vereinigen sich im Dichter oder Denker als großer, bedeutsamer Persönlichkeit die geistigen Strömungen seiner Zeit wie in einem Brennpunkt, und anderseits ist gerade er die Ursache der Spezifik seines eigenen Werks, des den Zeitgeist Überschreitenden. Der Dichter oder Denker ist mit anderen Worten der Ein- und Ausgangspunkt, das Zentrum der Verwandlungen,

21

Th. W. Danzel, „Über die Behandlung der Geschichte der neueren deutschen Literatur" in Meisterwerke deutscher Literaturkritik, hsg. von Hans Mayer, Berlin 1956, Bd. II, S. 365. " Ebenda, S. 365

Ursachen für das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis" im 19. Jh.

25

die in seinem Werk ihren Niederschlag finden. Über und durch sein Werk wirkt er dann auch wieder auf seine Zeit und die Nachwelt überhaupt zurück. Wer also die Persönlichkeit und das Leben des jeweiligen Dichters oder Denkers begreift und zugleich weiß, was und wie etwas von ihm aufgenommen wird, der wird der Biographik zufolge auch imstande sein, das Wesen seines Werks sowie dessen Wirkung zu erfassen. Die Vertreter dieser Forschungsrichtung waren überzeugt, auf diese Weise die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, Epoche und Individuum jeweils konkret lösen zu können. In diesem Sinn schreibt Dilthey in seinem Vorwort zu seinem Leben Schleiermachers: „Denn in dem Verhältnis des einzelnen zu der Gesamtheit, in welcher er sich entwickelt und auf die er zurückwirkt, liegt der Schwerpunkt der Biographie wie des Lebens selber; zumal aber die Biographie eines Denkers oder Künstlers hat die große geschichtliche Frage zu lösen, wie ganz zerstreute Elemente der Kultur, welche durch allgemeine Zustände, gesellschaftliche und sittliche Voraussetzungen, Einwirkungen von Vorgängen und Zeitgenossen gegeben sind, in der Werkstatt des einzelnen Geistes verarbeitet und zu einem originalen Ganzen gebildet werden, das wiederum schöpferisch in das Leben der Gemeinschaft eingreift" 23 . Aus diesem Grunde hat Dilthey einmal die Biographie die „am meisten philosophische Form der Geschichte" bezeichnet. Und Haym vertritt in der Besprechung des Schleiermacher-Buches von Dilthey die Ansicht: „Vielleicht ist gerade hier (in der biographischen Darstellung — K. S.) die innigste Durchdringung des Philosophischen und Historischen möglich, vielleicht die Gefahr des Irrtums hier die geringste, die Aussicht auf ein reines Ergebnis am größten" 24 . Diese Art der Untersuchung erfordert natürlich besondere Methoden. Einerseits muß der Forscher das Allgemeine, das auf den Dichter wirkt und gewirkt haben kann, stets im Auge behalten, anderseits soll er aber vor allem den Dichter und sein Leben verstehen. „Es ist unerläßlich", sagt Haym in der Einleitung zur RomantisAen Schule, „zugleich das Durchgehende und Allgemeine festen Blickes zu verfolgen und zugleich verstehend und mitfühlend sich in die Eigenart von Individuen, in die inneren Erlebnisse bedeutender Menschen zu versetzen" 25 . Der zweite Satz klingt wie eine Vorwegnahme der Einfühlungsmethode. Doch ist er dies nur im beschränkten Maße; denn zu einer echten Einfühlung in die dichterische

23

W. Dilthey, Leben Schleiermachers,

24

Rudolf Haym, Zur deutschen Philosophie und Literatur, ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Emst Howald, Züridi 1963, S. 182.

25

R. Haym, Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des Geistes. Darmstadt 1961 (Neudruck), S. 9.

a.a.O., S. X V

deutschen

26

Zur Gesdiidite des Erlebnisbegriffs

Persönlichkeit, also in das Andersartige und oft völlig Fremde, ist diese Zeit noch nicht imstande. Dazu ist sie viel zu sehr von einem Sinn für das Gesunde, Reale und Geordnete durchdrungen, was unter anderem die Urteile Hayms über die Romantik und Diltheys über Hölderlin und auch Novalis in den sechziger bzw. siebziger Jahren beweisen. Aber nicht das scheint mir der Hauptgrund zu sein, warum die Vertreter der Biographik nicht zur Einfühlungsmethode gelangten, obwohl dies aufgrund ihres theoretischen Programms zu erwarten gewesen wäre. Der Hauptgrund liegt m. E. in ihrer positivistisch-genetischen Einstellung. Das Positivistische und Genetische sind hier aufs engste miteinander verkoppelt. Der Positivismus der Biographen kommt vor allem in ihrer Suche nach sehr vordergründig greifbaren Belegen für all ihre Behauptungen und Annahmen zum Ausdruck. Als solche Belege anerkannten sie vor allem private Äußerungen (Briefe, Tagebucheintragungen, überlieferte Gespräche usw.), persönliche Beziehungen und die sich aus ihnen ergebenden Komplikationen u. ä. m. Es waren dies gleichzeitig Belege, die ganz ihrer genetischen Orientierung entsprachen. Jede literaturwissenschaftliche Richtung pflegt mit einem ihr gemäßen „Beweismaterial" zu arbeiten, das sich selten mit dem einer anderen Strömung deckt. Als genetische Belege dienten ihnen neben den genannten nun auch die Schaffensweise des Dichters und die Umstände, die zur Entstehung des Werks führten, also insbesondere die Erlebnisse, die die Literaturforscher völlig gefangen nahmen. Aus alledem läßt sich auch erklären, warum in den Biographien um 1870 meist die Pluralform des Wortes „Erlebnis" verwandt wurde; denn nur in den seltensten Fällen ist e i n Erlebnis Anlaß für die Entstehung eines Kunstwerks. Zugleich erschienen die Erlebnisse den Biographen als etwas Greif- und Belegbares, also als etwas, das ihren Forschungspostulaten entgegenkam. Durch die Konzentration auf die Erlebnisse des Dichters mußten sie jedoch letztenendes an der Besonderheit des Werks wie des Dichterischen überhaupt vorbeigehen. Es war aber auch nicht ihr Ziel, das Werk des Künstlers vor allem als Kunstwerk zu erfassen, sondern seine Werke „nach rückwärts und vorwärts, nach ihrer Entstehung und Wirkung flüssig zu machen . . . " , wie Haym schreibt. Die Literaturgeschichte „hat das, was geschieht, in das Wie des Geschehens aufzulösen, um nicht sowohl Thatsachen zu verzeichnen als Thaten darzustellen" 25 . Die Biographen stellen sich also nicht die Frage nach dem literarischen Kunstwerk, suchen es nicht zu analysieren und als solches zu begreifen, sondern sie interessieren sich hauptsächlich für dessen Genese, und da geraten die Erlebnisse gleichsam von selber in gedrängter Fülle in das

Ursachen für das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis" im 19. Jh.

27

Blickfeld des Forschers. Typische Werke der Biographik sind daher im Wesen eine in sich geschlossene Schilderung des Erlebnisflusses im Leben des Dichters oder Denkers. Hier braucht man nur das zu verallgemeinern, was einmal Hermann Grimm über Justis Winckelmann

gesagt h a t : „Justi

hat sein Thema im Sinne der heutigen Geschichtsschreibung erschöpft. E r hat so gut wie alles ausgemacht, was sich auf Winckelmann

bezieht.

Winckelmanns Erlebnisse entwickeln sich vollkommen glaubwürdig vor uns. W i r sehen die armen Stendaler Kinderzeiten, die

kümmerlichen

Universitäts-, Wander- und Amtsjahre, den peinlichen Dresdner Aufenthalt und das befreiende, beglückende italienische Leben, in dem er endlich Wurzel schlagen durfte. Schritt vor Schritt — oft sind es sehr kurze Schritte — werden wir weitergeleitet" 2 6 .

c. Die neue

Erlebnissituation

Die bisherigen Ausführungen erklärten zwar die „Aktualität" des Begriffs des Erlebten im 19. Jahrhundert, doch nicht die Frage, warum gerade in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts das Wort „Erlebnis" einen solchen Aufstieg erfahren konnte. Meines Erachtens verdankt es dies der Punktualität, die ihm im Unterschied zum Begriff des Erlebten anhaftet. Diese Punktualität macht ihn gleichsam für die neue „Erlebnissituation" in dem anhebenden Zeitalter der Maschinen- und Massengesellschaften geeignet, eine Situation, die durch die Zunahme von unerwarteten, plötzlich hereinbrechenden, meist kurz währenden Erlebnissen (wie Verkehrsunfällen, zufälligen Bekanntschaften auf der Straße und während der Reise, häufigem Wechsel im politischen Leben, politischen Erschütterungen, eigener Existenzunsicherheit,

Überraschungen, die die

Tagespresse zu bieten hat, usw.) gekennzeichnet ist. In allen Sphären des menschlichen Lebens läßt sich ein Anwachsen der

diskontinuierlichen

Erscheinungen beobachten, insbesondere im Arbeitsprozeß, der im kapitalistischen Großbetrieb in unzählige einzelne Arbeitskräfte zerfällt, die vom Arbeiter nicht mehr übersehen werden. „Unabhängig vom Willen des Arbeiters", schreibt Walter Benjamin, „gelangt das Werkstück in dessen Aktionsradius. U n d es entzieht sich ihm ebenso eigenwillig" 27 . Plötzliches Auftauchen und Verschwinden des Werkstückes sind mit anderen Worten Konstanten im Erleben des Arbeiters. Gleiches beobachten wir im Straßen-

26

Zitiert nach R. Budiwalds Vorwort zu Hermann Grimm, Das Leben Stuttgart 1939, S. X X X V I .

27

Walter Benjamin, Illuminationen,

Frankfurt/Main 1961, S. 222

Goethes,

28

Zur Gesdiidite des Erlebnisbegriffs

leben, das ja im 19. Jahrhundert in immer stärkerem Maße Teil des Alltagslebens wird: der Passant taucht plötzlich auf, um kurz darauf wieder aus dem Blickfeld zu rücken. Wie das Plötzliche, Schockartige zu einem integralen Bestandteil des Bewußtseins und der Verhaltensweisen des Straßenpassanten werden, hat Edgar Allan Poe als erster in seiner Erzählung „Der Mann der Menge" überaus plastisch geschildert: „Weitaus die Mehrzahl der Vorübergehenden trug ein selbstzufriedenes, geschäftsmäßiges Wesen zur Schau und schien nur daran zu denken, sich einen Weg durch das Gewühl zu bahnen. Ihre Brauen waren zusammengezogen, und ihre Augen schweiften lebhaft umher. Wenn sie von anderen Passanten angestoßen wurden, gaben sie keine Ungeduld zu erkennen, sondern brachten ihre Kleider in Ordnung und hasteten weiter. Andere, ebenfalls in stattlicher Zahl, waren rastlos in ihren Bewegungen, hatten gerötete Gesichter und sprachen mit sich selbst und gestikulierten, als ob sie sich im dichtesten Gedränge gerade besonders einsam vorkämen. Wenn sie am Weitergehen gehindert wurden, stellten sie plötzlich ihr Gemurmel ein, gestikulierten aber mit verdoppeltem Eifer und warteten mit einem abwesenden und etwas überbetonten Lächeln auf den Lippen darauf, daß die Personen, von denen sie aufgehalten wurden, ihren Weg fortsetzten. Wurden sie angestoßen, so verneigten sie sich umständlich vor den Leuten, die sie angestoßen hatten, und wußten sich, wie es schien, vor Verlegenheit nicht zu lassen" 28 . Die Zunahme des Plötzlichen, Schockartigen, Diskontinuierlichen in der Industriegesellschaft ist, wie wir wissen, mit der Zunahme einerseits des Gleichförmigen im Alltag und andererseits der Vereinzelung des Individuums aufs engste verbunden. Erst dadurch gewinnt auch das Plötzliche, Überraschende so sehr an Bedeutung. Der Mensch der Masse ist nicht nur auf den Schock, das Hereinbrechende meist schon irgendwie vorbereitet, so daß er, wenn er auf der Straße einen Stoß empfangen hat, eine tiefe Verbeugung macht, sondern er wartet gleichzeitig angesichts der Monotonie in seiner Beschäftigung und seiner geringen gesellschaftlichen Kontaktmöglichkeiten stets auf Außergewöhnliches, „Einmaliges", „Unerhörtes", was er jedoch viel eher in der Zeitung und der Literatur findet als im Leben selber. Ein wahrer Erlebnishunger 29 ergreift ihn, der so groß

18

Edgar Allan Poe, Phantastische

Erzählungen,

Leipzig 1968, S. 75.

"

Vgl. hierzu auch Gadamer, der in seinem Buch "Wahrheit und Methode, a.a.O., auf S. 61 schreibt, daß die „Erlebnisferne und der Erlebnishunger, die aus dem Leiden an der komplizierten Apparatur der durch die industrielle Revolution umgestalteten Zivilisation herrühren, das W o r t .Erlebnis' im allgemeinen Sprachgebraudi aufsteigen lassen . .

Ursachen für das Aufkommen des Begriffes „Erlebnis" im 19. J h .

29

ist, daß sich für ihn die kleinsten Ereignisse in ein Erlebnis zu verwandeln vermögen. Geistesgeschichtlich entspricht der Punktualität des Erlebnisbegriffs das atomistische Denken des Positivismus, der, ganz der modernen Technologie gemäß, alle Prozesse in seine kleinsten Bestandteile zu zerlegen trachtet. Insofern ist die Theorie Diltheys, der das Erlebnis als die kleinste Einheit des Lebens ansah, eine vom Positivismus diktierte Methode, so paradox das auch klingen mag, da ja Dilthey gerade mit seiner Erlebnistheorie den Positivismus in den Geisteswissenschaften überwinden wollte. Noch paradoxer ist es, daß seine Erlebnistheorie von der damaligen neuen Erlebnissituation gar nicht so sehr abweicht; denn auch bei ihm zerfällt das Leben des Menschen in eine Reihe von Erlebnissen diskontinuierlichen Elementen, aus denen er dann allerdings nachträglich ein Kontinuum zu konstruieren suchte, um die verlorene Harmonie des Menschen wenigstens theoretisch zu retten. Bei unseren Erörterungen über die Ursachen des plötzlichen Aufstiegs des Erlebnisbegriffs haben wir uns von dem Grundsatz leiten lassen, daß nomina ante res nicht denkbar sind, wobei es vielleicht gelungen ist, eine ganze Reihe von Tatsachen aufzudecken, die das Aufkommen dieses Begriffs erklären. Wir sind uns dabei vollkommen im klaren, daß es unmöglich ist, alle Momente aus „dem tiefen Brunnen der Vergangenheit" hervorzuziehen, die mit dazu beigetragen haben, daß das Erlebnis zu einem wesentlichen Begriff jeglicher Literaturbetrachtung wurde. Gewiß ist es nicht abwegig, daran zu denken, daß auch der Psychologismus des 19. Jahrhunderts und die ungeheure Bedeutung, die man dem Begriff „Leben" in diesem Jahrhundert beimaß 30 , ihr Teil zur Popularisierung des Erlebnisbegriffs beigetragen haben. Wir wollen uns jedoch jetzt den geistes- und erkenntnisgeschichtlichen Wurzeln des Erlebnis-Begriffes in der deutschen Ästhetik zuwenden, um von der eigentlich literaturwissenschaftlichen Problemstellung nicht allzusehr abzukommen. 30

Gadamer beleuditet dieses Phänomen vom Geistesgesdiichtlichen aus: „Kants Lehre von ,der Steigerung des Lebensgefühls' im ästhetischen Wohlgefallen förderte die Entfaltung des Begriffs Genie zu einem umfassenden Lebensbegriff, insbesondere nachdem Fichte den Standpunkt des Genies und der genialen Produktion zu einem universalen transzendentalen Standpunkt erhoben hatte. So kam es, daß der Neukantianismus, indem er alle gegenständliche Geltung aus der transzendentalen Subjektivität abzuleiten suchte, den Begriff des Erlebnisses als die eigentliche Tatsache des Bewußtseins auszeichnete" (a.a.O., S. 56).

30

Zur Geschidite des Erlebnisbegriffs 3. Zu den geistes- und erkenntnisgeschichtlichen Wurzeln des ErlebnisbegrifFes in der deutschen Ästhetik a. Die Verankerung des Erlebnisbegriffs in der bürgerlichen Erkenntnishaltung des 18. Jahrhunderts

Die bisher von uns analysierten unmittelbaren Ursachen für das Aufkommen des Erlebnisbegriffs hängen — wenngleich in unterschiedlicher Weise — mit der neuen Phase der Zivilisationsentwicklung im 19. Jahrhundert, der Entstehung einer Industrie- und Massengesellschaft zusammen. Einerseits führt die neue Entwicklungsetappe der bürgerlichen Gesellschaft durch die Zunahme plötzlicher, schockartiger Eindrücke zu einer Veränderung in der Sphäre der Wahrnehmungen, anderseits zu einer Abwehrreaktion des Bürgers, insbesondere des bürgerlichen Intellektuellen, gegen die immer größer werdende Bedeutung der Massen, was in unserem Fall in dem Kult der Einzelpersönlichkeit, seines Lebens und seiner Erlebnisse, in der Verabsolutierung der aus dem individuellen Erlebnis erwachsenen Dichtung zum Ausdruck kommt. Es braucht nicht betont zu werden, daß es sich zum großen Teil um eine unbewußte Reaktion handelt. Gerade weil die unbewußten Prozesse hier eine so zentrale Rolle spielen, ist es fast unmöglich, genau zu ermitteln, welche Erscheinungen man als die eigentlichen Ursachen für das Aufkommen des Erlebnisbegriffes anzusehen hat. Wenn man dieses Problem vom geistes- und erkenntnisgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet, waren die Voraussetzungen für die verschiedenen Erlebnistheorien des 19. Jahrhunderts, etwa die eines Diltheys, schon lange gegeben. Und trotzdem war der Weg zu ihnen kein so gerader, wie man annehmen müßte. Die Umwege ergeben sich u. a. aus der Tatsache, daß der Begriff „Erlebnis" zwei Komponenten in sich enthält, die des „Lebens" und die des „Erlebten", wobei sich diese beiden Komponenten nicht nur ergänzen, sondern auch widersprechen. Ich kann zwar das Leben schwer erfassen, ohne es zu erleben, aber durch das Erleben verstricke ich mich in das Leben, werde zu einem Teil von ihm und verliere es in seiner Größe aus den Augen. Es ist dies der Zirkel, den zwar jeder auf sich nehmen muß, der aber nicht unbedingt — wie das die Erlebnistheoretiker annehmen — andere Möglichkeiten, das Leben zu erfassen und damit diesen Zirkel im gewissen Sinne zu überwinden, ausschließt. Eine Chance, aus dem Zauberkreis des Erlebnisses herauszukommen, wäre durch Reflexion, Aufdeckung von Wahrscheinlichkeiten und Gesetzmäßigkeiten gegeben, was jedoch ein Sonderproblem ist.

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

31

Dieser Widerspruch zwischen Leben und Erleben erklärt uns von einer anderen Seite her, warum die Erlebnistheorie gerade am Ende des 19. Jahrhunderts derart in den Mittelpunkt der deutschen Literaturwissenschaft rückte: in dieser Zeit, in der der Realismus die vorherrschende Richtung in der Literatur darstellte, fiel der Akzent in Wahrheit vor allem auf das Leben und viel weniger auf das subjektive Erlebnis des Einzelnen. Wir wollen jedoch nicht mit dem Ergebnis, der expressis verbis ausgesprochenen Erlebnistheorien in der deutschen Ästhetik beginnen, sondern versuchen, wenigstens skizzenhaft zu verfolgen, welche Wege in der deutschen Literatur, Literaturwissenschaft und Ästhetik zu diesen Erlebnistheorien geführt haben. Wie wir wissen, erfolgte die Anerkennung des bürgerlichen Lebens und Erlebnisses des Individuums als der grundlegenden Quellen der dichterischen Inspiration sehr zögernd. Man könnte dies einfach aus der langsamen Entwicklung des deutschen Bürgertums heraus erklären, das sich erst sehr spät seiner selbst bewußt wurde. Doch damit würden wir nicht den verwickelten Prozessen innerhalb des Überbaus gerecht werden. Man darf nicht vergessen, daß das Neue sich meist in der Ablehnung des Alten herauszubilden beginnt. Die Anhänger der Opposition ahnen vorerst nur das Neue, ohne von ihm einen klaren Begriff zu haben. So beginnt denn die bürgerliche Ästhetik nicht mit dem Aufruf, sich in der Kunst dem bürgerlichen Leben zuzuwenden, sondern mit der Losung der „Nachahmung der Natur". Ihr erster Schritt ist die Ablehnung der aus der höfischen Kultur erwachsenen barocken und manieristischen Kunst. Nachahmung der Natur bedeutet in diesem Kontext, die Gegenstände, Stoffe, Motive und Charaktere so zu schildern und zu beschreiben, wie sie dem Menschen sich unmittelbar darbieten. Natur heißt hier vorerst einmal soviel wie: frei von allem Zubehör, allen überflüssigen Zutaten. In dieser Weise sucht man z. B. nach der „Natur des Menschen", d. h. danach, wie er ist und sich gibt, wenn alles ihm „künstlich" Aufgepfropfte abgetragen wird, weswegen sich ja die Aufklärer auch so sehr für fremde primitive Völker interessieren. Soweit mit Natur das Leben gemeint war, verstanden darunter die Aufklärer ein Leben, das frei vom Konventionellen, Gekünstelten, Manierierten, Prunkhaftten usw. ist. Aber wie gesagt, zielte die Forderung nadi der „Nachahmung der Natur" nicht vorrangig auf die Nachahmung des Lebens hin, d. h. natürlich des bürgerlichen Lebens, da das höfisch-feudale sowieso als „künstliches" entfiel. Daß der Begriff „Natur" nur begrenzt das „Leben" umfaßte, beweist uns die Art, wie die deutschen Aufklärer in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts über das Prinzip der Nadi-

32

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

ahmung der Natur diskutierten. Die Auseinandersetzung ging eigentlich nur um den Begriff der Nachahmung, während der Begriff der Natur unbesehen hingenommen wurde. Dort, wo Erscheinungen und Dinge ausgeschlossen wurden, die nicht nachgeahmt werden durften, wie etwa das Häßliche, sahen die Aufklärer nicht ein Problem, das ihnen die Natur aufgab, sondern das durch das Prinzip der Nachahmung entstanden war. Daß die Natur als Ganzes nicht häßlich ist, unterliegt für sie keinem Zweifel. Es ist nur nicht leicht, im Ausschnitt immer das Schöne zu treffen. Der Künstler muß daher oft Dinge weglassen, die bei einer absolut getreuen Wiedergabe nicht fehlen dürften. Daß in der Zeit der Frühaufklärung der Begriff der Natur, als der außermenschlichen Wirklichkeit, unproblematisch war, bewiesen einerseits die vielen Beispiele aus der Malerei (meist Landschaftsmalerei) in den dichtungstheoretischen Arbeiten und anderseits der Hang der deutschen Dichter jener Zeit zur Beschreibung der Natur. „Nachahmung der Natur" bedeutete allerdings auch noch, wie wir schon andeuteten, Nachahmung der Natur des Menschen, d. h. eines Menschen, der seine Leidenschaften und Affekte zu beherrschen weiß, nie zur Übertreibung neigt und immer über die Vernunft einen Ausweg aus seinen Verwirrungen findet. Auch hier geht es nur in einem gewissen Grad um die Widerspiegelung des Lebens in der Literatur. Zwar hat dieses Bild des Menschen den Bürger zum Muster, der rechtschaffen, maßvoll, vernünftig seinem Glück zustrebt und es zu vermehren sucht, doch von einer getreuen Schilderung des wirklichen Bürgers und seines Lebens in all seinen Widersprüchen, Kollisionen, kann man schwer sprechen, denn das Ideal verdeckt allzusehr das Leben, wie es sich selber darbietet. Wenn wir betonten, daß die Hochschätzung des „Erlebnisses" die bewußte Akzeptierung des „Lebens" als einer Erkenntnisquelle voraussetzt, so meinen wir hier die Akzeptierung des Lebens als etwas, das in sich einen Wert trägt und aus sich heraus begriffen werden kann, also nicht die Auffassung, daß man sich dem Leben zuwenden müsse, um z. B. dessen Endlichkeit, Hinfälligkeit und Sinnlosigkeit zu erkennen, wie sie etwa im Barock vorherrschte. Die Aufklärung beginnt gerade da, wo das Diesseits wieder zu seinem vollen Recht kommt. Selbstverständlich erfolgt das auf Umwegen, vor allem über die Neuinterpretation des Christentums im Deismus und auch Pantheismus und über das Lob des Bürgerstandes, in dem der Mensch sein persönliches Glück durch die Vermehrung seines Reichtums erlangt. Für den Bürger war das Leben tatsächlich eine sichere Quelle des Glücks, da die Arbeit, die ihm seinen Wohlstand und somit seine Zufriedenheit garantierte, die Grundlage seines Daseins bildete. Dagegen mußte denjenigen, deren Schicksal von der Gunst der Umstände

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutsdien Ästhetik

33

abhing, wie am H o f e , das Leben als etwas erscheinen, das „Fortuna" willkürlich, spielerisch hin- und herdreht. Die Akzeptierung des Lebens als eines Wertes in sich erfolgte in Deutschland am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Arnold Hirsch hat diesen Prozeß an den deutschen Romanen des Spätbarocks und der Frühaufklärung aufzuzeigen versucht, wobei er sein Hauptaugenmerk darauf lenkte, in welchem Maße bürgerliche Lebenssphären von den Romanautoren als eigenständige geschildert werden, inwieweit dort das Bürgertum als ein neues gesellschaftliches Milieu erscheint, dessen Daseinsweise aus sich heraus erklärt wird 1 . Romane, die in Adelskreisen spielen oder die die These demonstrieren sollen, daß unsere Welt eine durch und durch eitle sei, hat er bewußt weggelassen, obwohl man auch hier hätte zeigen können, daß diese Romane so höfisch und heroisch nicht sind, wie es oft auf den ersten Blick scheint, daß hier schon vieles durch die Brille des Bürgers gesehen wird 2 . Aber unabhängig davon, welche Romane wir zur Interpretation dieser Übergangsperiode heranziehen, haben wir es jedenfalls bei den spätbarocken bzw. frühaufklärerischen Prosawerken nur mit ersten Ansätzen der Hinwendung zum Leben zu tun. N u r langsam setzt sich in Deutschland die Auffassung durch, daß das Leben (im Sinne von bürgerlichem Leben) den Maßstab der menschlichen Werte und den wichtigsten Gegenstand in der Literatur bilden sollte. Es wäre natürlich nötig, eine Unterscheidung nach den Gattungen zu treffen. Wohl am frühesten hat der R o m a n das bürgerliche Leben eingefangen, der sich dazu ja auch am besten eignet, am spätesten tat dies das Trauerspiel. Hier mußte in Deutschland erst ein Lessing auftreten, um die von der Poetik aufgestellten Verbotsschilder niederzureißen und ein neues Genre, das bürgerliche Trauerspiel, im deutschen Sprachraum zu begründen.

1

Eine Ausnahme bilden seine Erörterungen über den Sdiäferroman, vgl. Arnold Hirsch, a.a.O., 6. Kap.

1

Wie die Ausführungen Elida Maria Szarotas in ihrem Aufsatz „Lohenstein und die Habsburger" (Colloquia Germanica 3/1967, vgl. insbesondere S. 278 ff.) und vor allem in ihrem Buch Lohensteins Arminias als Zeitroman. Sichtweisen des Spätbarock, Bern 1970 (siehe vor allem das Kapitel „Ein Vater-Sohn-Konflikt") beweisen, läßt sich dies sehr gut an Lohensteins Arminius-Roman zeigen, den A. Hirsch als einen letzten Höhepunkt des höfisdi-heroisdien Barockromans interpretiert, wenn er audi unter Berufung auf Günther Müller zugibt, daß der „spätbarocke .Arminius' . . . wegen der ,stadtbürgerlichen Gelehrsamkeit' seines Autors nicht die reinste Spiegelung des höfischen Lebensraums" ist (S. 111).

34

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

Aber nicht nur die Erfassung des „Lebens" in seinem Eigenwert ist eine grundlegende Voraussetzung für das Aufkommen des Erlebnisbegriffes, sondern auch die Art, wie dieses Leben erkannt wird, ob in erster Linie mittels allgemeiner, im Voraus bekannter Prinzipien oder vorwiegend über die Einzelerfahrung, die unmittelbare Begegnung mit dem Leben, d. h. über das Erlebnis. In gewissem Sinne treffen wir damit den Gegensatz zwischen Frühaufklärung bzw. Aufklärung und Sturm und Drang, als einer Spätphase der Aufklärung. In der Aufklärung wird das Leben nach allgemein-moralischen oder sittlichen Gesetzen beurteilt und auch geformt. Ihre Literatur ist daher mehr belehrend, demonstrierend als unterhaltend, begonnen mit Hallers Alpen, Schnabels Insel Felsenburg über Nicolais Sebaldus Notbanker bis zu den Ausläufern der populären aufklärerischen Literatur bei Iffland, Schröder und Kotzebue. Die Begegnung des Einzelnen mit dem Leben dient den Aufklärern vor allem dazu, zu zeigen, daß ein Mensch, der sich unerschütterlich von seinen moralischen Prinzipien leiten läßt, aus allen Bedrängnissen des Lebens trotz alledem heil hervorgeht. Das Gegenbild dieses Helden ist dann Werther, was auch Nicolai und Mendelssohn sofort begriffen, wie aus ihren leidenschaftlichen Reaktionen zu ersehen ist3. Mit dem Sturm und Drang setzt sich eine neue Form der Erkenntnis durch: das Leben wird vor allem über das Erlebnis, das persönliche Schicksal, den individuellen Lebensweg begriffen. Die Schilderung des Lebens des Helden dient nicht mehr zur Verdeutlichung schon aus moralischen Wochenschriften oder philosophischen Traktaten bekannter Wahrheiten, sondern es ist selber Quelle einer neuen, individuell bedingten Wahrheit. Das beste Beispiel hierfür ist wiederum der Werther, dessen Schicksal zu der für das 18. Jahrhundert neuen Erkenntnis führte, daß es im menschlichen Leben Situationen geben kann, in denen sich der Selbstmord als einziger Ausweg anbietet. Das Neue an dieser Erkenntnis ist aber nicht nur, daß das Leben edler Menschen nicht immer positiv ausgehen muß, sondern auch die Tatsache, daß über diesen Ausgang immer die konkreten Umstände, der Charakter des Helden, die besondere Konstellation, die gesellschaftliche Situation u. ä. m. entscheiden. Die Wahrheit ist mit anderen Worten in den Augen der Stürmer und Dränger stets individuell bedingt. An dieser Erkenntnis ging Nicolai mit seiner Kritik am Werther vorbei, indem er gerade das individuell Bedingte bemängelte, die weichliche Natur Werthers und die Haltung der ihn umgebenden Menschen.

8

Vgl. vor allem Friedrich Nicolai, Freuden des jungen Freuden Werthers des Mannes, Berlin 1775.

Werthers.

Leiden

und

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

35

Theoretisch fand diese neue Erkenntnis in dem sogenannten Geniekult ihren Niederschlag, d. h. in den neuen Ideen der Stürmer und Dränger, vor allem Herders, über das Individuum und das Individuelle überhaupt. Der Geniekult bedeutet von dem hier erörterten Gesichtspunkt aus nichts anderes als die Hinwendung zu dem Einzelschicksal, der Einzelpersönlichkeit und ihren Erlebnissen als der wichtigsten Quelle der Erkenntnis des Lebens im weitesten Sinne des Wortes. Alle Anschauungen vom Leben sind dem Sturm und Drang zufolge wahr, wenn sie aus dem Individuellen erwachsen sind. „Der tiefste Grund unseres Daseins ist individuell, sowohl in Empfindungen als Gedanken", schreibt Herder in seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden*. Man wird nicht nur keine zwei Dichter finden, die einander gleichen, sondern auch keine zwei Dichter, die sich in Handhabung der Formen zum Verwechseln ähnlich wären. „Keine zwei Dichter haben je ein Silbenmaß gleich gebraucht und wahrscheinlich auch gleich gefühlet. Eine sapphische Ode bei der Griechin, bei Catull und Horaz ist fast nicht dasselbe, welch mittelmäßiges Ohr wird nicht einen Hexameter von Klopstock, Kleist, Bodmer oder von Lukrez, Vergil und Ovidius beinah auf den ersten Klang unterscheiden? Dem einen Dichter ist seine Muse Gesicht, Bild, dem anderen Stimme, dem dritten Handlung, ein Prophet ward durch Saitenspiel geweckt, der andre durch Gesichte, keine zweien Maler und Diditer haben einen Gegenstand, wenn auch nur ein Gleichnis, gleich gesehen, gefaßt, geschildert"5, heißt es in der gleichen Schrift. Herder erhebt, wie wir wissen, das Prinzip der Individualität zu einem allgemeingültigen, wodurch er nicht nur der Literaturbetrachtung, Literaturgeschichte und Historiographie, sondern auch der allgemeinen Hermeneutik eine neue Richtung wies, in der dann die folgenden Generationen weiterschritten'. Zugespitzt formuliert, ist nicht Dilthey, sondern Herder der Begründer der Erlebnistheorie, hat Dilthey eigentlich nur ausgesprochen, was eine hundertjährige Entwicklung bereits vorbereitet hatte. Bei Herder 4

Herders Werke in fünf Bänden, Weimar 1957, Bd. III, S. 41.

eingeleitet und ausgewählt von W. Dobbek,

5

Ebenda, S. 26

6

Dilthey schreibt in seiner Schrift „Die Hermeneutik vor Sdileiermacher", daß Herder „der wahren Hermeneutik näher als irgendein anderer vor Sdileiermacher gekommen war". Und weiter unten heißt es: „Indem aber die kongeniale Nachempfindung Herders sich mit der konstruktiven Methode der Philosophie verband, wurde der Grund zu der wahren Methode der Auslegung und einer wissenschaftlichen Hermeneutik gelegt" (vgl. W. Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. II, 2, Berlin 1966, S. 649 f.).

Zur Geschidite des Erlebnisbegriffs

36

finden wir z. B. schon die Ansicht, daß echte Literatur nichts anderes ist als ein Ausdruck des Inneren, des Lebens und Erlebens des Dichters, daß daher das Wesen des Lesens im Nachempfinden, Nacherleben bestehe. „Das Leben eines Autors ist der beste Kommentar seiner Schriften, wenn er nämlich treu und mit sich selbst eins ist, nicht einer Herde an Wegscheiden und Landstraßen nachblöket. — Jedes Gedicht, zumal ein ganzes, großes Gedicht, ein Werk der Seele und des Lebens, ist ein gefährlicher Verräter seines Urhebers, oft, wo dieser am wenigsten sich zu verraten glaubte. Nicht nur siehet man bei ihm etwa, wie der Pöbel ruft, des Mannes dichterische Talente; man sieht auch, welche Sinne und Neigungen bei ihm herrschten, durch welche Wege und wie er Bilder empfing, wie er sie und das Chaos seiner Eindrücke regelte und fügte, die Lieblingsseiten seines Herzens sowie oft die Schicksale seines Lebens, seinen männlichen oder kindischen Verstand, die Stäbe seines Denkens und seiner Erinnerung. Doch ich mag unsern Kunstrichtern, die von so etwas in ihrem Leben nicht geträumt, schon viel zu viel gesagt haben. Freilich ist nicht jede Kotseele eines solchen Studiums wert; allein von einer Kotseele brauchte man auch keine Abdrücke, weder in Schriften noch in Taten. Wo es der Mühe lohnt, ist dies lebendige Lesen, diese Divination in die Seele des Urhebers das einzige Lesen und das tiefste Mittel der Bildung. Es wird eine Art Begeisterung, Vertraulichkeit und Freundschaft, die uns da, wo wir nicht gleich denken und fühlen, oft am lehrreichsten und angenehmsten ist, und die eigentlich das, was man Lieblingsschriftsteller nennt, bezeichnet. Solches Lesen ist Wetteifer, Heuristik; wir klimmen mit auf schöpferische Höhen oder entdecken den Irrtum und die Abweichung in ihrer Geburtsstätte. Je mehr man den Verfasser lebendig kennt und mit ihm gelebt hat, desto lebendiger wird dieser Umgang" 7 . In engem Zusammenhang mit dieser Anschauung, daß es ratsam sei, den Dichter zum Ausgangspunkt seiner Dichtung zu nehmen, steht auch Herders Energiebegriff. Treffend hat Elida Maria Szarota diesen Zusammenhang in ihrem Buch über Lessings ,Laokoon' zum Ausdruck gebracht: Die Dichter sind es, „die durch ,Energie' wirken, durch die ,Melodie der Vorstellungen', durch großartige, visionäre Bilder, die sich aneinanderreihen und mehr Gefühle als Gedanken in uns wachrufen. Was zieht ihn (d. h. Herder — K. S.) denn so mächtig zu Ossian und Klopstock, zu denen Lessing überhaupt kein Verhältnis hat? Eben die wunderbare Macht der Poesie, die innere Bewegung des Dichters, die sich dem Leser ,energisch' mitteilt, die poetisdie Wiedergabe ihrer Stimmungen, die 7

Herders Werke ...,

a.a.O., S. 42

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

37

sich in der Natur widerspiegeln" 8 . Es ist mit anderen Worten das Erleben des Dichters, das sich dem Hörer „energisch" mitteilt. In diesem Kontext verwundert es uns nicht, daß Herder bereits sein Augenmerk auf Biographien und Äußerungen großer Männer über sich und ihr Werk lenkte. Biographie ist für ihn die „Kunst, die Seele des anderen abzubilden" 9 . Der Biograph darf nicht, wie das bis dahin der Fall war, nur die äußeren Handlungen chronologisch darstellen, sondern er muß die Taten und Werke seines Helden so schildern und behandeln, daß man aus ihnen auch dessen Persönlichkeit und Charakter zu erkennen vermag. Wie wir wissen, ist Herder ja selber der Begründer einer neuen Art biographischer Darstellung. Es wäre interessant, einmal von diesem Gesichtspunkt aus, seine biographischen Würdigungen Abbts, Winckelmanns oder Huttens zu analysieren10. Wenn wir eben Herder als den Begründer der Erlebnistheorie in Deutschland hinstellten, so war das, wie gesagt, eine zugespitzte Formulierung. In Wahrheit gibt er nur einen gewissen Auftakt zur Herausbildung dieser Theorie, indem er die Dichtung als einen Ausdruck der Empfindungen und Seelenregungen des Dichters ansieht. Empfindungen und Seelenregungen sind jedoch noch keine „Erlebnisse", sondern nur wesentliche Bestandteile des Erlebens, entscheidend für den Ton, die Färbung und Stimmung eines Erlebnisses. Wenn Herder Gedichte, Lieder oder Dramen liest und über sie schreibt, so glaubt er aus Klang, Rhythmus, Wort und Syntax die Empfindungen, Stimmungen und den Charakter der Autoren herauszuhören. An konkrete Erlebnisse denkt er nicht, seine Sicht ist noch keine positivistische. Zur Entwicklung der Erlebnistheorie im Sinne des 19. Jahrhunderts war daher die Schaffensart eines Goethe eine absolut notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung. Wir haben hier nur Herder als Vertreter des Ansatzes zu einer neuen Erlebnistheorie angeführt. Bei einer ausführlichen Behandlung dieses Problems wäre es natürlich notwendig, zu zeigen, wie auch andere Stürmer und Dränger, etwa der junge Goethe, Lenz und Merck ähnliche Ansichten aussprachen und noch vielmehr in ihren Dichtungen verwirklichten. Es wäre ferner zu verfolgen, wie das Interesse für die der Dichtung zugrundeliegenden Erlebnisse langsam zunimmt. Hierbei müßte allerdings unterschieden werden zwischen dem Postulat, sich für die Biographie 8

E. M. Szarota, Lessings Laokoon,

Weimar 1959, S. 187.

> J. G. Herder, Sämtliche Werke, hsg. von B. Suphan, Bd. 2, S. 257 f. 10

Vgl. hierzu die Bemerkungen Lempickis in seiner Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2 1968, S. 377 f.

38

Zur Gesdiidite des Erlebnisbegrifft

eines Dichters im allgemeinen zu interessieren, und der Auffassung, daß die Erlebnisse des Dichters ein grundlegendes Material für die Erklärung des Werks bilden. So vertritt beispielsweise Schleiermacher in seinen Erörterungen über den Begriff der Hermeneutik die Ansicht, daß die biographische Ganzheit zur Deutung des Werks herangezogen werden müsse. Von Erlebnissen ist bei ihm noch nicht die Rede. Die Hochschätzung der Biographie als Ganzes für die Auslegung eines Werks ist jedoch eine grundlegende Voraussetzung für die genannte Auffassung.

b. Die Bestimmung des Wesens der Poesie mittels des Begriffs der Einbildungskraft Die weitere Entwicklung zur Erlebnistheorie in der deutschen Literaturwissenschaft führt über zwei Wege, einerseits über Goethe und die späteren Auffassungen von der Lyrik als einer Gattung, in der der Dichter sein Inneres und seine Erlebnisse zum Ausdruck bringt, und anderseits über den Phantasiebegriff. Der erste Weg ist zur Genüge bekannt, unlängst hat auf ihn wieder Wellek in dem schon erwähnten Artikel hingewiesen. Wir wollen daher in diesem und dem nächsten Unterkapitel auf den zweiten unser Augenmerk lenken. Dieser Weg ist an und für sich ein Umweg, trotzdem hat er, wie wir noch sehen werden, ganz wesentlich zu der Artikulierung der Erlebnistheorie beigetragen. Wir werden in diesem Abschnitt den Aufstieg des Phantasiebegriffs in der deutschen Ästhetik des 18. Jahrhunderts andeutungsweise nachzuzeichnen versuchen, um dann im nächsten Abschnitt bzw. Unterkapitel zu zeigen, wie für die deutsche Ästhetik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Begriff der Phantasie zum Problem wurde. Es ist bekannt, daß der Begriff der Phantasie oder Einbildungskraft bei den Aufklärern Wolff, Baumgarten und Gottsched eine recht untergeordnete Rolle spielt, und er bereits bei den Schweizern Bodmer und Breitinger einen der Haupt- und Grundbegriffe ihres Systems bildet, was u. a. darin zum Ausdrude kommt, daß Bodmer schon 1727 das Wort Einbildungskraft in den Titel seiner Schrift Vom Einfluß und Gebrauche der Einbildungskrajft setzte. Bedeutend interessanter für unseren Zusammenhang ist allerdings Breitingers Critische Dichtkunst, das Resultat der Zusammenarbeit mit Bodmer. Hier figuriert die Einbildungskraft gleichrangig neben den Begriffen der Nachahmung, Wirklichkeit, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und des Wunderbaren. Schon die Tatsache, daß die Einbildungskraft bzw. Phantasie (beide Begriffe werden von Breitinger

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

39

als gleichbedeutende verwendet) nicht als eines der unteren Erkenntnisvermögen, d. h. als eine erkenntnistheoretische Kategorie, sondern als ein ästhetischer Begriff in der Critischen Dichtkunst gebraucht wird, zeugt von dem unerhörten Unterschied zwischen den Schweizern und einem Baumgarten oder Gottsched. Wenn man diesen Unterschied des Begriffsnetzes in Betracht zieht, so nimmt es nicht Wunder, daß es zwischen Gottsched und den Schweizern zu so vielen Mißverständnissen kommen mußte. Ihre „Sprachen" waren einfach zu verschieden, ein Aneinander-VorbeiSprechen und schließlich Aneinander-Geraten war daher unvermeidbar11. Es ist wohl kein Zufall, daß der Streit gerade nach dem Erscheinen der Critischen Dichtkunst ausbrach, d. h. in dem Augenblick, in dem die Schweizer ihre eigene Sicht der Dichtung in einem umfassenden Begriffsapparat, der wesentlich von dem Wolfis, Baumgartens und Gottscheds abwich, der Öffentlichkeit vorlegten. Der Ausgangspunkt Breitingers in der Critischen Dichtkunst ist, daß die Poesie sowohl die wirklichen wie auch die möglichen Welten nachahmen könne. Breitinger geht sogar soweit, zu erklären, daß die Nachahmung des Möglichen die Hauptaufgabe des Dichters sei: „ . . . folglich muß der Poet sich nicht alleine die Wercke der Natur, die durch die Kraft der Schöpfung ihre Würklichkeit erlanget haben, bekannt machen, sondern auch, was in ihren Kräften annoch verborgen lieget, fleissig studieren, um so viel mehr, da dieses letztere, nemlich die Nachahmung der Natur in dem Möglichen, das eigene und Haupt-Werck der Poesie ist" 12 . Und einige Seiten weiter heißt es: „ . . . denn was ist Dichten anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind". Mit der Einführung des Begriffs der „möglichen Welten" in die Nachahmungstheorie wird zwangsläufig die alte Vermögenslehre, in der der „intellectus" die höchste Instanz bildete, hinfällig; denn über den 11

In einem viel weiteren Kontext, als wir es hier tun, beleuchtet Elida Maria Szarota in ihrem Buch Lessings Laokoort. Eine Kampfschrift für eine realistische Kunst und Poesie, Weimar 1959, das Problem der Unvermeidbarkeit des Ausbruchs dieses Streits. Zusammenfassend schreibt sie auf S. 141: „Also noch einmal: Der Streit mußte ausbrechen, weil man unter dem Vorwärtsweisenden und Fortschrittlichen ganz verschiedene Dinge verstand und infolgedessen die Akzente ganz verschieden setzte, f e r n e r . . . weil jede der Parteien ein ,Ideal' der Kunst hatte, die Schweizer ,das Erhabene' und Gottsched den ,Witz* — ich bediene mich der Böckmannschen Kategorien — , das der Gegenpartei vollkommen fremd war".

18

Johann Jacob Breitinger, Critische Bd. 1, S. 57.

Dichtkunst,

Neudruck Stuttgart

1966,

40

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

Verstand läßt sich nur die Widerspruchsfreiheit der möglichen Welten entscheiden, aber nicht diese selber erfassen. Dazu ist ein anderes Vermögen notwendig, die Einbildungskraft, wenngleich Breitinger sie nicht direkt Vermögen nennt. Aber sehr klar trennt er den Verstand von der „Einbildung" (bei ihm ein Synonym für Einbildungskraft). So lesen wir in dem Kapitel „Von dem Wunderbaren und Wahrscheinlichen": „Man muß also das Wahre des Verstandes und das Wahre der Einbildung wohl unterscheiden; es kan dem Verstand etwas falsch zu seyn düncken, das die Einbildung für wahr annimmt: Hingegen kan der Verstand etwas für wahr erkennen, welches der Phantasie als unglaublich vorkömmt; und darum ist gewiß, daß das Falsche bisweilen wahrscheinlicher ist, als das Wahre. Das Wahre des Verstandes gehört für die Weltweißheit, hingegen eignet der Poet sich das Wahre der Einbildung zu . . U n d

kurz zuvor

hatte Breitinger ausgeführt, daß das Wahrscheinliche von der „Einbildung beurtheilet werden" müsse 13 . D e r erste Schritt zur Verselbständigung der „Einbildungskraft" und der Bestimmung des Wesens des Poetischen mit H i l f e dieses Begriffs ist damit in der deutschen Ästhetik getan. Ihre Theorie von der „Verwandlung des Wirklichen ins Mögliche", „der Kunst, gemeinen Dingen das Ansehen der Neuheit zu geben", dem Wahrscheinlichen und Wunderbaren, was uns alles sehr an die Romantik erinnert 14 , spricht für sich. Von Bodmer und Breitinger ist es nicht mehr weit bis zu der Formulierung Sulzers, daß die Einbildungskraft „eigentlich die Mutter aller schönen Künste" sei und daß sich durch sie der „Künstler vorzüglich von anderen Menschen" unterscheidet, „so wie der Philosoph sich durch den Verstand unterscheidet" 13 . l» 14

15

Ebenda, S. 138 f. Mit einer unmittelbaren Einwirkung der Schweizer auf die Romantiker haben wir es wahrscheinlich bei dem Begriff des „Wunderbaren" zu tun (z. B. in Tiecks Aufsatz Shakespeares Behandlung des Wunderbaren). Erstaunlich sind die Ähnlichkeiten zwischen einigen Ideen Bodmers und Breitingers und dem Begriff der Romantisierung von Novalis. Wenn dieser schreibt, daß das Wesen der „Operation" Romantisieren darauf beruhe, „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein" zu geben (vgl. Novalis Fragmente, hsg. von E. Kamnitzer, Dresden 1929, S. 673), so erinnert dies in vielem an Breitingers Erörterungen in der Critischen Dichtkunst, wie man „den gemeinen Dingen den Schein der Neuheit" geben, das „Wirkliche ins Mögliche" verwandeln, das Wunderbare wahrscheinlich machen könne, wenn auch Novalis diesen Begriffen einen völlig neuen Sinn verleiht. Joh. Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der sdhönen Künste, Bd. II, Leipzig 1786, S. 10.

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

41

Sehr kompliziert ist es, die Rolle des Begriffs der Einbildungskraft in Herders ästhetischen Anschauungen zu umreißen. Zwar dient ihm dieser Begriff dazu, die Poesie von den anderen Künsten, der Musik, Plastik und Malerei, die für das Gehör, den Tastsinn bzw. die Augen bestimmt sind, abzugrenzen, aber dieser Begriff allein reicht Herder nicht aus, um das Wesen der Poesie zu erfassen. Das erkennen wir bereits an dem folgenden Ausspruch Herders im ersten Kritischen Wäldchen: „Ich lerne von Homer, daß die Wirkung der Poesie nie aufs Ohr, durch Töne, nicht aufs Gedächtniß, wie lange ich einen Zug aus der Sukcession behalte, sondern auf meine Phantasie wirke, von hieraus also, sonst nirgendsher, berechnet werden müsse. So stelle ich sie gegen die Malerei, und beklage, daß Hr. L. diesen Mittelpunkt des Wesens der Poesie, ,Wirkung auf unsre Seele, Energie' nicht zum Augenmerke genommen"16. Hier scheint die Einbildungskraft das wesentliche Kriterium zur Unterscheidung der Poesie von der Malerei zu bilden, doch muß jeden das Wort „Energie" stutzig machen. Es stellt sich heraus, daß dieser Begriff (zusammen mit dem der Kraft, einem Synonym für „Energie") für Herders Wesenbestimmung der Poesie bedeutend wichtiger ist als der der Phantasie. In demselben Kritischen Wäldchen heißt es: „Die Künste, die Werke liefern, wirken im Raum; die Künste, die durch Energie wirken, in der Zeitfolge, die schönen Wissenschaften oder vielmehr die einzige schöne Wissenschaft, die Poesie, wirkt durch Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar auf die Seele wirket. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht das Coexistente, oder die Succesion"17. Es drängt sich natürlich die Frage auf, in weldier Relation wir die Energie zu der Einbildungskraft und beide zu der Poesie zu setzen haben. Man könnte dieses Verhältnis auf die Formel bringen, daß die Poesie die Kunst der Energie ist, die auf die Einbildungskraft des Hörers oder Lesers wirkt. So richtig diese Formulierung wäre, so ist sie doch als allgemeine Aussage mit Vorsicht zu behandeln, denn in ihr wird m. E. der Einbildungskraft eine größere Rolle in Herders ästhetischen Ansichten zugemessen, als ihr zukommt (wir dürfen hierbei auch nicht vergessen, daß Herder die Einbildungskraft zumeist mit dem Hörer oder Leser in Verbindung bringt, weniger mit dem Dichter). Im Grunde ist die Anschauung, daß das Organ, mit dem wir die Poesie aufnehmen, nur eine Randbemerkung Herders, durch die er eine Lücke in seinem System der Künste auszufüllen suchte, die entstanden war, als er in der Plastik Malerei, Musik und Plastik voneinander abgrenzte, ohne die Poesie überhaupt in Er»• Herder, Sämtliche Werke, a.a.O., Bd. III, S. 157 " Ebenda, S. 137

42

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

wägung zu ziehen 18 . Das holt er dann in den Kritischen

Wäldchen

nach,

wobei er sich zweier Begriffssysteme zur Unterscheidung der Künste bedient, einerseits des eben genannten (Sinne — Einbildungskraft) und anderseits des Harris'schen Systems, indem er die Künste in die des Raumes (Malerei und Plastik), die der Zeit (Musik und Tanz) und die Kunst der Kraft (Poesie) einteilte 19 . Und gerade dieses System, in dem nicht jeder Kunstgattung ein Sinn zugewiesen, sondern jede auf ihre Wirkung hin geprüft wird, ist es, das Herder zur Erfassung der Poesie dient 20 . Einen bedeutend wichtigeren Platz nimmt dagegen der Begriff der Phantasie in der Ästhetik Karl Phillip Moritzens ein. Aus seinen Formulierungen hören wir bereits Anklänge an Humboldts spätere Wesens18

w

20

Vgl. René Wellek, Geschichte 1959, S. 192.

der Literaturkritik.

1750—1830,

Darmstadt

Vgl. hierzu Elida Maria Szarota, „James Harris. Die Bedeutung seiner ,Three Treatises'" in Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, Jg. X I I , 1963, Gesellschafts- und Spradiwiss. Reihe, Heft 3, S. 360. Man könnte auch noch von einer anderen Seite her versuchen, die Frage zu beantworten, warum Herder seine Idee, daß das Organ, für welches die Poesie bestimmt sei, die Einbildungskraft ist, nicht weiterentwickelt hat. Meiner Meinung nach liegt der Grund darin, daß Herder in der Nachfolge Baumgartens die Einbildungskraft als einen Bestandteil der unteren Erkenntnisvermögen (facultas inferior) ansah. Diese Annahme wird u. a. durch folgende Stelle aus den Kritischen Wäldchen bestätigt, wo Herder in Verbindung mit dem Begriff der Phantasie von den unteren Seelenkräften spricht: „Malerei wirkt durch Farben und Figuren fürs Auge. Poesie durch den Sinn der Worte auf die unteren Seelenkräfte, vorzüglich der Phantasie." Nun war aber Herder kein besonderer Anhänger der Aufspaltung der Erkenntnisvermögen in besondere Bestandteile, da diese Klassifizierung ganz im Widerspruch zu seiner Ganzheitsphilosophie stand. Er war höchstens bereit, diese Einteilung als eine pragmatische Hilfskonstruktion für das menschliche Denken anzuerkennen, mit der man aber nicht weit kommt, wenn man nicht alle Kräfte in ihrem Zusammenspiel sieht. „Man ist gewohnt, der Seele eine Menge Unterkräfte zu geben, Einbildung und Voraussicht, Dichtungsgabe und Gedächtnis, indessen zeigen viele Erfahrungen, daß, was in ihnen nicht Apperzeption, Bewußtsein des Selbstgefühls und der Selbsttätigkeit sei, nur zu dem Meer zuströmender Sinnlichkeit, das sie regt, das ihr Materialien liefert, nicht aber zu ihr selbst gehöre. Nie wird man diesen Kräften tief auf den Grund kommen, wenn man sie nur von oben her als Ideen behandelt, die in der Seele wohnen, oder gar als gemauerte Fachwerke voneinander scheidet und unabhängig einzeln betrachtet" (Werke..., a.a.O., Bd.III, S.33). So hat es auch keinen Sinn, die Einbildungskraft für sich zu betrachten und nur sie der Poesie zuzuweisen, denn die Dichtung erwächst aus einer einzigen Energie, in der alle Sinne, Vernunft, Wille und Phantasie zusammenwirken. Doch damit sind wir wieder bei dem Energiebegriff Herders angelangt, den wir hier nicht näher analysieren wollten.

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

43

bestimmung der Poesie heraus, daß „das eigentliche Feld, das der Dichter als Eigenthum bearbeitet" das „Gebiet der Einbildungskraft" sei. Mit Moritz beginnt in der deutschen Ästhetik eine neue Periode, die man im allgemeinen die klassische nennt 21 . Die Sphäre der Kunst, der schönen Dichtung wird zu einem in sich geschlossenen, von der Wirklichkeit abgehobenen Bereich erklärt, der von der Phantasie des Künstlers, soweit es sich um die neueren Zeiten handelt, oder von der „Sprache der Phantasie"22, soweit es um die Mythologie der Alten geht, beherrscht wird. Die Verselbständigung des Begriffs der Phantasie oder Einbildungskraft wird am Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur in der deutschen Ästhetik, sondern auch der Philosophie deutlich spürbar, was wir besonders an Kants Werken der kritischen Periode und dann Fichtes und Schellings Schriften verfolgen können. Wie wir wissen, unterscheidet Kant die sogenannte reproduktive von der produktiven Einbildungskraft, eine Einteilung, die er höchstwahrscheinlich von Baumgarten übernommen hat 23 . Die reproduktive Einbildungskraft ist den empirischen Gesetzen der Assoziation unterworfen und gehört daher in das Gebiet der Psychologie24. Die produktive Einbildungskraft geht dagegen aller empirischen Erfahrung voran, sie ist eine der subjektiven Erkenntnisquellen, die aller Assoziation der Vorstellungen schon zugrundeliegt. Ihre „Synthesis" ist „eine Bedingung a priori der Möglichkeit aller Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer Erkenntnis". Die „Synthesis des Mannigfaltigen in der Einbildungskraft" nennen wir transzendental, „wenn ohne Unterschied der Anschauung sie auf nichts als bloss auf die Verbindung des Mannigfaltigen a priori geht" 25 . Sie gehört daher in die Transzendentalphilosophie. Neben dem Sinn und der Apperzeption gehört die Einbildungskraft zu den drei subjektiven Erkenntnisquellen, auf denen „die Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt und Erkenntnis der Gegenstände beruht" 28 . 21

Vgl. Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. III, Berlin 1958, S. 60 f. sowie Rudolf Fahrner, K. Ph. Moritz' Götterlehre. Ein Dokument des Goetheschen Klassizismus, Marburg 1932.

22

„Die mythologischen Dichtungen müssen als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden", schreibt Karl Phillip Moritz in seiner Götterlehre, Leipzig 1966, S. 7. Vgl. hierzu auch Hans Joachim Schrimpf, „Die Sprache der Phantasie. Karl Phillip Moritz' Götterlehre" in der Festschrift für Richard Alewyn, a.a.O., S. 165—192.

2

' Vgl. hierzu R. Schmidt, Kants Lehre von der Einbildungskraft mit Rücksicht auf die Kritik der Urteilskraft, Leipzig 1926, S. 4—16.

24

Immanuel

25

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 118

26

Ebenda, A 115

Kants Werke,

Bd. VIII, Berlin 1922, § 28

besonderer

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

44

Eine ganze Reihe von Forschern ist der Meinung, K a n t habe in der Kritik

der reinen

Vernunft

die Einbildungskraft zur Grundlage aller E r -

kenntnis gemacht 27 . Sie gehen hierbei zumeist an der Tatsache vorbei, daß für K a n t das oberste Prinzip menschlicher Erkenntnis die „Einheit der transzendentalen Apperzeption" ist 28 . Die Kantischen Begriffssysteme sind immer überaus kompliziert und vor allem vieldeutig, wenn man nicht jeweils von seiner fundamentalen Fragestellung ausgeht, der stets alles andere unterzuordnen

ist.

Man

könnte z. B. die Frage zu beantworten versuchen, wie K a n t das Wesen der

27

R . Schmidt, a.a.O. erachtet z. B. die Einbildungskraft als eine „Weltformel" Kants. Man denkt hier unwillkürlich an J . Frohschammers Philosophie, die er in seinem Buch Die Philosophie als Grundprinzip des Weltprozesses (1877) auseinandergesetzt hat, sowie an seine Interpretation des Kantschen Phantasiebegriffs. Martin Heidegger behauptet, daß die transzendentale Einbildungskraft das Fundament der Kantischen Metaphysik bilde: „Die transzendentale Einbildungskraft ist demnach der Grund, auf dem die innere Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis und damit der Metaphysica generalis gebaut wird" (Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 1951, S. 118). Sie ist für ihn einerseits „Wesenseinheit von reiner Anschauung (Zeit) und reinem Denken (Apperzeption)" und anderseits „die Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand", was verständlich macht, warum er sie als den Grund der inneren Möglichkeit ontologischer Erkenntnis ansieht. Vgl. zu diesem Thema die Polemik A. Rohloffs mit Heidegger in Die Divergenz in der Begründung des ästhetischen Urteils bei Kant und Schiller, Frankfurt a.M. 1963, S. 37.

18

Erst durch dieses Prinzip ist die allgemeine objektive Gültigkeit der synthetischen Urteile a priori garantiert. Die Einbildungskraft ermöglicht zwar, Wahrnehmungen zu assoziieren, aber wenn wir audi das Vermögen dazu hätten, „so bliebe es doch an sich ganz unbestimmt und zufällig, ob sie auch assoziabel wären; und in dem Falle, daß sie es nicht wären, so würde eine Menge Wahrnehmungen, und auch wohl eine ganze Sinnlichkeit möglich sein, in welcher viel empirisches Bewußtsein in meinem Gemüte anzutreffen wäre, aber getrennt, und ohne daß es zu einem Bewußtsein meiner selbst gehörte, welches aber unmöglich ist. Denn nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperzeption) zähle, kann ich bei allen Wahrnehmungen sagen: daß ich mit ihrer bewußt sei. Es muß also ein objektiver, d. h. vor allen empirischen Gesetzen der Einbildungskraft a priori einzusehender Grund sein, worauf die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit eines durch alle Erscheinungen sich erstreckenden Gesetzes beruht, sie nämlich durchgängig als solche Data der Sinne anzusehen, welche an sich assoziabel, und allgemeinen Regeln einer durchgängigen Verknüpfung in der Reproduktion unterworfen sind. Diesen objektiven Grund aller Assoziation der Erscheinungen nenne ich die A f f i n i t ä t derselben. Diesen können wir aber nirgends anders, als in dem Grundsatze von der Einheit der Apperzeption, in Ansehung aller Erkenntnisse, die mir angehören sollen, antreffen" (Kritik der reinen Vernunft, A 122).

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

45

Dichtung definiert habe, wobei man zu dem überraschenden Ergebnis käme, d a ß er dies mit H i l f e des Begriffes der Einbildungskraft getan hat. M a n lese nur folgende Stelle in der Kritik der Urteilskraft: „Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern N a t u r , aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, w o uns die E r f a h r u n g zu alltägig v o r k o m m t , bilden diese auch wohl um, z w a r noch immer nach analogischen Gesetzen, aber doch auch nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen . . ., wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der A s s o z i a t i o n . . . fühlen, nach welchem uns von der N a t u r z w a r Stoff geliehen, der von uns aber zu etwas anderem, nämlich dem, was die N a t u r übertrifft, verarbeitet werden kann. — M a n k a n n dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen, einesteils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegenden wenigstens streben, u n d so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahezukommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt; anderseits, u n d z w a r hauptsächlich, weil ihnen, als inneren Anschauungen, kein Begriff völlig a d ä q u a t sein kann. D e r Dichter w a g t es, Vernunftideen von unsichtbaren Wesen, das Reich der Seligen, das H ö l l e n reich, die Ewigkeit, die Schöpfung u. dgl. zu versinnlichen, oder auch das, was z w a r Beispiele in der E r f a h r u n g findet, z. B. den Tod, den N e i d und alle Laster, imgleichen die Liebe, den R u h m u. dgl. über die Schranken der E r f a h r u n g hinaus, vermittels einer Einbildungskraft, die dem VernunftVorspiele in Erreichung eines G r ö ß t e n nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen, f ü r die sich in der N a t u r kein Beispiel findet; u n d es ist eigentlich die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen M a ß e zeigen k a n n . Dieses Vermögen aber, f ü r sich allein betrachtet, ist eigentlich nur ein Talent (der Einbildungskraft)" 2 9 . Diese Gedankengänge ähneln in vielem denen von Sulzer u n d auch Moritz. Die Erfahrungen u n d die N a t u r sind z w a r Stoffe der Einbildungskraft, aber in der Dichtkunst wird schließlich etwas Neues, die Wirklichkeit Uberschreitendes erreicht, und dies d a n k der Einbildungskraft. D e r Schluß, die Dichtkunst sei eine D o m ä n e der Einbildungskraft, liegt also nicht weit. H ä t t e sich K a n t die oben von uns aufgeworfene Frage gestellt, wäre er wahrscheinlich zu diesem Humboldtischen Ergebnis gekommen, jedoch nicht d a r u m ging es ihm in seiner Kritik der Urteilskraft, wo sein G r u n d p r o b l e m w a r : wie läßt sich der Anspruch ästhetischer Urteile auf Allgemeingültigkeit begründen? I m O k t o b e r 1793 schrieb Wilhelm von H u m b o l d t an Christian G o t t f r i e d Körner, d a ß er „alle Kantische kritische Schriften von neuem 29

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, A 191 f.

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

46

von einem Ende zum andern durchgelesen" habe. „Alle Zweifel, die ich sonst wohl gegen die Kritik der reinen Vernunft, selbst gegen die beiden moralischen Werke hatte, sind mir jetzt rein verschwunden, allein an der Kritik der Urtheilskraft glaube ich von neuem eine gewisse, ich möchte sagen, Flüchtigkeit bemerkt zu haben, die nicht bloß Berichtigungen einzelner Sätze, sondern, was das Wichtigste sein würde, Erweiterungen des ganzen System erlaubte. Die Hauptfrage bei aller Untersuchung über die ersten Gründe unserer ästhetischen Urtheile bleibt nemlich immer die, ob das Schöne sich durch Begriffe objektiv bestimmen lasse? oder nicht?" 30 . Er gibt Kant recht, daß „das Wohlgefallen an Schönheit weder durch Begriffe erregt werde, noch auch seinen Gegenstand als einen schönen, durch b e s t i m m t e Begriffe zu schildern im Stande sey" 31 . Die objektive Ästhetik, die die Schönheit als eine im Kunstwerk enthaltene, also begrifflich festlegbare ansieht, ist nach dem Erscheinen des Kantischen Werks nicht aufrechtzuerhalten. Aber trotzdem muß es, wie Humboldt meint, eine Möglichkeit geben, die Schönheit, die wir bei einem Kunstwerk empfinden, diskursiv zu bestimmen, denn sonst wären wir gezwungen, jegliche Kunsttheorie und -kritik aufzugeben. Humboldt sieht nun folgenden Ausweg: wir sollten versuchen, jene Begriffe zu bestimmen, welche in uns „rege werden", wenn wir Wohlgefallen an einem schönen Gegenstand empfinden. Das würde uns die Möglichkeit in die Hand geben, diejenigen Momente aufzudecken, die unser Schönheitsgefühl mit dem Kunstwerk verbinden, und dieses Gefühl von hier aus begrifflich zu erfassen. Und da es durch das Kunstwerk „rege wurde", sind wir gleichzeitig imstande, dem Werk selber näher zu kommen. Unser Schönheitsgefühl läßt sich zwar nicht direkt vom Kunstwerk ableiten, wie das die Anhänger der objektiven Ästhetik wollten, aber man kann das Werk auch nicht völlig unberücksichtigt lassen, indem man das Wohlgefallen an der Schönheit nur subjektiv begründet. Es ist ein Charakteristikum der ästhetischen Erörterungen Humboldts, daß er unter Aufrechterhaltung der grundlegenden Ideen Kants stets sein Augenmerk auf das Kunstwerk selber lenkte, wovon seine Analyse des Epos Hermann und Dorothea ein beredtes Zeugnis ablegt. So nimmt es nicht wunder, daß er dem eigentlich Künstlerischen nähersteht als Kant. Es ist kein Zufall, daß Kant, wie Wellek zu Recht feststellt32, nie ein guter Literaturkritiker war, was man ganz und gar nicht von Humboldt be-

30

Ansichten über Ästhetik und Literatur von Wilhelm von Humboldt. Briefe an Christian Gottfried Körner, Berlin 1880, S. 2.

31

Ebenda, S. 3

32

René Wellek, Geschichte der Literaturkritik,

a.a.O., S. 233.

Seine

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

47

haupten kann, der einen ausgezeichneten Blick sowohl für die Besonderheiten dichterischer Werke wie auch f ü r die Unterschiede zwischen den literarischen Gattungen hatte. Jedoch nicht nur dieses Talent war die Ursache, daß Humboldt in seiner Ästhetik das Kunstwerk nie aus den Augen verlor, sondern m. E. auch — und vielleicht vor allem — der Umstand, daß er Kants Kritik der Urteilskraft von der Position der Kritik der reinen Vernunft aus kritisierte und von ihr aus seine eigenen Ideen entwickelte. In beiden Kritiken haben wir es mit einem Subjekt / ObjektVerhältnis zu tun. Der Unterschied ist nur der, daß in der Kritik der Urteilskraft das Objekt als Ding an sich völlig bedeutungslos wurde, während es in der Kritik der reinen Vernunft insofern erhalten blieb, als es den Stoff, wenn auch nicht näher festlegbaren, für unsere Wahrnehmungen und Eindrücke liefert. Diesen Gedankengang hat nun Humboldt auf die Ästhetik übertragen: durch den schönen Gegenstand werden in uns bestimmte Begriffe rege. Er erläutert dies an einer Vase. Eine schöne Vase müßte von „der Art seyn, daß auf ihre Darstellung in der Einbildungskraft der Begriff der Einheit im Verstände rege werde" 33 . Damit ist zwar nicht gesagt, wie eine schöne Vase angefertigt werden muß, um einen solchen Begriff in uns zu erwecken, auf jeden Fall ist sie aber Anlaß dieser Erscheinung. Diesen Gedankengang entwickelt Humboldt weiter, wobei er zu interessanten Schlüssen f ü r die Literaturkritik kommt. So sieht er z. B. die Aufgabe der Kritik bei der Beurteilung schöner Werke, die er von den charakteristischen unterscheidet, darin, genau zu verfolgen, ob ihre Eigenschaften mit unserem Empfinden ihrer Schönheit übereinstimmen. Bei einem Werk, das wir als schön ansehen, müssen wir also ständig unsere Eindrücke mit der künstlerischen Wirklichkeit konfrontieren. Von diesem Prinzip läßt sich dann auch Humboldt in seiner Analyse des Goetheschen Epos leiten. Eine solche Konfrontation ist besonders dann nötig, wenn der Leser den Eindruck hat, mit einem Sprung zu tun zu haben, d. h. also mit einer Erscheinung, die dem Gefühl des Schönen widerspricht. In Hermann und Dorothea ist der Leser z. B. überrascht, daß der Apotheker während des Wartens auf die Ankunft der beiden jungen Leute plötzlich vom Tod spricht. Doch haben wir es hier bei genauerem Hinsehen, wie Humboldt erklärt, nicht mit einem Sprung zu tun, sondern mit einer geschickten Vorbereitung der Leser auf die Situationsveränderung in der nächsten Szene, in der sich alle über das Eintreffen der beiden freuen. Der Übergang von der Stimmung des ungeduldigen Wartens zu der der Freude ist nach H u m boldt nur durch den unerhörten Kontrast möglich, der durch das Gespräch über den Tod geschaffen wird. 33

Ansichten über Ästhetik und Literatur ..a.a.O.,

S. 4.

48

Zur Geschichte des Erlebnisbegriiis

Auch die ganze humboldtische Theorie des Gestimmtwerdens des Lesers durch das Kunstwerk, auf die wir hier leider nicht eingehen können, ist m. E. eine konsequente Fortführung des durch Kants Kritik der reinen Vernunft angeregten Gedankengangs. Die Brücke, die den schönen Gegenstand mit dem Wohlgefallen an diesem verbindet, ist, wie wir aus Humboldts dichtungstheoretischen Schriften herauslesen können, die Einbildungskraft. Sie ist einerseits die Domäne des Dichters und anderseits sind wir nur durch sie in der Lage, sein Werk in seiner Schönheit, seinem Glanz zu erfassen. In Humboldts Aufsatz für Madame de Staël lesen wir: „Le domaine du poète est l'imagination; il n'est poète qu'en fécondant la sienne, il ne se montre tel qu'en échauffant la nôtre. La nature que d'ailleurs nous examinons avec nos sens, que nous analysons avec notre esprit, se présente par les efforts du génie poétique à notre imagination, et paroît recevoir de lui un éclat nouveau" 34 . Oder an anderer Stelle: L'art est le talent de représenter la nature par la seule imagination, libre et indépendante dans son action" 84 . Und in ähnlicher Weise führt Humboldt in seinem Aufsatz Über Göthes Hermann und Dorothea aus: „Das Feld, das der Dichter als sein Eigenthum bearbeitet, ist das Gebiet der Einbildungskraft; nur dadurch, daß er diese beschäftigt, und nur in so fern, als er diess stark und abschliessend thut, verdient er Dichter zu heissen. Die Natur, die sonst nur einen Gegenstand für sinnliche Anschauung abgiebt, muss er in einen Stoff für die Phantasie umschaffen"36. Und einige Absätze weiter unten heißt es: „Die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimnis des Künstlers. Denn um die unsrige zu nöthigen, den Gegenstand, den er ihr schildert, rein aus sich selbst zu erzeugen, muß derselbe frei aus der seinigen hervorgehn" 37 . Zum ersten Mal in der deutschen Ästhetik wird das Wesen der Poesie konsequent mit Hilfe des Begriffs der Einbildungskraft bestimmt. Das, was wir bei Moritz angedeutet finden, wird von Humboldt gleichsam zu einem ganzen System ausgebaut. Das trifft insbesondere auf die Trennung von Kunst und Wirklichkeit zu. „Das Wirkliche in ein Bild zu verwandeln", schreibt Humboldt, „ist die allgemeinste Aufgabe aller Kunst, auf die sich jede andre, mehr oder weniger unmittelbar zurückbringen 34

35 36 37

Kurt Müller-Vollmer, Poesie und Einbildungskraft. Zur Dichtungstheorie Wilhelm von Humboldts. Mit der zweisprachigen Ausgabe eines Aufsatzes Humboldts für Frau von Stael, Stuttgart 1967, S. 120. Ebenda, S. 164 Wilhelm von Humboldts Gesammelte Werke, Bd. II, Berlin 1904, S. 126 Ebenda, S. 127 f.

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

49

lässt. Um hierin glücklich zu seyn, hat der Künstler nur Einen Weg einzuschlagen. Er muss in unsrer Seele jede Erinnerung an die Wirklichkeit vertilgen und nur die Phantasie allein rege und lebendig erhalten" 38 . Gleichzeitig ist aber der Unterschied zwischen Humboldt und Moritz ein riesiger. Das kommt schon darin zum Ausdruck, welche Dichtungen beide zum Anlaß nehmen, um zu zeigen, daß Dichtung und Wahrheit zwei voneinander getrennte Sphären seien. Bei Moritz sind es die mythologischen Dichtungen der Alten, bei Humboldt ist es Hermann und Dorothea. Moritz meint, daß die Phantasie sich „am liebsten an die dunkle Geschichte der Vorwelt anschmiege", Humboldt erklärt in dem Aufsatz f ü r Frau von Stael, daß wir gern auf die „fictions de la mythologie" verzichten. Im Gegenteil, der Dichter läßt am liebsten die Natur, wie sie ist, nur befreit er sie von den sie beschränkenden und einengenden Bedingungen und von allen Zufälligkeiten. „Dadurch, dass der Dichter seinen Gegenstand, selbst wenn er ihn unmittelbar aus der N a t u r entlehnt, doch immer von neuem durch seine Einbildungskraft erzeugt, wird die Gestalt bestimmt, die er demselben über seine wirkliche Beschaffenheit oder auch ausser derselben giebt. Denn er tilgt nun jeden Zug in ihm aus, der nur in Zufälligkeiten seinen Grund hat, macht jeden von dem andern und das Ganze nur von sich selbst a b h ä n g i g . . ." 39 . Sehr schön ist hierbei Humboldts Vergleich der gemalten mit der wirklichen Frucht. „An einer schön gemahlten Frucht bemerkt man ein Schwellen der Contoure, eine Zartheit des Fleisches, eine flaumartige Weichheit der H a u t , ein Glühen der Farben, das — so sehr ist es bloss idealisch — die N a t u r nie zu erreichen vermag. Man kann darum nicht sagen, daß die gemahlte Frucht schöner sey, als die natürliche; die N a t u r ist überhaupt nie schön, als insofern die Phantasie sie sich vorstellt. Man kann nicht sagen, dass die Umrisse in der N a t u r weniger vollendet, die Farben minder lebhaft wären; der Unterschied ist allein der, dass die Wirklichkeit zu den S i n n e n , die Kunst der P h a n t a s i e spricht, dass jene harte und schneidende Umrisse, diese zwar immer bestimmte, aber immer auch unendliche giebt" 40 . Aus diesem Vergleich wird uns auch klar, daß Humboldt jedem Gebiet ein besonderes Vermögen zuweist: der Wirklichkeit die Sinne, der Kunst die Phantasie und, wie wir aus deren Bemerkungen entnehmen, der Philosophie die Vernunft. Damit ist die Kunst auch erkenntnistheoretisch begründet. 38

Ebenda, S. 126

40

Ebenda, S. 130 f.

38

Ebenda, S. 129

50

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

Es wäre nun nötig, Humboldts Begriff der Einbildungskraft und dessen Relation zu anderen Begriffen, wie dem des Ideals, der Objektivität, der Totalität und auch dem der Stimmung, zu analysieren 41 . Danach hätten wir aufzuzeigen, welch immer größere Rolle die Einbildungskraft in der deutschen Ästhetik und auch Philosophie bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu spielen begann. Wir wollen hier jedoch ein gutes halbes Jahrhundert mit der kurzen Feststellung überspringen, daß es bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts eigentlich niemanden in der deutschen Ästhetik gibt, der die enge Verbindung von Phantasie und Kunst in Zweifel zieht, zum Problem macht oder tiefer zu begründen sucht. Erst die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts leiten hier eine gewisse Wende ein.

c. Auf der Suche nach den Gesetzen der Phantasie In den sechziger Jahren häufen sich auf einmal die Stimmen, daß es notwendig sei, die Phantasie, ihre Gesetze, ihr Wirken in dem dichterischen Schaffen, ihre Beziehungen zu der erlebten Wirklichkeit u. ä. m. zu erforschen. Alle stoßen sich hierbei an dem übertriebenen und ungenauen Gebrauch dieses Begriffes. Eine Kritik an Humboldt bleibt nicht aus. So meint Lotze in seiner Geschichte der Ästhetik in Deutschland: „ . . . zur wissenschaftlichen Verwertung des Empfundenen sind jedoch seine (Humboldts — K. S.) ästhetischen Grundbegriffe nicht scharf genug. Ich rechne zu diesen den Begriff der Einbildungskraft; mit besonderer Nachdrücklichkeit gründet Humboldt alle ästhetische Wirkung auf dieses geistige Vermögen, dessen Natur gleichwohl weder unmittelbar durch seine eigenen Leistungen noch mittelbar durch scharfe Gegensätze zu anderen Kräften und Regungen des Geistes erläutert wird" 42 . An anderer Stelle nennt Lotze den Humboldtischen Gebrauch des Begriffes Einbildungskraft mysteriös 43 . 1869 verfaßte H . Cohen eine längere Abhandlung „Die dichterisdie Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins", die in der Zeitschrift

41

4S 43

Dies hat z. T. Kurt Müller-Vollmer in dem oben zitierten Buch getan. Siehe auch meinen Artikel „Pi^kno i wyobraznia w teorii estetycznej Wilhelma von Humboldta" (Die Rolle des Schönen und der Einbildungskraft in der Ästhetik Wilhelm von Humboldts), erschienen in Studia estetyczne, VII, Warszawa 1970, S. 163—184. Hermann Lotze, a.a.O., S. 621 Ebenda, S. 625

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

51

für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft erschien. Cohen ist der Meinung, daß das Wesen der Dichtung durch „mangelhafte Psychologie" in den alten und neueren Zeiten verkannt worden sei. Den Alten hätte die Kategorie des Gedächtnisses gefehlt, während man jetzt alles mit Phantasie erkläre. Damit seien jedoch alle Fragen nach der Möglichkeit der Dichtung mit einem Zuge abgeschnitten. „Die Muse Phantasie löst alle diese Räthsel, wie nur irgend eine psychologische Kategorie einen psychischen Vorgang erklärt. Hier liegt der Grund des Uebels" 44 . Cohen verlangt nun, daß man die Kategorie der Phantasie, deren wissenschaftlicher Wert nicht zu bezweifeln sei, einmal streng erwägen müsse, um nicht, wie es das Beispiel Vischers zeige, Phantasie durch Phantasie zu erklären oder in ihr eine besondere Fähigkeit der Seele zu erblicken 45 . Für das, was man bisher unter den Begriff der Phantasie gebracht habe, stelle dieser keinen guten Gattungsbegriff dar. Es gelte, das Gebiet, welches von der Phantasie „überdacht" wird, „in die ursprünglichen psychologischen Prozesse, die in ihm (dem Gattungsbegriff Phantasie) krystallisiert sind", vollständig aufzulösen. Cohen selber versucht, dichterisches Schaffen und Phantasietätigkeit rein psychologisch zu erklären. Er geht hierbei von der Hypothese der Einheit des Bewußtseins aus, die auf einem einzigen Gebiete, dem der Poesie, zu versagen scheint. N u r der Dichter denke sich Dinge aus, die nicht den wirklichen Gegebenheiten entsprechen, nur er sei sich der „Unrealität seiner Dinge bewußt" und betone diese sogar. Wie ist das mit dem Prinzip der Einheit des Bewußtseins zu vereinbaren, fragt sich Cohen, d. h. mit jener Tatsache, daß jede neue Vorstellung durch die Verschmelzung der neuen Reize mit alten Vorstellungen entstehe? 44

H e r m a n n Cohen, „Die dichterische Phantasie u n d der Medianismus des Bewußtseins" in Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. V I , 1869, S. 174.

45

V o n Bedeutung scheint es mir, daß Cohen gerade die Herbartianer anführt, die es trotz Assoziationspsychologie nicht verstanden hätten, die Kategorie der Phantasie wirklich aufzulösen, in ihre Bestandteile zu zerlegen (S. 181). In den Erörterungen um diesen Begriff innerhalb der deutschen Ästhetik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich im Wesen z w e i Richtungen unterscheiden: erstens die idealistische, für die die Einbildungskraft ein ursprüngliches Vermögen der Seele oder des Geistes ist, und zweitens die der Assoziationspsychologie, in der die Phantasie durch Vorstellungsverbindungen erklärt wird (diese Richtung hat ihre Wurzeln natürlich bei den Engländern, in Deutschland gehören hierher u. a. die Herbartianer mit ihrem wenig produktiven Formalismus). Cohens Kritik ist also sehr grundsätzlicher N a t u r , da er beide Richtungen angreift, wenngleich er in diesem A u f s a t z selber eine Art Herbartianismus vertritt; daher wird auch Herbart mehrmals anerkennend zitiert.

52

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

Für die mythische Kunst fällt es Cohen nicht schwer zu zeigen, daß wir es dort nicht mit Phantasieschöpfungen zu tun haben, sondern mit einem „strengen psychologischen Mechanismus". Er führt als Beispiel die mythologische Vorstellung an, daß die Feuerbereitung eine Menschenzeugung ist. Die eine Vorstellung sei die Feuerbereitung gewesen. Diese hätte man mit der Menschenzeugung in Zusammenhang gebracht, indem man das untergelegte Holz als Weib, den Bohrer als Mann und den Funken als das Kind gedacht habe. So schließt er, daß der Mythos keineswegs von einer „schaffenden Phantasie" hervorgebracht wurde, sondern er baue sich aus einer Gruppe von Apperzeptionen zusammen. Wie steht es jedoch mit der Kunstpoesie? Kann man auch da einen psychologischen Mechanismus konstatieren? Cohen glaubt diese Frage bejahen zu können. Um dies zu beweisen, bedient er sich einer ganzen Kette von Argumenten. Als erstes zeigt er, wie das menschliche Denken von der „Gleichung" (die Feuervermählung ist eine Vermählung, der Blitz ist ein Vogel) zum „Vergleich" (der Blitz ist wie ein Vogel) gekommen ist. Cohen trifft dann folgende Begriffsunterscheidung zwischen den formalen und inhaltlichen Elementen der Vorstellungen: unter dem formalen Element der Vorstellung versteht er — etwas vereinfacht gesagt — die Gefühle, die die jeweilige Vorstellung begleiten, unter dem inhaltlichen Element den eigentlichen Bewußtseinsgehalt der Vorstellung. Das formale Element geht dem inhaltlichen voraus, bildet eine frühere Stufe im Bewußtseinsprozeß. In der Poesie überwiegt nach Cohen das formale Element. Dort apperzepieren die formalen Elemente sogar einander. Wenn in der Poesie sich ein Baum nach einem anderen Baum sehnt, so ist dies inhaltlich undenkbar, und trotzdem wird damit die Einheit des Bewußtseins nicht gestört. Der Dichter braucht die formalen Elemente, weil er nur durch sie etwas Unbegrenztes schaffen und die Gefühle des Hörers wecken kann, was er nach Cohen am besten erreicht, wenn er sich der mythischen Sprachformen bedient. Und dies kann und darf er, ohne die Einheit des Bewußtseins zu stören, weil den Menschen das mythische Denken nicht fremd ist, wie Cohen ausführt. Sie haben selber einmal als Kind in dieser Weise gedacht (Personifikation, Vergleich ungleicher Dinge usw.). Das sind sozusagen die subjektiven Gründe für das Bestehen der Dichtung. Cohen glaubt jedoch auch eine objektive Ursache gefunden zu haben, warum Dichtung in einer Zeit möglich ist, in der die inhaltlichen Elemente (das wissenschaftliche Denken) überwiegen. Diese objektive Ursache ist Cohen zufolge in der objektiv gewordenen Macht der dichte-

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

53

rischen Schöpfungen zu suchen, von der die Dichter angespornt werden, etwas den älteren Werken Ebenbürtiges zu schaffen 46 . Noch im gleichen Band der Zeitschrift Sprachwissenschaft

für

Völkerpsychologie

und

wies H . Steinthal, ein Lehrer Cohens, dessen Anschau-

ungen über die moderne Poesie in mehreren Punkten zurück. Mit Recht bemerkt er, daß Goethe nicht deswegen als Mann Iphigenie, Tasso und Faust dichten konnte, weil er sich „in der Kindheit die Luft, das Feuer und das Wasser als eine schöne Prinzessin dachte", und auch nicht, weil der objektive Geist der Dichtung ihn zu Ebenbürtigem anspornte. Steinthal bezweifelt auch, daß die mythischen Elemente in der neueren Kunst eine so große Rolle gespielt haben bzw. noch spielen. Kunst sei vielmehr Freiheit von Mythos 4 7 . Für Steinthal ist Kunst Darstellung des Innern. U n d wenn Kunst Wirklichkeit nachahme, so bloß zum Scheine. Sie stelle nicht eigentlich Wirklichkeit

dar,

„sondern

nur

wie wir

das Wirkliche

in

unserem

Gefühl tragen" 4 8 . Der Künstler

schaut, was als solches nicht da ist,

schon

Kopie

deswegen

kann

er

keine

der

Wirklichkeit

geben.

„Er

übersetzt Gefühl in Gestalt", die nicht „Abbild eines Wirklichen, aber

46

In seiner Ästhetik des reinen Gefühls, Berlin 1904, scheint Cohen den Gedanken, daß die Poesie durch das Fortleben der mythischen Vorstellungen und die objektiv gewordene Macht der poetischen Erzeugnisse möglich sei, fallen gelassen zu haben. Nach wie vor legt er jedoch die Vergleichung der Poesie zugrunde, wobei er wiederum das Vogel-Blitz-Beispiel anführt, um zu zeigen, wie sich das Gleichnis oder die Gleichung in einen Vergleich umwandelt. An die Stelle der formalen Elemente treten sogenannte Wortgefühle, an die der inhaltlichen die Begriffsworte. Die Wortgefühle sind bei der Vergleichung das Entscheidende, sie sind die Grundlage aller Poesie. Das Wesen der Vergleichung sei letztlich die Verinnerlichung (S. 379). Die Poesie wird von Cohen als die Sphäre des reinen Gefühls oder als die sogenannte zweite „innere Sprachform" interpretiert, d. h. in der Poesie werden nicht nur die inhaltlichen und formalen Elemente (Begriffsworte und Wortgefühle) miteinander verbunden, sondern auch die Objekte werden verinnerlicht, so daß die Frage der Beziehung von Innerem und Äußerem belanglos wird (S. 384), wie Cohen meint. Nach wie vor kommt er über den Vergleich nicht hinaus. Dieser tritt seiner Meinung nach in der Poesie in reinster Form auf, die daher auch in seiner Ästhetik als Grundlage für alle anderen Künste dienen muß.

47

So heißt es bei Steinthal: „Wer ein schönes Bild von Maria und Jesus schaffen wollte, mußte sich bewußt sein, kein Portrait zu liefern. Er fühlte sich dem Mythos gegenüber so frei, wie gegenüber irgend einer Tatsache, deren allgemein menschlicher, durch die Kunst darstellbarer Inhalt herausgehoben werden mußte. Indem er aber dies in Bezug auf Maria that, hat er den Mythos als solchen vernichtet" (S. 313).

49

Ebenda, S. 296

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

54

•wohl Bild oder ein Ideal" ist. Solche Bilder und Ideale schafft der Künstler, und darauf beruht nach Steinthal dessen Phantasietätigkeit. Unter Ideal haben wir ein Bild zu verstehen, „welches uns den Werth Idee erscheinen läßt und zu Gefühl bringt". Die Besonderheit der Kunst beruhe darauf, daß sie Ideale produziere und keine Ideen oder Begriffe. „Begriffe erzeugen nennt der Psychologe V e r s t a n d , Ideale erzeugen: P h a n t a s i e " , heißt es bei Steinthal 49 . Von all den Erörterungen über die Phantasie und den künstlerischen Schaffensvorgang in diesem Zeitraum heben sich die Aufsätze Spielhagens, die in sein Buch Beiträge zur Theorie und Technik des Romans eingegangen sind, durch ihre Konkretheit und den unmittelbaren Blick auf das Kunstwerk wohltuend ab, obwohl sie nicht direkt als ein Beitrag zur „Lösung des Phantasieproblems" gedacht sind. Es muß im voraus betont werden, daß Spielhagens Ansichten von der Phantasie nicht präzis und eindeutig sind. Oft wiederholt er einfach Wendungen, die sich nicht sonderlich von den Ausdrucksformen der klassischen und romantischen Ästhetik unterscheiden. Diese Abhängigkeit von der traditionellen Ästhetik trifft auf seine ganze Epostheorie zu. Man denke nur an seine häufigen Berufungen auf Wilhelm von H u m b o l d t und Friedrich Schlegel50. Trotzdem sind seine Gedanken über das Epos und den zeitgenössischen Roman eine schöpferische Weiterführung der epischen Theorie und „epischen Phantasie", insoweit es selbstverständlich möglich war, Roman und Epos überhaupt unter einen Begriff, den des Epischen, zu bringen. Aber dieses Problem sah Spielhagen noch nicht. Er glaubte, eine relativ kontinuierliche Linie von dem antiken Epos bis zum zeitgenössischen Roman ziehen zu können 51 . Spielhagen operiert sehr oft mit den Begriffen Phantasie und epische Phantasie. An einer Stelle nennt er die Phantasie sogar den heiligen Geist der Kunst 52 , woanders spricht er von „dem unausrottbaren Zuge der epischen Phantasie in das (künstlerisch) Grenzenlose". Er sieht die „epische Phantasie" f ü r eine Grundbedingung des epischen Schaffens überhaupt an. 49

Ebenda, S. 324

50

Siehe A. H. Hughes, „W. von Humboldt's Influence on Aesthetics" in The Germanic Review 5 (1930); Hugo Bieber, um die Tradition. Die deutsche Dichtung im europäischen 1830 his 1880, Stuttgart 1928, S. 470 ff. und Winfried Hellmann, tät und Erzählkunst. Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens" Romantheorien, a.a.O., S. 172 und 177.

51

Auf Spielhagens Auffassung vom Epos und Roman ist W. Hellmann, a.a.O., S. 207 f., näher eingegangen.

5!

Friedrich Spielhagen, a.a.O., S. 88

Spielhagen's Der Kampf Geistesleben „Objektiviin Deutsche

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

55

Der Dichter kann nichts verwenden, wie es gegeben, wenn er es nicht durch die Phantasie befruchtet 53 . Die Phantasie scheint also eine Art U r kraft des künstlerischen Schaffens darzustellen. Doch geht es Spielhagen im Grunde um die Gesetze der Phantasie, um die Bahnen, in denen sich der Romanschriftsteller auf jeden Fall bewegen muß, wenn er ein Kunstwerk schaffen will. Die Eigentümlichkeit der „epischen Phantasie" beruht nach Spielhagen darauf, „den Menschen immer auf dem Hintergrund der Natur, immer im Zusammenhang mit — in der Abhängigkeit von den Bedingungen der Kultur, d. h. also so zu sehen, wie ihn die moderne Wissenschaft auch sieht" 54 . Doch ist dies nicht ohne Ruhe, Klarheit und Objektivität möglich, ohne die die epische Phantasie nicht imstande wäre, „ihrer Aufgabe zu genügen; nicht imstande, ihr Objekt, die Menschheit, zu erfassen und darzustellen als Ganzes, im Zusammenhang mit, in der Abhängigkeit von der Natur, in der Bedingtheit von den Kultur- und sonstigen Verhältnissen, die in dem betreffenden Volk in der bestimmten Epoche die herrschenden waren" 5 5 . Die genannten Eigentümlichkeiten schützen die epische Phantasie allerdings noch nicht vor dem „Hereinbrechen des Unorganischen, Grenzenlosen". Dieser Schutz ist erst dadurch gegeben, wie Spielhagen zu beweisen versucht, daß der Romanschriftsteller alles durch und über den Helden zum Ausdruck bringen muß. Dieser ist „das Auge, durch welches der Autor die Welt sieht", er ist der „Gesichtswinkel" und der „Maßstab". Die epische Phantasie besteht nur im Gestaltenschaffen, schreibt Spielhagen in seinem Essay „Der Held im Roman", sie kann gar nichts anderes, „als Gestalten schaffen, da sie nur im Gestaltenschaffen besteht" 58 , formuliert er an einer Stelle ganz bewußt tautologisch. Das ist der Weg, den der Epiker einschlagen muß. In diesem Sinn heißt es auch in dem Aufsatz „Finder oder Erfinder": „Die Phantasie ist durchaus ein Denken in Formen; sie operiert nun und niemals mit Begriffen; sie kennt keinen Selbstmord, sondern nur einen Selbstmörder, und selbst das ist schon viel zu abstrakt: sie kennt nur einen Werther, der sich das H a u p t mit der Pistole zerschmettert, eine Ophelia, die sich ins Wasser stürzt; sie kennt keine Eifersucht, sondern nur einen Othello usw." 5 '. Ähnliche Gedanken hat auch Dilthey mehrmals in seiner Poetik zum Ausdruck gebracht. 53

„Die Wahrheit ist, daß er nichts verwenden kann, wie es gegeben; jedes Atom des Erfahrungsstoffes erst durch die Phantasie befruchtet werden muß" (S. 34).

54

Ebenda, S. 41

«

Ebenda, S. 49

58

Ebenda, S. 91

57

Ebenda, S. 14

56

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

Obwohl Spielhagen, wie gesagt, nicht die Absicht hatte, das Problem der dichterischen Phantasie theoretisch zu klären, leistete er jedoch hierzu — von der damaligen Perspektive aus gesehen — einen schöpferischen Beitrag, vielleicht gerade dank seiner Beschränkung auf nur eine Gattung und der Bemühung, gewisse Fragen der Dichtkunst, d. h. des realistischen Romans, konkret-anwendbar zu lösen. Mit Phantasie zu dichten und zu schaffen, bedeutet für ihn, die Dinge, Ereignisse und Personen objektiv, d. h. ohne Einmischung des Erzählers in das Geschehen, und lebendig zu schildern, so daß der Leser das Geschilderte schnell versteht. Die einzelnen Romanepisoden sollen wie Bilder aus der Wirklichkeit vor seinen Augen vorüberziehen. Mit Phantasie dichten heißt aber auch, das prosaische Leben verklären, das bescheidene Grün im Leben darstellen, wie es in der damaligen Sprache hieß. Eine fast völlige Reduzierung der Phantasie auf bestimmte Prinzipien und Gesetze versuchte die Assoziationspsychologie, deren moderner Vertreter in den siebziger Jahren Fechner war. In seiner Vorschule der Ästhetik heißt es beispielsweise: „Nach der gewöhnlichen Betrachtungsweise sollte man meinen, daß der Phantasie ein unbeschränktes Vermögen zustehe, aus eigener Machtvollkommenheit dies und das an den Anblick eines Gegenstandes zu knüpfen. Näher zugesehen aber ist der associirte Eindruck der vorgegebene Stoff, den sie dazu wohl auswirken, den sie aber nicht schaffen kann, und der Kreis associativer Momente der Spielraum, in dem sie sich nur bewegen kann" 58 . Auf die Problematik der Assoziationspsychologie und der auf sie aufbauenden analytischen Ästhetik werden wir noch im nächsten Kapitel zurückkommen. Bisher haben wir uns auf die psychologischen, ästhetischen und dichtungstheoretischen Aspekte der Phantasie beschränkt, ohne die rein philosophische Problematik auch nur zu berühren. In der Philosophie der damaligen Zeit ging der Streit darum, ob die Einbildungskraft eine ursprüngliche Macht der Seele darstelle oder ob sie sich aus anderen Kräften der Seele zusammensetze. Vertreter des ersten Standpunkts waren sowohl diejenigen, die die Phantasie als eine der Grundkräfte und Grundrichtungen der Seele anerkannten, wie auch jene, die die Einbildungskraft geradezu als ein Grundprinzip des Lebens und der Welt ansahen. Neben dem jüngeren Fichte, vertrat vor allem Frohschammer in seinem Buch Die Phantasie als Grundprinzip des Weltprozesses diese Ansicht, die Jürgen Bona Meyer ein Jahr nach Erscheinen dieser Arbeit prinzipiell zurückwies, wobei er sich allerdings vor allem mit J. H . Fichte auseinandersetzte, da dieser wenigstens noch eine Reihe von empirischen Fak58

Gustav Theodor Fechner, Vorschule der Aesthetik,

Leipzig 1925, Bd. 1, S. 112.

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

57

ten f ü r die formende Kraft der Phantasie in der Welt glaubte anführen zu können. Doch war es relativ leicht aufzuzeigen, daß diese Fakten nicht das bewiesen, was sie eben beweisen sollten. Das einzige nur schwer zu widerlegende Argument, das den Verfechtern der Phantasie als einer Weltkraft blieb, war der Analogieschluß: so wie die Phantasiegebilde des Künstlers aus einer bewußtlosen Kraft heraus entstehen kann, so ist auch in der Welt eine ähnliche Kraft tätig. Hierzu bemerkt nun J. B. Meyer: „Diese Analogie ist durchaus nicht klar. Der Künstler schafft nur in gewisser Hinsicht bewußtlos; ein in seinen Zielen noch unbewußter Drang treibt ihn zum künstlerischen Schaffen, hat er aber eine künstlerische Idee erfaßt, so muß er suchen, sie mit möglichst klarem Bewußtsein auszuführen. Ein Künstler, der bewußtlos darauf losdichtet, wird nur durch Zufall ein schönes Kunstwerk schaffen; Kunstregel ist diese Bewußtlosigkeit nicht. Soll nun die Naturseele ebenso schaffen, wie die Künstlerseele, so müßte auch sie nur halb bewußtlos wirken, zur anderen H ä l f t e müßte sie doch wenigstens bei der Ergreifung der ausführenden Mittel mit Bewußtsein verfahren. Die Pflanzenseele, wenn sie phantasiemäßig arbeiten soll, müßte doch zu Zeiten wenigstens das Ziel der Entwickelung oder die Wege zum Ziele sich bildlich vorstellen. Wir haben aber bisher keine zwingenden Gründe alle Gestaltungstriebe der N a t u r auf solche empfindende und vorstellende Seelen zurückzuführen. Wer dies tut auf Grund entfernter Analogien, überschlägt die wahrnehmbaren Unterschiede des Seins der Dinge und gießt die eigene Seele aus über das Weltall" 59 . Die Beantwortung der Frage, w i e schafft der Künstler, bildete also ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung idealistischer Anschauungen reinsten Wassers, wie sie u. a. von Fichte und Frohschammer vertreten wurden. In der Frage des bewußten und bewußtlosen Schaffens verfocht Dilthey einen ähnlichen Standpunkt wie J. B. Meyer, wobei er allerdings das Problem tiefer durchdacht hat, indem er nämlich den Unterschied zwischen der Welt des Wahnsinnigen und des Dichters herausarbeiten sucht. Rückblickend können wir also sagen, daß die Aufdeckung der Gesetze der Phantasie unter drei Gesichtspunkten erfolgte, dem psychologischen, künstlerischen bzw. dichtungstheoretischen und dem philosophischen. Interessant ist nun, daß Dilthey es in seinen ästhetischen und literaturhistorischen Arbeiten versteht, den ersten und zweiten Gesichtspunkt glänzend miteinander zu verbinden, wobei er sowohl 59

Jürgen Bona Meyer, „Das Wesen der Einbildungskraft" in Zeitschrift Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. X , Berlin 1878, S. 31 f.

für

58

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

psychologisch wie auch dichtungstheoretisch zu neuen Erkenntnissen kommt. Gleichzeitig stellen seine Erörterungen über das Phantasieproblem im weitesten Sinne eine Antwort auf die philosophischen Versuche dar, die Einbildungskraft zu einem Prinzip des Weltprozesses zu erheben. Welche sind die Ursachen, daß man sich in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts plötzlich so sehr für den Phantasiebegriff interessierte? Eine der wichtigsten scheint mir die neue Situation in der Literatur zu sein, nämlich der „Machtantritt" des realistischen Romans. Bis dahin konnte man auf diese oder jene Weise von der absoluten Freiheit der Phantasie sprechen, insbesondere wenn man an die romantische Literatur im weitesten Sinne des Wortes denkt. Mit dem Aufkommen der realistischen Literatur mußte die Einbildungskraft des Dichters zu einem Problem werden; denn wenn der Schriftsteller ein getreues Abbild ganzer Gesellschaftsschichten geben soll und will, wo bleibt da noch die Freiheit der Phantasie, ist sie überhaupt noch möglich? Mit Recht kann man hier einwerfen, daß dieses Moment, die Vorherrschaft der realistischen Literatur, wohl solche empfänglichen und allseitigen Denker, wie Dilthey, zu neuen ästhetischen Fragestellungen veranlaßt haben mag, aber wohl nicht jene Ästhetiker, die ihr Augenmerk nur und ausschließlich auf die psychologische Seite des ästhetischen Schaffens lenkten, wie etwa Cohen und Siebeck 60 . Bei diesen Ästhetikern hat man eher den Eindruck, daß sie alte Schaffensweisen psychologisch konservieren möchten, daß es sich also letztenendes um eine negative Antwort auf den Realismus handelt. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland mit Macht hereinbrechende Psychologismus ist ein ganz besonderes Problem in der deutschen Geistesgeschichte. D a ß wir es hier vor allem erst einmal mit einem Ausweichen vor den sozialen Problemen zu tun haben, liegt ziemlich klar auf der Hand. Man begab sich nicht aus den Systemgebäuden in die Wirklichkeit, als ein gesellschaftliches Phänomen, sondern blieb auf halbem Wege stehen, beim Menschen als solchem, der weniger als ein gesellschaftliches, sondern vor allem als ein psychologisches Wesen analysiert werden sollte. Damit wäre allerdings noch nicht das Aufkommen des Psychologismus erklärt. Negation allein hat jedoch noch nie etwas Positives hervorgebracht. In unserem Falle scheint es mir beispielsweise sehr wichtig zu sein, daß es den Vertretern des deutschen Psychologismus gar nicht schwer fiel, den deutschen Idealismus „psychologisch" auszudeuten. Es ist nicht zufällig, daß Windelband das Hegeische 60

Ich meine hier Hermann Siebecks Buch Das Wesen der ästhetischen Anschauungen, psychologische Untersuchungen zur Theorie des Schönen und der Kunst, Berlin 1875.

Zu den Wurzeln des Erlebnisbegriffes in der deutschen Ästhetik

59

System eine „metaphysische Hypostasierung psychologischer Begriffsverhältnisse" nannte. Dessen sei sich Hegel nur nicht bewußt gewesen. Über seine Logik schreibt Windelband: Sie „war im gewissen Sinne eine vortreffliche Psychologie, eine richtige Beschreibung der schwankenden Bewegung, vermöge deren die menschlichen Vorstellungen sich ineinander weben und durcheinander mengen" 61 . Doch auch vom Psychologischen aus mußte die bisherige Behandlung des dichterischen Schaffens sich als unzureichend erweisen, wobei gerade die zentrale Stellung der dichterischen Einbildungskraft in der klassischen und romantischen deutschen Ästhetik zu einem Stein des Anstoßes werden mußte. Für die Ansicht, daß die Einbildungskraft eine Art künstlerisches Urprinzip darstelle, fehlte es einfach an empirischen Belegen, was für die sehr positivistisch eingestellten Psychologen in der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts ein schwerwiegendes Argument war. Man versucht daher die künstlerische Phantasie des Dichters oder, in der Terminologie dieser Zeit, seine Phantasietätigkeit empirisch zu bestimmen, d. h. vor allem aus seiner Art zu schaffen, aus dem Werden seiner Dichtung. Die Erhellung der Grundlagen des dichterischen Schaffens gehörte damals zu den Forschungspostulaten der deutschen Ästhetik. Das kommt gerade in den Klagen zum Ausdruck, daß seit Jahrzehnten nichts Neues auf diesem Gebiete geschaffen worden sei. Hermann Lotze schreibt beispielsweise in seiner Geschichte der Ästhetik in Deutschland, „daß die Erklärung künstlerischen Schaffens auch später (nach Kants und Fries' verdienstvollen Arbeiten) von keiner Seite wesentlich gefördert worden ist" 62 . Einige Jahre später zitiert Friedrich Spielhagen diese Stelle, um auf der einen Seite darauf hinzuweisen, daß es nach H . Ritters Arbeit Über die Prinzipien der Ästhetik und Vischers Ausführungen über den dichterischen Schaffensprozeß nicht ganz so schlecht aussähe und um auf der anderen Seite Lotze doch Recht zu geben. Seiner Meinung nach seien die Arbeiten der Ästhetiker deswegen so wenig aufklärend, weil diese keine Dichter oder Künstler sind63. Hermann Cohen schreibt in dem schon zitierten Aufsatz: „ W i e wird aber und wirkt die Totalität der D i c h t u n g f ü r das psychologische Be61

62 63

Wilhelm Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, Leipzig 7 1922, Bd. II, S. 395. Hermann Lotze, a.a.O., S. 425 Fr. Spielhagen, a.a.O., S. 7. In bezug auf Vischer nimmt Spielhagen diesen Vorwurf in einer Anmerkung zurück (der Aufsatz „Finder oder Erfinder", um den es sich hier handelt, war 1871 entstanden), da dieser sich mittlerweile als Schriftsteller hervorgetan hatte. Seinen Roman Auch einer hatte Spielhagen sehr eingehend in dem Essay „Ein .humoristischer' Roman" besprochen.

Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs

60

wußtsein und w i e erfolgt der psychische Prozeß des D i c h t e n s ? Diese Fragen sind in prinzipienstrenger Fassung nicht gestellt, geschweige gelöst"64. Und Dilthey führt in seinem Aufsatz Über die Einbildungskraft der Dichter aus: „Die Phantasie des Dichters, ihr Verhältnis zu dem Stoff der erlebten Wirklichkeit und der Überlieferung, zu dem, was die Dichtung vorher erarbeitet hat, die eigentümlichen Grundgestalten dieser schaffenden Phantasie und der dichterischen Werke, welche aus dieser Beziehung entspringen: das ist Anfang und Ende aller Literaturgeschichte. Die Erforschung der dichterischen Phantasie ist die naturgemäße Grundlegung des wissenschaftlichen Studiums der poetischen Literatur und ihrer Geschichte"65. Von der Erforschung der dichterischen Phantasie durch die Erhellung des künstlerischen Schaffensprozesses war es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zum Erlebnisbegriff. Wie dieser vollzogen wurde, werden wir an Diltheys früheren Schriften zu demonstrieren versuchen60.

64

H. Cohen, „Die dichterische Phantasie und . . a . a . O . , S. 174.

85

In Zeitschrift

08

Das soll nicht heißen, daß Dilthey nicht auch andere Probleme zu dem Begriff des Erlebnisses führten, etwa das erkenntnistheoretische: wie kann man den wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß fassen, ohne Subjekt und Objekt, Wahrnehmung und Gefühl, Sinnlichkeit und Denken auseinanderzureißen. Als Lösungen boten sich hier der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens und das Erlebnis an. Der Zusammenhang des Seelenlebens sollte das Zusammenspiel aller Seelenkräfte beim Erfahren des Lebens garantieren. Mit dem Erleben wurde die Möglichkeit der unmittelbaren Erfassung des Lebens begründet. Wir verzichten hier jedoch auf eine umfassendere Behandlung dieser Problematik, da sie in der Diltheyliteratur schon oft genug beleuchtet worden ist; vgl. hierzu insbesondere den interessanten Artikel „Wilhelm Dilthey und das Problem der Metaphysik" von Manfred Riedel in Philosophisches Jahrbuch (76. Jg., 2. Halbbd., München 1968/69, S. 332—348).

für Völkerpsychologie

...,

a.a.O., Bd. X , S. 49.

II. DILTHEYS WEG ZUM „ERLEBNIS" ALS EINEM LITERATURWISSENSCHAFTLICHEN BEGRIFF 1. Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt a. „Satan in der christlichen Poesie" und der

Novalis-Essay

Auf den ersten Blick scheint Dilthey den Phantasiebegriff ebenso unkritisch zu gebraudien wie seine Zeitgenossen, d. h. als einen Begriff, der aus sich heraus verständlich ist und daher keinerlei Begründung mehr bedarf. So lesen wir in seiner ersten literaturhistorischen Arbeit „Satan in der christlichen Poesie", die er 1860 in Westermanns Monatsheften unter dem Pseudonym Wilhelm Hoffner veröffentlichte, gleich in dem ersten Satz: „Die Phantasie des Volkes hat die Meinungen und Bräuche, die sich auf die bösen Geister beziehen, die Vorstellungen vom Teufel und seinem Heer zu einer reichen und phantastischen Welt durchgebildet" 1 . An anderer Stelle spricht Dilthey von der „wilden Kraft einer jede Grenze des Schönen verachtenden Phantasie" 2 , dann wieder von einer „kräftigen", „kühnen", „nordischen" und auch „frommen" Phantasie. Aber der erste Blick trügt, denn trotz der wenig sorgfältigen Verwendung des Begriffs der Phantasie ist diese Arbeit der Versuch, zu verfolgen, wie sich, die Gestalt des Satans in der christlichen Poesie von Dante bis zu Klopstock immer stärker zu einer individuellen Figur verwandelt hat. Indirekt geht es hier also um die Gesetze der Phantasie bei einer Reihe von Einzelfällen. Dilthey beginnt, wie gesagt, seine Ausführungen mit Dante. Zwar hat Dante sein Höllenbild aus den „rohen Volksanschauungen" von der Hölle geschöpft, aber — was Dilthey im Einzelnen nachzuweisen sucht — ohne die Umbildung der mythologischen Wesen des Altertums und gewisse Vor-Bilder im Mittelalter wären die „düsteren Bilder Dantes" nicht möglich gewesen. Mit anderen Worten, selbst solche phantastischen Erscheinungen, wie wir sie in der Göttlichen Komödie antreffen, sind nicht aus der Luft gegriffen, wie es scheint, sondern ergeben sich aus der Ver1

1

Die große Phantasiedichtung und andere Studien der vergleichenden Literaturgeschichte, Göttingen 1954, S. 109. Ebenda, S. 110

62

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

Schmelzung überlieferter und selbst erfahrener Erlebnisse, aus den im Volke kreisenden Vorstellungen und der literarischen Tradition mit der regen Phantasie des Dichters. Ohne hier die weiteren Ausführungen Diltheys über den Satan im Volksschauspiel, bei Calderón, Milton, Klopstock und auch Goethe des näheren zu analysieren, da wir uns nicht in Einzelproblemen verlieren möchten, sei hier nur festgehalten, daß Dilthey in diesem Aufsatz an die Erkenntnis herankommt, daß auch die Produkte der Phantasie aus einem konkret-faßbaren Boden erwachsen sind, daß auch sie sich „realistisch" erklären lassen, wenn man sie nur im Zusammenhang mit den ihnen zugrundeliegenden Sinnesvorstellungen und Erfahrungen, dem vorgegebenen historischen und literarischen Stoff, den Vorstellungen des Volkes und schließlich den Weltanschauungen der Epoche bringt. Zwar hat Dilthey diese Erkenntnis nicht in der hier ausgesprochenen Form artikuliert, jedoch läßt sie sich ohne weiteres aus seinem Aufsatz herauslesen. Daß der Poesie „keine anderen Linien zu Gebote standen „als die, welche sie eben der Sinnenwelt, über die sie | sich | erheben wollte, entnahm" 3 , führt Dilthey gleich im ersten Absatz aus. Er gibt aber dann selber nur wenig Beispiele, an denen er dieses demonstriert. Es ist ein Gedanke, den er erst später in seiner Erlebnistheorie konkretisiert und zugleich weitergeführt hat. Im Mittelpunkt dieses Essays steht der zweite Gedanke, daß der Dichter seine Phantasiegebilde überlieferten Bildern aus der Literatur und verschiedenen Vorstellungen im Volke zu verdanken hat, die er dann selber umgestaltet. Den Einfluß der Weltanschauung auf die Phantasie entwickelt Dilthey nicht expressis verbis, aber deutlich genug. So heißt es zum Beispiel bei dem Vergleich zwischen Dantes und Miltons Auffassung des Satans: „Den ganzen Gegensatz beider Zeitalter zeigt aber sogleich die Auffassung des Satans in beiden Gedichten. War noch für Dante die Erde der ruhende Mittelpunkt der Welt, Himmel und Hölle ihr benachbart, war Satan jetzt in das endlose All hinausgestoßen, das die Weltkörper einsam durchirren. Die Anschauungen von Hölle und Satan verloren so ihre, ich möchte sagen, behagliche Bestimmtheit und tauschten dafür schrankenlose Erhabenheit ein. War Dante unerschöpflich in immer neuen wundersamen Gestalten gewesen, die dunkle Naturgewalt des Bösen zu bezeichnen, so faßte der Protestant diesen Gegensatz in einer sittlichen Schärfe, vor der diese bunte Manigfaltigkeit schwand, um der einfachen Darstellung des bösen Willens in Satan Platz zu machen. Wie jener sich an das Altertum anschloß, genau so benutzte dieser die Bibel. Zerfiel Dantes Gedicht in eine Reihe von Szenen und Bildern, so vergegenwärtigte das Miltons in strenger Einheit die Haupttatsachen der protestantischen Religion" 4 . 3

Ebenda, S. 109

Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

63

Im Novalis-Essay, der 1865 zum ersten Mal in den Preußischen Jahrbüchern erschien und fast unverändert in Das Erlebnis und die Dichtung einging, versucht Dilthey dagegen die Phantasietätigkeit vor allem psychologisch, aber auch aus dem Geist der Zeit heraus zu interpretieren, und zwar an einem Einzelbeispiel. Gleich zu Beginn dieses Essays kommt Diltehy auf Sophie von Kühn und deren spätere Verklärung in Mathilde, Cyane, Sophie und die Gestalt der Maria zu sprechen. Das ist der Punkt, bemerkt der Verfasser, wo wir imstande sind „in das innerste Verfahren von Hardenbergs dichterischer Phantasie zu blicken"5. Dilthey stellt fest, daß der Tod das vollzog, „was in Dantes Phantasie . . . die Entfernung vorbereitete" 6 . Dilthey führt nun weiter aus, daß Hardenbergs Phantasie eine „energisch konkrete Gestaltungskraft" abgehen mußte. Die halb kindlichen, unregelmäßigen Züge der Sophie „wuchsen in seiner Seele aus zur vollen Idealität einer reifen ausgeglichenen Natur", alles wurde in „eine grenzenlose Innigkeit aufgelöst". Für diesen Umwandlungsprozeß hat Dilthey einen sehr treffenden Begriff gefunden, den der „fortbildenden Phantasie" 7 . Hiermit ist es Dilthey gelungen, einen wesentlichen Zug des Dichtertums von Novalis zu charakterisieren. Die Empfänglichkeit für diese Art von Phantasie erklärt Dilthey vor allem aus Hardenbergs subjektiver Natur, dem das „Höchste, die Objektivität versagt" blieb. „Das Schicksal seines Lebens war für Novalis nicht wie für groß und rein intellektuell angelegte Naturen, nur ein Motiv zu umfassender Kontemplation. Es nahm ihn gefangen. Es gab seiner Denkart ihre Farbe; es bestimmte den Inhalt seiner religiösen Welt. Nur teilweise hat er sich später davon befreit" 8 , heißt es in dem Essay. Daher entsprach auch sein Phantasieleben lange Zeit seinen „Gemütszuständen" 9 . Aus seinem Entschluß zu sterben, entwickelte sich „ein Phantasieleben in der jenseitigen Welt" 10 . Er gibt sich diesen Phantasien ganz hin, versenkt sich völlig in seine Gesichte und Gefühle. „Mit Absicht, mit täglich sich wiederholender Anstrengung" nährte er in sich „die Intensivität der Phantasiebilder des Jenseits . . . , wie einst die Heiligen getan hatten"". Aus diesem Phantasieleben entstanden dann, wie Dilthey ausführt, die „Hymnen an die Nacht", die der Ausdrude dieser Leiden, das wahrhafte Bild seiner Schmerzen sind. 4

Ebenda, S. 123 Das Erlebnis und die Dichtung, • Ebenda, S. 278 ' Ebenda, S. 279 8 Ebenda, S. 281 s

Leipzig und Berlin '1919, S. 277. » Ebenda, S. 282 10 Ebenda, S. 285 11 Ebenda, S. 285 f.

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

64

In der gleichen Zeit beschäftigten ihn „krankhafte wissenschaftliche Phantasien" 12 , womit Dilthey die phantastischen Gedanken Hardenbergs über den Galvanismus meint. „Keine wissenschaftliche Tatsachen hat je verwegenere Schlüsse und trübere Träumereien hervorgerufen als diese (die Entdeckung Galvanis — K. S.) und die benachtbarte des magnetischen Schlafes"13, führt Dilthey hierzu aus. Doch sollte Novalis recht bald von seinem „pathologischen Zuständen" wegkommen. Neue Ereignisse traten an ihn heran. Als sehr wichtig für die Umgestaltung seines Bildes, das er von Sophie hatte, sieht Dilthey die Bindung mit Julie von Charpentier an. Die Folge war, daß sich auch „mitten in dem entwickeltsten Phantasieleben" das „Bild Sophiens in seiner Seele verwandeln" mußte. „Es verlor alle Individualzüge, welche sich auf die Verhältnisse der Erde bezogen"14. Dieser Vorgang erklärt dann auch, warum Sophie in einem solchen Grad verklärt werden konnte, daß sie sogar für die Himmelskönigin Maria als Vorbild diente. Doch lassen wir hier lieber Dilthey selber sprechen: Ihr Bild „verlor alle Individualzüge . . . Was war nun ihre halb kindische Sprödigkeit, ihr Wunsch, daß er gefalle, ihr übermütiges Spiel mit dem Vater? Aus dem Innersten ihres Bildes erhob sich tiefste Innigkeit: diese verzehrte nun jeden Zug, welcher der Welt gehört hatte: nur durch sie durfte er ja mit ihr in Gemeinschaft zu stehen hoffen. Religiöse Motive boten sich dar für dies Verhältnis zu einer Abgeschiedenen. Sie trat gewissermaßen in die religiöse Weltordnung ein und vertrat ihm jene überirdische Weiblichkeit, welche in der gnadenreichen Himmelskönigin dargestellt ist. Glanz und Freude der Welt, Glück und Schicksal auf ihr, rührten sie nicht an. Aus seinem individuellen Schicksal erhob sich seine Verehrung Marias wie ein subjektives mythologisches Gebilde" 14 . Während hier Dilthey die Ursachen für das Zerfließen der Sophiengestalt in der „freien Tätigkeit der Phantasie" sieht, versucht er auf den nächsten Seiten darzustellen, wie nun Hardenbergs allzu weitschweifende Phantasie festere Konturen annahm. Hierbei war nach Dilthey Hardenbergs Beschäftigung mit dem Christentum von besonderer Bedeutung. Jetzt fand er für seine unbestimmten Empfindungen, seine „grenzenlos schweifende Andacht und Sehnsucht" entsprechende Bilder, und zwar in dem „unbestimmten Antlitz der jenseitigen Welt". Man mag vielleicht erstaunt sein, daß Dilthey behauptet, Novalis habe seine grenzenlose Phantasie zu einem „bestimmten Bild" zusammengezogen, und zwar zu dem „unbestimmten Antlitz der jenseitigen Welt". Ist dies nicht ein 18 14

Ebenda, S. 287 Ebenda, S. 289

13

Ebenda, S. 288

Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

65

reiner Widerspruch? Ich glaube nicht, denn das Bild konnte nicht bestimmter sein als die Stimmungen und Gefühle. Das „unbestimmte Antlitz der jenseitigen Welt" hatte in diesem Falle bereits festere Konturen als die ursprünglich sich auflösende Phantasie, und gleichzeitig entsprach es der „Grundstimmung" Hardenbergs. Ähnlichen Gedankengängen begegnen wir dann auch bei Diltheys Bemerkungen zu den „Geistlichen Liedern". Dilthey verfolgt hier mit anderen Worten den „psychologischen Medianismus", um die Entstehung solcher Bilder, wie sie Novalis in seiner Dichtung geschaffen hat und die die sehr realistische Zeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht fremd anmuteten, zu erklären. Sein Ausgangspunkt ist, daß auch die phantastischsten Erscheinungen in der Dichtung im Sinnlichen verankert sind und sie ihre ÜberSinnlichkeit Bewußtseinsvorgängen zu verdanken haben, die vom Subjektiven aus gesehen von den Gemütsverfassungen bestimmt und von dem Stofflichen her von religiösen Anschauungen, wissenschaftlichen bzw. pseudowissenschaftlichen Vorstellungen, literarischen Bildern usw. genährt werden. Wenn es bisher, dem Lebenslauf Hardenbergs entsprechend, nicht unberechtigt war, daß sich Dilthey vor allem auf die Stimmungen und Gefühle des Dichters konzentrierte, so hätte sich dies nach dem Erscheinen des Wilhelm Meister nicht mehr verteidigen lassen. Aber hier ist auch der Punkt, wo Dilthey das Phantasieproblem sehr weit zu fassen versucht, indem er die Frage der Einwirkung eines literarischen Werkes auf das Dichten und Denken einer ganzen Generation aufwirft, wobei er mit dem Ausdruck „Phantasie einer Epoche" einen neuen Begriff prägt. Überhaupt ist seine Fragestellung völlig neu, noch heute hat sie mit gewissen Einschränkungen ihre literaturtheoretische Berechtigung: „Werden wir überhaupt jemals die Mittel finden, die Einwirkung wissenschaftlich darzustellen, welche die Phantasie einer Epoche durch ein Kunstwerk empfängt? Die Literaturgeschichte hat bisher dieses Problem nicht einmal klar gesehen; seine Lösung liegt in der Zukunft der Psychologie, welche freilich heute noch weit von der Einsicht in die Gesetze der Phantasie entfernt ist. Wir sehen nur gewissermaßen von außen, historisch, wie gewisse Gestalten und Entwicklungsformen in verschiedenen Modifikationen die Phantasie einer Epoche ganz erfüllen, wie anderseits eine bestimmte Form, in welcher die Phantasie die Gegenstände konzipiert, sich fortpflanzt. Es wäre schon ein ungemeiner Fortschritt, wenn wenigstens dieser historische Gesichtspunkt ins Auge gefaßt und durchgeführt würde" 15 . 15

Ebenda, S. 322

66

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

Es ist nach wie vor ein wenig geklärtes Phänomen, warum in einzelnen Epochen oder Zeitabschnitten, die Dichter in diesen und nicht anderen poetischen Bildern und Visionen „denken", warum zwischen den einzelnen literarischen Epochen grundlegende Unterschiede des poetischen Ausdrucks bestehen (etwa zwischen Barock, Klassizismus und Romantik oder Realismus und Expressionismus). Die Bilder und Figuren des Barock sind für die klassizistische Dichtungstheorie unannehmbar, genauso wie moderne Dichtung die Symbolik des realistischen Jahrhunderts als naiv und irreführend anzusehen pflegt. Moderne Literaturtheorie ist sich zwar der grundlegenden Unterschiede zwischen den „Phantasien der einzelnen Epochen" bewußt — so erklären Welleck und Warren in ihrer Theorie der Literatur: „Jeder Periodenstil hat seine eigenen charakteristischen Figuren, die seiner Weltanschauung Ausdruck geben. Bei elementaren Figuren, wie z. B. der Metapher, besitzt jede Zeit auch eine für sie charakteristische, metaphorische Methode" 16 —, Schwierigkeiten bereitet es jedoch, die Beweggründe und Ursachen zu finden, weswegen diese Epoche in dieser Weise „phantasiert", während eine andere Zeit in jener Art sich poetisch ausdrückt. Gewiß ließe sich generell sagen, daß man davon ausgehen müßte, wie die Dichter einer Zeit einerseits die sie umgebende Wirklichkeit rezipieren, sie die Dinge sehen, ihnen die Welt erscheinen kann oder sogar muß, die Dinge auf sie selber zukommen und wie sie anderseits auf die zeitgenössische Literatur reagieren, aber man bleibt damit nach wie vor im Allgemeinen stecken. Konkrete Methoden der Untersuchung sind damit noch nicht gewonnen. Einen materialistischen Ansatz zum besseren Verständnis des Wie der Entstehung von Bildern und Motiven in der Phantasie des Dichters und auch der Epoche finden wir in der deutschen Literaturwissenschaft bei Walter Benjamin, der in den materiellen Veränderungen die Ursache für eine neue Art der Wahrnehmungen und des Erlebens sieht. Benjamin hat sich allerdings nur auf die neueste Zeit beschränkt, in der ja unser Wahrnehmungsapparat besonders radikalen Veränderungen ausgesetzt ist. Aber vielleicht ist es auch für frühere Zeiten möglich, die Veränderungen im Leben der Menschen und die sich daraus ergebende neue Auffassung der Dinge sowie neue Art des „Phantasierens" aufzudecken, so weist z. B. Lukacs daraufhin, daß der Historismus und mit ihm der historische Roman aufkamen, als die Geschichte auch den einfachen Bürger zu erfassen begann, d. h. während und insbesondere nach der Französischen Revolution, als die Völker Europas in einen Krieg hineingezogen wurden, dem sie nicht mehr gleichgültig zusahen, wie zuvor den 16

René Wellek, Austin Warren, Theorie S. 175.

der Literatur,

Frankfurt/M. 1963,

Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

67

fast ausschließlich von Söldnern geführten Feldzügen der Feudalherrscher". Für die Erforschung der Abhängigkeit der „dichterischen Phantasie der Epoche" von der literarischen Entwicklung, nicht nur der Einwirkung eines Romans auf andere, wie im Falle des Wilhelm Meisters, steht uns hingegen eine größere Anzahl von Methoden zur Verfügung, u. a. dank der Motiv- und Symbolforschung, der Arbeiten der russischen Formalisten und Strukturalisten verschiedenster Schattierungen, der modernen Shakespeareforschung und den neuesten Untersuchungen auf dem Gebiet der Trivialliteratur. Am Ende des Novalis-Essays kommt Dilthey noch einmal auf das Problem der Gesetze der Phantasie zurück. Er glaubt, daß man diese noch weiter erhellen könnte, wenn man einmal außer Novalis auch Tieck und Hölderlin sowie die Entwicklung von der Früh- zur Spätromantik zum Gegenstand einer Untersuchung machen würde. Wörtlich heißt es: „Unser Studium der Gesetze, welchen auch die scheinbar regellosen Gestaltungen der Phantasie unterworfen sind, hat, wie es scheint, in dieser Entwickelung einen der am tiefsten unterrichtenden Stoffe. Wie konnte auf die Dichtung Goethes und Schillers dieser jähe Absturz, diese ganz andersartige Entwickelung, diese schrankenlose Herrschaft der Subjektivität, der Phantasie, der Hingabe an die Natur, ja fesselloser Willkür folgen? Sollten wir hierüber mehr sagen, so müßten wir auch von einer Darstellung der Entwickelung, des Lebensinhaltes und der dichterischen Form von Tieck und Hölderlin ausgehen können. Dann würde sich zeigen, welche Erfolge gewisse Bildungsbedingungen dieser Generation hatten, wie sich die Verschiedenheit der Individualitäten zu diesen Bedingungen, welche sie begrenzten und teilweise bestimmten, verhielt, — kurz eine wissenschaftliche Untersuchung wäre möglich" 18 . Diese „wissenschaftliche Fragestellung" sollte dann, wenn auch von Dilthey nicht in dem Maße beabsichtigt, zu einer Neuwertung der Romantik führen. Doch ist dies ein Problem, das den Rahmen unserer Arbeit sprengen würde.

b) Die Versuche der Ausnutzung der Ergebnisse der zeitgenössischen Psychologie zur Erhellung der Gesetze der Phantasie Von einer noch anderen Seite als im Novalis-Essay versucht Dilthey das Phantasieproblem in seinem Artikel „Phantastische Gesichtserscheinungen von Goethe, Tieck und Otto Ludwig" (1866) zu beleuchten. Er " G. Lukdcs, Der historische Roman, Berlin 1955, S. 15. 18 Das Erlebnis und die Dichtung, a.a.O., S. 347 f.

68

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

ist der Meinung, daß man den Geheimnissen der Phantasie viel besser auf die Spur käme, wenn man von der physiologischen Organisation der Dichter und jenen physiologischen Bedingungen ausginge, die die Höhenflüge der Phantasie erst ermöglichen. Dilthey führt hierzu drei Selbstbekenntnisse Goethes, Tiecks und Otto Ludwigs an, die dann audi teilweise wieder in der Poetik und in Das Erlebnis und die Dichtung zitiert werden. Bei Goethe handelt es sich um folgende Stelle aus seiner Anmerkung zu der Schrift von J . Purkenje Das Sehen in subjektiver Hinsicht: „Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß und mit niedergesenktem Haupte mir in die Mitte des Sehorganes eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander, und aus ihren Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich, die hervorsprossende Schöpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierrat einer buntgemalten Scheibe dachte, welcher dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich immerfort veränderte, völlig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope". Nach Dilthey entspringt diese Erscheinung „einer Erregung der Sinnesenergien, welche unser Vorstellen begleitet". Dieses Begleiten, gleichzeitige Einhergehen ist für Dilthey von ganz wesentlicher Bedeutung, denn nur durch eine physiologische Verstärkung kann er sich erklären, daß „das Leben der Phantasie zu einer solchen Macht erwächst". In diesem Sinne kommentiert er auch Goethes Vision, daß die „Gebilde der erregten P h a n t a s i e . . . immer mit auf dem Grunde unserer physiologischen Organisation | ruhen |, welche ihnen Farbe und Klang mittheilt" 19 . Dilthey versucht also die Entstehung der Goetheschen Gesichtserscheinung physiologisch zu erklären. Er nimmt vor allem ein besonderes „vorstellendes oder Gestalten bildendes" Organ an, das seinen Sitz im Gehirn hat. Dieses Organ kann sowohl äußere und innere Reize empfangen wie auch auf andere Organe, z. B. das der Licht- und Farbempfindungen (den Gesichtssinn), Reize fortpflanzen. Im Falle der äußeren Reizeinwirkungen entstehen die üblichen Phantasiegebilde, indem wir verschwommene, unklare Bilder, die wir am Tage oder in der Nacht wahrnehmen, ergänzen. Und auf ähnliche Weise werden auch die Phanta"

Westermanns Monatshefte, Bd. 20, S. 258. Jetzt in F. Rodi, Morphologie und Hermeneutik. Diltheys Ästhetik, Stuttgart 1969, S. 131—140 neu abgedruckt.

Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

69

siegebilde bei der Einwirkung innerer Reize hervorgerufen (d. h. wenn Bilder vor unseren Augen entstehen, ohne daß ein äußerer Reiz stattgefunden hat, z. B. wenn wir unsere Augen geschlossen haben). Der interessanteste Fall ist jedoch, wo das „vorstellende Organ" den Reiz erzeugt. „Wie jeder andere Reiz", schreibt Dilthey, „so ruft auch dieser aus der Phantasie stammende, von dem ihr eigenen Organ durch Sympathie sich fortpflanzende Organ der Licht- und Farbempfindungen nichts als Licht und Farbe hervor". Und wenn die so entstandenen Licht- oder Farbenerscheinungen wieder in die Organe des Gehirns zurückkehren, bleiben zwar nach wie vor Licht- oder Farbenerscheinungen, jedoch ist Jetzt ihre Wirkung auf die Phantasie um ein vielfaches stärker. Auf diese Weise entstehen nach Dilthey dann solche Gesichtserscheinungen, wie sie Goethe hatte. Keine dieser Phantasietätigkeiten muß völlig unbewußt erfolgen, etwa derart, daß der Dichter über sie die Herrschaft verliert. Im Gegenteil, nur wenn „geistige Gesundheit und affectlose Ruhe" die Phantasieerscheinungen begleiten, sind sie ein „Zeichen von Stärke der Einbildungskraft". Dilthey hebt daher sehr energisch die gesunde Phantasie — welche die Bilder abwandelt, „frei und doch gesetzlich, beweglich und doch wie mit ruhigem langem Athem sich schöpferisch zu erzeigen"20 — von der romantischen ab, von jenen Fällen, „in welchen die dichterische Phantasie die Herrschaft über sich selber verlor". Als Beispiel führt er u. a. Hölderlin an. Der entscheidende Fehler ist hier gewesen, „daß den phantastischen Gesichtserscheinungen, welche sich im Sehfeld des leidenschaftlich Irritierten zeigen, Objektivität zuerkannt wird" 21 . Von höchstem Interesse sei es allerdings, „an den Gedichten Hölderlins aus dieser dunklen Epoche den Gang der entfesselten Phantasie zu verfolgen", was dann Dilthey im gewissen Sinn in seinem Aufsatz „Hölderlin und die Ursachen seines Wahnsinns" ausführte. Dort betonte er erneut das Gesunde. Gleich zu Beginn des Artikels unterstreicht er, daß wir uns heute mit diesem Fall mit Ruhe beschäftigen könnten, weil in unserer Zeit solches unmöglich geworden sei. Für uns klingen solche Gedankengänge etwas muffig, ja spießig. In Diltheys ästhetisches Gebäude fügen sie sich jedoch lückenlos ein. In ihm hat gerade das Gesunde, das Maßvolle einen ganz zentralen Platz inne. Dieses Moment sollte man nicht vergessen, wenn man Diltheys Verdienste um die romantische Dichtung und um Hölderlin unterstreicht und ihn mit dem Aufkommen der Neuromantik in Zusammenhang bringt. Es lag ganz und gar nicht in seiner Absicht, einer Neuromantik das Wort zu reden. Gewiß ist Hardenberg erst durch sein Novalis-Essay wieder zu Ehren gekommen, aber wie wir schon zeigten, 20

Ebenda, S. 259

"

Ebenda, S. 263

70

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

hatte er gerade Novalis das Höchste, die Objektivität, abgesprochen und auf das Zerfließen seiner Phantasiebilder hingewiesen. Die Betonung des Gesunden ist auch der Grund, warum Dilthey eine besondere Vorliebe für Goethe und die deutschen Klassiker überhaupt hatte, warum er Shakespeare verehrte und sich mit den Realisten, vor allem mit Dickens — denn dieser war seiner Meinung nach nicht von dem Pessimismus eines Balzac durchdrungen — beschäftigte und den Naturalismus einer Kritik unterzog. Das Ziel des Aufsatzes über die Gesichtserscheinungen war es, die Besonderheit der dichterischen Organisation herauszuarbeiten. Dieses Problem beschäftigte Dilthey bis in sein hohes Alter. In diesem Aufsatz sieht er in der Stärke der Einbildungskraft, unterstützt durch bestimmte physiologische Bedingungen, ein Moment, das den Dichter von dem Nicht-Dichter unterscheidet. Es handelt sich also um einen quantitativen und nicht prinzipiell qualitativen Unterschied. Aus diesem Grunde besteht auch keine grundsätzliche Kluft zwischen dem Dichter und seinen Lesern. In dieser Hinsicht gehört Dilthey noch ganz in die vornietzscheanische oder vorgundolfsche Ästhetik, die bekanntlich noch keine Elitekunst kennt. Mit dem Problem der Besonderheit der dichterischen Organisation setzt sich Dilthey erneut in seinem Dickens-Artikel vom Jahre 1877 auseinander. Er vertritt dort die Ansicht, daß es in der zeitgenössischen Ästhetik leichter geworden sei, die Natur der dichterischen Genialität zu erforschen, da sie über strengere und exaktere Methoden verfüge. Besonders zwei Hilfsmittel stünden jetzt bereit: die Physiologie der Sinne und die sogenannte induktive Ästhetik, worunter Dilthey im Wesen die Selbstzeugnisse der Dichter über ihr Schaffen versteht, auf die er sich ja immer wieder berief und die ihn vielfach zu seinen poetologischen Verallgemeinerungen anregten. Inbezug auf die Physiologie des Auges und des Ohres ist Dilthey der Ansicht, daß sie „die Grundlage jeder exakten Wissenschaft der Künste sein muß" 22 . Allerdings sei es zur Zeit noch schwer zu zeigen, wie die spezifischen Begabungen durch die Sinne des Auges und Ohres bedingt werden, obwohl hier eine Anzahl von Tatsachen vorliegen, „welche geeignet erscheinen, ein erstes Licht in das Dunkel ursprünglicher dichterischer Anlagen zu werfen" 2 '. Eine dieser Tatsachen ist nach Dilthey der anregende Einfluß der Musik auf das Schaffen der Dichter. Die Musik wirke schöpferisch, weil eine innerste Verwandtschaft zwischen ihr und der Dichtung bestehe, und zwar in Hinsicht auf die Ausdrucksmittel, die „Schematischen Bilder von Ton22 28

Die große Phantasiedicbtung, a.a.O., S. 255 Ebenda, S. 259

Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

71

folgen, welche Sprache und Musik gemeinsam sind", die „beständige Association mit Bildern innerer Zustände" und schließlich in Hinsicht auf die Erregung solcher innerer Gemütszustände. Für Dilthey ist die Musik bekanntlich eine Kunst der inneren Welt. Sie ist es dank der Sprache geworden. Dilthey führt hierzu aus: „Weil in der Sprache, mag sie auch nur Vorstellungen mittheilen wollen, ein bewegtes Inneres in den Variationen des Tones, seinen Hebungen und Senkungen klingt und unser Gehör sich von Kind an gewöhnt, die Beziehungen solcher Unterschiede auf Gemüthszustände aufzufassen und, was untrennbar damit zusammenhängt, mitzuempfinden, empfängt die Musik von ihr Schemata solcher Beziehungen und wirkt in ihnen schöpferisch" 24 . So entsteht eine Verbindung zwischen Tonverhältnissen und Bewegungen des Inneren, worin das Wesen der Musik bestehen soll. Vom Physiologischen aus gesehen genüge es daher nicht, lediglich das Gehör zu analysieren, wie es Helmholtz getan hat, sondern man müsse auch die Gesetze der Tonbildung erforschen. Von der Aufdeckung dieser Gesetze erhofft sich Dilthey eine wesentliche Erhellung der genannten Verbindung. Von noch größerer Bedeutung f ü r das dichterische Schaffen ist die große Empfänglichkeit vieler Dichter f ü r Gesichtseindrücke. Diese entspricht der dichterischen Phantasie in ihrem eigentlichen Verstände, die zunächst nichts anderes sei, „als ein besonderes hohes Maß von äußerer Versinnlichung bloßer Vorstellungen"25. Die Fähigkeit zur Versinnlichung von Vorstellungen erachtet Dilthey f ü r eines der Grundmerkmale des dichterischen Genies. Dabei muß das Genie über einen großen Schatz von solchen Vorstellungen verfügen, d. h. es muß ein gutes Gedächtnis f ü r Bilder, Begebenheiten und Charaktere haben, um im gegebenen Augenblick aus dem Vollen schöpfen zu können. Unabdingbare Voraussetzung dieser Versinnlichung ist die „Lebhaftigkeit der Bilder", die nach Dilthey von dem Interesse, der Lust des Künstlers, mit der er sie sieht und als Vorstellungen reproduziert, abhängt. Versinnlichung von Vorstellungen, Treue des Gedächtnisses und Interesse zeichnen sowohl den erzählenden Dichter wie auch den bildenden Künstler aus. Erst das „Mitempfinden der inneren Zustände der Menschen, der Menschenwelt" unterscheidet beide. Zu einer tieferen Erfassung der Besonderheit des epischen Dichters sollte Dilthey erst bei der Neufassung des Dickensessays kommen. Seine Bemerkungen über die N a t u r des erzählenden Genies schließt Dilthey mit dem Satz, daß sich unter allen Umständen jede Genialität aus den genannten Elementen zusammensetzen müsse, das erfindene Vermögen des Erzählers sei stets der Effekt einer Mischung dieser „psychophysischen Anlagen". 24

Ebenda

25

Ebenda, S. 260

72

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

Ober einen Versuch, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Physiologie und Psychologie für die Erklärung der dichterischen Phantasietätigkeit zu verwerten, ist Dilthey nie hinausgekommen. Im Gegenteil, im Laufe der Zeit gelangte er immer mehr zu der Überzeugung, daß von der zeitgenössischen naturwissenschaftlich eingestellten Psychologie keine grundlegende Erkenntnis der schöpferischen Tätigkeit des Menschen zu erwarten sei, da ihre Methoden keine komplexe Erfassung der Psyche des Menschen erlauben. Diese Überzeugung führte ihn schließlich zu einer prinzipiellen Kritik an den herrschenden psychologischen Richtungen, die er u. a. in seinen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie darlegte, nachdem er sich vorher selber einige psychologische Grundbegriffe erarbeitet hatte, die ihn in der Ansicht erhärteten, daß sich die Psychologie in einer ganz anderen Richtung bewegen müßte, wenn sie den komplizierteren psychologischen Prozessen wirklich gerecht werden will. Ohne auf diesen Fragenkomplex jetzt näher einzugehen, sei hier nur kurz darauf hingewiesen, wie problematisch es tatsächlich war, sich nicht nur auf die zeitgenössische Psychologie und Physiologie zu berufen, sondern sie auch zum direkten Ausgangspunkt zu nehmen. Nehmen wir beispielsweise Helmholtz' physiologischen Erkenntnisse über den Gehör- und Gesichtssinn, die Dilthey in seinem Dickens-Artikel meint, wenn er schreibt, daß die Physiologie der Sinne ein wichtiges Hilfsmittel für die moderne Ästhetik darstelle. Helmholtz hatte bekanntlich aus seinen Erkenntnissen die Schlußfolgerung gezogen, daß unsere Empfindungen bestimmte Wirkungen sind, die in unseren Sinnesorganen durch äußere Ursachen hervorgerufen werden. Diese Wirkungen hängen nach Helmholtz einerseits von dem affizierenden Objekt und anderseits von dem perzipierenden Sinnesorgan ab. Die hieraus entstehende Empfindung ist kein getreues Abbild des jeweiligen Objekts, sondern nur dessen Zeichen, wobei jedoch eine eindeutige Zuordnung zwischen Objekt und Zeichen besteht; die wirkliche Welt wird also durch ein Zeichensystem widergespiegelt. Welche Schlußfolgerungen konnte nun die Ästhetik aus den Helmholtzschen physiologischen Entdeckungen und seiner Theorie ziehen? Theoretisch waren zumindest drei Schlüsse möglich: erstens die Rolle der sinnlichen Eindrücke bei der Entstehung von Kunstwerken stärker herauszuarbeiten; zweitens, die Abhängigkeit des Künstlers von dem Bau seiner Sinnesorgane zu zeigen; drittens zu unterstreichen, daß das Kunstwerk kein getreues Abbild der äußeren Welt ist, sondern nur ein Zeichensystem darstellt. Wirklich durchführbar war im Grunde nur der erste Punkt — was ja auch, wie wir bereits andeuteten, Dilthey versucht hat —, während der zweite

Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

73

schon aus praktischen Gründen nicht realisiert werden konnte. Der dritte Schluß war für die damalige Zeit der realistischen Literatur gleichsam unaktuell. J a , die Helmholtzsche Theorie selbst war durch den Eindeutigkeitsbezug im Grunde genommen „realistisch". Dilthey hat die Helmholtzsche Zeichentheorie für seine ästhetischen Betrachungen nicht zu verwerten gesucht. Ob er sie akzeptierte, läßt sich schwer sagen. Auf jeden Fall veranlaßte sie ihn zu einer gewissen Vorsichtigkeit und Zurückhaltung bei Urteilen, die die Frage der Widerspieglung äußerer Objekte im Kunstwerk betrafen. Den ersten Teil der Helmholtzschen Schlußfolgerung oder Theorie erkannte Dilthey als „Durchschnittsfall" an. Im Dickensartikel heißt es: „ . . . ein im äußeren Sehfelde erscheinendes Bild ist im Durchschnitt, d. h. unter mittleren physiologischen Bedingungen, gebunden an einen bestimmten veränderten Zustand unserer Netzhaut, und dieser veränderte Zustand ist wieder seinerseits im Durchschnitt, d. h. unter den meist herrschenden physiologischen Bedingungen, gebunden an eine äußere Ursache" 88 . Ausgenommen müssen jedoch jene Tatsachen werden, „in welchen Bilder im Sehfelde gesehen werden, ohne daß äußere Ursachen eine bestimmte Affektion der Netzhaut hervorriefen. Das Reich solcher Fälle ist das des Traumes, der Tatsachen über Somnambule, der Visionen, der phantastischen Gesichtserscheinungen und einiger Formen des Wahnsinns. Die Bilder äußerer Dinge, zu denen sonst das Gehirn sein Material vom Auge her empfängt, sind hier nur mit im Gehirn stattfindenden Zustandsveränderungen verbunden.. ." 28 . Die Ausnahmefälle sollten Dilthey später in seinen Betrachtungen über den Unterschied zwischen Wahnsinn und dichterischer Einbildungskraft auf neue Ideen über das Schaffen des Künstlers bringen. Interessant ist jedoch, daß Dilthey hier im Dickens-Aufsatz auch für die von innen hervorgerufenen Bilder eine physiologische Erklärung erwartet, die seiner Meinung nach durch die Erforschung der bei solchen Erscheinungen eintretenden Zustandsveränderungen im Gehirn gebracht werden kann. Daß man damit dem eigentlichen Ziel, der Erhellung des künstlerischen Schaffens und Entstehung von Phantasiegebilden, nicht wesentlich näher gekommen wäre, braucht nicht weiter betont zu werden. Dilthey ist daher auch diesen Weg nie konsequent gegangen (indem er etwa genau die Ergebnisse der Psychiatrie und Gehirnforschung verfolgt hätte, wenngleich er einige französische psychiatrische Arbeiten gelesen hat), sondern er versuchte nur zu erkunden, wohin dieser führen könnte, indem er sozusagen eine Strecke des Wegs lief. 86

Ebenda

74

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

Ebenso problematisch stand es mit der Assoziationspsychologie, auf die sich Dilthey sehr oft berief. Die Assoziationsgesetze als solche sah er als gesichert an. Doch bestehe die Gefahr ihrer Verabsolutierung. Man dürfe nicht übersehen, daß diese Gesetze nur gewisse einfache Tatbestände widerspiegeln und daher wenig geeignet seien, ein helleres Licht auf die schöpferischen seelischen Prozesse zu werfen. Diesen kritischen Gedanken hat Dilthey u. a. in seinem Dickens-Aufsatz zum Ausdruck gebracht, wo er schreibt: „Von der gewöhnlichen starren Fassung der Assoziationsgesetze führt kein Weg zu der Erklärung der Imagination eines Dichters oder eines Künstlers. Aber diese Gesetze sind auch nur der unvollkommene Ausdruck eines Tatbestandes, der in Wirklichkeit unvergleichlich lebensvoller und schöpferischer ist"27. Trotz dieser Einschätzung versuchte Dilthey, wie gesagt, immer wieder die Assoziationsgesetze als Erklärung mit heranzuziehen. Einen großen Einfluß hatte in dieser Hinsicht die analytisch-empirische Ästhetik Fechners auf ihn ausgeübt, dessen Verdienst es u. a. war, die experimentelle Psychologie und experimentell-psychologische Ästhetik in Deutschland geschaffen zu haben. Fechner war es auch, der den Begriff der ästhetischen Assoziationsgesetze aufgestellt und das von Weber und von ihm selber präzisierte Gesetz der Empfindungsschwelle in seine Ästhetik eingefügt hatte. Am häufigsten beruft sich Dilthey in seiner Poetik auf Fechner, wobei er versucht, dessen Prinzipien der Ästhetik mehr vom Gefühl aus zu begründen. Eine beachtenswerte kritische Einschätzung der sogenannten analytischen Ästhetik von Home bis Fechner gibt Dilthey in seinem Aufsatz Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe (1892). Diese Einschätzung zeigt vielleicht am besten, daß auch der analytischen Ästhetik, die sich immer stärker naturwissenschaftlicher Methoden bediente, Grenzen gesetzt waren, die sie aus sich heraus, ohne die Anwendung anderer Methoden, nicht überschreiten konnte. Die Diltheysdie Kritik an dieser Ästhetik läßt sich in vier Punkten zusammenfassen. Erstens ist die analytische Ästhetik (die man heute vielleicht auch Psychologie der ästhetischen Wirkungen nennen könnte) dadurch, daß sie von der Wirkung ausgeht, nicht imstande, die sinnlich-brutalen Gefühle von dem Gefühl des Schönen zu unterscheiden; sie vermag nicht die ästhetischen Gefühle von den nichtästhetischen abzugrenzen. Es ist daher notwendig, die analytische Ästhetik mit einer Methode zu verbinden, die die Bestimmung des Begriffs des Schönen gestattet; denn nur auf diese Weise sind Ästhetik und Kunstkritik zu ihrem heiligsten Amt gewappnet, „Wache zu halten und die brutalen, durch die direkte Beziehung auf den Zuhörer wirksamen Gefühls- und Sinneseffekte als solche zu kennzeich27

Ebenda, S. 299

Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

75

nen und zu bekämpfen" 28 . Dieses Problem war in den neunziger Jahren, als sich der Naturalismus vollends durchzusetzen begann, besonders aktuell. Dilthey fürchtete, daß diese neue Kunstrichtung zu „dem niederen Sinnlichen und Brutalen" herabgleitet. Eine weitere Grenze ist der analytischen, auf den Assoziationsgesetzen fußende Ästhetik durch ihr induktives Verfahren gesetzt, das sie lokal und zeitlich einschränkt. Auch lasse sich immer nur eine bestimmte Anzahl von Personen befragen. Die weitere Entwicklung der Testmethoden hat Dilthey jedoch Unrecht gegeben. Es ist sehr wohl möglich, von einer kleinen repräsentativen Gruppe auf den Allgemeinzustand zu schließen. Das schwerste Argument gegen die analytisch-experimentelle Ästhetik ist das der zeitlichen oder historischen Beschränktheit. Diese Barriere kann sie nicht überspringen. Es läßt sich nicht mehr induktiv feststellen, wie es bei Dilthey heißt, warum das Formgefühl der Generation von Perikles ein gänzlich anderes ist als das der Barockzeit. Die Uberwindung dieser Schwierigkeit kann nur durch eine „Erweiterung des Gesichtskreises vermittels der geschichtlichen Betrachtungsweise geschehen"29. Drittens wird die analytische Ästhetik, die immer nur die Wirkung einzelner disperater Elemente des Kunstwerks prüft, mit dem Problem seiner Gesamtwirkung nicht fertig. Schließlich ist ein Kunstwerk nicht die einfache Summe bestimmter „wirkungskräftiger Eigenschaften". Modern gesprochen fehlt es dieser Ästhetik an strukturalistischen Methoden. Dilthey, als entschiedener Anhänger von Ganzheitsbetrachtungen, sieht diesen Mangel, ohne jedoch selber einen Ausweg für die Literaturtheorie aufzeigen zu können. Viertens kann diese Ästhetik nicht die Frage nach der Funktion der Kunst in unserem Geistesleben beantworten. „Soweit diese Frage einer strengeren Lösung zugänglich ist", erklärt Dilthey, „muß man dieselbe von der Verbindung der Analysis der Eindrücke mit der geschichtlichsozialen Betrachtung der Kunst erwarten". Die Richtigkeit des Diltheyschen Einwurfs braucht nicht unterstrichen zu werden. Um das hier entworfene Bild von den Schwierigkeiten, den künstlerischen Schaffensprozeß mittels der zeitgenössischen physiologischen und psychologischen Erkenntnissen zu fassen, abzurunden, sei noch kurz der sogenannte physiopsychische Parallelismus erwähnt, der in jener Zeit von den experimentellen Psychologen, insbesondere von Fechner und Wundt, vertreten wurde. Der physiopsychische Parallelismus behauptet 28

"

Gesammelte Schriften, Bd. VI, Göttingen 1958, S. 263 Ebenda, S. 264

76

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

bekanntlich, daß es keine Wechselbeziehung zwischen Leib und Seele gibt, sondern nur eine Parallelität, d. h. jede seelische Regung soll von einem entsprechenden physischen Vorgang begleitet werden. In der Geschichte der Philosophie begegnen wir der These von dem Nebeneinander der seelischen und körperlichen Vorgänge bereits — wenn auch in verschiedener Form — im 17. Jahrhundert bei den Okkasionalisten, bei Spinoza und Leibniz. Interessant ist nun, daß auch die naturwissenschaftliche Psychologie des 19. Jahrhunderts (und später die Positivisten, wie Mach und Schlick) ohne die spekulative Annahme eines Parallelismus nicht auskam. Nur so konnte sie ihren „positiven" Standpunkt, d. h. ihre Beschränkung auf das experimentell Faßbare durchhalten, ohne das Seelische als eine besondere qualitative Erscheinung zu verleugnen. Dank dieser Annahme war es zwar der experimentellen Psychologie möglich, sich von dem spekulativ-metaphysischen Geist, der bis dahin in der Psychologie vorherrschte, zu befreien und sie damit aus der Philosophie herauszulösen, doch zur Erklärung der eigentlich schöpferischen Prozesse vermochte sie unmittelbar (wohlbemerkt unmittelbar) nur wenig beizutragen, denn es war, zumindest bei den damaligen experimentellen Methoden, unmöglich, für jede „psychische Bewegung" einen entsprechenden physischen Prozeß zu finden. Hier muß allerdings betont werden, daß Wundt diesen Mangel selber recht bald erkannte, was ihn veranlaßte, den physiopsychischen Parallelismus auf die elementaren psychischen Prozesse einzuschränken und ihn auf die komplizierteren psychologischen Erscheinungen nicht anzuwenden. Er erklärt schließlich den Parallelismus für ein bloßes heuristisches Prinzip. Über eine Abschwächung bzw. Entschärfung des Parallelitätsprinzips ist Wundt nicht hinausgekommen. Dem widerspricht auch nicht seine Behauptung, daß Leib und Seele eine ursprüngliche Einheit bilden, denn gleichzeitig konstatiert er eine qualitative Unterschiedlichkeit zwischen dem Körperlichen und Seelischen, ohne jedoch eine Wechselwirkung anzunehmen. Damit werden beide Sphären wiede völlig voneinander getrennt und die alte Zweigleisigkeit bleibt erhalten. Die Entschärfung der Parallelismusthese bietet Wundt allerdings den Vorteil der besseren Erklärung der schöpferischen psychischen Prozesse. Dadurch daß er nicht für jede psychische Erscheinung eine physische suchen muß, kann er komplizierte „psychische Bewegungen" durch sogenannte „psychische Synthesen", d. h. durch die Verbindung psychischer Elemente zu etwas qualitativ Neuem erklären. Mit anderen Worten, die Sphäre des Seelischen erhält jetzt eine größere Autonomie. Damit kann auch das Schöpferische wieder stärker in das Blickfeld der Psychologie treten. In seinen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psycho-

Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

77

logie interpretiert Dilthey diese Entwicklung dahin, daß die „erklärende Psychologie", zu der er auch die Wundtsche rechnet, an Einfluß verliere und die von ihm geforderte beschreibende Psychologie sich durchzusetzen beginne. Die weitere Entwicklung der Psychologie hat Dilthey jedoch nur zum Teil Recht gegeben.

c. Die Phantasie und die Technik der Dichter Eine Erhellung der Gesetze der Phantasie versprach sich Dilthey auch durch die bessere Erforschung der Arbeitsweise und Technik der Dichter. Es war die Zeit, in der ebenfalls auf dem Gebiete der Poetik das Wort „Technik" zum Modewort wurde. Es tauchte sogar in Buchtiteln auf (Gustav Freytags Technik des Dramas, das Dilthey sofort nach ihrem Erscheinen (1863) rezensiert hatte, Spielhagens Beiträge zur Theorie und Technik des Romans). Spekulationen, wie sie in der Kunstphilosophie romantischer, hegelianischer und nachhegelianischer Prägung üblich waren, galten nicht mehr. Von theoretischen Verallgemeinerungen wurde praktische Anwendbarkeit erwartet. Spezialisierung30 und breite Behandlung technischer Fragen war die Folge. Für die einzelnen Gattungen gab es jetzt bestimmte „Fachleute": für die Novelle Theodor Storm, Georg Reinbeck und Paul Heyse, für den Roman Freytag, Spielhagen und Fontane usw.31, wobei diese Spezialisten bezeichnenderweise mehr als Praktiker denn als Theoretiker hervortraten. In ihren „theoretischen Techniken", wie man die theoretisch-kritischen Aufzeichnungen dieser Schriftsteller nennen kann, versuchten sie die Erfahrungen, zu welchen sie durch eigenes Schreiben und durch Analyse gelangt waren, in verallgemeinernder Form auszudrücken und ihren Zeitgenossen zu vermitteln. Auch Dilthey sucht nach neuen Wegen, um die Schaffensweise des Dichters in den Griff zu bekommen und von hier aus allgemein poetologische Schlußfolgerungen zu ziehen. Die ersten Bemerkungen Diltheys über Fragen der poetischen Technik finden wir in der erwähnten Rezension des Buches von Gustav Freytag. Im Prinzip stimmt Dilthey mit den Auffassungen Freytags so

S1

B. Markwardt setzt mit Redit „den zunehmenden Zug zur Spezialisierung" auf dem Gebiete der Literaturtheorie mit der großen Rolle, die damals die Technik als solche zu spielen begann, in Verbindung. Vgl. seine Geschichte der deutschen Poetik, a.a.O., Bd. IV, S. 336. Vgl. ebenda Kap. IV: „Gattungsgesdiidttlidie Sonderbeiträge"

78

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

überein. So bezeichnet er beispielsweise die folgenden Ausführungen Freytags als eine treffende Bemerkung: „Der Dichter der Gegenwart ist geneigt, mit Verwunderung auf eine Arbeitsweise hinabzusehen, welche den Bau der Szenen, die Behandlung der Charaktere, die Reihenfolge der Wirkungen nach einem überlieferten Lehrgebäude fester technischer Regeln einrichtete. Leicht dünkt uns solche Beschränkung der Tod eines freien künstlerischen Schaffens. Nie war ein Irrtum größer. Gerade ein ausgebildetes System von Einzelvorschriften, eine sichere, in volkstümlicher Gewohnheit wurzelnde Beschränkung bei Wahl der Stoffe und Bau der Stücke sind zu verschiedenen Zeiten die beste Hilfe der schöpferischen Kraft gewesen. Ja sie sind, so scheint es, notwendige Vorbedingungen jener reichlichen Fruchtbarkeit, welche uns in einigen Zeiträumen der Vergangenheit rätselhaft und unbegreiflich erscheint"32. Bei aller Anerkennung dieser Gedankengänge interpretiert Dilthey die poetische Technik viel subjektiver als Freytag, wodurch sich die Grenzen zwischen den einzelnen Begriffen verwischen. So erfolgt einerseits eine weitgehende Identifizierung zwischen poetischer Technik und Arbeitsweise (eine Verschiebung des Technischen ins Subjektive), während anderseits Kategorien des Schöpferischen mit Hilfe der poetischen Technik erklärt werden (Verschiebung des Subjektiven ins Technische). Diese Verschiebung läßt sich auch in der genannten Rezension Diltheys beobachten. Er macht sich dort u. a. Gedanken, ob es nicht auch in der Lyrik eine Art technisches Vorgehen, eine Verfahrensweise bzw. ein Musterbild gibt: „So können wir sagen, daß der vollkommene Typus größerer rein lyrischer Gedichte von Goethe darin gefunden sei, daß die Empfindung von einer Situation aus beginnend sich in sich selber vertieft. Aber hiermit ist doch nur eine Aufklärung über den vollkommenen lyrischen Vorgang, nicht ein bindendes Gesetz gegeben. Die Ästhetik, gleichwie die Ethik, hat es nicht mit Naturgesetzen, sondern mit Musterbildern zu tun" 83 . Diesen „vollkommenen lyrischen Vorgang" hat dann Dilthey zu dem Gesetz (in dem eben formulierten Sinne) ausgedeutet, daß ein Dichter immer Erfahrenes, Erlebtes in der Dichtung, also nicht nur in der Lyrik, transformiere. In seiner Poetik figuriert dieses Gesetz als der erste Grundsatz der „poetischen Technik". Mit diesem Grundsatz hat sich allerdings Dilthey recht weit von der Freytagschen Denkweise wegbegeben. Wir haben es hier mit einer für Dilthey charakteristischen Art zu tun, Gedanken seiner Zeit aufzunehmen und sie seinen eigenen Ideen gemäß umzumodeln. In diesem Fall ist der Glaube 32

Gustav Freytag, Die Technik des Dramas,

33

Die große Phantasiedichtung,

a.a.O., S. 150

Neudruck Darmstadt 1965, S. 4

Das Problem der Phantasie als Ausgangspunkt

79

an eine bestimmte Verfahrensweise geblieben, die jedodi vom Psychologischen her begründet wird und damit nur noch wenig mit dem ursprünglich „Technischen" zu tun hat. Wir werden noch in einem besonderen Kapitel zu untersuchen haben, was Dilthey unter seinem Begriff der „poetischen Technik" überhaupt versteht. Wie sehr sich die Begriffe Arbeitsweise und Technik überschneiden, zeigt Diltheys Artikel über „Vittorio Alfieri". Diese Arbeit ist gleichzeitig ein erneuter Beweis dafür, von welch verschiedenen Seiten aus Dilthey das Problem der Einbildungskraft beleuchtet. „Wer selber auf irgendeinem Gebiete produktiv ist", heißt es dort, „weiß, wie die Technik der Arbeit zuerst selber entspringt aus den inneren, meist unbewußten Absichten und Ideenrichtungen und aus von außen bedingten Gewöhnungen, alsdann herrschend wird in einem Geiste und in hohem Grade die N a t u r seiner Schöpfungen bedingt. Eine methodische Literaturgeschichte sollte diese Technik jederzeit der Analyse der Schöpfungen mit zugrunde legen. Aber wie unsere Literaturgeschichte einmal ist, noch ohne strengere wissenschaftliche Methode, geht sie selbst an den ausdrücklichen Erklärungen der produktiven Köpfe über die Technik ihrer Arbeiten achtlos vorüber" 34 . Im folgenden führt nun Dilthey aus, wie sich die Werke Alfieris aus seiner Arbeitsweise erklären lassen: „Also Alfieri hat beinahe alle seine Werke seit dem Filippo so hervorgebracht, daß er dreimal, jedesmal nach Verlauf eines Zwischenraumes, ihre Ausbildung aufnahm. Wenn ein Stoff in ihm aufging, so hat er ihn oft lange mit sich umhergetragen, besonders in der späteren Zeit, öfter ging er ihm sogleich in einer Gliederung von Personen und Szenen auf, welche unmittelbar und sofort in höchster Deutlichkeit vor seiner Seele stand. In jedem Falle war das erste, was er zu Papier brachte, die Gliederung der Tragödie, in welcher von Szene zu Szene in kurzen Worten der Verlauf der H a n d lungen und Reden entworfen wurde. Es waren das zwei oder drei kleine Seiten, welche enthielten, was er das Ideale seines Sujets nannte. Wenn er dann eine längere Zeit danach, und zwar so viel, als genügte, damit die Einteilung der Szenen ihm wieder ganz unbekannt geworden war, diese Blätter zur H a n d nahm: » d a n n fühlte ich angesichts der Beschreibung von Szene auf Szene plötzlich mein H e r z und meinen Sinn von einem Tumult der Gedanken und der Affekte erfüllt, welcher, sozusagen, mit lebendiger Kraft mich zum Schreiben hinzwang «. Sooft die Blätter mit solcher Macht nicht auf ihn wirkten, veränderte oder verbrannte er sie. Und nun ergriff ihn der Stoff, ergriffen ihn die Bilder der einzelnen Szenen mit einer solchen Gewalt, d a ß er jetzt in Prosa in e i n e m Zuge, "

Ebenda, S. 221 f.

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

80

ohne nur ein Interpunktionszeichen zu setzen oder irgendeinen Satz zu ändern, die ganzen Tragödien vom ersten bis zum letzten Satz in wenigen Tagen niederschrieb, zumeist einen A k t an einem Tage, und er erzählt, daß fast immer am sechsten Tage die Tragödie solchergestalt » z w a r nicht gemacht, aber zur Welt geboren worden sei«. Dann erst wieder in einer späteren Zeit nahm er die so mehr gewordene als gemachte Tragödie zur H a n d , um sie nun entweder, wenn sie nicht hinlänglich sein Gemüt bewegte, zu vernichten oder aber die Einzelarbeit des Künstlers an ihr zu beginnen, die langsame, mühsame Arbeit ihrer Ausgestaltung in Versen, auf welche alsdann immer wieder neue Durcharbeitungen und Umgestaltungen folgten" 3 5 . Dieses Verfahren erkläre auch, warum Alfieris Tragödien einerseits so innerlich geschlossen und spannungsgeladen und anderseits stilistisch und künstlerisch derart formvollendet seien. Dilthey glaubt, wie so häufig, dieses Verfahren für das „dramatische Schaffen als solches" verallgemeinern zu können, wenn vielleicht auch nicht für das der Engländer und Spanier, so doch der Griechen, Franzosen und Italiener. Alle echten Tragödiendichter hätten so gut wie gar keine neuen Begebenheiten erfunden, sondern fast immer im Gegensatz zur erzählenden Prosa nach einer Vorlage gearbeitet, was „offenbar mit der N a t u r der dramatischen Phantasie überhaupt" zusammenhänge, denn die N a t u r der dramatischen Poesie fordere „von der Tragödie eine solche Folgerichtigkeit des Verlaufs, daß eine erfundene Handlung jederzeit tot und mechanisch als eine bloße theatralische Fiktion sich darstellen würde. N u r der Prozeß, durch welchen frei und mit einer gewissen Willkürlichkeit gebildete Begebenheiten dem Gesetze des Dramas unterworfen werden, gibt der Tragödie die Wahrheit des Lebens" 3 6 . Daher mußte sich Alfieris Arbeitsstil als ein besonders geeigneter erweisen. Indem er „den szenisierten Entwurf sich selber fremd werden ließ, verschaffte er sich künstlich sozusagen, den Vorteil, den Stoff in einer der Erzählung ähnlichen Gestalt wie ein objektives Ereignis auf seine Phantasie wirken zu lassen. So steigerte er die Lebendigkeit des Vorganges und die lebenswahre Macht der Charaktere und der Leidenschaften in seinen Tragödien, und er hat die Franzosen in dieser Beziehung weit überboten" 3 7 . Damit hat er jedoch nicht, wie Dilthey meint, die Nachteile, die sich aus der N a t u r des Stoffes ergeben, überwinden können, die darin bestanden, daß dem übernommenen Stoff bereits das „singulare, massive, reale Leben" verloren gegangen war und sich daher eine Einförmigkeit der Tragödien nicht vermeiden ließ. Dieses Moment sei bei Alfieri durch seine Arbeitstechnik 55 37

Ebenda, S. 222 Ebenda, S. 224 f

36

Ebenda, S. 223

Erfahrungen für den dichterischen Schaffensprozeß

81

nur noch gesteigert worden, denn „seine Methode raschesten Niederschreibens" ließ „der Erfindungskraft schlechterdings keinen Raum, sich in lebenswahren und für sich erfreulichen Erfindungen zu entfalten. So kommt es, daß Alfieri das Verfahren der Alten noch steigerte und dahin gelangte, sozusagen den Extrakt eines Stoffes, die einfachste Form der Verkettung von Leidenschaften und Handlungen in ihm in kürzester Form zur Darstellung zu bringen"37. Die Arbeitsweise, die Form der jeweiligen Gattung und die Einbildungskraft bedingen und begrenzen also einander. Die Arbeitsweise lenkt die Theorie des Dichters in bestimmte Bahnen, manchmal in einem Grade, daß die Erfindungskraft über keinen rechten Raum mehr verfügt. Gleichzeitig drängen bestimmte Gattungen, wie das klassisch gebaute Drama, eine ganz besondere Arbeitstechnik auf, was das Beispiel Alfieris deutlich zeigt. Indirekt wird damit die Theorie der freischwebenden Phantasie, wie sie etwa bei Schelling zum Ausdrude kommt, zurückgewiesen. In direkter Form formuliert Dilthey diesen Schluß dann in seinem Essay über Die Einbildungskraft der Dichter in dem Satz: „Die Phantasie ist eben nicht allmächtig wie unphilosophische Schwärmer annehmen"38, was zwar nicht gegen Schelling, jedoch gegen den schon erwähnten Schellingianer Frohschammer gerichtet war.

2. Die Bedeutung der inneren und äußeren Erfahrungen für den dichterischen Schaffensprozeß 1877 erschienen die Goethevorlesungen Hermann Grimms, die Dilthey veranlaßten, sich über das Verhältnis zwischen Phantasie und Erfahrung im Kunstschaffen Gedanken zu machen. Es war vor allem die Methode, mit der Grimm die Entstehung der dichterischen Werke Goethes zu erklären suchte, die Dilthey zu seinem literaturtheoretischen Essay Über die Einbildungskraft der Dichter (1878) anregte. Grimm ging von den persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen Goethes aus, diese sind eine Art positivistischer Grundlage für seine Darlegungen. Als Beispiel für seine Methode mögen hier die beiden Vorlesungen über den Werther dienen. Grimm beginnt mit Goethes Aufenthalt in Wetzlar, dem Tatbestand, wie er es nennt. Hierauf stellt er die Frage: „Wie war es Goethe möglich, aus diesem einfachen Erlebnisse, bei dem Leidenschaft und 38

Zeitschrift für Völkerpsychologie..., Bd. X, S. 99

82

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

gewaltsame Szenen fehlen, den ergreifendsten Deutschen Roman zu bilden, der je geschrieben worden ist?". Der nächste Satz lautet denn auch: „Das zu untersuchen, wird uns beschäftigen". Nun wird Erlebnis an Erlebnis gereiht, die nach Grimm alle nötig waren, damit endlich der Werther entstehen konnte. So heißt es an einer Stelle: „Die Lotte . . . genügte in ihrem einfachen Wesen und Schicksale nicht, um die Heldin des Romans zu werden. Es mußte der Selbstmord eines Goethe wie Lotten beinahe fremden Menschen sich ereignen, um den äußeren Umschwung des Romans zu liefern . . . Aber auch dies genügte nicht, dem Roman den nöthigen Inhalt zu schaffen: Goethe hat noch eine andere, ganz fern von Lotte sich bewegende Gestalt zu ihr hinnehmen müssen, aus denen beiden dann erst die ideale Figur sich b i l d e t e . . E s

folgt eine lange Schilderung

der weiteren Ereignisse, die irgendwie mit der Entstehung des

Werthers

in Verbindung stehen. Grimm kommt schließlich zu dem Schluß, daß all die geschilderten Erlebnisse zwar unentbehrlich für das Zustandekommen des Werkes waren, es jedoch einer Mitwirkung von einer anderen Seite bedurfte, ohne welche die Lotte, Kestner usw. innerhalb Goethes „Phantasie niemals Keimkraft besessen haben würden. Oder vielmehr, diese Personen bilden nur den Zusatz zu etwas anfänglich in Goethe Lebendigem, mit dem sie sich vereinigten, das jedoch auch ohne sie vorher schon vorhanden war . . . noch ehe Goethe nach Wetzlar ging, ehe er Lotte und Kestner und Maximiliane und Brentano und Jerusalem kennen lernte, lag die poetische Möglichkeit Werthers als eine in den Umrissen bereits vorhandene Gestalt, sehnsuchtsvoll nach Leben gleichsam, in seiner Seele: existierte Werthers Schicksal fertig bereits in der Idee" 2 . Dieses in Goethe schon lange Lebendige sind der allmächtige Einfluß Rousseaus, die Schriften Herders und der Ossian, mit einem Wort das, was wir heute Goethes Bildungserlebnis nennen würden, wobei dieser Begriff von Grimm natürlich noch nicht gebraucht wird. Die größte Bedeutung für den Werther hat zweifelsohne die Neue in der bereits wichtige Züge des Werthers

Heloise,

vorgebildet sind. Das trifft

besonders auf die Gestalt Werthers zu, die ganz und gar dem St. Preux gleicht. Grimm schreibt hierüber: „Der Held der Neuen Heloise und der des Goethe'schen Romans würden, wollte man ihre Silhouetten aufeinanderlegen, so genau in den Linien passen, daß sie zusammenfielen. Wären St. Preux und Werther einander im Leben nahe gekommen, so würden

Hermann Grimm, Goethe. Vorlesungen, gehalten an der Kgl. Universität zu Berlin, Stuttgart und Berlin 71903, Bd. I, S. 141. * Ebenda, S. 175 1

Erfahrungen für den dichterischen Schaffensprozeß

83

sie sich mit einem Schrecken betrachtet haben, mit dem der Mensch seinem Doppelgänger begegnet" 3 . Lotte ist dagegen als Romanfigur überhaupt nicht vorgeformt; hier geht die Priorität Rousseaus „nur soweit, daß er ein unglückliches Paar zum Hauptträger seiner Dichtung gemacht hat und daß Goethe ihm darin gefolgt i s t . . . " . Doch ist diese „berühmteste Schöpfung" Goethes „sein gänzliches Eigenthum" 4 . Es ist frappierend, mit welcher Sicherheit Grimm den Prozeß der Entstehung eines dichterischen Werkes darstellt, wie klar und eindeutig er zu sagen vermag, daß die und die Erlebnisse oder Ereignisse noch nicht ausreichten, um Goethes Phantasie die nötige Nahrung zur Verwirklichung der ihm bereits in „der Seele" vorschwebenden Idee des Werkes zu geben. Die Grimmsche Beschreibung der Entstehung einzelner Goethescher Werke hat ewas eigenartig Teleologisches an sich, als ob die Dichtungen Goethes tatsächlich schon lange vorher als Idee in seinem Kopfe existierten und nur noch gewisse äußere Anlässe, Anstöße notwendig waren, damit die Idee konkret dichterische Form annehmen konnte. Das kommt u. a. in den schon zitierten Sätzen zum Ausdruck, wie „Damit Lotte dichterisch zur Erscheinung käme, sehen wir Goethes Phantasie andere Wege einschlagen" oder „Die Lotte genügte ihm nicht, um die Heldin des Romans zu werden" usw. Der Versuch, nachträglich eine Kette von äußeren Ereignissen und Umständen zu rekonstruieren, barg die Gefahr eines mechanischen Verfahrens in sich, der Grimm nicht immer entgangen ist. Grimms wichtigste methodische Grundlage war bekanntlich, um diese Dinge überhaupt in den Griff zu bekommen, der Vergleich der jeweiligen dichterischen Gestalten mit ihrem Modell bzw. Modellen im Leben oder in der Litratur sowie die Herausarbeitung der Unterschiede zwischen dichterischer Gestalt und Modell; denn gerade die Unterschiede gewährten eine Einsicht in das poetische Verfahren Goethes. Die Fragen lauteten daher immer, wie war die wirkliche Friederike und wie waren ihre literarischen Entsprechungen, wie war die wirkliche Lotte und wie die im Werther, wie war St. Preux und wie der Werther usf. Diese Betrachtungsweise konnte, wie gesagt, schnell in ein mechanisches Verfahren abgleiten. Bei Grimm beruhte die Gefahr des Mechanischen darauf, daß er bestimmte poetische Figuren, wie die Lotte im Werther als Ideal ansah und daher glaubte, beweisen zu müssen, daß alles notwendig oder zwangsläufig zu dieser Idealfigur führte. Durch diese Art des Vergleichs verlor die Idealfigur selber an Gehalt, Weite und Allge-

» Ebenda, S. 184 4

Ebenda, S. 190

84

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

meingültigkeit, da damit das Künstlerische allzusehr durch biographische Details aus dem Leben des Dichters überspielt, zugespitzt ausgedrückt, in die Sphäre des Klatsches herabgezogen wurde, obwohl das Grimm mit seinen Vergleichen nicht beabsichtigte. Er glaubte durch eine derartige Erhellung der Phantasietätigkeit Goethes zugleich eine tiefere Einsicht in dessen Künstlertum sowie in das künstlerische Wesen seiner Figuren und Werke zu bekommen. Aber dies ist ihm letztenendes nicht gelungen, da er sein Hauptaugenmerk auf das Biographische lenkte und nicht auf die Werke, deren Komposition, Sprache, Bildkraft usw. Die Werke faßte er auch wiederum mehr als Lebenszeugnisse und Erzeugnisse des persönlichen Lebens denn als etwas primär der Kunst Zugehöriges. Und obwohl er das jeweils konkrete Erlebnis Goethes abzuwerten scheint, indem er ihm die Rolle eines Anstoßes, Auslösers zuweist, wertet er die Erlebnisse Goethes in ihrer jeweiligen Gesamtheit wieder auf, indem er in ihnen die wichtigste Grundlage für die Entstehung des gegebenen Werks sieht. Zwar gibt es bei ihm auch noch, worauf wir schon hinwiesen, die Idee, die Goethe schon immer vorgeschwebt haben soll, doch meinte er damit nichts anderes als die Bildungserlebnisse, so daß es schließlich doch die Erlebnisse waren, die über die Entstehung des Werkes entschieden. Und nur diese boten Hermann Grimm ein „handfestes Material".

Dank

ihnen mußte er sich nicht auf das Glatteis der Spekulationen begeben. Vom literaturtheoretischen sowie schaffenspsychologischen Gesichtspunkt aus gesehen, enthielt Grimms Arbeit zwei offene Fragen. Erstens, welche Rolle spielt die Erfahrung im dichterischen Schaffensprozeß? Grimm hatte zwar — insofern das überhaupt nach Dichtung und Wahrheit notwendig war — die immense Bedeutung der Erfahrungen und Erlebnisse für die Entstehung der Werke Goethes bewiesen, aber inwieweit ließen sich diese Beobachtungen verallgemeinern? Dieses Problem beschäftigte Dilthey denn auch in seinem Essay von 1878. Das ist einer der Gründe, warum er in diesem Aufsatz das Schaffen von Goethe mit dem von Shakespeare, Rousseau und Dickens vergleicht. Zweitens, welche Bedeutung haben die inneren und welche die äußeren Erfahrungen für das dichterische Schaffen? Diese beiden, aufs engste miteinander zusammenhängenden Fragen bilden das Thema des Diltheyschen Essays. Hierbei ist es bezeichnend, daß in ihm der Begriff der Erfahrung als solcher nicht erörtert wird, obwohl er in der Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine Selbstverständlichkeit verloren hatte. Das beweisen die vielen Schriften über die Erfahrung, wobei ein jeder unter diesem Begriff etwas anderes versteht. So ist für den Neukantianer Cohen die Erfahrung ein

Erfahrungen für den dichterischen Schaffensprozeß

85

Produkt unseres Denkens 5 . Noch weiter geht Avenarius 6 , der einen sogenannten reinen Empirismus anstrebte. Dilthey gebraucht den Begriff der Erfahrung dagegen annähernd in dem Sinne, daß uns etwas innegeworden ist, das unsere Persönlichkeit bereichert hat und dessen wir uns im entspredhendenAugenblidc wieder erinnern werden, wenn das Leben eine ähnliche Situation schafft. Nicht so sehr die Erfahrung stellt für Dilthey ein Problem dar, als vielmehr der Prozeß des Innewerdens, die Umwandlung des Erfahrenen oder besser Erlebten in einen festen Bestandteil des Innenlebens. Seine Überlegungen unterscheiden sich recht wesentlich von denen der Neukantianern und der Positivisten, ihm geht das rein erkenntnistheoretische und szientistische Interesse ab. Für ihn ist die Erfahrung vor allem eine Kategorie des Lebens. Er reflektiert daher über die Wechselbeziehung zwischen Leben, Erfahrung und Innenleben. Durch die Einbeziehung der Kategorie des Lebens und des subjektiven Faktors glaubt Dilthey die Einseitigkeit des empirischen oder naturwissenschafllich-positivistischen Erfahrungsbegriffs überwinden zu können, der nach seiner Meinung nicht die psychische und historisch-gesellschaftliche Besonderheit der Menschen berücksichtigt. „. . . kein voller und ganzer Mensch läßt sich in dieser | empirischen | Erfahrung einschränken", erklärt er. „Ein Mensch, der auf sie eingeschränkt wäre, hätte nicht für einen Tag Lebenskraft". Für Dilthey, der als junger Mensch stark unter dem Einfluß der naturwissenschaftlichen Methoden und des „Realitätssinnes" seiner Zeit stand, unterliegt es keinem Zweifel, daß alle geistige Tätigkeit auf dem Boden der Erfahrung sich bewegt. Auch „alle Phantasie ist an die Elemente gebunden, welche in der Erfahrung gegeben s i n d . . ."'. U n d gerade ein Dichter muß über einen weiten „Erfahrungshorizont" oder „Erfahrungskreis" verfügen. In dem Essay von 1878 lesen wir: „In der Poetenphantasie häuft sich ein Schatz von Bildern aus der Menschenwelt und N a t u r an und dieser Inbegriff bildet den Erfahrungshorizont des Dichters. Da, wo Fülle der Eindrücke dem Dichter zur Verfügung steht, durch außerordentliche Kraft des Erinnerns (wie denn Dichter meist 5

Eine kritische Einschätzung des Neukantianismus Cohens gibt Wolfgang Heise in seinem Buch Aufbruch in die Illussion, Berlin 1964, in dem Abschnitt „Die neukantianische Reaktion auf den Materialismus. Modellfall: Cohen" (S. 101—109).

6

Das Buch Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung von Ridiard Avenarius ist übrigens in dem gleichen Jahrgang der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft von Fr. Paulsen besprochen worden, in dem Diltheys Essay „Über die Einbildungskraft der Dichter" erschienen war.

7

Zeitschrift für Völkerpsychologie

und Sprachwissenschaft,

Bd. X, a.a.O., S. 58

86

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

gewaltige Erzähler sind), da wirkt er auch in schöpferischem Vermögen aus diesen Fäden an dem Gewebe von Situationen, Gestalten, Schicksalen, Affecten und Handlungen"7. Einen noch wiel stärkeren Nachdruck auf die Bedeutung der Erfahrungen für das dichterische Schaffen legt Dilthey in seiner Poetik. Wenn man Realismus in einem weiten Wortsinn nimmt, so kann man ohne weiteres behaupten, daß die Poetik mit einem Blick auf realistisches Schaffen geschrieben ist, d. h. ein Schaffen, das in einer bestimmten Form auf die gesellschaftliche Wirklichkeit als ein überaus komplexes Gebilde bezugnimmt und sie — künstlerisch vermittelt — repräsentiert. Ohne auf diese Fragen jetzt schon näher einzugehen, sei nur eine entsprechende Stelle aus der Poetik zitiert: „Bilder und ihre Verbindungen überschreiten . . . wohl die gemeinen Erfahrungen des Lebens; aber was so entsteht, das repräsentiert doch diese Erfahrungen, lehrt sie tiefer begreifen und näher ans Herz ziehen. Dies ergibt sich schon aus den früheren Darlegungen, nach welchen die U n t e r l a g e des poetischen S c h a f f e n s in den Vorgängen aufzusuchen ist, die unseren E r f a h r u n g s k r e i s e n t w i c k e l n . Der Dichter hat diese Unterlage seines Schaffens gemein mit dem Philosophen oder dem Staatsmann. Erfahrung des Menschlichen ist hier überall die Grundlage, und besonders Verallgemeinerung, Schlußverfahren werden angewandt, diese Erfahrung auszubilden. Das naturwüchsige Verhältnis einer mächtigen Intelligenz zu den Lebenserfahrungen muß auch in jedem großen Dichter bestanden haben. Aus Lebensvorstellungen mußten sich Charaktere, Handlung, Form und Technik bei ihm bilden. Dies kann nicht energisch genug gegenüber aller Künstelei betont werden, welche das Schöne von den Erfahrungen des Lebens absondern möchte"8. Eine wichtige Rolle spielt für Dilthey die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Erfahrung, deren Vorstufen die äußere und innere Wahrnehmung sind. Nach seiner Meinung gibt es Dichter, bei denen die äußere Erfahrung dominiert, und solche, wo die innere Erfahrung überwiegt. Die einen sind die objektiven und die anderen die subjektiven Künstler. Zu den objektiven Dichtern sind u. a. Shakespeare und Dickens zu rechnen, zu den subjektiven dagegen Rousseau und Goethe8. Der objektive Dichter sieht die Welt, wie sie ist, er schöpft aus dem vollen Leben, er erwirbt sich das Verständnis der Welt in einem tätigen Dasein und gibt sich nicht seinem Selbst hin. Er ist fähig, wie Shakespeare, sich in die verschiedensten Charaktere zu verwandeln, Leben und Welt aufs Mannigfaltigste zu betrachten. Er verfügt über eine unerhörte Beob8 VI, S. 185 • In der Poetik führt Dilthey dann audi Byron und den jungen Sdiiller als Beispiele für subjektive Dichter an.

Erfahrungen für den dichterischen Schaffensprozeß

87

achtungsgabe und ein außerordentliches Gedächtnis. Schon die Lebensläufe dieser Dichter, deren Rastlosigkeit, Hingegebensein an die Ereignisse usw. zeugen nach Dilthey von ihrer Art, ganz in der Welt aufzugehen. Diese Dichter lebten derart intensiv, um so viel Eindrücke wie nur möglich in sich aufzunehmen. „Das höchste geistige Geschäft" des objektiven Dichters ist daher auch, „künstlerische Gebilde außer sich hinzustellen" 10 . Mit einem ganz anderen Verfahren haben wir es bei den subjektiven Dichtern zu tun. Diese gehen vor allem von ihrem Selbst aus, von ihren Gemütszuständen, von dem, was ihr Inneres bewegt. Ein solcher Dichter sucht daher lange nach einem „allgemein interessierenden Vorgang", nach einem Symbol, das ihm ermöglicht, alle seine Leiden und Freuden, seine Herzenskonflikte und tiefsten Erschütterungen künstlerisch zum Ausdruck zu bringen. Um all dies in das Gefäß des einmal gefundenen Symbols zu gießen, sind noch viele Metamorphosen und Ergänzungen dieses Symbols notwendig, wie uns gerade das Beispiel Goethes zeigt, der lange Zeit und noch viele Anregungen brauchte, um die ihm einmal vorschwebende künstlerische Idee zu verwirklichen. Das „höchste geistige Geschäft" dieses Künstlertyps ist es, „das eigene Leben, die eigene Persönlichkeit zum Kunstwerk zu formen" 11 . Diese Klassifizierung der Dichter in zwei verschiedene Typen darf man nach Dilthey keineswegs verabsolutieren. Scharfe Grenzen lassen sich hier nicht ziehen, ja es ist sogar möglich, daß die historischen Umstände einen objektiven Typ zwingen, sich der subjektiven Verfahrensweise zu bedienen. Ein Beispiel hierfür ist Goethe. Die deutsche Gesellschaft war im Gegensatz zu der englischen zu arm an Leben, (Dilthey spricht einmal direkt von dem „Elend dieser gesellschaftlichen Ordnung" 12 ), um die nötige Fülle an Eindrücken liefern zu können. Dilthey beruft sich auf Goethes Ausspruch in Dichtung und Wahrheit, daß dieser naturwahre Stoffe nur finden konnte, indem er aus sich selbst schuf: „Verlangte ich zu meinen Gedichten eine wahre Unterlage und Reflexion, so mußte ich in meinen Busen greifen. Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich Dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Lied, ein Gedicht zu verwandeln, und darüber mit mir selbst abzuschließen . . . Alles daher, was, von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Confession". In Das Erlebnis und die Dichtung führt Dilthey dann auch noch Goethes berühmten Ausspruch über seinen Wilhelm Meister an, daß er in Bezug auf den Stoff des Lebens Shakespeares gegenüber im Nachteil gewesen sei und in seinem Roman zu Landedelleuten und 10 11

Zeitschrift für Völkerpsychologie Ebenda, S. 88

und Sprachwissenschaft, 12 Ebenda, S. 55

Bd. X, a.a.O., S. 87

88

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

Schauspielern hätte greifen müssen, um überhaupt eine lebendige Bewegung in das Werk zu bringen. Trotz der Ungunst der geschichtlichen Situation habe sich Goethe jedoch in späteren Jahren zu einem objektiveren Verfahren durchringen können. Wörtlich schreibt Dilthey hierüber in seinem Essay von 1878: „Es ist dargelegt worden, wie Goethe selber aus den geschichtlichen Bedingungen seiner Epoche und der deutschen Gesellschaft es erklärte, daß er im eigenen Busen die großen Vorwürfe seiner Dichtung suchen mußte, sie in einer handelnden Welt um sich nicht suchen durfte; dargelegt, wie sehr er in späteren Jahren dies als die geschichtliche Schranke begriff, unter welcher er gedichtet hatte. Er war nicht durch die N a t u r seines Genius ein subjektiver Dichter, wie Jean Jacques, sondern vermöge des Einflusses seiner geschichtlichen Lage. U n d unablässig drang er, unter der Einwirkung des naturforschenden Geistes, dem entgegengesetzten Verfahren entgegen und bemächtigte sich in Hermann und Dorothea desselben. Dies sind die Grenzen, innerhalb deren er zu den Dichtern gerechnet werden muß, welche von dem eigenen Inneren, den eigenen Erlebnissen ausgehen, nicht von der Versenkung in Menschen und Schicksale außer ihnen" 13 . Auch in seinem Goethe-Essay von 1905 sieht Dilthey diese Wandlung, wobei er jedoch die historischen Bedingungen nicht mehr so sehr betont. Der alte Dilthey zieht es vor, alles stärker von den Kategorien des Lebens aus zu betrachten. Die schönsten Worte f ü r Goethes Wandlung von einem subjektiven zu einem objektiven Dichter findet Dilthey in seinem Essay von 1905 da, wo er sie in Faust II als das „Abbild der Welt selber" (d. h. in eine rein objektive Dichtung) gipfeln läßt 14 . Betrachtet man Diltheys Art, wie er zu seiner Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Dichter kommt, gelangt man zu dem Schluß, daß er hier mit zweierlei Maß mißt. Bei Shakespeare geht er vor allem von dem Werk des Dichters aus, von dem, was dort widergespiegelt wird. Er ist über Shakespeare außerordentliche Kenntnis des Lebens, die bis zu den ganz geringfügigen Dingen reicht, erstaunt. Alles, seien es die Pflanzen, die Tiere, die Jagd, krankhafte Seelenzustände oder Rechtsfälle, zeuge von einer genauen und umfassenden Kenntnis der Dinge. U n d was den Umfang und die Tiefe seiner Charakterzeichnungen betreffe, habe er überhaupt das Höchstmögliche erreicht. Aus diesen Beobachtungen zieht Dilthey die Schlußfolgerung über das Leben Shakespeares und seine wahrscheinliche dichterische Verfahrensweise. Ein Genie, das solch ein Werk zustande bringt, müssen wir uns nach Dilthey „gänzlich den Tatsachen hingegeben denken, gewahr werdend, beobachtend, sein Selbst ganz vergessend und verwandelnd in das, was es erfaßt". Diese 14

Das Erlebnis und die Dichtung, a.a.O., S. 242

13

Ebenda, S. 95

Erfahrungen für den dichterischen Sdiaffensprozeß

89

Annahme bestätigen auch, wie Dilthey meint, die wenigen biographischen Daten über das Leben Shakespeares. Das Kennzeichen dieses Lebens war wahrscheinlich nicht nur ein Aufgehen in den einzelnen Dingen, sondern ein Aufgehen im Leben überhaupt. Mit anderen Worten, Dilthey schließt hier direkt von dem Werk auf das dichterische Verfahren und die Lebensweise des Dichters. Bei dem Dickens-Aufsatz von 1877 wäre es dagegen eine Vereinfachung, dasselbe zu behaupten, denn hier hat er ja im Gegensatz zu den Bemerkungen über Shakespeare eine Lebensbeschreibung zur Hand, nämlich die von Forster, die kurz nach Dickens Tod erschienen war. Aber auch in diesem Aufsatz spürt man, daß Dilthey vor allem die Romane vor Augen hat und diese aufgrund der Schilderungen Forsters noch einmal an sich vorüberziehen läßt. Daher gelingt es ihm auch, sich in der Neufassung des Aufsatzes am Schluß völlig von der Biographie zu lösen und eine allgemeine Charakteristik zu geben. Wer glaubt wohl auch in den folgenden Sätzen einen Dilthey zu hören? „Unablässig aber hat Dickens die Ausartungen einer auf freie Konkurrenz gegründeten Gesellschaft, die Unterdrückung des Schwachen durch die brutale oder listige Macht des Kapitals und des skrupellosen Verstandes gekennzeichnet. Diese Menschenklasse sitzt bei ihm gleichsam beständig auf der Anklagebank. Zuweilen verknüpft sich in den Charakteren dieser Art der Niederschlag des positiven und nationalökonomischen Geistes wie in Tom Gradgrind, besonders aber in Bounderby. Eine besondere Abteilung dieser Brutalen bilden die Schulmeister. Eine neue Klasse sind dann in dem puritanischen Lande die Heuchler. Ihr Repräsentant ist Pecksniff... Er heuchelt die sozialen Gefühle, die Humanität, das Leben für andere. Und wiederum ein anderer Typus ist der herrschsüchtige Stolz eines Dombey. Aber nicht den Stolz des geborenen Aristokraten schildert Dickens, sondern den kalten Hochmut in der bürgerlichen Aristokratie der Millionäre" 15 . Eben diese Schilderung der Gesellschaft von allen Seiten her und nicht das intensive Leben des Dichters selber, nicht dessen besondere psychologische Organisation hat Dilthey dazu veranlaßt, Dickens zu den objektiven Dichtern zu rechnen. Ganz umgekehrt geht nun Dilthey bei den sogenannten subjektiven Dichtern vor. Hier bildet die dichterische Verfahrensweise den Ausgangspunkt. Äußerst kraß fällt das bei Rousseau aus. Nur weil er aus der Erinnerung heraus geschaffen hat, weil Erlebnisse aus Jugendtagen seiner Phantasie den Stoff zu der Neuen Heloise gegeben haben, wird er zu den subjektiven Dichtern gerechnet. Auch der junge Schiller gilt in der Poetik als ein subjektiver Dichter, weil er aus seinen eigenen per15

Die große Phantasiedicbtung, a.a.O., S. 311 f.

90

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

sönlichen Zuständen das innere Leben seiner Helden geschöpft habe. Bei Goethe hat man vielfach den Eindruck, daß Dilthey ihn in erster Linie zu einem subjektiven Dichter stempelt, weil wir über ein so gut dokumentiertes Material über die Entstehung seiner Werke verfügen. Dichtung und Wahrheit, die vielen Briefe Goethes und die Gespräche mit Eckermann waren ein zu glänzender Anlaß, den großen Goethe immer wieder psychologisch zu analysieren. Und wenn Dilthey das Spätwerk Goethes als die Dichtung eines objektiven Dichters ansieht, so tut er das nicht, weil Goethe in dieser Zeit eine andere Art zu dichten oder zu leben gehabt hat, sondern weil ihn dazu einfach der weite Horizont dieses Werkes zwingt. Für eine Klassifizierung der Dichter in subjektive und objektive Künstler, wie sie Dilthey versucht, lassen sich eben keine einwandfreien Kriterien finden, denn jede Dichtung ist eine Mischung von subjektiven und objektiven Elementen, die von Werk zu Werk verschieden sein wird, von den historischen Umständen abhängt, ja durch das Alter des Dichters bedingt ist usw. usw. Das alles kommt selbst bei Dilthey zum Ausdruck, was ihn jedoch nicht gehindert hat, grundsätzliche Typen zu unterscheiden. Eine der Hauptschwierigkeiten, solche Unterscheidungen zu treffen, liegt schon im Methodischen, da man ja immer nur nachträglich das Subjektive vom Objektiven trennen kann und das Werk selber keineswegs hilft, das subjektiv Bedingte klarer zu erkennen. Schon bei Grimm sahen wir, wie er die wirklichen Personen und Ereignisse an den literarischen Figuren und Geschehnissen maß, wie sein Blick auf das Werk gerichtet war, das er als den endgültigen Abschluß ansah. Damit soll nicht gesagt werden, daß es nicht möglich ist, das dichterische Schaffen als einen Prozeß von der Dichterpersönlichkeit her zu analysieren. N u r wird man diesem weniger vom Werk aus beikommen als vielmehr mittels psychologischer Betrachtungsweisen und Methoden. Das beste Beispiel hierfür ist vielleicht Dilthey selber, dessen Weg ihn bei der Suche nach den Gesetzen des dichterischen Schaffensprozesses auf das Gebiet der Psychologie führte. Es ist wohl kein Zufall, daß er gerade in dem Essay von 1878 zum ersten Mal seine Ideen über eine deskriptive Psychologie ausführlicher dargelegt hat.

3. D e r erworbene Zusammenhang des Seelenlebens Von den Erfahrungen war der Weg bis zum Erlebnis zwar nicht mehr weit, doch wäre er als eine Haupt- und Grundkategorie im Diltheyschen Denkgebäude ohne den Begriff des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens nicht denkbar gewesen.

Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens

91

Die Feststellung, daß die Erfahrung eine wesentliche Grundlage des dichterischen SchafTensprozesses bildet, warf die Frage auf, wie es komme, daß ein Künstler, der sich der Phantasie bedient und daher stets die Grenzen der Erfahrungen überschreiten muß, diese trotz alledem in ihrem Wesen wiederzugeben vermag. Dilthey sucht die Antwort auf diese Frage vor allem in der Psychologie. Es nimmt daher nicht wunder, daß er auch außerliterarische Phänomene in seine Erörterungen einbezieht. Hierbei nimmt er all die Fälle aus dem menschlichen Leben in Augenschein, bei denen die Grenzen der Wirklichkeit überschritten werden. Solche Erscheinungen können wir sowohl beim Künstler wie auch beim Träumenden und Wahnsinnigen beobachten. Der Künstler unterscheidet sich nach Dilthey vom Träumenden und Wahnsinnigen jedoch darin, daß der ganze erworbene Zusammenhang des Seelenlebens in ihm wirksam ist, während der Träumende und der Wahnsinnige diesen Zusammenhang verloren haben. Beim Künstler wirkt der Zusammenhang wie ein regulierendes Organ, durch das er bei noch so großer Entfernung von der Wirklichkeit deren Gesamtgefüge nicht vergißt oder aus den Augen verliert. Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens ist das Gesamt der gemachten Lebenserfahrungen, die ganze erarbeitete Einsicht in die Wirklichkeit. Dieser Zusammenhang wirkt nicht bewußt, seine „Bestandteile sind nicht klar vorgestellt, nicht deutlich getrennt; ihre Verbindungen sind nicht unterscheidbar herausgehoben; und doch sind die im Bewußtsein befindlichen Vorstellungen und Zustände zu diesem Zusammenhang orientiert, an ihm begrenzt, bestimmt und begründet" 1 , heißt es in der Rede über „Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn" von 1886. Ein Jahr später führt Dilthey näher aus, wie er sich diesen Einfluß des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens auf das Bewußtsein vorstellt. Die Wirksamkeit des Zusammenhangs beginnt schon bei der Aufnahme eines äußeren Geschehnisses, denn jedes Aufnehmen einer äußeren Wahrnehmung „ist ein Aufnehmen in ein Ganzes, in den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens". Er verändert und gestaltet das Wahrgenommene und Vorgestellte, setzt es in Bezug auf sich selbst als ein Ganzes. Doch besteht eine solche Veränderung der Wahrnehmung oder Vorstellung „nie in der Neuschöpfung von Inhalten, die nirgend erfahren wurden, sondern nur im Ausfallen einzelner Inhalte oder Verbindungen, in der Verstärkung oder Verminderung solcher oder in ihrer Ergänzung durch Inhalte oder Verbindungen, welche nun aus dem Material der Erfahrung zu einer Wahrnehmung oder Vorstellung hinzutreten" 2 . Diesen Einfluß 1

VI, S. 95

2

Ebenda, S. 142

92

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens nennt Dilthey Bildungsprozeses. Jede Umformung eines wahrgenommenen Bildes — sei es durch die Ausschaltung bestimmter Bestandteile, sei es durch das Dehnen des Bildes, indem neue Bestandteile hinzutreten, oder ähnliches mehr — ist ein solcher Bildungsprozeß. Psychologisch gesehen, gründet jedes Phantasieschaffen auf solchen Bildungsprozessen, aber nicht nur das Schaffen des Künstlers, sondern auch die Vorstellungen des Träumenden und Wahnsinnigen, die ja ebenfalls beide auf diese Weise Bilder umformen, nur daß, wie wir bereits eingangs andeuteten, bei dem einen der gesamte Zusammenhang des Seelenlebens wirksam, während er bei dem anderen abgeschwächt sein soll. Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens beeinflußt jedoch nicht nur unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen, sondern auch unsere Gefühlsregungen, Werturteile und Willensbewegungen, denn unter dem Zusammenhang des Seelenlebens haben wir sowohl die Gesamtheit unserer Wahrnehmungen, Empfindungen und Vorstellungen, wie auch all unsere Gefühle, Werturteile, Willensäußerungen und gesetzten Ziele zu verstehen, wobei den drei letzten eine besondere Rolle zukommt. Für Dilthey ist nämlich jeder seelische Zusammenhang ein Zweckzusammenhang. Zu einem solchen ist er durch die Auseinandersetzung des Individuums mit dem es umgebenden Milieu geworden. Dieser Zweckzusammenhang oder teleologische Zusammenhang, wie ihn später Dilthey in seinem Aufsatz „Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft" (1888) auch nennt, bildet sich stets in einer Dreistufigkeit heraus. Die Reize, die aus der Außenwelt auf uns einwirken, rufen in uns Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen hervor, die einerseits von dem Zusammenhang des Seelenlebens verändert werden und anderseits diesen selbst verändern. Die Veränderungen des Zusammenhangs hängen davon ab, welchen Wert den jeweiligen Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen zuerkannt wird und wie die Verifizierung dieses Wertes oder Wertens an der Außenwelt ausfällt. Die Wertung selber findet übrigens, wie Dilthey behauptet, in der Gefühlssphäre statt. Nach der Wertung werden „die Triebe, Begehrungen und Willens Vorgänge in Bewegung gesetzt". Die Folge ist: entweder wird „die Wirklichkeit dem Eigenleben angepaßt und so rückwärts vom Selbst aus die äußere Wirklichkeit beeinflußt, oder das Eigenleben fügt sich der harten und spröden Wirklichkeit. So besteht eine beständige Wechselwirkung zwischen dem Selbst und dem Milieu äußerer Wirklichkeit, in dem es sich findet,.. ."3. In dieser Wechselwirkung sieht Dilthey ein Wesenszug des menschlichen Lebens. 3

Ebenda, S. 143

Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens

93

Die Zweckgerichtetheit des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens ist besonders für das Schaffen des Künstlers von erstrangiger Bedeutung. Nach Dilthey nehmen uns Kunstwerke erst dann wirklich gefangen, wenn sich der Künstler bei der Gestaltung seiner Bilder sowohl des Zieles seiner Tätigkeit wie auch des Unterschiedes zwischen seinen Bildern und der Wirklichkeit bewußt war. Gerade hierin unterscheidet er sich von dem Wahnsinnigen. In der Poetik heißt es: „Zweckbewußter Wille wandelt die Bilder über die Grenzen des Wirklichen hinaus, daher bestehen auch erhebliche Unterschiede zwischen der Metamorphose der Bilder im Schaffen des Dichters und in den Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Dem Dichter ist der Zusammenhang der Wirklichkeit gegenwärtig, und er trennt seine Bilder von diesem Zusammenhang; er unterscheidet die Wirklichkeit und das Reich des schönen Scheins. So sehr diese Bilder dem Charakter von Wirklichkeit sich annähern können, sie bleiben doch stets durch irgendeine feine Grenze von dieser geschieden. Der Dichter lebt in einer Traumsphäre während seines Schaffens, in welcher diese Bilder Realität empfangen; aber sie erhalten dieselbe nicht durch die dunkle Naturgewalt von Halluzinationen, sondern durch die Freiheit des schöpferischen Vermögens, welches sich selber besitzt. Und wie der Zusammenhang des Seelenlebens auf die Gestaltung dieser Bilder energisch wirkt, wird durch ihn ein dem Zweck des Kunstwerks entsprechendes Verhältnis derselben zur Wirklichkeit erhalten; wenn die Bilder dieses verlieren, hören sie auf, das Gemüt zu bewegen"4. Den „zweckbewußten Willen" des Künstlers bei der Gestaltung seiner Bilder haben wir allerdings nicht so zu verstehen, daß dieser bewußt auf Wirkung hinarbeitet oder gar einem bestimmten persönlichen Interesse nacheilt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Künstler gänzlich vom Alltagsmenschen. Schon im Dickens-Aufsatz hatte Dilthey erklärt: „Die ganze Außenwelt ist für den gewöhnlichen Menschen, wenn wir ihn einmal als gar nicht nachdenklich vorstellen, nichts als eine Mannigfaltigkeit von Daten, welche er allesamt zur Befriedigung des Systems seiner Bedürfnisse benutzt; diese Daten haben ihren Zweck in der Orientierung des Menschen für die Befriedigung seiner Bedürfnisse. Wie jemand eilig durch eine Straße geht, um in einem entfernten Hause ein Geschäft zu verrichten, und alle Häuser und Gärten, an denen er vorübereilt, ihm nur eben so viel Zeichen sind, an denen er seinen Weg abmißt und feststellt, so geht der gewöhnliche Mensch durch das Leben, immer nur von dem einen großen Geschäft erfüllt, entweder seine Bedürfnisse zu befriedigen oder, was Andere nennen, voranzukommen, sein 4

VI, S. 171

94

Diltheys Weg zum „Erlebnis"

Glück zu machen. Dagegen gleicht das Genie einem Reisenden, welcher unbekümmert um ein Ziel Alles, was ihm begegnet, um sein Selbst willen betrachtet und jeden Eindruck als eine Nachricht auffaßt über das Innere der Dinge. Das Auffassen selber ist sein Geschäft, er ist daher besonders fähig, sich zu freuen, im Moment zu leben, dem Eindruck sich frisch, ganz und unbefangen hinzugeben" 5 . Diese Fähigkeit des Künstlers zu einem interesselosen Wahrnehmen und Erleben erfüllt gleichsam eine doppelte Funktion: erstens ermöglicht es ihm, die Dinge in ihrem besonderen Glanz zu sehen, an ihnen neue Seiten zu entdecken, die mannigfaltigsten Bezüge zu anderen Dingen herzustellen, von diesen und jenen Erscheinungen zu abstrahieren und neue sich hinzuzudenken. Zweitens ist er auf diese Weise fähig, die Wirklichkeit zu überschreiten, eine idealere Wirklichkeit zu bilden, oder anders ausgedrückt, diese Art des Erlebens ist die notwendige Voraussetzung für die Phantasietätigkeit des Künstlers. In jeder Studie über ein literaturtheoretisches oder ästhetisches Werk der Vergangenheit entsteht an einer Stelle die Frage nach der Wirkung, Aktualität und Anwendbarkeit der analysierten Begriffe, insbesondere derjenigen, die man als zentral für das Werk eines Autors ansieht. Nun hat meines Wissens gerade der Begriff des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens die allergeringste Wirkung auf die Literaturwissenschaft ausgeübt. Seine Anwendbarkeit auf literaturtheoretische bzw. literaturhistorische Studien kann man sich tatsächlich nur schwer vorstellen. Für konkrete Analysen ist er vor allem zu umfassend. Als viel wertvoller hat sich der Begriff des Erlebnisses, der kleinsten Einheit des Zusammenhangs des Seelenlebens, erwiesen. Er ist einfach faßbarer. Erlebnisse lassen sich leichter nachvollziehen als irgendein erworbener seelischer Zusammenhang. Es ist zwar schön gesagt, daß alle schöpferische Tätigkeit, wie es einmal Landgrebe im Sinne von Dilthey formuliert hat, „auf das konzentrierte Zurgeltungbringen des erworbenen Zusammenhangs" zurückgeht6, jedoch ist es ein unerhörtes Unterfangen, zu zeigen, wie dies konkret erfolgt 7 . Auch ginge eine solche Analyse am eigentlich 5

s

7

„Charles Dickens und das Genie des erzählenden Dichters" in Westermanns Monatshefte, 1877, S. 484 f. Ludwig Landgrebe, „Wilhelm Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften: Analyse ihrer Grundbegriffe", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, I X (Halle 1928), S. 245. „But how, we make ask as literary critics confronted with the texts of poems, can we know that a specific work or a specific passage was produced under intense emotional pressure, with the totality of the psyche of the poet engaged?", fragt Wellek in A History of Modern Criticism, Bd. 4, N e w Haven and London, S. 322.

Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens

95

Künstlerischen vorbei. Ästhetisch gesehen, ergibt sich die interessante Frage, inwieweit das Kunstwerk Ausdruck des sogenannten erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens und in wieweit es etwas anderes ist. Dilthey scheint sich für das „Andere" nicht weiter interessiert zu haben. Er ist direkt von seiner „Übereinstimmung des Phantasiegebildes mit dem im erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens enthaltenen Gesetzen und Wertbestimmungen des Wirklichen" überzeugt. Bei ihm fallen im Grunde drei Bereiche zusammen: die Wirklichkeit — als das Gesamt der persönlichen Erfahrungen —, das Innenleben und das Phantasiegebilde. Daher stellt er sich auch nicht die Frage, ob es andere Momente gibt als die dem Zustmmenhang des Seelenlebens angehörigen, die in den Ausdruck eingehen. Dilthey berücksichtigt nicht die Tatsache, daß ein Künstler immer unter dem Zwang der Form, seiner Ausdrucksmittel steht, die das, was er ausdrücken möchte, aktiv verändernd beeinflussen. Am Ende sei noch darauf hingewiesen, daß Dilthey den Zusammenhang des Seelenlebens als ein harmonisches Gebilde (desgleichen natürlich auch das Kunstwerk 8 ) verstanden wissen will. Heute wissen wir jedoch nur zu gut, daß der Mensch in den seltensten Fällen eine widerspruchsfreie, in sich geschlossene Persönlichkeit darstellt. Das ist vielleicht auch einer der wesentlichsten Gründe, warum der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens in der Literaturwissenschaft keine Schule gemacht hat.

8

Die Harmonie des Kunstwerks ist für Dilthey ein ästhetisches Gesetz. E r nennt es in der Poetik nach Fechner das Prinzip der Versöhnung. Demzufolge muß „jedes Dichtwerk, das nicht nur vorübergehende Empfindungen ausdrücken, sondern eine andauernde Befriedigung hervorbringen will, in der Gleichgewichtslage oder in einem Lustzustande, jedenfalls also in einem versöhnenden Endzustande schließen . . . , läge dieser Endzustand auch nur in dem Gedanken, der über das Leben e r h e b t . . . Das lyrische Gedicht, sofern es nicht einen Ton erklingen, sondern einen inneren Vorgang sich ausleben läßt, strebt einer solchen Gleichgewichtslage zu, am schönsten das Goethes. Von der Tragödie Shakespeares ist oft genug gründlich gezeigt worden, daß sie diesem ästhetischen Prinzip entspricht, und es ist in dem so untechnischen Bau des Faust doch ein einziger Vorteil, daß er ganz und voll diesem Schema des Gefühlsvorgangs entsprechend verläuft. Auch die epische Dichtung großer Form . . . muß einer Symphonie gleichen, in welcher eine Disharmonie nach der anderen sich auflöst und schließlich in mächtigen harmonischen Akkorden das Ganze ausklingt" (VI, S. 162 f.).

III. DIE ROLLE DES ERLEBNISBEGRIFFS IN DILTHEYS POETOLOGISCHEN ANSCHAUUNGEN

1. Der Begriff des „Erlebnisses" in der „Poetik" Den Begriff „Erlebnis" gebrauchte Dilthey schon vereinzelt in früheren Schriften, so in seiner Schleiermacherbiographie, in seinen Aufsätzen über Vittorio Alfieri und Balzac und anderswo. D e r dortige Gebrauch dieses Begriffes erwächst vor allem aus Diltheys biographischer Einstellung, seiner Überzeugung, daß das Leben der Denker oder Dichter uns den größten Teil der Geheimnisse ihres Schaffens und auch ihres Werks aufdecken hilft. Es ist im Grunde genommen verwunderlich, daß Dilthey diesen Begriff nicht viel häufiger verwandt hat. U n d selbst in Essay Die Einbildungskraft

der Dichter,

dem

dessen A n l a ß ein Buch war, in

dem es von „Erlebnissen" förmlich wimmelte, ist er in dem Gebrauch dieses Wortes überaus sparsam, obwohl dieser Essay als der erste Versuch gewertet werden kann, den Erlebnisbegriff theoretisch, insbesondere vom Psychologischen her, zu begründen 1 . In diesem lassen sich zwei Bedeutungen des „Erlebnisses" unterscheiden, die etwa mit den Begriffen „äußerer" und „innerer" Erfahrung zusammenfallen. Es ist klar, daß Dilthey sein Augenmerk vor allem auf das von Innen heraus erwachsene Erlebnis lenkt. E r tut dies wahrscheinlich, weil er sich der Flüchtigkeit, des Momentanen der meisten unserer 1

Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die Beobachtungen Rodis über die langsame Herausbildung des Erlebnisbegriffs bei Dilthey: „Wie sich in den mittleren 70er Jahren der Erlebnisbegriff bei Dilthey allmählich zum festen Terminus herausbildet, läßt sidi neben der Erstfassung des Goetheaufsatzes auch besonders schön in der noch unveröffentlichten Fortsetzung der Abhandlung von 1875 (Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften, der Gesellschaft und dem Staat, V 31—74) aus dem Jahre 1876 verfolgen. Die Abhandlung von 1875 schloß: ,Da auf diesem Gebiete (d.h. der Sittlichkeit) alles von innen erlebt und wahrgenommen ist, so können die Prinzipien nicht falsch, sie können nur einseitig sein* usw. Hier erscheint das Wort .erleben' gleichsam wie ein Hinweis auf die noch ausstehenden, wichtigeren Teile der Schrift, während an der früheren Stelle der Abhandlung... das Wort selbst noch fehlt, wenngleich man es gerade hier erwarten sollte" usw. (a.a.O., S. 84 f.). Als eine zentrale poetologische Kategorie setzen wir den Begriff „Erlebnis" jedoch noch später an.

Der Begriff des „Erlebnisses" in der „Poetik"

97

„äußeren Erlebnisse", um hier einmal diesen Begriff zu verwenden, in dem „Getümmel der Welt" nur allzugut bewußt ist und er keine Möglichkeit sieht, aus diesem die Entstehung der Phantasiegebilde des Dichters zu erklären. „Das Leben eines Menschen", führt er in diesem Essay aus, „ist so wundersam verflochten mit den Schicksalen vieler anderer Menschen neben ihm, welche ihm einmal plötzlich mit anschaulicher Macht gegenübertreten, um sich dann meist wieder in dem Getümmel der Welt zu verlieren, oder welche ihn flüchtiger, vielleicht nur in der Äußerung eines gleichgültigen Menschen in der Notiz einer von Tatsachen vollgepfropften Zeitung berühren, so verflochten mit all solchen gesehenen, in Erzählung gehörten, gelesenen Erlebnissen, daß es unmöglich scheint, da so die Luft voll von Keimen, von Motiven und Charakteren und Fabeln ist, aus den uns gegebenen Daten über das Leben eines Dichters die Gebilde seiner Phantasie zu erklären. Mephisto, Gretchen, das Motiv der Wahlverwandtschaften, können Goethe in flüchtigen Lebensbegegnungen aufgegangen sein, welche für den Aufbau seines eigenen Lebens so gut als nichts bedeuteten, welche aber eben diejenige Beschaffenheit hatten, durch die seine Phantasie in leise bildende Tätigkeit des Gestaltens geriet" 4 . Diese Stelle aus Diltheys Essay von 1878 scheint mir ganz wesentlich, da es m. E. unsere Vermutung bestätigt, daß der Begriff des Erlebnisses seinen Aufstieg vor allem seiner „Punktualität" zu verdanken hat. Aus diesem Zitat ersehen wir, daß Dilthey das Punktuelle des modernen Erlebnisses — wenn er dies auch in die Zeit Goethes zurückprojiziert — zumindest geahnt hat. Und die Tatsache, daß er dieses Moment immer nur beiläufig erwähnt (später nicht einmal so deutlich wie hier), beweist um so mehr, daß die zeitgenössische, aktuelle Erlebnissituation den Hinteroder Untergrund seiner Erlebnistheorie bildete, die nichts anderes darstellte als einen groß angelegten Versuch, diese Situation in der Theorie zu überwinden, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit war. Da es sich hier nidit um eine bewußte Schaffung falschen Bewußtseins, sondern um einen mehr unbewußten Versuch eines den Verwandlungen des modernen Zeitalters aufgeschlossenen Denkers handelte, die alten Werte aus der Zeit der Aufklärung und des deutschen Idealismus zu bewahren, mußte das Werk dieses Autors an der Wirklichkeit zerbrechen, was darin zum Ausdruck kommt, daß es nur Fragment geblieben ist, immer wieder neue Ansätze notwendig waren, die am Ende stets an der tatsächlichen Wirklichkeit vorbeigingen. In dem nun schon oft genannten Essay begegnen wir auch der zweiten Bedeutung des Begriffes Erlebnis, der der inneren Erfahrung. Mit einem 1

„Über die Einbildungskraft der Dichter", a.a.O., S. 48 f.

98

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

Erlebnis in diesem Wortverstand haben wir es zu tun, wenn ein „Gemütszustand" mit der „ganzen äußeren Situation", mit allem, was den Menschen umgibt, „mächtig erlebt wird" 3 . Diese Bedeutung ist der ersten im Grunde ganz entgegengesetzt: dort das Äußere, Flüchtige, Momentane, hier das Innere, Langdauernde, mächtig Erlebte, Ganzheitliche. Das wichtigste Moment in diesem Gegensatz bildet das „Ganzheitliche", welches wir an der Formulierung erkennen, daß das Äußere in seinem Ganzen, mit all dem, was es umgibt, vom Dichter erlebt wird, was ja gerade in der modernen Zeit schwer vorstellbar ist, denn heute gehört ja zum intensiven, mächtigen Erleben die Fähigkeit, von all dem Störenden, uns dauernd Ablenkenden zu abstrahieren, sich auf ein Einziges konzentrieren zu können. Hier erkennen wir deutlich das schon erwähnte Streben Diltheys, der neuen realen Erlebnissituation seine Erlebnisauffassung entgegenzusetzen mit dem Ziel, die innere Harmonie, den Zusammenhang des Seelenlebens auch für die modernen Zeiten zu retten. Ähnlich wie in der Musik eines Verdi oder Richard Strauß unternimmt ein großer Denker einen letzten Versuch, ein harmonisches Weltbild vor unseren Augen aufzubauen. Heute finden wir jedoch dies weniger interessant als jene Stellen, an denen man nur allzu deutlich erkennt, daß Risse oder gar Sprünge übertüncht werden. Die unmittelbare Quelle für Diltheys Erlebnisbegriff ist Goethes Schaffensweise, was uns von einer anderen Seite aus beweist, daß hier etwas der Vergangenheit Angehörendes, zeitlich Bedingtes verallgemeinert und damit konserviert wird. Obwohl Dilthey den Erlebnisbegriff, wenn auch in einer doppelten Bedeutung, bereits in dem Essay von 1878 entwickelt hatte, figuriert er dort noch nicht expressis verbis als ein literaturtheoretischer Begriff. Erst nachdem er in seiner Rede „Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn" (1886) den Begriff des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens geschaffen hatte, sollte er ein Jahr darauf in seiner Poetik das Erlebnis in den Mittelpunkt seiner Literaturtheorie rücken. Das Erlebnis wurde für ihn zur kleinsten Einheit, in der der Zusammenhang wirken und durch die er zum Ausdruck gebracht werden konnte. Die Bedeutung des Erlebnisses ist nicht zu verstehen, wenn man etwa versucht, es in einzelne Teile zu zerlegen, sondern nur, indem man es als etwas in sich Geschlossenes nimmt oder über das gegebene Erlebnis selber hinausgeht, es in Verbindung mit anderen Erlebnissen bringt und es in den ganzen seelischen Zusammenhang hineinstellt. 1887 lesen wir in der Poetik, daß das Erlebnis, die lebendige Erfahrung „die Unterlage aller wahren Poesie" bilde, daß sich der Dichter * Ebenda, S. 52

Der Begriff des „Erlebnisses" in der „Poetik"

99

durch den Reichtum und die Mächtigkeit der Erlebnisse auszeichne4. In dieser Arbeit findet auch der Begriff des Erlebnisses eine neue Bestimmung. Im Erlebnis sieht Dilthey einen psychologischen Akt, durch den innere und äußere Erfahrung zu einer Einheit verschmolzen werden. Und gerade die Einheit ist seiner Meinung nach die eigentliche Quelle des dichterischen Schaffens, „Denn das Erlebnis, welches den kernhaften Gehalt aller Dichtung bildet, enthält immer einen Gemütszustand als ein Inneres und ein Bild oder einen Bildzusammenhang, Ort, Situation, Personen als ein Äußeres: in der ungelösten Einheit beider liegt die lebendige Kraft der Poesie". Vom Gesichtspunkt des dichterischen Schaffens aus stellt die Poetik sowohl eine Ergänzung und Vertiefung des Essays von 1878 dar wie auch eine Verabsolutierung dieser Ergänzung. In dem Essay zeigte Dilthey, „daß die Phantasie nur aus dem Material der Erfahrung baut" 5 . In der Poetik schreibt er dagegen, daß das Erlebnis die Grundlage aller Poesie sei, daß der Dichter immer Erlebtes in Dichtung umsetze. Er „steht unter dem Gesetz, daß nur die Möglichkeit und der Reichtum seiner Erlebnisse das Material echter Poesie gewähren"6. Die Ergänzung besteht erstens in der stärkeren Vereinigung von innerer und äußerer Erfahrung, in der nachdrücklicheren Betonung der Notwendigkeit einer inneren Verarbeitung oder besser eines gefühls- und stimmungsmäßigen Durchlebens der Erfahrungen, wobei dieses Moment zugleich überbetont und verabsolutiert wird. Jetzt kommt Dilthey zu dem Schluß, daß Kunst immer aus dem Erlebnis heraus entstanden sei. Alle anderen Faktoren läßt er in den Hintergrund treten, so daß schließlich solche Sätze wie die folgenden von Dilthey als allgemeingültige Thesen formuliert werden können: „3. Das Erlebnis ist Grundlage der Poesie, und so zeigt die niedrigste Zivilisation überall die Dichtung mit primären mächtigen Formen des Erlebnisses verbunden; solche sind Kultushandlung, Festesfreude, Tanz, übergehend in Pantomime, Gedächtnis der Stammesahnen; hier sind schon Lied, Epos und Drama in der Wurzel getrennt"7 oder „Jedes lebendige Werk größeren Umfangs hat seinen S t o f f in einem Erlebten, Tatsächlichen und drückt in letzter Instanz nur Erlebtes, gefühlsmäßig umgestaltet und verallgemeinert, aus"8. Aus dem ersten Zitat erkennen wir zugleich ein anderes wichtiges Moment, welches im Diltheyschen Erlebnisbegriff stets irgendwie mit einbeschlossen ist: die starke Erregung, von der der Künstler bei seinem 4

VI, S. 128

s

„Über die Einbildungskraft der Dichter", a.a.O., S. 87

• VI, S. 165 8

Ebenda, S. 2 0 6

' Ebenda, S. 204

100

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

Schaffen ergriffen wird. Sie bewirkt ein weitestgehendes Sich-Identifizieren des Künstlers mit seinen Gestalten und seinem Kunstwerk überhaupt. Dilthey wird nicht müde, immer wieder sogenannte bestätigende Selbstzeugnisse einzelner Dichter anzuführen, wo Goethe, Otto Ludwig, Dickens, Balzac, Flaubert, Gontscharow und andere mitteilen, wie unerhört eindringlich ihnen alles gegenwärtig war, wie häufig sie mit ihren Helden gelitten und um sie geweint haben. Unter den Autoren der Selbstzeugnisse, die Dilthey anführt, überwiegen übrigens Romandichter des 19. Jahrhunderts. Ich glaube, dies liegt nicht nur darin begündet, daß Dilthey Aussprüche zeitgenössischer Schriftsteller anführen wollte, sondern auch darin, daß er seine Erlebnistheorie mit dem Blick auf das epische Schaffen seiner Zeit entwickelte11. Es ist bestimmt kein Zufall, daß er in seinem Beispielsmaterial für poetologische Gesetzmäßigkeiten fast ausschließlich von Romanen und insbesondere Romanhelden spricht. Er scheint hier die damals übliche Auffassung zu teilen, daß der Dichter und der Romanheld im Grunde ein und dieselbe Person sind. Am deutlichsten hat diese Ansicht einmal Spielhagen in seinem Essay „Der Ich-Roman" ausgesprochen: Die „Untersuchung nach der Natur des Helden im Ich-Roman" führt „in letzter Konsequenz zu einem gar sonderbaren E r g e b n i s . . . Zu dem Ergebnis, daß im tiefsten Grunde in jedem modernen Roman, auch wenn er den Anschein der Objektivität und Ichlosigkeit noch so streng festzuhalten sucht, jene approximative Kongruenz von Dichter und Held stattfindet; und daß, wenn bezüglich des Grades von Subjektivität und Ichmäßigkeit innerhalb des Gebietes des modernen Romans allerdings noch Unterschiede stattfinden, verglichen mit der Objektivität und Ichlosigkeit der homerischen Gedichte jeder moderne Roman subjektiv und ein Ich-Roman ist" 10 . Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Dilthey, wenn er z. B. ausführt, daß sich die Romandichter immmer wieder mit den Gefühlen und Schicksalen ihrer Gestalten identifiziert haben, als wären diese ihnen 8

10

Im allgemeinen ist man der Auffassung, daß es die Lyrik, als der subjektive Ausdruck des Ichs, war, die das Eindringen des Erlebnisbegriffs in die deutsche Literaturwissenschaft besonders förderte. Meines Erachtens trug der Roman des 19. Jahrhunderts viel stärker dazu bei, denn dieser kam der Erlebnishaltung der Leser in größerem Maße entgegen als das Gedicht. Bei der Lyrik glaubte der Leser zwar zu wissen, daß hier Erlebnisse des Dichters poetisch dargestellt sind, aber zu einem genaueren Verständnis des Erlebnisgehalts des Gedichts war er genötigt, zu einer Biographie zu greifen. Beim Roman genügte dagegen eine Identifizierung mit den Erlebnissen des Helden und die dunkle Ahnung, daß der Held im tiefsten Grund dem Dichter ähnle. Friedrich Spielhagen, a.a.O., S. 132

Der Begriff des „Erlebnisses" in der „Poetik"

101

Wirklichkeit gewesen, was ihn sogar zu der Verallgemeinerung veranlaßt: „Seine Gestalten bewegen sich vor ihm (dem Dichter), und er vernimmt ihre Stimme. Ihre Schmerzen und Schicksale sind ihm Wirklichkeiten" 11 . Hier begegnen wir übrigens einer charakteristischen Tendenz Diltheys: eine Situation, die in einem bestimmten Bereich ihre Berechtigung hatte, wird über ihren Geltungskreis hinaus verallgemeinert, um grundlegende Ideen, Begriffe oder Gesetzmäßigkeiten „empirisch" zu belegen und zu stützen. In unserem konkreten Fall soll das Miterleben, Sichidentifizieren der Dichter mit dem Schicksal ihrer Helden bestätigen, daß ein Dichter immer aus dem Erleben heraus gestaltet. Und diese These soll zugleich vom Psychologischen her erklären, warum das dichterische Werk eine derart lebendige Wirkung auf den Leser ausüben kann, warum die an sich tote Welt im Kunstwerk die Kraft einer wirklichen Welt ausstrahlt. Was der Dichter an Gefühlen in die Dichtung hat eingehen lassen, muß notgedrungen auch die Gefühle des Lesers ansprechen und in ihm eine ähnliche Erregung hervorrufen, wie sie der Künstler spürte. „Die Dichtung entspringt", heißt es in der Poetik, „indem ein Erlebnis drängt, in Worten, sonach in einem Zeitverlauf ausgesprochen zu werden. Dieser Vorgang ist von einer starken Erregung begleitet und ruft eine solche im Hörer hervor. Aus den Worten bildet die Phantasie des Hörers das Erlebnis nach und wird nun ebenfalls, obwohl schwächer, erschüttert" 12 . Das bindende Glied zwischen Dichter und Hörer (bzw. Leser) ist also das Erlebnis. Der einzige Unterschied, der zwischen beiden besteht, ist der, daß sie sich durch eine unterschiedliche „Energie des Erlebnisses" auszeichnen. Der Dichter hebt sich vom Durchschnittsmenschen dadurch ab, daß er alles, was ihm im Leben begegnet, bereitwilliger und intensiver erlebt. Seine ganze Organisation ist schon immer auf das Erleben eingestellt. „Das Schaffen des Dichters beruht überall auf der Energie des Erlebens. In seiner Organisation, die eine starke Resonanz für die Töne des Lebens hat, wird die tote Notiz eines Zeitungsblattes, unter der Rubrik ,aus der Verbrecherwelt', der dürre Bericht des Chronisten oder die groteske Sage zum Erlebnis"13. Dadurch, daß der Dichter aus dem Erlebnis schafft, kann sein Werk „Lebendigkeit" ausstrahlen, was für Dilthey ein grundlegendes Merkmal der Poesie überhaupt ist. „Die Funktion der Poesie i s t . . . zunächst", erklärt Dilthey in der Poetik, „nur auf das P r i m ä r e angesehen, daß sie diese Lebendigkeit in uns erhält, stärkt und wachruft. Zu dieser Energie des Lebensgefühls, die uns in den schönsten Augenblicken erfüllt, » VI, S. 97 1S Ebenda, S. 130

" VI, S. 192

102

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

dieser Innigkeit des Blicks, durch welche wir die Welt genießen, führt uns die Poesie beständig zurück. Während wir in unserer wirklichen Existenz zwischen Begehren und Genuß in unruhigem Wechsel sind und das sich ausatmende Glück nur ein seltener Festtag dieser Existenz ist: erscheint der Dichter, bringt uns diese Gesundheit des Lebens, gewährt uns durch seine Gebilde solche lang dauernde Befriedigung, ohne bitteren Nachgeschmack, und lehrt uns, so zu fühlen und so die ganze Welt als Erlebnis zu genießen: in allem diesen der volle, ganze, gesunde Mensch" 14 . Bei der Gestaltung des Erlebnisses muß daher der Dichter auf zwei Dinge achten: erstens hat er alles so lebendig darzustellen, daß der Leser das Geschilderte als etwas wirkliches, ein Stück Leben miterlebt; zweitens darf er nur das beschreiben, was mit dem moralischen Empfinden des Lesers im Einklang steht, seinen Genuß nicht stört, ihm also „Gesundheit" bringt. Obwohl vom Dichter verlangt wird, aus dem Erlebnis heraus zu schaffen, werden ihm jedoch Schranken entgegengestellt, er hat sich immer als ein „gesunder, voller Mensch" zu zeigen. Auf dieses Moment werden wir noch im dritten Abschnitt dieses Kapitels zurückkommen. Hier möchten wir uns noch einmal kurz dem Begriff der Lebendigkeit zuwenden, der im engen Zusammenhang mit dem des Erlebnisses zu sehen ist. Unter Lebendigkeit der dichterischen Gestaltung versteht Dilthey, daß die Figuren, Charaktere und Konflikte lebensnah erscheinen und die poetischen Bilder unmittelbar-sinnlich erfaßbar sind. Lebendigkeit ist ein Grundkriterium für die Beurteilung literarischer Kunstwerke. Von ihr hängt „die am meisten elementare Wirkung aller Poesie" 15 auf den Leser und Hörer ab. Poesie kann jedoch nach Dilthey nur lebendig wirken, wenn sie selber aus lebhaftem, ja elementarem Erleben der den dargestellten Helden, Situationen und Bilder zugrundeliegenden Erscheinungen des Lebens entsprungen ist. Nur Lebendigkeit erzeugt Lebendigkeit, glaubt Dilthey behaupten zu dürfen. Er bezeichnet es als einen Satz, „daß alle Poesie das im Gefühl genossene Leben bildlich macht und in das Bildliche der Anschauung die im Gefühl genossene Lebendigkeit hineinträgt" 18 . Die an Erlebnisdichtung orientierte Literaturkritik mißt daher den künstlerischen Wert eines Werks vor allem daran, ob es dem Dichter gelungen ist, blutvolle Gestalten und ergreifende Konflikte geschaffen zu haben und ob seine Bilder auch anschaulich sind. Diese Art der Bewertung, die heute noch oft anzutreffen ist, hat von der scharfen Kritik, die seit mehreren Jahrzehnten an der Theorie der Lebendigkeit und Anschaulichkeit des Bildes geübt worden ist, nicht Kenntnis genommen. So 14 18

Ebenda, S. 131 Ebenda, S. 177

15

Ebenda, S. 155

Diltheys Begriff der „poetischen Technik"

103

hat der russische Denker Gustaw Spiet dieser Theorie schon sehr früh entgegengehalten, daß poetische Bilder schließlich als Metaphern und Tropen, als Ausdrucksformen besonderer Art aufgefaßt werden wollen. Andere haben in den zwanziger Jahren auf die Eigentümlichkeit der Dichtung hingewiesen, mit sprachlichen Mitteln ein Wortkunstwerk zu schaffen. Phänomenologen wie Roman Ingarden sehen in der Anschaulichkeit der Bilder etwas, das in die Sphäre der Rezeption des Werks durch den Leser gehört. I. A. Richards setzt an die Stelle der Lebendigkeit, der sinnlichen Qualität des Bildes dessen geistige Wirkung. Bei aller Richtigkeit dieser Kritik taucht natürlich gleichzeitig die Frage auf, ob es nicht angebracht wäre, dort, wo es die Dichter auf Lebendigkeit angelegt haben, diesen Begriff neben anderen ruhig für die Charakteristik des Werks zu gebrauchen, und da, wo poetische Erfindungen, Metaphern, kunstvolle Wortschöpfungen usw. die Hauptrolle spielen, auf ihn zu verzichten.

2. Diltheys Begriff der „poetischen Technik" als einer T r a n s f o r m a t i o n des Erlebnisses Wie wir schon in dem Abschnitt „Die Phantasie und die Technik der Dichter" ausführten, äußerten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast alle deutschen Schriftsteller von Rang und Namen zu Fragen der „poetischen Technik", wobei sie vor allem ihre eigenen Erfahrungen zu verallgemeinern versuchten. Auch Dilthey, der ja nicht als Praktiker — denn die eine Novelle, die er verfaßt hat, berechtigt uns schließlich noch nicht, ihn als Schriftsteller zu klassifizieren —, sondern als Theoretiker, Literaturwissenschaftler auftritt, sucht Wege, bei denen er sich auf die Erfahrungen der Dichter, insbesondere der zeitgenössischen, stützen konnte. Eine dieser Möglichkeiten schienen ihm die Mitteilungen der Dichter über ihr eigenes Schaffen zu bieten. In seinen poetologischen Schriften führt er sie als sogenannte „bestätigende Selbstzeugnisse" an. Es handelt sich hier um ein bewußt induktives Verfahren, von dem sich Dilthey eine größere Wissenschaftlichkeit der Ästhetik versprach. Die Anwendung eines derartigen Verfahrens hatte er breits in seinen frühen Schriften und Aufsätzen verlangt. Dabei ist es bemerkenswert, daß ihm nicht eine einfache Induktion vorschwebte, der alle oder fast alle Materialen zugrunde gelegt werden, sondern eine Induktion, die die repräsentativsten „Zeugnisse" zum Ausgangspunkt nimmt. So heißt es z. B. in seinem Aufsatz „Charles Dickens und das Genie des erzählenden Dichters" (1877): „In dem ungeheuren Reiche der Tatsachen, welche der

104

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

Kunst angehören oder auf sie Licht werfen, gibt es nun einzelne, welche die Natur künstlerischen Bildens besonders deutlich und hell sichtbar machen. Es sind gleichsam prärogative Instanzen für die große hier stattfindende Induktion. Ein solcher Fall ist der berühmte Brief von Mozart, welcher den Einblick in die Art seines Schaffens eröffnet. Ein solcher Fall ist das Gespräch Michelangelos mit Vittoria Colonna über die Malerei. Ein Fall geringerer Art waren die in dem Nachlaß von Otto Ludwig enthaltenen Selbstbekenntnisse. Für die Natur des erzählenden Dichters möchte es keinen gleich instruktiven Fall geben, als derjenige ist, den die Mitteilungen über Dickens für uns bilden"1. Von besonderer Bedeutung sind für Dilthey auch die neuen „Techniken". Das beweisen sowohl die von uns besprochenen Rezension der Freytagschen Arbeit über die Technik des Dramas wie auch seine Berufungen auf Otto Ludwigs und vor allem Spielhagens kritische Schriften. Aber im Gegensatz zu Ludwig, Freytag, Storm, Spielhagen und anderen Zeitgenossen, die sich in ihren vorwiegend2 induktiv-technisch ausgerichteten Erörterungen über Fragen der Literatur auf eine oder zwei Gattungen beschränkten, möchte Dilthey in seiner Poetik das dichterische Schaffen in allgemeinster Form, ohne Berücksichtigung der gattungsbedingten Merkmale, mit dem Begriff der „poetischen Technik" fassen. Dies ist seiner Meinung nach möglich, wenn man von der Psychologie ausgeht, denn nur die psychologischen Grundlagen des Schaffensprozesses seien von den historischen Bedingungen unabhängig, was man von den technischen Mittel und künstlerischen Formen nicht behaupten könne. Dilthey kommt jetzt zu dem Schluß, daß der Versuch Gustav Freytags, ein allgemeines Aufbauprinzip für das Drama als solches — von den Alten bis zu den Neueren — zu finden, von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Das gleiche gelte auch von Otto Ludwigs Bemühungen, die Regeln des Shakespeareschen Dramas auf das moderne Schauspiel zu übertragen. Trotz dieser Kritik Diltheys an den Anschauungen der genannten Autoren, sind jedoch deren Erkenntnisse in hohem Maße die Basis für seine Verallgemeinerungen, wobei er sein Hauptaugenmerk auf die psychologischen Bemerkungen dieser Autoren richtet. Diese Ausrichtung auf das Psychologische sowie der Versuch, auf die Gattungsmerkmale weitestgehend zu verzichten, mußten jedoch unweigerlich, wie wir noch sehen werden, zu einer Auflösung des eigentlich „Technischen" führen. 1

1

Die große Phanatasiedichtung, a.a.O., S. 255, in Westermanns Monatshefte 1877, S. 483. Selbstverständlich finden wir auch bei diesen Autoren noch Anklänge an die alten deduktiven ästhetischen Methoden vor. Als Beispiel sei hier Spielhagens Charakteristik der epischen Phantasie und seine Berufung auf Humboldt, insbesondere auf dessen Kategorie der Objektivität genannt.

Diltheys Begriff der „poetischen Technik"

105

Neben der Verallgemeinerung der dichterischen Erfahrungen stellt Diltheys Begriff der „poetischen Technik" den Versuch dar, in neuer Weise zwei große Bereiche miteinander zu vereinen, an deren Auseinanderklaffen bisher alle Poetiken irgendwie zu leiden hatten, und zwar den Bereich des „poetischen Einducks", d. h. der Wirkung des Kunstwerks auf den Leser oder Zuhörer, und den des künstlerischen Schaffens. In diesem Sinne heißt es in der Poetik, daß „unwillkürliches unablässiges Bilden und zugleich die Berechnung des Eindrucks sowie der Mittel, ihn herbeizuführen", in der poetischen Technik wirke®. Man fragt sich natürlich, wie es Dilthey gelingt, diese beiden unterschiedlichen Dinge, das dichterische Schaffen und die Wirkung des Kunstwerkes miteinander zu verknüpfen, unter den Begriff der „poetischen Technik" zu bringen. Diltheys Meinung zufolge haben die bisherigen Poetiken daran gekrankt, daß sie entweder den einen oder anderen Gesichtspunkt verabsolutierten. „Wenn die Poetik vom Eindruck ausgeht, macht sie die Dichtung mehr oder weniger zum Werk des Verstandes, welcher Wirkungen berechnet, und das geschah der von Aristoteles abhängigen Poetik. Erscheint dagegen unbewußtes Schaffen als die Quelle der dichterischen Form, dann werden Regeln, erworbene Einsichten sowie verstandesmäßige Gliederung verachtet, und das geschah der zweiten Periode unserer Romantik, den Arnim und Brentano" 4 . Dilthey fordert daher, daß die Poetik „beide Tore ihrer Erfahrungen soweit als möglich" öffnen möge, „damit keine Art von Tatsache oder Verfahren ausgeschlossen werde!" 4 . Wie lassen sich jedoch diese beiden Gesichtspunkte miteinander vereinen? Der goldene Schlüssel ist hier: das Erlebnis. Diltheys Gedankengang ist folgender: Als das Primäre haben wir das Schaffen des Dichters anzusehen, der den Drang hat, Erlebnis auszusprechen, ohne an den mutmaßlichen Eindruck zu denken, den das Werk hervorrufen könnte. Darstellung von Erlebnissen bedeutet aber vor allem Umsetzung von Gefühlen, Stimmungen und anderen seelischen Vorgängen in Dichtung. Was so aus dem Emotionalen heraus entstanden ist, muß auch wiederum das Gefühl ansprechen, erregen. Oder anders ausgedrückt, gestaltetes Erlebnis muß beim Leser erneut Erlebnis hervorrufen. Schaffen und Eindruck sind also zwei gleichartige Vorgänge, die sich nur in dem Grade und der Dauer der Erregung unterscheiden, jedoch nicht strukturell5. » VI, S. 194 4 Ebenda, S. 195 s

„Die Verbindung von einzelnen Seelenvorgängen, in welchen eine Dichtung geboren wurde, ist nach Bestandteilen und Struktur derjenigen ähnlich, welche sie dann bei dem Hören oder Lesen hervorruft" (ebenda, S. 194).

106

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

Hieraus ergäbe sich eigentlich folgerichtig die Ansicht, daß der Dichter nur sein Erlebnis darzustellen brauche und somit schon eo ipso die Gefühle seiner Leser erwecken würde. Dieser Schluß wäre jedoch im Diltheyschen Geiste zu einseitig, denn an anderer Stelle betont Dilthey gerade, daß der Leser von einem Kunstwerk nicht nur die Darstellung des vom Dichter Erlebten erwarte, sondern dies auch als etwas in sich Geschlossenes, als einen großen „Bildzusammenhang" nacherleben können wolle. Diese Darstellung soll darüber hinaus etwas Neues und Bedeutungsvolles über das Leben aussagen. Der Leser wird keine wahre Befriedigung finden, wenn der Dichter sein Erlebnis einfach wiedergibt, weil er dann vieles nicht ohne weiteres, nicht „ohne Anstoß"', „nachzubilden" vermag. Aus diesem Grunde sei der Dichter gezwungen, auf das, was nicht allgemeingültig ist, d. h. nicht alle anspricht, zu verzichten. Es müsse unwirksame Episoden ergänzen, andere wiederum erhöhen usf. Mit anderen Worten, ein Dichter muß bis zu einem gewissen Grade bewußt schaffen, d. h. sich solcher Mittel bedienen, die ein lebendiges Mitgehen des Publikums bzw. Lesers gewährleisten. Hier ist allerdings zu fragen, wie dies ohne Regeln möglich ist, wie der Schriftsteller denn wissen soll, was allgemeingültig, allgemein ansprechend ist, was „ohne Anstoß" nachvollzogen werden kann. Nach Dilthey ist ein solches Wissen nicht nötig. Die Allgemeingültigkeit ergibt sich erstens aus der besonderen Art, wie Dilthey das dichterische Erlebnis faßt, und zweitens hängt sie aufs innigste mit seinem Begriff des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens zusammen, in welchem er eine Widerspiegelung der Wirklichkeit sieht. Und diese beiden Begriffe, dichterisches Erlebnis und Zusammenhang des Seelenlebens, sind zentrale Kategorien der poetischen Technik. Immer wieder betont Dilthey, daß uns das Erlebnis nur dann ergreifen wird, wenn es das ganze Leben in seiner Fülle und Tiefe erfaßt. „Nur in dem Grade, als es gelingt, das Erlebnis so zu gestalten, daß es viele Erfahrungen in höchster Steigerung enthält, kann es den welterfahrenen, denkenden Mann beschäftigen und erfüllen", führt Dilthey in seiner Poetik aus7. Dank der Allgemeingültigkeit des dichterischen Erlebnisses kann also auch das Werk allgemeingültig sein. Die zweite Voraussetzung ist mit der Grundüberzeugung Diltheys verbunden, daß der Dichter nie die Gegebenheiten der menschlichen Wirklichkeit aus den Augen verliere und daß sein Werk diese in ihrem Gesamtzusammenhang spiegle bzw. repräsentiere.

• Vgl. ebenda, S. 186

'

Ebenda, S. 185

Diltheys Begriff der „poetischen Technik"

107

Dem „erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens" entspricht in der Sphäre des Kunstwerkes der „Bildzusammenhang", dem es zu verdanken ist, daß der Leser oder Hörer das Kunstwerk lückenlos, „ohne Anstoß" nachzuvollziehen vermag, was für Dilthey gleichbedeutend damit ist, daß ein solches Kunstwerk Allgemeingültigkeit besitzt. „Die Allgemeingültigkeit bedeutet, daß jedes fühlende Herz das Werk nachbilden und genießen kann" 8 , heißt es in der Poetik. Zu den Begriffen dichterisches Erlebnis und erworbener Zusammenhang des Seelenlebens kommt als dritter das allgemeingültige, d. h. allgemein „nachbildbare" künstlerische Ganze hinzu. Und diese drei bilden die Grundpfeiler des Diltheyschen Begriffes der „poetischen Technik". Dem widerspricht auch nicht die Tatsache, daß in der Definition dieses Begriffes, die Dilthey in seiner Poetik gibt, das Mittelglied, der Zusammenhang des Seelenlebens, fehlt. Er bildet dafür die Basis, auf der alles andere ruht. Diese Definition lautet folgendermaßen: „Unter poetischer Technik verstehen wir das seines Ziels wie seiner Mittel bewußte und deren sichere Schaffen des Dichters. Die Technik des Dichters ist Transformation des Erlebten zu einem nur im Vorstellen des Hörers oder Lesers bestehenden Ganzen, welches Illusion erzeugt und durch sinnliche Energie des Bildzusammenhangs mächtigen Gefühlsgehalt, Bedeutsamkeit für das Denken sowie durch andere geringere Mittel eine dauernde Befriedigung hervorbringt"'. Nur indem Dilthey auf alle gattungsbedingten Merkmale verzichtete und sich auf das Psychologische konzentrierte, konnte er bei seinem Unternehmen, Schöpfungs- und Wirkungspoetik zu vereinen, auf einen Erfolg hoffen. Das Poetologische selber mußte dabei zu kurz kommen. Da wo Dilthey auf die poetischen Mittel und Formen zu sprechen kommt, sucht er sofort wieder nach dem psychologischen Äquivalent dieser Mittel. Ihre Rolle und Funktion im literarischen Werk als solchem interessieren ihn weniger, so gut wie gar nicht. So beschäftigt er sich beispielsweise bei der metrischen Form nicht mit deren Bedeutung für das Werk und dessen künstlerische Wirkung, sondern versucht zu zeigen, daß die Metrik als solche eine äußere Entsprechung unserer inneren Bewegungen darstellt. In ähnlicher Weise erklärt er Hyperbel und Verkleinerung. Sie sind für ihn „Verstärkung und Minderung von Bildern, ihre Erweiterung und Zusammenziehung unter dem Einfluß der Gefühle" 10 . Beispiele dieser Art ließen sich noch um eine ganze Reihe anderer vermehren. In ihnen tritt die Tendenz zutage, die poetischen Mittel als einen Ausdruck des Inneren anzusehen. Wir können hier allerdings nur von einer Tendenz sprechen, 8 10

Ebenda, S. 186 Ebenda, S. 228

9

Ebenda, S. 198

108

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

denn Dilthey ist der Ansicht, daß es keine allgemeingültige poetische Technik gibt (was in sich einschließt, daß auch die poetischen Mittel nicht allgemeingültig, d. h. historisch unveränderlich sein können). Diese hängt immer von den jeweiligen historischen Umständen ab, was Dilthey allerdings nur an den großen Formen, vor allem am Drama und Roman, demonstrieren kann. Hier gebraucht er auch Formulierungen, die uns an die Abbildtheorien, wie wir sie aus den Realismustheorien kennen, erinnern. D a heißt es z. B., daß der Roman einen „freien, betrachtenden Blidc über den Zusammenhang der Weltwirklichkeit zu gewähren" 1 1 vermag (gemeint ist der Roman des 19. Jahrhunderts), daß man „auf der Bühne des Shakespeare und Lope noch den kriegerischen Lärm der letzten Kämpfe zwischen dem Königtum und feudalen Herren" vernehme12, daß das französische Theater des 17. Jahrhunderts „die Epoche der absoluten Monarchie in ihren stärksten und zartesten Gefühlen" repräsentiere. All diese Bemerkungen finden wir in dem Kapitel über die „Geschichtlichkeit der poetischen Technik". Was veranlaßte Dilthey, gerade in diesem Kapitel Beobachtungen dieser Art anzuführen? Ist für ihn die künstlerische Abbildung einer Epoche in der Dichtung dieser Epoche tatsächlich ein Problem der „poetischen Technik"? Wohl ja, da es sich hier um die Transformation von Erlebtem (genommen in einer sehr weiten Bedeutung) in ein künstlerisches Ganzes handelt. Man könnte es auch so formulieren, daß das ganze Zeiterlebnis des Künstlers in das Werk eingeht. In enger Verbindung mit dieser Ansicht steht unseres Erachtens auch seine Behauptung, daß ein innerer Zusammenhang zwischen einem „geschichtlich erwachsenen Gehalt und der ihm zugehörigen Form" bestehe13. Leider gehören solche Feststellungen bei Dilthey mehr an den Rand der Betrachtungen. Sonst wäre er der Vater der Literatursoziologie geworden. So ist er es nur indirekt, weniger durch seine theoretischen Ausführungen über die Dichtung, als durch seine konkreten geisteswissenschaftlichen Studien. Wenn man Dilthey in eine derartige Nähe zur Abbildtheorie stellt, wie wir es eben taten, darf man nicht vergessen, daß in der Poetik zwar ein innerer Zusammenhang zwischen dem „geschichtlich erwachsenen Gehalt und der ihm zugehörigen Form" konstatiert wird, jedoch unmittelbar nach diesem Satz die Feststellung folgt, daß erst durch die „Selbstherrlichkeit des Genies" ein Zusammenhang in die spröden historischen Tatsachen gebracht und erst durch ihn der Geist der Zeit geschaffen werde. Später vernehmen wir jedoch kein Wort mehr in seiner Poetik, daß der Geist der Zeit das Werk des genialen Autors sei. Im Gegenteil, Diltheys Formu11

"

Ebenda, S. 240 Ebenda, S. 228

12

Ebenda, S. 239

Diltheys Begriff der „poetischen Technik"

109

lierungen madien eher den Eindruck, daß er an eine objektive Wiedergabe der Zeitverhältnisse denkt. Wenn er beispielsweise am Ende seiner Poetik erklärt, daß es uns (ihn und seinen Zeitgenossen) dränge, „die großen Zentren des Lebens in ihrem Wesen und ihrer Bedeutsamkeit aufzufassen", daß, seitdem die Deutschen eine eigene Hauptstadt haben, dem deutschen Roman eine neue Aufgabe erwachsen sei, so ist das ganz und gar im Sinne einer objektiven Widerspiegelung gemeint. Den subjektiven Faktor haben wir hier wahrscheinlich auf den besonderen Gesichtswinkel des Künstlers, die Färbungen, die Stimmungsbilder usw. zu reduzieren. Man hat jedoch den Eindruck, daß Dilthey in der Frage, inwieweit der Dichter den Geist der Zeit auch selber schafft, nicht zu vollkommener Klarheit gekommen ist. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Nebeneinander zweier Gedankengänge, worauf wir noch weiter unten zurückkommen. Es gibt jedoch noch einen zweiten, weit wichtigeren Grund, warum Dilthey gerade in dem Kapitel über die „Geschichtlichkeit der poetischen Technik" von der künstlerischen Abbildung der Zeit bzw. Epoche spricht, nämlich um seine Grundthese dieses Kapitels zu beweisen, daß es keine für alle Zeiten allgemeingültige poetische Technik gibt und geben kann. Eine solche Allgemeingültigkeit kann es nicht geben, weil in jeder Zeit ein anderer Geist herrscht, was zur Folge hat, daß sich auch der Gehalt der Dichtungen und damit ebenfalls die Form je nach der Epoche ändern. Die Veränderung der Form mußte natürlich auch eine Veränderung der poetischen Technik nach sich ziehen. Und wie die Literaturgeschichte zeigt, gibt es tatsächlich keine derartige historische Allgemeingültigkeit der poetischen Formen und „Techniken". Der erste Schritt zu dieser Erkenntnis ist in Deutschland meines Wissens von Herder gemacht worden, u. a. mit seiner Forderung, den Dichter und die literarischen Werke immer aus den geschichtlichen Umständen heraus zu interpretieren 14 , und seiner genialen Feststellung, daß die griechische Tragödie unter ganz anderen Bedingungen entstand als die des Shakespeare und daß beide schon deswegen gattungsmäßig etwas ganz Unterschiedliches verkörpern müssen15. Die Romantiker haben durch die systematische literaturgeschichtliche Analyse der literarischen Werke der 14

Vgl. u. a. Johann Gottfried Herder, Werke, hsg. von Suphan, Bd. II, S. 161.

15

„In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte, in Griechenland wars, was es in Norden nicht sein kann. In Norden ists also nidit und darf nicht sein, was es in Griechenland gewesen. Also Sophokles' Drama und Shakespeares Drama sind zwei Dinge, die in gewissem Betracht kaum den Namen gemein haben", Herders Werke in fünf Bänden, a.a.O., Bd. II, S. 238.

110

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

verschiedensten Völker und durch die Erschließung neuer literarischer Quellen ein völlig neues Licht auf die geschichtliche Bedingtheit der Dichtungsformen geworfen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde man sich dann einer anderen wesentlichen Erscheinung bewußt: daß nicht nur die literarischen Gattungen Wandlungen durchmachen, sondern daß es auch Epochen gibt, in denen ganz bestimmte Gattungen vorherrschen bzw. völlig neue entstehen. Das beste Beispiel hierfür lieferte die eigene Zeit, in der der realistische Roman seine Triumphe feierte, während das Drama einen Tiefpunkt erlebte. (Die Zeit Hauptmanns war noch nicht gekommen, als Dilthey seine Poetik veröffentlichte). Hier liegt eine der Wurzeln der These Diltheys, daß jeder „geschichtlich erwachsene Gehalt . . . die ihm zugehörige Form" ausbilde. Uber die Änderungen der poetischen Formen entscheiden nach Dilthey der Gehalt und die Aufgaben, die sich die Literatur stellt. Glänzend sind in dieser Hinsicht seine Bemerkungen über den modernen Roman in der erweiterten Fassung des Dickensaufsatzes. Dort führt er aus, daß zur Zeit nur der Roman imstande sei, die Probleme der Gegenwart wiederzugeben. Einst, im 16. Jahrhundert wäre dies noch dem Drama geglückt, doch jetzt habe sich das Leben allzusehr verändert, so daß „kein Drama . . . in der Kondensation seiner Handlung, unter den Bedingungen eines sichtbaren Verlaufs, diese Aufgabe zu erfüllen" vermag. Die Wirklichkeit ist zu prosaisch, zu spröde für jegliche Poesie geworden. Mit sehr treffenden Worten hat Dilthey diese neue Situation charakterisiert: „Das moderne Leben ist in technischer Arbeitsteilung zu einer unfaßlich komplizierten und zugleich mechanischen ursächlichen Verkettung der Vorgänge und Handlungen gelangt: sein Schauplatz hat sich ins Unermeßliche ausgedehnt. Es läßt eine Mannigfaltigkeit individueller Charaktere entstehen, die grenzenlos ist. Es hat zu Springfedern Motive, die in die tiefsinnigste intellektuelle Arbeit und die technisch schwierigsten politischen Aktionen zurückreichen. Unermeßlich, alles, spröde für die Poesie, dort nüchterner Mechanismus, hier äußerste intellektuelle Komplikation!" 1 * Nur der Roman verfügt nach Dilthey über die Mittel, die Breite des gesellschaftlichen Lebens einzufangen. Daher auch seine optimistischen Worte: „Und doch, wir dürfen es mit Stolz sagen, zeigt der moderne Roman eine großartige, dem wahren Ziel moderner Poesie sich nähernde Entwicklung" 16 . Ausgezeichnet sind die weiteren Bemerkungen über die Entwicklung des Romans zu seinem „wahren Ziel" hin. Sie zeugen von Diltheys Gabe, große geistesgeschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge mittels nur einiger weniger Sätze in ihrem Wesen zu charakterisieren. In der Epoche eines Dickens und Balzac entsprang aus dem 18

Die große Phantasiedichtung,

a.a.O., S. 306

Diltheys Begriff der „poetischen Technik"

111

Sitten- und Bildungsroman, „ein allseitigeres Streben, die ganze Gesellschaft eines zeitlich, räumlich und sozial gegebenen Lebens von ihren Bedingungen ab aufwärts abzubilden. Hilfsmittel zur Lösung dieser Aufgabe wurden ersonnen. Dies waren wichtige Schritte auf einem langen Wege. Das Epos war einst das Abbild der kriegerischen Epoche von Völkern gewesen: ein Spiegel ihres ganzen Lebens für sie. Ein solches Bedürfnis ist immer da. Soweit diese Aufgabe in einer Epoche der Industrie, des Handels, der entwickelten Zivilisation und Wissenschaft lösbar ist, sucht für diese unvergleichlich zusammengesetztere Gesellschaft der moderne Roman sie zu lösen. Daher die Gesellschaft seiner bedarf und nach ihm sucht. Die Aufgabe entspricht dem in die gesellschaftliche Wirklichkeit vertieften 19. Jahrhundert. Dieselbe Epoche, welche die Analysis der Gesellschaft in ihren verschiedenen Kultursystemen mit dem Bewußtsein des inneren Zusammenhangs aller Erscheinungen dieses Ganzen erfüllte, welche die Soziologie hervorbrachte, hat auch den sozialen Roman geboren. Ohne die Bedürfnisse, Fragen und wissenschaftlichen Tendenzen dieser Zeit wäre er nicht zu denken" 17 . Dilthey gelingt es natürlich nur — und das eigentlich auch bloß in bezug auf den modernen Roman und z. T. auf das englische Drama des 16. Jahrhunderts — bei den großen Gattungen zu zeigen, inwieweit diese durch die geistesgeschichtliche und gesellschaftliche Situation bedingt sind. Seine Ausführungen über die literarischen Formen lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Die erste umfaßt Erörterungen über die großen Gattungen, die zweite Bemerkungen über kleinere Formelemente der Literatur (wie Motiv, Fabel, Wortspiel, Gleichnis, Rhythmus) und ästhetische Kategorien (das Erhabene, Schöne, Komische usw.). Bei der ersten Gruppe dominieren geschichtliche, geistes- und literaturgeschichtliche Gesichtspunkte, während in der zweiten Gruppe die psychologische Betrachtungsweise vorherrscht. Hier glaubt Dilthey, es mit historisch unveränderlichen Elementen der Literatur zu tun zu haben. Ihr Auftreten in der Dichtung versucht er daher, aus den psychischen Besonderheiten der Menschen zu erklären, wobei er sich weitestgehend auf die Ergebnisse der Völkerpsychologie (Waitz, Tylor) und der empirischen Ästhetik Fechners stützt. Eine Verflechtung der psychologischen und sozialhistorischen Erklärungsweise strebt er nicht an. Dazu fehlt es ihm einfach an den entsprechenden Begriffen und Methoden, die sowohl das Subjektive wie auch das Objektiv-Gesellschaftliche einschlössen. Dazu mußten auch bestimmte Fragen erst einmal aufgeworfen werden, z. B. inwieweit sogar psychologische Merkmale des Menschen gesellschaftlich bedingt sind und andere mehr. Trotzdem darf man nicht übersehen, daß die literaturhistorischen 17

Ebenda, S. 306 f.

112

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

Aufsätze Diltheys wertvolle literatur-soziologische Ansätze enthalten, von denen die fachgermanistische Literaturwissenschaft nie recht

Gebrauch

gemacht hat. Sie hat Dilthey in anderer Hinsicht ausgebeutet. Als literatursoziologische Gesichtspunkte endlich auch in die Fachgermanistik breiteren Eingang fanden, war Dilthey schon längst zu einem Lebensphilosophen und konsequenten Idealisten uminterpretiert worden. Zu dieser einseitigen Auslegung gehörte selbstverständlich auch die Überspielung aller Ansätze in den Schriften Diltheys, die in eine andere Richtung hätten führen können. Es scheint mir in dieser Hinsicht symptomatisch, daß Aufsätze, wie Shakespeare und seine Zeitgenossen und die Neufassung des Dickensaufsatzes erst am Ende der dreißiger J a h r e von Hermann N o h l zum Druck vorbereitet wurden, nachdem das Diltheybild schon feststand und diese schließlich relativ kleinen Arbeiten dem fertigen Bild nichts mehr anhaben konnten. Charakteristisch ist es auch, daß die historischen Arbeiten Diltheys auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften nie vom Methodologischen her eingehend analysiert worden sind. Zusammenfassend können wir sagen, daß Dilthey mit seinem Begriff der „poetischen Technik" sehr unterschiedliche Gebiete unter einen Nenner zu bringen versuchte. In die „poetische Technik" gehören sowohl Probleme des dichterischen Schaffens wie auch Fragen der Wirksamkeit der Dichtung. In beiden Fällen bedient sich Dilthey psychologischer, geisteswissenschaftlicher und z. T . soziologischer Betrachtungsweisen. Mit der Verbindung der Schöpfungs- und Wirkungspoetik manifestiert er, daß der Dichter und das Publikum eine gleich wichtige Rolle spielen. Eine der wesentlichsten Erkenntnisse Diltheys ist ferner, daß es keine allgemeingültige Technik geben kann, daß alle poetischen Gattungen im Laufe der Geschichte sich verändern und jede Zeit ihre eigene poetische Form hervorbringt. Allgemeingültig, unveränderlich ist seines Erachtens nur das innere

Bedürfnis

des Menschen,

Erlebnis

auszudrücken,

insbesondere

mittels der Dichtung. D e r Mensch wird in diesem Fall nicht als ein gesellschaftlich-historisches, sondern als ein abstraktes, mit einer Seele behaftetes Wesen gesehen, daß einen nicht weiter erklärbaren H a n g hat, seinen Gefühlen, Erlebnissen und Gedanken Ausdruck zu verleihen. Die Möglichkeit zu Dichtung ist mit anderen Worten in der Psyche des Menschen angeleget, nicht in seiner praktisch-tätigen Haltung 1 8 . Die Dichtung hat sich denn auch, wie wir der Poetik entnehmen können, aus einem inneren Drang heraus entwickelt, seinen Gefühlen einen Ausdruck zu geben. Das ist übrigens eine der Ursachen, warum Dilthey die ursprüng18

Über die Rolle der Arbeit bei den Entstehung der Kunst vergleiche Günther K. Lehmann, Phantasie und künstlerische Arbeit. Betrachtungen zur poetischen Phantasie, Berlin 1966, S. 21 ff.

Diltheys Begriff der „poetischen Technik"

113

liehen „allgemeingültigen" Bestandteile der Dichtung, wie Rhythmus, Melodie, Antiphrase usw., psychologisch zu begründen versucht. Das hat aber zur Folge, daß es ihm nicht gelingt, den Leser von der Allgemeingültigkeit seiner These der Geschichtlichkeit der „poetischen Technik" wirklich zu überzeugen. In Wahrheit ist bei ihm die „poetische Technik" einerseits historisch veränderlich und anderseits gleichbleibend, unveränderlich. Veränderlich sind die Gehalte der Dichtung und die ihnen entsprechenden grundlegenden Formen. Unveränderlich sind dagegen jene Bestandteile der Dichtung, die den inneren Gefühlen und Bewegungen der Menschen entsprechen. Das Allgemeingültigste an der „poetischen Technik" ist, daß durch sie Erlebnisse in ein künstlerisches Gebilde transformiert werden. Das Geschichtlichste an ihr ist dagegen, in welcher Weise der Dichter sein Erlebnis als Ganzes in Kunst umsetzt. Allgemeingültigkeit und Geschichtlichkeit der poetischen Technik widersprechen sich in Diltheys Ausführungen nicht. Sie stehen unvermittelt als zwei Momente einer Sache nebeneinander, ohne in irgendeiner Weise gegenseitig bedingt zu sein. Dieses Vermögen, Dinge, die schließlich irgendwie in Wechselbeziehung stehen, eine besondere Einheit bilden, unverbunden nebeneinander denken zu können, scheint mir ein Grund zu sein, warum Dilthey überhaupt imstande war, die verschiedensten Gesichtspunkte für eine Sache anzuführen, ohne in Widersprüche zu geraten. Dieses Nebeneinanderdenken-können bildet m. E. eine der Grundstrukturen des positivistischen Denkens 18 . Dem Nebeneinander der Erscheinungen, wie dies die Positivisten konstatieren, entspricht ein Nebeneinander der Erklärungsweisen. Das kommt vielleicht am besten in der Wissenschaftsauffassung, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet war, zum Ausdruck, als man der festen Überzeugung war, daß sich die Gegenstandsbereiche der einzelnen Wissenschaften relativ genau umgrenzen lassen (etwa Physik, Mathematik, Chemie usw.). Hierher gehört auch Diltheys Standpunkt, daß man die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften abgrenzen könne. Wenn es allgemein heißt, Dilthey habe durch die These der methodologischen und gegenständlichen Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften geholfen, den Positivismus in den Geisteswissenschaften zu überwinden, so muß unbedingt hinzugefügt werden, daß er diese Überwindung positivistischen Gedankengängen und Fragestellungen verdankt. 19

Das ist auch einer der Gründe, warum Hegel in dieser Zeit ein „toter Hund" war. So tritt z. B. sowohl bei Fr. Th. Visdier, der immerhin schon auf den Spuren Hegels schritt, wie auch bei Dilthey an die Stelle der dialektischen Triade Religion-Kunst-Philosophie ein Nebeneinander dieser drei Gebiete, wobei allerdings der Kunst eine ganz besondere Bedeutung beigemessen wird.

114

D i e Rolle des Erlebnisbegriffs

Der Begriff der „poetischen Technik" hat m. W. in der hier skizzierten Bedeutung keine Nachfolge gefunden. Die Literaturtheoretiker, die Diltheys Meinung teilten, Dichtung sei vor allem Transformation von Erlebnissen, interessierten sich in erster Linie für die psychologische Seite dieses Problems20. Die Schriftsteller konnten hingegen mit diesem Begriff wenig anfangen, da in ihm das Technische, Anwendbare eine zu sekundäre Rolle spielte. Und wenn im 20. Jahrhundert der Begriff der Technik von den Dichtern mit Vorliebe benutzt wird, so hat Dilthey bestimmt am allerwenigsten dazu beigetragen. Audi wenn man Ähnlichkeiten herauszuhören meint, sind es meist nur scheinbare. So erinnert die Stelle, wo Brecht von „schriftstellerischer Technik" spricht, sogleich an Diltheys „poetische Technik", doch kann von einer Einwirkung Diltheys auf Brecht nicht die Rede sein, dazu sind beide Technikbegriffe zu unterschiedlich. Dilthey will eine Transformation des vom Dichter Erlebten, Brecht die Transformation der gesellschaftlichen Prozesse. Und wenn beide der Meinung sind, daß die Art der Transformation zum großen Teil von der „Technik" — in Abhängigkeit von dem jeweils zu Transformierenden — bewältigt wird, so ist es nicht unwesentlich, daß der eine dies nur als Theoretiker konstatierte, während der andere als Dichter schöpferisch seine „Techniken" entwickelte. Der Diltheysche Technikbegriff ist im Grunde nur aus der negierenden Behauptung erwachsen, es gäbe keine allgemeingültigen Formen, Regeln und Techniken, auf denen man eine Poetik aufbauen könnte. Ihm muß daher letztenendes der Sinn für das „Technische" fehlen. Diesen kann man nur bei einem positiven Programm entwickeln. Über dieses verfügt Brecht. Bei ihm können wir daher auch bis in seine Arbeitsweise hinein verfolgen, wie er bemüht war, mittels bestimmter Darstellungsarten oder „Techniken" gesellschaftliche Zusammenhänge und Prozesse sichtbar zu machen. Man denke nur an seine Montagetechnik, Einlagetechnik (z. B. Songs), an die Parabelstücke, den Verfremdungseffekt usw. Auch seine Anschauung, daß zwar allgemeinästhetische Gesetze und Regeln zu verwerfen seien, aber man allen dichterischen Darstellungsweisen von der Antike bis in die Gegenwart das Brauchbare absehen müsse, könnte man als eine typisch technische charakterisieren. In diesem Sinne ist z. B. folgende Notiz zu verstehen: „Die 20

In Richard Müller-Freienfels Poetik, Leipzig 1921, die in ihrer psychologischen Ausrichtung ganz der Diltheysdien Betrachtungsweise verhaftet ist, finden wir bezeichnenderweise den Begriff der „poetischen Technik" nicht mehr. Er führt gleichsam Dilthey konsequent zu Ende, indem er seine Poetik von vieldeutigen Begriffen befreit. Dabei geht ihm allerdings die ganze Problematik der Geschichtlichkeit der poetischen Technik verloren. Es ist eine alte Regel, daß das konsequente Zu-Ende-Führen des Meisters durdi die Schüler mit dem Verlust zentraler Probleme bezahlt wird.

Diltheys Begriff der „poetischen Technik"

115

Ansicht Anatole France', daß man für Romane keine Gesetze und Regeln anerkennen sollte, da sie zu alt dafür seien, muß man auch für Dramen propagieren. Dennoch gibt es so etwas, wie Techniken, die man ernster nehmen sollte" 21 . Obwohl Diltheys Begriff der „poetischen Technik" keine Schule gemacht hat und, wie wir sahen, auch nicht machen konnte, ist er jedoch insofern bemerkenswert, als hier einerseits die neue Schaffensweise im 19. Jahrhundert, vom Erlebnis auszugehen, verallgemeinert und anderseits zumindest im W o r t auf die zunehmende Bedeutung der Techniken, anstelle der Gesetze und Regeln, hingewiesen wird. Dieser Begriff ist das theoretische Äquivalent einer Zeit, in der die althergebrachten künstlerischen Formen einer Auflösung unterlagen bzw. entgegenzugehen schienen 22 , was gerade im Naturalismus zum ersten Mal ganz deutlich zutagetrat. Die Kunst jener Zeit war vor allem auf ein „Treffen" mit der Wirklichkeit aus, auf die getreue und unmittelbare Wiedergabe bestimmter Geschehnisse und Erlebnisse, der sich die künstlerischen Anordnungen, der Formwille, Komposition und Struktur unterzuordnen hatten 2 '. Die Grenzen zwischen Kunst und Leben begannen zu verschwimmen; das Ideal war, wenn beide Sphären ineinander übergingen. 21

Bertolt Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst, Berlin 1966, Bd. II, S. 181 f.

22

Die damals vorherrschende Form des Romans wurde als eine Auflösung des Epos empfunden. Uberaus anachronistisch erscheint uns heute Spielhagens Versuch, eine direkte Linie vom klassischen Epos bis zum modernen Roman zu ziehen und für diesen die strenge Objektivität des homerischen Epos zu fordern. Es ist die Suche nach Tradition, wo sie genau aufhörte zu wirken. Viel zeitgemäßer war daher tatsächlich z. B. das Programm der Gruppe „Durch". Oskar Walzel schreibt in seinem Artikel „Wilhelm von Humboldt über Wert und Wesen der künstlerischen Form" (in Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, Okt. 1913), damals habe sich die Ansicht herausgebildet, „daß der Wert künstlerischen Schaffens einzig in der Fähigkeit ruhe, das Leben in seinem Reichtum und seiner Beweglichkeit, in seinen Farben und Tönen, in seinem Rhythmus und seinem Sinn möglichst genau wiederzugeben. Die Form durfte nur soweit mitsprechen, als sie dem .treffen' nicht im Wege stand. Auf .treffen* lief ja alles hinaus. Künstlerisches Können sollte nur noch in vollwertiger Wiedergabe des Lebens sich bewähren". Eine gesonderte Frage ist natürlich, ob realistischer und naturalistischer Schaffensdrang und die Suche nach Formen tatsächlich einen Widerspruch in sich bilden, wie das Walzel zu meinen scheint. Daß die Romane und Dramen des 19. Jahrhunderts so formlos nicht waren, hat neuere Forschung bewiesen. Man vgl. z. B. die deutsche Ibsenrezeption am Ende des 19. Jahrhunderts (u. a. Spielhagens Rezension der Nora, wo er Ibsen vorwirft, kein richtiges Drama, sondern nur einen dialogisierten Romanausschnitt geschaffen zu haben) und die heutige Ibsenforschung. Uns geht es hier jedoch nur um das Klima, in dem Diltheys Anschauungen erwachsen waren.

25

116

Die Rolle des Erlebnisbegriffs So lesen wir bei Fontane: „Das wird der beste Roman sein, dessen

Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren, ähnlich wie manche Träume sich unserer mit gleicher Gewalt bemächtigen wie die Wirklichkeit. Also noch einmal: darauf kommt es an, daß wir in den Stunden, die wir einem Buche widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende Aufgabe der Kunst ist" 2 4 . Der Diltheysche Begriff der „poetischen Technik" ist ferner das theoretische Äquivalent einer Zeit, in der Dichter und Publikum sich nicht diametral gegenüberstanden, sondern im Gegenteil eine Art Symbiose bildeten 25 . Der Schriftsteller der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wußte, daß er für die Masse schreibt, und tat dies auch, wie es einmal Walter Benjamin für Victor Hugo formuliert hat, aus „innerer Nötigung". Das Ziel des Schriftstellers war es tatsächlich, daß der Leser sein Werk ohne weiteres nachvollziehen konnte, daß er es als allgemeingültig empfand. Das Ziel der Masse war dagegen, um noch einmal in den Worten Benjamins zu sprechen, sich „wie die Stifter auf den Bildern des Mittelalters im zeitgenössischen R o m a n " wiederzufinden 26 . Dieses Zusammen24 25

28

Theodor Fontane, Schriften zur Literatur, Berlin 1960, S. 109 So schätzt Dilthey in seiner Rezension des Freytagschen Buches Die Technik des Dramas den Geschmack, des Publikums höher als die Leistungen der damaligen Dramatiker: „ . . . wie neulich mit Recht bemerkt wurde: die Leistungen der Bühne sind weit hinter dem Gesdimack des Publikums zurückgeblieben. Es geht hierin, wie auf allen Gebieten des gegenwärtigen geistigen Lebens, besonders dem der Politik — die exakten Wissenschaften bilden vielleicht die einzigen Ausnahmen — : das Urteil überwiegt die schöpferische Kraft, das in der Masse lebendige Bedürfnis das gestaltende Genie. So könnte sich auch ein schaffender dramatischer Dichter kein Publikum denken, dessen Pulse ihm stärker entgegenschlügen, wenn er sein Herz zu treffen wüßte, aber der Dichter fehlt uns bis heute; wir sollen an uns selber die Unwahrheit des einst also so tief ausgesprochenen Hegeischen Satzes empfinden, daß jedes Bedürfnis einer Zeit den rechten Mann hervorbringe. So sehen wir uns noch immer von den seltsamsten Versuchen umgeben, welche an das kritische Urteil der Zuschauenden bei weitem nicht heranreichen . . . Ein so starkes Talent wie Hebbel steckt noch tief in dem grübelnden, skeptisch-naturalistischen Sezieren des inneren Lebens, welches die Nation längst abgetan hat. Denn ihrer Natur nach haften große Talente fest in dem erreichten Vorstellungskreis, während die Masse neuen Zügen gern und leicht nachgibt" (Wilhelm Dilthey, „Die Technik des Dramas" in Gustav Freytag, Die Technik des Dramas, Neudruck, Darmstadt 1965, S. 320). Walter Benjamin, Schriften, a.a.O., Bd. I, S. 437 f.

Ausdrude des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie

117

spiel zwischen Dichter u n d P u b l i k u m k o m m t in d e m Begriff der „poetischen Technik" insofern z u m Ausdrude, als der Dichter „viele Erfahrungen in höchster Steigerung" darstellen u n d er zugleich u m die A l l g e meingültigkeit seiner D a r s t e l l u n g Sorge tragen soll.

3. Ausdruck des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie In seinen Arbeiten über D i l t h e y hat der polnische Diltheyforscher 2 . K u d e r o w i c z die B e h a u p t u n g aufgestellt, d a ß D i l t h e y b e w u ß t

eine

Poesie verteidigt habe, die mit der realistischen M e t h o d e breche u n d nach symbolischen Ausdrucksformen suche 1 . D i e Anschauungen D i l t h e y s , d a ß D i c h t u n g Erlebnissen entspringe, sei gegen jeglichen „Mimetismus"

ge-

richtet, gegen diejenigen, die die D i c h t u n g als eine Widerspiegelung oder N a c h a h m u n g der Wirklichkeit ansehen 2 . Unseres Erachtens bildet D i l t h e y ein eigenartiges Zwischenglied zwischen Realismus und Moderne, w o b e i seine ästhetischen Anschauungen v o r allem aus der Epoche des Realismus erwachsen sind 3 . D a s n i m m t auch nicht w u n d e r , d e n n das K l i m a , in d e m 1

2

3

Zbigniew Kuderowicz, Dilthey, Warszawa 1967, S. 20. D o r t heißt es u . a . : „Dilthey swiadomie staral si? bronic nowej poezji, zrywajqcej z realistycznq metod^, si^gaj^cej do symbolicznydi form wyrazu, aspirujqcej do wyrazania pozaintelektualnych nastrojöw i przezyc" (Dilthey hat bewußt eine neue Dichtung zu verteidigen versucht, die die realistische Methode aufgibt, zu symbolischen Ausdrucksformen greift und danach strebt, außerintellektuelle Stimmungen und Erlebnisse auszudrücken). Z. Kuderowicz, Swiatopoglqd a zycie u Diltheya, Warszawa 1966, S. 176: „Interpretacja poezji jako ekspresji przeciwstawia teori^ Diltheya wszelkiemu mimetyzmowi, wszelkim koneepejom traktujqcym p o e z j i jako odzwierciedlenie czy nasladowanie rzeczywistosci" (Mit der Interpretation der Dichtung als einer Expression widersetzt sich Dilthey in seiner Theorie jeglichem Mimetismus, jeglichen Konzeptionen, die die Poesie als eine Widerspiegelung oder Nachahmung der Wirklichkeit erachten). Sehr vorsichtig formuliert K u r t Müller-Vollmer Diltheys Verbindungen mit der Modernen in seiner Arbeit Towards a Phenomenological Theory of Literature. A Study of Wilhelm Diltheys Poetik, Mouton & Co. — The Hague, 1963. E r betont vor allem, d a ß Dilthey eine neue Ästhetik forderte, die an dem Ideal der Zeit mitarbeiten und nicht in die Sphären des A b strakten und Unproduktiven flüchten möge. Überaus zurückhaltend ist audi folgende Formulierung, die im gewissen Sinne Müller-Vollmers Einschätzung des Verhältnisses Diltheys zu der neuesten Kunst wiedergibt: „It is this striving for .unmutilated reality' and ,truthfulness to the objects' — characteristic of the art of the period — which struck a familiar chord in Dilthey and animated his own w o r k as a scholar and as a philosopher" (S.53).

118

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

sich die Ästhetik Diltheys herausbildete, war das der Opposition gegen den Idealismus und die romantische Flucht in das Reich des Scheins, es war die Zeit der Forderungen nach Lebensnähe, Lebensfülle, die Epoche des Positivismus und Realismus. Dieses Klima wird auch in den literaturwissenschaftlichen Arbeiten Diltheys spürbar, vor allem in den Aufsätzen, die in Die große Phantasiedichtung eingegangen sind, und in seinen theoretischen Studien Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik und Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe. Und es ist ein Charakteristikum des Literaturwissenschaftlers Dilthey, daß er mit dem Neuen, das er aussprechen will, nicht die älteren Anschauungen aufzuheben gedenkt, sondern diese nur ergänzen, von einer anderen Seite her beleuchten bzw. vertiefen möchte. Seine Ansicht, daß Poesie immer ein Erlebnis, ein Inneres darstelle, soll nicht zu einer Verneinung des Realismus führen, sondern zu einer psychologischen Grundlegung des dichterischen Schaffens, auch des realistischen. So ist der Diltheysche Begriff des „erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens" ein psychologisch ausgedeutetes Äquivalent zu den in den Realismustheorien immer wieder verwandten Begriffen der Totalität oder Universalität, zu den Zielen und Bestrebungen der großen Realisten, eine Schilderung der gesamten Gesellschaft (Balzac) oder einen Kosmos (Spielhagen) zu schaffen. Die Worte Totalität und Universalität gebraucht Dilthey dagegen selten, manchmal in seinen Erörterungen über die modernen Romanciers. Im Dickens-Essay sieht Dilthey in der Universalität einen Grundzug epischen Schaffens überhaupt 4 . In seinen literaturtheoretischen Arbeiten bedient sich Dilthey allgemeinerer Formulierungen. So betont er an den verschiedensten Stellen immer wieder, wie wir schon ausführten, daß der Dichter das ursprüngliche, ganze, volle Leben um— Interessant ist es, daß Bruno Markwardt Diltheys Poetik in seiner Geschichte der Deutschen Poetik im V. Band (Berlin, 1967) behandelt, der dem Naturalismus und 20. Jahrhundert gewidmet ist. Er tut dies vor allem, weil Diltheys poetologisdien und ästhetischen Schriften erst sehr spät wirksam geworden sind. Doch ist audi Markwardt in seinen Formulierungen sehr vorsichtig, was das Verhältnis der Diltheyschen Poetik zu den damals modernen literarischen Strömungen betrifft. So heißt es, daß zwar Diltheys berühmter Satz „Im Leben ist mir mein Selbst in seinem Milieu gegeben" zunächst auf Naturalismus hinzuweisen, wenn nicht sogar von ihm abstrahiert zu sein scheint — „. >. denn fraglos ist Dilthey von derartigen Zeiterscheinungen nicht frei" (S. 675) —, daß jedoch mit diesem Satz nicht Naturalismus gemeint sei, gehe schon daraus hervor, daß sich der Dichter Dilthey zufolge dem „Bedeutsamen" zuwenden müsse, daß bei ihm immer wieder von dem Typischen und Symbolischen die Rede sei. In dem Begriff des „Bedeutsamen" sieht Markwardt einen „Ansatz für den Symbolbegriff" (S. 678). * Die große Phantasiedichtung,

a.a.O., S. 305

Ausdrude des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie

119

fassen müsse, daß uns nur jene Dichter ergreifen, die in die Tiefe und in die Weite blicken vermögen, die das Erlebnis so gestalten, daß es „viele Erfahrungen in höchster Steigerung enthält" 5 . Sehr bezeichnend ist es auch, daß Dilthey mit den Begriffen „typisch", „wesenhaft" und „Typus" operiert. Das Typische ist für ihn das auf eine bestimmte Weise „aus dem Wirklichen herausgehobene Wesenhafte"'. Nicht das Partikuläre, Singulare als solches sei das Packende, sondern das Wesentliche und Bedeutende. „Der Realismus, wenn er ergreifen will, muß durch Verallgemeinerung, durch Aussonderung des Zufälligen, durch Herausheben des für das Lebensgefühl Wesentlichen und Bedeutenden w i r k e n . . . " ' . Und an anderer Stelle heißt es: Das Typische „ermöglicht der Poesie, Erfahrungen zu verdichten und gedanklich zu durchdringen, so daß sie einen lebenserfahrenen Menschen befriedigen kann" 8 . Nach Dilthey unterscheidet sich das Denken vom künstlerischen Schaffen darin, daß das Denken Begriffe hervorbringt und das künstlerische Schaffen Typen, wobei im Kunstwerk alles typisch sein kann: die Leidenschaften, der Nexus der Handlungen, die Darstellungsweise usw., insofern hier nur Wesenhaftes gefühlt wird. Das Hervorbringen des Typischen sei ein grundlegendes Problem jeder Technik eines Dichters®, heißt es in der Poetik. Hier geht Dilthey allerdings über die künstlerische Fragestellung bereits hinaus. Sein Problem ist ein umfassenderes: wie unterscheidet sich künstlerisches Schaffen vom philosophischen Denken und dem Denken überhaupt? In den Beiträgen zum Studium der Individualität versucht Dilthey wiederum ein anderes Problem zu lösen: das des Unterschiedes zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften. Hier spielt der Begriff „Typus" als ein Prinzip der Individuation eine große Rolle, worauf wir jedoch an dieser Stelle nicht eingehen können. Literaturwissenschaftlich beachtenswert scheint es mir, wie Dilthey im Didcens-Essay mit dem Begriff des Typus operiert, womit er zwar z. T. Charakter meint, doch denkt er hier weniger an etwas Überzeitliches, im Menschenleben immer Wiederkehrendes, sondern vor allem — soweit dies auch bei Dickens der Fall ist— an Typen, die gesellschaftlich-historische Erscheinungen oder soziale Schichten repräsentieren. Das kommt gerade in Folgendem, z. T. schon weiter oben Zitiertem, deutlich zum Ausdruck: „Da sind . . . zunächst die Habgierigen: im Ringen der bürgerlichen Gesellschaft ist dieser Typus des Egoismus der dominierende. . . . Unablässig aber hat Dickens die Ausartungen einer auf freie Konkurrenz gegründeten Gesellschaft, die Unterdrückung des Schwachen durch die brus

VI, S. 185 Ebenda, S. 186 • VI, S. 187 7

• Ebenda, S. 186 8 V, S. 280

120

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

tale oder listige Macht des Kapitals und des skrupellosen Verstandes gekennzeichnet. Diese Menschenklasse sitzt bei ihm gleichsam beständig auf der Anklagebank. Zuweilen verknüpft sich in den Charakteren dieser Art der Niederschlag des positiven und nationalökonomischen Geistes wie in Tom Gradgrind, besonders aber in Bounderby. Eine besondere Abteilung dieser Brutalen bilden die Schulmeister. Eine neue Klasse sind dann in dem puritanischen Lande die Heuchler. Ihr Repräsentant ist Pecksniff. Es ist der Tartüffe der englischen Gesellschaft dieser Tage. Seine Heuchelei bezieht sich nicht auf die Religiosität. Dies gehörte dem Zeitalter Ludwig X I V . und der Pompadour an. Er heuchelt die sozialen Gefühle, die Humanität, das Leben für andere. Und wiederum ein anderer Typus ist der herrschsüchtige Stolz eines Dombey. Aber nicht den Stolz des geborenen Aristokraten schildert Dickens, sondern den kalten Hochmut in der bürgerlichen Aristokratie der Millionäre" 10 . Von diesen Typen, „die gewaltsam oder listig oder sentimental sich selber wollen" unterscheidet Dilthey diejenigen, bei denen soziale Gefühle vorherrschen. Dickens ganze Liebe gehöre diesen mitfühlenden, einfachen Menschen. Doch auch diese Liebe erklärt Dilthey sozialhistorisch. „So tief fand er (Dickens) sich angeekelt von der Gesellschaft seiner Zeit, daß er jenseits dieses gesellschaftlichen Systems in der Nähe der Natur, in der Einfachheit des Herzens das Gute zunächst sucht"11. Ein besonderes Problem in Diltheys Poetik ist die Verbindung des Typischen mit dem Symbolischen, was vielleicht Kuderowicz in seiner These erhärtet hat, Dilthey verwerfe alle Mimesistheorien und neige zur Theorie des Symbolismus, ohne jedoch zu sehen, daß der Begriff des Symbols in der Sprache Diltheys nur wenig mit dem des Symbolismus etwa französischer Prägung oder der Dichtung der Jahrhundertwende gemein hat. Etwas zu einem Symbol erheben, heißt nach Dilthey einen inneren Zustand durch eine „äußere Tatsächlichkeit" versinnbildlichen oder ein bereits „äußeres Bildliches" beseelen12. Das Symbolisieren ist eine Tätigkeit des Inneren, des Gemüts13. Zu einem Symbol kann aber etwas nur dann werden, wenn es Allgemeingültigkeit in sich birgt. Dahinter steckt natürlich die Goethesche Idee vom Allgemeinen und Besonderen, deren Anhänger auch Dilthey ist. Wenn etwas allgemeingültig ist, ist es aber auch im gewissen Sinne typisch. Und da das Typische 10

Die große Phantasiedichtung,

11

Ebenda, S. 312

a.a.O., S. 311 f.

12

Siehe VI, S. 187, 227, 236, 275 und anderswo. Vergleiche hierzu ferner das Kapitel „The Meaning of Symbolism" bei K. Müller-Vollmer, a.a.O., S. 162 ff.

13

„Die Grundlage der Ästhetik des 19. Jahrhunderts war die Freiheit der symbolisierenden Tätigkeit des Gemüts", stellt Gadamer (a.a.O., S. 76) fest.

Ausdruck des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie

121

immer Allgemeines in lebendiger Form darstellt, unterscheidet es sich bei Dilthey nicht wesentlich vom Symbolischen. Ganz besonders berührte Dilthey die Frage, wie einerseits der immer auf einen Erfahrungskreis beschränkte Dichter etwas Typisches hervorbringen und anderseits der Leser dieses Hervorgebrachte als etwas Wesenhaftes empfinden kann. Er kommt zu dem Schluß, daß dies gelöst werden kann, wenn man die psychischen Gesetzmäßigkeiten des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt. Wörtlich schreibt er in der Poetik: Wie der Dichter „das Wesenhafte im Singularen oder das Typische" aus „den oft krausen Zügen der Wirklichkeit aussondern kann, das ist eben das große Problem, welches nur behandelt werden kann, indem man von der Natur des Menschenlebens und seiner psychologischen Analysis ausgeht" 14 . Um nun das Typische psychologisch auszudeuten, bedient sich Dilthey subjektiverer Begriffe, wie des Wesenhaften und später auch des Bedeutsamen, der Bedeutsamkeit. Subjektiver sind diese Begriffe, weil damit vor allem das für das Lebensgefühl des Dichters und Publikums Wesenhafte oder Bedeutsame gemeint ist. In der Poetik versucht Dilthey, dieses Problem vor allem vom Publikum her zu klären. Für den Leser oder Hörer könne das „Singulare als solches nicht das Packende" sein, „denn als solches ist es noch mit Zügen vermischt, welche vom Leser oder Hörer nicht ohne Anstoß nachgebildet werden können und daher abstoßen". Deswegen müsse gerade bei realistischen Werken alles Zufällige ausgesondert, nur für das Lebensgefühl Wesentliche dargestellt werden. Dann empfände auch der Leser das Werk als sein eigenes. Auch der für den Realismus so wesentliche Begriff der Objektivität wird vom Dilthey psychologisch uminterpretiert. Die Objektivität bilde ebenso wie die Universalität einen Grundzug der epischen Poesie. Doch sei diese Objektivität „gänzlich verschieden von der des wissenschaftlichen" Denkers. „Sie ist nicht Freiheit von den Einflüssen des Gemüts in der Auffassung der Dinge, sonderen die Freiheit der Seele von der Beachtung der eigenen Interessen, jene Gemütshaltung, die in Spinozas amor dei intellectualis, in Goethes Resignation einen Ausdruck gefunden hat. Sie besteht darin, daß das Bedeutsame, Wertvolle in jedem Ding, in jedem Menschen durch die Einschmelzung der empirischen Wirklichkeit in dem Schmelztiegel der Imagination rein, hellstrahlend hervortrete" 15 . Es geht also darum, nicht sich selbst als Dichter sondern seine persönlichen Interessen aus dem epischen Geschehen auszuschalten. Und objektiv ist der Dichter, wenn er es versteht, das Bedeutsame, das von Dichter und Leser als typisch E m p f u n d e n e darzustellen. Diese Art des Objektiven 14 15

VI, S. 188 Die große Phantasiedichtung, a.a.O., S. 304

122

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

gab es, wie Dilthey betont, schon immer, doch war es einst leichter, objektiv auf die Welt zu schauen, als das Leben noch einfacher war. „Und je komplizierter dann allmählich die Welt geworden ist, je realistischer die Dichter in deren kontrastierende und zusammengesetzte Züge eindringen müssen, desto mannigfacher müssen die Stimmungen sein, in denen der Dichter ihre Bedeutung erfaßt, zu desto schärferen Kontrasten muß die Einbildungskraft sie herausarbeiten. Und um so entschiedener besteht nun die Objektivität des Dichters darin, daß alle diese Stimmungen, daß aller Wechsel und alle Kontraste der Eindrücke, der Figuren und Szenen der Ausdruck einer freien großen Seele sind, die in jeder Stimmung, in jeder Umbildung von Wirklichkeit sich in echter Sympathie mit allen Wirklichkeiten erweist"16. Die Objektivität des Wirklichen wird also auch hier wieder psychologisch gedeutet, indem Dilthey von einer Sympathie mit allen Wirklichkeiten spricht, von der ein moderner Dichter erfüllt sein muß. Man sieht aus den zitierten Sätzen zwar deutlich, daß Diltheys Anschauungen nicht gegen den Realismus gerichtet sind, aber trotz alledem müssen wir uns fragen, ob Dilthey nicht durch seine psychologischen Betrachtungen über das Schaffen der Dichter gerade das Streben der Realisten, ein Bild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu geben, aus den Augen verloren hat. Wir wissen, daß für Dilthey Poesie immer erst einmal Ausdruck des dichterischen Erlebnisses ist. Sie entsteht aus dem Drang, Erlebnis auszusprechen. Dilthey versucht daher auch stets, die Dichtung vom Dichter her zu fasseen. Ausgangspunkt für ihn ist dessen Erfahrungsbereich, dessen Erlebnisphäre. Doch damit will er nicht abstreiten, daß Dichtung Abbild des Lebens oder der Welt sei. An einer Stelle der Poetik heißt es sogar, daß die „Dichtung, als Abbild der Welt, den Schmerz nicht entbehren kann . . ."17 (Unterstreichung von mir — K. S.). Man könnte Diltheys Ansicht hierzu folgendermaßen formulieren: Dichtung spiegelt in dem Grade das Leben, in dem dieses in das Erlebnis des Dichters eingegangen ist; Dichtung kann jedoch nur dann den Leser ergreifen, wenn das Erlebnis „viele Erfahrungen in höchster Steigerung" enthält. Dieser Standpunkt führt natürlich zu einer eigenartigen Spannung zwischen den vom Innenleben bedingten und den mimetischen Elementen in der Ästhetik Diltheys. Einerseits sind die Wahrnehmungen und Vorstellungen, d. h. von der Außenwelt bedingte Elemente, der Ausgangspunkt aller Erfahrung und damit auch alles Erlebens, anderseits werden diese Elemente von unserem Bewußtsein, unserem Inneren verwandelt. 18

Ebenda

17

VI, S. 162

Ausdruck des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie

123

Und auch der Begriff des „erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens" stellt eine eigenartige Verknüpfung zweier Sphären dar, der Innen- und Außenwelt. Das Außen steckt in dem Wort erworben. Diesen Punkt führt Dilthey zwar theoretisch nicht weiter aus, was in der Zeit der Theorien von Darwin und Spencer auch gar nicht notwendig war, jedoch hat er dies zur Genüge in seinen Aufsätzen über den Werdegang einzelner Dichter, insbesondere von Balzac und Dickens, demonstriert. Erwerben heißt hier Aneignung und Verarbeitung von Lebenserfahrungen, wobei ein Dichter stets um besondere viele Lebenserfahrungen bemüht ist, wie Dilthey an Shakespeare und den französischen Romanciers zeigt. Wo Reichtum des Lebens nicht unmittelbar gegeben ist, wie im Deutschland des 18. Jahrhunderts, haben die Dichter die wenigen Eindrücke besonders tief und intensiv erlebt, ist ihr inneres Leben zur Quelle ihrer Kunst geworden. Hier spielen beim Erwerben die Aneignung der Anschauungen der Zeit und die Auseinandersetzungen mit ihnen eine sehr wesentliche Rolle, wie wir bereits in dem Kapitel über „innere" und „äußere" Erfahrung sahen. Wenn Dilthey nun gleichzeitig betont, daß der Dichter die wirklichkeitsbezogenen Elemente „frei, uneingeschränkt von den Bedingungen der Wirklichkeit" selber umwandelt, ist natürlich zu fragen, ob wir hier nicht an einem Punkt angelangt sind, wo wir uns geschlagen bekennen müssen: mit der „realistischen Seite" der Ästhetik Diltheys scheint es also nicht von weit her zu sein. Erinnern wir uns jedoch der Erörterungen Diltheys über den Unterschied der freien Gestaltung der Bilder beim Dichter und beim Wahnsinnigen. Dieser schafft seine Bilder, wie wir wissen, bei gleichzeitiger Verminderung des Zusammenhangs des Seelenlebens, während das Überschreiten der Wirklichkeit im Werk des Dichters „aus Ursachen entgegengesetzter Art" stammt. „Die ganze Energie einer gesunden und mächtigen Seele ist hier wirksam; eine reiche und weite Erfahrung wird benutzt; das Denken hat sie geordnet und verallgemeinert. Die Umgestaltung der Bilder vollzieht sich also in einer Seele, in welcher der ganze erworbene Zusammenhang, der die Wirklichkeit repräsentiert, gegenwärtig und wirksam ist"18. Und einige Zeilen weiter unten heißt es, daß der Dichter, wenn er auch die Wirklichkeit überschreitet, diese nie aus den Augen verliere, eben dank dem steten Wirken seines erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens auf die Gestaltung der Bilder, wodurch ein „dem Zweck des Kunstwerks entsprechendes Verhältnis derselben zur Wirklichkeit erhalten" bleibt; „wenn die Bilder dieses verlieren, hören sie auf, das Gemüt zu bewegen. Das Typische, Idealische in der Dichtung ist eine solche Art, vermittels der Erfahrung dieselbe so zu überschreiten, daß sie doch mächtiger gefühlt

124

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

und tiefer verstanden wird als in den treuesten Kopien des Wirklichen*118. Die Wirklichkeit des Lebens wird also nicht aus der Ästhetik Diltheys hinauskomplimentiert, sondern eben mit in die Seele des Dichters und damit in das Kunstwerk hineingenommen. Sie geht in den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens ein, um schließlich in dem künstlerischen Gebilde ihre Repräsentation zu finden. „]e reicher, normaler und tiefer nun dieser erworbene Zusammenhang des Seelenlebens ist, je vollständiger er zu den Bildern in Beziehung tritt und diese gleichsam erfüllt und sättigt: um so mehr gestaltet sich das künstlerische Gebilde zu einer Repräsentation der Wirklichkeit in deren wahren Bedeutung" 19 . Ein noch eindeutigerer Beleg für unsere These ist wohl nicht mehr notwendig. Die Übernahme, Bewahrung des Realismus spiegelt sidi sogar in einzelnen Worten und Begriffen: reich, normal, tief, erfüllen und sättigen entspricht dem Bestreben des Realismus, das ganze Leben zu umfassen; typisch, idealisch, „Repräsentation der Wirklichkeit in deren wahren Bedeutung" der Tendenz, bestimmte gesellschaftliche Erscheinungen in ihrer Allgemeinheit widerzuspiegeln. Einer genauen Interpretation bedarf auch das Wort „gesund", doch werden wir hierauf noch später zu sprechen kommen. Versuchen wir nun unsere These anhand der Diltheyschen Urteile über die Literatur seiner Zeit zu verifizieren. Das Bedürfnis der neuen Kunst, die Wirklichkeit unverstümmelt darzustellen, die „realen Bezüge, in denen die Menschen untereinander und mit der Natur stehen, die Wirklichkeitsordnung, deren Gesetze wir Untertan sind, im Kunstwerk erblicken lassen . . . die Charaktere und Leidenschaften aus den sozialen Bedingungen" abzuleiten20, wird von Dilthey nicht nur als die herrschende Tendenz seiner Zeit konstatiert, sondern von ihm auch als eine ungeheure Aufgabe angesehen. „Unsere Zeit kennt die zeit- und raumlosen Ideale, Iphigenie, Wilhelm, Lothario nicht mehr", schreibt er in der Poetik20. Die realistische Kunst ist seiner Meinung nach zu einer Tatsache geworden, die sich aus ganz konkreten historischen Umständen ergeben hat. „Mit der Französischen Revolution ist ein neues Zeitalter angebrochen. Eine das Leben umgestaltende Wissenschaft, Weltindustrie und Maschinen, Arbeit als ausschließliche Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung, Krieg gegen die Parasiten der Gesellschaft, für deren müßigen Genuß andere die Kosten bezahlen, ein neues, stolzes Herrschaftsgefühl des Menschen, der sich die Natur unterwarf und nun 18 20

Ebenda, S. 171 f. Ebenda, S. 245

19

Ebenda, S. 278

Ausdruck des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie

125

auch die blinden Wirkungen der Leidenschaften in der Gesellschaft mindern wird: das sind Grundzüge eines Weltalters, deren dunkele, erschreckend große Umrisse vor uns aufzutauchen beginnen"21. Und einige Zeilen weiter unten schreibt Dilthey, daß nun auch langsam die Poesie „ihr schweres Werk begonnen | hat |, die Formen zu finden, in denen ein so ungeheurer Gehalt sich ausdrücken kann" 22 . Das kann nach Dilthey am besten der Roman leisten, der seine Herrschaft bereits angetreten habe. „Er allein vermag, unter den Bedingungen unserer Zeit die alte Aufgabe der epischen Dichtung zu lösen, einen freien, betrachtenden Blick über den Zusammenhang der Weltwirklichkeit zu gewähren. Einfachen, der Natur nahen Zuständen, wie sie Goethe im Hermann wählte, läßt sich ein reiner Zusammenhang ganz poetischer Situationen abgewinnen, deren angemessene Form metrisch ist. Uns aber drängt es heute, die großen Zentren des Lebens in ihrem Wesen und ihrer Bedeutsamkeit aufzufassen. So hat der französische Roman die Seele von Paris zu erfassen gesucht, und Dickens hat London, in allen Kontrasten doch ein einziges ungeheures Wesen, dargestellt. Seitdem wir Deutsche eine Hauptstadt haben, ist dem deutschen Roman eine neue Aufgabe erwachsen, und wer sie löst, wird der gelesenste Schriftsteller unseres Volkes sein. Aber auch hier ist uns der mit der Wirklichkeit des heutigen Lebens, wie es nun einmal ist, ringende Mensch der Mittelpunkt" 22 . Als die „stärkste literarische Richtung" der neuen Kunst sieht Dilthey den Naturalismus an. Er sei zu einer Tatsache geworden, der die Kunstkritik ins Gesicht sehen müsse. Der Naturalismus mache sich in „allen Künsten und allen Kulturländern" geltend, schreibt Dilthey 1892. Er lasse sich auch durch nichts verdrängen. „Wenn die Superklugen davon orakeln, daß die Heiligenbilder, die Visionen und die symbolische Poesie ihn zu verdrängen im Begriff seien: so zeigt das, daß sie den Charakter unserer Zeit nicht verstehen und Kapricen derselben mit ihrer dauernden Richtung verwechseln"23. Bei aller Anerkennung des Strebens der neuen Kunst, die Wirklichkeit zu gestalten, lehnt jedoch Dilthey den Naturalismus ab. In den Naturalisten sieht er Kopisten des Wirklichen, die uns nichts lehren, „was nicht ein gescheiter Mensch und guter Beobachter auch ohne sie wüßte" 24 . Dilthey macht hier den berühmten Vergleich zwischen Photographie und Porträt. Gerade im einfachen Falle des Porträts zeige sich, „daß die nachahmende Kunst nicht Abmalung der Wirklichkeit, sondern Anleitung zum tieferen Verständnis derselben vermittels des Durchgangs der Bil21

VI, S. 239 f. " VI, S. 275

22 14

VI, S. 240 Ebenda, S. 276

126

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

der durch einen genial auffassenden Kopf ist" 25 . Nachahmende Kunst müsse immer einen Lebenszusammenhang darstellen. Die Phantasie sei „nur an die Bedingungen gebunden, die aus dem Zusammenhang des Wirklichen fließen"25, innerhalb dieses Zusammenhangs sei dann das freischaffende Bild möglich. Dilthey erwartet also von der neuen Kunst, daß sie große Zusammenhänge gestalte, die uns die Wirklichkeit aufschließen, sie tiefer verstehen lassen, mit anderen Worten nicht Ausschnitte gebe, wie die Naturalisten. Sie soll Bedeutsames darstellen, d. h. das Einzelne in den Gesamtzusammenhang bringen. Im Lichte solcher Anschauungen haben die Forderungen des Naturalismus keinen Sinn. Er habe nur dann Sinn, wenn man ihn als eine, und zwar berechtigte, „Opposition gegen eine nunmehr verbrauchte, vernutzte Art, Wirklichkeit aufzufassen und darzustellen . . . " betrachte26. Naturalismus trete nämlich jeweils dann auf, wenn eine alte Epoche der Kunst abgelaufen sei, wenn der Stil sich als überlebt erweist und ein neuer Stil noch nicht geschaffen worden ist. Aber als Ganzes sei der Naturalismus eine Richtung, die man nicht akzeptieren könne. Das Wahrheitsgefühl des Naturalismus, das zwar achtenswert sei, habe die Literatur auf die falsche Fährte geführt, indem er nämlich Wissenschaft sein möchte, wie das Beispiel von Zola zeige. Solch eine Literatur müsse aber noch ärger in die Irre gehen als die, welche Moral predigen will27. Doch der Hauptvorwurf Diltheys gegen die naturalistische Literatur ist ethischer Natur. Dieser Literatur drohe die Gefahr, „zu dem niederen Sinnlichen und Brutalen, zur schreienden Ähnlichkeit der Kopie mit dem ordinären Original herabzugleiten" 28 . Zwar hafte der neuen Literatur, wie schon betont, ein tiefer und ehrlicher Zug an, „daß sie die heutige Gesellschaft, wie sie ist, mit rücksichtsloser Wahrhaftigkeit hinstellen und so der Kritik überantworten will" 29 , aber ihr fehle das Gefühl, „daß auch in den gesellschaftlichen Krisen die menschliche Natur geheime sieghafte Kräfte in sich hat und daß der Mensch all die Fratzen, die uns heut verdrießen, abschütteln kann" 30 . In diesem Zusammenhang schreibt Dilthey, daß nur aus den Tiefen des germanischen Wesens den Dichtern „ein der Gegenwart mehr entsprechendes Bewußtsein kommen kann, was 25

28 28

Ebenda, S. 283. (Wie weit verbreitet das Argument gegen die „konsequenten Naturalisten" unter den europäischen Realisten war, jene würden nur einen photographischen Ausschnitt aus der Wirklichkeit wiedergeben, zeigt Ingrid Mittenzwei in ihrem Aufsatz „Theorie und Roman bei Theodor Fontane" in Deutsche Romantheorien, a.a.O., S. 240 f.). Ebenda, S. 284 " Ebenda, S. 286 29 Ebenda, S. 246 Ebenda, S. 286

Ausdrude des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie

127

Leben sei und was die Gesellschaft sein soll" 3 0 . Kuderowicz fragt zu Recht, ob hier nicht eine nationalistische Tendenz zutage trete 3 1 .

Im

Wesen scheint mir jedoch Dilthey damit folgendes ausdrücken zu wollen: Beim Germanen steht im Mittelpunkt der Dichtung kein Schicksal, keine Krisis, sondern ein Held 3 2 . U n d das ist sehr wesentlich, denn auf den modernen Menschen wird

„die mächtig, realistisch hingestellte

ganze

Person, der heldenhafte Mensch, der mit sich und der Wirklichkeit ringt und Sieger bleibt, wie arg zugerichtet er auch aus dem K a m p f hervorgehe, allein so erhebend und innerlich erlösend wirken können als die tragische Trilogie auf die Zeitgenossen des Aischylos" 3 3 . U n d die Welt dieses Helden soll seine eigene Epoche sein mit all den aus ihr entsprechenden Kämpfen, in denen er sich zu bewähren hat. Der Dichter darf sich daher nicht sklavisch an die Wirklichkeit klammern, sondern muß diese überschreiten und gewisse Ideale schaffen, schon deswegen, um den Lesern einen H a l t zu bieten. Kleines, Niedriges und Häßliches könne beispielsweise nur insofern Gegenstand des Dramas ausmachen, „als es zu dem Wertvollen und Großen der Menschennatur in Beziehung gesetzt wird" 3 4 . Immer

wiederkehrende

Worte

Diltheys

sind

Gesundheit

und

Kraft,

die der Ausdruck einer sehr optimistischen Auffassung sind, seines noch ungebrochenen Glaubens an einen Menschen, der trotz allen Hindernissen stets die Kraft aufbringen wird, die Wirklichkeit ins Geistige zu tran-

30 S1

Ebenda, S. 286 f. Z. Kuderowicz, Dilthey a.a.O., S. 133. Vgl. zu diesem Ausspruch Diltheys gleichfalls die folgende Interpretation von Werner Krauss: „Dilthey erweist sich als gläubiger Zeitgenosse der Bismarcksdien Epiphanie des altgermanischen Redken und ihrer melodramatischen Ordiestierung durch Nietzsche und Wagner. Höchste Spannung des Lebens fordert den heldischen Umfang germanischer Brüste. Wenn nicht das rettende deutsche Wesen zu Wort kommt, droht die Dichtung im Naturalismus, der den Helden verleugnet, mit dem Stillstand ihrer geschichtlichen Sendung unterzugehen. Aber für Dilthey führt auch der erlösende Auftrag der Deutschen zu keiner dauernden Heilung des geschichtlichen Fiebers. Das Leben bleibt bei keiner noch so ungeglückten Lösung stehen, und audi die Dichtung kann die Unrast der Geschichte durch ihre bleibenden Kräfte nicht bezwingen" ( A u f s ä t z e zur Literaturgeschichte, Leipzig 1968, S. 65). Wellek ist der Meinung — allerdings nicht in Verbindung mit diesem Zitat — daß Dilthey auf eine konfuse Art und Weise versucht habe, komparatistische mit nationaler Sidit in der Literaturwissenschaft zu verbinden. Seine Betrachtungen hierzu schließt er mit den Worten: „These confusions are apparently tributes to the time spirit. Dilthey hailed the rise of Imperial Germany, admired Frederick the Great extravagantly, and though from the Rhineland, came to identify himself politically with Prussia" (A History of Modern Criticism, a.a.O., Bd. 4, S. 334).

"

VI, S. 238

34

Ebenda, S. 280

as Ebenda, S. 239

128

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

szendieren und das Leben zu erhöhen. Die „geheimen sieghaften Kräfte" erwartet Dilthey gerade vom Dichter, dem Seher, der das „befreiende Wort" auszusprechen vermag, das Wort, das aus seinem tiefsten Innern entspringt, über die Wirklichkeit hinausweist, also ein Wort, das wir nicht mehr den mimetischen Elementen verdanken, sondern ein Ausdrude des Innern ist; insofern ist der Dichter derjenige, der die Ideale seiner Zeit hervorbringt, um das Herz seiner Leser zu erfüllen, ihnen Mut und Kraft zu verleihen und das Beste in ihnen „zu stählen und zu stärken". In diesem Punkte herrscht eine völlige Übereinstimmung mit Otto Ludwig, dem Vertreter des sogenannten poetischen Realismus. Diese Übereinstimmung geht sogar bis in die Wortwahl (stählen, bereichern, grün usw.). Man vergleiche nur folgende Stelle aus der Poetik Diltheys mit einer sehr ähnlich lautenden aus Otto Ludwigs theoretischen Schriften. In der Poetik heißt es: die „Leistungen der Einbildungskraft entwickeln sich nicht in einem leeren Raum; in einer gesunden, von Realität erfüllten mächtigen Seele sollen sie entspringen und so das Beste im Leser oder Hörer stählen und stärken, ihn lehren, sein eigenes Herz zu verstehen, auf einförmigen Strecken seines Weges verborgenes Leben, gleichsam bescheidenes Grün zu beachten, und dann auch wieder dem Außerordentlichen auf demselben gewachsen zu sein". Und Otto Ludwig schreibt: „Die Dichter haben kein Recht, das Leben, wie es jetzt ist, zu schmähen. Sie trennten die Poesie vom Leben, natürlich daß das Leben keine Poesie mehr hatte — nämlich das, was sie abgetrennt Poesie n a n n t e n . . . Lieber gar keine Poesie, als eine, die uns die Freude am Leben nimmt, uns für das Leben unfruchtbar macht, die uns nicht stählt, sondern verweichlicht für das Leben. Gerade wo das Leben, brav geführt, arm ist an Interesse, da soll die Poesie mit ihren Bildern bereichern; sie soll uns nicht wie eine Fata Morgana Sehnsucht erregen wo anders hin, sondern soll ihre Rosen um die Pflicht winden, nicht aus dem Dürren in ein vorgespieltes Paradies locken, sondern das Dürre uns grün machen"35. Auf die Nähe Diltheys zu Otto Ludwig hat bereits 35

Otto Ludwigs Werke, Leipzig 1891, Bd. VI, S. 34. Auch bei Fontane finden wir Aussprüche, die bis ins Wort hinein an Sätze Diltheys über die Aufgabe, welche die Literatur zu erfüllen hat, erinnern. So lesen wir in der Rezension Fontanes über Gustav Freytags Ahnen: „Was soll ein Romanf Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluß aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte" (Theodor Fontane, Schriften zur Literatur,

Ausdruck des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie

129

Heinz Nicolai hingewiesen. Er sieht überhaupt eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Diltheys Dichtungsideal und dem des poetischen Realismus: „ . . . das Ideal der Dichtung, das Dilthey bei aller großartigen Weite des historischen Verständnisses und feinfühligen Empfänglichkeit für sehr verschiedene ästhetische Werte vorschwebt, ist das einer gesunden Fülle dichterischer Weltbetrachtung', einer typisierenden Wirklichkeitsdarstellung im weitesten Sinne, wie sie annähernd und in Anfängen von dem poetischen Realismus jener Tage vertreten wurde" 36 . Dieser Standpunkt ist nicht unberechtigt, man kann aufgrund der Poetik, des Dickens-Essays, des Aufsatzes Shakespeare und seine Zeitgenossen und der kritischen Studie über den Naturalismus tatsächlich zu diesem Schluß kommen, d. h. aufgrund der Arbeiten, wo Dilthey vor allem den Roman und z. T. auch das Drama (in erster Linie Shakespeare) vor Augen hat und so gut wie gar nicht die Lyrik (es ist erstaunlich, welch geringe Rolle die Lyrik in der Poetik spielt). Man darf hierbei jedoch nicht vergessen oder übersehen, daß Dilthey in seiner kritischen Einschätzung des Naturalismus (womit in Deutschland vor allem das theoretische Programm Zolas gemeint ist) mit der Mehrzahl der deutschen Schriftsteller und Literaturtheoretiker, die sich in dieser Zeit für die sogenannte neue Kunst, d. h. den Realismus oder Naturalismus, einsetzten, übereinstimmte. Auch sie schwankten zwischen konsequenter, objektiver Wiedergabe der Wirklichkeit und deren Verklärung ins Ideale 37 . So

56

37

Berlin 1960, S. 80). Über die Nähe Fontanes zum poetischen Realismus (bei aller Einschränkung, die man in bezug auf den Romancier Fontane machen muß, worauf unlängst Ingrid Mittenzwei in ihrem Aufsatz über Fontane, a.a.O., hingewiesen hat) siehe unter anderem B. Markwardt, a.a.O., Bd. IV., S. 377, 381, 384, Hans-Heinridi Reuter in seiner Einleitung zu dem eben zitierten Fontane-Band S. VI und XLVI sowie Wolfgang Preisendanz, „Voraussetzungen des poetischen Realismus in der deutschen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts" in Formkräfle der deutschen Dichtung vom Barock zur Gegenwart, Göttingen s 1967. Heinz Nicolai, Wilhelm Dilthey und das Problem der dichterischen Phantasie, München 1934, S. 144. Vgl. besonders Literarische Manifeste des Naturalismus, hsg. von E. Ruprecht, Stuttgart 1962, und B. Markwardt, a.a.O., Bd. V., Kap. „Der .konsequente' Realismus (Naturalismus)" Das Verhältnis Diltheys zum Realismus und Naturalismus ist noch nicht eingehend analysiert worden. Es gibt dagegen eine englische Studie von W. R. Root über das Verhältnis Scherers zum N a turalismus, der in vielem mit der Denkweise Diltheys verwandt war: „Naturalism's Debt to W. Sdierer" in The Germanic Review, 1936. Nach Root nahm Scherer in seinen literaturtheorethischen Anschauungen den Naturalismus vorweg, während er sich in seinen ethischen Ansichten völlig von den Naturalisten unterschied, ja ganz und gar mit denen der Antinaturalisten übereinstimmte. Im Grunde genommen, stand er, wie Root ausführt, auf dem Standpunkt des „poetischen Realismus".

130

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

schreibt H . Hart, einer der Wortführer des Naturalismus in Deutschland, 1878 in seinem programmatischen Aufsatz „Neue Welt", daß die neue Kunst sich durchsetzen werde, wenn sie „gemäß den Merkmalen aller echten Kunst aus dem vollen Born der Gegenwart schöpfend, ursprüngliche, individuell gefärbte Natur zum Ideal zu verklären weiß" 38 . Oder an anderer Stelle heißt es: „ . . . u n s e r Ideal i s t . . . die Liebe, die ins Innerste der Creaturen hinabsteigt und auch das Elend, auch das Siechtum zu verklären weiß" 39 . In den achtziger Jahren fanden in Deutschland mehrmals Diskussionen über die Begriffe Realismus und Naturalismus statt, und immer wieder entscheidet man sich für Realismus, worunter man eine Verbindung von Idealismus und Naturalismus versteht. So betont Georg Christaller im ersten Jahrgang der Gesellschaft, realistische Wochenschrift, daß die naturalistische Kunst auf die Ideale nicht verzichten könne. Dem sogenannten konsequenten Naturalismus wird von fast allen deutschen Vorkämpfern einer neuen Kunst (ausgenommen M. G. Conrad und W. Bölsche, die wenigen, die Zolas Forderungen ohne große Einschränkungen verteidigten) vorgeworfen, daß er nicht den ganzen Menschen schildere, denn er verleugne dessen geistige Potenzen. Wir werden hier an Diltheys Begriff des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens erinnert, den dieser ja auch gegen den Naturalismus ausspielt. Interessant ist in Verbindung damit auch der Standpunkt, den Irma von Troll-Borostganis in ihrem Aufsatz „Die Wahrheit im modernen Roman" vertreten hat, daß das Objekt der modernen Dichtung nicht der „metaphysische Mensch" sei, „mit welchem Zola mit Recht nichts zu tun haben will, sondern der psychologische Mensch in seiner Totalität" 40 . Die wenigen Hinweise lassen bereits erkennen, daß sich sowohl Dilthey wie auch die sogenannten Vorkämpfer des Naturalismus in Deutschland mit der neuen europäischen Richtung des Naturalismus nicht ganz befreunden können und auf die verschiedenste Art und Weise versuchen, einen versöhnenden (wahren) Realismus zu predigen. Gegen Nicolais Ansicht von der Nähe Diltheys zum poetischen Realismus spricht jedoch der Hölderlin-Aufsatz. Und in diesem Punkt müssen auch wir unsere These über das Verhältnis zwischen Mimesis und dem Ausdruck des Innern bei Dilthey einschränken. Diese trifft höchstwahrscheinlich nur auf Diltheys Anschauungen über den Roman zu und ist auch zeitlich zu begrenzen. Man vergleiche nur Diltheys Ausführun38 38 40

Deutsche Monatsblätter, Bd. I, S. 22 Kritische Waffengänge, H. 2, S. 4 Die Gesellschaft, realistische Wochenschrift, 1836, Nr. 4, S. 221 f.

Ausdruck des Inneren und Mimesis in Diltheys Erlebnistheorie

131

gen über die Hymnen an die Nacht, die er als Ausdruck der Schmerzen und Leiden von Novalis interpretiert, und den Ofterdingen, den er u. a. als eine (seiner Meinung nach übrigens irrtümliche) Reaktion auf den realistisch angelegten Roman Goethes, den Wilhelm Meister, ansieht. Es ist eben ein Unterschied, ob von Lyrik oder Epik die Rede ist. Aber unsere These bedarf auch, wie gesagt, einer zeitlichen Einschränkung, denn während Dilthey bis zur Mitte der neunziger Jahre noch ganz im Banne der großen realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts stand und der symbolischen Dichtung keine Zukunft voraussagte, scheint er an der Jahrhundertwende dem Symbolismus doch seinen Reiz abgewonnen zu haben und auch die Lyrik stärker zu beachten. In dieser Zeit entstand dann auch die Neufassung des Hölderlin-Aufsatzes für Das Erlebnis und die Dichtung, in dem Dilthey Hölderlin in die Nähe der französischen Symbolisten und vor allem Nietzsches rückt. So manches Mal ist daher auch die Rede von Hölderlins Ringen nach dichterischen Symbolen, in denen er seine Gefühle, Ideen und Ideale zum Ausdruck bringen möchte. In diesem Sinne sieht Dilthey die Dichtung Hölderlins vor allem als Ausdruck des Inneren an. Aber es ist gleichzeitig bezeichnend, daß Dilthey dieses Innere nicht in einen eng subjektivistischen Rahmen einzwängt, sondern auch die äußeren Bedingungen sieht, die das Innenleben Hölderlins geformt und bestimmt haben. So nennt er u. a. die Renaissance des griechischen Geistes, die damalige philosophisch-dichterische Bewegung in Deutschland und die Französische Revolution als bestimmende Kräfte für das Geistesleben im Tübinger Stift, die auch Hölderlin stark beeinflußten. Und wenn Dilthey schreibt, daß Hölderlin in seinen Dichtungen Symbole für seine Erlebnisse suchte, so dürfen wir nicht vergessen, daß hier der Begriff Erlebnis sehr weit gefaßt wird. An einer Stelle heißt es beispielsweise: „Das Erlebnis, das sich in Hölderlins Hymnen aussprach, war das heroische Streben der Jugend jener Jahre, in sich selbst und um sich in der Gesellschaft eine höhere Menschheit zu verwirklichen" 41 . Hier versteht Dilthey unter Erlebnis eigentlich das Innewerden des Strebens einer ganzen Generation, ihres Wollens und ihrer Ideale. Dabei ist aufschlußreich, daß Dilthey Hölderlins Weg nach Innen aus der historischen Situation heraus interpretiert, und zwar als Resignationserscheinung. „In dem großen Moment unserer Literatur, in welchem unsere Dichtung ihren Höhepunkt erreichte, der Idealismus der Persönlichkeit und der Freiheit die Jugend ergriff und die Französische Revolution ihre Aussichten einer vollkommeneren Gesellschaft eröffnete, schritt er | Hölderlin | mit 41

Das Erlebnis und die Dichtung, a.a.O., S. 369

132

Die Rolle des Erlebnisbegriffs

seinen Freunden diesem aufgehenden Morgenlichte einer neuen Welt entgegen. Sie erwarteten eine neue höhere Menschheit und wollten sie herbeiführen. Unter den Genossen stand Hölderlin wie die Verkörperung einer reineren, harmonischeren Bildung der menschlichen Persönlichkeit... Wie hätte aber diese Bewegung in der deutschen Jugend sich behaupten können, als die Revolution immer mehr entartete, ihre Kriege den Zwiespalt zwischen Freiheitsliebe und Vaterlandsgefühl erregten und die europäische Reaktion hereinbrach! Die Gewalt erhielt nun das Wort. In den deutschen Staaten gab es für das junge Geschlecht keinen Platz, an dem man hätte für eine freiere Ordnung wirken können. Selbstherrschaft, sozialer Druck des Adels und des Geldes, religiöse Beschränktheit erwiesen sich siegreich innerhalb dieser Gesellschaft. Man mußte resignieren. Keine äußere Existenz war für dieses stille, langsame lyrische Genie auffindbar. Die Bedürftigkeiten des Lebens machten sich an diesem Mittellosen geltend. Alles trieb ihn aus der Welt des Wirkens und Genießens nach innen, in die Tiefen der Dinge, in eine totale Einsamkeit" 42 . Zusammenfassend können wir also auch in bezug auf den Hölderlin-Essay sagen, daß das Leben als gesellschaftshistorische Erscheinung in dem Grade in die Dichtung eingeht, in dem es vom Dichter erlebt, verinnerlicht wird. Und gerade bei Hölderlin war das Erlebnis seiner Zeit überaus stark, nämlich das Erlebnis der Ideale seiner Generation und der darauffolgenden Hoffnungslosigkeit. So sehen wir auch hier, wie bei Dilthey Dichtung zugleich Ausdruck des Inneren und Spieglung der jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, wenngleich in einer höchst komplizierten und subjektiv bedingten Form.

« Ebenda, S. 349 f.

IV. D I L T H E Y S A N S Ä T Z E ZUR Ü B E R W I N D U N G DER SUBJEKTIVITÄT DES ERLEBNISBEGRIFFS

Die Annahme des Erlebnisses als eines Haupt- und Grundbegriffes der Literaturwissenschaft mußte selbstverständlich allerlei neue Probleme und Schwierigkeiten aufkommen lassen; zog doch dieser Begriff eine erhöhte Subjektivierung und damit Verengung des Blickfeldes nach sich. Sehr interessant sind daher die — z. T. unbewußten — Versuche Diltheys, dieser Gefahr zu entgehen, indem er (im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, begonnen mit Hermann Grimm) den Erlebnisbegriff sehr weit faßte und ihn durch andere Begriffe, wie den der Bedeutsamkeit, der Weltanschauung, des Verstehens usw., ergänzte.

1. Die Einschränkung der psychologischen Voraussetzungen a. Durch die Weite des Erlebnisbegriffs Es ist erstaunlich, welch unerhörte Weite Dilthey dem „Erlebnis" verlieh. Ein Beispiel hierfür haben wir ja bereits am Ende des vorigen Kapitels aus dem Hölderlin-Essay zitiert. In ähnlicher Weise gebraucht er diesen Begriff auch in seiner Arbeit „Die ritterliche Dichtung und das nationale Epos". Hier nur ein Beispiel: „Die Natur schien Waither nur geschaffen zu haben, um persönliches Erlebnis voll auszuleben und auszusprechen. Und was die Zeit politisch, sittlich, religiös erfüllte, nahm er in die Tiefe dieses persönlichen Erlebens auf" 1 . Einen noch größeren Umfang bekommt dieser Begriff in dem Lessing-Aufsatz in Das Erlebnis und die Dichtung, wo es heißt, daß das große Erlebnis, welches in dem Drama Lessings seinen höchsten Ausdruck gefunden habe, die „abstrakte Welt der moralischen Prinzipien" gewesen sei2. Die Weite des Erlebnisbegriffs gibt Dilthey den Vorteil, die verschiedensten Gegensätze miteinander verbinden und Spannungen überbrücken zu können. So ermöglicht sie ihm z. B., die ganze von dem 1

Wilhelm Dilthey, Von deutscher Dichtung und Musik, Leipzig und Berlin 1933, S. 72. * Das Erlebnis und die Dichtung, a.a.O., S. 65

134

Oberwindung der Subjektivität des Erlebnisbegriffes

Dichter erfahrene Wirklichkeit, die geistige einbeschlossen, mit der persönlichen Welt des Dichters zu verknüpfen und damit gleichzeitig die Spannung zwischen den mimetischen und expressiven Elementen zu überwinden. In diesem Sinne schreibt beispielsweise Dilthey von

Goethe:

„Und so liegt nun schließlich darin die einzige Größe seiner persönlichen Dichtung, daß in ihr das Persönlichste mit allem, was von allgemeineren Bewegungen Bestandteil seines Wesens wurde, auf das innigste verbunden ist. Eben weil die größten geistigen Phänomene ihm zum Erlebnis geworden waren, konnten sie mit seinem Schicksal verknüpft werden und konnten bewegen, erschüttern. So und nur so wurde das größte Gedicht nach Shakespeare, der Faust, möglich" 3 . Dieser Weite des Erlebnisbegriffs liegt eine bestimmte Vorstellung der Dichterpersönlichkeit zugrunde: Dichter ist für Dilthey ein weltoffener, universal eingestellter Mensch, der dank seiner hohen Empfindsamkeit alle wesentlichen Erscheinungen seiner Zeit in sich aufnimmt, sie zutiefst erlebt und ihnen Ausdruck verleiht: „So machte das Leben seine Seele w e i t " , schreibt Dilthey über Walther in der eben genannten Arbeit, „in seinen persönlichen Erlebnissen waren die geschichtlichen Verhältnisse mit enthalten und seine L y r i k gab auch ihnen Ausdrude" 4 . Obwohl der Erlebnisbegriff in der heutigen

Literaturwissenschaft

kein zentraler mehr ist, gehört diese Vorstellung von der Dichterpersönlichkeit immer noch zu einer weitverbreiteten. Wahrscheinlich wird man den an das große Individuum geketteten Erlebnisbegriff, wie ihn die Diltheyzeit geprägt hat, erst dann überwinden oder besser in seinem eigentlichen Geltungsbereich verwenden, wenn man sich größere Klarheit über den Dichter, seine Rolle und Stellung in der jeweiligen

Gesell-

schaft verschafft haben wird.

b. Durch die Einführung

des Begriffs

der

Bedeutsamkeit

Eine wichtige Ergänzung erfährt der Erlebnisbegriff in den Spätschriften durch die Begriffe der Bedeutung, des Bedeutsamen bzw. der Bedeutsamkeit. I n den literaturwissenschaftlichen Schriften vor der J a h r hundertwende hatte Dilthey vor allem betont, daß die Poesie die Funktion habe, in uns Lebendigkeit zu erhalten, unser Gemüt zu erfüllen, uns Befriedigung

zu gewähren. I m Vordergrund standen

' Ebenda, S. 239 Von deutscher Dichtung und Musik, a.a.O., S. 75

4

also

subjektive

Die Einschränkung der psychologischen Voraussetzungen

135

Faktoren. Nun scheint er jedoch die Funktion der Poesie anders einzuschätzen. Sie soll ein Geschehnis durch dessen Schilderung zur Bedeutsamkeit erheben, was sie erreicht, wenn sie uns eine neue Seite des Lebens eröffnet. Schaffenspsychologisch hat das zur Folge, daß nun das „aufschließende" Erlebnis die größte Rolle bei der Entstehung des Kunstwerkes spielt. Die Kopplung des „Erlebnisses" mit der „Bedeutung" verschafft Dilthey die Möglichkeit obektiverer Kriterien für die Interpretation eines Kunstwerks. In dieser Hinsicht wäre gerade die Neufassung seiner Poetik sehr interessant gewesen. Schon solch kleine Veränderungen, wie wir sie aus dem Plan zur Neufassung der Poetik kennen, lassen aufhorchen: „Der Folge der Worte entspricht am besten die Handlung, da deren einzelne Glieder schon, jedes für sich, eine Befriedigung g e w ä h r e n . . . " wird umgeändert in: „Der Folge der Worte entspricht am besten die Handlung, da deren einzelne Glieder schon, jedes für sich, eine Bedeutung haben . . ."5 und „Jedes lebendige Werk . . . drückt in letzter Instanz nur Erlebtes, gefühlsgemäß umgestaltet und verallgemeinert, aus" wandelt er so ab: „ . . . drückt in letzter Instanz nur Erlebtes, nach seiner Bedeutung umgestaltet und verallgemeinert, aus" 5 . Objektiver ist der Begriff des Bedeutsamen, weil er von Dilthey auf das Leben bezogen wird, während der der Befriedigung auf das Subjekt ausgerichtet war 6 . Der Gewinn wurde jedoch zugleich mit einem Verlust bezahlt, ging doch damit der Zuschauer oder Zuhörer als das Subjekt, dessen Gemütskräfte befriedigt werden sollten, verloren. Daß der Begriff der Bedeutung in den Spätschriften Diltheys sich zu dem des Erlebnisses „gesellt" hat, hat vielleicht auch noch eine philosophie- oder geistesgeschichtliche Ursache. In der Philosophie und Psychologie hatte sich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung durchgesetzt, daß man unter Erlebnis alle psychologischen Vorgänge zu verstehen habe, durch die einem Ich etwas bewußt wird. Auch Dilthey schloß sich — insbesondere in seinen Entwürfen, die in den siebenten Band der Gesammelten Schriften, den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften eingegangen sind — diesem Gebrauch des Wortes Erlebnis an, vor allem unter dem Einfluß von Husserl, dem er übrigens auch die Exponierung des Begriffs

5

VI, S. 312

• Im Kapitel „Mimesis und Ausdruck des Innern . . b e t o n t e n wir dagegen, daß der Begriff des Bedeutsamen subjektiver als der des Typischen sei. In der Poetik wird das Bedeutsame vom Gefühl und der allgemeinen Befriedigung her definiert, während ihn Dilthey in den späteren Schriften in Relation zum Leben sieht, wie wir hier zu zeigen versuchen.

136

Oberwindung der Subjektivität des Erlebnisbegriffes

Bedeutung zu verdanken hatte 7 . Dem Erlebnis kam in diesem Wortverständnis keine besondere Qualität mehr zu, was zur Folge hatte, daß es nicht mehr als ein Grund- und Hauptbegriff in der Literaturwissenschaft figurieren konnte, es sei denn, daß man unter den Erlebnissen nur bestimmte, für die Dichtung relevante auszeichnete. Gerade das tat Dilthey in Erlebnis und Dichtung: „Jeder der unzähligen Lebensumstände, durch die der Dichter hindurchgeht, kann psychologischem Sinne als Erlebnis bezeichnet werden: eine tiefer greifende Beziehung zu seiner Dichtung kommt nur denjenigen unter den Momenten seines Daseins zu, welche ihm einen Zug des Lebens aufschließen"8. Wir nannten diese Erlebnisse weiter oben die „aufschließenden". Dank diesen Erlebnissen sind die Dichter und Philosophen imstande, die bedeutsamen Seiten des Lebens zu erschließen. Und hier ist der Punkt, wo sich Erlebnis und Bedeutung begegnen. Zwar traten Erlebnis und Bedeutung schon in der Poetik als Paar auf, doch standen solche Bemerkungen, wie ein Erlebnis wird „dann erst zum Besitz gebracht, indem es zu anderen Erlebnissen in innere Beziehung gesetzt und so seine Bedeutung erfaßt wird" 8 * noch nicht im Zentrum der Überlegungen Diltheys. Der Begriff der Bedeutung hat den Vorteil, daß er eine Relation auf ein Anderes in sich einschließt. Bedeutung ist Bedeutung für etwas, und die Bedeutung des Erlebnisses ist die für andere Erlebnisse, den Gesamtzusammenhang und vor allem das Leben. Was jedoch bedeutsam ist, legt Dilthey zufolge das Leben selber fest; denn bedeutsam ist nur jenes Geschehnis, das einen Bezug auf das Ganze, das Leben hat, diesen Strom — um ein stereotypes Bild Diltheys und der Lebensphilosophie überhaupt zu verwenden —, der unabhängig vom Individuum dahinfließt. Dilthey ist der Ansicht, daß das Leben selber den Einzelnen in unmittelbarer Weise von der Bedeutsamkeit der Erlebnisse überzeugt. Das Leben sorgt sozusagen dafür, daß sich der Mensch nur der lebenswichtigen Momente erinnert, während es ihn die anderen vergessen läßt. Die Freudsche Interpretation des Vergessens als Verdrängung kennt Dilthey noch nicht. Unter den Erlebnissen „sind diejenigen, die für sich 7

Siehe Z. Kuderowicz, Swiatopoglqd a zycie u Diltheya, a.a.O., S. 80, der überhaupt etwas eingehender das Verhältnis zwischen Dilthey und Husserl analysiert hat (S. 80—82, 261—267), wobei er sidi vor allem auf Husserls Äußerungen über Dilthey in der Phänomenologischen Psychologie und den Briefwechsel zwischen beiden Denkern (abgedruckt in Mischs Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl, Leipzig 1931 und z. T. von W. Biemel in der Einleitung zur Phänomenologischen Psychologie) stützte.

8

Das Erlebnis

M

VI, S. 131

und die Dichtung,

a.a.O., S. 198

D i e Einschränkung der psychologischen Voraussetzungen

137

und den Zusammenhang des Lebens eine besondere Dignität haben, in der Erinnerung bewahrt und aus dem Fluß des Geschehenen und Vergessenen herausgehoben..."', heißt es in den „Entwürfen zur Kritik der historischen Vernunft". Es ist für die Philosophie des späten Diltheys bezeichnend, daß er nun alle Kategorien unter dem Aspekt ihres Bezugs auf das Leben betrachtet. Der Begriff der Bedeutung ist hierbei einer der wichtigsten, er wird direkt zu einer Kategorie des Lebens erklärt. Er nimmt jetzt den gleidien Stellenwert ein wie der des Erlebnisses, den Dilthey ebenfalls unter neuen Gesichtspunkten betrachtet. Es ist dies die Folge seiner verstärkerten Reflexionen über den Begriff des Lebens, der bekanntlich schon seit seiner Jugendzeit zu einer seiner Zentralkategorien gehörte10. Doch angesichts der Philosophie eines Nietzsche11 und auch Bergson hatte dieser Begriff einen neuen Inhalt bekommen, mit dem sich Dilthey zwar zum großen Teil solidarisiert, indem auch er viel stärker als früher das Fließende, Unerfaßbare, Unendliche des Lebens betont, zu dem er jedoch ein Gegengewicht schaffen möchte. Dieses Gegengewicht bilden die Erlebnisse, die dem Leben eine „körnige" Struktur, wie es Bollnow einmal in seinem Buch Die Lebensphilosophie formuliert hat 12 . Im Erlebnis wird eine bestimmte Seite, ein bedeutendes Moment des Lebens zu einer in sich geschlossenen Einheit erhoben. Dem Erlebnis kommt mit anderen Worten die Funktion des „Erschließens"

» VII, S. 200 10

Man hat allerdings den Zusammenhang zwischen Leben und Erlebnis im Frühwerk Diltheys bisher immer zu stark akzentuiert, wobei man sich auf die Vorrede zum Plan über die Poetik (1907/08) zu berufen pflegte, in der Dilthey bemerkte, daß der „Zusammenhang der Konzeption von Leben, E r l e b n i s . . . Bedeutsamkeit als einer Eigenschaft des Lebens, inhaltlicher Psychologie . . s c h o n in seinen ersten Veröffentlichungen enthalten ist (VI, S. 311), wobei er auf seine Preisschrift verweist. Mit Recht sagt hierzu Manfred Riedel, a.a.O.,: „Tatsächlich nachweisbar ist in der Preisschrift über Schleiermachers Hermeneutik lediglich die Konzeption einer .inhaltlichen Psychologie' (im Novalis-Aufsatz von 1865 ,Realpsychologie' genannt), welche die Arbeit von Fichte, Schleiermacher, Hegel und Schopenhauer würdigen und fortsetzen soll, nicht aber der Zusammenhang von .Leben' und .Erlebnis" (S. 338).

11

Über das Verhältnis Diltheys zu Nietzsche vgl. „Dilthey versus Nietzsche' in Studia Philosophien, X, Basel 1950, wie auch die glänzende Antwort G. Mischs hierauf in der Zeitschrift Die Sammlung „Dilthey versus Nietzsche", Göttingen 1952, ferner O. F. Bollnow in Wilhelm Dilthey, eine Einführung in seine Philosophie, Leipzig 1936, S. 197—199 und Werner Krauss, a.a.O., S. 58 f.

11

O. F. Bollnow, Die Lebensphilosophie,

Göttingen 1958, S. 26

138

Überwindung der Subjektivität des Erlebnisbegriffes

zu, wobei unter Erschließen kein Erkenntnisvorgang im landläufigen Wortsinn zu verstehen ist, sondern vorerst ein unmittelbares Haben der „Realität Erlebnis", d. h. eines innegewordenen Geschehnisses. Unmittelbar heißt hier vor allem, daß das Geschehnis gefühlsmäßig, unreflektiert aufgenommen wird. Es ist mir nicht gegeben, d. h. ich empfinde es nicht als etwas Fremd mir Gegenüberstehendes13. Dazu wird es erst im Denken, das es zu etwas Anderem macht, zum Gegen-stand. Das ist wohl der Sinn der Worte Diltheys: Das Erlebnis „ist uns nicht gegeben, sondern die Realität Erlebnis ist für uns dadurch da, daß wir ihrer innewerden, daß ich sie als zu mir in irgendeinem Sinn zugehörig unmittelbar habe. Erst im Denken wird es gegenständlich"14. Das Erlebnis geht nach Dilthey allem Denken voraus, dieses erwächst erst aus ihm, erhält von ihm seine Nahrung. Unsere Begriffe sind lediglich vergegenständlichte, verallgemeinerte Erlebnisse. Durch die Erlebnisse sind wir imstande, die verschiedenartigsten Momente unseres Lebens in eins zu fassen, Vergangenes und Zukünftiges miteinander zu verschmelzen und damit das Leben zu strukturieren, es faßbar zu machen. Auf diese Weise wird der Unerfaßbarkeit des Lebens, der ewigen Zeit, der Bergsonschen duree, etwas entgegengesetzt, das eine Aufhebung dieser Unerfaßbarkeit bewirkt, wenn auch nur teilweise, da wir ja nicht einmal zu einem Erschöpfen des Erlebnisses15, geschweige dennn je zu einer letztlichen Erfassung des Lebens gelangen können. Wie sich Dilthey diesen Strukturierungsprozeß konkret vorstellte, kann man aus seinen beiden Beispielen entnehmen, die er in seinen Notizen zu der neuen Poetik angeführt hat. Beispiele ist vielleicht zu viel gesagt, es sind eigentlich nur Verweise, Andeutungen. Einmal handelt es sich um das Erlebnis des Todes eines Freundes und zum anderen um den Eindruck, den ein Gemälde hinterläßt. Beide Erlebnisse bilden eine jeweils in sich geschlossene Einheit, die schon durch den Gegenstand, den verstorbenen Freund bzw. das Gemälde, bedingt ist. Nach Dilthey sind diese Erlebnisse unmittelbar, d. h. „ohne Abzug innegeworden, nicht gegeben und nicht gedacht"1®. Sie sind durch keine Begriffe vermittelt, zwischen dem Erlebnis und dem Inneren ist nichts dazwischengeschaltet, es besteht kein Abstand, keine Dinstanz. Der Tod des Freundes bewirkt ohne jede Vermittlung meinen Schmerz oder meine Trauer. Ähnlich das 13 14 15

18

Vgl. ebenda, S. 27 VI, S. 313 Siehe VII, S. 29, wo Dilthey von der „Unerschöpflichkeit des Erlebnisses" spricht. VI, S. 316

Die Einschränkung der psychologischen Voraussetzungen

139

Gemälde, das auch direkt in mir ein bestimmtes Gefühl hervorruft. Wie problematisch der Begriff des Direkten oder Unmittelbaren ist, hat u. a. unlängst Ingarden in seinem Artikel über Volkelt gezeigt 17 . Selbst bei der Trauer um den Nächsten gibt es kein unvermitteltes Innewerden. Ehe man nicht um die Bedeutung des Todes weiß, wird man auch nicht die Empfindung des Schmerzes und der Trauer haben. Bei Kunstwerken liegt es noch klarer auf der H a n d , daß diese erst dann zum Erlebnis werden können, wenn man ein ästhetisches oder künstlerisches Empfinden entwickelt hat. Der Begriff der Unmittelbarkeit als Synonym f ü r unreflektiertes gefühlsmäßiges Aufnehmen hat in Wahrheit nur eine bedingte Berechtigung. Und Dilthey hat daher auch nur eingeschränktermaßen Recht, daß die Begriffe den Erlebnissen entspringen, daß sie vergegenständlichte Erlebnisse sind. Nach seiner Meinung hätten wir beispielsweise nicht die Zeitanschauungen Dauer, Wechsel, Veränderung usw., wenn ihnen nicht entsprechende Erlebnisse vorausgegangen wären. Gewiß hat hier Dilthey nicht Unrecht, nur bilden wir uns unsere Begriffe zugleich mit Hilfe von anderen Begriffen. In unserem Leben gibt es kein Vorher oder Nachher, erst ein Erleben und dann ein begriffliches Erfassen. Es ist gewiß, daß das konkrete Erlebnis vor dem konkreten Begriff liegt, der dieses Erlebnis bezeichnet, aber ebenso groß ist die Simultaneität des Erlebnisses und anderer Begriffe. Wenn mein Freund stirbt, verspüre ich Schmerz, weil ich weiß, was der Tod bedeutet, und weil ich mir bewußt bin, was ich an ihm verloren habe, wie nahe er mir stand, wie edel oder ähnliches mehr er war usw. Erst dieses Ineinander von — z. T. natürlich nicht deutlich bewußt gemachtem — Wissen und Fühlen (wobei ja auch das Fühlen wiederum in starkem Maße ein gesellschaftliches Phänomen ist) ermöglicht ein bleibendes Erlebnis. Dilthey trennt diese beiden Sphären leider allzusehr, wenn es auch bei ihm immer wieder Ansätze zu deren Verbindung gibt, doch ist er zu einer echten Erfassung der Wechselwirkungen zwischen Gefühlsleben und dem Denken nicht imstande, da er das Individualpsychologische als das dominierende Moment ansieht, während die rationale Komponente doch immer wieder an die zweite Stelle rückt; denn er hält das Denken f ü r etwas vom Gefühlsleben Abgeleitetes, während er dem Gefühl Ursprünglichkeit zuerkennt. Er wendet hier das gleiche Schema an wie in der Literatur, das der Ursprünglichkeit und Tradition oder des Authentischen und Abgeleiteten. Doch kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück, die da lautete, wie sich Dilthey den Strukturierungsprozeß des Lebens mittels der Erleb17

R o m a n Ingarden, Pogl^dy Volkelta na wczucie (Volkelts Ansichten über die Einfühlung), Studia Estetyczne, t. IV, Warszawa 1967, S. 135—151.

140

Uberwindung der Subjektivität des Erlebnisbegriffes

nisse vorstelle. Mit der Empfindung des Schmerzes allein wird schließlich noch keine in sich geschlossene Einheit des Erlebnisses hervorgebracht. Diese ist erst dadurch gegeben, daß auch all das andere, was dieses Gefühl erzeugt hat, und all das, was mit ihm verbunden ist, hinzukommt: der tote Freund, der Anlaß des Todes, meine Reaktionen auf seinen Tod usw. Und bei der Besichtigung des Gemäldes ist es nicht allein das Bild, welches mein Erlebnis bewirkt bzw. ausmacht, wie Dilthey selber bemerkt: „Ich darf aber nicht sagen, daß in diesem Bilde oder in dem, was ich als das Bedeutende heraushebe, das ganze Erlebnis liege. Dieses faßt Lokalisation usw., kurz die ganze Realität, die das Erlebnis ausmacht, in sich"16. Erst die Gesamtheit all der das Erlebnis begleitenden Faktoren konstituiert dessen besondere Qualität und Aktualität oder, mit Dilthey gesprochen, die besondere Qualität des Erlebnisses ist dessen ganze Realität in ihrer Bestimmtheit. Doch auch das Zusammengehen all dieser Faktoren macht Dilthey zufolge noch nicht das „volle Erlebnis", aus. Das Charakteristikum des „vollen Erlebnisses" ist es, daß es eine Kontraktion mehrerer ähnlicher Erlebnisse darstellt, wodurch ein ganzes System von Bezügen, eine Art Struktur entsteht. Dilthey demonstriert dies an seinem Gemäldebeispiel: „Das Erlebnis endet, indem ich den Raum verlasse; das Vergegenwärtigen verschwindet, da mir jemand begegnet usw. Ich kann aber wieder hingehen. Es ist nur eine Erweiterung dieses Erlebnisses, wenn der Besuch sich wiederholt. Hier bildet sich eine eigene Beziehung. Bei meinem letzten Besuch ist in dem Erlebnis die Fülle aus den früheren. Die älteren Erlebnisse sind zusammengegangen in eine stärkere Einheit in sich. Sie haben einen eigenen Bezug zum Gegenwärtigen . . . Wie getrennt auch die Einzelerlebnisse sind von Besuchen der Galerie: in ihnen expliziert sich etwas, und schließlich ist die ganze Fülle des letzten Erlebnisses da, in welcher eine Implikation, ein Zusammennehmen sich realisiert und nun das volle Erlebnis konstituiert" 16 . Hier erkennen wir übrigens wieder Diltheys Bestreben, die beiden Bedeutungen des Erlebnisses, das punktuelle Erlebnis und das Erlebte, miteinander zu verbinden. Das „volle Erlebnis" ist es nun, das dem Erlebenden stets gegenwärtig bleibt, das das Vergangene nicht völlig versinken läßt, sondern das Gewesene bewußtseinsmäßig in die Gegenwart herübernimmt. Dank dieser Gegenwärtigkeit ist es möglich, daß dieses volle Erlebnis zu anderen Erlebnissen in Beziehung gebracht, es durch neue Erlebnisse bereichert und verändert werden kann. Dilthey sagt daher auch: „Das Erlebnis ist eine dynamische Einheit" 18 . 18

VI, S. 315

Die Einschränkung der psychologischen Voraussetzungen

141

Diese Feststellung bedeutet zugleich, daß das Leben zwar durch das Erlebnis strukturiert wird, aber nicht ein f ü r allemal, sondern immer wieder neu, von der jeweiligen Gegenwart aus; denn stets entscheiden die Gegenwart und das Bevorstehende darüber, welche Bedeutung der Mensch dem, an das er sich noch erinnern kann, sowie dem aktuell Geschehenden zuweist und in welches Bezugsfeld er das alles bringt. „Schon im Gedächtnis vollzieht sich eine Auswahl", schreibt Dilthey in der dritten Studie zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, und „das Prinzip dieser Auswahl liegt in der Bedeutung, welche die einzelnen Erlebnisse f ü r das Verständnis des Zusammenhangs meines Lebensverlaufs damals, als sie vergangen waren, hatten, in der Schätzung späterer Zeiten bewahrten, oder auch, als die Erinnerung noch frisch war, von einer neuen Auffassung meines Lebenszusammenhangs aus erhielten; und jetzt, da ich zurückdenke, erhält auch von dem, was mir noch reproduzierbar ist, nur dasjenige eine Stellung im Zusammenhange meines Lebens, was eine Bedeutung hat f ü r dieses, wie ich es heute ansehe. Eben durch diese meine jetzige Auffassung des Lebens erhält jeder Teil desselben, der bedeutsam ist, im Lichte dieser Auffassung die Gestalt, in der er heute von mir aufgefaßt wird. Er erhält den Bezug zu anderen bedeutsamen Teilen von hier aus; er gehört einem Zusammenhang an, der durch die Beziehungen der bedeutsamen Momente des Lebens zu meiner jetzigen Deutung desselben bestimmt ist. Diese Bedeutungsbezüge konstituieren das gegenwärtige Erlebnis und durchdringen dasselbe" 19 . D a die jetzigen Erlebnisse jeweils die größte Bedeutung besitzen, entsteht ein ewiger Widerstreit zwischen den gegenwärtigen und vergangenen Erlebnissen, der jedoch in Diltheys Sicht keine dramatischen oder gar tragischen Formen annimmt, da der moderne Mensch für ihn noch nicht ein in sich zerrissenes, sondern immer noch ein sich relativ harmonisch entfaltendes Individuum ist, das Erfahrungen sammelt, um seine Lebensanschauungen zu vertiefen und sich damit zu vervollkommnen.

c. Durch den Begriff des

Geschehnisses

Zu dem Begriff der Bedeutsamkeit gesellt sich der des Geschehnisses. In den Spätschriften schreibt Dilthey seltener, daß Dichtung Erlebnis ausdrücke, sondern häufiger, daß in ihr „ein Geschehnis zur Bedeutsamkeit erhoben wird". In seinem Aufsatz Das Wesen der Philosophie von 11

VII, S. 74

142

Uberwindung der Subjektivität des Erlebnisbegriffes

1907 erklärt er, was er unter Geschehnis versteht: „ . . . dieses Wort in einem Sinne genommen, in dem es Erlebbares wie Erlebtes, eigene wie fremde Erfahrung, Überliefertes wie Gegenwärtiges einschließt"20. An die Stelle des sehr emotional gefärbten Begriffs Erlebnis tritt also der des Geschehnisses, der im Diltheyschen Wortverständnis dem der Erfahrung sehr nahekommt, sich aber gegen diesen als ein punktueller abhebt, er ist daher eher mit dem Wort Erfahrnis verwandt, das in Diltheys Spätschriften mehrmals vorkommt 21 . Der Begriff Geschehnis muß als eine Art Kompromiß aufgefaßt werden, denn in ihm bleibt das Erlebnis zwar als ein entscheidendes Moment für die Entstehung von Dichtung erhalten, doch nur als ein Moment. Daß wir in dieser Annahme nicht fehlgehen, beweist uns die folgende Formulierung in dem gleichen Absatz, in dem Dilthey das Wort Geschehnis erläutert. Dort heißt es nämlich, daß der Dichter den „harten, eckigen Rohstoff eines Erlebnisses" erhitze und es dann umschmiede in „diejenige Form, die es dem Auffassenden als bedeutsam erscheinen läßt" 22 . Und in seinem „Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" führt Dilthey aus: „Poesie hat zu ihrer Grundlage den Wirkungszusammenhang des Lebens, das Geschehnis. Irgendwie hängt mit einem erlebten oder zu verstehenden Geschehnis jede Dichtung zusammen. Sie gestaltet nun das Geschehnis, indem sie dessen Teile in der Phantasie nach ihrem Merkmal des freien Bildens zur Bedeutsamkeit erhebt" 23 . Geschehnis gestalten heißt für Dilthey einen unmittelbaren Bezug zum Leben herstellen. Dieser soll unvermittelt, ohne ein „Hineinlegen von Vernunft, von Gedanken in den Teil des Geschehnisses" erfaßt werden. Gleichzeitig soll der Dichter einen solch bedeutsamen Lebensbezug im Geschehnis darstellen, daß dieses „zum Symbol des Lebens" wird 24 . Wenn man die Notizen des späten Dilthey liest, erkennt man deutlich, daß sich seine Vorstellung von dem, was Dichtung sei, verändert hat. Die Dichtung bestimmt er nicht mehr direkt vom Erlebnis, sondern Geschehnis her. Dichtung ist für ihn, wie wir schon betonten, die unmittelbare Gestaltung eines Geschehnisses in seiner Bedeutsamkeit. Wichtig ist hierbei das Moment des Unmittelbaren, denn Dichtung hat seiner Ansicht zufolge keine Ideen, sondern nur das Leben selber darzustellen, daher auch seine etwas ablehnende Haltung der Gedanken20

V, S. 392

21

VI, S. 394, Das Erlebnis und die Dichtung, S. 199 und anderswo.

22

V, S. 394

24

Ebenda

23

VII, 240

D i e Einschränkung der psychologischen Voraussetzungen

143

lyrik gegenüber 25 . Das Unmittelbare führt uns jedoch wieder zurück zum Erlebnis, denn unmittelbar gestalten heißt ein Sich-Ausdrücken durch das Emotionale, das Erlebnis. Es ließen sich auch noch andere Ansätze zur Überwindung der Subjektivität des Erlebnisbegriffs in dem Spätwerk Diltheys aufzeigen: einerseits in seinen Versuchen, den Erlebnisbegriff (insbesondere nach der Lektüre der Logischen Untersuchungen von Husserl) neu zu fassen, was wir jedoch an dieser Stelle nicht weiter ausführen wollen, da die neue Sicht des Erlebnisbegriffs weder bei Dilthey noch bei anderen literaturwissenschaftlich Bedeutung erlangt hat, und anderseits in dem Begriff des Verstehens 26 , den Dilthey jetzt öfter als zuvor gebraucht, obwohl ihn dieser schon seit seiner Studienzeit beschäftigte, als er seine Preisschrift über die Entstehung der Hermeneutik 2 7 verfaßte. Durch den Begriff des Verstehens war es vor allem möglich, das Hinausgehen der Menschen über die Grenzen ihrer unmittelbar bzw. selbst gemachten Erfahrung, insbesondere der des Dichters, zu erklären. Gleichzeitig hat das Verstehen mit dem Erlebnis die Beziehung zu einem Ganzen gemeint; denn Verstehen ist f ü r Dilthey immer ein Verstehen aus einem Zusammenhang, einem lebendigen Ganzen heraus, aus dem dann auch das Einzelne erfaßbar wird, z. B. ein einzelner Satz, eine einzelne Gebärde usw. 28 . Wenn wir diesen gemeinsamen Bezug der beiden Begriffe Erlebnis und Verstehen im Auge haben, ist uns sogleich Diltheys Formulierung klar, daß es dem Menschen gegeben sei, andere Menschen und die vielfältigen Erscheinungen des Lebens zu verstehen, weil beim Erlebnis 25

In dem unvollendeten Essay über Schiller k o m m t D i l t h e y nur ganz kurz auf dessen Gedankenlyrik zu sprechen. Sein Verhältnis zu Schiller ist überhaupt ein recht zwiespältiges. Man merkt an seinen Studien über Schiller deutlich, wie er einerseits die Größe Schillers anerkennen muß, er aber anderseits aufgrund seiner Erlebniskonzeption viele Vorbehalte Schillers Produktion gegenüber hat. D a s folgende Zitat illustriert diesen Zwiespalt vielleicht am besten: „Es war aber ein großer Nachteil für seine dichterische Entwicklung, daß solche abstrakten Theorien sich zwischen ihn und die Welt legten. Eine hohe Ausbildung des wissenschaftlichen Denkens, die G e w ö h n u n g , mit abstrakten Begriffen umzugehen, zerstörte den naturgemäßen inneren Aufbau der Erfahrungen, in welchem die dichterische Anschauung v o n den Lebenswerten sich bildet. So entstand ein doppelter Effekt: eine außerordentliche Steigerung des Ideengehalts in seinen Dichtungen und die Arbeit mit abstrakten Begriffen bei dem Geschäft des Dichters, Lebenserfahrungen auszusprechen" (Von deutscher Dichtung und Musik, a.a.O., S. 360).

26

H i e r wären vor allem seine diesbezüglichen Ausführungen im V I I . Band der Gesammelten Schriften heranzuziehen.

57

In Leben

28

V, S. 172

Schleiermachers,

Bd. II, 2, Berlin 1966

144

Überwindung der Subjektivität des Erlebnisbegriffes

das ganze Seelenleben mitspielt und wir im Erlebnis ein Ganzes erfahren. Auf diese Weise ist es uns und vor allem dem Dichter möglich, aus dem Selbst herauszutreten, d. h. die Grenzen, die uns durch unsere Erlebnisse gesetzt sind, wenn nicht zu überwinden, so doch weiter hinauszuschieben, bis ins Unendliche, wie es einmal Dilthey in Das Erlebnis und die Dichtung äußerst optimistisch entwickelt hat: „Im Verstehen steigert sich der Seherblick des wahren Dichters ins Unendliche. Denn er überträgt verstehend all seine innere Erfahrung in die fremde Existenz, und zugleich führt ihn doch die unergründliche fremdartige Tiefe eines anderen großen Daseins oder Schicksals über die Grenzen seines eigenen Wesens hinaus; er versteht und gestaltet, was er nie persönlich erleben könnte" 2 9 . Doch haben wir es auch hier nur mit einem Ansatz zur Überwindung der Subjektivität der Erlebnistheorie zu tun, denn das Subjekt bleibt nach wie vor sich selbst treu, sein Verstehen ist nicht ein Verstehen des dem Ich tatsächlich Fremden, des völlig Anderen, sondern des Analogen, Ähnlichen. „Nicht im souveränen Verstehen", sagte einmal Gadamer, „liegt eine echte Erweiterung unseres in die Enge des Erlebens gebannten Ichs, wie Dilthey meint, sondern im Begegnen des Unverständlichen" 30 .

28

Das Erlebnis und die Dichtung, a.a.O., S. 235

30

H.-G. Gadamer, Kleine Schriften I, Tübingen 1967, S. 9

V. ZUM ERLEBNISBEGRIFF IN DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT AM ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS 1. Das Urerlebnis D e r Begriff des Urerlebnisses ist bekanntlich v o n H e r m a n n geprägt worden, der 1 9 0 8 in seinem Buch Die Malerei

Weltanschauungen

versucht hatte, die Diltheysche Unterteilung der

Nohl der

Weltanschau-

ungen in drei T y p e n auch auf die Malerei zu übertragen. N o h l w a r der Meinung, daß jedem dieser Weltanschauungstypen ebenfalls ein grundlegendes Erlebnis entsprechen müsse, das er in Anlehnung an Goethes „ U r p h ä n o m e n e " Urerlebnis nannte. E i n solches Urerlebnis ist im U n t e r grund des Künstlers immer gegenwärtig und kann stets neu aus jedem täglichen Erlebnis „herausschlagen". Es bestimmt die

Grundeinstellung

des Menschen zur W e l t und damit auch seine Weltanschauung. Alle philosophischen Systeme haben ihren K e i m in ganz einfachen

Erlebnissen,

denen „alle Erweiterung der E r f a h r u n g in die Breite . . . nichts

zutun"

können 1 . Ansätze z u einer derartigen Urerlebnistheorie

gibt es bereits bei

Dilthey, z. B . wenn er schreibt: „ D e r Idealismus der Freiheit, wie ihn Schiller v o n K a n t aufnahm, klärte ihm doch nur das große innere E r lebnis auf,

in welchem seine hohe N a t u r

in Konflikt mit

der

Welt

ihrer W ü r d e und Souveränität gewiß w u r d e " . Setzte man für „das große innere Erlebnis" Urerlebnis, k ä m e m a n dem Nohlschen Denken

schon

recht nahe. Es hieße dann, daß ein Dichter bei einem Philosophen den ausgebildeten

Weltanschauungstyp

des

Idealismus

der Freiheit

nommen hat, weil dieser T y p seinem Urerlebnis entsprach. hat Dilthey den Nohlschen Terminus „Urerlebnis"

aufge-

Trotzdem

nicht übernommen.

Vielleicht hatte er gespürt, daß damit eine allzugroße

Vereinfachung

bei der Begründung der drei Weltanschauungstypen drohte (seine eigene Typologie der Weltanschauungen w a r ja schon einfach genug). Zeugnis dieser Vereinfachung lieferte N o h l an jener Stelle, w o er ausführte, daß die

1

drei

Typen

durch

drei

grundlegende,

Herman Nohl, Die Weltanschauungen

miteinander

der Malerei,

unvereinbare

Jena 1908, S. 7

146

Zum Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

Erlebnisse in unserer seelischen Struktur fundiert seien, durch das „Erlebnis einer Außenwelt, die nur von außen erkannt werden kann" (sogenannter Naturalismus), das „Erlebnis unserer Existenz als eines sinnvollen Ganzen im Gefühl" (sogenannter objektiver Idealismus) und das „Erlebnis der Willenshandlung, die ein unterdrücktes Objekt bedingt" (subjektiver Idealismus). Dilthey zog es vor, das Grundverhältnis der Dichter und Philosophen zu ihrer Umwelt durch solche Ausdrücke, wie „Lebensverfassung", „typische Lebensverfassung", „universale Lebensstimmung", „Grundgefühl" und ähnliches mehr zu charakterisieren. Inwieweit er dieses bewußt tat, läßt sich heute natürlich schwer entscheiden. Eine Klärung dieser Frage ist aber von sekundärer Bedeutung. Wie man auch immer zu dem Begriff „Urerlebnis" stehen mag, so kommt man nicht umhin, festzustellen, daß dieser Begriff damals förmlich in der Luft lag. Davon zeugen insbesondere die Schriften Freuds, der in dieser Zeit eine wissenschaftlich fundierte „Urerlebnistheorie" zu entwickeln begann, ohne allerdings diesen Begriff als solchen zu verwenden. Eine besondere Form der Urerlebnistheorie ist Gundolfs Konzeption des Urerlebnisses, wie er sie in seinem Goethebuch entwickelt hat. Goethes Erlebnisse werden hier auf einige Urerlebnisse reduziert. Gundolf hebt hier in einer sehr absoluten Weise das Erlebnis des Genies von dem des Alltagsmenschen, des „Banausen" ab, wodurch er schließlich zu einem Erlebnisbegriff kommt, der keinerlei Klärung oder Grundlegung mehr bedarf, der durch nichts mehr bedingt, in nichts mehr gebettet ist, sondern frei dasteht, zu etwas Ursprünglichem, Urtümlichem wird: zu dem Urerlebnis (sil. des Genies). Die Diltheysche N ä h e des Begriffes des Erlebnisses zu dem der Erfahrung ist völlig verschwunden. Diltheys Bemühungen um eine wenigstens annähernde Trennung der beiden so verwandten Begriffe Leben und Erlebnis geht bei Gundolf völlig zunichte. Leben ist nicht mehr wie bei Dilthey im allgemeinen die ganze menschlichgeschichtliche Welt, sondern wird nun von Gundolf auf das Leben des Dichters eingeschränkt, das eigenen schicksalhaften Gesetzen unterworfen ist und von den „Urtrieben", den schon je daseienden „Ureigenschaften" bestimmt wird. Solche Ureigenschaflen waren z. B. bei Goethe dessen „bildnerischer Urtrieb", „urheidnische Naturanlage", „pädagogischer Trieb" und „Selbstbeobachtungsgabe". Diese Urtriebe bestimmen das Sein des Dichters, das ein nicht weiter aufzulösendes „Urphänomen" darstellt. Diese Auflösung wäre auch nicht über die Erlebnisse möglich, denn „eh der Mensch erleben kann, muß er sein". In engster Verbindung mit dem Sein des Dichters stehen dessen Urerlebnisse, denen seine großen

D a s Urerlebnis

147

Werke entspringen. Urerlebnisse sind für Gundolf „Erschütterungen, denen der Mensch kraft seiner inneren Struktur ausgesetzt ist" 32 . Von Urerlebnissen können wir nur da sprechen, wo diese im Leben oder Werk des Dichters Gestalt annehmen, die wir also direkt sehen oder nacherleben können. Daher wären wir bei einem Kind nur dort berechtigt, von Urerlebnissen zu sprechen, wo diese Gestalt geworden sind. So hören wir wohl etwas von den primären Erschütterungen der Kinderseele, „aber wir s e h e n weder in einer bezeichneten H a n d l u n g noch in der Produktion etwas davon" 2 . Mit anderen Worten, Gundolf definiert die Urerlebnisse vom Sichtbaren, von der Gestalt her, die der Dichter diesen gibt. Dichter ist f ü r ihn stets derjenige, der alles Gestalt werden läßt, und Gestalt-Gewordenes entspringt immer Erlebnissen 3 . Gundolf zieht nun unausgesprochen den Schluß: wenn etwas nicht Gestalt geworden ist, dann kann es auch keine Erlebnisse gegeben haben, schon gar nicht Urerlebnisse, denn ein wahrer Dichter ist derjenige, der alles formt und bildet, der gestaltend erlebt, der nie aufhört, Dichter zu sein. Die Werke sind sein Leben selbst, weswegen wir es auch nicht nötig haben, „seine Werke aus seinem Leben zu erklären, hinter seine Werke zu greifen, um sein Leben zu erfassen . . ." 4 . Das ist eine radikale Abrechnung mit der ganzen biographisch eingestellten Goetheforschung. Besonders energisch lehnt hierbei Gundolf die ständige Berufung der Goethephilologen auf Dichtung und Wahrheit als einer biographischen Quelle ab. Gerade dieses Werk sei am wenigsten als Quelle, als Kommentar zu den Dichtungen Goethes gemeint. „Dichtung und Wahrheit gibt Goethes Leben nicht als Stoff seines Werks, sondern als selbstgenug-

2 3

4

Friedrich G u n d o l f , Goethe,

Berlin

I2

1925, S. 46

Im Iphigenie-Kapitel behauptet G u n d o l f : „Wenn ein Dichter einen Stoff als Symbol seiner Konflikte wählt, so muß im Stoff mindestens ein Punkt sein der sich mit dem Erlebnis deckt, der für das Erlebnis ein vollkommenes Gleichnis ist, oder wenigstens v o n dem Dichter in dem Moment der Begegnung als solches empfunden wird. U m diesen Punkt herum wird er den ganzen übrigen Stoff schichten, v o n ihm aus wird er den übrigen, spröderen, seinem Erlebnis ferneren Stoff beseelen, durchbluten, vergeistigen. . . kurz dort schlägt der organisierende Puls der ganzen Masse — der springende Punkt, oder um Goethes tiefdeutenden Ausdruck zu gebrauchen: das Motiv, der Beweggrund, das w a s in Bewegung setzt. D e n n nicht der Stoff gestaltet das Erlebnis, sondern das Erlebnis den Stoff, und alle Brüche, Risse, toten Stellen eines Dramas k o m m e n daher, daß das Erlebnis nicht stark genug w a r um v o n jenem ergriffenen Punktum saliens aus den ganzen Stoff zu beleben, durchzubilden, so daß Rohstoffartiges in dem lebendigen Sprachgewebe stocken bleibt." (Ebenda, S. 309.) Ebenda, S. 4

148

Zum Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

same Form" 5 . Also auch dieses Werk ist als Gestalt aufzufassen, d. h. als etwas aus dem „Formungstrieb" Entstandenes. Aus diesem Grunde sei es unzulässig, Dichtung und Wahrheit zu irgendwelchen Erklärungen heranzuziehen. Diese Autobiographie könne uns nur eine Anschauung von dem Leben des Dichters bieten, das Wesen Goethes sichtbar machen, das darin lag, Produktivität und Gestalt zugleich zu sein. Die Ablehnung der biographisch ausgerichteten Goethephilologie führt jedoch nicht zu einer direkten Hinwendung zu den Werken Goethes, zu werkorientierter Interpretation. Das ist nicht möglich, weil Gundolf noch ganz am Begriff des Lebens hängt. U n d dieser Begriff liegt auch dem der Gestalt zugrunde und nicht umgekehrt, wie es auf den ersten Blick scheint. Wenn Gundolf ein Werk interpretiert, geht es ihm weniger um das Werk als Gestalt, sondern vielmehr um den Ausdruck oder besser das, was zum Ausdruck kommt, und dieses Was ist das Leben des Dichters, der ja nur existiert, „insofern er sich im Kunstwerk ausdrückt". Das Leben hat also die Grundlage der Betrachtungen zu bilden, der Ausdruck muß dagegen in dem Maße einbeschlossen werden, in dem es ein Sich-Ausdrücken ist. Wir befinden uns hier in einem eigenartigen Kreis: das Werk ist Ausdruck des Lebens des Dichters, ein Produkt des Sich-Ausdrückens, doch können wir zu dem Leben des Dichters nur über dessen Werke vordringen, weil der Dichter immer schon gestaltend erlebt. Anderseits haben wir das Leben des Dichters als ein Werk in sich aufzufassen, das unserer genial intuitiven Interpretation bedarf 8 . Die Suche nach einem methodischen Ansatz zur literaturwissenschaftlichen Erfassung des Goetheschen Werks erweist sich als ein hoffnungsloses Unterfangen. Wenn Lempicki schreibt, daß Gundolf ohne Dilthey nicht denkbar sei7, so hat er gewiß recht; doch was Gundolf von Dilthey übernommen hat, hat seinen ursprünglichen Gehalt verloren. Wenn Gundolf 5 6

7

Ebenda, S. 5 Eine tiefsinnige Analyse des Goethebuches hat W. Benjamin in seiner Arbeit über Goethes 'Wahlverwandtschaften gegeben (Schriften, a.a.O., S. 94 ff.). Zygmunt Lempicki, Wybor Pism (Auswahl aus den Schriften), t. II, Studia z teorii literatury (Studien zur Literaturtheorie), Warszawa 1966, S. 474. Erich Berger bemerkt: „Geistesgeschichtlich wäre Gundolf einzuordnen als Fortsetzer der verstehenden Psychologie des tiefen, verschlossenen, im verborgenen arbeitenden Denkers Wilhelm Dilthey, der von 1833 bis 1911 gelebt hat, also bis zum 31. Lebensjahr Friedrich Gundolfs. Freilich setzen die Arbeiten Gundolfs die Leistung Diltheys auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft nicht nur fort. Gundolf führt über Dilthey hinaus, er vollendet sozusagen die Intentionen des älteren Denkers" (in Friedrich Gundolf, Dem lebendigen Geist, Heidelberg 1962, S. 9).

Das Urerlebnis

149

von Ur- und Bildungserlebnissen spricht, so weist das zwar auf Diltheys Erlebnisbegriff zurück, doch auch nichts mehr. Bei Dilthey wurde im Erlebnis des Dichters ein neuer Zug des Lebens aufgeschlossen, bei Gundolf erfüllt das Erlebnis keine das Leben aufschließende Funktion, ja es kann sogar, wie im Falle des Bildungserlebnisses, das im Dichter Angelegte verdecken. Für Dilthey war Leben ein gesellschaftlich-geschichtliches Phänomen. Gundolf versteht hierunter etwas Ewiges, Zeitloses, eine Art ruhendes Ursein, dessen Grund meist durch die Zeit verdeckt wird. In seinem Aufsatz „Stefan George in unserer Zeit" konstatiert er: „ . . . das Leben ist der Ursprung, nicht Zweck und Folge des Zeitgeistes", „Daß man außerhalb des Zeitgeists wurzeln könne, wird kein Moderner zugeben, und verlacht wird, wer es will und glaubt, eben weil man den Zeitgeist mit dem Leben verwechselt" 8 . Die unausbleibliche Folge ist, daß der Kunst und dem Künstler ein völlig selbständiges Dasein zugewiesen wird. Wirkliche Kunst ist „weder die Nachahmung eines Lebens noch die Einfühlung in ein Leben, sondern sie ist die primäre Form des Lebens, die daher ihre Gesetze weder von Religion, noch Moral, noch Wissenschaft, noch Staat, anderen primären oder sekundären Lebensformen, empfängt: keinen anderen Sinn hat der Satz l'art pour Part" 9 . Bei Dilthey heißt es dagegen in einer Notiz zur Neufassung der Poetik: „Besonders wichtig ist nun, daß in der Erinnerung das Erlebnis zur Einheit zusammengefaßt wird und zu anderen Erlebnissen im Ganzen des Lebens Beziehung | gewinnt | = Bedeutung. Die Bedeutung des Lebens setzt Poesie, Religion, Philosophie in innere Beziehung. Das l'art pour l'art wird hier widerlegt" 10 . Dichtung hat uns etwas zu sagen, weil sie die verschiedensten Seiten des Lebens, der menschlich-geschichtlichen Welt in Beziehung setzt. Gundolf nimmt dagegen den Dichter aus dem Leben als einem gesellschaftlichen Gebilde heraus. Die Wirklichkeit ist dem Dichter ein feindliches Element. Das Erlebnis der Wirklichkeit wird daher auch von Gundolf zu einem Bildungserlebnis degradiert, zu einem Erlebnis, das das Urerlebnis verdeckt und damit die ursprüngliche Kraft des Dichters lähmt, was schließlich zu einer Schwächung oder Verdünnung des Künstlerischen führt, wie wir es beispielsweise nach Gundolfs Meinung im Faust II beobachten können. Es war das Verhängnis, daß Goethe als ursprünglicher Mensch in einer abgeleiteten Welt, der Bildungswelt, leben mußte.

8

Friedrich Gundolf, Dichter und Helden,

9

Derselbe, Goethe, a.a.O., S. 2

10

VI, S. 319 f.

Heidelberg 1921, S. 63.

150

Zum Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

Der Gedanke, daß Bildung als dichtungsfeindliches Element funktionieren kann, besteht zu Recht, doch hat es keinen Sinn, ihn zu verabsolutieren. Ursprünglichkeit und Bildung gilt es stets in Wechselbeziehung zu sehen. Die Verabsolutierung des Gegensatzes zwischen Ursprünglichkeit und Bildung, Urerlebnis und Bildungserlebnis kann nur Dogmatismus zur Folge haben, die Krankheit aller Systeme. Charlotte Bühler bemerkte in ihrem Aufsatz „Der Erlebnisbegriff in der modernen Kunstwissenschaft" zu Recht, Gundolf übersehe, „daß es neben aktivem Gestalten auch ein höchst aktives Rezeptieren, Aufnehmen, Auffassen gibt, ein Nehmen, das mit dem Geben in Wechselwirkung steht, ein Erarbeiten, ohne welches das Bearbeiten gar nicht denkbar ist oder nur kurzen Bestand hat. Sieht man nur im Gestalten Erleben, s o wird man zu bedenklichen Folgerungen gezwungen. Was bleibt der Rezeption, wenn nur Produktion Erlebnis sein soll?" 11 . Die Zweiteilung des Erlebnisses in U r - und Bildungserlebnis entspringt der Trennung des Dichters von der Gesellschaft, der Aufspaltung des Lebens in das des Künstlers und das des gewöhnlichen Menschen, des „Banausen". Diese völlige Loslösung des Dichters von der menschlichen Welt öffnet dann dem konstruierenden, „genialen" und unkontrollierbaren Verfahren Tür und Tor, wie gerade Gundolfs Arbeiten beweisen. Die Verabsolutierung des irrationalen Faktors in den Geisteswissenschaften führt zur Irrationalisierung der geisteswissenschaftlichen Methoden, die schließlich nicht mehr diskursiv erfaßbar, nicht mehr lehrbar sind, sondern nur noch erlebbar, wie Gundolf in dem Vorwort zu seinem Buch Shakespeare und der deutsche Geist behautpet. Auch hier ist die Nähe zu Dilthey scheinbar. Zwar heißt es bei ihm, daß die Auslegung ein Werk der persönlichen Kunst ist, „und ihre vollkommenste Handhabung ist durch die Genialität des Auslegers b e d i n g t . . d o c h führt er fort: „ A b e r . . . weil diese Genialität so selten ist, Auslegung aber auch von minder Begabten gelernt sein muß: ist notwendig . .., daß die Kunst der genialen Interpretation in den Regeln festgehalten wird, wie sie in ihrer Methode enthalten sind oder wie sie diese sich selber zum Bewußtsein gemacht haben. Denn jede Kunst verfeinert und erhöht sich in ihrer Handhabung, wenn es gelingt, das Lebensresultat des Künstlers in irgendeiner Form den Nachfolgern zu überliefern . . . die Kürze des Lebens fordert eine Abkürzung des Wegs durch die Festlegung gefundener Methoden und der in ihnen geübten Regeln" 12 . 11

Charlotte Bühler, „Der Erlebnisbegriff in der modernen Kunstwissenschaft" in Vom Geiste neuer Literaturforschung. Festschrift für Oskar Walzel, hsg. von Julius Wahle und Victor Klemperer, Potsdam 1924, S. 202.

12

V, S. 332

Georg Simmel

151

2. Georg Simmel oder die Ausspielung des „Lebens" gegen das „Erlebnis"

Es w i r k t sicher ein wenig paradox, d a ß in einer Zeit, w o das Erlebnis zu einem förmlichen Schlagwort wird, über deutsche Dichter und Denker Monographien erscheinen, die keineswegs mehr auf den persönlichen Erlebnissen dieser Dichter u n d Denker basieren, wie das bei den großen Biographien von H a y m , Schmidt, Justi, G r i m m oder Minor der Fall wir, obwohl die Autoren dieser Monographien selber gern den Erlebnisbegriff verwenden. Ihr Ziel ist es, die alte Biographie zu überwinden. Für sie ist nicht mehr das Erlebnis, sondern das Leben der übergeordnete Begriff. So kritisiert Simmel in der Rezension des G u n dolfsdien Goethebuches Dilthey, d a ß er über das Erlebnis das Leben vergessen habe. Simmel lehnt den Erlebnisbegriff, so wie ihn die Biographen gebraucht haben, ab, weil m a n durch ihn weder zu dem Wesen des künstlerischen Schaffens, noch des Künstlers, noch des Kunstwerks vorzudringen vermag. Das Erlebnis ist f ü r Simmel genauso wie das Milieu oder Modell etwas, das außerhalb des Kunstschaffens und Werks steht. „Wenn m a n nun neuerdings in dem .Erlebnis' die Quelle des Kunstwerks findet, so ist damit die Genesis aus Milieu und Modell keineswegs grundsätzlich verlassen, sondern nur subjektivisch verfeinert. D e n n auch aus dem Erlebnis erwächst unmittelbar keine Überleitung zu der künstlerischen Spontaneität. I m Verhältnis zu ihr ist auch das Erlebnis etwas Äußeres — mag sich auch beides im U m f a n g des Ich abspielen" 13 . Die Überleitung vom Erlebnis zum Kunstwerk ist nach Simmel durch die Besonderheit des Lebensprozesses gegeben. Die Spezifik des Goetheschen Lebensprozesses w a r dessen Künstlertum. Goethe konnte nie anders als die Dinge künstlerisch betrachten. D e r „Sinn der geistigen Existenz" beruhte auf seiner künstlerischen N a t u r , die in jeder Hinsicht sein Erleben bestimmte. „Sein Schaffen machte nur anschaulich, was sein Lebensprozeß bei der Empfängnis der Lebensinhalte geformt hatte". U n d weiter f ä h r t Simmel fort, das ist „vielleicht das größte u n d höchste Beispiel, d a ß wir nicht nur erkennend u n d genießend, sondern auch schaffend aus dem Leben nur nehmen, was wir selbst hineingelegt haben; sein Schaffen schien ihm von dem Erleben nicht getrennt, weil schon sein Erleben ein Schaffen war" 1 4 . Simmel steht mit dieser Anschauung in nächster N ä h e zu Gundolf, obwohl ihn gleichzeitig vieles von ihm unterscheidet. So fehlen in Sim15

Georg Simmel, Goethe, Leipzig 1913, S. 16 » Ebenda, S. 19

152

Zum Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

mels Erörterungen ganz die „Urerlebnisse", die Erschütterungen, deren Ausdruck Goethes Werke sind. Simmel interessieren die Werke Goethes als solche überhaupt nicht15, sondern sein Leben als ein „Urphänomen". Im Vorwort zu seinem Goethe erklärt er: „Die Absicht dieser Schrift ist weder eine biographische, noch geht sie auf Deutung und Würdigung der Goetheschen Dichtung. Sondern ich frage: was ist der geistige Sinn der Goetheschen Existenz überhaupt?"1*. Es geht ihm um eine „Auffassung des Lebens" von Goethe, dessen philosophische Auslegung. Was aus der Darstellung herauskommt, ist auch genau das, was Simmel beabsichtigte: eine „Konfession des Deutenden". Hier spitzt Simmel die Erkenntnis zu, die er selber gewonnen hatte, daß jede Auslegung durch den Deutenden als ein historisches Subjekt bestimmt wird. Er zieht hieraus jedoch nicht den Schluß, daß es angesichts dieser Tatsache Aufgabe des Philosophen oder Literaturwissenschaftlers wäre, seine Reflexionen selber zu relativieren, etwa durch die eigene Standortbestimmung, wie es später die Mannheimsche Wissenssoziologie forderte. Mit Gundolf hat Simmel die Vorstellung gemein, was eine Künstlerpersönlichkeit sei. Auch f ü r ihn besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen dem Durchschnittsmenschen und dem Künstler. Beide leben und erleben grundsätzlich anders. Es ist dies ein Gedanke, den wir schon bei Dilthey angedeutet finden, aber er wird dort noch nicht so extrem formuliert. Der Künstler unterscheidet sich bei Dilthey vom Alltagsmenschen durch die Interesselosigkeit und die Intensität des Erlebens. Dieser Unterschied ist aber kein qualitativer, sondern nur ein quantitativer, wie wir bereits ausführten. Die psychische Struktur der Menschen ist die gleiche, daher ist es dem Nicht-Künstler gegeben, den Dichter nachzuempfinden, sich in dessen Leben hineinzuversetzen, ihn 15

Siegfried Kracauer meint in seinem Essay über Simmel, daß dieser alle Denker, Dichter und Künstler, die er zu charakterisieren versucht hat, als „Werkindividualitäten" erfaßt. Hierbei sei es sein Ziel, die „Beziehungen der Wesenszusammengehörigkeit zwischen den einzelnen Schöpfungen einer solchen Persönlichkeit aufzudecken". Aus diesem Grund „löst er den ineinanderverhäkelten Zusammenhang des Werks völlig auf und konstruiert ihn dann wieder neu, indem er lauter Strukturlinien von dem ideellen Zentrum aus zu der sichtbaren Oberfläche zieht. Die Verbindungen, die er so herstellt, entsprechen keineswegs den im Werk selbst offen zutage tretenden Verknüpfungen, die dessen Schöpfer willentlich hervorgerufen hat. Sie sind vielmehr in das Werk hineingeschaut und führen gleich Radien von den verschiedenen Teilen des Leistungsinbegriffs zu einem und demselben Mittelpunkt, nämlich zu der in der Leistung ausgedrückten Grundidee hin, die ebenfalls intuitiv erkannt ist" (S. Kracauer, Das Ornament der Masse, Frankfurt/M. 1963, S. 245 f.).

16

Georg Simmel, Goethe, a.a.O., S. V

Georg Simmel

153

zu verstehen. Dieses Mit-Erleben-Können ist die Brücke, die den Leser oder H ö r e r mit dem Dichter verbindet. In dem Augenblick, in welchem die Meinung a u f k o m m t , d a ß zwischen Künstler und Kunstkonsumenten eine Kluft besteht, m u ß die Diltheysche Vision der Erlebnistheorie als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen. Jeder Glaube an ein Mit- und Nacherleben des Künstlerlebens durch den Nicht-Künstler wird als eine A n m a ß u n g dem Genie gegenüber empfunden. Die Anschauung Gundolfs u n d Simmeis bedeuten jedoch nicht eine Aufgabe des Erlebnisses als einer zentralen Kategorie der literaturwissenschaftlichen und philosophischen Betrachtung. Es erfolgt lediglich eine Beschränkung. Von Bedeutung ist nur noch die Lebenssphäre des Künstlers, des Kunstproduzenten, w ä h r e n d der Kunstkonsument nicht mehr der Beachtung w ü r d i g ist (auf Simmel trifft dieses Urteil allerdings nur mit Einschränkungen zu). I n gewisser Weise entspricht dies der Situation auf dem L i t e r a t u r m a r k t zur Zeit der Jahrhundertwende. Die großen Schriftsteller sind keine Erfolgsautoren, der Abnehmerkreis der sogenannten guten Kunst ist ein relativ kleiner. Wollen und Müssen gehen wieder einmal H a n d in H a n d . Die geborenen Künstler verachten ganz bewußt jede Publicity, sie richten sich ausschließlich an die Auserwählten. Der Extremfall w a r Stefan George mit seinem Kreis. Das modernste, was Simmel über das Erlebnis geschrieben hat, ist wohl sein Essay „Das Abenteuer". Das Kennzeichen des Abenteuers ist Punktualität. Es ist ein aus dem Zusammenhang unseres Lebens herausgerissenes Erlebnis, das sich vom normalen Erlebnis durch seine größere Intensität u n d Gespanntheit, die der das Abenteuer Erlebende empfindet, unterscheidet. H i n t e r der J a g d nach punktuellen Erlebnissen, wie sie dem Abenteurer zu eigen ist, verbirgt sich die Überzeugung, d a ß man das Leben nur unmittelbar, im Leben selber erkennen k a n n . Simmel nennt diese H a l t u n g romantische Gesinnung. „Der romantischen Gesinnung k o m m t es auf das Leben in seiner Unmittelbarkeit, also auch in der Individualität seiner jeweiligen Form, seines H i e r und Jetzt, a n ; sie spürt die volle Stromstärke des Lebens gerade am meisten an der P u n k t u a l i t ä t eines dem normalen Lauf der Dinge entrissenen Erlebnisses, bis zu dem nun dennoch vom H e r z e n des Lebens her ein N e r v sich spannt" 1 7 . Der Abenteurer verläßt das Leben, die Geborgenheit, um das Leben zu erfahren, ungeachtet dessen, d a ß er sich „Chaos und G e f a h r e n " schutzlos aussetzt. Gleichzeitig hat jedoch jedes Erlebnis etwas v o m Abenteuer. „So liegt ein Schatten von dem, was in seiner Verdichtung und Deutlich17

Georg Simmel, Philosophische

Kultur,

Leipzig 1911, S. 24.

154

Zum Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

keit das Abenteuer macht", schreibt Simmel fast am Schluß seines Essays, „eigentlich über jedem Erlebnis, ein jedes läßt seiner Eingliederung in die Lebenskette ein gewisses Gefühl von Eingeschlossenheit in Anfang und Ende zur Seite gehen, von einer sozusagen rücksichtslosen Pointiertheit des Einzelerlebnisses als solchen"18. Für uns ist das Erlebnis wahrscheinlich noch stärker in die Nähe des „Abenteuers" gerückt, da es uns schwerer denn je fällt, im Leben des Individuums eine in sich geschlossene, sinnvolle Einheit zu erkennen. Simmeis Konstruktionen des geistigen Sinns solcher großen Persönlichkeiten wie Goethe, Kant oder Nietzsche erscheinen uns wie ein letzter Versuch, die Vision der in sich ruhenden, aus einem Mittelpunkt heraus schaffenden Persönlichkeit heraufzuschwören, die das Leben noch in seiner Ganzheit zu umspannen vermag und zugleich von allen äußeren Erschütterungen irgendwie unberührt bleibt. Bezeichnend ist es, daß etwa fünfundzwanzig Jahre nach Simmeis Aufsatz „Das Abenteuer" Benjamins Essay über Baudelaire entsteht, in dem der französische Dichter fast wie ein Abenteurer dargestellt wird, der das Leben nur noch in einzelnen blitzartig erscheinenden Augenblicken einzufangen imstande ist.

3. Der Erlebnisbegriff bei Oskar Walzel Zum ersten Mal befaßte sich Oskar Walzel in seiner kleinen Schrift Leben, Erleben und Dichten von 1912 mit dem Begriff des Erlebnisses. Diesen verdankt er Dilthey, an den er ganz bewußt anknüpft. Wie alle seine Zeitgenossen stellt auch Walzel Leben und Erlebnis gegenüber, gibt aber dem Erlebnis den Vorrang. Sein Blick ist nicht der eines Philosophen, der gleichsam berufsmäßig vor dem Werk die Welt, das Leben und die Weltanschauung sieht, sondern der eines Literaturwissenschaftlers, den in erster Linie der Künstler und dessen Werk interessieren. Ihm ist auch die nietzscheanische Anschauung Gundolfs fremd, daß der Dichter das Leben, die Welt selber schaffe. Er sieht den Künstler in ähnlicher Weise wie Dilthey, doch ist auch mit ihm seine Ubereinstimmung nur eine begrenzte, auch was den Erlebnisbegriff betrifft. Erstens verinnerlicht Walzel diesen Begriff völlig, was gerade an jener Stelle klar zutagetritt, wo die Ubereinstimmung mit Dilthey Erlebnisbegriff, wie wir ihn aus dem Goethe-Essay kennen, fast wörtlich zu sein scheint: „Von Erleben . . . kann nur dann gesprochen werden, wenn der Mensch sich der Bedeutsamkeit besinnt, die ein einzelner Eindruck für sein Ich und dessen 18

Ebenda, S. 26

Der Erlebnisbegriff bei Oskar Walzel

155

Innenleben besitzt. Echter Dichter ist nur, wer in diesem Hohen Sinn zu erleben vermag" 19 . Der Unterschied zu Dilthey besteht jedoch darin, daß dieser von der Bedeutsamkeit für das Leben und nicht ausschließlich für das Idi und dessen Innenleben sprach. Die Konsequenz der Verinnerlichung des Erlebnisbegriffes ist, daß Walzel dem Lyriker die größte Erlebniskraft zuerkennt. „Der lyrische Dichter ist unter allen, die vom Leben zum Erleben emporzusteigen verstehen, der echteste und stärkste Erleber" 20 . Epiker und Dramatiker müssen nach Walzel „weit mehr äußerlichen Stoff mitschleppen", während der Lyriker den „Gemütsgehalt des Erlebnisstoffes . . . reiner herausgestalten" kann. „Der Lyriker ist der wahre Herzensverkündiger" 21 , ruft Walzel emphatisch aus. Während Dilthey zumindest versuchte, aus der Innerlichkeit seines Erlebnisbegriffes herauszukommen, flüchtet sich Walzel gerade in diese hinein. Weit interessanter ist der andere Unterschied zu Dilthey. Walzel ist ähnlich wie Simmel und Gundolf der Meinung, daß ein Künstler immer schaffend erlebt, wobei Walzel diese Erlebnisform jedoch konkreter sieht, als diese beiden es später taten. Es geht nämlich vom Material aus, das der jeweilige Künstler zu formen hat. „Der Maler sieht Farben, Licht und Schatten, Flächen und Umrisse, und all das von einem einzigen Blickpunkt aus und wie auf eine Ebene gebreitet. Dem Bildhauer geht sein Erlebnis ganz anders auf. Er blickt es von allen Seiten, und auch nicht in dem kräftigen, vielfach abgestuften Kolorit, das dem Malerauge sich darbietet. Nur in der Tönung des Marmors, bestenfalls in den etwas reicheren Farbenabschattungen der Bronze, also in der gedämpften Koloritwirkung der plastischen Schöpfung, die aus seinen Händen hervorgehen soll, tritt das Erlebnis vor sein inneres Auge"22. Musiker und Dichter, wobei Walzel hier mit Dichter Lyriker meint, erleben dagegen in Tönen und Rhythmen. Vom Musiker unterscheidet sich der Dichter indes darin, daß für ihn das Wort nicht nur Klang, sondern „ebenso etwas Sinnerfülltes" ist. Der Dichter müsse daher einen ewigen Kampf zwischen Rhythmus und Melodie einerseits und Sinn anderseits auskämpfen 23 , was Walzel des längeren an verschiedenen Beispielen zu zeigen versucht. Hierbei kommt er zu dem Begriff der Formensprache, die der Dichtung gestattete, „im menschlichen Geist weit mehr anzuregen, als das Wort gedanklich auszudrücken vermag" 24 . Elemente der Formensprache sind beispielsweise Wagners Leitmotive, die im „Gesamtkunstwerk der Aufgabe " Oskar Walzel, Leben, S. 12 f. 20 Ebenda, S. 40 22 Ebenda, S. 14 24 Ebenda, S. 30

Erleben

und Dichtung: 21 23

Ein Versuch,

Ebenda, S. 46 Ebenda, S. 17

Leipzig 1912,

156

Zum Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

| dienen |, Dinge zu verkünden, die von der Wortsprache des Textes nicht ausgedrückt werden" 25 . Leider geht Walzel seinem Gedanken, daß auch die Form bedeutsam sein kann, nicht weiter nach. Und auch der Gedanke der Formensprache beschäftigt ihn nur am Rande. Der Begriff der Formensprache dient Walzel in diesem Essay nur dazu, zu zeigen, daß Dichtung nicht einzig aus dem Erleben ersteht, daß das Erlebnis des Dichters schon jeweils durch die Mittel und Formen seiner Kunst vorgeformt ist, was zweifelsohne einen wertvollen Beitrag zur Konkretisierung des Erlebnisbegriffes darstellt. Von dieser Seite aus hatte noch keiner das Problem in Augenschein genommen. Die übermäßige Betonung solcher Kategorien, wie Erleben, Nacherleben und Einfühlen, mußte eines Tages zu der Frage nach der Möglichkeit der Literaturwissenschaft als Wissenschaft führen. Diese Frage war angesichts der Behauptung Gundolfs, daß Methoden Erlebnisarten seien28, um so brennender. So versuchen denn auch die verschiedensten deutschen Literaturwissenschaftler diese Frage zu beantworten, wovon die zahlreichen Aufsätze und Bücher über den Begriff der Literaturwissenschaft und die einzelnen literaturwissenschaftlichen Strömungen vor allem in den zwanziger Jahren zeugen27. Als ein solcher Versuch ist auch Walzeis Gehalt und Gestalt zu werten. Nach seiner Meinung sind zwei Wege möglich, um vom reinen Erleben des Kunstwerks auch zu dessen begrifflicher Erfassung zu gelangen. Der erste sei der geschichtliche; untersucht werden hier die persönlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen ein Werk entstanden ist. Der zweite Weg soll dagegen direkt vom Kunstwerk ausgehen. „Erforscht wird nicht, wie es | das Kunstwerk | zu seiner Gestalt gelangt ist, sondern wie diese Gestalt zu ihren Wirkungen gelangt"28. Auf beiden Wegen erfasse man zwar nicht wie Walzel, sich auf Simmel berufend, bemerkt, das ganze, volle Erlebnis, trotzdem müßten beide Richtungen gegangen werden, wobei Walzel zeigen möchte, daß besonders der zweite Weg zu einem besseren Verständnis des künstlerischen Erlebnisses führen kann. Obwohl Walzel das Kunstwerk viel stärker, als es bisher in der deutschen Literaturwissenschaft üblich war, in den Mittelpunkt rückte, 25 26 27

28

Ebenda, S. 31 F. Gundolf, Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1916, S. VIII. Z. B. Werner Marholz, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, Berlin 1924, R. Unger, Literaturgeschichte als Problemgeschichte, Berlin 1924, Oskar Benda, Der gegenwärtige Stand der deutschen Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. Wien 1928, usw. Oskar Walzel, Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, Berlin 1923, S. 27.

Der Erlebnisbegriff bei Oskar Walzel

157

gelangte auch er noch nicht zu einer literaturwissenschaftlichen Theorie des „Wortkunstwerks", nach wie vor fällt der Blick noch zu wenig auf das dichterische Werk selbst. Diesen Blick versperrt er sich einerseits durch den ErlebnisbegrifT — das Kunstwerk wird entweder als Produkt des Erlebnisses oder als Objekt des Erlebens bzw. Nacherlebens angesehen und erscheint somit nicht als primäre Einheit — und anderseits durdi ein Abgleiten ins Technische und Stoffliche bei der Erforschung der Gestalt. So bezeichnet Oskar Walzels Werk in der deutschen Literaturwissenschaft nur einen, wenn auch wertvollen Ansatz zur Überwindung des Erlebnisbegriffes als einer zentralen Kategorie der Literaturwissenschaft. Noch war der Weg hierzu nicht geebnet, obwohl die Literatur selber längst nicht mehr bemüht war, Erlebnisse in illusorischer Treue darzustellen; aber wie meist, hinkten die Berufsphilologen mit ihrem Begriffsapparat hinter der Entwicklung der Literatur nach. In der deutschen Literaturwissenschaft war noch nicht die Entdeckung gemacht worden, daß das literarische Werk weniger ein „Wortkunstwerk" als vielmehr ein „sprachliches Kunstwerk" ist. Diese Unterscheidung mag hier vielleicht wie Sophisterei klingen und wäre es auch, wenn nicht diese beiden Begriffe zwei wesentliche Etappen in der literaturwissenschaftlichen Entwicklung in Deutschland bezeichnen würden. Walzels Begriff des Wortkunstwerks meint tatsächlich, daß das Kunstwerk ein aus Worten geformtes Gebilde darstellt. Das Wort ist f ü r ihn der Träger des Widerspruchs zwischen Inhalt und Form im literarischen Werk. Genau genommen, ist sein Begriffspaar Gehalt und Gestalt aus der Feststellung dieses Widerspruchs am Wort entstanden. Das Musterbild f ü r „Gestalt" ist die lautliche oder klangliche Fülle des Wortes und f ü r „Gehalt" dessen Bedeutung, das Wort als Begriff. Nach Walzel steht einzig die Literatur vor dem Dilemma, Gehalt mit Mitteln zum Ausdruck bringen zu müssen, die schon als solche Bedeutungsträger sind. Alle „anderen Künste k ö n n e n . . . Gehalte überhaupt nur in der Wirkung auf die Sinne, also durch die Gestalt uns zuführen" 2 8 . Hier war ein sehr fruchtbarer Ansatz gegeben, den Walzel zu einer ganzen Theorie der Besonderheit der Literatur hätte entwickeln können. Er hat seinen Gedanken aber nicht weiter verfolgt, sondern hat sich auf die Feststellung beschränkt, daß nur die Gestalt, die auf die Sinne wirkt, als eine „künstlerische Mitteilungsform des Gehalts" zu erachten sei. Man kann sich trotz des Kapitels über die „Rechte des begrifflichen Ausdrucks" nicht des Eindrucks erwehren, daß Walzel der Dichtung am liebsten das Recht zur Darstellung von Gedanklichem — wobei er das Gedankliche meist mit s

» Ebenda, S. 178

158

Zum Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

dem Begrifflichen identifiziert —, das sich vom Verstand erfassen läßt, absprechen möchte. Davon zeugt nicht nur die stiefmütterliche Behandlung der Gedankenlyrik, sondern das tritt auch in seinen wenig elastischen Begriffspaaren zutage, wie Erlebnis und Verstand, sinnlich und begrifflich, Kunst und Wissenschaft usw., wobei der Akzent bei ihm jeweils auf das erste Glied des Paares fällt. Damit ist aber auch bereits ein Ideal, was gute Literatur sei, festgelegt: solche, die individuelle Erlebnisse und Gefühle versinnbildlicht. Politisch und gesellschaftlich engagierte Literatur fällt hier ganz heraus; aber ebenfalls symbolische Literatur bekommt das Nachsehen, wie überhaupt Walzel der Begriff des Symbols fehlt, an dem er vielleicht am besten die Grenzen und Leistungen seiner Kategorien hätte erkennen können. Walzel ist ein glänzendes Beispiel dafür, daß das Verständnis für die vielfältigen literarischen Erscheinungen nicht möglich ist, wenn der Literaturwissenschaftler einerseits über keinen Sinn für die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit verfügt und er anderseits seinen Begriffsapparat unnötigerweise einengt, ihn nicht vor allem aus der Literatur herausdestilliert, sondern ihn a priori aus philosophischen Feststellungen ableitet. Ganze Literaturrichtungen bleiben so dem Literaturhistoriker verschlossen. Im Falle von Walzel ist es interessant, daß sein eigentliches Forschungsgebiet die Klassik, die Frühromantik und der sogenannte Impressionismus in der deutschen Literatur sind, daß er den Werken des späten Goethe, der Vormärzdichter, der französischen Symbolisten und des deutschen Expressionismus künstlerisch und theoretisch wenig abgewinnen kann, und auch die Barockliteratur bleibt ihm verschlossen trotz Wölfflinscher Kategorien. So ist Walzel in der Erfassung neuer literarischer Richtungen und Erscheinungen nicht weit über Dilthey hinausgekommen. An erster Stelle figurieren nach wie vor jene Dichtungen, die in sehr sichtbarer Weise durch individuelle Erlebnisse bedingt sind, wobei wir allerdings nicht übersehen wollen, daß Walzel insofern einen Schritt über Dilthey und den Erlebnisbegriff hinaus gemacht hat, als er zu jenen gehörte, die die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft stärker auf Fragen des Stils lenkten.

4. Die Enthüllung des Erlebnisses durch das Motiv ( J . Körner) Im Gegensatz zu Simmel, Walzel und vielen anderen vertritt Josef Körner in seinem Artikel „Erlebnis-Motiv-Stoff", der 1924 in der Festschrift für Oskar Walzel erschien, die Meinung, daß es wohl möglich

D i e E n t h ü l l u n g des Erlebnisses durch das M o t i v (J. Körner)

159

sei, das einem Kunstwerk zugrunde liegende Erlebnis auch begrifflich zu erfassen, wenngleich nur in gewissen Grenzen. Diese begriffliche Erfassung erfolge über das poetische Motiv, das uns die Erlebnissphäre des Künstlers eröffne. Die Anregung zu dieser Idee verdankt Körner unmittelbar der Psychoanalyse, obwohl er ähnliche Gedanken bereits bei Dilthey hätte finden können, der in seiner Poetik die Ansicht aussprach, daß die Motive den „an sich dunklen Grund des Erlebnisses" zu erhellen, dessen Bedeutsamkeit „wenigstens teilweise" durchsichtig zu machen vermögen. Dilthey f a ß t allerdings den Begriff des Motivs viel weiter als Körner, f ü r den es „das letzte charakteristische Glied des Kunstgebildes" ist, während Dilthey das Motiv fast zum Symbol ausweitet, zu einem „Gefäß", in das der Dichter all seine Erlebnisse zu gießen sucht. Im „Vordergrund und am Anbeginn" aller Literaturforschung muß Körner zufolge die Frage nach den Empfindungen und Erlebnissen des Dichters, die sein Schaffen bestimmt haben, stehen. Dies sei erreichbar, wenn man von den im Kunstwerk auftretenden Motiven ausgehe. Körner entwirft hier ein ganzes literaturwissenschaftliches Forschungsprogramm: „Die Motive des Poeten müßte man inventarisieren, um von ihnen aus rückschreitend seine affektiven, ,traumatischen' und also charakterologisch aufschlußreichsten Erlebnisse zu erschließen; um vorschreitend in den vom Dichter ergriffenen Stoffen nach deren Symbolkraft bezüglich jener Erlebnisse zu forschen und dergestalt die scheinbar zufällige Stoffwahl als notwendigen Stoff-Fund zu verstehen" 30 . Körner meint, daß die Stoffwahl durch die die Phantasie des Dichters „beherrschenden Motive determiniert" sei. Die Motivforschung könne daher zweierlei leisten: erstens erlaube sie den Rückschluß von den Motiven auf die Erlebnisse und Empfindungen des Dichters und zweitens erkläre sie, warum der Dichter diesen und nicht jenen Stoff gewählt habe. Dank diesen beiden Aufgaben sei Motivforschung sinnvoll, im Gegensatz zu der bisherigen Quellenforschung, die willkürlich gewesen wäre, da sie sich nur mit zufälligen Ähnlichkeiten abgegeben habe. Sie hätte nicht gesehen, daß der „wahre Stoff des D i c h t e r s . . . nicht in den fremden Dingen, sondern in den eigenen Empfindungen" liege. Diese Empfindungen bestimmten und erklärten jene „fremden Dinge" und nicht umgekehrt. Die Grundlage dieser Anschauungen ist die feste Überzeugung Körners, Dichtung sei der Ausdruck der Erlebnisse des Künstlers bzw. einer bestimmten sozialen Gruppe. Körner zieht in diesem Artikel an keiner 30

Josef Körner, „Erlebnis — M o t i v — Stoff" in Vom forschung, Potsdam 1924, S. 85.

Geiste

neuer

Literatur-

160

Zum Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

Stelle in Betracht, daß der Dichter sich vielfach in Motiven und Formen ausdrückt, die eine bestimmte Tradition haben, und wenn dies nicht der Fall ist, so ist der Dichter doch meist negativ mit dieser Tradition verbunden, gerade durch sein „Neurertum". Aber nach Körner scheinen echte und große poetische Motive nie übernommen worden, sondern immer aus eigenem starken Erleben erwachsen zu sein. Anders lassen sich m. E. die folgenden Zeilen nicht verstehen: „Aber wie steht es dann mit den Nachahmern, die ihre Motive nicht aus eigenem Erleben gewinnen, sondern fremde Motive übernehmen? Auch sie erleben fremdes Erleben, was selbstredend keine Potenzierung, sondern Radizierung bedeutet, weshalb die Kinder solcher Väter ein anämisches und rachitisches Aussehen haben. Wie Hypnotisierte werden diese schwachgeistigen Poeten bewältigt von der Suggestionskraft fremder Erlebnisart und Sprache. So sind unzählige deutsche Dichter Shakespeare erlegen, so neuerdings viele Dostojewski. Motivanalyse von dergleichen Machwerken ergibt aber immerhin Aufschluß darüber, was vom Werke der Großen am meisten ergriffen und aufgeregt hat" 31 . Erst später hat Körner diese Anschauung im gewissen Sinne revidiert, indem er zwei Aspekte für das poetische Motiv unterschied, den subjektiv-aktivistischen und den objektiv-formalen, ohne jedoch beide Gesichtspunkte in Wechselbeziehung zueinander zu setzen. Wie eng psychologisch Körner seine Methode verstanden haben will, erkennen wir an den Beispielen, die er in diesem Artikel gibt. Da glaubt er hinter ähnlichen Aussprüchen der Iphigenie, der Prinzessin im Tusso und der Aurelia über der Frauen beklagenswerten Zustand den „zwangsmäßigen Ausdruck von Goethes eigenem frühen FriederikenErlebnis entstammten Schuldgefühl" zu sehen. Selbst die Worte des Löwenhirtes „Ungerecht bleiben die Männer, die Zeiten der Liebe vergehen" sollen von diesem Schuldgefühl zeugen. Hier wird selbstverständlich nicht vom Motiv auf das Erlebnis geschlossen, sondern umgekehrt, von einem aus der Biographie bekannten Erlebnis auf das Motiv. Das gleiche könnte man übrigens von W. Krogmanns Arbeiten zu Goethes Schaffen sagen32. Diese Art von Motivforschung führt zu keiner wirklichen Erhellung der Bedeutung des verwandten Motivs. Was frommt es uns zu wissen, daß das Friederiken-Erlebnis, wie Joachim Rostdeutscher beweisen möchte, auch noch in der Pandora und im Helena-Akt als 31

Ebenda, S. 90

32

Willy Krogmann, Das Friederikenmotiv in den Dichtungen Goethes, 1932, Ger. Studien, S. 113; ders. „Die Stoffgestaltung des Dichters als Resultat seiner Erlebnisse" in Archiv für Neuere Sprachen und Literaturen, Jg. 89, Bd. 165, S. 161—186.

Die Enthüllung des Erlebnisses durch das Motiv (J. Körner)

161

Motiv nachwirkte? 33 . Gewiß, Rosteutscher möchte damit demonstrieren, daß alle großen Dichter immer nur einige wenige Motive auf das vielfältigste variiert haben. Der Urerlebnistheorie wird sozusagen eine Urmotivtheorie zur Seite gestellt, was wir übrigens bereits bei Körner angedeutet finden. Die Folge davon ist eine Verarmung der Interpretation des dichterischen Gehaltes und der Dichterpersönlichkeit. Man bewegt sich dabei allzusehr im engen Rahmen eines einzigen oder mehrerer Urmotive, aus denen heraus man wensentliche Szenen und Gestalten des dichterischen Werks ableiten möchte und bleibt dabei stehen. Während es doch viel fruchtbarer wäre, die Motive eines Dichters in ihrer weitesten und allgemeinsten Bedeutung zu fassen, um somit das über das Motiv Hinausweisende, das diesem erst seine Bedeutung verleiht, zu erkennen. Interessant ist es auch — was neuere Motivforschung bewiesen hat —, daß zur Motivauslösung, um einen Begriff Körners zu gebrauchen, nicht nur grundlegende persönliche Erlebnisse, sondern auch bestimmte allgemeine Voraussetzungen in der Entwicklung der Gesellschaft notwendig sind. So hat zum Beispiel Petriconi versucht nachzuweisen, daß das Motiv der verführten Unschuld erst im geistigen Klima des 18. Jahrhunderts zum Zentralmotiv großer literarischer Werke werden konnte 34 . ¡Deswegen hat auch die marxistische Kritik recht, wenn sie bei der Gretchentragödie den Akzent nicht auf Goethes persönliche Erlebnisse setzt, sondern auf den sich hier äußernden gesellschaftlichen Konflikt. Und dieser würde noch deutlicher werden, wenn man das Motiv der verführten Unschuld noch weiter zurückverfolgte und zeigte, w a n n und durch welche gesellschaftlichen Umstände es „psychologisch frei" wurde. Hierbei würde es sich gleichzeitig herausstellen, daß das Erlebnis gar nicht so individuell einmalig ist, wie man glaubt, und daß die Darstellung von Erlebnissen, u. a. über dichterische Motive, in einer bestimmten Sprache der Kunst erfolgt, die bereits nicht mehr einzig — trotz aller unverkennbarer Individualität des jeweiligen Dichters — die des Künstlers ist. Uber die Motivik Shakespeares sagte einmal Wolfgang Kayser, daß sie „zunächst nicht zur Persönlichkeit und Weltanschauung William Shakespeares" gehöre, „sondern zur Motivik des elisabethanischen Dramas"5. 33

34

35

Joachim Rosteutscher, Das ästhetische Idol im Werke von Winckelmann, Novalis, Hofmann, Goethe, George und Rilke, 1956, S. 176 ff.; zu den verschiedenen Erlebnis-Motiv-Konzeptionen vergleiche die kurze, aber treffende Auseinandersetzung Elisabeth Frenzeis in Stoff-Motivund Symbolforschung, Stuttgart 1963, S. 60 f. Hellmuth Petriconi, Die verführte Unschuld, Bemerkungen über ein literarisches Thema, 1953. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern 7 1961, S. 70.

162

Zum Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

Gleichzeitig müssen wir uns natürlich vor einer einseitig morphologischen Behandlung dichterischer Motive hüten. Es hat keinen Sinn, in Ablehnung eines übertriebenen Gebrauchs des Erlebnisbegriffes das Erlebnis des Dichters völlig zu verleugnen. Es ist z. B. noch kein Grund vorhanden, den Einfluß des Goetheschen Erlebnisses in Sesenheim auf die Gretdientragödie abzulehnen, nur weil er das Gartenhäuschen als Ort der Verführung aus einer bestimmten Tradition des 18. Jahrhunderts übernommen hat. Das gliche der Behauptung, daß jemand das und das nicht erlebt haben könne, weil er sein Erlebnis mit schon feststehenden sprachlichen Mitteln ausdrücke. Die brüske Ablehnung des Erlebnisbegriffes kann m. E. nur zu extremen Schlußfolgerungen führen, die genauso unwahr sind, wie die vorhergehenden. Vor allem führt diese Ablehnung zu keiner echten Überwindung früherer Standpunkte, nur zu deren Bezweiflung. Das beste Beispiel hierfür bietet uns gerade die Gartenhaus-These, der nach wie vor die Annahme zugrunde liegt, daß Erlebnis und Neuheit der Gestaltung in einem gewissermaßen proportionalen Verhältnis stehen, d. h. aus einem echten Erlebnis ein neues Motiv erwächst, während dort, wo ein altes Motiv verwendet wird, dieser Verwendung kein tiefes Erlebnis vorausgegangen sein kann. Neuere Forschung, z. B. die moderne Shakespeareologie (hier wäre u. a. der deutsche Shakespeare-Interpret Wolfgang Clemen zu nennen) sieht im Motiv eine Art Knotenpunkt, in dem die verschiedensten „Stränge" zusammenlaufen. Zu diesen „Strängen" gehören u. a. das Erlebnis des Dichters, die gesellschaftliche Aussagekraft des im Motiv gestalteten Erlebnisses, die Tradition des Motivs, seine Zugehörigkeit zu einer ganz bestimmten Motivik, die von der Gattung, der Zeit, dem Dichter und der Etappe seines Schaffens abhängt, sowie die strukturelle Funktion und Häufigkeit des Motivs im Kunstwerk selber. Bei einer allseitigen Beleuchtung zentraler Motive in Literaturwerken sollte daher das dichterische Erlebnis nicht wegfallen, wie es phänomenologisch und morphologisch orientierte Literaturhistoriker häufig verlangen, es sollte aber auch nicht hypostasiert werden, wie es J. Körner tut.

5. Erlebnis und Erfahrung (W. Benjamin) Walter Benjamins Baudelaire-Essay stellt in der deutschen Literaturwissenschaft wohl den gelungensten Versuch einer materialistischen „Erlebnistheorie" dar. Verglichen mit Körner schlägt Benjamin genau den entgegengesetzten Weg ein — von den Erlebnissen zu den Motiven —,

Erlebnis und Erfahrung (W. Benjamin)

163

ohne jedoch am Ausgangspunkt der Erlebnistheorie wieder anzulangen, denn sein Bestreben ist nicht, die dichterischen Motive aus den einmaligen persönlichen Erlebnissen des Dichters zu erklären, sondern sie aus den für die Epoche typischen menschlichen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erlebnissen abzuleiten. Das Neue an seinen Arbeiten ist, daß es ihm als ersten gelang, die alte materialistische These, daß die Sinneswahrnehmungen die Grundlage des Erkennens, Denkens und auch Dichtens bilden, für die Erhellung dichterischer Motive fruchtbar gemacht zu haben, wobei er jedoch in keiner Weise zu platten, vulgärmaterialistischen Methoden und Erklärungsweisen Zuflucht genommen hat. Dieser Gefahr war er schon deswegen nicht ausgesetzt, weil sein Weg über eine intensive Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus und Freudianismus zu seinen Erkenntnissen geführt hatte. Besonders bedeutungsvoll war f ü r ihn die historisch-materialistische Entdeckung, daß die Sinneswahrnehmungen nicht nur natürlich, sondern auch historisch bedingt sind. Diese Entdeckung zog logischerweise die Frage nach sich: welche Folgen können solche Veränderungen der Wahrnehmungsweise für die Perzeption, die Art des Sehens und Erlebens haben? Genau diese Frage stellt Benjamin. Das Material, von dem er eine Antwort erwartet, sind Kulturerzeugnisse, die in der Zeit der „Wahrnehmungskrise", d. h. vor allem in der zweiten H ä l f t e des vorigen Jahrhunderts, von den Menschen in den Großstädten hervorgebracht wurden. Allles, sei es die Bauweise oder die Art, zu produzieren, seien es die damaligen Fotografien oder Baudelaires Gedichte, ist Benjamin willkommen, wenn es ihm nur bei der Beantwortung dieser Frage hilft. Er betrachtet es als einen glücklichen Umstand, gerade diese Epoche als Untersuchungsgegenstand vor sich zu haben, denn sie zeige am deutlichsten die Revolution in der Sphäre der Wahrnehmungen. Jedoch ist er sich bewußt, daß es nicht die einzige Revolution dieser Art in der Geschichte der Menschheit war. In seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit heißt es: „Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert — das Medium, in dem sie erfolgt —, ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt. Die Zeit der Völkerwanderung, in der die spätrömische Kunstindustrie und die Wiener Genesis entstanden, hatte nicht nur eine andere Kunst als die Antike, sondern auch eine andere Wahrnehmung. Die Gelehrten der Wiener Schule, Riegel und Wickhoff, die sich gegen das Gewicht der klassischen Überlieferung stemmten, unter dem jene Kunst begraben gelegen hatte, sind als erste auf den Gedanken

164

Z u m Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

gekommen, aus ihr Schlüsse auf die Organisation der Wahrnehmung in der Zeit zu tun, in der sie in Geltung stand. So weittragend ihre Erkenntnisse waren, so hatten sie ihre Grenze darin, daß sich diese Forscher begnügten, die formale Signatur aufzuweisen, die der Wahrnehmung in der spätrömischen Zeit eigen war. Sie haben nicht versucht — und konnten auch vielleicht nicht hoffen —, die gesellschaftlichen Umwälzungen zu zeigen, die in diesen Veränderungen der Wahrnehmungen ihren Ausdruck fanden. Für die Gegenwart liegen diese Bedingungen einer entsprechenden Einsicht günstiger"36. Die günstige Situation, in der sich Benjamin befindet, kann also, wie wir sehen, nicht als Argument gegen die Allgemeingültigkeit seines Vorgehens ausgespielt werden. Zu fragen wäre indes, wieweit sich diese Allgemeingültigkeit erstreckt. Doch mag diese Frage verfrüht sein. Eine Diskussion über die Möglichkeit und Grenzen einer bestimmten Art der Interpretation, Betrachtungsweise bzw. Beleuchtung einer Erscheinung hat im allgemeinen erst dann wirklich Sinn, wenn diese Art des Herangehens an die Dinge bereits in der „Praxis" eine breitere Anwendung gefunden hat, denn dann wird die Diskussion zu wirklich neuen schöpferischen Leistungen anregen. Das für unseren Zusammenhang interessanteste Problem scheint mir Benjamins Unterscheidung zwischen den Begriffen Erlebnis und Erfahrung zu sein. Unter Erlebnis versteht er ein punktuelles Ereignis, das plötzlich, unerwartet auf den Menschen zukommt und ihn zur Abwehr zwingt. Im Baudelaire-Essay heißt es: „Je größer der Anteil des Chokelements an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewußtsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muß, je größer der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses. Vielleicht kann man die eigentümliche Leistung der Chokabwehr zuletzt darin sehen: dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewußtsein anzuweisen. Das wäre eine Spitzenleistung der Reflexion. Sie würde den Vorfall zum Erlebnis machen"37. Bisher pflegte man in den Geisteswissenschaften etwas als eine „Spitzenleistung der Reflexion" zu bezeichnen, wenn sie es verstand, den Vorfall als Erlebnis im Diltheyschen Sinne in einen größeren Zusammenhang zu bringen, ihn in den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens einzugliedern. Benjamin behauptet jedoch das Gegenteil. Sein Ausgangspunkt ist der moderne Mensch, der an einem Ubermaß an Eindrücken und Informationen leidet, so daß er die Welt anders rezipiert als einst, da der Anteil des Schocks im Alltag noch ein geringer war. 30 37

Walter Benjamin, Schriften, Ebenda, S. 434 f.

a.a.O., Bd. 1, S. 372

Erlebnis und Erfahrung (W. Benjamin)

165

Benjamin fragt sich nun, wie „lyrische Dichtung in einer Erfahrung fundiert sein könnte, der das Chokerlebnis zur N o r m geworden ist". Seine Antwort hierauf lautet: „Eine solche Dichtung müßte ein hohes Maß von Bewußtheit erwarten lassen; sie würde die Vorstellung eines Plans wachrufen, der bei ihrer Ausarbeitung am Werke war" 3 8 . Das wäre ein fast selbstmörderisches Unterfangen, denn der Dichter ist in diesem Falle gezwungen, die Schockerlebnisse bewußt in sein lyrisches Schaffen einzubeziehen, obwohl das Bewußtsein sich vor solchen Erlebnissen zu schützen sucht. Wenn sich der Künstler ihnen trotzdem aussetzt, wird der schöpferische Akt zu einem Schrecken hervorrufenden werden. Dies hat, wie Benjamin betont, „Baudelaire in einem grellen Bild festgehalten. Er spricht von einem Duell, in dem der Künstler, ehe er besiegt wird, vor Schrecken aufschreit. Dieses Duell ist der Vorgang des Schaffens selbst. Baudelaire hat also die Chokerfahrung ins H e r z seiner artistischen Arbeit gestellt" 39 . Wir haben es hier mit einer völlig neuen Sicht der Dichterpersönlichkeit zu tun. Dieser ist nicht mehr der tief erlebende, der um eine große Skala von Erfahrungen bemüht ist, um diese dann in seinem Werk zu einem in sich geschlossenen Bild zu verarbeiten. Das Momentane, Plötzliche, überall und immer wieder Wahrnehmbare, vor dem man im allgemeinen flieht, wird nun zum Vorwurf des dichterischen Schaffens. Dem Begriff des Erlebnisses setzt Benjamin den der Erfahrung entgegen. Die Erfahrung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie aufs engste mit der Tradition verbunden ist. Ein entscheidendes Merkmal der Erfahrung ist daher Kontinuität. Ferner ist sie eine Sache des Kollektivs. Etwas gilt erst dann als eine Erfahrung, wenn es seine gesellschaftliche Bestätigung gefunden hat, es nicht mit anderen früher gemachten Erfahrungen in Widerspruch geraten ist. Eine so verstandene Erfahrung hat etwas von einer „ewigen Wahrheit" an sich. Man ist geneigt, zu behaupten, daß sich Benjamin nicht weit von seinen Auffassungen in der Jugendzeit entfernt hat, als er die Erfahrung in unmittelbaren Zusammenhang mit der Wahrheit im Sinne Piatons brachte und etwas später in Anknüpfung an K a n t zu dem Schluß kam, daß „alle echte Erfahrung auf dem reinen erkenntnis-theoretischen (transzendentalen) Bewußtsein" 40 beruht. Mit dieser Behauptung träfen wir jedoch daneben. In seinen späteren Werken wurde sich Benjamin in immer stärkeren Maße der Tatsache bewußt, daß eine Ära begonnen hat, in der die Erfahrung im Kurs sinkt, in der es fast unmöglich geworden ist, überhaupt noch in den Besitz von Erfahrung zu gelangen. In seiner kleinen Arbeit „Der Erzähler" lesen wir: 38 40

Ebenda, S. 434 Derselbe, Angelus

Nävus,

3 » Ebenda, S. 435 Frankfurt/M., S. 33

166

Z u m Erlebnisbegriff in der deutschen Literaturwissenschaft

„ . . . die Erfahrung ist im Kurse gefallen. Und es sieht aus, als fiele sie weiter ins Bodenlose. Jeder Blick in die Zeitung erweist, daß sie einen neuen Tiefstand erreicht hat, daß nicht nur das Bild der äußern, sondern auch das Bild der sittlichen Welt über Nacht Veränderungen erlitten hat, die man niemals für möglich hielt. Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher — ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre später in der Flut der Kriegsbücher ergossen hatte, war alles andere als Erfahrung gewesen, die von Mund zu Mund geht. Und das war nicht merkwürdig. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freien Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper" 41 . Immer wieder hören wir in Benjamins Schriften vom Dahinschwinden der Erfahrungen. Welche Ausmaße hat dieses Dahinschwinden angenommen? Sind wir in der Zeit der modernen Zivilisation überhaupt noch imstande, Erfahrungen zu machen? Benjamin gibt auf diese Frage im Grunde genommen eine negative Antwort. Immer weniger können wir damit rechnen, auf traditionelle Weise in den Besitz von Erfahrungen zu gelangen. Die Übermittlung von Erfahrung war immer mit dem Erzählen verbunden. Der Niedergang der Erfahrung korrespondiert daher mit dem Untergang des Erzählers und der Erzählung im weitesten Sinne des Wortes. Das erste Anzeichen des Dahinsinkens der Erfahrung bietet uns, wie Benjamin bemerkt, der Roman. Während der Erzähler älteren Typs, „was er erzählt, aus der Erfahrung", der „eigenen oder berichteten", nimmt und es „wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören", macht, hat „sich der Romancier abgeschieden. Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben, heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben. Mitten in der Fülle des Lebens und durch die Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden" 42 . 41

Derselbe, Schriften,

a.a.O., Bd. II, S. 229 f.

42

Ebenda, S. 234

Erlebnis und Erfahrung (W. Benjamin)

167

Den wirklichen Niedergang der Erfahrung erleben wir jedoch erst im 19. und 20. Jahrhundert. Die Chancen der Assimilierung der Erfahrung haben sich vermindert. „Die Zeitung stellt", führt Benjamin in seinem Baudelaire-Essay aus, „eines von vielen Indizien einer solchen Verminderung dar. H ä t t e die Presse es darauf abgesehen, daß der Leser sich ihre Information als einen Teil seiner Erfahrung zu eigen macht, so würde sie ihren Zweck nicht erreichen. Aber ihre Absicht ist eine umgekehrte und wird erreicht". U n d weiter unten lesen wir: „Historisch besteht eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Formen der Mitteilung. In der Ablösung der älteren Relation durch die Information, der Information durch die Sensation spiegelt sich die zunehmende Verkümmerung der Erfahrung wider. Alle diese Formen heben sich ihrerseits von der Erzählung ab; sie ist eine der ältesten Formen der Mitteilung. Sie legt es nicht darauf an, das pure An-sidi des Geschehenen zu übermitteln (wie die Information das tut); sie senkt es dem Leben des Berichtenden ein, um es als Erfahrung den Hörern mitzugeben"4®. Man muß also zu dem Schluß kommen, daß nach Benjamin die Verkümmerung der Erfahrung ein Prozeß ist, der sich nicht mehr aufhalten läßt. U n d das sei gut so, meint Benjamin in seinem Artikel „Erfahrung und A r m u t " : „Ja, gestehen wir es ein: Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten, sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt. Und damit eine Art von neuem Barbarentum. Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen positiven Begriff des Barbarentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus dem Wenigen herauszukonstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken. Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten. Sie wollten nämlich einen Zeichentisch haben, sie sind Konstrukteure gewesen" 44 . Es gilt daher, sich ganz bewußt zu der Armut an Erfahrungen zu bekennen und etwas aus ihr zu machen. „Erfahrungsarmut: das muß man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nadi einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen können, daß etwas Anständiges dabei herauskommt" 45 . 43

Ebenda, Bd. I, S. 430

44

Ebenda, Bd. II, S. 7 f.

45

Ebenda, S. 10 f.

168

Z u m E r l e b n i s b e g r i f f in der deutschen L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t

Hinter diesen Gedankenvorgängen verbirgt sich ein bestimmtes Kunstideal, das sidi in großen Teilen mit den Vorstellungen Brechts von einer neuen Kunst deckt. Kunst soll zur Reflexion anregen, soll entlarven und mobilisieren. Dies wird sie jedoch nur dann erreichen, wenn sie sidi von dem Althergebrachten abwendet, den Dingen ihren falschen Schein nimmt, gesellschaftliche Zusammenhänge aufdeckt und vor allem kein passiv genießerisches Nacherleben des Dargestellten zuläßt. Ein neues Sehen, ein Neubeginn ist erforderlich, in dem es für die alten Erfahrungen keinen Platz geben wird.

VI. PROGNOSEN Der Erlebnisbegrifi ist heute in der deutschen Literaturwissenschaft in Mißkredit geraten. Er wird zwar in literatur-historischen Arbeiten noch recht häufig, zumeist unreflektiert, verwandt (in jüngster Zeit ist „Erfahrung" an seine Stelle getreten, nidit immer ist jedoch mit diesem Begriff etwas Neues gemeint), aber als literaturtheoretischer Begriff hat er seine Bedeutung so gut wie ganz verloren 1 . Als Schlagwort der deutschen Geisteswissenschaft und des Irrationalismus schlechtester Prägung sowie faschistoider und faschistischer Richtungen 2 hat er Überdruß und Mißbehagen hervorgerufen, das allerdings schon zu Beginn der zwanziger Jahre einsetzt 3 . Mit dem Eindringen des Strukturalismus in die deutsche Literaturwissenschaft wußte man mit ihm schließlich nichts mehr anzufangen, da er ein außerliterarisdies Phänomen betrifft.

1

Während Petersen sein Buch Die Wissenschaft von der Dichtung, Berlin 1939, noch völlig auf dem Erlebnisbegrifi aufbaut, tritt in demselben Jahr Emil Staiger gegen das „Erlebnis" auf. Die Berufung darauf sei überflüssig und helfe nicht, die Welt des Dichters zu fassen, was nur vom Werk aus möglich sei (im Vorwort zu Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, Zürich 1939, 2 1953). In Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk erscheint „Erlebnis" schon nicht mehr im Register.

2

Rolf Geißler stellt im Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur, München 1965, fest: „Das Kernproblem der für den NS prädisponierten Literatur liegt darin, daß sie an der traditionellen, im 18. Jahrhundert geprägten Auffassung von der Gefühls- und Erlebnisgrundlage aller Kunst festhält. Der Krieg, die Landschaft, die Erde, das Jahr, die Gemeinschaft, alles wird zum Erlebnis, und die Dichtung hat die Aufgabe, den Massen diese Erlebnisse zu vermitteln" (S. 723). Über die ideologische Funktion der nationalsozialistischen Erlebnisliteratur und ihre Technik vgl. u. a. Günter Härtung, „Ober die deutsche faschistische Literatur" in Weimarer Beiträge, 3 u. 4/1968 sowie Sonderheft Nr. 2 des gleidien Jahres.

s

Scharfe Angriffe gegen den Erlebnisbegriff finden wir u. a. in Walter Benjamins Arbeit über Goethes Wahlverwandtschaften (siehe Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 88 f.). Später sah Benjamin in dem Erlebniskult eines der Grundübel der deutschen Literaturwissenschaft. Ende der zwanziger Jahre war er dann ebenso wie Brecht ein Gegner der Erlebnisdichtung überhaupt geworden, da diese es auf ein Ein- und Mitfühlen absah und sie nicht mehr imstande war, durch ihre vordergründige, direkte Schilderung von Geschehenem die Hintergründe gesellschaftspolitischer Mechanismen aufzudecken. Brecht leitet 1930 seine

Prognosen

170

Es wäre nun zu fragen: soll die Literaturwissenschaft tatsächlich auf diesen Begriff verzichten oder haben wir es nur mit einer Übergangszeit einer negativen Reaktion auf etwas Abgegriffenes zu tun, der eine Zeit der Rehabilitierung des „Erlebnisses" folgen wird, wie man neuerdings Dilthey zu rehabilitieren beginnt 4 ? Der Autor der vorliegenden Arbeit hat es sich nicht zur Aufgabe gestellt, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Sein Ziel war es vor allem, zu zeigen, welcher Bewußtseinslage der Gebrauch des Erlebnisbegriffs in der deutschen Literaturwissenschaft entsprach; trotzdem möchte er zumindest andeuten, welche eventuelle Möglichkeiten der Verwendung des Erlebnisbegriffs sich der modernen Literaturwissenschaft

anbieten.

Theoretisch gesehen, sind minimal vier Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen: Versuche mit dem programmatischen Satz ein: „Die Publikation der . V e r s u c h e ' erfolgt zu einem Zeitpunkt, wo gewisse Arbeiten nicht mehr so sehr individuelle Erlebnisse sein (Werkcharakter haben) sollen, sondern mehr auf die Benutzung (Umgestaltung) bestimmter Institute und Institutionen gerichtet sind (Experimentdiarakter haben), und zu dem Zweck, die einzelnen sehr verzweigten Unternehmungen kontinuierlich aus ihrem Zusammenhang zu erklären" (Brecht, Versuche, Heft 1—4, Neudruck Berlin 1963, S. 6). 4

Die „Rehabilitierung" Diltheys beginnt mit Kurt Müller-Vollmers Diltheybuch, das 1963 erschienen war. Der Vf. sieht dort in Dilthey einen Vorläufer des Existentialismus Heideggerscher Prägung und der Phänomenologie eines Ingarden. Es ist ein Versuch, moderne literaturwissenschaftliche Gesichtspunkte und Methoden aus Diltheys Schriften herauszulesen. Zwei Jahre später erschien der zweite Band A History of Modern Criticism von René Wellek, in dem dieser bedeutend positiver über Dilthey schreibt als je zuvor. Er schließt sein Kapitel über Dilthey mit dem Satz: „What he has to say is as relevant as it was sixty years ago" (S. 335). 1966 unterstrich dann Georges Poulet auf dem Kongreß der „neuen Kritik" in Cérisy-la Salle, daß Dilthey immer noch hochaktuell sei (die Kongreßmaterialien befinden sich in dem Band „Les diemins actuels de la critique", erschienen 1967. Auf Poulets „Entdekkung" des Literaturtheoretikers Dilthey hat mich Professor Maciej Zurowski [Universität Warschau] aufmerksam gemacht, dem idi dafür herzlichst danken möchte.) Und 1969 kam F. Rodis Buch Morphologie und Hermeneutik heraus, in dem dieser Dilthey gegen seine Kritiker (u. a. von Hans-Joachim Lieber und Lukacs) vor dem Vorwurf, ein Vorläufer der organologischen Sichtweise, wie wir sie von Spengler, Th. Lessing und Klages her kennen, gewesen zu sein, zu verteidigen sucht, (ausführlicher habe ich in der Deutschen LiteraturZeitung, 4/1971 über dieses Buch geschrieben). Eine völlig neue Sicht der Diltheyschen Wissenschaftstheorie stellt schließlich Peter Kraussers Kritik der endlichen Vernunft. Diltheys Revolution der allgemeinen Wissenschafts- und Handlungstheorie, Frankfurt/M. 1968 dar. Der Verfasser schält aus Diltheys Schriften eine Strukturtheorie heraus, die sich als „eine neuartige — auch h e u t e noch neuartige! — allgemeine (d.h. nicht auf die Geisteswissenschaften beschränkte) Wissenschafts- und Handlungstheorie" (S. 210) erweist.

Prognosen

171

1. Völlige Verwerfung. Begründen ließe sich dies etwa folgendermaßen: Der Erlebnisbegriff, wie ihn die ältere Literaturwissenschaft verwandt hat, befriedigt überhaupt nicht, da sie ihn immer mit einer Erschütterung verband (in dieser Hinsicht führt eine direkte Linie von Dilthey bis zu Gundolf) und weil sie eine Künstlerpersönlichkeit — die des hochempfindsamen, intensiv erlebenden, stets mitfühlenden Dichters — voraussetzte, die für die heutige Zeit nicht mehr als repräsentativ anzusehen ist. In einer Zeit, in der es zu viele erschütternde Erlebnisse gegeben hat und gibt, die dem Empfindsamen einfach die Sprache verschlagen, wäre ein solcher Erlebnisbegriff ein Anachronismus. Aber auch jeden anderen Erlebnisbegriff muß eine ernsthafte Literaturwissenschaft zurückweisen, da wir über keine Mittel verfügen, den Übergang vom Erlebnis zur Dichtung zu fassen. Wie Roman Jakobson in seinem Essay „Was ist Dichtung" an dem Beispiel der Lyrik des tschechischen Poeten Mächa gezeigt hat, kann der Dichter genau das Gegenteil des vom ihm Erlebten gestalten 5 . Und wenn es uns audi gelänge, wenigstens in einigen Fällen, diesen Übergang in den Griff zu bekommen, so hätten wir literaturwissenschaftlich nichts gewonnen, da uns das Erlebnis nichts über die Besonderheit des Dichterischen, die Poetizität eines Textes auszusagen vermag. 2. Völlige Neufassung. Hier hängt die Begründung von dem jeweiligen Begriff „Erlebnis" ab. 3. Beschränkte Anwendung. Es wäre z. B. möglich, den Erlebnisbegriff nur auf die Erlebnisdiditung anzuwenden. Ausgehend von dem Grundsatz, daß jede literarische Periode nur mit den ihr gemäßen ästhetischen und poetologischen Begriffen erfaßt werden kann, gelangt man zu dem Schluß, daß sich der — weltliterarisch gesehen — kurze Zeitabschnitt der Erlebnisdichtung ohne den Begriff des Erlebnisses nicht erfassen läßt. Gegen die Anhänger der in Punkt 1 geäußerten These, daß man mit dem Erlebnis nicht dem Besonderen des Dichterischen näherkomme, müßte der Einwand erhoben werden, daß sie von einer falschen Voraussetzung, einem überhistorischen Begriff des Dichterischen ausgehen. Was die Erlebnisdichtung betrifft, gehört der Eindruck, hier werde Erlebtes dargestellt, zu ihrem Wesensmerkmal", deswegen kann man bei ihrer Behandlung auf den Begriff des Erlebnisses nicht verzichten. Es ist allerdings notwendig, sich über den Geltungsbereich des Erlebnisbegriffs in der Literaturgeschichte Klarheit zu verschaffen, also den Zeitpunkt zu er5

Eine kurze Zusammenfassung dieses in tschechisch geschriebenen Essays ( „ C o je poesie?") gibt V i c t o r Ehrlich in seinem Buch „Russischer Formalismus" (München 1 9 6 4 ) a u f S. 2 2 3 f.

6

Die russischen Formalisten haben allerdings auch die getreue Gestaltung des Erlebnisses als einen Kunstgriff zu interpretieren versucht.

172

Prognosen

mittein, wo die Menschen beginnen, ihren persönlichen Erlebnissen Eigenwert zu verleihen, und vielleicht auch den Zeitpunkt, wo die Menschen aufhören zu glauben, daß ihren Erlebnissen ein besonderer Erkenntniswert zukommt. Bei der Lösung der ersten Frage wird man die Arbeiten derjenigen Forscher zu Rate ziehen müssen, die sich mit Memoiren, Relationen und Tagebüchern sowie mit der Briefkultur beschäftigt haben 7 . 4. Variiemng und Differenzierung bei jeweils beschränkter Anwendung. Hier handelt es sich um eine Erweiterung des vorigen Punktes. Wäre es nicht möglich, differenzierter als bisher vorzugehen, indem man der Tatsache Rechnung trägt, daß die Menschen und insbesondere die Künstler zu verschiedenen Zeiten verschiedenartig erlebt haben. Wir wollen dies an einem Beispiel erläutern. Ältere Literaturwissenschaft wollte, wie wir wissen, nur erschütternde Erlebnisse wahrhaben. Doch ist es nicht einzusehen, warum eigentlich die nichterschütternden Erlebnisse, die Wahrnehmungen und Eindrücke des Alltags, die unwillkürlich, ohne jedwede Erregung Eintritt in das Bewußtsein des Dichters gefunden haben, für die Entstehung des literarischen Werks ohne Bedeutung sein sollen. Ansätze zu einer positiven Behandlung dieser Frage gibt es ja bereits bei Walter Benjamin und Viktor Sklovskij, wobei beide allerdings verschiedene Wege gegangen sind. Etwas verallgemeinert und zugespitzt ausgedrückt, versucht Benjamin einige Motive im Werk Baudelaires aus den neuen Alltagswahrnehmungen in der Großstadt Paris heraus zu erklären, während Sklovskij die Bilder, Motive und Sprachschöpfungen des Dichters in Konfrontation mit den alten, schon völlig automatisierten, von den Menschen nicht mehr beachteten Wahrnehmungen erklärt haben will. Bei Benjamin sind es die Wahrnehmungen, die gerade aufkommen, von denen die Dichter irgendwie wissen, daß sie in Kürze zum täglichen Brot werden, bei Slovskij sind es die ganz alten Wahrnehmungen, die nicht mehr die geringste Spur von Neuheit aufweisen, auf die erst wieder der Dichter aufmerksam machen muß. Bei Benjamin erlebt der Dichter, wenn auch mit Mühe, unter der Gefahr des Schocks, ein letztes Mal die neuen Wahrnehmungen, in der Vorahnung, daß es kein Entrinnen aus ihnen geben wird, während Sklovskij ein Erleben 7

Aber auch hier befinden wir uns in einem Dilemma, da ja gerade dieser Forschungszweig nodi besonders unter dem starken Einfluß der Erlebnisphilosophie, vor allem der Ideen Diltheys über die Autobiographie als Ausgangspunkt für jede geschichtliche Darstellung steht. Von dieser Idee hat sich in der Folge dann Misch in seiner Geschichte der Autobiographie leiten lassen. Zur Zeit sucht die Forschung nach neuen Kategorien zur Erhellung dieser Gattung. Als Beispiel sei hier nur E. M. Szarotas Aufsatz „Memoiren, Gesandtschaftsberichte und Tagebücher in neuer Sicht" (Kwartalnik Neofilologiczny, Warszawa 1971, Nr. 3, S. 233—253) genannt.

Prognosen

173

in diesem Sinne nicht mehr ansetzt, seine Theorie ist, wie einmal Renate Ladimann gesagt hat, „aus dem Erlebnis des Nicht-Mehr-ErlebenKönnens" entstanden 8 . Der Dichter schockiert, um die Dinge in ein neues Licht zu rücken, sie der Wahrnehmung wieder zugänglich zu machen. In Benjamins Sicht kommen die Dinge auf den Dichter noch zu, in der von Sklovskij muß der Dichter die Dinge erst wiederentdecken. Bei allen Unterschieden zwischen beiden Konzeptionen ist ihnen doch das eine gemeinsam, daß sie in einem neuen Sinn Wahrnehmungen und stereotype Erlebnisse in die literaturwissenschaftliche Betrachtung miteinbeziehen. Kurz gesagt, ginge es darum, den Erlebnisbegriii stärker zu differenzieren durch die Schaffung eines ausgedehnten Begriffsfelds, das die Begriffe „Wahrnehmung", „Eindruck", „Erfahrung", „Stimmung" und viele andere umfassen müßte, und ferner dadurch, daß man überlegt, ob sich der eine Begriff nicht besser für die Erfassung der einen und ein zweiter für die Erfassung einer anderen Epoche eignet. Vielleicht gibt es Zeiten, in denen gerade große Erlebnisse eine wesentliche Inspirationsquelle für Kunstwerke sind, und solche, für deren Dichtungen das alltägliche abgewehrte, den Dichter nicht erregende Erlebnis von Bedeutung ist, und schließlich solche, in denen private, ganz persönliche Erlebnisse die Grundlage literarischen Schaffens bilden. Dann mag es wieder Epochen geben, in denen die Dichter vorwiegend Erlebnisse darstellen, die sie in Wirklidikeit nie gehabt haben, die aus unbewältigten Situationen in ihrem Leben oder aus Wunsch- und Idealvorstellungen entstanden sind. Das wäre der Fall, wo man einerseits auf die Ergebnisse der Psychoanalyse zurückgreifen und sich anderseits der Begriffe Ideal, Gegenbild, Utopie usw. bedienen müßte. Schließlich und endlich wird man bei bestimmten Zeitabschnitten zu dem Schluß kommen müssen, daß der Erlebnisbegriff, wie man ihn auch immer faßt, keinerlei Mittel zur Erhellung literarischer Phänomene in die Hand gibt8. 8

Renate Ladimann, „Die ,Verfremdung' und das ,Neue Sehen' bei Viktor Sklovskij" in Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, München 1970, S. 226.

9

Ob dies für die moderne Literatur gänzlich oder nur für einige Erscheinungen (Dadaismus, konkrete Poesie, Wortmontagen aller Art, Trivialliteratur u. ä. m.) zutrifft, bleibt offen. Fest steht jedenfalls, daß im 20. Jahrhundert die Erfassung der Wirklichkeit durch und über das Erlebnis überaus fragwürdig geworden ist, denn — wie Geißler einmal treffend bemerkt hat — „Die Probleme des industriellen und technischen Massenzeitalters können nicht mehr voll erlebnishaft verstanden (man denke nur an jede Erlebnisfähigkeit übersteigende Möglichkeit der Massenverniditung), sondern nur noch durch Erkenntnis- (Hermann Broch) und Wahrheitsexpedition (Franz Kafka) angegangen werden" (Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur, S. 723).

174

Prognosen

Es ist natürlich schwer zu sagen, von welchen Möglichkeiten (und sicher gibt es noch andere als die vier genannten) künftige Literaturwissenschaft Gebrauch machen wird. Ein Come-back irgendeines Erlebnisbegriffs in die Literaturwissenschaft scheint allerdings nur dann sinnvoll zu sein, wenn man ihn nicht als eine überhistorische Kategorie ansetzt, sondern ihn nach den jeweiligen Epochen differenziert, die jeweils gesellschaftlichen Komponenten des Erlebens berücksichtigt und ihn in ein umfassendes literaturwissenschaftliches Begriffsnetz eingliedert. Vielleicht hätte ein solcher Erlebnisbegriff in einer Literaturwissenschaft Platz, die es sich zur Aufgabe stellt, literarische Werke und Erscheinungen von verschiedenen Seiten aus, sowohl strukturalistisch wie auch sozialkritisch und soziologisch zu analysieren?

NAMENREGISTER Abbt, Th. 37 Adelung, Chr. J. 9 Adorno, Th. W. 19 Alewyn, R. 1 Alexis, W. 2 Alfieri, Y. 79, 80, 81, 96 Aristoteles 105 Arnim, A. von 105 August, O . 5 Avenarius, R. 85 Bahr 1, 2 Balzac 13, 70, 96, 99, 110, 118, 123 Baudelaire, Ch. 154, 163, 164, 165 Baumgarten, A. G. 38, 42 Benda, O . 156 Benjamin, W. 27, 66, 116, 148, 154, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 172, 173 Berger, E. 148 Bergson, H . 137 Bieber, H . 54 Biemel, W. 136 Bismarck 3, 4 Bluntschli, J. C. 3 Böckmann, P. 39 Bodmer, J. J. 38, 39 Bollnow, F. 137 Bölsdie, W. 130 Brecht, B. 114, 115, 168, 169, 170 Breitinger, J. J. 38, 39 Brentano, Cl. 105 Broch, H . 173 Buchner, K. 3 Buchwald, R. 27 Bühler, Ch. 150 Byron 86 Calderón 62 Campe, J. H . 9 Christaller, G. 130 Clemen, W. 162 Cohen, H . 50, 51, 52, 58, 59, 84, 85 C o n r a d , M. G. 130

Dahlmann, F. C. 2 Dante 2, 22, 61, 62, 63 Danzel, Th. W. 23, 24 D a r w i n 123 Dickens, Ch. 13, 70, 84, 86, 89, 93, 94, 100, 103, 104, 110, 118, 119, 120, 123, 125 Dobbek, W. 35 Droste-Hülshoff, A. von 3 Eikermann, J. P. 7, 11, 90 Ehrlich, V. 171 Ermatinger, E. 13, 14 Fahrner, R. 43 Fechner, G. Th. 56, 74, 75, 95, 111 Ferber, K. W. 1 Fichte, J. G. 43 Fichte, J. H . 56, 57 Flaubert 100 Fontane, Th. 4, 19, 77, 116, 126, 128, 129 Forster, L. 18 Frank, P. 5 Frenzel, E. 161, 163 Freud, S. 136, 146, 163 Frohschammer, J. 44, 56, 57, 80 Freytag, G. 77, 78, 104, 116, 128 Gadamer, H . - G . 1, 2, 6. 16, 28, 29, 120, 144 Galvani 64 Geliert, Chr. F. 17 Geißler, R. 169, 173 George, St. 149, 153 Goedeke, K. 8 Goethe 6, 8. 10, 11, 12, 14, 22, 37, 38, 46, 47, 53, 62, 65, 67, 68, 69, 70, 78, 81, 82, 83, 84, 86, 87, 88, 90, 95, 96, 97, 100, 120, 124, 125, 131, 134, 146, 147, 149, 149, 151, 152, 154, 160, 161, 162, 169 Goldammer, P. 7 Gontscharow, I. A. 100 Gotthelf, J. 5

176

Namenregister

Gottsched, J. Chr. 38, 39 Grillparzer, F. 5 Grimm, H. 22, 23, 27, 81, 82, 83, 84, 90, 96, 151 Grimm, J. 2, 8, 9 Grimm, W. 8, 9 Grimmelshausen 17, 19 Gundolf, Fr. 13, 70, 146, 147, 148, 149, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 171 Günther, J. Chr. 14 Gutzkow, K. 2 Haller, A. von 34 Harris, J. 42 Hart, H. 130 Härtung, G. 169 Hauptmann, G. 13, 14, 110 Hausen, Friedrich von 13 Haym, R. 13, 25, 26, 151 Hebbel, C. F. 14, 116 Hegel 1, 2, 58, 59, 77, 113 Heidegger, M. 44, 170 Heine, H. 5 Heinrich von Morungen 15 Heise, \V. 85 Hellmann, W. 54 Helmholtz, H . L. F. 71, 72, 73 Herbart, J. F. 51 Herder 35, 36, 37, 41, 42, 82, 109 Heyne, M. 10 Heyse, P. 77 Hirsch, A. 17, 33 Hoffmeister, J . 1 Hölderlin 26, 67, 69, 131, 132 Home, H . 74 Hortho, D. H. G. 2 Howald, E. 25 Hugo, Y . 116 Humboldt, W. von 42, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 54, 104, 115 Hunziker, R . 5 Husserl, E. 135, 136, 143 Ibsen 115 Iffland, A . W . 34 Ingarden, R . 103, 139, 170 Jacobi, J. G. 7 Jacobsen, R . 171 Justi, C. 27, 151

Kafka, F. 173 Kamnitzer, E. 40 Kant, I. 29, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 154, 165 Kayser, W. 161, 169 Keller, G. 14, 19 Klages, L. 170 Klemperer, V. 150 Klopstock, F. G. 9, 14, 61, 62 Körner, Chr. G. 45 Körner, J . 158, 159, 160, 161, 162 Körner, T. 5 Kotzebue, A. 34 Kracauer, S. 152 Krauss, W. 127, 137 Krausser, P. 170 Krogmann, W. 160 Kuderowicz, Z. 117, 120, 127, 136 Kühn, S. von 63 Kürenberger 13 Lachmann, K. 8 Lachmann, R . 173 Landgrebe, L. 94 Laube, H. 6 Lehmann, G . K . 112 Leibniz 76 Lenz, J . M . R . 37 Lessing, G. E. 8, 16, 23, 33, 36, 41, 132 Lessing, Th. 170 Lewald, R. 3 Lieber, H . - J . 170 Lodendorf 10 Lohenstein, D. C. 33 Lotze, H. 7, 50, 59 Ludwig, O. 4, 19, 67, 68, 100, 104, 128 Lukács, G. 66, 67, 170 Luther, M. 23 Lempicki, Z. 37, 148 Mach, E. 76 Macha, K . H . 171 Mannheim, K. 152 Markwardt, B. 43, 77, 118, 129 Marholz, W. 156 Martens, M. 17 Mayer, H. 24 Mendelssohn, M. 34 Merck, J . H. 37 Meyer, J. B. 56, 57

Namenregister Milton 62 Minor, K. 151 Misch, G. 136, 137, 172 Mittenzwei, I. 126, 129 Moritz, K. Ph. 42, 45, 48, 49 Müller, G. 33 Müller-Freienfels, R. 114 Müller-Vollmer, K. 48, 50, 117, 120, 170 Nicolai, F. 34 Nicolai, H . 129, 130 Niendorf, M. A. 7 Nietzsche, F. 70, 137, 154 Nohl, H . 112, 145 Novalis 26, 40, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 131, 137 Olshausen, W. 8 Paul, H . 10 Paulsen, Fr. 85 Petersen, J. 169 Petriconi, H . 161 Piaton 165 Poe, E. A. 28 Pörnbacher, K. 5 Poules, G. 170 Preisendanz, W. 129 Purkenje, J. 68 Reimar von Hagenau 13 Reinbedc, G. 77 Reuter, H.-H. 129 Richards, I . A . 103 Riedel, M. 60, 137 Ritter, H . 59 Robbe-Grillet, A. 20 Rodenberg, J. 7 Rodi, F. 68, 96, 170 Rohloff, A. 44 Root, W. R. 129 Rosenkranz, C. 3 Rosteutscher, J. 160, 161 Rousseau 82, 83, 84, 86, 88, 89 Ruprecht, E. 129 Sanders, D. 9, 10 Schelling 43, 81 Scherer, W. 129 Schiller 8, 44, 67, 86, 89, 143 Schlegel, F. 54 Schleiermacher 25, 35, 38, 96, 137

177

Schlick, M. 76 Schmidt, J. 151 Schmidt, R. 43, 44 Schnabel, J. G. 34 Schneider, M. 5 Schrimpf, H. J. 43 Schröder, F. L. 34 Schulte-Kemminghausen, K. 3 Shakespeare 13, 40, 67, 70, 86, 87, 88, 89, 95, 104, 108, 109, 112, 123, 129, 161, 162 Siebeck, H . 58 Simmel, G. 6, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 158 Singer, H . 1 Sklovskij, V. 172 Spencer, H . 123 Spengler, O. 170 Spielhagen, F. 19, 21, 22, 54, 55, 59, 77, 100, 104, 115, 118 Spinoza 76 Spiet, G. 102 Stael-Holstein, A. L. G. de 48 Staiger, E. 169 Steinmann, F. 5 Steinthal, H . 53, 54 Storm, T. 7, 77, 104 Strauß, D. F. 22 Strauß, R. 98 Sulzer, J. G. 40, 45 Suphan, B. 37 Szarota, E. M. 33, 36, 37, 39, 42, 172 Tieck, L. 2, 9, 40, 67, 68 Treitschke, H. von 3 Troll-Borostganis, I. 130 Tylor, E. B. 111 Unger, R. 156 Vega, Lope de 108 Verdi 98 Vischer, F. T. 51, 59, 113 Volkelt, J. 139 Wagner, R. 2 Waitz 111 Walther von der Vogelweide 12, 15, 132 Walzel, O. 115, 150, 154, 155, 156, 157, 158 Warren, A. 66 Weber, E. H . 74

178

Namenregister

Wedcherlin 18 Weigand, F . L . K . 10 Wellek, R. 1, 6, 7, 38, 42, 46, 66, 94, 127, 170 Wiese, B. von 1 Winckelmann 27, 37 Windelband, W. 58, 59 Wolff, Chr. 17, 38

Wölfflin, H . 158 Wolfram von Eschenbach 17 Wülfing, J. E. 10 Wundt, W. 75, 76, 77 Zola 126, 129, 130 Zurowski, M. 170

SACHREGISTER Abenteuer 5, 6, 153, 154 Allgemeine, das 25, 120 Allgemeingültigkeit des Erlebnisses 106 des Kunstwerks 107, 117 der poetischen Technik 108, 113 Antibeispiel 17 Apperzeption 43, 44, 52 Assoziationspsychologie 51, 56 Ästhetik analytische 74, 75 induktive 70 und Psychologie 72, 73 und Wissenschaft 70 Aufklärung 32, 33, 34 Auslegung 150 Barock 13, 31, 32, 66 Bedeutsame, das (Bedeutsamkeit, Bedeutung) 118, 121, 126, 134, 135, 136, 137, 141, 149, 155 Begriff 138, 139, 157, 158, 159 Besondere, das 25 Bild dichterisches 66, 93, 99, 102, 103, 123 wahrgenommenes 92, 93 Bildung 150 Bildungserlebnis 11, 83, 84, 149, 150 Bildungsprozesse 92 Bildzusammenhang 106, 107 Biographik (Biographie, biographisch) 22, 23, 25, 26, 27, 37, 38, 84, 96, 147, 148, 151 Bürgertum 16, 17, 18, 31, 32, 33

charakteristisch 21 Dadaismus 15, 173 Denken 139 Dichter 24, 41, 70, 101, 122, 134, 147, 150, 155, 165, 171

objektiver 86, 87, 88, 89, 90 subjektiver 86, 87, 88, 89, 90 und Alltagsmensch 93, 101, 152 und Leser (Hörer) 70, 101, 106, 112, 116, 117 und Wirklichkeit 124, 127 Dichtung 142 Differenzierung des Erlebnisbegriffs 173, 174 Drama 110, 111, 115, 129 Einbildungskraft 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 48, 49, 50, 51, 54, 55, 56, 70, 79, 81 Eindruck, poetischer 105 Einfühlung 25, 26, 156, 171 Einheit des Bewußtseins 51, 52, Empfindung 37 Energie 36, 37, 41 Energie des Erlebens 101 Epoche 25 Epos 54, 111, 115 Ereignis 2, 6, 29 Erfahrnis 142 Erfahrung 4, 84, 85, 86, 96, 97, 99, 142, 165, 166, 167, 168, 169, 173 Erinnerung 141 erleben 8, 9, 10, 96, 148, 172 Erleben und Schaffen 150, 151 Erlebnis als kleinste Einheit des Lebens 29 als kleinste Einheit des Zusammenhangs des Seelenlebens 94, 98 als literaturtheoretischer Begriff 7, 12, 13, 22, 171, 172, 173 als punktuelles Ereignis 27, 28, 97, 164 als Unterlage aller Poesie 12, 13, 98, 99 als Wertbegriff 13 aufschließendes 135, 136, 149 äußeres 97 gesellschaftliche Bedingtheit 161 inneres 7, 8, 97 und Abenteuer 6, 153, 154

180

Sachregister

und Bedeutung 135, 136, 137, 141 und Begriff 138, 139, 156 und Erfahrung 164, 165, 169 und Erschütterung 4, 7, 147, 171, 172 und Leben 11, 19, 30, 31, 32, 34, 35, 136, 137 und Lyrik 7, 12, 15, 18, 78, 155 und Massengesellschaft 27, 28, 30 und moderne Dichtung 20, 173 und moderne Zivilisation 21, 27, 28 und Motiv 159, 160, 161, 162, 163 und Plötzlichkeit 27, 28, 30, 164, 165 und Reflexion 30, 138, 139 und Verstehen 143, 144, 150 volles 140, 156 Erlebnisdichtung 12, 13, 14,15,16,17, 18, 19, 20, 102, 169, 171 Erlebnishunger 28 Erlebnisse als positivistisches Material 4, 26 Erlebte, das 7, 8, 10, 11, 27, 30, 140 Erlebung 9, 11 Erschütterung (erschütternd) 3, 99, 101, 147, 154, 172 Faschismus 13, 169 Form 109, 155, 156 Formalisten, russische 67, 171 Formensprache 156 Fremde, das 144 Fühlen 139 Funktion der Poesie 135 Ganze, das (Ganzheit, Ganzheitlichkeit) 98, 107, 143, 144, 154 Gedankenlyrik 142, 143, 158 Geschehnis 138, 141, 142 Geschichtlichkeit der poetischen Technik 108, 109, 113, 114 Gestalt 147, 148, 156, 157 Gesunde, das 26, 69, 102, 123, 127 Grün, bescheidenes 4, 56, 128 Harmonie 29, 95, 98, 141 Held 17, 18, 19, 20, 21, 22, 34, 55, 100, 127 Hermeneutik 35, 38 herzensstählend 4 höfisch 33

Individualität (individuell) 15, 35, 36 Individuum 20, 22, 35, 134 Interesselosigkeit des Künstlers 94, 152 Kunstwerk, literarisches 90, 93, 157 und dichterische Arbeitsweise 89 und Wirklichkeit 106, 116, 123, 124, 126, 132 Leben 10, 11, 16, 18, 19, 20, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 85, 88, 92, 128, 135, 136, 137, 142, 147, 148, 149, 151 als Strom 136 gelebtes 18 und Erlebnis 30, 31, 137, 138, 141, 151, 154 Lebendigkeit 101, 103, 134 des Bildes 71 Literaturwissenschaft und Psychologie 65, 67 und poetische Technik 79 Masse 23, 27, 28 Mimesis 117, 128, 130 Mittelalter 12 Modell, dichterisches 55, 83, 151 Motiv 66, 67, 159, 160, 161, 162, 163 Musik 70, 71 Nacherleben 19, 20, 36, 106, 107, 153, 156, 168 Natur 31, 32 Naturalismus 70, 75, 115, 118, 125, 126, 127, 128, 129, 130 Neuromantik 69 Objektivität 63, 69, 70, 100, 121, 122 Phantasie (siehe auch Einbildungskraft) als Weltkraft 56, 57 dramatische 80 einer Epoche 65, 66 epische 54, 55 fortschreitende 63 Gesetze der Ph. 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 65, 67, 90 Phantasie und Erfahrung 55, 61, 62, 81, 84, 85, 99

Namenregister Physiologie 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 90, 91, 104, 121 Positivismus 26, 29, 76, 113, 118 Poesie 41, 42, 48, 51 konkrete 173 Wesen 41, 42, 48 Psychoanalyse 163, 173 Psychologismus 58, 59 Publikum (Hörer, Leser, Zuschauer) 19, 41, 101, 116, 121, 135, 153 P u n k t u a l i t ä t 27, 29, 97, 153, 154 Realismus 31, 58, 73, 86, 108, 117, 118, 119, 121, 122, 123 poetischer 128, 129 repräsentativ 21 Rezeption 150 R o m a n 20, 58, 100, 108, 110, 111, 115, 125, 128, 129, 130, 131, 166 R o m a n t i k 58, 67, 69, 118 Shakespeareforsdiung 67, 162 Schaffensprozeß, dichterischer 16, 21, 26, 59, 90, 91, 92 und E r f a h r u n g 91 Schöpfungspoetik 107, 112 stählen 128 Stimmung 37, 50 Struktuierung des Lebens 130, 139, 140, 141 Sturm und D r a n g 17, 34 Symbol 120, 158, 159 Symbolismus 131 Technik, poetische 77, 79, 103, 104, 105, 107, 108, 109, 112, 113, 114, 115, 116 und Lyrik 78 Totalität 118

181

Tradition und Ursprünglichkeit 13, 14, 18, 139 Transformation des Erlebnisses 107, 108, 114 gesellschaftlicher Prozesse 114 Trivialliteratur 15, 67, 173 Typische, das 21, 119, 120, 121, 123 Typus 119 Überschreiten der Grenzen der E r f a h rung 91, 93, 94, 123 Universalität 118, 121 Unmittelbare, das 139, 142, 143 Unmittelbarkeit im literarischen Kunstwerk 15, 139, 142 Urerlebnis 145, 146, 147, 149, 150, 152, 161 U r m o t i v 161 Vergessen 136 Verinnerlichung des 154 verklären 130 Verstehen 143, 144

Erlebnisbegriffs

Wahrnehmung 30, 47, 66, 86, 91, 92, 163, 164, 172, 173 Weite des Erlebnisses 131, 132, 133 Widerspiegelung 109 Wirkung des Kunstwerks 93, 101, 105, 156 Wirkungspoetik 105, 107, 112 Wortkunstwerk 157 Zusammenhang der Wirklichkeit 93 Zusammenhang des Seelenlebens 60, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 98, 106, 118, 123, 124, 130, 164 als Repräsentation der Wirklichkeit 123 als Zweckzusammenhang 92, 93

w DE

G Wilhelm Dilthey Leben Schleiermachers

Walter de Gruyter Berlin • New York 2 Bände

' Groß-Oktav

l.Band. 3. Auflage. Auf Grund des Textes der 1. Auflage von 1870 und der Zusätze aus dem Nachlaß herausgegeben von MARTIN REDEKER. 1. Halbband (1768—1802). XLVI, 567 Seiten. 1970. Ganzleinen DM 68,— ISBN 3 11 006348 4

1. Band. 3. Auflage. Abhandlungen aus dem Nachlaß Wilhelm Diltheys zur Fortsetzung seiner Schleiermacher-Biographie (3. und 4. Buch, 1803—1807). Kritische Neuausgabe des von H E R M A N N MULERT in der 2. Auflage der Biographie (1922) mitgeteilten Nachlasses herausgegeben von MARTIN REDEKER. 2. Halbband (1803—1807). XXIV, 251 Seiten. 1970. Ganzleinen DM 44,— ISBN 3 11 006437 5

Band 2. Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Aus dem Nachlaß von WILHELM DILTHEY mit einer Einleitung herausgegeben von MARTIN REDEKER. 2 Halbbände. Ganzleinen DM 98,— ISBN 3 11 001266 9 1. Halbband. Schleiermachers System als Philosophie. Mit 1 Bildnis der Büste Schleiermachers. LXXX, 470 Seiten. 1966. 2. Halbband. Schleiermachers System als Theologie. IV, Seite 471—811. 1966. Diese Bände sind gleichzeitig als Band X H I / X I V d e r Gesammelten Schriften Wilhelm Diltheys im Verlag Vandenhoedt 8c Ruprecht, Göttingen, erschienen.